Politik und Gesellschaft: Abhandlungen zur europäischen Geschichte 9783110363487, 9783110363357

Volker Sellin is one of the most influential historians specializing in both 19th and 20th century history. This volume

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German Pages 577 [578] Year 2014

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Politik und Gesellschaft: Abhandlungen zur europäischen Geschichte
 9783110363487, 9783110363357

Table of contents :
Vorwort des Herausgebers
Inhalt
I. Facetten und Probleme der Historiographie
Justus Möser
Mentalität und Mentalitätsgeschichte
II. Herrscher und Herrschaft
Friedrich der Große und der aufgeklärte Absolutismus. Ein Beitrag zur Klärung eines umstrittenen Begriffs
The Breakdown of the Rule of Law. A Comparative View of the Depositions of George III, Louis XVI and Napoleon I
Stuart und Bonaparte. Zwei Typen von Legitimität – zwei Typen von Scheitern
Der napoleonische Staatskult
Absetzung, Abdankung und Verbannung. Das politische Ende Napoleons I
Der Tod Napoleons
Napoleon auf der Säule der Großen Armee. Metamorphosen eines Pariser Denkmals
Die Bestrafung des Usurpators. Edouard Manets „Erschießung des Kaisers Maximilian von Mexiko“
III. Monarchie, Nation, Nationalismus.
Demokratie und Nationalismus
Nationalbewusstsein und Partikularismus in Deutschland im 19. Jahrhundert
Die Erfindung des monarchischen Prinzips. Jacques-Claude Beugnots Präambel zur „Charte Constitutionnelle“
„Heute ist die Revolution monarchisch“. Legitimität und Legitimierungspolitik im Zeitalter des Wiener Kongresses
Nationalism and Conflict in 19th Century Europe
Die Restauration in Italien
Judenemanzipation und Antisemitismus in Italien im 19. Jahrhundert
Die Juden Italiens zwischen Emanzipation und Holocaust (1796–1945)
Monarchie und Nation in Deutschland 1848– 1914
IV. Pfälzische Perspektiven
Kurfürst Karl Ludwig von der Pfalz. Versuch eines historischen Urteils
Der benutzte Vermittler. Innozenz XI. und der pfälzische Erbstreit
V. Heidelberg: Stadt und Universität Heidelberg und sein Schloss
Heidelberg im Spannungsfeld deutsch-französischer Konflikte. Die Schlossruine und ihre Stilisierung zum nationalen Symbol im Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons
The History of Heidelberg University
Die Universität Heidelberg im Jahre 1945
Auftakt zur permanenten Reform. Die Grundordnung der Universität Heidelberg vom 31. März 1969
Schriftenverzeichnis Volker Sellin
Personenregister

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Volker Sellin Politik und Gesellschaft

Volker Sellin

Politik und Gesellschaft | Abhandlungen zur europäischen Geschichte Herausgegeben von Frank-Lothar Kroll

ISBN 978-3-11-036335-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-036348-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039860-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Ein Unternehmen von Walter De Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlaggestaltung: Campagne de France, 1814. Gemälde, 1864, von Ernest Meissonier (1815–1891). Öl/Holz, 51,5 × 76,5 cm. R. F. 1862, Paris, Musée D’Orsay, © akg-images. Satz: PTP-Berlin, Protago-TEX-Production GmbH, Berlin Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort des Herausgebers Volker Sellin hat im Verlauf einer mehr als vierzigjährigen Lehr- und Forschertätigkeit seinen separaten Buchveröffentlichungen eine Fülle „kleiner Schriften“ zur Seite gestellt, die den Themenbereich seiner Hauptstücke teils weiter ausfüllen und ergänzen, teils überschreiten und auf neuartige Fragestellungen orientieren. Zusammen mit vier bisher unpublizierten Beiträgen bietet dieser Band eine repräsentative Auswahl solch verstreut erschienener Abhandlungen und bündelt damit ein wissenschaftliches Lebenswerk in einer so bisher nicht sichtbar gewesenen Richtung. „Facetten und Probleme der Historiographie“ – so der Titel des ersten Themenschwerpunkts (I) – haben Volker Sellin seit Beginn seines akademischen Lebens nachhaltig beschäftigt. Er studierte – neben den Geschichtswissenschaften – Philosophie bei Walter Schulz in Tübingen, bei Karl Löwith und bei Hans-Georg Gadamer in Heidelberg, und er hat eine Zeitlang ernsthaft daran gedacht, dieses Fach zu seinem Schwerpunkt zu erheben. Von den damit verbundenen starken geschichtstheoretischen Neigungen und Interessen profitierte manche spätere Studie. Neben den beiden großen Lexikonartikeln „Politik“ (1978) und „Regierung, Regime, Obrigkeit“ (1984) in den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ bezeugt dies vor allem das Grundlagenbuch „Einführung in die Geschichtswissenschaft“ (1995), das 2005 in dritter Auflage erschienen ist. Auch der hier zum Wiederabdruck gelangende Beitrag zur Mentalitätsgeschichte, der die Methodendiskussion der 1980er Jahre stark beeinflusst hat, gehört in diesen Themenzusammenhang. Ausgehend von Autoren aus dem Umfeld der französischen Annales-Gruppe wird darin das methodische Instrumentarium der Begriffsgeschichte für die Analyse kollektiver Verhaltensweisen und mentaler Bewusstseinslagen fruchtbar zu machen versucht. Die Aufsätze der zweiten Rubrik „Herrscher und Herrschaft“ (II) kreisen um die Schicksale dreier Herrschergestalten des 18. und 19. Jahrhunderts, von denen freilich nur eine in Werk und Leistung dauerhaft erfolgreich gewesen ist: Friedrich der Große, dessen Staatsauffassung im Kontext des Sprachgebrauches der Aufklärung und der zeitgenössischen französischen politischen Theorie interpretiert wird. Deren Rezeption bildete eine der wesentlichen Legitimationsgründe für das friderizianische Regierungshandeln. Hingegen ermangelte es den beiden anderen von Volker Sellin in den Mittelpunkt entsprechender Studien gerückten Monarchen – Napoleon Bonaparte und Maximilian von Mexiko – aufs Ganze gesehen einer solch belastbaren Legitimationsgrundlage. In nicht weniger als sechs Beiträgen geht es um die Vermessung der napoleonischen Herrschaftsordnung und um deren Scheitern. Inszenierung und Kult, Legitimationsverlust

VI | Vorwort des Herausgebers und Abdankung, Verbannung, Tod und Nachleben werden in quellendichten Detailanalysen behandelt, welche bereits die Thematik eines späteren, den Sturz Napoleons und die Restauration in Europa erörternden Buches von Volker Sellin („Die geraubte Revolution“, 2001) vorbereiten. Auch der Beitrag über Edouard Manets Gemälde „Erschießung des Kaisers Maximilian von Mexiko“ ist diesem Themenrahmen einbeschrieben. Hier mündet die luzide Rekonstruktion des enigmatischen und umstrittenen Bildprogramms in eine Interpretation seiner politischen Aussage. Sie entlarvt den Republikaner Manet als Ankläger angemaßter Monarchenmacht und als Kritiker einer „falschen“, weil usurpatorisch erworbenen Legitimität. Fragen und Probleme des Legitimitätswandels monarchischer Herrschaft im 19. Jahrhundert haben Volker Sellin in seinen beiden vorerst letzten Büchern – „Gewalt und Legitimität“ (2011) und „Das Jahrhundert der Restaurationen“ (2014) – beschäftigt und bilden einen Mittelpunkt des dritten Themenkreises „Monarchie, Nation, Nationalismus“ (III). Auf die Anfechtung ihrer nach 1815 weithin bedrohten Machtstellung reagierten viele europäische Monarchen mittels einer behutsamen Anpassung an die jeweils vorherrschenden politischen Zeittendenzen – durch Neubegründung ihrer Legitimität im Einzugsfeld des monarchischen Prinzips ebenso wie durch ein Eingehen auf die Wünsche der Nationalbewegungen oder durch Einbindung ihrer Stellung in das Modell der Verfassungsstaatlichkeit. Ausführlich kommt dabei die Sonderentwicklung vormärzlicher Fürstenherrschaft in Italien zur Sprache. Dessen Geschichte und Kultur bilden für Volker Sellin seit seiner in Florenz und Rom entstandenen Dissertation zu den Anfängen staatlicher Sozialreform im liberalen Italien (1971) einen regionalen Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen und lebensweltlichen Interessen. Dies dokumentieren zwei Aufsätze zur Geschichte der italienischen Juden, die beide stark in die Forschung hineingewirkt haben, weil sie überzeugend dazulegen vermochten, dass die 1943 im faschistisch beherrschten Teil Italiens eingeleiteten Internierungsmaßnahmen keine Funktion und Folge einer latent antisemitischen Gesinnung Benito Mussolinis gewesen, sondern in der Absicht durchgeführt worden sind, die Juden Italiens – einem Land ohne tiefere antisemitische Ressentiments – vor der Verfolgung und Vernichtung durch die Deutschen zu bewahren. „Pfälzische Perspektiven“ eröffnen sich im Blick auf Arbeiten zur Landesgeschichte (IV), die seit der 1978 erschienenen Habilitationsschrift zur Finanzpolitik des Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz ein mehrfach bedachtes Beschäftigungsfeld Volker Sellins geblieben ist. Schon damals standen – neben der Finanzpolitik dieses ebenso wohlmeinenden und tatkräftigen wie erfolglosen und gescheiterten Barockfürsten – dessen staatswirtschaftliche, haushalts- und handelspolitische Unternehmungen nach dem Dreißigjährigen Krieg, unter Be-

Vorwort des Herausgebers

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zugnahme auf führende zeitgenössische Staats- und Wirtschaftstheoretiker, zur Diskussion. Dass sich der Blick dabei nicht bloß auf die beengten kurpfälzischen Verhältnisse richtete, sondern auch andere frühneuzeitliche deutsche Territorialstaaten in vergleichender Schau mit einbezog, versteht sich bei einem komparatistisch arbeitenden Historiker wie Volker Sellin beinahe von selbst. Dies gilt auch für die hier aufgenommene Portraitskizze über Kurfürst Karl Ludwig, der für seinen Biographen einer der ersten Vertreter des aufgeklärten Despotismus in Europa gewesen ist. Seiner Wahlheimat Heidelberg gelten die im letzten Abschnitt „Heidelberg: Stadt und Universität“ zusammengefassten Beiträge Volker Sellins (V). Hier, in Heidelberg, hatte er studiert, promoviert und sich habilitiert, hierhin kehrte er – nach einer kurzen Stuttgarter Zwischenstation – 1980 zurück, als Nachfolger seines akademischen Lehrers Werner Conze und Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Geschichte, womit sich bis zur Emeritierung 2004 zugleich die Leitung der sozialgeschichtlichen Abteilung des Instituts für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte verband. In dieses Vierteljahrhundert akademischen Wirkens am Neckar fielen die Amtszeit als Rektor der Ruperto-Carola (1987–1991) und die Berufung in die Heidelberger Akademie der Wissenschaften (2000). Dem Heidelberger Schloss und seiner symbolpolitischen Bedeutung im Spannungsfeld deutschfranzösischer Antagonismen hat er sich währenddessen ebenso zugewendet wie der jüngsten Geschichte der Ruprecht-Karls-Universität, nicht zuletzt im Umfeld ihrer 600-Jahr-Feier 1986, in deren Gefolge 2006 eine von ihm mitverantwortete, die Zeit des Dritten Reiches bilanzierende universitätsgeschichtliche Darstellung entstand. Dass der letzte Beitrag dieser Sammlung in eine kritische Auseinandersetzung mit den Anliegen der 1968 aufbegehrenden revolutionären Studentenschaft einmündet, gewinnt angesichts der aktuell vollzogenen Entdemokratisierung der Universitätsverfassungen durch den Erlass sogenannter Hochschulfreiheitsgesetze ein besonderes Gewicht. Alle 26 Beiträge präsentieren zusammengenommen ein umfassendes Tableau europäischer Geschichtsschreibung – „Europa“ ist für Volker Sellin niemals bloß ein abstrakter Begriff gewesen, sondern eine lebendig erfahrbare und erfahrene Wirklichkeit. Seine Neigung zum romanischen Sprachraum, zu Italien und Frankreich zumal, ist auch dort auf Resonanz und Anerkennung gestoßen, gipfelnd in der Verleihung zweier Ehrendoktorwürden, durch die Universität von Catania 1999 und durch die Universität von Montpellier 2006. Sie ehren, wie dieser Band, nicht nur einen der führenden deutschen Europa-Historiker, sondern gelten darüber hinaus auch einem liebenswürdigen Gelehrten, dessen heitere Gelassenheit und urbane Humanität all jene erfreut, die das Glück haben, ihn aus der Nähe zu kennen.

VIII | Vorwort des Herausgebers Besonderer Dank gebührt an dieser Stelle meinem bewährten Chemnitzer Mitarbeiter Mario H. Müller, M. A. für die zeitraubende Erfassung und Korrektur der Texte und für die sorgfältige Erarbeitung des Registers. Die Gestalt der Texte entspricht in allen Fällen ihrer jeweiligen Erstfassung. Korrigiert wurden lediglich offensichtliche Druckfehler und sinnentstellende Unstimmigkeiten. Chemnitz, im Oktober 2014

Frank-Lothar Kroll

Inhalt Vorwort des Herausgebers | V

I Facetten und Probleme der Historiographie Justus Möser | 3 Mentalität und Mentalitätsgeschichte | 21

II Herrscher und Herrschaft Friedrich der Große und der aufgeklärte Absolutismus. Ein Beitrag zur Klärung eines umstrittenen Begriffs | 61 The Breakdown of the Rule of Law. A Comparative View of the Depositions of George III, Louis XVI and Napoleon I | 95 Stuart und Bonaparte. Zwei Typen von Legitimität – zwei Typen von Scheitern | 125 Der napoleonische Staatskult | 145 Absetzung, Abdankung und Verbannung. Das politische Ende Napoleons I. | 169 Der Tod Napoleons | 181 Napoleon auf der Säule der Großen Armee. Metamorphosen eines Pariser Denkmals | 207 Die Bestrafung des Usurpators. Edouard Manets „Erschießung des Kaisers Maximilian von Mexiko“ | 237

III Monarchie, Nation, Nationalismus Demokratie und Nationalismus | 277 Nationalbewusstsein und Partikularismus in Deutschland im 19. Jahrhundert | 287

X | Inhalt Die Erfindung des monarchischen Prinzips. Jacques-Claude Beugnots Präambel zur „Charte Constitutionnelle“ | 305 „Heute ist die Revolution monarchisch“. Legitimität und Legitimierungspolitik im Zeitalter des Wiener Kongresses | 317 Nationalism and Conflict in 19th Century Europe | 339 Die Restauration in Italien | 351 Judenemanzipation und Antisemitismus in Italien im 19. Jahrhundert | 369 Die Juden Italiens zwischen Emanzipation und Holocaust (1796–1945) | 387 Monarchie und Nation in Deutschland 1848–1914 | 415

IV Pfälzische Perspektiven Kurfürst Karl Ludwig von der Pfalz. Versuch eines historischen Urteils | 437 Der benutzte Vermittler. Innozenz XI. und der pfälzische Erbstreit | 455

V Heidelberg: Stadt und Universität Heidelberg und sein Schloss | 473 Heidelberg im Spannungsfeld deutsch-französischer Konflikte. Die Schlossruine und ihre Stilisierung zum nationalen Symbol im Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons | 489 The History of Heidelberg University | 505 Die Universität Heidelberg im Jahre 1945 | 515 Auftakt zur permanenten Reform. Die Grundordnung der Universität Heidelberg vom 31. März 1969 | 533

Schriftenverzeichnis Volker Sellin | 555 Personenregister | 559

| I Facetten und Probleme der Historiographie

Justus Möser Justus Möser* wurde am 14. Dezember 1720 in Osnabrück geboren. Die Familie war protestantisch und gehörte zur bürgerlichen Oberschicht der Stadt. Mösers Großvater Johann war Erster Prediger von St. Marien gewesen. Mösers Vater Johann Zacharias, Doktor der Rechte, bekleidete mehrere wichtige Ämter in der Verwaltung des Bistums Osnabrück: 1735 wurde er Mitglied, 1756 Direktor der Land- und Justizkanzlei des Bistums. Nach dem Besuch des Gymnasiums bezog Möser 1740 die Universität Jena, 1742 die junge Universität Göttingen. Er hörte Geschichte und Rechtswissenschaft, aber sein besonderes Interesse galt der Philosophie und – vor allem in Göttingen – der Dichtkunst. Eine Reihe von Gelegenheitsgedichten ist damals entstanden. Unterdessen war Möser durch Vermittlung seines Vaters schon 1741 zum Sekretär der Osnabrückischen Ritterschaft ernannt worden. Nachdem er Ende 1743 ohne Studienabschluss oder akademischen Grad von Göttingen heimgekehrt war, trat er das Amt im Januar 1744 an. Wenige Wochen später legte er die Advokatenprüfung in Osnabrück ab. Damit war der Grund gelegt für eine Beamtenkarriere in der Tradition des Vaters, die ihn im Laufe seines Lebens zu einer der einflussreichsten und angesehensten Persönlichkeiten in Stadt und Bistum Osnabrück machen sollte. 1746 heiratete Möser Regina Juliana Elisabeth Brouning; sie entstammte einer wohlhabenden und ebenfalls hochgeachteten Osnabrückischen Beamtenfamilie. Dass Möser auf solche Weise beruflich und gesellschaftlich innerhalb einer festgefügten Ordnung den ihm durch Familientradition vorbestimmten Platz in der äußerlichen Beengtheit eines deutschen Kleinstaats einnahm, ist für das Verständnis seines Denkens gewiss nicht ohne Bedeutung. Im April 1747 wurde Möser zum Advocatus Patriae, d. h. zum Rechtsbeistand und Rechtsvertreter der fürstbischöflichen Regierung ernannt. Im Dienste für die Ritterschaft rückte er 1756 zum Syndikus auf. 1762 übernahm er zusätzlich das Amt eines Rats und Justitiarius am Kriminalgericht. Während des Siebenjährigen Krieges diente Möser seinem Lande als Unterhändler im Hauptquartier des Herzogs von Braunschweig, um eine Herabsetzung der Kontributionsforderungen zu erreichen. Den Höhepunkt seiner diplomatischen Karriere bildete eine Mission nach England vom Herbst 1763 bis zum Frühjahr 1764, wo er mit der britischen Regierung über die von Georg III. für Osnabrück zugesagten Reparationszah-

* Erstdruck in: Deutsche Historiker. Band IX. Hrsg. von Hans-Ulrich Wehler. Göttingen 1982, S. 23–41.

4 | I Facetten und Probleme der Historiographie lungen verhandelte. Möser machte in diesen Jahren somit über seine Stellungen im Kleinstaat Osnabrück mit der Reichspolitik und während seines Londoner Aufenthalts zugleich mit einer ganz andersartigen politischen Kultur Bekanntschaft. In den folgenden Jahren erlangte Möser eine politische Schlüsselstellung im Bistum Osnabrück. Dabei kam ihm der Umstand zu Hilfe, dass das Domkapitel im Februar 1764 den gerade sechs Monate zählenden Prinzen Friedrich von York und Albany, den zweiten Sohn Georgs III. von England, zum Fürstbischof von Osnabrück wählte. Mösers Verbindungen nach London und das Vertrauen, das er sich während der diplomatischen Verhandlungen der frühen sechziger Jahre dort erworben hatte, trugen dazu bei, dass die beiden vom englischen König für die Dauer der Minderjährigkeit des Landesherrn ernannten Regentschaftsräte sich bei ihrer Amtsführung auf seinen Rat stützten. Mit Christian von Behr, dem Leiter der „Deutschen Canzlei“ in London, stand Möser in engem persönlichen Austausch. Das Maß des Einflusses, das er schon im Sommer 1765 erlangt hatte, offenbarte er selbst in einem Brief an Friedrich Nicolai: Wenn Hechtel hier jemals etwas unternehmen sollte, so mag er sich an den Minister nach London oder an hiesige Regierung oder an die Landschaft wenden: er fällt allemal in meine Hände, indem ich einmal vom Könige unserm kleinen Bischof zugeordnet und schlechterdings instruiert bin, in allen Sachen mein Gutachten vorher abzugeben.¹

Äußerlich kam Mösers Stellung während der Regentschaft in der Übernahme bestimmter Ämter zum Ausdruck, die er unter Beibehaltung seiner bisherigen Funktionen versah. Im Jahre 1764 wurde er Konsulent der Osnabrückischen Regierung. 1768 stieg er zum Referendar auf: als solcher war er berechtigt, an allen Sitzungen der Regierung teilzunehmen und mündlich oder schriftlich seine Meinung abzugeben.² Als Fürstbischof Friedrich 1783 volljährig wurde und die Regierung im Bistum antrat, ernannte er Möser in Anerkennung seiner Verdienste zum Geheimen Referendar und Geheimen Justizrat. Möser starb, hochbetagt, am 8. Januar 1794. Die Schriftstellerei betrieb Möser nur im Nebenberuf. Zur Beschäftigung mit der Geschichte ist er dabei erst spät vorgedrungen, und im letzten Drittel seines Lebens wurde das historische Interesse im strengen Sinne immer stärker überlagert und erweitert durch eine politisch-pädagogische Leidenschaft, die sich vor allem in der Form des journalistischen Essays äußerte. In einer neueren Untersu-

1 Zitiert aus Ernst Beins/Werner Pleister (Hrsg.): Justus Möser. Briefe. Hannover 1939, S. 192 f.; vgl. dazu William F. Sheldon: The Intellectual Development of Justus Möser: The Growth of a German Patriot. Osnabrück 1970, S. 94–99. 2 Vgl. Beins/Pleister (Hrsg.): Briefe (wie Anm. 1), S. 239.

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chung werden drei Stufen in der geistigen Entwicklung Mösers unterschieden.³ Die erste Stufe endete um das Jahr 1747. Sie gipfelte in den „Wochenblättern“ der Jahre 1746 und 1747, einer Serie von zeitkritischen Artikeln nach englischen Vorbildern, in denen Möser den universellen, kosmopolitischen Standpunkt einer europäischen Bürgergesellschaft zum Ausdruck brachte.⁴ In der zweiten Periode entwickelte sich der historische Sinn in Verbindung mit der Reflexion auf die Eigenart der deutschen Nation: am Anfang standen die Ode auf die hundertjährige Wiederkehr des Westfälischen Friedens und das Trauerspiel Arminius; Höhepunkt und Abschluss bildete um 1762 die Konzeption der Osnabrückischen Geschichte; deren Drucklegung begann 1765; eine größere Auflage des ersten Teils erschien 1768. Im Jahre 1780 veröffentlichte Friedrich Nicolai eine zweite Auflage, zusammen mit einem zweiten Band. Ein dritter Band, der bis in die Mitte des 13. Jahrhunderts führte, wurde 1824 postum von Johann Carl Bertram Stüve herausgegeben. Für die spätere Zeit sind aus dem Nachlass lediglich Fragmente erhalten. Neben der Arbeit an der Osnabrückischen Geschichte beschäftigten Möser in der dritten Periode seines Lebens – die zugleich die Periode der größten öffentlichen Wirksamkeit war – die Herausgebertätigkeit für die „Wöchentlichen Osnabrückischen Anzeigen“ (von 1766 bis 1782) und die Abfassung einer Unzahl von Artikeln zu den verschiedensten Gegenständen des öffentlichen Interesses in den seit 1768 erscheinenden Beilagen zu dieser Zeitung. Möser äußerte sich darin in pädagogisch-politischer Absicht über Schule und Erziehung, über Landwirtschaft und Gewerbe, über Gesetzgebung und Rechtsprechung, über Armenwesen und Kleiderordnungen und ganz allgemein über Sitten und Verhaltensformen der Menschen in Osnabrück und im übrigen Westfalen. Mösers Tochter Jenny von Voigts gab diese Essays unter dem Titel „Patriotische Phantasien“ seit 1774 in Buchform heraus. Dadurch wurden sie einem weiteren Leserkreis in ganz Deutschland bekannt, als durch das Osnabrückische Intelligenzblatt allein hätte erreicht werden können. Während die Osnabrückische Geschichte – auch wenn sie sich im Titel als ein Stück Landesgeschichte ausgab – in der Perspektive einer deutschen Geschichte geschrieben war, herrschten in den Patriotischen Phan-

3 Sheldon, The Intellectual Development (wie Anm. 1), S. 3 und passim. 4 Mösers Artikel für „Ein Wochenblatt“, das vom 5. Januar bis zum 28. Dezember 1746 erschien, wurden im folgenden Jahr unter dem Titel „Versuch einiger Gemälde von den Sitten unsrer Zeit vormals zu Hannover als ein Wochenblatt ausgeteilet“ in Buchform erneut veröffentlicht. 1747 schrieb Möser die Vorrede und fünfzehn Artikel für „Die Deutsche Zuschauerin. Ein Wochenblatt“. Beide Serien sind ediert in: Justus Möser: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. von der Akademie der Wissenschaft zu Göttingen. Oldenburg und Berlin, ab Band VI: Oldenburg und Hamburg 1943–1976. Erschienen sind die Bände I, IV–X, XII/1 und 2, XIII, XIV/1 (im Folgenden abgekürzt zitiert als: SW, mit Bandzahl).

6 | I Facetten und Probleme der Historiographie tasien die Lokalumstände vor. Möser setzte sich mit den konkreten Gegebenheiten der Stadt und des Landes Osnabrück sowie der weiteren Region Westfalen auseinander, weil nur in der alltäglichen Wirklichkeit des politischen und gesellschaftlichen Lebens dem Einzelnen die Möglichkeit zur tätigen Gestaltung und Verbesserung seines Daseins gegeben sei. In diesem Sinne nämlich hoffte Möser auf seine Leser einzuwirken. Er versuchte ihren Blick zu schärfen für die Bedingungen, unter denen Wohlstand, Gerechtigkeit und Zufriedenheit gedeihen konnten, um sie zu entsprechendem Verhalten zu erziehen. Mit der Konzentration auf die lokale Wirklichkeit des westfälischen Raums war somit das Streben nach einer Mitgestaltung der Zukunft verbunden. In den Patriotischen Phantasien behandelte Möser nicht nur eine große Zahl historischer Themen: vielmehr ist die gesamte Weltsicht, die in ihnen zum Ausdruck kommt, vom Sinn für das Gewordene, für das Einmalige und Besondere, für die Verwurzelung der Institutionen in der Geschichte geprägt. Mösers geistige Entwicklung erscheint somit als ein Weg von der Aufklärung zum Historismus, von den Idealen des Kosmopolitismus zur Versenkung in die gewachsenen Besonderheiten eines engen politisch-historischen Raumes.⁵ Dies ist freilich nicht als ein Rückzug ins Provinzielle zu verstehen: die zuerst durchlaufenen Stufen der Entwicklung blieben in den nachfolgenden Stufen aufgehoben; Mösers Anspruch blieb so universal wie im Anfang seiner Arbeit, nur glaubte er inzwischen schärfer erkannt zu haben, dass das Recht und die Freiheit in der konkreten und mannigfaltig verschiedenen Alltagswirklichkeit gesucht und bewahrt werden müssten. Die Osnabrückische Geschichte und die Patriotischen Phantasien sind die Hauptquellen für das Studium von Mösers Geschichtsauffassung. Möser hat mehrfach bekannt, er sei erst spät zur Historie gekommen und werde es daher in der Treue des Details niemals zu derselben Vollkommenheit bringen wie andere Historiker, die sich schon von Jugend an mit der Geschichte beschäftigt hätten: „Ich kenne mich selbst am besten und fühle nur gar zu sehr, dass ich zu spät in die historische Schule gekommen und besonders in der kritischen Classe zu sehr versäumet bin.“⁶ Den äußeren Anlass, sich mit der Geschichte Osnabrücks zu beschäftigen, bot Möser der Tod des Jugendfreundes Karl Gerhard Wilhelm Lodtmann im Jahre 1755. Lodtmann hinterließ eine unvollendete Geschichte Osnabrücks, und Möser nahm sich vor, sie abzuschließen und zu veröffentlichen.⁷

5 Diesen Weg als eine Entwicklung (statt eines Bruches) dargestellt zu haben, ist das Verdienst der Untersuchung von Sheldon (vgl. Anm. 1). 6 Vgl. Beins/Pleister (Hrsg.): Briefe (wie Anm. 1), S. 241. 7 SW XII/1 (wie Anm. 4), S. 31.

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Bei dieser Arbeit entdeckte er, dass er der Konzeption Lodtmanns nicht folgen konnte. Während es Möser darauf ankam, „die Geschichte unsrer Rechte, Sitten und Gewohnheiten zu entwickeln“ und die Ereignisse „nach dieser Absicht“ zu ordnen, fand er, dass Lodtmann die Ereignisse „mit aller ihm eignen Genauigkeit“ beschrieben habe, „ohne solchen eine gewisse Richtung zu diesem oder jenem Ziele zu geben.“⁸ So zeigt sich, dass die Reverenz vor der Genauigkeit im Tatsächlichen, die Möser Lodtmann und den professionellen Historikern erwies, sich mit dem Bewusstsein und Stolz der Andersartigkeit verband. Fehler im Detail waren korrigierbar: wichtiger erschien die richtige Auffassung vom Gang der Dinge im ganzen, weil nur aus solcher historischer Erkenntnis politische Aufklärung erwachsen konnte. Dem entsprach Mösers Arbeitsweise. Weil er seine Gedanken zur Osnabrückischen Geschichte während des Siebenjährigen Krieges entwickelt habe, wo er in seiner Funktion als diplomatischer Unterhändler viel auf Reisen gewesen sei, habe er sich vieles im Kopfe zurechtlegen müssen, ohne es sogleich an den Quellen überprüfen zu können. Mancher Paragraphus meiner Geschichte ist im Wagen überdacht und auf der ersten Station niedergeschrieben [. . . ] Bey so bewandten Umständen ist es wohl nicht anders möglich gewesen, als dass ich oftmals einen Einfall für die Wahrheit genommen habe. Indes verlasse ich mich viel auf ein gewisses Gefühl der Wahrheit, und bin darin oft bestärket worden, da ich dasjenige, was mir zuerst bloß möglich geschienen, bei näherer Untersuchung wahr befunden habe.⁹

Offensichtlich nahm Möser im Vertrauen auf dieses Gespür ganz bewusst auch Hypothesen in sein Geschichtswerk auf, die er nicht hatte hinreichend überprüfen können. In der Vorrede zur ersten Auflage der Osnabrückischen Geschichte äußerte er unter anderem die Hoffnung, viele historische Wahrheiten möglicher und wahrscheinlicher erzählet zu haben, als andre, welche entweder mit Sammlen den Anfang machen und dann mit ermüdetem Geiste die Feder ansetzen oder nur bloß ein schlechtes Gebäude verbessern.¹⁰

Mösers Geschichtsauffassung lässt sich nicht auf einen einzigen Gedanken zurückführen. Vielfältige geistige Einflüsse wirkten auf ihn. In sehr verschiedene

8 Ebd., S. 31 f. 9 Vgl. Beins/Pleister (Hrsg.): Briefe (wie Anm. 1), S. 242. 10 SW XII/1 (wie Anm. 4), S. 32; vgl. ebd., S. 129. Zur Quellengrundlage der Osnabrückischen Geschichte und zu Mösers Quellenkritik vgl. Peter Schmidt: Studien über Justus Möser als Historiker. Göppingen 1975, S. 77–91.

8 | I Facetten und Probleme der Historiographie Richtungen gingen zugleich die praktischen Bedürfnisse, die er als Bürger und Staatsmann empfand. Eine Hauptwurzel seiner Geschichtsbetrachtung bildete ohne Zweifel die Tradition der Reichshistorie in Deutschland. In der Reichshistorie diente die Geschichte der rechtlichen Verfassung des Reiches als Quelle zur Beurteilung des Reichsrechts der Gegenwart. Die Geschichte konnte der Rechtserkenntnis zu Hilfe kommen, weil das Reichsrecht weithin auf Gewohnheit und Herkommen beruhte und weil das Reich als solches ungeachtet aller Veränderungen seiner Verfassung seit Jahrhunderten bestand. Geschichte als Reichshistorie zeichnete sich daher notwendig durch einen entschiedenen Gegenwartsbezug aus: sie war eine Darstellung des geltenden öffentlichen Rechts. Möser selbst stellte seine Osnabrückische Geschichte in diesen Zusammenhang. Er habe, so schrieb er im Herbst 1763, „eine ganz neue recht reizende Theorie erfunden“, wodurch er alle bisherigen Systemen der Reichs- und Landesgeschichte völlig umstürze, die kayserl[ichen] und landesherrl[ichen] Rechte aus ganz neuen Grundsätzen einschränke und die nobles und commons, welche sich in England, Schweden und Pohlen erhalten, auch in Deutschland wiederherstelle.

Möser beschloss diese Ausführungen mit der Bemerkung, er sei, nachdem er „einmahl diese Theorie zum Grunde gelegt, [. . . ] erstaunt über die Sisteme und Rechtsgelehrsamkeit unsrer Publicisten.“¹¹ Worin die Theorie bestand, die er zugrundegelegt hatte, führte er in der Vorrede zur ersten Ausgabe des Werkes (1768) aus: Die Geschichte von Deutschland hat meines Ermessens eine ganz neue Wendung zu hoffen, wenn wir die gemeinen Landeigentümer, als die wahren Bestandteile der Nation, durch alle ihre Veränderungen verfolgen.¹²

Die Freiheit und die Unverletzlichkeit des Eigentums der sächsischen Siedler in vorkarolingischer Zeit stehen am Anfang der Geschichte Osnabrücks. Indem er diese „Edlen und Gemeinen“ zum „wahren Staat der Nation“ erklärte,¹³ machte er sie zum eigentlichen Substrat der deutschen Geschichte. Alle geschichtlichen Veränderungen erschienen als Modifikationen und Einschränkungen der ursprünglichen Freiheit und Ehre. Geschichte sollte Volks-, nicht Fürstengeschichte sein: gegenüber den Edlen und Gemeinen besaßen Kaiser und Reichsfürsten lediglich dienende Funktion: der Kaiser als ihr „Feldherr“ und die Fürsten als die „Kriegs-

11 Vgl. Beins/Pleister (Hrsg.): Briefe (wie Anm. 1), S. 424 f. 12 SW XII/1 (wie Anm. 4), S. 34. 13 Vgl. Beins/Pleister (Hrsg.): Briefe (wie Anm. 1), S. 424 f.

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Obristen“.¹⁴ Der allmähliche Zusammenschluss der freien Landeigentümer zuerst zur Markgenossenschaft, dann zur Mannie und schließlich – durch Konföderation mehrerer Mannien – zum Staat war für Möser die ursprüngliche Gestalt eines deutschen Gemeinwesens, demgegenüber alle späteren Entwicklungen als bloße Abweichungen und Einschränkungen unter dem Zwang unabweisbarer Bedürfnisse und Notwendigkeiten erschienen. Während alle Landeigentümer an der gemeinsamen Landesverteidigung mitwirkten, waren für besondere Zwecke bestimmte Personen als ständig bereite Reiter abgestellt. Dies könnte nach Mösers Vermutung die anfängliche Aufgabe der Edlen und der Ursprung des Adels gewesen sein. Einen Einschnitt bildete die Unterwerfung der Sachsen durch Karl den Großen. Mit diesem Ereignis begann eine Entwicklung, in welcher der alte Heerbann der Freien und Gleichen durch adlige Dienstmannschaften ersetzt wurde. Dadurch gerieten die ursprünglichen freien Landeigentümer zunehmend in Abhängigkeit, wurden steuerpflichtig und gingen schließlich ununterscheidbar in die Untertanenschaft der neuzeitlichen „Territorialhoheit“ mit ein.¹⁵ Im Zusammenhang mit seinen Bemühungen um eine methodische Grundlegung der Reichshistorie beschäftigte Möser offenbar vor allem das Problem des Wandels und der Periodisierung. Wenn überlieferte Gewohnheit und weit zurückliegende Satzung für die Gegenwart rechtliche Gültigkeit beanspruchen durften, dann musste der Zeitraum, in dem diese Normen galten, insofern als eine übergreifende und noch andauernde Gleichzeitigkeit begriffen werden. Das juristische Interesse an der Geschichte schien eine klare Auskunft darüber zu verlangen, wie weit die gegenwärtige Verfassung des Reiches in ihren Grundzügen zurückreiche, von welchem Zeitpunkt an somit historische Erkenntnis zur Entscheidung gegenwärtiger Rechtsfragen überhaupt beitragen könne. Das Schema der Osnabrückischen Geschichte wurde in Mösers eigenen Augen den Anforderungen einer zeitgemäßen Publizistik nicht gerecht, so sehr es als solches aus den Traditionen der Reichshistorie erwachsen war. Damit erklärt sich, dass Möser außerhalb seines Geschichtswerkes und ohne dessen Konzeption zu verändern, einen „Vorschlag zu einem neuen Plan der deutschen Reichsgeschichte“ unterbreitete, in dem eine sehr viel jüngere Epoche als das vorkarolingische Sachsen an den Anfang der Reichsgeschichte gesetzt wird, nämlich der Ewige Reichslandfriede von 1495. Mit diesem Gesetz habe „ein ganz neues Reich angefangen“, während sich das alte „völlig aufgelöset habe“, schrieb Möser.

14 Ebd., S. 190, 146. 15 SW XII/1 (Anm. 4), S. 35 ff., 63, 79, 87, 89, 243.

10 | I Facetten und Probleme der Historiographie Daher gehe der „wahre Publizist, wenn er die Rechte des Kaisers und der Reichsstände bestimmen“ wolle, „nicht über jenen Landfrieden hinaus“.¹⁶ Damit sind zwei Arten historischen Wandels gesetzt. Während das „ältere Reich“ gänzlich zertrümmert worden sei, erscheint alles, was nach 1495 vorgefallen ist, lediglich „als Verbesserungen und Verschlimmerungen des neuen Systems“. Die deutsche Geschichte seit dem Landfrieden Maximilians ist nichts anderes als die Geschichte der „Vervollkommnung der damit zum Grundgesetze des neuen Reichs gemeinschaftlich angenommenen Formel“.¹⁷ Daraus ergibt sich ein zwingendes Kriterium für die Auswahl und Anordnung des Stoffes: nur soweit sie für die weitere Ausgestaltung und „Vervollkommnung“ der Grundverfassung des Reiches Bedeutung gewonnen haben, sind einzelne Ereignisse, wie auch die Taten und Lebensgeschichten von Kaisern und Fürsten, in die Erzählung aufzunehmen. Als Vorbild für diese Art der Darstellung bezeichnete Möser selbst die „Epopee“, weil dort jede Einzelheit auf das leitende Thema hingeordnet werde.¹⁸ Möser hat immer wieder die Notwendigkeit unterstrichen, „Einheit“ in die Darstellung der Geschichte zu bringen, einen „Hauptfaden“ zu ziehen, der die Ereignisse verbindet, der Vielfalt des Geschehens „eine gewisse Richtung zu diesem oder jenem Ziele zu geben“.¹⁹ In diesem Zusammenhang gebrauchte Möser auch die Begriffe „Naturgeschichte“ und „pragmatische Historie“: eine vollständige Reichshistorie könne „einzig und allein in der Naturgeschichte seiner Vereinigung bestehn“.²⁰ In der Osnabrückischen Geschichte sollte die „Naturgeschichte“ der ursprünglichen Verbindung der freien Landeigentümer dargestellt werden.²¹ Die Naturgeschichte einer Institution zu schreiben, hieß nichts anderes, als ihre Entwicklung so darzustellen, dass ihr gegenwärtiger Zustand als in der „Natur der Sache“ begründet erschien. In diesem Sinne schrieb Möser „Etwas zur Naturgeschichte des Leibeigentums“.²² Die historische Rückbesinnung sollte erweisen, dass die gegebenen Institutionen sich zu ihrer jetzigen Form entwickelten, weil unabänderliche Notwendigkeiten die Umbildung ihres ursprünglichen Zustands erzwungen haben. Den geschichtlichen Wandel auf die jeweiligen Notwendigkeiten zurückzuführen, ihn als zweckmäßige Anpassung an jeweils neue Bedürfnisse zu erklären, war

16 SW VII (Anm. 4), S. 131. 17 Ebd., S. 131 f. 18 Ebd., S. 30, 132; vgl. Beins/Pleister (Hrsg.): Briefe (wie Anm. 1), S. 150, 189. 19 SW VII (wie Anm 4), S. 132; XIII, (wie Anm. 4), S. 45; XII/1 (wie Anm. 4), S. 32. 20 SW XIII (wie Anm. 4), S. 45; VII (wie Anm. 4), S. 133. 21 SW XIII (wie Anm. 4), S. 45; vgl. Beins/Pleister (Hrsg.): Briefe (wie Anm. 1), S. 322. 22 SW VI (wie Anm. 4), S. 260; VII (wie Anm. 4), S. 255 ff.

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das Ziel einer „pragmatischen“ Historie im Sinne Mösers. Die „pragmatische“ Betrachtungsweise suchte zu allen bedeutsamen Veränderungen die „natürlichen“ Ursachen zu entdecken. „Der Grund der Angehörigkeit liegt in einem wahren natürlichen Staatsbedürfnis“, schrieb Möser; und noch deutlicher heißt es kurz darauf, der „Kenner“ werde „leicht den Gang der Natur in der Angehörigkeit entdecken.“²³ So war der pragmatische Zugriff zugleich ein fruchtbares heuristisches Prinzip. In einer Reflexion auf den „Nutzen einer Geschichte der Ämter und Gilden“ hob Möser hervor, „wie pragmatisch [. . . ] eine solche Geschichte gemacht werden“ könne; der „Ursprung eines jeden Amts“ gebe „ein Zeugnis von den Notwendigkeiten der damaligen Zeit, von der Art zu handeln, zu kriegen, zu denken, sich zu kleiden und zu ernähren.“²⁴ Nach einer Formulierung Friedrich Meineckes machte Möser „die Dynamik der sachlichen Notwendigkeiten“ zum „bewegenden und verwandelnden Prinzip“ in der Geschichte.²⁵ Da er geschichtlichen Wandel jeweils als den Versuch einer möglichst zweckmäßigen und vernünftigen Anpassung an neue Herausforderungen zu begreifen suchte, sah er eine der vornehmsten Aufgaben der Geschichtsschreibung darin, den Mitlebenden die überkommene rechtliche und soziale Ordnung, soweit es ging, in ihrer ursprünglichen Vernünftigkeit zu offenbaren. Die verborgene Ratio im Unverständlichen und scheinbar Ungereimten zu entdecken, war ein Hauptantrieb für Mösers Beschäftigung mit der Geschichte: Wenn ich [. . . ] auf eine alte Sitte oder alte Gewohnheit stoße, die sich mit den Schlüssen der Neuern durchaus nicht reimen will, so gehe ich mit dem Gedanken: die Alten sind doch auch keine Narren gewesen, solange darum her, bis ich eine vernünftige Ursache davon finde.²⁶

Die Grundthese der Osnabrückischen Geschichte rechtfertigte Möser damit, dass sie es ermögliche, „tausend Umstände, die jetzt niemand versteht, deutlicher aufzuklären.“²⁷ Wenn Möser die Vielgestaltigkeit der rechtlichen Verhältnisse und gesellschaftlichen Beziehungen in seiner Heimat auf vernünftige und natürliche Ursachen zurückzuführen bemüht war, dann entsprach dieser Zielsetzung eine Auffassung von Natur, „die ihren Reichtum in der Mannigfaltigkeit“ zeigte,²⁸ und

23 SW VI (wie Anm. 4), S. 268. 24 SW IV (wie Anm. 4), S. 60. 25 Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus. Hrsg. von Carl Hinrichs. München 1959, S. 344. 26 SW X (wie Anm. 4), S. 133. 27 Beins/Pleister (Hrsg.): Briefe (wie Anm. 1), S. 425. 28 SW V (wie Anm. 4), S. 22.

12 | I Facetten und Probleme der Historiographie ein Begriff von Vernunft, die sich nicht in der Klarheit und Einfachheit einer kleinen Zahl von Prinzipien, sondern in der zweckmäßigen Anpassung an die Vielfalt der je gegebenen Umstände offenbarte. In der von Ort zu Ort wechselnden Vielfältigkeit der Institutionen und Gewohnheiten die jeweilige „Lokal-Vernunft“ zu offenbaren: das war eine der wichtigsten Aufgaben des Historikers.²⁹ Diese „Lokal-Vernunft“ stellte Möser dem gleichförmigen und nivellierenden Rationalismus der aufgeklärten Staatsphilosophie entgegen. Während diese ohne Verständnis für das Maß an innerer Vernünftigkeit in den überkommenen Institutionen alles nach bloßen Verstandesgrundsätzen neu und einfach zu regeln beanspruchte, war Möser überzeugt, dass Recht und Rechtsbewusstsein nur in langsamem Wachstum und behutsamer Fortbildung bewahrt werden könnten. „Der jetzige Hang zu allgemeinen Gesetzen und Verordnungen ist der gemeinen Freiheit gefährlich“, heißt eine der Patriotischen Phantasien.³⁰ Damit wird deutlich, dass Möser mit seiner Geschichtsschreibung zugleich einen politischpädagogischen Zweck verfolgte. Indem er seinen Mitbürgern und Zeitgenossen aus der Geschichte die verborgene Vernünftigkeit in zahlreichen Gebräuchen und Rechtsnormen entdeckte, suchte er sie zugleich zu deren Verteidigern zu machen. Seiner Osnabrückischen Geschichte wies er die Aufgabe zu, „den Bürger und Landmann“ zu lehren, „wie er in den mancherlei Regierungsformen und deren sich immer veränderten Spannungen Freiheit und Eigentum am sichersten erhalten könne.“³¹ Die Geschichte konnte dabei helfen, die eigene Stellung in der Gesellschaft bewusst zu machen und zu zeigen, auf welchen Rechten sie beruhte. So konnte Möser als ein Ergebnis seiner Osnabrückischen Geschichte festhalten: Der Adel in Deutschland hat eigentlich nicht einmahl zur Nation gehört [. . . ] Wir Unadliche haben lange genug unter der drückenden Vermuthung gestanden, daß wir von helotischer Herkunfft wären. Allein, das soll nicht mehr seyn. Ego quiris volo, jubeo!³²

Auch wenn Möser der aufgeklärten Universalvernunft die Mannigfaltigkeit der je besonderen Lokalvernunft entgegensetzte, erinnert gerade die Konzeption seines historiographischen Hauptwerkes an staatstheoretische Konstruktionen der Philosophie des Zeitalters. Die Gesellschaft der freien und gleichen Landeigentümer und der „Originalkontrakt“ unter ihnen, die Möser aufgrund historischer Reflexion an den Anfang der staatlichen Entwicklung stellte, erinnern an den sta-

29 SW XII/1 (wie Anm. 4), S. 147. Vgl. dazu Meinecke: Die Entstehung des Historismus (wie Anm. 25), S. 322. 30 SW V (wie Anm. 4), S. 22 ff. 31 SW XII/2 (wie Anm. 4), S. 41. 32 Beins/Pleister (Hrsg.): Briefe (wie Anm. 1), S. 197.

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tus naturalis der politischen Philosophie, nur dass dieser nicht historisch nachgewiesen, sondern lediglich hypothetisch zugrundegelegt wurde. Und wie diese Hypothese dazu dienen sollte, die Rechte des Menschen und Bürgers im status civilis zu bestimmen, so hoffte auch Möser, aus der Geschichte der freien Landeigentümer die Rechte der Edlen und Gemeinen in seiner Zeit klarer erkennen zu können. Auch Möser sprach für die frühesten Zeiten vom „Stande der Natur“; den Zusammenschluss der „souveränen Landeigentümer“ und ihre Verabredungen zu wechselseitiger Hilfe nannte auch er einen „ersten Sozialkontrakt“.³³ Überreste dieses Kontrakts glaubte er noch in seiner eigenen Zeit entdeckt zu haben: Noch jetzt, ungeachtet wir Brandassekurationsgesellschaften haben, erwartet ein Landeigenthümer im Stifte Osnabrück, wo diese noch einzeln auf ihren Höfen wohnen, wenn ihm seine Wohnung abbrennt, von seinen Mitgenossen einen Eichbaum zum Hausbalken.³⁴

Es scheint, als ob Möser jenes ferne Zeitalter als ein Ideal betrachtete, dem gegenüber die seitherige Geschichte nur als ein Zurückschreiten, als ein Verlust einstiger Vollkommenheit begriffen werden konnte. In der Tat findet man bei Möser Anzeichen des Pessimismus und der Resignation. Im Jahre 1765 schrieb er an den Historiker Thomas Abbt: „Bemerken Sie das Alter jeder Verfassung bey der mindern oder mehrern Freyheit! Freyheit ist die Jugend und Despotismus das Alter.“³⁵ Warum die Freiheit des Ursprungs verlorengegangen war, zeigte er in der Osnabrückischen Geschichte. Dass auch die verbliebene Freiheit zum Untergang bestimmt sei, hielt er jedoch allenfalls für eine Gefahr, nicht für ein unabänderliches Schicksal, zielte die pädagogische Absicht seiner Geschichtsschreibung doch gerade darauf, durch Bewusstmachung der Rechte das weitere Vordringen des Despotismus zu verhindern: Meiner Meinung nach sollten die Kinder durch die Geschichte sofort von dem Originalcontrackt, welchen die bürgerliche Gesellschaft, worin sie leben sollen, errichtet hat, belehret werden. Sie sollten frühzeitig lernen, was ein eigner, ein erbrecht eigner Heerd sey, was für eine Stimme daraus zu den gemeinen Angelegenheiten gehe, wer solche an ihrer Stelle in dem engen Nationalausschusse führe, wie weit die Vollmacht dieses Stimmführers gehe, und wieviel sie von ihrem Eigenthum und ihrer Freyheit zum gemeinen Besten aufgeopfert haben³⁶

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SW X (wie Anm. 4), S. 134; IX (wie Anm 4), S. 191, 193. Ebd., S. 192. Beins/Pleister (Hrsg.): Briefe (wie Anm. 1), S. 198. Ebd., S. 244.

14 | I Facetten und Probleme der Historiographie Mag somit der Despotismus abwendbar erscheinen, so ist doch nicht ausgeschlossen, dass es Zeiten gab, in denen die Freiheit vollkommener war als in Mösers eigener Gegenwart. Möser befand sich hierbei in der gleichen Lage wie Montesquieu: die Zurückführung der Verschiedenheit der politischen Verfassung und der Staaten auf die Verschiedenheit der Umstände stand nicht im Widerspruch zu der Anerkennung der Tatsache, dass es Länder gebe, in denen die Freiheit zu größerer Vollendung gebracht sei als in anderen. Die sächsische Frühzeit war für Möser ohne Zweifel in ganz ähnlichem Sinne ein Ideal wie die englische Verfassung für Montesquieu: beide waren das eigentlich Wünschbare, aber sie konnten nicht über Raum und Zeit hinweg verpflanzt werden. Ihr Wert lag daher in ihrer Verwendbarkeit als Maßstab und Erkenntnismittel: und hierfür war für beide Autoren letztlich sogar gleichgültig, ob ihre Darstellung in jeder Einzelheit auch tatsächlich der Wirklichkeit entsprach. Auf entsprechende Einwände von Kritikern entgegnete Möser, auch der Mathematiker nehme zur Berechnung der krummen eine vollkommene gerade Linie an, wenn diese sich auch nirgends in der Welt findet; eben das tut der Geschichtsschreiber, der den ursprünglichen Kontrakt eines Staats auf Freiheit und Eigentum gründet.

Und nun folgt die politisch-pädagoische Rechtfertigung, die als Motto über der ganzen Osnabrückischen Geschichte stehen könnte: Wenn auch alle Gegebenheiten, welche die Geschichte aufstellet, nichts wie Annäherungen oder Abweichungen von der Hauptlinie sind, so kann doch derjenige, der sie erzählet, die Sklaverei nicht zur Regel nehmen und die Freiheit als Abweichung zeichnen.³⁷

Hier bildet die Freiheit das Ideal, und die Geschichte ist nichts als eine Abfolge von Zuständen größerer oder geringerer Annäherung an dieses Ideal. Damit wird das Ideal zur Bezugsgröße, auf die hin historische Aussagen allein sinnvoll sein können. Offenbar hat Möser sich hierbei die Behandlung der Kunstgeschichte durch Winckelmann zum Vorbild genommen. In einem Brief an Abbt schrieb er im Juni 1765, Winckelmann habe „die Geschichte eines Ideals zur Haubt-Action gemacht“ und die Veränderungen dieses Ideals durch die Epochen verfolgt. In der „Allgemeinen Geschichte“ dagegen sei die Geschichte des Menschen „die grosse Absicht“, und „dieser Mensch“ werde „ein Ideal“. Auf ein so umfassendes Unternehmen, das die Lebensäußerungen des Menschen in allen Bereichen der Kultur hätte einbeziehen müssen, wollte Möser sich jedoch gar nicht einlas-

37 SW XIII (wie Anm. 4), S. 45 f.

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sen. Sein Anspruch war bescheidener: entsprechend ihrer Verwurzelung in der Tradition der Reichshistorie sollte die Osnabrückische Geschichte lediglich zur politischen Institutionengeschichte des Reiches beitragen. Das „Ideale“, das er darin zugrunde legen wollte, sollte, wie bereits angedeutet, kein anderes sein als „die Geschichte der Edlen und Gemeinen“.³⁸ Die Schicksale der gemeinen Landeigentümer seit der ersten Besiedlung des sächsisch-westfälischen Raumes: das war die „Hauptlinie“, die Möser verfolgen wollte. Also begann er seine Geschichtsschreibung mit dem Bekenntnis zur politischen und gesellschaftlichen Ordnung einer fernen Vergangenheit. Alle nachfolgenden Zustände sollten als bloße Abweichungen von dieser Ordnung dargestellt werden. Eben darum konnten in einer solchen Geschichte Kaiser und Fürsten nur als die Bedienten und nicht als die Herren der Nation erscheinen.³⁹ Möser hat sein Ideal gelegentlich auch in anderen Epochen als der vorkarolingischen Periode festgemacht. In einem Essay in den Patriotischen Phantasien erklärte er, die „Zeiten des Faustrechts in Deutschland“ schienen ihm „allemal diejenigen gewesen zu sein, worin unsere Nation das größte Gefühl der Ehre, die mehrste körperliche Tugend und eine eigne Nationalgröße gezeiget“ habe. Rechtsgefühl, Freiheitsbewusstsein, Wehrhaftigkeit, Tapferkeit werden hier als Eigenschaften geschildert, welche „eine Nation groß machen“ können.⁴⁰ Der Titel der Abhandlung – „Der hohe Stil der Kunst unter den Deutschen“ – ist wiederum eine deutliche Anspielung auf die Betrachtungen über den „hohen Stil“ der griechischen Kunst in Winckelmanns „Geschichte der Kunst des Alterthums“.⁴¹ Dabei schätzte Möser das Faustrecht als Kulturleistung noch höher ein als die griechische Plastik der klassischen Zeit: unsre Nation [. . . ] sollte billig diese große Periode studieren und das Genie und den Geist kennenlernen, welcher nicht in Stein und Marmor, sondern am Menschen selbst arbeitete und sowohl seine Empfindungen als seine Stärke auf eine Art veredelte, wovon wir uns jetzt kaum Begriffe machen können.⁴²

Mit seiner pädagogischen Leidenschaft reihte sich Möser in eine Tradition der Geschichtsbetrachtung ein, für welche die Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens von Wert war. Allerdings betonte er wiederholt seine „Abneigung gegen alle moralischen Betrachtungen“. Diese gehörten „in die Geschichte der Menschheit,

38 Beins/Pleister (Hrsg.): Briefe (wie Anm. 1), S. 189 f. 39 Ebd., S. 146, 197, 424 f. 40 SW IV (wie Anm. 4), S. 263–265. 41 Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums. Berlin 1870, S. 151 f. 42 SW IV (wie Anm. 4), S. 264.

16 | I Facetten und Probleme der Historiographie und das soll die Geschichte eines Staates nicht sein.“⁴³ „Die Geschichte muß keine Lehrerin der Moral, sondern der Politik bleiben.“⁴⁴ Indem die Geschichte eines Staates den ursprünglichen „Sozialkontrakt“ zugrundelegte, belehrte sie den Bürger und Untertanen über seine Rechte und über die Gefährdungen der Freiheit. Als „pragmatische“ Historie erklärte sie den gegenwärtigen Zustand der Dinge aus Notwendigkeiten früherer Zeiten; zugleich ließ sie erkennen, wo auf Herausforderungen unangemessen reagiert wurde, wo also Fehler begangen wurden, und sie schärfte den Blick dafür, wo auch die Gegenwart Fehler zu machen drohte. Dies wird besonders deutlich in den zahlreichen Skizzen Mösers zur sozialen und wirtschaftlichen Geschichte. Wer den Niedergang verschiedener Handwerkszweige in der Vergangenheit mit seinen Ursachen „genau bemerkte, würde manchen jungen Künstler anweisen können, seine Aufmerksamkeit dahin zu wenden, wohin der Hang der Moden, des Geschmacks, des Eigensinns und der Staatsbedürfnisse mit einem nur scharfen Augen einleuchtenden Blicke winket.“⁴⁵ Immer wieder beschäftigte sich Möser mit den Ursachen für den Verfall von Handel und Handwerk und suchte aus der historischen Analyse die unmittelbare Nutzanwendung für die Gegenwart zu finden. Der praktische Nutzen einer Geschichte der Wirtschaft liege, so meinte Möser, schließlich auch darin, dass sie, statt wie bisher nur dem Fürsten und Kriegshelden, künftig auch dem „großen Privatmanne“, dem „Kaufmann oder Künstler“ die Aussicht auf Nachruhm und „Unsterblichkeit“ eröffne.⁴⁶ Die Angehörigen dieser sozialen Gruppen würden dadurch zu umso größeren Leistungen angespornt. Aus demselben Grunde regte Möser auch eine „westfälische Biographie“ an, durch die das Andenken solcher Männer aufbewahrt werden sollte, die wegen ihres eingeschränkten Wirkungskreises nicht zu den Großen der Nation gerechnet werden könnten, deren Leistung für das Gemeinwesen aber dennoch von höchstem Wert gewesen sei.⁴⁷ Auf diese Weise würden nicht nur Muster zur Nachahmung vorgestellt, sondern auch ein Anreiz geschaffen, sich durch eigene Anstrengung dereinst selber einen Platz in der Biographie zu verdienen. In den Patriotischen Phantasien versuchte Möser, seine durch Lebenserfahrung, politische Praxis und historische Forschung erworbenen Anschauungen in Ermahnungen und Belehrungen für seine Mitbürger umzusetzen. Wenn man aus der Geschichte lernen konnte, wenn man sein eigenes wie auch das gesellschaft-

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SW XIII (wie Anm. 4), S. 46. Beins/Pleister (Hrsg.): Briefe (wie Anm. 1), S. 243. SW IV (wie Anm. 4), S. 60. Beins/Pleister (Hrsg.): Briefe (wie Anm. 1), S. 59. Ebd., S. 297 ff.

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liche und öffentliche Leben gut oder weniger gut gestalten konnte, dann waren auch die vergangenen Situationen offen: dann konnte nicht alles so, wie es geworden ist, nach den jeweiligen Umständen die vernünftigste und zweckmäßigste Lösung gewesen sein. Möser wäre vermutlich niemals auf den Gedanken gekommen, alles Überlieferte bloß als solches für erhaltenswert zu erklären. Er war zu sehr Staatsmann, um nicht zu wissen, dass äußeren Notwendigkeiten auf verschiedene Art und Weise begegnet werden konnte, und zu sehr Historiker, um nicht zu erkennen, dass Einrichtungen, die in einer bestimmten Epoche wohltätig gewirkt hatten, sich im weiteren Verlauf als überflüssig, wenn nicht gar als Belastung erweisen konnten. Sein Interesse an der Geschichte war gerade von dem Bestreben geleitet, das Notwendige und Zweckmäßige in der Überlieferung vom Überlebten oder gar Schädlichen unterscheiden zu lernen. Von hier aus lässt sich auch die Eigenart von Mösers konservativer Grundhaltung bestimmen. Ebenso wie seine historischen Bemühungen von der Annahme ausgingen, dass auch die Vorfahren aus Gründen gehandelt hatten, bestand das Wesen seines Konservativismus in der Überzeugung, dass die Überlieferung erst auf ihren eigentlichen Sinn geprüft werden müsse, bevor sie abgeschafft oder verändert würde. Aus solcher Prüfung ergab sich die Erkenntnis der Grundlagen der bestehenden sozialen und politischen Ordnung und damit die Möglichkeit zur unterscheidenden Hervorhebung dessen, was unter allen Umständen bewahrt und erhalten werden musste. Zugleich ermöglichte es solche Erkenntnis, aus Fehlern der Vorfahren zu lernen und bewährte Grundsätze in zeitgemäßer Anpassung an die Gegenwart von neuem zur Geltung zu bringen. Mösers Konservativismus stellt sich somit als eine besondere Methode dar, die Gestaltung der Zukunft in Angriff zu nehmen. Im einzelnen wird man Mösers veröffentlichte Ansichten nicht durchweg mit seinen wirklichen Ansichten in eins setzen dürfen. Als handelnder Staatsmann durfte er keiner der verschiedenen Interessen zu nahe treten, deren immer erneuter Ausgleich Ziel und Voraussetzung seiner politischen Tätigkeit bildete. Er hat dies selbst bekannt. So schrieb er 1778 mit Bezug auf die Leibeigenschaft an Friedrich Nicolai, er würde dieser Einrichtung gewiss einen offenbaren Krieg angekündigt haben, wenn nicht das hiesige Ministerium und die ganze Landschaft aus lauter Gutsherren bestände, deren Liebe und Vertrauen ich nicht verscherzen kann, ohne allen guten Anstalten zu schaden.⁴⁸

48 Ebd., S. 311.

18 | I Facetten und Probleme der Historiographie Man mag darüber streiten, wie ernst es Möser mit dieser Kritik meinte.⁴⁹ Entscheidend für sein Verhältnis zur Geschichte wie für den Charakter seines Konservativismus bleibt, dass er auch mit Bezug auf die Leibeigenschaft die historische Reflexion auf ihre mögliche geschichtliche Vernünftigkeit forderte und dass er gleichzeitig die Überzeugung zum Ausdruck brachte, dass eine Zeit kommen werde, wo die guten Gründe, die zu ihrer Entstehung geführt hätten, hinfällig geworden seien und nicht länger zu ihrer Rechtfertigung dienen könnten. Gerade an diesem Beispiel wird noch einmal besonders deutlich, dass Mösers Zuwendung zur Geschichte die Folge einer politischen Grundhaltung war, die dem Gegebenen zunächst einmal sein eigenes Recht zuerkannte. Möser kleidete die Darlegung seiner beschriebenen doppelseitigen Auffassung über die Leibeigenschaft einmal in die Gestalt einer fiktiven Geschichte.⁵⁰ Er erfand dort eine Konstellation, die sich bei der Kolonisation einer fernen Insel ergab und die in der Tat die Verpflichtung mit dem Leibe als notwendig und rechtlich begründet erwies: zweifellos eine Satire auf die fiktiven Naturzustände der Naturrechtslehrer, mit denen die ursprüngliche und unveräußerliche Freiheit des Menschen bewiesen werden sollte. Und doch ist es zugleich und eben deshalb eine Anweisung zu konkreter historischer Prüfung, ob nicht auch diese Institution ihren Rechtsgrund habe. Die Geschichte endet damit, dass die Einrichtung aufgrund der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung von selbst überflüssig wurde. Man darf dies sicher als einen Hinweis darauf verstehen, dass Möser an schrittweise Veränderungen und an die Möglichkeit von Reformen überall dort glaubte, wo keine Notwendigkeit mehr für die Aufrechterhaltung eines überlieferten Rechts bestand. Die historische Ermittlung der wirklichen Gründe einer solchen Institution bildete darüber hinaus zugleich eine wesentliche Vorbedingung für die Möglichkeit, zur gegebenen Zeit Ersatzeinrichtungen zu treffen, die den ursprünglichen Zweck nunmehr ebenso gut erreichten.⁵¹ Fasst man die beschriebenen Züge der Geschichtsauffassung Mösers zusammen, so zeigt sich, dass er in eigentümlicher Weise Ansätze eines frühen Historismus mit Vorstellungen der Aufklärung und der zeitgenössischen Historie verknüpfte. Möser besaß einen Sinn für das Besondere und Konkrete; aber er suchte das Individuelle dadurch zu verstehen, dass er auch in ihm die verborgene Vernünftigkeit entdeckte: im Begriff der „Lokalvernunft“ kommt dieser Zugriff prägnant zum Ausdruck. Sein „pragmatischer“ Ansatz erlaubte es Möser, die Besonderheit jeder Geschichtsperiode aus ihren eigenen Voraussetzungen

49 Vgl. Klaus Epstein: The Genesis of German Conservatism. Princeton 1966, S. 331. 50 SW VII (wie Anm. 4), S. 255 ff. 51 SW X (wie Anm. 4), S. 151 f.

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heraus zu verstehen; aber zugleich unterwarf er die Epochen doch einer über die Zeiten hinweg gültigen Norm – einem „Ideal“ –, um sie von solcher Warte aus zu beurteilen. Indem er überall nach den vernünftigen Gründen für die Veränderungen forschte, machte er zwar deutlich, warum die Epochen sich voneinander unterschieden, aber die jederzeit mit sich identische praktische Vernunft, mit der er die Unterschiede zu erklären suchte, ließ die Menschen der Vergangenheit doch zugleich wie Mitlebende der eigenen Gegenwart erscheinen. Eben darum blieb die Geschichte auch für Möser ein Arsenal von Lehrstücken, und dies erklärt zugleich den utilitaristischen und pädagogischen Zug seiner Geschichtsbetrachtung insgesamt. Wenn er es ablehnte, die Rechte der Menschen aus einer philosophischen Spekulation abzuleiten und insofern die Geschichte als einen Irrweg zu verurteilen, so suchte doch auch er gerade aus der Zuwendung zur Geschichte den Einblick in den ursprünglichen Rechtszustand der Gesellschaft zu gewinnen, um diesen, soweit möglich, in zeitgemäßer Bewahrung des geschichtlich Überkommenen für die Zukunft zu erhalten. Ein hervorstechender Zug seiner Geschichtsauffassung ist daher der Sinn für die Kontinuität, d. h. für die Notwendigkeit, die Geschichte als fortlaufenden Wandel an einem Gegenstand zu begreifen, der als solcher in aller Veränderung mit sich selbst gleich blieb. In einer deutschen Geschichte konnte dieses durchgehende Substrat nur die deutsche Nation sein. Damit vollzog Möser einen wichtigen Schritt von der Aneinanderreihung von Herrschergeschichten zu einer organischen Geschichtsauffassung und zur vollen Ausbildung des Entwicklungsgedankens.

Mentalität und Mentalitätsgeschichte Im* Jahre 1925 beklagte Richard Lewinsohn (Morus) in einem Buch über „Die Umschichtung der europäischen Vermögen“ den Kapitalmangel in Deutschland. „Es sind“, so schrieb er, „zum großen Teil seelische Hemmungen, die an der gegenwärtigen Krise schuld sind. Es ist, um das grauenvolle Wort einmal zu verwenden, die Mentalität der Inflationszeit, an der die deutsche Wirtschaft seit der Stabilisierung krankt und die sie noch nicht überwunden hat.“¹ Die Bemerkung verrät, dass das Wort Mentalität vor rund sechzig Jahren in Deutschland noch als neu und fremdartig empfunden wurde. Andererseits wäre die abschätzige Charakterisierung des Worts durch Lewinsohn sinnlos gewesen, wenn es nicht bereits Eingang in den Sprachschatz gefunden hätte. In der Tat stammen die frühesten Belege aus der Epoche des Ersten Weltkriegs. In einem „Buch zur Entwelschung“ wurde Mentalität im Jahre 1917 als eines der „zurzeit“ „vornehmsten Welschwörter des Geisteslebens“ gebrandmarkt, das „seit etwa fünf Jahren“ anzutreffen sei und „selbstverständlich für unvergleichlich vornehmer“ gelte „als Seelenzustand, Gesinnung, Hirnverfassung, Geistigkeit“.² Trotz aller Bemühungen um seine Verbannung ist das Wort nach dem Ende des Krieges in Deutschland immer geläufiger geworden. In seinem berühmten Essay „Zur Soziologie der Imperialismen“ behandelte Joseph Schumpeter im Jahre 1919 zum Beispiel die „Mentalität der kapitalistischen Lebensform“, den „Typus“ der „Mentalität“ der Unternehmer, die „soziale Struktur, Mentalität und Situation“ eines Volkes usw. Auch in dem am weitesten verbreiteten Buch der zwanziger Jahre findet sich das Wort. Im zweiten Teil von Hitlers „Mein Kampf“, erstmals veröffentlicht im Jahre 1926, ist zu lesen: „Im allgemeinen wird nun das Judentum in den einzelnen Volkskörpern immer mit denjenigen Waffen kämpfen, die auf Grund der erkannten Mentalität dieser Nationen am wirklichsten erscheinen und den meisten Erfolg versprechen.“ Theodor Geiger gebrauchte das Wort Mentalität 1932 als einen Begriff der Wirt-

* Erweiterte Fassung der Antrittsvorlesung, die der Verfasser am 25. November 1981 in der Alten Aula der Universität Heidelberg gehalten hat. Abschluss des Manuskripts: September 1984. Erstdruck in: Historische Zeitschrift 241 (1985), S. 555–598. 1 Richard Lewinsohn (Morus): Die Umschichtung der europäischen Vermögen. Berlin 1925, S. 200. Der Hinweis darauf entstammt Hans Schulz/Otto Basler (Hrsg.): Deutsches Fremdwörterbuch. Bd. 2. Berlin 1942, Stichworte „mental“, „Mentalität“, S. 102. Ebd. weitere Belege aus der Frühgeschichte des Worts. 2 Eduard Engel: Sprich Deutsch! Ein Buch zur Entwelschung. 2. Aufl. Leipzig 1917, S. 144; vgl. Schulz/Basler (Hrsg.): Deutsches Fremdwörterbuch (wie Anm. 1), S. 102.

22 | I Facetten und Probleme der Historiographie schaftssoziologie: danach sollten sich soziale Schichten unter anderem durch ihre „Wirtschaftsinteressen oder Mentalitäten“ voneinander unterscheiden lassen.³ Das Wort Mentalität stammt ursprünglich aus dem Englischen: mentality ist 1691 zum ersten Mal belegt.⁴ Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde es ins Französische übernommen, aber der Gebrauch blieb offenbar zunächst beschränkt, denn Marcel Proust erklärte mentalité noch um 1897 als „un mot nouveau“, als „le fin du fin et comme on dit le ‚dernier cri‘“.⁵ Vom Französischen her scheint das Wort dann, wie bereits angedeutet, kurz vor dem Ersten Weltkrieg in die deutsche Sprache gelangt zu sein.⁶ Inzwischen ist Mentalität ein durchaus geläufiger Ausdruck der Alltagssprache geworden, wie jeder aufmerksame Zeitungsleser weiß. Begriffsverbindungen wie „Subventionsmentalität“ oder „nachkriegsdeutsche Mentalität“, selbst „Genußmentalität“ oder gar „Playboy-Mentalität“, fallen kaum noch auf. Helmut Schelsky schrieb 1981 in einem Artikel über die Mentalität von Bürokraten und Funktionären von „Beamtenmentalität“, „Fluglotsenmentalität“ und von „Mentalität westlicher Gewerkschaftsfunktionäre“. Erst vor kurzem bescheinigte Theodor Eschenburg der Stadt Frankfurt nach dem Ersten Weltkrieg eine „unmilitärische Mentalität“.⁷ Auch in die Begriffswelt der Geschichtswissenschaft hat das Wort Mentalität in den letzten Jahren zunehmend Eingang gefunden. So schrieb der gewiss jeder modischen Tendenz unverdächtige Karl Dietrich Erdmann 1976 in

3 Joseph A. Schumpeter: Zur Soziologie der Imperialismen (1919). In: Ders.: Aufsätze zur Soziologie. Tübingen 1953, S. 125, 121, 73. Adolf Hitler: Mein Kampf. 2. Bd. 13. Kap. 26. Aufl. München 1933, S. 703. Theodor Geiger: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage. Stuttgart 1932, S. 4; vgl. im übrigen unten. 4 Art. Mentality. In: New English Dictionary on Historical Principles. Bd. 6, 2. Teil. Oxford 1908, S. 342. 5 Art. Mentalis. In: Walther von Wartburg: Französisches Etymologisches Wörterbuch. Basel 1969, S. 731; Marcel Proust: A la recherche du temps perdu, tome III: Le côté de Guermantes I. 42. Aufl. Paris 1920, S. 212 f.; dieselbe Proust-Stelle zitiert Gerd Tellenbach: „Mentalität“. In: Erich Hassinger u.a. (Hrsg.): Geschichte, Wirtschaft, Gesellschaft. Festschrift für Clemens Bauer. Berlin 1974, S. 11; ebd. S. 11–13, weitere Überlegungen und Belege zur Wort- und Begriffsgeschichte. 6 Engel: Sprich Deutsch! (wie Anm. 2), S. 144. 7 Markus Schöneberger: Hinein in die produktive Marktlücke. In: FAZ Nr. 22 v. 26. 1. 1984; Paul Noack: Ihre gemeinsame Konstante war das Schwäbische. Heuss und Hesse – eine lebenslange Freundschaft. In: FAZ Nr. 24 v. 28. 1. 1984; Siegfried Schröer: Genußmentalität und Geburtenrückgang (Leserbrief). In: FAZ Nr. 16 v. 19. 1. 1984; Helmut Schelsky: Bürokraten und Funktionäre. Ihre Mentalität gefährdet das Gemeinwohl und den Fortschritt. In: FAZ Nr. 276 v. 28. 11. 1981; Theodor Eschenburg: Bürgersinn – milde, liberal und demokratisch. Das Frankfurter Milieu 1915 bis 1933 (Rede anläßlich einer Beckmann-Ausstellung). In: FAZ Nr. 24. v. 28. 1. 1984.

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Gebhardts Handbuch der deutschen Geschichte, „ehemalige Soldaten und Freikorpskämpfer“ hätten „die Mentalität des SA-Führerkorps“ bestimmt.⁸ Gilbert Ziebura charakterisierte in einer Studie über den französischen Imperialismus 1971 die „‚Rentner‘-Mentalität“ von Teilen der französischen Bourgeoisie.⁹ Die Historische Zeitschrift, das repräsentative Organ der deutschen Geschichtswissenschaft, enthält in ihrer Zeitschriftenschau seit dem ersten Heft des Jahres 1980 neben Rubriken wie „Politik, Verfassung, Recht“ oder „Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Demographie“ auch eine Rubrik „Religions- und Kulturgeschichte, Mentalitäten“. Demnach wäre Mentalität nicht nur zu einem Begriff zur Bezeichnung bestimmter historischer Phänomene geworden; vielmehr erscheint die Erforschung von Mentalitäten darüber hinaus zugleich als ein eigener Gegenstandsbereich der Geschichtswissenschaft, möglicherweise mit spezifischen Fragestellungen und Methoden. Tatsächlich scheint Mentalitätsgeschichte als eigenständiger Teilbereich oder wenigstens als ein spezifischer Ansatz historischer Forschung heute grundsätzlich anerkannt zu sein. Umso mehr fällt auf, dass sich bisher in Deutschland nur ganz wenige Autoren mit der Frage beschäftigt haben, was unter Mentalität und Mentalitätsgeschichte eigentlich zu verstehen sei. Fragt man zunächst wieder nach dem begriffsgeschichtlichen Zusammenhang, so zeigt sich, dass der geschichtswissenschaftliche Begriff der Mentalität – und zwar auch im englischen Sprachraum, ungeachtet der ursprünglichen Herkunft des Wortes – heute überwiegend als französische Prägung empfunden wird: Robert Darnton nannte mentalité unlängst bezeichnenderweise „a convenient Gallicism, which has spread through English and German after making its fortune in France“. Patrick H. Hutton hält den Ausdruck „history of mentalities“ sogar für „awkward in French and infelicitous in English translation (!)“. So mag es sich auch erklären, dass das Wort mentalité in englisch- oder deutschsprachigen wissenschaftlichen Abhandlungen häufig unübersetzt bleibt. In beiden Sprachen besteht offenbar eine Spannung zwischen Alltagsbedeutung und wissenschaftlicher Auffassung des Worts. Diese Spannung macht die Aufgabe einer Begriffsbestimmung nicht leichter.¹⁰

8 Karl Dietrich Erdmann: Die Zeit der Weltkriege. (Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte. Bd. 4.) 9. Aufl. Stuttgart 1976, S. 354. 9 Gilbert Ziebura: Interne Faktoren des französischen Hochimperialismus 1871–1914. Versuch einer gesamtgesellschaftlichen Analyse. In: Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.): Der moderne Imperialismus. Stuttgart 1971, S. 88. 10 Robert Darnton: Intellectual and Cultural History. In: Michael Kammen (Ed.): The Past before Us. Contemporary Historical Writing in the United States. Ithaca, N.Y. 1980, S. 346; vgl. auch John Higham: Introduction. In: Ders./Paul K. Conkin (Eds.): New Directions in American Intellectual History. Baltimore 1979, S. XV. Patrick H. Hutton: The History of Mentalities. The New Map of Cul-

24 | I Facetten und Probleme der Historiographie Vor zehn Jahren bemerkte Gerd Tellenbach, es sei „bei Historikern bis jetzt noch kaum zu einer Verständigung über den genauen Sinn von ‚Mentalität‘ gekommen“. Seinen eigenen Definitionsversuch trug er lediglich als eine vorläufige Bestandsaufnahme vor. Unter diesem Vorbehalt schrieb er: „Man meint eine Haltung oder einen Zustand des Geistes von relativer Konstanz, eine Disposition zur Wiederholung gewohnter Denkweisen, nicht etwa originelle Einfälle, kein spontanes Denken, kein Theoretisieren, das in Reproduktion oder Fortspinnen eine reflektierende oder gar zu wählender Entscheidung zwingende Anstrengung fordert.“ Man spürt, dass Tellenbach Mentalität als einen defizienten Modus selbständigen Denkens und klaren Bewusstseins zu begreifen versucht. Der ebenfalls angesprochene Bezug zum Handeln tritt im darauf folgenden Satz noch deutlicher hervor, wo Mentalität überraschenderweise als ein Begriff erscheint, der sowohl einen Bewusstseinsvorgang als auch ein Verhalten bezeichnen soll: „Eine Mentalität ist ein natürliches, selbstverständliches, oft sogar impulsives Verhalten und Reagieren, ein ungezwungenes, das Bewußtsein wenig bewegendes Denken und Meinen.“¹¹ Ähnlich hat Rolf Sprandel im Jahre 1972 „Gruppenmentalität“ lapidar als die „Gemeinsamkeiten im Verhalten und Vorstellen der Mitglieder einer Gruppe“ definiert.¹² und im Jahre 1978 meinte Rolf Reichardt bescheiden, „neuere Aufsätze“ bemühten sich, „‚Mentalität‘ als historische Kategorie“ – wenn schon nicht zu definieren (so muss man wohl ergänzen) – dann doch „wenigstens zu beschreiben“. Danach hätten „die Mentalitäten ihren systematischen Ort zwischen Ideen und Verhalten, Doktrin und Stimmung, an der Verbindungsstelle von Individuellem und Kollektivem, Absichtlichem und Unwillkürlichem, Außerge-

tural History. In: H & T 20, 1981, S. 237. Die Herleitung des wissenschaftlichen Mentalitätsbegriffs aus G. V. Plechanov und N. Bucharin durch Kurt Lenk: Art. Mentalität. In: Wilhelm Bernsdorf (Hrsg.): Wörterbuch der Soziologie. 2. Aufl. Stuttgart 1969, S. 689 f., ist begriffsgeschichtlich nicht belegt. Im Umkreis der von Lenk zitierten Stellen findet sich im russischen Original das Wort Mentalität weder als fremdsprachiges Wort noch in russifizierter Fassung. In einem Falle hat der deutsche Übersetzer obščestvennaja psichologija als „gesellschaftliche Mentalität“ wiedergegeben: Georgij V. Plechanov: O materijalističeskom ponimanii istorii (1897). In: Ders.: Izbrannye filosofskie proizvedenija. Bd. 2. Moskva 1956, S. 260; Ders.: Über materialistische Geschichtsauffassung. Berlin 1946, S. 32. Der Ausdruck „gesellschaftliche Psychologie“ findet sich an der von Lenk zitierten Stelle auch bei Nikolaj Bucharin: Theorie des Historischen Materialismus. Hamburg 1922, S. 239; bzw. ders.: Teorija istoričeskogo materializma. Char’kov-Ekaterinoslav 1922, S. 195. Wo innerhalb des für die Frage zentralen § 39 dieser Schrift in der deutschen Übersetzung das Wort Mentalität vorkommt – ebd. S. 249 –, entspricht ihm im russischen Original ebenfalls das Wort psichologija: ebd. S. 204. 11 Tellenbach: „Mentalität“ (wie Anm. 5), S. 15, 18. 12 Rolf Sprandel: Mentalitäten und Systeme. Neue Zugänge zur mittelalterlichen Geschichte. Stuttgart 1972, S. 9.

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wöhnlichem und Durchschnittlichem“ und so weiter.¹³ Ernst Schulin suchte den spezifischen Gegenstand der Mentalitätsgeschichte 1978 in Gegenüberstellung zur Geistes- und Ideengeschichte zu gewinnen. Mentalitäten erscheinen dabei in vielfältiger Ausdeutung und zum Teil in Anlehnung an französische Historiker als „Sensibilität“, als „affektives Leben früherer Epochen“, als zeittypische „Auffassungen“ über bestimmte Menschengruppen oder Phänomene, als „handlungsleitende Ideen“, als „Grundhaltungen“ und „Gesinnungen“, schließlich als „Glaubensgewißheiten“. Mentalitäten werden dem Bereich des „kollektiven Unbewußten“ zugeordnet, aber sie offenbaren sich auch im „geistigen Horizont von Kaufleuten oder Intellektuellen im Mittelalter“ oder in „zählebigen langfristigen Verhaltensmustern“ von Gesellschaften.¹⁴ Werner K. Blessing nennt Mentalität eine „spezifische, umweltgebundene Ausrichtung des Denkens und Fühlens“. Er schließt darin „Arbeitshaltung“ und „Familienleitbilder“ sowie „die ‚Weltanschauung‘ und das politische Selbstverständnis einer (Groß-)Gruppe“ ein: „Virtuelle geistig-seelische Disposition, wird sie dann durch ‚Umweltappelle‘ zur situationsbezogenen Reaktionsbereitschaft, zu Attitüden konkretisiert und verwirklicht sich im Handeln.“ In diese „allgemein menschliche Erscheinung“ soll sich sodann seit dem 18. Jahrhundert „eine zeit- und kulturspezifische Sonderform des Welt- und Umweltbildes, die Ideologie“, eingeschoben haben.¹⁵ Die vorgelegte Auswahl aus Definitionsbemühungen in der deutschen geschichtswissenschaftlichen Literatur der letzten Jahre mag genügen, um das Maß an Unsicherheit deutlich zu machen, das gegenüber dem Begriff Mentalität zumindest in Deutschland offenbar herrscht. Die vorgeschlagenen Zuordnungen gehen in so verschiedene Richtungen, dass es kaum möglich erscheint, mit ihrer Hilfe eine klare Vorstellung vom Gegenstandsbereich einer Mentalitätsgeschichte zu gewinnen. Tellenbachs und Sprandels Definitionsversuche scheinen geradezu Gegensätzliches zusammenzuzwingen: Denken, Meinen und Vorstellen auf der einen, Verhalten und Reagieren auf der anderen Seite. Schulin fasst ohne nähere Erläuterung ethische und kognitive Charaktere unter den Begriff der Mentalität: Glaubensgewissheiten, Auffassungen, handlungsleitende Ideen hier – Gesinnungen dort. Blessing setzt zum Denken das Fühlen und zu bei-

13 Rolf Reichardt: „Histoire des mentalités“. Eine neue Dimension der Sozialgeschichte am Beispiel des französischen Ancien Régime. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 3, 1978, S. 131. 14 Ernst Schulin: Geistesgeschichte, Intellectual History und Histoire des mentalités seit der Jahrhundertwende. In: Ders.: Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch. Studien zur Entwicklung von Geschichtswissenschaft und historischem Denken. Göttingen 1979, S. 158–160. 15 Werner K. Blessing: Staat und Kirche in der Gesellschaft. Institutionelle Autorität und mentaler Wandel in Bayern während des 19. Jahrhunderts. Göttingen 1982, S. 14.

26 | I Facetten und Probleme der Historiographie den wiederum die Weltanschauung und das Selbstverständnis einer Gruppe. Reichardts Definitionsversuch erscheint insofern besonders charakteristisch für den Stand der Diskussion, als er zwar kaum eine mögliche Auffassungsart des Begriffs unterschlägt, zugleich jedoch die Frage offenlässt, ob die Vielfalt auf ein einheitliches Konzept zurückgeführt werden kann. Eine Hauptschwierigkeit der Definitionsversuche besteht darin, dass sie nicht deutlich genug erkennen lassen, inwiefern sich Mentalitätsgeschichte von der traditionellen Ideen- oder Geistesgeschichte unterscheidet. Glaubensgewissheiten, Weltanschauungen, Selbstverständnis, Ideologien: das sind zentrale Themen längst vertrauter Disziplinen. Wenn schließlich in einigen Definitionen die Vorstellung anklingt, Mentalitäten seien nicht oder nur unvollkommen bewusst, so müsste erläutert werden, ob diese Eigenschaft den Mentalitäten wesensmäßig anhaftet oder ob man sich Mentalitäten ins Bewusstsein heben kann. Möglicherweise ist nur eine relative Unbewussheit gemeint in Abhebung von der – wiederum relativen – Bewusstheit klar formulierter Ideen und Programme oder sorgfältig erdachter Mittel zur Erreichung eines deutlich vorgestellten Zwecks. Nun ist Mentalitätsgeschichte schon seit langem eine Domäne französischer Sozialhistoriker aus dem Umkreis der Zeitschrift „Annales“. Bekanntlich ist die Geschichtsschreibung dieser Schule in hohem Maße durch die von Emile Durkheim begründete französische Schule der Soziologie geprägt worden. Durkheim hatte sein soziologisches Lehrgebäude in Auseinandersetzung mit einer individualisierenden Psychologie aufgerichtet und dabei mit Nachdruck immer wieder die kollektiven Phänomene des Bewusstseins herausgestellt. Die „représentations collectives“ hatte er als eine Macht beschrieben, die auf das individuelle Bewusstsein geradezu einen Zwang ausübe – z. B. in Gestalt eines überwiegend gar nicht reflektierten Konformitätsdrucks.¹⁶ Bei Durkheim und seinen Schülern findet sich denn auch das Wort „mentalité“ schon sehr früh als ein wissenschaftlicher Terminus, und es ist bezeichnend, dass dieser Begriff besonders bei der Analyse sogenannter primitiver Gesellschaften verwendet wurde – z. B. in dem 1923 erschienenen Buch von Lucien Lévy-Bruhl: „La mentalité primitive“.¹⁷

16 Emile Durkheim: Représentations individuelles et représentations collectives. In: Revue de Métaphysique et de Morale 6, 1898, bes. S. 293 ff. 17 Zu den seltener zitierten Schriften Emile Durkheims gehört: „L’Allemagne au-dessus de tout“. La mentalité allemande et la guerre. Paris 1915. Die Schrift beginnt mit dem Satz: „La conduite de l’Allemagne pendant la guerre dérive d’une certaine mentalité“ (S. 3). Diese „mentalité“ wird sodann an den Schriften Treitschkes, besonders an seiner „Politik“, entwickelt. Treitschke sei gewählt worden, weil „sa pensée est moins celle d’un homme que d’une collectivite“. Treitschke sei „un personnage éminemment représentatif“; „il exprime la mentalité de son milieu“ (S. 5).

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Sucht man nach demjenigen Historiker, der sich am entschiedensten dafür eingesetzt hat, dass die Erkenntnisse der Durkheimschen Soziologie für die Geschichtswissenschaft fruchtbar gemacht würden, so stößt man auf Lucien Febvre. Auf ihn berufen sich ausdrücklich nahezu alle französischen Historiker, die sich in unseren Tagen über das Konzept einer Mentalitätsgeschichte geäußert haben – von Georges Duby über Jacques Le Goff und Robert Mandrou bis zu Philippe Ariès.¹⁸ Der Zugriff von Lucien Febvre ist vielleicht am klarsten abzulesen aus einem Artikel, den er 1938 für die Encyclopédie Française geschrieben hat, mit dem Titel „Une vue d’ensemble: Histoire et psychologie“.¹⁹ Zwei Probleme werden in diesem Artikel verbunden: ein psychologisches bzw. soziologisches und ein historisches. Das psychologische Problem folgt aus der Durkheimschen Hypothese, dass es ein kollektives Bewusstsein gebe, welches gewissermaßen die dem Individuum spezifischen Bewusstseinshaltungen überlagere. Daher könne man menschliches Verhalten nicht einfach nach den Regeln einer individuellen Psychologie beurteilen, sondern müsse die kollektiven Bedingungen des Verhaltens mit Hilfe einer „psychologie collective“ erforschen.²⁰ Das historische Problem, das Lucien Febvre aufwirft, beruht auf der Einsicht, daß die psychische Verfassung der Menschen sich in der Geschichte gewandelt haben muss. Solange man menschliches Verhalten in der Geschichte aufgrund der Psychologie des 20. Jahrhunderts zu erklären versuche, verfalle man daher in den schlimmsten aller Anachronismen, in den „anachronisme psychologique“.²¹ Daher fordert Febvre eine „psychologie historique“.²² Die beiden Problemstellungen konvergieren somit zum Programm einer Geschichte des kollektiven Bewusstseins oder – wie man von nun an immer häufiger sagte – einer Geschichte der Mentalitäten und ihrer Wandlungen, mit dem Ziel, Maßstäbe zu gewinnen, nach denen das Verhalten der Menschen in der Vergangenheit jeweils zeitgerecht beurteilt werden kann. In diesem Sinne hält Lucien Febvre

18 Georges Duby: Histoire des mentalités. In: Charles Samaran (Hrsg.): L’histoire et ses méthodes. Paris 1961, S. 937–966; Jacques Le Goff : Les mentalités: une histoire ambiguë. In: Ders./Pierre Nora (Hrsg.): Faire de l’histoire. Bd. 3. Paris 1974, S. 76–94; Robert Mandrou: Introduction à la France moderne (1500–1640). Essai de psychologie historique. Paris 1961, 2. Aufl. Paris 1974, vgl. bes. Préface à la première edition; Philippe Ariès: L’histoire des mentalités. In: Jacques Le Goff/Roger Chartier/Jacques Revel (Hrsg.): La nouvelle histoire. Paris 1978, S. 402–423. 19 Lucien Febvre: Une vue d’ensemble. Histoire et psychologie (1938). In: Ders.: Combats pour l’histoire. Paris 1953, S. 207–220. 20 Ebd., S. 208, 212. 21 Ebd., S. 218, 213 ff. 22 Ebd., S. 212 ff.

28 | I Facetten und Probleme der Historiographie die Ermittlung des „matériel mental“, über das die Menschen einer bestimmten Epoche verfügten, für unumgänglich – mit anderen Worten: die Herausarbeitung der „représentations que se forgeait du monde, de la vie, de la religion, de la politique, telle collectivité historique“.²³ Die historische kollektive Psychologie stellt sich somit in Wahrheit als eine Art historischer Phänomenologie dar. Der psychologische Anachronismus soll offenbar dadurch vermieden werden, dass die besondere Art und Weise herausgestellt wird, wie Leben und Welt den Menschen einer bestimmten Epoche erschienen sind. Da es kaum möglich ist, sogleich eine umfassende Lebensanschauung einer Epoche zu rekonstruieren, hat sich die Forschung nach Febvre zunächst überwiegend einzelnen zentralen Lebensbereichen zugewandt und zu ermitteln versucht, was diese im Wandel der Zeiten jeweils bedeutet haben. In diesem Sinne gibt es zum Beispiel inzwischen eine ganze Literatur über die Geschichte der kollektiven Einstellungen zum Tode. Zu den bekanntesten Werken dieser Gattung zählt die Arbeit von Philippe Ariès: „Essais sur l’histoire de la mort en Occident du moyen âge à nos jours“ (1975).²⁴ Zuvor hatte derselbe Ariès eine Geschichte der Kindheit als Geschichte der Einstellungen zum Kinde vorgelegt.²⁵ Namentlich diese beiden Werke haben die französische Mentalitätsgeschichte über Frankreichs Grenzen hinaus zu einem Begriff gemacht, obwohl die ersten großen Beispiele dieser Forschungsrichtung bereits in den zwanziger Jahren erschienen waren, darunter die Untersuchung Marc Blochs über die „wundertätigen Könige“.²⁶ Wo Ariès sich theoretisch über seine Auffassung von Mentalitätsgeschichte äußerte, hielt er konsequent am Programm einer Geschichte von kollektiven Einstellungen fest. Dabei fällt die Vorliebe für Themen aus der Vitalsphäre auf, ein Umstand, der vermutlich darauf zurückzuführen ist, daß Ariès über die Historische Demographie zur Mentalitätsgeschichte gekommen ist. Das generative Verhalten der Menschen in der Geschichte hatte ihn zur Frage nach den „attitudes psychologiques secrètes“ geführt, die es offenbarte, nämlich nach den „Einstellungen zum Leben, zum Alter, zur Krankheit, zum Tode“.²⁷ Doch er blieb nicht bei solchen Themen stehen. So hob er an beispielhaften Untersuchungen

23 Ebd., S. 218. 24 Philippe Ariès: Essais sur l’histoire de la mort en Occident du moyen âge à nos jours. Paris 1975. 25 Philippe Ariès: L’enfant et la vie familiale sous l’Ancien Régime. Paris 1973. 26 Marc Bloch: Les rois thaumaturges. Etude sur le caractère surnaturel attribué à la puissance royale particulièrement en France et en Angleterre. Strasbourg/Paris 1924. 27 Ariès: L’histoire des mentalités (wie Anm. 18), S. 408.

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zur Mentalitätsgeschichte Arbeiten über die kollektiven Einstellungen gegenüber der Steuer, der Zeit und der Hexerei hervor.²⁸ Mentalitäten sind für Ariès offenbar immer Züge, welche die gesamte Gesellschaft einer Epoche kennzeichneten. Gruppenspezifische Mentalitäten in derselben Epoche scheint er nicht anzuerkennen. Damit hängt zusammen, daß er die Aufgabe der Mentalitätsgeschichte wesentlich darin sieht, ganze „Kulturen, die durch die Zeit geschieden sind“, einander gegenüberzustellen, wobei es namentlich darum gehen soll, „den Übergang zur Moderne besser zu verstehen“.²⁹ In ein solches Programm passt eine Frage wie die nach der „Mentalität des SA-Führerkorps“ natürlich ebensowenig hinein wie die Untersuchung der je spezifischen „Wirtschaftsinteressen oder Mentalitäten“ verschiedener ökonomisch-sozialer Schichten, obwohl die Überlegungen Febvres derartige soziale Differenzierungen zumindest nicht ausschließen. Mit dem Problem der gruppenspezifischen Mentalitäten hängt offenbar die Frage zusammen, auf welcher Zeitebene Mentalitäten angesiedelt werden sollen. So ist es kein Zufall, dass ein anderer französischer Mentalitätshistoriker, Georges Duby, im Unterschied zu Ariès sowohl milieu- und gruppenspezifische Mentalitäten als auch Mentalitäten verschiedener zeitlicher Dauer annimmt.³⁰ Duby überträgt Fernand Braudels Dreistufenschema der historischen Zeiten auf die Mentalitätsgeschichte und unterscheidet dementsprechend kurze, mittlere und langfristige Rhythmen des Mentalitätswandels.³¹ Bei aller Faszination, die das Schema ausüben mag, erscheint es jedoch problematisch, die auf der Ebene der „durée courte“ auftretenden „brusques tumultes“, „émotions populaires“, den „retentissement d’un discours, d’un sermon“, den „succès d’un livre dans un cercle étroit de savants ou de penseurs“, den „scandale d’une peinture dans une coterie d’artistes“ usw. zu den Mentalitäten und Einstellungen zu zählen.³² Den Anregungen von Lucien Febvre entspräche es ganz im Gegenteil, in solchen Tumulten und Erregungen der verschiedensten Art Ereignisse und Verhaltens-

28 Ebd., S. 412 ff. Die besprochenen Arbeiten sind: Georges Duby: Guerriers et paysans VII–XIIe siècle. Premier essor de l’économie européenne. Paris 1973; Jacques Le Goff : Au Moyen Age: Temps de l’Eglise et temps du marchand. In: Ders.: Pour un autre Moyen Age. Temps, travail et culture en Occident: 18 essais. Paris 1977, S. 46–65; Robert Mandrou: Magistrats et sorciers en France au XVIIe siècle. Une analyse de psychologie historique. Paris 1968. 29 Ebd., S. 420, 412. 30 Duby: Histoire des mentalités (wie Anm. 18), S. 948 ff. 31 Ebd., S. 949. Zu Braudels Zeitenschema vgl. bes. Fernand Braudel: La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II. 2. Aufl. Bd. 1, Paris 1966, S. 16 f.; ders.: Histoire et sciences sociales. La longue durée (1958). In: Ders.: Ecrits sur l’histoire. Paris 1969, S. 41–83. 32 Duby: Histoire des mentalités (wie Anm. 18), S. 949.

30 | I Facetten und Probleme der Historiographie formen zu sehen, die so wenig selber Mentalitäten sind, dass man zu ihrer zureichenden Interpretation vielmehr erst auf Mentalitäten zurückgreifen muss. Lucien Febvre mag freilich zu der Entstehung dieser Unklarheiten beigetragen haben, indem er das Programm einer historischen Kollektivpsychologie nicht auf die kollektiven Einstellungen beschränkte. Schon in dem genannten Aufsatz von 1938, deutlicher jedoch in einem Essay von 1941, hatte er im Rahmen der Forderung nach Berücksichtigung der psychologischen Dimension zugleich eine Geschichte der Gefühle, der „sensibilité“, der „vie affective d’autrefois“ vorgeschlagen.³³ Gefühle und Erregungszustände können in der Tat sehr kurzlebig sein, aber schon deshalb fällt es schwer, sie mit Mentalitäten auf eine Ebene zu stellen. Febvre zielte auch offensichtlich auf etwas anderes: ihm ging es um zeitspezifische Unterschiede in der Erregbarkeit der Menschen und um das Vorherrschen oder Zurücktreten bestimmter Gefühle in einer Epoche. Ohne Frage würde zum Beispiel eine besondere Bereitschaft, unter bestimmten Umständen andere Menschen mit Hass zu verfolgen, das Verhalten der Angehörigen einer so beschaffenen Gesellschaft prägen, und es versteht sich, dass auch eine solche Thematik zu einer historischen Psychologie gezählt werden kann. Nur dürfte auch unter dieser Fragestellung der einzelne Hassausbruch lediglich als Fall der Regel, als Beispiel für die zugrundeliegende Disposition betrachtet werden. Hassgefühle und Hassausbrüche sind nicht selbst Einstellungen; allenfalls lassen sie Einstellungen zum Vorschein kommen. Solange man aber daran festhält, dass Mentalitäten kollektive Einstellungen oder Komplexe von kollektiven Einstellungen sein sollen, fällt es schwer, derartige Gefühlszustände mit darunter zu begreifen. Unter Berufung auf Lucien Febvre hat Robert Mandrou im Jahre 1961 versucht, gleichzeitig die emotionelle Struktur und die kollektiven Mentalitäten einer Epoche herauszuarbeiten: Ergebnis seiner Bemühungen wurde seine „Introduction à la France moderne (1500–1640)“ mit dem bezeichnenden Untertitel „Essai de psychologie historique“.³⁴ Das Buch enthält eine Fülle von Beispielen für die Konzeption einer Geschichte der Gefühle. Als vorherrschenden Zug der Epoche offenbart Mandrou die „Hypersensibilität der Temperamente“. Er versucht sie zu demonstrieren an der „vielgestaltigen Ubiquität der Furcht“. Schon die Dunkelheit der Nacht habe eine Fülle von Anlässen für Angstzustände geboten: vor Räubern, wilden Tieren und Kometen und dann vor allerlei erdichteten und eingebildeten

33 Lucien Febvre: Comment reconstituer la vie affective d’autrefois? La sensibilité et l’histoire (1941). In: Ders.: Combats pour l’histoire (wie Anm. 20), S. 221–238; ders.: Une vue d’ensemble (wie Anm. 19), S. 215. 34 Mandrou: Introduction à la France moderne (wie Anm. 18), S. 324 f., 83 f.

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Fabelwesen und Gefahren. Mandrou ging offenbar davon aus, dass die psychische Struktur der Gesellschaft einer Epoche wesentlich von den Eindrücken geprägt werde, die der Mensch von seiner Umwelt empfange. Zu den Umweltbedingungen gehören in erster Linie der Grad der Beherrschung der Natur und die Fähigkeit, wenigstens die elementaren Lebensbedürfnisse regelmäßig zu befriedigen. Mit kollektiven Mentalitäten beschäftigen sich in Frankreich auch die Historiker der Internationalen Beziehungen. Ohne die Tradition der Annales-Schule auch nur zu erwähnen, legte Jean-Baptiste Duroselle im Jahre 1974 einen Definitionsversuch vor, der – bestechend in seiner systematischen Präzision – zugleich eine ganze Reihe neuer Fragen aufwirft.³⁵ Die kollektiven Mentalitäten werden dort als ein Mittelding zwischen bewussten und ausgearbeiteten Doktrinen und flüchtigen Meinungen bestimmt. Als Beispiele für kollektive Mentalitäten erscheinen Nationalismus, Kolonialismus, Rassismus, Anarchismus, Militarismus, Dirigismus, Liberalismus, Sozialismus usw. Die Zuordnung von Mentalitäten zu sozialen Gruppen wird abgelehnt: „Tout sondage à propos d’un ‚ism‘ montre que chaque classe ou groupe social se divise toujours entre toutes les attitudes.“³⁶ Man erkennt sofort, wie sehr der politikgeschichtliche Blickwinkel dominiert: Mentalitäten sind politische Grundeinstellungen, die schon deshalb nicht in den verborgensten Schichten des Bewusstseins angesiedelt sein können, weil sie einen bestimmten Grad an politischer Partizipation und ein hohes Maß an politischem Verständnis und an politischer Information voraussetzen. Ohne sich mit den Überlegungen in der französischen Geschichtswissenschaft auseinanderzusetzen, aber offenbar auch ohne von dieser beachtet zu werden, veröffentlichte der Soziologe Gaston Bouthoul zum ersten Mal im Jahre 1952 eine systematisch angelegte Abhandlung über die Mentalitäten, die inzwischen wenigstens fünf weitere Auflagen erlebt hat.³⁷ Bouthoul ordnet ganzen Gesellschaften oder Kulturen ihre je spezifische Mentalität zu. Mentalität erscheint als ein Komplex von Grundüberzeugungen, die in einer Zivilisation allgemein gelten und sich in je besonderer, zivilisationstypischer Weise auf jeweils identische Bereiche wie Kosmologie, Moral, Religion, gesellschaftliche Ordnung usw. beziehen. Mentalität wird daher als „la résultante globale de toutes les connaissances et de toutes les expériences scientifiques et historiques d’une civilisation“ bestimmt. Gruppenspezifische Mentalitäten besitzen demgegenüber lediglich die Bedeutung von Nuancierungen und Abweichungen; das Interesse

35 Jean-Baptiste Duroselle: Opinion, attitude, mentalité, mythe, idéologie: Essai de clarification. In: Relations internationales 1974, Nr. 2, S. 3–23. 36 Ebd., S. 4–6, 7. 37 Gaston Bouthoul: Les mentalités. 6. Aufl. Paris 1981.

32 | I Facetten und Probleme der Historiographie Bouthouls gilt entschieden der „mentalité ‚génerale‘“ der ganzen Gesellschaft oder Zivilisation.³⁸ Insofern steht Bouthoul in gewisser Nähe zu Ariès, auch wenn sich bei diesem kein vergleichbarer Versuch der Systematisierung findet. Wie gegenüber Ariès, so gilt auch gegenüber Bouthoul der Einwand, dass sein Zugriff zu wenig Raum für die Differenzierung von sozialen Gruppen und von Phänomenen kürzerer Dauer offenlässt. Darüber hinaus wäre zu fragen, ob Bouthoul Mentalitäten und Ideen – zum Beispiel kosmologische Vorstellungen – nicht sorgfältiger hätte voneinander unterscheiden müssen. Im Ergebnis hat es den Anschein, als ob auch die französische Geschichtswissenschaft noch weit davon entfernt ist, ein klares und akzeptiertes Konzept von den Aufgaben und Möglichkeiten der Mentalitätsgeschichte zu besitzen. Man mag in einem solchen Befund einen Beweis für die Lebendigkeit einer Wissenschaft sehen. Das kann jedoch nicht heißen, dass man sich mit der Feststellung von Jacques Le Goff trösten darf, die Hauptanziehungskraft der Mentalitätsgeschichte beruhe gerade auf ihrer Unbestimmtheit („précisément dans son imprécision“).³⁹ Auch wenn es zutrifft, dass gerade die Offenheit von Problemstellungen gelegentlich als eine intellektuelle Herausforderung empfunden wird, so ist doch ebenso wahrscheinlich, dass eine klarere Abgrenzung und Entfaltung der Perspektiven, die ein noch wenig erforschtes Gebiet verheißt, erst recht ein breiteres wissenschaftliches Interesse zu erwecken vermag. Wenn so zahlreiche Bemühungen um eine Theorie der Mentalitätsgeschichte bisher kein befriedigendes Ergebnis erbracht haben, ist anzunehmen, dass die offenkundige Schwierigkeit dieser Aufgabe nicht zufällig, sondern in der Sache selbst begründet ist. Daher sollen die vorliegenden Definitionsversuche nicht verworfen, sondern als wenigstens partielle Einsichten ernstgenommen und dem erneuten Versuch einer Klärung zugrunde gelegt werden. Ob dieser Weg gangbar ist, muss sich am ehesten zeigen, wenn die offenbar erstaunlichste Behauptung in den angeführten Bestimmungen von Mentalität einer näheren Prüfung unterworfen wird. Tellenbach und Sprandel definierten Mentalität übereinstimmend sowohl als ein Denken, Meinen oder Vorstellen als auch als ein Verhalten und Reagieren, und Reichardt stellte Mentalität „zwischen Ideen und Verhalten“.⁴⁰ Wie ein beobachtbares Vorkommnis wie Verhalten und ein immaterielles Gebilde wie Vorstellungen unter einen gemeinsamen Begriff gebracht werden sollen, ist zunächst kaum einzusehen. Ganz unerfindlich erscheint jedoch, wie es zwischen Verhalten und Vorstellung etwas geben soll, das an beidem teilhat. 38 Ebd., S. 31, 36 ff., 73, 33–35. 39 Le Goff : Les mentalités (wie Anm. 18), S. 76. 40 Vgl. oben.

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Der verborgene Sinn dieser Redeweise könnte darin liegen, dass Mentalität ein Ideelles, aber mit unmittelbarer Verhaltensbedeutung, aber eben darum zugleich ein Verhalten, jedoch in der Perspektive der darin liegenden Idee, sein soll. Im allgemeinen wird sehr klar zwischen Meinungen oder Überzeugungen einerseits und dem Verhalten andererseits unterschieden. Nicht nur handelt es sich um verschiedene Klassen von Gegenständen, sondern es ist eine alltägliche Erfahrung, dass Ideen und Verhalten häufig nicht übereinstimmen. Es ist nicht ratsam, von dem einen auf das andere zu schließen, selbst wenn sich jemand in subjektiv ehrlicher Überzeugung zu bestimmten Ideen und Idealen bekennt. Einstellungen nun lassen sich ebenfalls wie Ideen oder Glaubenssätze formulieren – zum Beispiel: „Neuerungen sind mit Skepsis zu betrachten“; „Das Privateigentum muß respektiert werden“; usw. Insofern könnte man sie zu den Vorstellungen zählen. Niemand behauptet jedoch, jemandes Verhalten weiche von der diesbezüglichen Einstellung ab. Vielmehr heißt es, jemandes Einstellung oder Mentalität äußere sich in seinem Verhalten. Offenbar liegt es schon im Begriff der Einstellung, dass sie zum Verhalten nicht in Gegensatz treten kann. Schon im täglichen Leben werden die einem Verhalten hinzugegebenen Erklärungen häufig als irrelevant, wenn nicht als Verdunkelung der wirklichen Motive durchschaut: so wenn ein Arbeitsscheuer sich angesichts einer bestimmten Anordnung auf mangelnde Kompetenz oder Kopfschmerzen beruft. Allenfalls mag offenbleiben, ob die dem beobachteten Verhalten zugrundeliegende Einstellung richtig gedeutet ist. Der Ideengehalt solcher Einstellungen läßt sich in Verhaltensmaximen fassen. Im soeben gegebenen Beispiel erscheint es so, als verhalte sich der Betreffende nach dem Grundsatz, man müsse sich soviel wie möglich vor der Arbeit drücken, Anstrengung bringe keinen Gewinn, usw. Solche Maximen werden vom Beobachter jedoch lediglich unterstellt, da nicht mehr gesagt werden kann, als dass der Betreffende sich so verhalte, als ob er diesen Grundsätzen folge.⁴¹ In Wirklichkeit ist dagegen nicht einmal sicher, ob ein Akteur seine tatsächliche Einstellung in solchen Als-ob-Sätzen wiedererkennen würde. Es ist eine Methode der

41 Das Verfahren entspricht der Herleitung von „covert culture“ nach Robert F. Berkhofer, Jr.: A Behavioral Approach to Historical Analysis. New York/London 1969, S. 133 f.: „Covert culture is composed of implicit patterns formulated by the observer to explain certain behavior he sees manifested but not explicitly recognized by the actors. Covert culture is derived from a group’s activities as if the participants thought and acted according to the implicit pattern the observer postulates though they do not profess such a pattern explicitly.“ Als Maxime wird Mentalität gedeutet bei James Joyce: Ulysses. New York 1934, S. 132: „I speak the tongue of a race the acme of whose mentality is the maxim: time is money“; vgl. Art. Mentality. In: A Supplement to the Oxford English Dictionary. Bd. 2. Oxford 1976, S. 891.

34 | I Facetten und Probleme der Historiographie Gesellschaftskritik, Verhalten durch Herausstellung der möglicherweise zugehörigen oder jedenfalls passend erscheinenden Maximen zu entlarven⁴², und eine Methode der Satire, Verhalten durch vergröbernde oder verfälschende Zuordnung von Maximen ins Lächerliche zu ziehen: mit dem Bericht über Gullivers Besuch in der großen Akademie von Lagado suchte Jonathan Swift die Wissenschaft seiner Zeit so hinzustellen, als ob es ihr nur auf die Forscherattitüde, nicht aber auf sinnvolle Forschung ankomme.⁴³ Für die Geschichtswissenschaft bildet die Unterstellung von Maximen eine Hilfsoperation, um das Verhalten benennen und plausibel machen zu können. Dass diese Operation nicht willkürlich, sondern nach Kriterien der Verifizierbarkeit erfolgen muss, ist selbstverständlich. Man kann die Unterstellung von Maximen auch als eine Formulierung von Regeln ansehen, aufgrund derer das beobachtete Verhalten dem Interpreten in sich stimmig und verstehbar erscheint. Die Richtigkeit der Regeln zeigt sich an ihrer Konsistenz, ganz ebenso, wie sich die Richtigkeit der grammatikalischen Regeln einer Sprache dadurch erweist, dass ein Fremder korrekt spricht, wenn er sie befolgt. Dass die Einheimischen dieselben Regeln befolgen, ja dass sie überhaupt nach Regeln sprechen, ist weder erfordert noch auch nur wahrscheinlich. Bekanntlich wissen wir in unserer Muttersprache im allgemeinen, wie man etwas ausdrückt, nicht aber, warum man es so ausdrückt und ob überhaupt eine Regel zugrunde liegt.⁴⁴ Wenn der Ideengehalt der Einstellung jedoch lediglich in hypothetischer Form erscheint und im übrigen eng an das tatsächliche Verhalten gebunden bleibt, so könnte man fragen, ob es nicht besser wäre, sich von vornherein auf die Beschreibung und Klassifizierung von Verhalten zu beschränken. Der Haupteinwand gegen ein solches Verfahren besteht natürlich darin, dass ein und dasselbe Verhalten aus unterschiedlichen Motiven herrühren kann. Der Mann, der die Anordnung nicht befolgen will, kann sich wirklich als inkompetent betrachten, er kann die Anordnung für rechtswidrig oder für technisch undurchführbar halten, usw., und doch wäre sein offenes Verhalten jedesmal dasselbe. Es liegt auf der Hand, dass bei den beobachtbaren Daten nur stehenbleiben kann, wer die Hoffnung für illusorisch hält, menschliches Verhalten zu verstehen. Eben deshalb

42 Besonders in solcher kritischen Funktion wird der Begriff Mentalität gegenwärtig häufig verwendet; vgl. Schelsky: Bürokraten und Funktionäre (wie Anm. 7). 43 Jonathan Swift: Gulliver’s Travels. Hrsg. v. Robert A. Greenberg. Part III, Ch. 5. 2. Aufl. New York 1970, S. 152–159. 44 Vgl. die Erklärung für die Möglichkeit, fremde Kulturen zu verstehen, auf der Grundlage von Ryles Konzept des „knowing how“ in F. Allan Hanson: Meaning in Culture. London/Boston 1975, S. 59 ff.; vgl. dazu Gilbert Ryle: The Concept of Mind (1949). Peregrine Books. Aylesbury 1963, Ch. 2, bes. S. 28 ff.

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sollte Mentalität in den oben genannten Definitionsversuchen offenkundig nicht das Verhalten als solches, sondern die besondere Art des jeweiligen Verhaltens bezeichnen. Diese besondere Art soll später als der spezifische Sinn, den der Handelnde seinem Verhalten gibt, bestimmt werden. Verhalten zu verstehen, ist schon immer das Ziel der Geschichtswissenschaft gewesen. Daher mag es überraschen, dass die Analyse kollektiver Einstellungen, die sich im Verhalten äußern, ein noch wenig bearbeitetes Gebiet sein soll. Ein Hauptgrund für diese Sachlage dürfte darin liegen, dass die Historiker sich bisher überwiegend mit den Handlungen einzelner Personen befasst haben und dass ihnen zur Interpretation dieser Handlungen ein reiches Quellenmaterial zur Verfügung steht, das über die Ziele und Vorstellungen der Akteure – das Wort „Vorstellungen“ im weitesten Sinne genommen – Aufschluss gibt. Namentlich die politische Geschichtsschreibung hat über die Generationen hinweg ein Verfahren zur höchsten Vollendung gebracht, aus dem Studium der Akten das Zustandekommen von behördlichen oder politischen Entscheidungen und ihre Durchführung von der ersten Anregung bis zur möglicherweise ganz unvollkommenen Verwirklichung nachzuzeichnen. Entsprechende Methoden wurden auf die Untersuchung von Parlamenten und Parteien, von Unternehmen und Verbänden angewandt. Dabei kam es darauf an, das Handeln solcher Institutionen und Körperschaften aus dem Handeln der jeweils maßgebenden, darin zusammenwirkenden Individuen zu erklären. Solches Handeln wurde überwiegend unter die Erwartung der – um Max Webers Terminologie zu gebrauchen – zweck- oder wertrationalen Deutbarkeit gestellt. Zwecke und Werte gehören dem Bereich der Vorstellungen an. Für die Anschauungen, Ideale, Absichten und Überlegungen von Individuen aber liegt namentlich dem Neuzeithistoriker im allgemeinen eine große Zahl von Selbst- oder Fremdzeugnissen vor. Dass zwischen Vorstellungen und ihrer praktischen Verwirklichung, ja bereits zwischen den Vorstellungen und den Aussagen über die Vorstellungen ein erheblicher Unterschied bestehen kann, ist dem Historiker seit jeher bewusst, und er hat Verfahren entwickelt, solche Schwierigkeiten beim Studium von Einzelpersonen zu überwinden und zu befriedigenden Erklärungen für ihr Verhalten zu gelangen. Bei der Deutung von kollektivem Verhalten aus den zugehörigen Einstellungen führen die skizzierten Methoden jedoch nicht ohne weiteres zum Ziel. Akteur ist hier weder ein Kollektiv mit verteilten Aufgaben wie ein Staatsapparat noch eine Körperschaft wie ein Parlament, wo eine überschaubare Zahl von Personen mit gleicher Funktion zu einem Beschluss zusammenwirkt, sondern die Akteure

36 | I Facetten und Probleme der Historiographie sind isolierte Einzelne, deren jeder für sich denkt und handelt.⁴⁵ Der kollektive Charakter seines Denkens und Handelns ist am Einzelnen selbst nicht erkennbar, und natürlich handelt er nicht in jeder Hinsicht wie jedes andere Mitglied seiner sozialen Gruppe oder Gesellschaft. Er kann sogar gerade in der Hinsicht, um deretwillen er überhaupt zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden soll, vom Durchschnitt abweichen. Schon das gesuchte Verhalten selbst muss daher in Form einer statistischen Häufigkeitsrelation dargestellt werden, und dementsprechend ist auch die zugrundeliegende Einstellung der Gruppe nicht an einem beliebigen Angehörigen zu ermitteln. Im Rahmen der in den Vereinigten Staaten entwickelten Disziplin der Intellectual History sind Untersuchungen des Denkens sozialer Gruppen vorgenommen worden, indem die Selbstzeugnisse möglichst vieler einzelner Angehöriger einer Gruppe nach dem bewährten ideengeschichtlichen Ansatz interpretiert wurden. Man kommt auf diesem Wege verhältnismäßig nahe an die Mentalitätsgeschichte heran. Die Frage, inwieweit die Vorstellungen der Gruppe tatsächlich ihr Verhalten bestimmten, bleibt allerdings offen. Noch schwerer fällt ins Gewicht, dass die Intellectuals, die auf diese Weise untersucht werden können, nur eine Elite darstellen, während die Vorstellungen der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung schon aus Gründen der Quellenlage nicht ohne weiteres zugänglich sind. Die Differenz zwischen einer geistigen Elite und den übrigen gesellschaftlichen Gruppen ist jedoch nicht nur eine soziale. Gerade weil sie Gebildete sind, denken und wissen sie nicht nur anderes, sondern sie wissen partiell auch auf andere Art. Man kann nicht den Bauern und den Geistlichen in derselben Weise nach den Vorstellungen fragen, die sich beide beispielsweise von Staat und Staatsgewalt machen. Der Geistliche hat darüber vermutlich reflektiert; er hat sich mit Theorien über Wesen und Rechtfertigung des Staates beschäftigt. Der Bauer dagegen hat möglicherweise noch niemals darüber nachgedacht. Vielleicht kann er sich unter Staat gar nichts vorstellen, es sei denn den königlichen Steuereinnehmer und den Büttel aus dem Nachbardorf. Der Geistliche wird daher zur Antwort geben, was er sich aufgrund der Lektüre wissenschaftlicher Werke und theologischer Überzeugungen zurechtgelegt hat. Der Bauer dagegen wird bestenfalls beschreiben, wie ihm Staatliches im täglichen Lebensvollzug begegnet. Eine Theorie wie der Geistliche hat der Bauer nicht; dafür verschweigt der Geistliche wahrscheinlich, wie er den Staat im täglichen Leben erfährt.

45 Vgl. die Unterscheidung verschiedener Typen von Gruppenverhalten und die dort angegebene weiterführende Literatur bei Berkhofer, Jr.: A Behavioral Approach to Historical Analysis (wie Anm. 41), S. 75 ff.

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Wer nach Einstellungen sucht, die sich unmittelbar im wirklichen Verhalten äußern, muss offenkundig beim alltäglichen Lebensvollzug ansetzen. Was die Dinge in dieser Sphäre gelten, wie sie erscheinen, wozu sie dienen: das ist das Material, aus dem Mentalitäten gemacht sind. Man könnte diesen Ansatz mit dem Ausdruck Edmund Husserls den Ausgang von der „Lebenswelt“ nennen.⁴⁶ Die Lebenswelt ist eine vortheoretische Sphäre, in der die Phänomene nach ihrer Lebensbedeutung erfahren und unmittelbar beurteilt werden – gleichsam im Handlungsvollzug, in dem sie „zuhanden“ sind.⁴⁷ In diesem Sinne gibt es natürlich auch eine Mentalität der Elite, und sie braucht keineswegs aus den Selbstäußerungen ihrer Angehörigen ablesbar zu sein. Auch hier muss bei der Lebenswelt ansetzen, wer Verhalten aus Mentalitäten erklären möchte. Der Ansatz bei der Lebenswelt und die Suche nach der lebensweltlichen Bedeutung der Phänomene unterscheiden sich in der Tat deutlich von den klassischen Methoden namentlich der politischen und Geistesgeschichte, aber auch weiter Bereiche der Sozialgeschichte. Dagegen gehört es zu den traditionellen Aufgaben der Ethnologie, kollektives Verhalten deutend zu interpretieren bzw. Vorstellungen der Angehörigen einer Gesellschaft aus ihrem alltäglichen Verhalten zu erschließen. Eine ganze Reihe von methodischen und definitorischen Problemen, vor die sich die Mentalitätsgeschichte gestellt sieht, werden daher in der Ethnologie seit langem diskutiert. Der amerikanische Kulturanthropologe Clifford Geertz versteht menschliches Verhalten als „symbolisches Handeln“, als ein Handeln, das eine „Bedeutung hat“.⁴⁸ Dementsprechend gleiche die Aufgabe des Ethnographen „dem Versuch, ein Manuskript zu lesen (im Sinne von ‚eine Lesart entwickeln‘), das fremdartig, verblaßt, unvollständig; voll von Widersprüchen, fragwürdigen Verbesserungen und tendenziösen Kommentaren ist, aber nicht in konventionellen Lautzeichen, sondern in vergänglichen Beispielen geformten Verhaltens geschrieben ist“.⁴⁹ Durch Interpretation dieses Manuskripts besonderer Art, eines „acted document“, d.h. eines Textes, der nicht aus Wörtern und Sätzen, sondern aus – ebenfalls bedeutsamen – kollektiven Verhaltensweisen

46 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Hrsg. v. Walter Biemel. Den Haag 1954, bes. Teil III, S. 105 ff. 47 Der Ausdruck stammt aus Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1960, S. 69 und passim. 48 Clifford Geertz: Thick Description. Toward an Interpretive Theory of Culture. In: Ders.: The Interpretation of Cultures. Selected Essays. New York 1973, S. 10. Die deutsche Fassung der Zitate nach: Ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main 1983, S. 16. 49 Ebd., S. 10 (original), 15 (in Übers.).

38 | I Facetten und Probleme der Historiographie besteht,⁵⁰ werde die Kultur einer Gesellschaft erschlossen. Die Bestimmung des Begriffs Kultur gehört zu den Kernfragen, aber zugleich zu den umstrittensten Problemen der Kulturanthropologie. Der Historiker wird daher Zurückhaltung üben, wenn es darum geht, das Verhältnis zwischen dem Mentalitätsbegriff der Geschichtswissenschaft und dem Kulturbegriff der Ethnologie zu definieren. Immerhin scheinen zwischen dem „semiotischen Kulturbegriff“ eines Clifford Geertz⁵¹ und dem hier entwickelten Mentalitätskonzept enge Beziehungen zu bestehen. In beiden Fällen geht es um die deutende Interpretation kollektiven Verhaltens. In beiden Fällen muss die Interpretation beim lebensweltlichen Verhalten – bei „der informellen Logik des tatsächlichen Lebens“⁵² – ansetzen. In beiden Fällen entstehen daher auch ähnliche methodische und konzeptionelle Probleme. Eine fundamentale Schwierigkeit rührt offenbar aus dem Bedürfnis, die aus dem lebensweltlichen Ansatz gewonnenen Deutungen, also etwa die jeweils postulierten Einstellungen zu diesem oder jenem Phänomen, zu verallgemeinern und zu systematisieren. Die zunächst konstatierten Einstellungen differenzieren und generalisieren sich nach ihrer kognitiven Seite zu Anschauungen, nach ihrer praktischen Seite zur Gesinnung und zum Ethos. So impliziert z. B. die kapitalistische Wirtschaftsgesinnung eine bestimmte Anschauung von den Aufgaben des Menschen in der Welt, von den Ursachen der bestehenden Verteilung der Güter, von der richtigen Erziehung usw. Solange die Welt im Lichte dieser Einstellungen erfahren wird, stützen sich Ethos und Wirklichkeitsbilder wechselseitig: die Gesinnung findet in den zugehörigen Anschauungen eine Bestätigung, während das Ethos die Wirklichkeitsdeutung immer neu begründet.⁵³ Es ist davon auszugehen, dass die Unterscheidbarkeit der beiden Komponenten der Einstellungen dem im alltäglichen Lebensvollzug Stehenden nicht gegenwärtig ist. Vielmehr handelt es sich um eine analytische Unterscheidung des deutenden Beobachters. Die Versuchung liegt nahe, die in einzelnen Einstellungen erkennbaren ethischen und kognitiven Elemente zu allgemeinen Wertsystemen einerseits und Weltanschauungen andererseits auszubauen. Dabei besteht die Gefahr, dass den Mentalitäten einer Gesellschaft oder Gruppe eine innere Konsistenz und Widerspruchsfreiheit unterstellt wird, die sie nach aller Erfahrung gar nicht besitzen können. Außerdem liegt es nahe, zur Ver-

50 Ebd., S. 10 (original). 51 Ebd., S. 14 (original), 21 (in Übers.). 52 Ebd., S. 17 (original), 25 (in Übers.). 53 Clifford Geertz: Religion as a Cultural System. In: Ders.: The Interpretation of Cultures (wie Anm. 48), S. 89 f.

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meidung von allzu weitgespannten Spekulationen allzu leichtfertig wiederum auf ideengeschichtliche Methoden zurückzugreifen, so dass die im aktuellen Lebensvollzug bloß impliziten Anschauungen mit den offen bekannten und behaupteten Meinungen auf dieselbe Ebene gestellt und vermischt werden. Auf diesem Wege aber würde Mentalitätsgeschichte nichts anderes werden als eine Sozialgeschichte von Ideen und Meinungen, nicht aber eine Geschichte des aus kollektiven Einstellungen gedeuteten Verhaltens in einer Gesellschaft. Auch der Ethnologe arbeitet mit Informanten. Insofern wäre es absurd, wollte der Historiker auf die Heranziehung der zahlreichen schriftlichen Zeugnisse verzichten, um die ihn mancher Feldforscher wohl beneiden würde. Aber ebensowenig wie der Ethnologe die Meinungen der Informanten ohne weiteres als Interpretationen des Verhaltens ausgeben wird, so darf auch der Historiker auf der Suche nach Mentalitäten, die sich im Verhalten äußern, nicht unbesehen die Meinungen der Zeitgenossen über dieses Verhalten als dessen zureichende Deutung annehmen. Verhalten aus Einstellungen zu deuten, heißt offenbar nichts anderes, als es auf den Sinn oder die Bedeutung hin zu befragen, die ihm die Akteure selber gegeben haben. Vielleicht sollte man noch genauer formulieren und von dem Sinn sprechen, den das Verhalten für die Akteure (und zwar fraglos) besaß. Da es sich um kollektive Einstellungen handeln soll, die von der Gesellschaft vermittelt wurden, ist davon auszugehen, dass die Akteure sich in unmittelbarer Sinngewissheit so oder so verhalten haben. Im kulturellen Zusammenhang haben Verhaltensweisen eine bestimmte Bedeutung. Indem jemand sich entsprechend einer dieser Weisen verhält, vollzieht er, „meint“ er, die damit aufgezeigte Bedeutung. Dabei ist unerheblich, ob er sich dieser Intention jeweils bewusst ist oder nicht. Damit zeigt sich erneut die enge Beziehung zwischen Mentalität und Sprache. Die Erlernung der Sprache ist das Muster für die gesellschaftliche Vermittlung von Bedeutungswissen. Indem wir unsere Muttersprache erlernen, übernehmen wir die Weltauslegung, die sie in sich trägt. Umgekehrt schlagen sich Wandlungen der Weltauslegung im Wandel der Sprache, der Begriffe, ihres Gebrauchs und ihrer Bedeutungen nieder. Die Begriffsgeschichte, oder allgemeiner, die historische Semantik, kann daher für die Mentalitätsgeschichte gewissermaßen als Modell dienen. Sie muss allerdings zu einer Art allgemeiner „Semantik“ des kollektiven Verhaltens in der Geschichte erweitert werden. In Analogie zu den Lautzeichen lassen sich auch Verhaltensformen als Symbole verstehen, die noch etwas anderes bedeuten, als was sie an sich selbst sind. Das leuchtet sofort ein bei Handlungen, deren Zeichencharakter besonders offenkundig ist: das Werfen des Fehdehandschuhs, das Hissen einer Flagge, der „Panthersprung nach Agadir“. Es gilt jedoch auch für andere Verhaltensweisen. Gleichwie sich an der Entsendung des Kanonenboots vor die marokkanische Küste über den Anlass hinaus zeigte, dass das Deutsche Reich in der Kolonialsphäre ein Mitspracherecht beanspruchte, so

40 | I Facetten und Probleme der Historiographie zeigt der Eintritt von Arbeitern in eine Gewerkschaft, dass sie eine neue Einstellung zu ihrer Rolle gefunden haben. Das Fabrikantenschloss war selbstverständlich weit mehr als nur ein Wohnhaus für den Unternehmer und seine Familie, und die öffentliche Hinrichtung im 18. Jahrhundert war nicht nur ein zufälliger Brauch im Strafvollzug, sondern stellte absichtsvoll die verletzte Rechtssphäre des Herrschers wieder her, indem sie zugleich seinen Triumph über das Verbrechen, den Untertanen zur Bewusstseinsbildung und zur Warnung, in krasser Leibhaftigkeit vor Augen führte. In Handlungen solcher Art vollzieht sich auf der einen Seite ein einmaliges, individuelles Geschehen: der Geheimrat Arthur Junghans baut auf beherrschender Anhöhe über der Stadt Schramberg eine Villa; Robert-François Damiens wird auf dem Grève-Platz qualvoll gemartert und hingerichtet.⁵⁴ Aber zugleich drücken diese Handlungen symbolisch, wie angedeutet, noch etwas ganz anderes aus; in bestimmter Perspektive könnte es sogar scheinen, als seien sie überhaupt nur dieser anderen Bedeutungen wegen in der bestimmten Form vorgenommen worden, ganz ebenso, wie einer einen bestimmten Begriff für einen Gegenstand wählt, weil er diesen in die „richtige“ Bedeutung rücken möchte. Hier zeigt der König, dort der Unternehmer, wer sie jeweils sind. In diesem Sinne also lässt sich Mentalitätsgeschichte als Bedeutungsgeschichte auffassen, als Geschichte der Bedeutungen von Verhalten im weitesten Verstand. Das soll an einem Beispiel verdeutlicht werden. Beim Studium der Wahlkorruption in England im 18. Jahrhundert könnte man fragen, warum Kandidaten in umkämpften Wahlkreisen den Wählern vor der Wahl häufig Geld, Speisen oder andere Vorteile zukommen ließen.⁵⁵ Die Frage könnte zunächst als Frage nach dem Zweck solcher Geschenke aufgefasst werden, und die Antwort liegt auf der Hand: die Kandidaten wollten auf diese Weise die Stimmen der Wähler kaufen. Diese Absicht ist der von den Akteuren unmittelbar „gemeinte Sinn“ der Handlung.⁵⁶ Nach dieser Seite zeigt sich Mentalität noch nicht. Achtet man dagegen auf die Implikationen dieser Zweck-Mittel-Relation, indem man etwa fragt, warum die beobachtete Handlung überhaupt als Mittel für den gesetzten Zweck dienen konnte, so eröffnet sich eine Perspektive, auf der Mentalität sichtbar werden kann. Im vorliegenden Falle ließe sich etwa von der Mentalität der Wähler

54 Michel Foucault: Surveiller et punir. Naissance de la prison. Paris 1975, S. 9 ff; zum Charakter der öffentlichen Hinrichtung als eines „rituel politique“ vgl. bes. S. 51 ff.; vgl. neuerdings Michel Bée: Le spectacle de l’exécution dans la France d’Ancien Régime. In: Annales 38, 1983, S. 843–862. 55 Beispiele bei E. Neville Williams (Ed.): The Eighteenth Century Constitution 1688–1815. Documents and Commentary. Cambridge 1960, S. 152 ff.; zum Gesamtproblem vgl. Lewis Namier: The Structure of Politics at the Accession of George III. 2. Aufl. London 1957, bes. S. 161 ff. 56 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der Verstehenden Soziologie. 5. Aufl. 14.– 18. Tsd. Tübingen 1980, S. 1 ff.

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sprechen, ein kurzes Vergnügen höher zu schätzen als die politische Mitsprache, oder von der Mentalität der Kandidaten, die menschlichen Schwächen und die kargen Lebensumstände der Wähler skrupellos für ihre Ziele auszunützen. Auf solche Art fragt Mentalitätsgeschichte danach, was bestimmte Verhaltensweisen in einer Gesellschaft bedeuten. Diese Art des Bedeutens nennt der Ethnologe F. Allan Hanson „implicational meaning“.⁵⁷ Die Analogie zur Begriffsgeschichte offenbart weitere charakteristische Züge der Mentalitätsgeschichte. Genauso wie einer sich überlegen kann, was mit einem bestimmten Begriff, den er seit jeher gebraucht hat, eigentlich gemeint sei, kann jemand sich plötzlich fragen, was ein bestimmtes Verhalten, das er bisher geübt hat, eigentlich bedeutet. Wo gleichzeitig viele Angehörige einer Gesellschaft oder Gruppe auf solche Fragen verfallen, sind die Voraussetzungen für einen Verhaltens- und Einstellungswandel gegeben. Offenbar handelt es sich bei einem solchen Wandel um eine Änderung der Zuordnung des jeweiligen Verhaltens. So macht es zum Beispiel einen Unterschied, ob die Arbeit als von Gott dem Menschen auferlegtes Los empfunden, als leidige Mühsal unwillig hingenommen oder als Mittel der sinnvollen Lebensgestaltung freudig bejaht wird. Im ersten Fall wird die Arbeit christlich in den Zusammenhang von Sündenfall und Erlösung, im zweiten Fall in einen Gegensatz zum Lebensgenuss, im dritten Fall in den Rahmen einer weltlichen Deutung des Menschseins gestellt. Die Verwandtschaft zwischen Begriffsgeschichte und Mentalitätsgeschichte wird an diesem Beispiel besonders offenkundig, denn die Wandlungen in den Einstellungen zur Arbeit könnten ebenso gut zum Gegenstand einer Geschichte des Begriffs Arbeit gemacht werden.⁵⁸ Methodisch erscheint namentlich derjenige Bereich der Begriffsgeschichte, in dem nicht gelehrte Definitionen, sondern die alltäglichen Bedeutungen herausgestellt werden, geradezu als ein wesentlicher Bestandteil der mentalitätsgeschichtlichen Bemühungen. Die Einstellungen zur Arbeit gehen in die Wortbedeutung von Arbeit ein, oder umgekehrt: die gesellschaftlich vermittelte Wortbedeutung prägt die Einstellungen. Die Welt ist immer schon verstanden; jede Gesellschaft, jede Sozialgruppe, jeder soziale Typus besitzt seine charakteristische Wirklichkeit. Dieser Besitz ist ein vor-theoretisches Wissen, kraft dessen jedermann sich in der Gesellschaft verhält. Insofern lässt sich die Mentalitätsgeschichte auch als eine historische Wissenssoziologie verstehen, wobei Wissenssoziologie im Sinne von Peter L. Berger und Thomas Luckmann

57 Hanson: Meaning in Culture (wie Anm. 44), S. 3 ff., 9 ff. 58 Zum Bedeutungswandel des Begriffs Arbeit in der Geschichte vgl. Werner Conze: Art. Arbeit. In: Otto Brunner/Ders./Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1. Stuttgart 1972, S. 154–215.

42 | I Facetten und Probleme der Historiographie als die Analyse der „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ aufgefasst werden soll: Die Wissenssoziologie muß sich mit allem beschäftigen, was in der Gesellschaft als „Wissen“ gilt [. . . ] Theoretische Gedanken, „Ideen“, Weltanschauungen, sind so wichtig nicht in der Gesellschaft. Obwohl auch diese Phänomene in sie hineingehören, sind sie doch nur ein Teil dessen, was „Wissen“ ist [. . . ] Allerweltswissen, nicht „Ideen“ gebührt das Hauptinteresse der Wissenssoziologie, denn dieses „Wissen“ eben bildet die Bedeutungs- und Sinnstruktur, ohne die es keine menschliche Gesellschaft gäbe.⁵⁹

Zum Wissen in diesem Sinne gehören natürlich auch das Misstrauen und der Widerstand gegenüber dem Unbekannten und Neuen und damit zugleich gegenüber Versuchen zur Reform gesellschaftlicher Verhältnisse. So ist, um ein Beispiel zu nennen, in einer englischsprachigen Untersuchung erst jüngst wieder gezeigt worden, dass weit über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus auch das vorhandene Angebot an ärztlicher und geburtshilflicher Versorgung nur von einer Minderheit der Bevölkerung überhaupt in Anspruch genommen wurde.⁶⁰ Für einige Pfarreien im Landgericht Freising stellte Robert Lee fest, dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur zu 8,4 % der im ersten Lebensjahr verstorbenen Kinder zuvor ein Arzt gerufen worden war. Bei einer traditionellen Kindersterblichkeit von 30 bis 40 % im ersten Lebensjahr betrachteten die Eltern den Tod offenbar als ein unausweichliches Schicksal. Aus demselben Grunde wurde ärztliche Hilfe immer seltener in Anspruch genommen, sobald jemand das 50. Lebensjahr überschritten hatte. Auch hier, so scheint es, hielt man die Zeit für gekommen, wo der Mensch zu sterben hatte. Bevor der medizinische Fortschritt sich in einer solchen Gesellschaft auswirken konnte, war – so Lee – ein „change of attitude“ bei der Bevölkerung – wir würden sagen: ein Mentalitätswandel – erforderlich.⁶¹ Das Misstrauen der Freisinger Bauern gegenüber der ärztlichen Kunst ist ein „Wissen“ von deren Unvermögen, ebenso wie die Hochschätzung des Reserveoffiziers im Kaiserreich ein „Wissen“ von dessen sozialem Gewicht und der Zynismus der SA ein „Wissen“ davon ist, dass die Welt mit der Faust regiert wird. Solches Wissen besitzt Orientierungsfunktion. Dank solchen Wissens weiß der einzelne, welche Ziele er verfolgen soll und welche Mittel hierzu tauglich sind; er weiß, wie er die Wirklichkeit ordnen soll in Freund und Feind, Nützlich und

59 Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. 5. Aufl. Frankfurt am Main 1977, Fischer-Taschenbuch, ebd. 1980, S. 16. 60 W. Robert Lee: Population Growth, Economic Development and Social Change in Bavaria, 1750–1850. New York 1977. 61 Ebd., S. 64–66, 93–95.

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Unbrauchbar, Richtig und Falsch, Gut und Böse. Ohne solche gesellschaftlich vermittelten Orientierungen könnte der Mensch nicht existieren. Zwar besitzt er die Fähigkeit zur Reflexion und zur Selbstbestimmung und damit zur Distanzierung gegenüber den gesellschaftlich vorgegebenen Verhaltensregeln, aber er kann unmöglich alle sozialen Vorgaben gleichzeitig in Frage stellen. Die fraglose Hinnahme der meisten Geltungen, in denen er lebt, erscheint geradezu notwendig im Sinne einer „Entlastung“ des Bewusstseins.⁶² Von einer wissenssoziologischen Problemstellung ist auch das Mentalitätskonzept in Theodor Geigers „Sozialer Schichtung des deutschen Volkes“ von 1932 bestimmt. Der Ausdruck Mentalität wird als ein Begriff der Wirtschaftssoziologie eingeführt, der zur dynamischen Charakterisierung der im übrigen nach wirtschaftlichen Merkmalen unterschiedenen Schichten einer Gesellschaft dienen soll: so werden bestimmten „ökonomisch-sozialen Schichten“ bestimmte „Wirtschaftsinteressen oder Mentalitäten als bewegende Kräfte“ zugeordnet.⁶³ Geiger lässt erkennen, dass er hier den Mentalitätsbegriff an einer Stelle gewählt hat, wo nach dem Diskussionsstand der Zeit der Begriff der Ideologie zu erwarten gewesen wäre. Zur Begründung seines abweichenden Vorgehens stellt er Ideologie und Mentalität in der Weise einander gegenüber, dass Mentalität als das ursprünglichere, Ideologie als ein abgeleitetes Element erscheint. Abgesehen von der später aufgegebenen Beschränkung des Interesses auf wirtschaftssoziologisch definierbare Bevölkerungsgruppen gelangt Geiger dabei zu grundlegenden Einsichten in das Wesen der Mentalität. Die Nähe zu der soeben entwickelten Konzeption mag an Geigers Feststellung erkennbar werden, die Mentalität sei „geistig-seelische Disposition, [. . . ] unmittelbare Prägung des Menschen durch seine soziale Lebenswelt und die von ihr ausstrahlenden, an ihr gemachten Lebenserfahrungen“.⁶⁴ Noch deutlicher wird die Verwurzelung der Mentalität im Alltag mit dem Satz unterstrichen: Lebenshaltung, Gewohnheiten des Konsums und der sonstigen Lebensgestaltung, Freizeitverwendung, Lesegeschmack, Formen des Familienlebens und der Geselligkeit – tausend Einzelheiten des Alltagslebens bilden im Ensemble den Typ des Lebensduktus, und dieser ist Ausdruck der Mentalität.⁶⁵

62 Der Ausdruck ist übernommen aus Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. 7. Aufl. Frankfurt am Main/Bonn 1962, bes. S. 62 ff. 63 Geiger: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes (wie Anm. 3), S. 4 f. 64 Ebd., S. 77. 65 Ebd., S. 80.

44 | I Facetten und Probleme der Historiographie Mentalität erscheint Geiger als „Geistesverfassung“, Ideologie als „Selbstauslegung“, und zwar soll die Ideologie aus der Mentalität als Selbstauslegung hervorwachsen. Daher tritt die Ideologie sehr im Gegensatz zur Mentalität als „Doktrin oder Theorie“ auf. Ideologien erscheinen als „mitteilbar“, als „mögliches Lehrgut“; sie „können gepredigt und verbreitet werden“. Daher könne die Ideologie „falsch“ sein, während „gegenüber der Mentalität die Frage ‚richtig oder falsch?‘ logisch unerlaubt“ sei.⁶⁶ Geigers Anliegen bei der Gegenüberstellung von Ideologie und Mentalität war freilich nicht die Analyse des Bereichs unreflektierten Alltagswissens. Vielmehr ging es ihm hier wie auch in späteren Arbeiten vor allem darum, den totalen Ideologiebegriff von Karl Mannheim zurückzuweisen. Der Lehre Mannheims von der notwendigen Seinsverbundenheit alles Denkens suchte er dadurch zu begegnen, dass er zwischen die „Realfaktoren“ und die Ideologie als „Zwischenglied“ die Mentalität im Sinne der gesellschaftlich bedingten „Befangenheit“ oder der „intellektuellen Gesinnung“ einschob.⁶⁷ Dadurch gewann er die Möglichkeit, den Gedanken als Resultat des Denkens von der bloßen Denkungsart oder Geisteshaltung zu unterscheiden. Auf diesem Wege hoffte er nicht nur überzeugender darlegen zu können, auf welche Weise die soziale Wirklichkeit gemäß dem wissenssoziologischen Ansatz auf das Denken einwirken mag, sondern er schuf damit auch die Voraussetzung für die Beschränkung des Ideologiebegriffs auf theoretisch gemeinte Aussagen. Den gegebenenfalls ideologischen Charakter solcher Aussagen wiederum erklärte Geiger folgerichtig als unzulässige Beimischung außertheoretischer Elemente wie unreflektierter Wertungen, Vorlieben, Glaubenshaltungen und dergleichen, die aber als solche eben nicht selbst ideologisch genannt werden können.⁶⁸ Für diese psychischen Tatsachen bevorzugte Geiger später gegenüber dem Mentalitätsbegriff Ausdrücke wie „Gefühlsverhältnis“, „Vitalengagement“ oder „Vitalbeziehung“.⁶⁹ Nach Geiger kann zum Beispiel der Liberalismus „eine Ideologie des 19. Jahrhunderts“ nicht sein, soweit darunter „die liberale Gesinnung, das Streben der Bürger

66 Ebd., S. 77 f. 67 Theodor Geiger: Bemerkungen zur Soziologie des Denkens. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 45, 1959, S. 40 f.; die unvollendete Abhandlung stammt aus dem Nachlaß; sie scheint frühestens nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben worden zu sein: vgl. ebd., S. 44; ders.: Kritische Bemerkungen zum Begriffe der Ideologie (1949). In: Hans-Joachim Lieber (Hrsg.): Ideologie – Wissenschaft – Gesellschaft. Neuere Beiträge zur Diskussion. Darmstadt 1976, S. 176. 68 Ebd., S. 175, 180; Theodor Geiger: Ideologie und Wahrheit. Eine soziologische Kritik des Denkens. 2. Aufl. Neuwied/Berlin 1968, S. 49 ff., 58 ff. 69 Geiger: Kritische Bemerkungen zum Begriffe der Ideologie (wie Anm. 67), S. 176, 188 u. passim; ders.: Ideologie und Wahrheit (wie Anm. 68), S. 49 ff., 55, 60, 140 u. passim.

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nach sozialer und politischer Emanzipation“ verstanden werden, wohl aber, wenn „die Doktrinen über die Gesellschafts- und Staatsstruktur“ in den Blick genommen werden, „die aus liberaler Gesinnung hervorgewachsen sind und zur scheinrationalen Begründung eines politischen Handelns liberaler Linie dienten“.⁷⁰ Indem Geiger den ideologischen Charakter der Ideologie als Einmischung eines Vitalverhältnisses in theoretisch gemeinte Aussagen erklärte, hoffte er zugleich, den Weg zur Vermeidung des ideologischen Scheins gewiesen zu haben. Zur Verdeutlichung sei erwähnt, dass Geiger selbst seine Bestimmung des Gegensatzes von Mentalität und Ideologie in die Nähe der Unterscheidung Paretos zwischen Residuen und Derivationen rückte, und in der Tat entspricht es ganz den Geigerschen Überlegungen, wenn Pareto geschrieben hatte: I residui sono manifestazioni di sentimenti. Le derivazioni [. . . ] sono manifestazioni del bisogno di ragionare che prova l’uomo.⁷¹

Der Historiker stellt gegenüber dem Phänomen der Ideologie freilich noch andere Fragen als die Frage nach der Möglichkeit von Wahrheit. Wo immer er Ideologien in der sozialen Wirklichkeit der Geschichte entdeckt, sucht er vor allen Dingen ihre Entstehung und ihre Funktion im jeweiligen Zusammenhang zu erklären. Kein Historiker wird sich die Mühe machen, bei der Interpretation der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung die darin enthaltene Behauptung zu widerlegen, dass Georg III. von England ein Tyrann gewesen sei. Sehr wohl aber haben sich Historiker die Frage vorgelegt, was es bedeutet, dass die aufständischen Amerikaner ihren Schritt mit dieser Behauptung zu rechtfertigen versuchten. Es ist zu vermuten, dass die Unabhängigkeitserklärung unter anderem den Zweck verfolgte, in der gegebenen Situation eine Hilfe zur Orientierung in einer bestimmten Richtung zu geben. Dieser Orientierung bedurfte es offenbar deshalb, weil die überlieferte Verhaltenssicherheit durch widersprüchliche Erfahrungen erschüttert worden war: einerseits wollten die Amerikaner in loyaler Zugehörigkeit zum britischen Reich verharren; andererseits wollten viele von ihnen die Lasten nicht mittragen, welche die zuständigen Organe dieses Reiches ihnen auferlegten. Unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Mentalität und Ideologie lässt sich dieser Vorgang auch auf folgende Weise beschreiben. Die unreflektierte Einstellung der Loyalität und die ebenfalls unreflektierte Einstellung des Widerwillens gegen die Besteuerung durch das britische Parlament konnten

70 Geiger: Kritische Bemerkungen zum Begriffe der Ideologie (wie Anm. 67), S. 183. 71 Geiger: Bemerkungen zur Soziologie des Denkens (wie Anm. 67), S. 43; ders.: Ideologie und Wahrheit (wie Anm. 68), S. 60 f.; Vilfredo Pareto: Trattato di Sociologia Generale. 2. Aufl. Bd. 2, Firenze 1923, §1401, S. 331.

46 | I Facetten und Probleme der Historiographie nicht länger nebeneinander bestehen. In der Mentalität selber war ein Konflikt aufgerissen worden. Die Amerikaner waren gezwungen, Stellung zu nehmen, wo sie bisher problemlos dahingelebt hatten. Die so entstandene Situation musste interpretiert werden, und zwar im Lichte anderer, tieferer Werthaltungen, die ihrerseits fraglos weitergelten durften. Diese Funktion sollte offenkundig die Identifizierung Georgs III. als Tyrann erfüllen. Ein Tyrann konnte selbstverständlich nicht beanspruchen, ein freies Land zu regieren; einem Tyrannen war niemand Gehorsam schuldig. Die Behauptung, Georg III. sei ein Tyrann, ist ideologisch. Die Ideologie wurde an der Stelle benötigt, wo die bisherigen, fraglos gültigen kollektiven Einstellungen in Widerspruch zueinander geraten waren. Ihre Wirkung sollte die Ideologie dadurch gewinnen, dass sie wiederum an eine fraglos gültige Einstellung appellierte. Wenn die Funktion der Mentalitäten darin besteht, dem Menschen für sein Verhalten Orientierung, das heist unwillkürliche Sinngewissheit zu vermitteln, so ist es offenbar die Funktion der Ideologie, in den Fällen, wo die traditionelle Sinngewissheit versagt, eine willkürliche Sinnsetzung zu vollziehen. Diese muss willkürlich heißen, weil sie bewusst geschieht, aber auch, weil sie notwendig im Wege einer Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten geschieht, die jeweils gegebene Situation zu interpretieren und auf tiefere, im Augenblick unbezweifelte Sinngewissheiten zu beziehen. Solche Bedürfnisse bringen nicht nur revolutionäre Situationen hervor, sondern sie gehören offenbar zu den Wesenszügen der Gesellschaft. Sie treten überall zutage, wo der einzelne oder Gruppen die Widersprüchlichkeit der Normen, der Ziele oder der Rollenerwartungen erfahren, in denen sie leben. Die daraus resultierenden Spannungen zu überbrücken, ist die Funktion all jener Konstrukte, die unter die Rubrik der Entlastungsideologien – im Unterschied zu den Interessenideologien – gestellt werden können.⁷² In der Gesellschaft – wie übrigens auch ganz analog in der individuellen Existenz – zeigt sich in diesem Sinne das Bedürfnis nach ideologischer Selbstvergewisserung und Selbstbegründung in charakteristischer Weise in Situationen, in denen ein Versagen, ein Scheitern oder gesellschaftliche Zurücksetzung empfunden werden, oder wenn die eigene Position in Frage gestellt erscheint. So hat Karl Mannheim vor über einem halben Jahrhundert die Entstehung des konservativen Denkens aus der Infragestellung des unreflektierten Traditionalismus durch die Revolution interpretiert.⁷³ Zur sel-

72 Clifford Geertz: Ideology as a Cultural System. In: Ders.: The Interpretation of Cultures (wie Anm. 48), S. 201 ff. 73 Karl Mannheim: Das konservative Denken. Soziologische Beiträge zum Werden des politischhistorischen Denkens in Deutschland. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 57, 1927,

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ben Klasse von Ideologien gehört auch der historische Materialismus, insofern er die Unterdrückung des Proletariats in eine historische Mission umdeutet.⁷⁴ Ein weiteres Beispiel bildet die Flucht von Teilen des alten Mittelstands in den Antisemitismus. Überall gehen der Bildung von Ideologien offenbar neue Erfahrungen voraus, deren Bedeutung sich aus dem gesellschaftlichen Wissensvorrat nicht unmittelbar ergibt. Die Vermutung liegt nahe, dass das industrielle Zeitalter, zu dessen konstitutiven Merkmalen der gesellschaftliche Wandel gehört, in weit höherem Maße der Ideologien bedarf als die vorhergehende Epoche. Insofern wäre zu überlegen, ob die moderne Revolution ein Zeitalter der Mentalitäten in ein Zeitalter der Ideologien übergeführt haben könnte.⁷⁵ Wahrscheinlich wäre es richtig, wenn schon von einem Zeitalter der Ideologien, dann zugleich von einem Zeitalter der Beschleunigung des Mentalitätswandels zu sprechen.⁷⁶ Ideologien werden von irgendjemandem geprägt. Sind sie in der Gesellschaft oder in einer gesellschaftlichen Gruppierung erfolgreich – das heißt, überzeugen die Sinnsetzungen, die sie enthalten –, dann müssen sie sich früher oder später zu selbstverständlichen Sinngewissheiten, zu Mentalitäten, fortbilden. Anders lässt sich zum Beispiel die These von der Entstehung der kapitalistischen Wirtschaftsgesinnung aus dem Calvinismus nicht erklären. Auch die verhaltensprägende Kraft der Lehren von der Notwendigkeit der Klassensolidarität in der Geschichte der Arbeiterbewegung gehört in diesen Zusammenhang. Zahlreich sind die Beispiele, wo griffige Formeln eine neue Situation auf eine so zwingende Weise definierten, dass sie fast aus dem Stand eine Mentalität zu prägen vermochten: man denke nur an die Parole vom Burgfrieden im Ersten Weltkrieg. Erfolgreiche Ideologien sind selbstverständlich ihrerseits kollektive Verhaltensformen, in denen sich Mentalitäten ausdrücken. Ihre Überzeugungskraft besteht eben darin, dass sie auf eine bereits bestehende Mentalität zugeschnitten sind. Der Ausspruch Wilhelms II. bei Ausbruch des Krieges, er kenne „keine Par-

S. 68–142, 470–495. Für die Gegenüberstellung von „Traditionalismus“ und „Konservatismus“ vgl. bes. S. 71–78. Vgl. dazu Geertz: Ideology as a Cultural System (wie Anm. 72), S. 218 f. 74 Unter den vier von Geertz angeführten Varianten der „strain theory“ wäre der historische Materialismus der „morale explanation“ zuzuordnen, vgl. ebd., S. 205. 75 Der Ausdruck ist übernommen aus Otto Brunner: Das Zeitalter der Ideologien. Anfang und Ende. In: Ders.: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. 2. Aufl. Göttingen 1968, S. 45–63. 76 Von der „Beschleunigung des Wandels, der die Erfahrungen verzehrt“, spricht Reinhart Koselleck: „Neuzeit“. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1979, S. 329.

48 | I Facetten und Probleme der Historiographie teien mehr“, es gebe „nur noch Deutsche“⁷⁷, knüpfte an die abschätzigen Einstellungen der deutschen Gesellschaft gegenüber den Parteien an. Der Ausspruch suchte für die Dauer des Krieges geschickt jede Kritik an der Regierung zu tabuisieren, indem er sie der Kategorie des verachteten Parteiengezänks zuordnete und überdies als unpatriotisch brandmarkte. Mentalitäten entstehen im übrigen nicht nur als Sedimentierung von Ideologien. Auch die Setzung von Symbolen durch sinnfällige Handlungen vermag Einstellungen zu prägen: man denke zum Beispiel an die Erstürmung der Bastille, an die Kaiserproklamation in Versailles oder an den Tag von Potsdam. Solche Symbole stehen freilich nicht isoliert und ohne Zusammenhang in der Entwicklung. Vielmehr verdichtet sich in ihnen jeweils eine viel umfassendere kollektive Erfahrung auf eine bestimmte Perspektive. Die Symbole gewinnen dadurch eine den Ideologien ganz analoge Funktion: sie verleihen den neuartigen Erfahrungen ihren „gültigen“ Sinn. In der Erstürmung der Bastille deutet sich die Revolution selbst als Befreiung von der hier durch das Gefängnis symbolisierten Willkürherrschaft. Die Wahl von Versailles zum Ort der Kaiserproklamation sollte die Reichsgründung zum gerechten Triumph der deutschen Nation nach drei Jahrhunderten französischer Expansion und Gewaltpolitik – symbolisiert durch das Schloss des Sonnenkönigs – stilisieren und ihr damit zugleich ihren geschichtlichen Sinn verleihen. Durch den Tag von Potsdam suchte sich Hitler als legitimen Erben und Fortsetzer der preußisch-deutschen Traditionen darzustellen. Wenn beispiellose Ereignisse ihren geglaubten oder gewünschten gesellschaftlichen Sinn in Symbolen dieser Art zum Ausdruck bringen, so zeigt sich darin lediglich in besonders auffälliger Form die allgemeine Tatsache, dass neue kollektive Erfahrungen in die gesellschaftliche Wirklichkeitsauslegung integriert werden müssen. Dem kontinuierlichen sozialen und politischen Wandel in der Geschichte muss daher ein schleichender Wandel der Mentalitäten korrespondieren. Insofern ist der Streit um die Frage, ob Mentalitäten ausschließlich als Phänomene langer Dauer im Sinne Fernand Braudels anzusehen sind, gar nicht entscheidbar.⁷⁸ Wie in jeder historischen Disziplin hängt es allein von der Fragestellung ab, welcher Grad der Verallgemeinerung der gegebenen Mannigfaltigkeit und welcher Rhythmus der Periodisierung notwendig und zulässig sind. Relativ zu den Wechselfällen der Ereignisgeschichte wird den Mentalitäten jedoch schon

77 Chronik des Deutschen Krieges nach amtlichen Berichten und zeitgenössischen Kundgebungen. Bd. 1. München 1914, S. 25. 78 Vgl. Michel Vovelle: Die Französische Revolution. Soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten. München/Wien 1982, S. 82 ff.

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deshalb ein höheres Maß an Stabilität zuzusprechen sein, weil ihre Funktion nach dem bisher Gesagten gerade darin besteht, neue Erfahrungen in bestehende Sinnstrukturen einzuordnen. Wie dargelegt, sind jedoch auch die Mentalitäten einem kontinuierlichen Wandel unterworfen. Zweifellos ist es sinnvoll, verschiedene Schichten von Mentalitäten mit unterschiedlichen Zeitstrukturen zu differenzieren, und ganz sicher gibt es Epochen mit rascher und solche mit weniger rasch aufeinanderfolgenden Veränderungen. Mentalitätsgeschichte ist also die Geschichte der Zuordnungen, die eine Kollektivität durchschnittlich gegenüber Zuständen, Ereignissen und Situationen in unmittelbarer Sinngewissheit vornimmt. Insofern ist sie eine Art von historischer Semantik. Die Einstellungen, die eine Mentalität konstituieren, brauchen den Angehörigen der Kollektivitäten nicht gegenwärtig zu sein, genausowenig wie die volle Bedeutung der Begriffe jemandem gegenwärtig zu sein braucht, damit er sprechen kann. Man kann sich seine Einstellungen bis zu einem gewissen Grade bewusst machen, wird sich dabei aber leicht über sich selbst täuschen. Eben deshalb sind noch so aufrichtig gemeinte Selbstinterpretationen mit Zurückhaltung aufzunehmen. Es kann die verschiedensten Gründe dafür geben, dass einer sich anders verhält, als er sagt oder sogar wirklich glaubt. Selbst wenn einer sich genauso verhält, wie er sagt und glaubt, so können doch die wahren Beweggründe dafür andere sein, als diejenigen, die er nennt und an die er vielleicht auch glaubt. Wieweit Selbstaussagen und Absichtserklärungen vom tatsächlichen Verhalten abweichen können, lehren die Erfahrungen der Sozialpsychologie mit ihren Versuchen, Verhalten aufgrund von Einstellungsmessungen vorauszusagen. Aus diesem Grunde lässt sich Mentalität auch nicht ohne weiteres mit dem gleichsetzen, was man in der Geschichtsschreibung gerne das Selbstverständnis einer Gruppe nennt. Auch hier gilt allemal, dass der Historiker danach streben soll, die Menschen der Vergangenheit besser zu verstehen, als sie sich selber verstanden haben. Das bedeutet keine Abwertung der Frage nach dem Selbstverständnis. Ganz im Gegenteil! Es scheint zu den Eigentümlichkeiten des sozialen Verhaltens zu gehören, dass Gruppen ein bestimmtes Bild von sich selbst und ihrer Rolle in der Gesellschaft entwickeln. Je expliziter die Vorstellungen sind, umso mehr werden ideologische Elemente in das Bild Eingang gefunden haben. Wer nach der Mentalität einer Gruppe fragt, muss dieses Bild kennen, denn auch in solchen Bildern, in den Formen der Selbstdarstellung und Selbststilisierung einer Gruppe, offenbart sich Mentalität. Mentalitäten sind nicht Ursachen des Verhaltens, sie bezeichnen lediglich Tendenzen und Dispositionen, bestimmte Situationen, die ein Verhalten auslösen, in charakteristischer Weise zu deuten. Insofern erscheinen sie eher als Bedingungen dafür, dass bestimmte Ereignisse in bestimmter Weise als Ursache wirken können. Um ein Beispiel von Gilbert Ryle aufzugreifen, so war es nicht

50 | I Facetten und Probleme der Historiographie die Zerbrechlichkeit des Glases, sondern der Steinwurf, durch den das Fenster zerbrach.⁷⁹ Bei Menschen spricht man von Dispositionen oder Motiven und unterscheidet sie von den Ursachen: „eine Disposition ist kein Ereignis und kann daher keine Ursache sein“.⁸⁰ Die unmittelbare Ursache für den Eintritt Großbritanniens in den Ersten Weltkrieg wurde die Verletzung der belgischen Neutralität durch Deutschland, denn sie berührte die traditionelle britische Disposition, sich durch jede Großmacht bedroht zu fühlen, welche die Rhein- und Scheldemündungen in der Hand hielt. Um ein Beispiel aus der Sozialgeschichte anzuführen, so setzte regionale Mobilität in der Industrialisierungsperiode die Bereitschaft voraus, sich aus traditionellen Verhältnissen zu lösen und Risiken und Ungewissheiten in Kauf zu nehmen: Ursache für konkrete Wanderungsbewegungen war aber nicht diese Bereitschaft, sondern die tatsächliche Notlage im Ausgangsgebiet oder eine verlockende Erwerbsgelegenheit im Zielgebiet. In beiden Beispielen aktualisierte sich eine vorhandene Disposition am konkreten Anlass. Man ist versucht zu fragen, ob die Bestimmung von Mentalität als Disposition einer Kollektivität, ein Ereignis, einen Zustand oder eine Entwicklung auf der Grundlage des bestehenden Wirklichkeitswissens auf eine bestimmte Art zu deuten, hinsichtlich der Möglichkeit historischer Aussagen über Mentalität nicht in eine Aporie führt. Dispositionen sind nur an ihren wiederkehrenden Manifestationen erkennbar. Das Glas zeigt seine Zerbrechlichkeit, wenn und nur wenn es vom Stein getroffen wird. Wenn eine Disposition sich nun nicht mehr manifestiert, so kann der Grund in der Tat darin liegen, dass sie nicht länger besteht; jedoch würde die gleiche Wirkung eintreten, wenn sich lediglich keine Gelegenheit mehr böte, bei der sich die Disposition zeigen könnte. An die oben vorgetragenen Überlegungen zum Problem des Mentalitätswandels könnte man dementsprechend die kritische Frage anknüpfen, ob es überhaupt möglich ist, Anfang und Ende von Mentalitäten zu erkennen. Ist beispielsweise die Mentalität, die in den Gewalttaten des Nationalsozialismus zum Ausdruck kam, erst mit der Hitlerbewegung entstanden? Und ist sie im Jahre 1945 wieder verschwunden, nur weil die Alliierten die Regierungsgewalt in Deutschland übernahmen? Wären Mentalitäten Eigenschaften der Menschen, wie die Zerbrechlichkeit eine Eigenschaft des Glases ist, so müssten die gestellten Fragen verneint werden. Sind Mentalitäten jedoch Sinnstrukturen der kollektiven Wirklichkeitsdeutung, so erscheint es in der Tat plausibel, Entstehung und Vergehen von Mentalitäten in verhältnismäßig engen zeitlichen Zusammenhang mit gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen zu setzen. Eben dergleichen ist gemeint, wenn gesagt

79 Ryle: The Concept of Mind (wie Anm. 44), S. 86. 80 Ebd., S. 84.

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wird, der Nationalsozialismus habe bei vielen Menschen zu einer Verwirrung der Begriffe geführt. Mit Ausdrücken wie „Verblendung“ oder „Verkennung“ offenbart die Sprache schon von sich aus, dass ungewöhnliche Verhaltensbrüche an die Bedingung eines jähen Umschlags in der Sicht und im Wissen von Wirklichkeit geknüpft sein können. Wenn Mentalität die Sinngewissheit der jeweils gegebenen Wirklichkeit bezeichnet, dann mag die Weltauffassung einer neuen Epoche in vielfältiger Kontinuität an die bisherigen Auffassungen anknüpfen: die Annahme des latenten Fortbestehens der Sinngewissheit einer Wirklichkeit, die als so und so bestimmte gar nicht mehr existiert, wäre jedoch ein Widerspruch in sich. Entsprechendes gilt selbstverständlich auch für längerfristige Veränderungen. Eben darum werden Leben und Sterben heute mit Notwendigkeit anders erfahren als zu der Zeit, da nur jeder zweite das zehnte Lebensjahr errreichte.⁸¹ Wenn als Mentalität die Art und Weise bezeichnet wird, wie eine Kollektivität eine Situation deutet, dann handelt es sich um einen Vorgang der Wirklichkeitsauslegung, also um einen Vorgang des Verstehens. Vom Verstehen sind zu unterscheiden Gefühle und auch Psychosen. Dergleichen sind nicht Dispositionen und Motive, sondern psychische Ereignisse, die unmittelbar auf äußere Reize zurückgehen und selber wieder zu unmittelbaren Verhaltensursachen werden können. Es erscheint daher nicht ratsam, mit Vovelle die Geschichte von „kollektiven Gefühlen und Wünschen der Massen“ in die Mentalitätsgeschichte einzubeziehen oder im Zusammenhang mit der Französischen Revolution zum Beispiel auch „die Angst als Element der revolutionären Mentalität“ zu behandeln.⁸² Angst, wie sie sich in Massenaktionen nach Art der „Grande Peur“ 1789 oder der Septembermorde 1792 entlud, mag ein wiederkehrendes Phänomen in der Revolution gewesen sein: sie war gleichwohl nicht eine Kategorie der Wirklichkeitserfahrung, sondern ein Datum in dieser Wirklichkeit selber.⁸³ Vielleicht sollte zur Verdeutlichung an dieser Stelle noch einmal unterstrichen werden, dass Mentalitäten weder als eine Art von Aberglauben noch als Verdunkelungen der Wirklichkeitserfahrung durch Leidenschaften angesehen werden können. Sie sind auch nicht ein Zeichen mangelnder Bildung oder Wissenschaftlichkeit. All dies können Faktoren sein, welche Mentalitäten mitformen; es sind jedoch nicht als solche Mentalitäten. Die Wirklichkeit wissenschaftlich,

81 Vgl. zu diesem Problemkreis zuletzt Arthur E. Imhof : Von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit. Ein folgenschwerer Wandel im Verlaufe der Neuzeit. In: VSWG 71, 1984, S. 175–198; ders.: Die verlorenen Welten. Alltagsbewältigung durch unsere Vorfahren – und weshalb wir uns heute so schwer damit tun. München 1984. 82 Vovelle: Die Französische Revolution (wie Anm. 78), S. 110, 91. 83 Vgl. ebd., S. 91.

52 | I Facetten und Probleme der Historiographie d. h. in ihrer reinen Gegenständlichkeit, analysieren zu wollen, ist selber Ausdruck einer bestimmten Mentalität. Niemand, auch der Wissenschaftler nicht, kann sich in der Lebenswelt ohne prä-theoretische Wissensvorgaben orientieren. Daher richtet sich die mentalitätsgeschichtliche Fragestellung auch keineswegs nur an die breiten Volksmassen, sondern ebensosehr an die sogenannter Eliten.⁸⁴ Wenn die Kenntnis der gesellschaftlich und kulturell verfügbaren Mittel die Voraussetzung für zweckrationales Handeln in der Gesellschaft ist, dann liegt auf der Hand, dass Mentalitäten geradezu Bedingungen sinnvollen sozialen Verhaltens darstellen. Wie sollte der aufstiegsbewusste Unternehmer seine Familie gesellschaftlich voranbringen, wenn er nicht „wusste“, dass hierzu die Verheiratung seiner Tochter mit einem Offizier oder einem höheren Beamten von Vorteil sein konnte?⁸⁵ Wie sollte er auch nur unternehmerischen Erfolg haben, wenn er nicht „wusste“, dass hierzu Fleiß, Sparsamkeit, bescheidene Lebensführung und Kreditwürdigkeit entscheidende Voraussetzungen bildeten?⁸⁶ Mentalitätsgeschichte setzt voraus, dass Mentalitäten aus den Quellen ermittelt werden können. Das Problem stellt sich auf zwei Ebenen. Zum einen müssen an den einzelnen Individuen die persönlichen und zufälligen von den kollektiven Einstellungen, die sie mit ihrer Gruppe teilen, unterschieden werden. Zum anderen kann man sich bei der Identifizierung von Mentalitäten nicht mit dem begnügen, was die betreffenden Personen selber über sich und ihre Wirklichkeitsauslegung gesagt haben. Da wir Mentalitäten nicht als eine Art von Meinungen oder Vorstellungen ansehen wollen, von denen fraglich ist, inwieweit sie in der Praxis wirklich zum Tragen kamen, sondern als den Sinn, in dem das tatsächliche Handeln sich für den Handelnden unwillkürlich vollzog, setzt die Untersuchung zweckmäßig beim Verhalten selber an, und zwar nicht beim individuellen, sondern beim kollektiven Verhalten. Beispielhaft für solche Forschungen ist natürlich die Methode der Historischen Demographie. Das generative Verhalten einer Bevölkerung ist notwendig die Resultante aus einer Masse individueller Verhaltensfälle. Der Vorzug dieser Materie liegt nicht nur in der Erreichbarkeit einer großen Zahl von Fällen, sondern auch in der Standardisierbarkeit der Fragestellungen. Doch lässt sich Verhalten einer Kollektivität in diesem Sinne auch in anderen Bereichen statistisch

84 Für die gegenteilige Auffassung vgl. z. B. Hutton: The History of Mentalities (wie Anm. 10), S. 237 ff. 85 Vgl. z. B. Hartmut Kaelble: Berliner Unternehmer während der frühen Industrialisierung. Herkunft, sozialer Status und politischer Einfluß. Berlin 1972, S. 162 f. 86 Vgl. z. B. Friedrich Zunkel: Der Rheinisch-Westfälische Unternehmer 1834–1879. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert. Köln/Opladen 1962, S. 67.

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und neuerdings mit Hilfe der elektronischen Datenverarbeitung erfassen: man denke an Wählerverhalten, soziale Herkunft und Mobilität, Wohn- und Freizeitverhalten u. a. Alle Untersuchungen dieser Art setzen natürlich voraus, dass Quellengruppen erschlossen werden können, die eine große Zahl von Einzelfällen mit exakt vergleichbaren Daten enthalten. Zugleich sollten die vergleichbaren Fälle nach Möglichkeit für einen längeren Zeitraum vorliegen, damit Konstanzen und Wandlungsvorgänge festgestellt werden können. Methodisch beispielhaft in dem beschriebenen Sinne ist die Untersuchung von Michel Vovelle über „Piété baroque et déchristianisation en Provence au XVIIIe siècle“ aus dem Jahre 1973.⁸⁷ Die Quellengrundlage bilden Tausende von Testamenten aus mehreren Notariatsarchiven der Provence aus dem ganzen 18. Jahrhundert. Damit sind die Erfordernisse der großen Zahl, der Gleichförmigkeit und der chronologischen Reihe erfüllt. Vovelle stellt fest, dass diejenigen Verfügungen, die der Sicherung des Seelenheils dienen sollten, seit der Mitte des Jahrhunderts merklich zurückgingen. Man verzichtete auf Bestattungen in einer Kirche; die Stiftung von Messen war rückläufig, und wo man noch an der Praxis festhielt, wurde die Zahl der Messen eingeschränkt; Stiftungen an Kirchen und Klöster nahmen ab; und die Almosen für die Armen begannen zu verschwinden. Bis zu diesem Punkt hat die umfangreiche Ermittlungsarbeit Vovelles kein anderes Ziel haben können als die Feststellung eines kollektiven Verhaltenswandels. Welche Mentalität in dem neuen Verhalten zum Ausdruck kommt, ist damit noch keineswegs geklärt. Wie Emmanuel Le Roy Ladurie unterstreicht, könnte die Ursache für den Verhaltenswandel an sich ebensosehr in einer Verinnerlichung des Glaubens wie in einer Tendenz zur Entchristlichung vermutet werden.⁸⁸ Wenn Vovelle sich für die letztere Interpretation entschied, so folgte dies aus der Notwendigkeit, die verschiedenen erfassten Verhaltensformen und andere Zeugnisse über den untersuchten Personenkreis so in den Zusammenhang des Jahrhunderts zu stellen, dass ein plausibles Muster der Sinnstruktur entstand, in die die Handelnden selbst ihr Verhalten gestellt haben müssen. Das Beispiel lehrt ein Doppeltes. Zum einen zeigt sich daran, dass eine noch so klug ersonnene Methode zur Ermittlung kollektiven Verhaltens den Historiker nicht von den Schwierigkeiten der Interpretation auf Sinn entlasten kann. Zum anderen ermutigt das Beispiel dazu, die Erforschung von Mentalitäten nicht auf solche Fragestellungen zu beschränken, bei denen das kollektive Verhalten auf

87 Michel Vovelle: Piété baroque et déchristianisation en Provence au XVIIIe siècle. Les attitudes devant la mort d’après les clauses des testaments. Paris 1973. 88 Emmanuel Le Roy Ladurie: Chaunu, Lebrun, Vovelle: la nouvelle histoire de la mort. In: Ders.: Le territoire de l’historien. Bd. 1. Paris 1973, S. 401.

54 | I Facetten und Probleme der Historiographie dem Wege der Statistik ermittelt werden kann. Eine solche Beschränkung würde den Erkenntnisbereich der Mentalitätsgeschichte ohne zwingenden Grund erheblich verengen. In Wirklichkeit kann es prinzipiell keine Quellengattung geben, aus der Nachrichten über menschliches Verhalten im weitesten Sinne und zugleich über Vorstellungen, Absichten, Ziele und andere Bewusstseinsvorgänge gewonnen werden können, die nicht auch für mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen in Betracht kommt. Das Spezifische der Mentalitätsgeschichte scheint weniger in der Art der Quellen als in der darauf gerichteten Fragestellung und in der Methode der Interpretation zu liegen, auch wenn sie sich darüber hinaus für Quellengruppen interessieren mag, die für andere geschichtswissenschaftliche Disziplinen weniger ergiebig sind: man denke etwa an die Ikonographie von bildlichen Darstellungen aller Art, an Sprichwörter und Lieder oder an Tagebücher, Briefe und andere Selbstzeugnisse von Personen, die für andere Bereiche der Geschichtswissenschaft weder an sich selbst noch als Beispiele für bestimmte Personengruppen von Interesse sein können. Das Eigentümliche des Gegenstands der Mentalitätsgeschichte liegt dabei nicht zuletzt darin, dass sie zwar nicht auf das Wissen von Einzelpersonen geht, dass aber der gesellschaftliche Wissensvorrat im allgemeinen auch in den Einzelpersonen, wenn auch nicht immer im gleichen Maße, gegeben ist. Aus diesem Grunde bedarf es nicht Hunderter von Fällen, um das gesellschaftlich Gültige innerhalb einer bestimmten sozialen Gruppe zu ermitteln. Meistens werden viel kleinere Zahlen genügen. An früherer Stelle hat sich gezeigt, dass sich bei gesellschaftlichem Verhalten an der Wahl der Mittel Mentalitäten, gesellschaftliches „Wissen“ ablesen lässt. Dasselbe gilt natürlich auch für Selbstaussagen, in denen Ziele, soziale Ideen oder Rechtfertigungen für Verhalten so zum Ausdruck gebracht werden, dass Mittel und Zwecke aufeinander bezogen erscheinen. Selbst ideologische Aussagen, welche die wirklichen Gründe für ein bestimmtes Verhalten offenkundig verschleiern, können auf solche Weise zu Quellen der Mentalitätsgeschichte werden. Da Ideologien, wie oben dargelegt, auf Mentalitäten zugeschnitten sind, genügt oft eine geringfügige Änderung der Blickrichtung, um selbst aus ideologischen Texten Quellen zur Mentalitätsgeschichte zu machen. Was enthüllt sich nicht an zeit- und sozialtypischen Einstellungen in jener berüchtigten Äußerung Bismarcks vom 30. September 1862 in der BudgetKommission des Preußischen Abgeordnetenhauses, „nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse“ würden „die großen Fragen der Zeit entschieden“, „sondern durch Eisen und Blut“!⁸⁹ Freilich werden bei solcher Quellenauswertung

89 Otto von Bismarck: Gesammelte Werke. Bd. 10. Berlin 1928, S. 140.

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die Quellenautoren zu Zeugen von Mentalitäten ihrer Zeit gemacht: auf den ersten Blick ein bedenkliches Verfahren! Zwei Überlegungen erscheinen geeignet, die Bedenken zu entkräften. Einmal lässt sich im allgemeinen leicht eine hinreichende Zahl von Quellen ähnlicher Art finden, an denen die Vertrauenswürdigkeit der Zeugen überprüft werden kann. Sodann drängt sich auch hier wieder der Vergleich zur Begriffsgeschichte auf. Der versteckte Appell an eine Mentalität ist eine Bezugnahme auf gesellschaftlich verständlichen Sinn, ganz ebenso wie der Gebrauch eines Begriffs mit seiner je spezifischen, innerhalb der Sprachgemeinschaft verständlichen Bedeutung. Insofern bewegt sich derjenige, der eine ideologische Aussage macht, von vornherein nicht weniger in einem gesellschaftlichen „Wissen“ als jeder andere Sprechende auch, allein insofern er spricht. Die mentalitätsgeschichtliche Interpretation auch einer einzelnen Aussage ist wie die semantische notwendig gesellschaftsbezogen. Ein Plädoyer für die Mentalitätsgeschichte kann sich nicht das Ziel setzen, einer neuen Sonderdisziplin innerhalb der Geschichtswissenschaft Anerkennung zu verschaffen. Neu ist die Mentalitätsgeschichte schon deshalb nicht mehr, weil sie – auch unter diesem Namen – zumindest in Frankreich schon seit Jahrzehnten betrieben wird. Der Gedanke, dass bestimmten Gesellschaften, bestimmten politischen Strukturen oder Wirtschaftsformen entsprechende Mentalitäten korrespondieren könnten, ist noch viel älter. Montesquieu, der sich darum sorgte, wie die französische Monarchie vor einem Abgleiten in den Despotismus bewahrt werden könne, war davon überzeugt, dass Voraussetzung für das Gedeihen eines Staates die Existenz einer bestimmten, seiner jeweiligen Regierungsform entsprechenden Mentalität sei. Das Wort kannte er natürlich nicht. Er sprach vom jeweiligen „Prinzip“ einer Regierungsform und definierte es als „die menschlichen Leidenschaften, welche den Staat in Bewegung halten“.⁹⁰ In der Monarchie bilde die Ehre, der Drang sich auszuzeichnen, dieses Prinzip; in der Republik die selbstlose politische virtus; in der Despotie die Furcht.⁹¹ Montesquieu nahm an, dass jeder Nation ein besonderer „esprit général“ eigne, dem die Gesetzgebung angepasst werden müsse, sofern er nicht im Widerspruch stehe zum „Prinzip“ der betreffenden Regierungsform.⁹² Sehr bedenkenswert ist Montesquieus Feststellung, die Verderbnis der Staaten beginne fast immer mit der Verderbnis der Prinzipien.⁹³ Der zweite Teil des zweiten Bandes von Tocquevilles „De la démocratie

90 Montesquieu: De l’esprit des loix. Hrsg. v. Jean Brethe de la Gressaye. Bd. 1. Paris 1950, S. 55 (III, 1). 91 Ebd., S. 62 (III, 6), 56 (III, 3), 64 (III, 9). 92 Ebd. Bd. 3, Paris 1958, S. 7 f. (XIX, 4 u. 5). 93 Ebd. Bd. 1, S. 205 (VIII, 1).

56 | I Facetten und Probleme der Historiographie en Amérique“ behandelt den Einfluss der Demokratie auf die „sentiments“ der Amerikaner und enthält eine Fülle von Beobachtungen über die Mentalität dieses Volkes. So heißt es zum Beispiel in einem Kapitel über den „gout du bien-être matériel“ in Amerika: „Le soin de satisfaire les moindres besoins du corps et pourvoir aux petites commodités de la vie y préoccupe universellement les esprits.“⁹⁴ Eine Sonderdisziplin ist die Mentalitätsgeschichte allenfalls in dem Sinne, in dem jeder mögliche Gegenstand in der Geschichtswissenschaft als ein eigenständiger Bereich historischer Forschung herausgehoben werden kann. Der eigentliche Wert eines speziellen Ansatzes dieser Art erweist sich jedoch erst, wenn er bei der Lösung komplexerer Problemstellungen herangezogen wird. Schon der psychologische Anachronismus, den Lucien Febvre mit Hilfe der mentalitätsgeschichtlichen Methode zu vermeiden hoffte, ist natürlich ein generelles Problem der Geschichtswissenschaft; und selbst dort, wo in der historischen Literatur ohne nähere Methodenreflektion bereits jetzt auf Mentalitäten Bezug genommen wird, dient er zur Erklärung von Vorgängen aus anderen Bereichen. Wenn Erdmann die Mentalität des SA-Führerkorps zu charakterisieren versuchte, so hoffte er damit ein bestimmtes Verhalten dieser Gruppe – etwa die Agitation für die sogenannte „zweite Revolution“ nach der erfolgreichen Machtergreifung Hitlers – verständlicher zu machen. Wenn menschliches Verhalten in diesem Sinne von kollektiven Einstellungen mitbestimmt wird, dann gibt es keinen Bereich der Geschichte, in dem die Kenntnis der Mentalitäten nicht zu einem klareren Verständnis der Vorgänge führen könnte. Das gilt auch für die Gattung der Biographie; denn auch wenn einzelne Persönlichkeiten sich noch so weit über das mentale Muster ihres sozialen Milieus erheben mögen: sie bleiben doch immer in vielfältiger Hinsicht eingebunden in die Sondergruppe, der sie entstammen – in die Sozialschicht, in die Nationalität, in die ganze Gesellschaft ihrer Zeit. Erst recht gilt die universale Bedeutung der Mentalitätsforschung für die Sozialgeschichte; denn die Sozialgeschichte beschäftigt sich von vornherein mit Gruppen, mit Schichten, Ständen und Klassen und deren Verhalten. Was am Beispiel der bayerischen Bauern zum Vorschein kam, gilt offenbar grundsätzlich: zwischen Handlungsmöglichkeiten und ihre Verwirklichung schiebt sich als hemmende oder fördernde Bedingung die Mentalität. Dies ist oft vergessen worden, und das Erstaunen Lees über das seltsame Verhalten der Freisinger Bauern erklärt sich vermutlich ganz einfach damit, dass viele Historiker bisher, ohne viel nachzudenken, davon ausgegangen waren, der medizinische Fortschritt, die Vermehrung der Ärzteschaft und der

94 Alexis de Tocqueville: De la démocratie en Amérique. In: Ders.: Œuvres, papiers et correspondances. Hrsg. v. J.-P. Mayer. Bd. 1, 2. Teil. Paris 1951, S. 99 ff., 134.

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Bau von Krankenhäusern genügten für sich allein schon als Beleg dafür, dass die Bevölkerung auch tatsächlich medizinisch besser betreut worden sei. Ein anderer englischer Historiker, Frances Barrymore Smith, hat vor fünf Jahren ein ganzes Buch veröffentlicht, um zu zeigen, welche – nicht zuletzt mentalen – Hindernisse einer geradlinigen Durchsetzung des medizinischen Fortschritts in Großbritannien im 19. Jahrhundert im Wege standen.⁹⁵ Das ist gegen diejenigen Bevölkerungshistoriker geschrieben, die beim Versuch einer Erklärung für den Rückgang der Sterblichkeit seit der Mitte des 18. Jahrhunderts und das daraus folgende beispiellose Bevölkerungswachstum in Europa den Fortschritten der Medizin ein allzu großes Gewicht zugemessen hatten. Im übrigen gibt gerade die Historische Demographie der Sozialgeschichte Probleme auf, die unter anderem mit mentalitätsgeschichtlichen Methoden gelöst werden müssen. Man denke zum Beispiel an die Notwendigkeit, den Rückgang der Geburtenrate in den verschiedenen Ländern zu erklären: in Frankreich begann sie schon in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts, in Deutschland dagegen erst achtzig Jahre später zu sinken. Die Anwendung empfängnisverhütender Methoden deutet auf einen Mentalitätswandel hin. Schon die Tatsache, dass man die Familiengröße plante – unter Missachtung kirchlicher Vorschriften –, verweist auf eine Änderung der Einstellung. Ein Plädoyer für die Mentalitätsgeschichte muss ein Plädoyer für die Schärfung des Bewusstseins dessen sein, dass die vergangenen Wirklichkeiten für die darin stehenden und die darin befangenen Menschen jeweils nur auf bestimmte Weise gesehene und verstandene Wirklichkeiten sein konnten. Darum können identische Handlungen in verschiedenen Epochen einen ganz verschiedenen Sinn haben, ebenso wie identische Wörter über die Zeiten hinweg mit ganz verschiedenen Bedeutungen behaftet sein können. Wo gesellschaftliche Erfahrungen zur Erklärung gesellschaftlichen Verhaltens herangezogen werden, müssen diese Erfahrungen daher als eine je spezifische Art der Wirklichkeitsdeutung ernst genommen werden. Tatsächlich scheint sich in der Geschichtswissenschaft schon seit geraumer Zeit die Erkenntnis immer stärker durchzusetzen, dass die kollektiven Einstellungen wesentliche Bestimmungsgründe für soziales Verhalten und politisches Handeln bilden. Die Berücksichtigung der mentalen Dispositionen in ihrer jeweiligen zeit- und gruppenspezifischen Besonderheit bedeutet einen Fortschritt der Wissenschaft im Sinne größerer Annäherung an den historischen Gegenstand. Offensichtlich steht diese Tendenz nicht im Gegensatz zur zunehmenden Theorie-

95 Frances Barrymore Smith: The People’s Health 1830–1910. London 1979, z.B. S. 117, 228 f., 248, 343 f., 346, 419 f.

58 | I Facetten und Probleme der Historiographie bewusstheit der Geschichtswissenschaft und speziell der Sozialgeschichte. Dafür spricht nicht nur die Autorschaft des berühmtesten Beispiels deutscher Mentalitätsgeschichtsschreibung – Max Webers Untersuchung über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus –, sondern auch der Umstand, dass die verschiedensten neueren und mit neuen Fragestellungen und Methoden experimentierenden Ansätze in der Geschichtswissenschaft die mentalitätsgeschichtliche Dimension miteinbeziehen. Das gilt nicht nur für die Historische Demographie und die Geschichte von Kindheit und Familie, sondern auch für Bereiche wie Volkskultur, Arbeiterkultur oder sozialen Protest. Mentalitäten sind Strukturgegebenheiten der geschichtlichen Wirklichkeit. Die Erforschung von Mentalitäten fördert daher die Erkenntnis der Bedingungen, unter denen menschliches Verhalten in der Geschichte stand, indem sie das Verständnis für die Art und Weise vertieft, wie Beobachtungen zugeordnet, wie soziale Lagen aufgefasst und wie Handlungs- und Entscheidungssituationen gedeutet wurden. Damit schärft sie zugleich den Blick für die Grenzen, die der Einsicht und dem Handeln von Akteuren in der Geschichte schon von der Seite der gesellschaftlich bestimmten Wirklichkeitsauffassung her in je verschiedener Weise gezogen waren.⁹⁶

96 Vgl. dazu die Berücksichtigung von Mentalitäten durch Rudolf Vierhaus: Handlungsspielräume. Zur Rekonstruktion historischer Prozesse. In: HZ 237, 1983, bes. S. 293, 309.

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Friedrich der Große und der aufgeklärte Absolutismus. Ein Beitrag zur Klärung eines umstrittenen Begriffs Es* gibt nur wenige Untersuchungen über das 18. Jahrhundert, in denen der Begriff des aufgeklärten Absolutismus fehlte. Umso erstaunlicher ist es, dass in der Geschichtswissenschaft bis heute keine Übereinstimmung darüber besteht, was mit diesem Ausdruck eigentlich gemeint sei. Erst vor kurzem ist wieder bezweifelt worden, dass er überhaupt präzise definiert und damit zu einem brauchbaren Erkenntnismittel gemacht werden könne.¹ Wie schwer sich die Forschung mit dem aufgeklärten Absolutismus tut, zeigt unter anderem der bekannte Aufsatz von Fritz Hartung, der schon deshalb als kennzeichnend für den Stand der Diskussion angesehen werden muss, weil er in jeder einschlägigen Sammlung von Aufsätzen zu finden ist.² Hartung definiert den aufgeklärten Absolutismus zunächst sehr allgemein als „eine von der Philosophie, insbesondere der Staatslehre der Aufklärung stark beeinflußte Regierungsweise“³. Da ein solcher Einfluss naturgemäß nur auf dem Weg über die programmatische Reflexion der Regierenden wirken konnte, handelte es sich demnach um eine neue Epoche des Absolutismus, die sowohl durch einen Wandel im Selbstverständnis der Herrscher als auch durch neue Formen der Regierungspraxis gekennzeichnet war. Überraschenderweise schwächt Hartung im weiteren Verlauf der Untersuchung beide Aussagen seiner anfänglichen Definition stark ab. Unter Berufung auf Henri Pirenne gilt ihm die theoretische Seite des aufgeklärten Absolutismus jetzt nicht mehr als „schlechthin etwas Neues“; man finde in ihm „vielmehr die alte Auffassung des Fürsten als Landesvater, [. . . ] dessen Verhalten nun freilich nicht mehr vom Herzen, sondern vom Verstand bestimmt werde“⁴. Wenn mit diesem bloßen Wechsel des Vorzeichens überhaupt noch ein spürbarer

* Erstdruck in: Ulrich Engelhardt, Volker Sellin und Horst Stuke (Hrsg.): Soziale Bewegung und politische Verfassung. Festschrift für Werner Conze. Stuttgart 1976, S. 83–112. 1 Betty Behrens: Enlightened Despotism. In: Hist. Journal 18 (1975), S. 402, 407 f. 2 Fritz Hartung: Der aufgeklärte Absolutismus. In: HZ 180 (1955), S. 15–42; im folgenden zit. nach dem Abdruck in: Karl Otmar Frhr. v. Aretin (Hrsg.): Der aufgeklärte Absolutismus. Köln 1974, S. 54–76; außerdem abgedr. in: Hanns Hubert Hofmann (Hrsg.): Die Entstehung des modernen souveränen Staates. Köln 1967, S. 152–172, und in: Walther Hubatsch (Hrsg.): Absolutismus. Darmstadt 1973, S. 118–151. 3 Hartung: Absolutismus (wie Anm. 2), S. 57. 4 Ebd., S. 62.

62 | II Herrscher und Herrschaft Wandel im Selbstverständnis der Fürsten angedeutet sein soll, so wird dessen Auswirkung auf die Regierungspraxis von Hartung selbst in Frage gestellt. Den Einfluss der aufgeklärten Staatslehre der deutschen Verwaltungswissenschaft der Zeit auf die staatliche Wirklichkeit will er „nicht hoch einschätzen“⁵; Reformpläne seien im Zeichen des allgemeinen „Nachlassens der staatlichen Energie“ besonders gegen Ende des 18. Jahrhunderts nur sehr bruchstückhaft in Angriff genommen worden; die Wirkung der tatsächlich ergriffenen Maßnahmen sei „an der Oberfläche“ geblieben.⁶ Hartung hat seine Thesen über das Selbstverständnis der aufgeklärten Fürsten nicht gegen Missdeutungen abgesichert. So findet sich in demselben Aufsatz auch die Feststellung, der aufgeklärte Absolutismus habe „nicht den Mut“ besessen, „die vollen Konsequenzen seiner Theorien zu ziehen und die ganze bestehende Gesellschaftsordnung über den Haufen zu werfen“⁷. In Übereinstimmung damit bemerkt Hartung bei Friedrich dem Großen einen „Widerspruch zwischen der aufgeklärten Theorie und einer veralteten Praxis“, die „gewiss zum guten Teil durch das zwingende Gebot der Machtpolitik bedingt gewesen“ sei: so habe der König es zum Beispiel nicht gewagt, „die geburtsständische Gliederung der Gesellschaft anzutasten“⁸. Mit diesen Urteilen rückt Hartung in die Nähe der Position von Ernst Walder, derzufolge Friedrich der Große seinen Staat vor ähnlichen Erschütterungen, wie Joseph II. sie in der Habsburger Monarchie hervorrief, dadurch bewahrt habe, dass „er das aufklärerische Gleichheitsprinzip, zu dem er sich in der Theorie bekannte, der Staatsräson zum Opfer brachte“; es folgt ein Hinweis auf die Adelspolitik des Königs.⁹ Walder nennt keinen Beleg für das Bekenntnis Friedrichs zum Gleichheitsprinzip, so dass anzunehmen ist, dass er sich hier auf dessen mehrfach bezeugte Konstruktion eines staatsgründenden Vertrags bezieht, aber für die Bevorzugung des Adels beruft er sich auf das Politische Testament von 1752. Er erklärt jedoch nicht, warum er Friedrichs Grundsätze auf diesem Feld, die an der einen der beiden herangezogenen Stellen sogar ausdrücklich als Bestandteil seines „système de politique“ bezeichnet werden, nicht als Element seiner „Theorie“, sondern lediglich als Zugeständnis an die politische Klugheit interpretiert.¹⁰ Schon die Entgegensetzung von „Theorie“ und „Staatsräson“ im-

5 Ebd., S. 61. 6 Ebd., S. 68. 7 Ebd., S. 58. 8 Ebd., S. 64. 9 Ernst Walder: Aufgeklärter Absolutismus und Revolution. In: Aretin (Hrsg.): Absolutismus (wie Anm. 2), S. 113. 10 Friedrich der Große: Testament politique (1752). Die politischen Testamente Friedrichs des Großen. Hrsg. v. Gustav Berthold Volz. Berlin 1920, S. 29 f., 78 f.

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pliziert die unausgesprochene Vormeinung, als dürfe ein wahrhaft aufgeklärter Absolutismus die konkreten Interessen des Staates und damit auch seine historischen Besonderheiten nicht berücksichtigen.¹¹ Der Unterschied zwischen Hartungs zuerst charakterisierter Auffassung und der zuletzt beschriebenen Position liegt offenbar darin, dass mit dem Ausdruck „theoretische Grundlage“ im einen Fall der Komplex von Motiven und Rationalisierungen gemeint ist, aus dem die tatsächlichen Absichten und Reformanstrengungen der in Frage kommenden Fürsten hervorgingen, während im andern Fall dasjenige Programm damit bezeichnet wird, das bei einer bedingungslosen Zuwendung des Absolutismus zur Aufklärung angeblich hätte durchgeführt werden müssen. An der Differenz dieser Positionen wird offenkundig, dass der Begriff selbst des aufgeklärten Absolutismus umstritten ist: meint er ein wirkliches, historisch nachweisbares Wollen regierender Fürsten oder Minister, oder bezeichnet er die Idee einer Verschmelzung von Aufklärung und Absolutismus, die vielleicht von keinem der sogenannten aufgeklärten Fürsten jemals auch nur annäherungsweise ernsthaft gewollt, sondern allenfalls auf sehr begrenzten Gebieten vereinzelt angestrebt wurde? Die Auffassung, dass der aufgeklärte Absolutismus im Prinzip als die Verbindung von Aufklärung und Absolutismus zu verstehen und dass dementsprechend die historische Wirklichkeit an dem damit gesetzten Anspruch zu messen sei, vertritt am konsequentesten Karl Otmar Freiherr von Aretin. Für ihn bedeutet der aufgeklärte Absolutismus in seinem Ursprung nichts Geringeres als das Programm des fürstlichen Absolutismus, die politische Philosophie der Aufklärung von oben zu verwirklichen.¹² Dabei wird politische Aufklärung offensichtlich ganz unspezifisch verstanden und weitgehend mit der Ideenbewegung gleichgesetzt, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in die politischen Ideale der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung und der Französischen Revolution mün-

11 Auch Horst Möller: Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai. Berlin 1974, S. 523 betont den Gegensatz zwischen der „aufgeklärten Vertragstheorie“ und der „Staatsräson“ (vgl. auch ebd., S. 545). Möller betrachtet den aufgeklärten Absolutismus aus der Perspektive der Berliner Aufklärer. Charakteristisch für deren Urteil über das Maß an Aufklärung, das in den aufgeklärten Staaten verwirklicht war, ist unter anderem der ebd., S. 553 zitierte Satz Nicolais: „Wenn [. . . ] irgendwo politische Vorteile mit den Vorteilen der Aufklärung in Kollision zu bringen sind, so werden wohl die politischen Vorteile das Übergewicht haben.“ 12 Aretin: Einleitung zu: Ders.: Absolutismus (wie Anm. 3), S. 13: „die Maximen einer neuartigen Philosophie und ihre Erkenntnisse“ wurden den Herrschern „zur Richtschnur ihres Handelns, mit dem sie darangingen, die Welt von Grund auf zu wandeln“; u. S. 38: „Die Ideen der Aufklärung [. . . ] konnten an der Revolution, also an der Beseitigung der Monarchie, gar nicht vorbei.“

64 | II Herrscher und Herrschaft dete. Da ein solches Programm von einem absoluten Fürsten nur durchzuhalten war, wenn er seine Befugnisse freiwillig beschränkte und damit den Absolutismus aufhob, gelangt von Aretin folgerichtig zu der Feststellung, dass der aufgeklärte Absolutismus ein System voller Widersprüche gewesen sei: weil „ein von der Aufklärung bestimmtes Regierungssystem in der letzten Konsequenz unter einem absolutistischen Herrscher unmöglich“ sei, habe der aufgeklärte Absolutismus „den Keim der Überwindung in sich“ getragen; das habe er „zwar letztlich mit jeder historischen Epoche gemeinsam“, doch sei es „bei ihm wesentlich ein konstitutives Element“¹³. Der aufgeklärte Absolutismus wäre demnach sehr viel stärker der eigenen Dynamik des politischen Denkens der Zeit unterworfen gewesen als zum Beispiel ein Regierungssystem, das sich lediglich in der Weise von Aufklärung hätte bestimmen lassen, dass es sich im Interesse der Rationalität der Verwaltung über historische Gewohnheiten und Sonderrechte hinwegsetzte. In der Tat macht von Aretin deutlich, dass er nicht auf dieser Ebene den „inneren Widerspruch [. . . ] zwischen Aufklärung und Absolutismus“ zu erkennen glaubt, sondern beispielsweise in dem „Dilemma mit dem aufklärerischen Freiheitsbegriff, das in einem absoluten Staat nicht gelöst werden“ könne.¹⁴ In dieser Sicht erscheint es nur folgerichtig, wenn „der aufgeklärte Absolutismus nach einer ersten Euphorie, die durch die engen Verbindungen der Herrscher mit vielen französischen Aufklärern gekennzeichnet ist, eigene, meist von der Regierungspraxis bestimmte Wege ging und insbesondere die letzte, von zur Revolution – das heißt zur Republik – drängenden Philosophen bestimmte Phase der französischen Aufklärung nicht mehr mitmachte, ja sie meist gar nicht mehr rezipierte“¹⁵. Damit gibt von Aretin zu verstehen, dass zu einem sehr frühen Zeitpunkt eine einschneidende Reduktion im Programm des aufgeklärten Absolutismus stattgefunden habe; unklar bleibt allerdings, inwiefern die damit einsetzende Phase in der Perspektive der ursprünglichen Begriffsbestimmung überhaupt noch aufgeklärt genannt werden kann. Die Konsequenz dieser Betrachtungsweise liegt jedenfalls darin, dass die Konzeption des aufgeklärten Absolutismus als einer historischen Epoche schließlich vom Gegensatz zwischen dem angeblichen programmatischen Anspruch der Fürsten und ihrer tatsächlichen Bereitschaft zur Aufgabe überlieferter Machtpositionen bestimmt wird. Dass die Fürsten an ihrer Macht festhalten wollten, erscheint somit als Weigerung, die vollen Konsequenzen aus ihren eigenen Einsichten zu ziehen, mithin als ein Mangel, und zwar als ein Mangel an Rationalität, Aufklärung, politischer Klugheit. 13 Ebd., S. 12. 14 Ebd., S. 21. 15 Ebd. Vgl. auch ebd., S. 39: „Der aufgeklärte Absolutismus mußte sich am Ende des Jahrhunderts vom Denken der Aufklärung trennen.“

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Dass schon die bloße Definition des aufgeklärten Absolutismus so wenig gesichert erscheint – bis hin zu dem Vorschlag, ganz auf diesen Begriff zu verzichten –, hat ohne Zweifel wissenschaftsgeschichtliche Gründe. Der Begriff wurde in dieser Form erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts von Wilhelm Roscher geprägt.¹⁶ Er ist daher in den Quellen der Epoche, die er bezeichnen soll, in dieser Form nicht unmittelbar zu finden. Dadurch wird eine Verständigung über seinen Bedeutungsumfang erschwert. Der Zusammenhang, in den Roscher den Begriff stellte, enthält dagegen sogleich eine mögliche Wurzel für die Schwierigkeiten, denen die Reflexion auf diese Phase des Absolutismus heute ausgesetzt ist. Roscher unterschied drei aufeinanderfolgende Stufen des Absolutismus: den „konfessionellen“, für den ihm Philipp II.; den „höfischen“, für den ihm Ludwig XIV.; und den „aufgeklärten“, für den ihm Friedrich der Große als Prototypen erschienen.¹⁷ Gerade weil sich die unterscheidenden Merkmale in dieser Einteilung wechselseitig nicht streng ausschließen, sondern eine bloß historisch-deskriptive Qualität beanspruchen, ist mit der Möglichkeit zu rechnen, dass Roscher die gewählten Bestimmungen als bloß im Vergleich hervortretende, für sich genommen aber keineswegs ausreichende Charakterisierungen der einzelnen Stufen ansehen wollte. Dafür sprechen die formelhaften, sehr kurzen und im Grunde oberflächlichen Erläuterungen, mit denen Roscher seine Unterscheidungen begründete. So schien ihm zum Beispiel der höfische Absolutismus mit dem bekannten, Ludwig XIV. zugeschriebenen Ausspruch „L’Etat c’est moi“ hinreichend charakterisiert, während für den aufgeklärten Absolutismus das mehrfach überlieferte Diktum Friedrichs des Großen angeführt wird, er betrachte sich bloß als den ersten Diener des Staates. Die Forschung nach Roscher hat nun die Unterscheidung eines „konfessionellen“ und eines „höfischen“ Absolutismus weitgehend fallengelassen; nur der Begriff des „aufgeklärten“ Absolutismus wurde beibehalten. Erst nachdem dieser Ausdruck auf solche Weise aus dem Vergleich herausgelöst worden war, konnte das Problem entstehen, wie Absolutismus und politische Aufklärung als Inbegriff der Revolutionsideale überhaupt miteinander hätten vereinbar sein sollen. Dass diese Frage tatsächlich gestellt wurde, hängt darüber hinaus jedoch mit dem Umstand zusammen, dass sich in der Folgezeit nur der von Roscher geprägte Begriff, nicht aber die Definition, die er ihm gegeben hatte, durchsetzte. So fehlte der wissenschaftlichen Diskussion über den aufgeklärten Absolutismus nicht nur die Möglichkeit zur unmittelbaren Orientierung an den Quellen, sondern es ging ihr

16 Wilhelm Roscher: Umrisse zur Naturlehre der drei Staatsformen. In: Allg. Zs. f. Gesch. 7 (1847), S. 451. Zur Geschichte des Begriffs vgl. auch: Herta Reclam: Über die Herkunft des Ausdrucks „aufgeklärter Absolutismus“ (despotisme éclairé). Diss. Berlin 1943 (Mschr.). 17 Roscher: Umrisse (wie Anm. 16), S. 451.

66 | II Herrscher und Herrschaft schon bald auch die eigene Tradition verloren, die als verbindlicher Bezugspunkt für Zustimmung oder Kritik wenigstens die Kontinuität der künftigen Forschungsanstrengungen hätte sichern helfen. So konnte es dazu kommen, dass sich nahezu jeder Historiker, der sich mit dem Phänomen beschäftigte, gezwungen sah, eine eigene Definition dafür zu bilden. Roscher deutete nicht mit einem einzigen Wort an, dass der aufgeklärte Absolutismus nach seinem Verständnis zu irgendeinem Zeitpunkt politische Aufklärung im Sinne der Emanzipation des Menschen oder auch nur im Sinne der Egalisierung der Rechte und Pflichten der Untertanen habe verwirklichen wollen. Es fehlt jeder Hinweis auf diejenigen Leistungen, die im allgemeinen als erste mit dem Begriff des aufgeklärten Absolutismus in Verbindung gebracht werden: Abschaffung der Folter, religiöse Toleranz, Rechtsstaatlichkeit. Vielmehr liegt der Kern der Aussage in der Hypothese, dass von den unterschiedenen „drei Entwicklungsstufen jede folgende den Absolutismus höher“ getrieben und „den Fürsten unbeschränkter“ hingestellt habe. Dementsprechend gab Roscher auch dem Motto, mit dem er den aufgeklärten Absolutismus charakterisierte – das Wort Friedrichs des Großen vom ersten Diener des Staates –, keinerlei individualistischen Nebensinn; vielmehr erklärte er, mit diesem „Wahlspruch“ habe sich der aufgeklärte Absolutismus „über alle Formen“ hinweggesetzt und „nach den scharfsinnigsten Regeln der Theorie aus seinen Untertanen möglichst zahlreiche, wohlhabende und aufgeklärte Instrumente seines Willens zu bilden“ gesucht.¹⁸ Das Wort Instrument lässt deutlich erkennen, dass die Untertanen und ihre Erziehung und wirtschaftliche Förderung nach Auffassung Roschers lediglich als Mittel zu den Zwecken des Staates, zur Steigerung seiner Macht angesehen wurden. Nicht zufällig fuhr Roscher fort: „Im Namen des Staates kann der erste Diener desselben viel ungenierter Gut und Blut des Volkes in Anspruch nehmen als in seinem eigenen. Es ist häufig sehr vorteilhaft, beim Wesen der Macht die Form des bloßen Mandats anzunehmen, wenn nämlich der Mandant gar keine anderen Organe hat.“¹⁹ Indem Roscher mit dem Begriff des aufgeklärten Absolutismus institutionell die letzte Steigerung in der Herausbildung des Fürstenstaates auf Kosten ständischer Sonder- und Zwischengewalten bezeichnete, bediente er sich derselben Perspektive, aus der zuvor die altständische Kritik der Restauration ihre Argumente gewonnen hatte. Carl Ludwig von Hallers „Restauration der Staatswissenschaft“ ist erfüllt von der Polemik gegen die „pseudo-philosophische Staats-Theorie“, der neueren Zeit, deren Prinzip darin liege, unter Berufung auf einen ursprünglichen

18 Ebd. 19 Ebd.

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Gesellschaftsvertrag nach Belieben jedes bestehende Recht zu beseitigen.²⁰ Wo die Untertanen dieser Lehre anhingen, strebten sie nach der Revolution; wo aber die Fürsten sich diese „Philosophie“ aneigneten, um ihre Machtbefugnisse unter Missachtung bestehender Rechte anderer auszudehnen, entarte ihre Regierung zum „philosophischen Despotismus“²¹: Das System befördert den grenzenlosesten Despotismus durch seine Prinzipien selbst und macht alle Menschen zu Sklaven. Es kommt nur darauf an, irgendeine fürchterliche Maßregel unter dem Vorwand des Staatszwecks als notwendig oder nützlich darzustellen, so ist sie schon gerechtfertigt, und bleibt nicht einmal ein Recht zur Klage übrig. Alles gehört dem Staat, Personen und Eigentum.²²

Auch wenn man nicht grundsätzlich die Vereinbarkeit von Aufklärung und Absolutismus schon dort anzunehmen bereit ist, wo sich die Fürsten nur ganz bestimmte Forderungen des Aufklärungszeitalters zu eigen machten, so bleibt doch die Aufgabe, die Verwirklichung dieser Forderungen nachzuweisen. Auch dieses Problem konnte erst in dem Augenblick entstehen, wo der aufgeklärte Absolutismus nicht mehr wie bei Roscher als Steigerung und daher als kontinuierliche Fortentwicklung des Absolutismus erschien, sondern als eine Regierungsweise, die von ganz neuen, gleichsam von außen hinzutretenden politischen Ideen beeinflusst wurde. Wenn Hartung die Schwierigkeit, die Verwirklichung der aufgeklärten Ziele aufzuzeigen, damit erklärt, dass die Durchsetzungsfähigkeit des Staates im 18. Jahrhundert nachgelassen habe, so ist dies ein Versuch, den – wahrscheinlich missverstandenen – Begriff Roschers angesichts des seit Roscher eingetretenen Erkenntnisfortschritts zu verteidigen. Roscher hatte sich unter einem absoluten Herrscher auf der dritten Stufe der Entwicklung einen Fürsten vorgestellt, dessen Machtstellung durch keine anderen Gewalten innerhalb des Staates mehr begrenzt oder eingeschränkt war.²³ Die neuere Forschung hat jedoch gezeigt, dass auch in Staaten, in denen die Stände das Recht auf Steuerbewilligung

20 Carl Ludwig v. Haller: Restauration der Staatswissenschaft oder Theorie des natürlichgeselligen Zustands, der Chimäre des künstlich-bürgerlichen entgegengesetzt. Bd. 1. 2. Aufl. Winterthur 1820, passim, bes. S. 80 ff. Vgl. auch die gleichbedeutenden Ausdrücke „pseudophilosophisches Staats-System“, „pseudo-philosophisches Staats-Recht“, „Philosophismus“ u. a.: ebd., S. 223 f., 227, 225, u. ö. 21 Ebd., S. 181. 22 Ebd., Bd. 2, S. 374. 23 Hartung betont zwar, dass Roscher den aufgeklärten Absolutismus unter dem Gesichtspunkt der Machtentfaltung des Staates als eine Steigerung gegenüber den vorhergehenden Stufen aufgefasst habe; aber er lässt nirgends erkennen, dass dies für Roscher Hauptmerkmal dieser Form des Absolutismus war: Hartung: Absolutismus (wie Anm. 2), S. 72.

68 | II Herrscher und Herrschaft und auf Mitwirkung bei der Gesetzgebung längst verloren hatten, vielfältige regionale und ständische Sonderrechte fortbestanden und die Macht des Fürsten unter Umständen sehr wirksam begrenzten. Roscher hätte sich angesichts dieses Befundes gezwungen gesehen, seine Auffassung von der Steigerung der Fürstenmacht im aufgeklärten Absolutismus zu relativieren. Hartungs Verständnis des Begriffs jedoch kommt diese Feststellung entgegen: wenn die Fähigkeit der Fürsten, strukturelle Veränderungen durchzusetzen, sich als beschränkt erwies, dann gab es auch keine Möglichkeit, an der Realität die Ernsthaftigkeit der angeblichen aufklärerischen Absichten der Fürsten hinreichend zu überprüfen; oder umgekehrt: das Ausbleiben nachhaltiger Reformerfolge konnte nicht die Hypothese vom aufgeklärt-fortschrittlichen Charakter der Regierungsmaximen als solcher widerlegen. Aus dem bisher Gesagten ist zu folgern, dass in der Frage nach der Realität und dem Wesen des aufgeklärten Absolutismus nur dann sicherer Boden zu gewinnen ist, wenn die Forschung sich in der Bestimmung der theoretischen Grundlage dieser Regierungsweise trotz aller methodischen Schwierigkeiten an den Quellen der Epoche orientiert. Das nächstliegende Hindernis, welches sich einem solchen Verfahren entgegenstellt, besteht in der bereits erwähnten Tatsache, dass der Begriff des aufgeklärten Absolutismus eine Schöpfung des 19. Jahrhunderts ist und sich daher in dieser Form nicht in den Quellen findet. Diese Schwierigkeit lässt sich jedoch überwinden; denn zur Identifizierung eines Komplexes von Gedanken als der theoretischen Grundlage eines aufgeklärten Absolutismus könnte zwar der Gebrauch des Begriffs als Wegweiser dienen, er ist jedoch für die Sache selbst keine unabdingbare Voraussetzung. Grundsätzlich gibt es zwei Kategorien von Texten, in denen nach der theoretischen Grundlage des aufgeklärten Absolutismus gesucht werden könnte: zum einen in den Schriften von politischen Denkern und Publizisten der Zeit, zum andern in den Selbstaussagen der Herrscher. Der Vorzug der zweiten Kategorie besteht in ihrer größeren Nähe zur Regierungspraxis. Dem Zweifel, ob in solchen Texten überhaupt so etwas wie eine Theorie erwartet werden könne, lässt sich mit dem Hinweis begegnen, dass von einer aufgeklärten Regierung im strengen Sinne nur gesprochen werden kann, wenn ihre Handlungen auch als aufgeklärte gewollt waren. Offenbar wäre es widersinnig, sich einen aufgeklärten Fürsten vorzustellen, der nicht selbst den Anspruch erhoben hätte, es in irgendeinem Sinne zu sein, oder der nicht mindestens dasjenige bewusst erstrebt hätte, um dessentwillen er diesen Titel von andern erhielt. Daher wird man auf der Suche nach der theoretischen Grundlage des aufgeklärten Absolutismus geradezu zwangsläufig und vorrangig auf die Schriften der in Frage kommenden Herrscher selbst verwiesen: wenn es im Absolutismus aufgeklärte Regierungsweisen oder Regierungssysteme wirklich gegeben hat, dann müssen sich auch entsprechende Reflexionen bei den

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Fürsten oder ihren Ministern finden lassen. Dadurch könnte natürlich der Bedeutungsumfang dessen, was in dem Begriff des aufgeklärten Absolutismus Aufklärung heißt, unter Umständen sehr stark eingeschränkt werden. Zugleich darf jedoch erwartet werden, dass sich eine wirklichkeitsgerechtere und auch im Detail fassbare Bestimmung dessen ergibt, was man die Staatsauffassung des aufgeklärten Absolutismus nennen könnte. Die Bevorzugung fürstlicher Selbstaussagen darf jedoch nicht zur Ausklammerung der politischen Theorien der Zeit führen, zumal die Fürsten sich in ihren Reflexionen notwendig im Rahmen der zeitgenössischen Denkmöglichkeiten bewegten und daher unter Umständen auch von Vorstellungen bestimmt waren, die sie selber gar nicht ausdrücklich zur Sprache brachten. Schon aus diesem Grunde ist daran zu erinnern, dass in der politischen Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an einigen wenigen Stellen ein politisches Konzept erörtert wurde, das dem späteren Begriff des aufgeklärten Absolutismus zumindest nahekommt: Diderot sprach um 1773 von einem „despotisme juste et éclairé“, nachdem bereits sechs Jahre zuvor Le Mercier de la Rivière in Anlehnung an Konzeptionen Quesnays die Begriffe „despotisme légal“ und „despotisme naturel“ geprägt hatte.²⁴ Die Spannweite des Begriffs Despotismus im 18. Jahrhundert lässt sich am Sprachgebrauch Montesquieus ablesen. Im „Esprit des lois“ bezeichnet der Ausdruck entweder generell die entarteten Gestalten der drei legitimen Regierungsformen Monarchie, Aristokratie und Demokratie oder speziell die Entartungsform der Monarchie.²⁵ Beide Bedeutungsvarianten gehen auf Aristoteles zurück.²⁶ Die Monarchie unterscheidet sich bei Montesquieu auf doppelte Weise von ihrer Entartungsform: einmal soll es in einem despotischen System keine Institutionen geben, welche die Macht des Herrschers beschränken könnten; zum andern soll

24 Denis Diderot: De la commission et des avantages de sa permanence. Oeuvres politiques. Hrsg. v. Paul Vernière. Paris 1963, S. 272. Paul-Pierre Le Mercier de la Rivière: L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques. Hrsg. v. Edgard Depitre. Paris 1910, S. 128–130 u. ö. François Quesnay: Despotisme de la Chine. Oeuvres économiques et philosophiques. Hrsg. v. Auguste Oncken. Frankfurt 1888, S. 563–660. Die Abhandlung gilt als unmittelbarer Vorläufer und als Grundlage für das Werk von Le Mercier: vgl. ebd., S. 563, Anm. des Herausgebers. Quesnay versteht den Begriff despote ganz formal und unterscheidet dementsprechend „des despotes légitimes et des despotes arbitraires et illégitimes“: ebd., S. 564; vgl. auch S. 613. 25 Montesquieu: De l’Esprit des lois. Hrsg. v. Gonzague Truc. Bd. 1. Paris 1958, S. 123 f. 125 (Buch 8, Kap. 6, 8); S. 19 ff. (Buch 2, Kap. 4). 26 Vgl. Robert Derathé: Les philosophes et le despotisme. In: Pierre Francastel (Hrsg.): Utopie et institutions au XVIIIe siècle. Le pragmatisme des lumières. Paris, La Haye 1963, S. 58 f.; R. Koebner: Despot and Despotism: Vicissitudes of a Political Term. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 14 (1951), S. 277.

70 | II Herrscher und Herrschaft der Despot nach der Eingebung seiner Launen und ohne Bindung an die Gesetze regieren.²⁷ Für Montesquieu gehörten beide Merkmale untrennbar zusammen, denn er war überzeugt, dass jeder Herrscher, dessen Macht nicht auf institutionelle Schranken stieß, seine Stellung missbrauchen und die Gesetze missachten werde.²⁸ Bei der in der Folgezeit geführten Diskussion über die Möglichkeit eines despotisme légal oder eines despotisme juste et éclairé wurde jedoch genau diese Überzeugung in Frage gestellt: musste eine unbeschränkte Alleinherrschaft wirklich notwendig in ein tyrannisches Regiment ausarten? In der physiokratischen Lehre vom despotisme légal wurde an die Stelle institutioneller Garantien eine ganz andere Sicherung gesetzt: die Einsicht des Herrschers in das Vernünftige. Wo diese Einsicht bestand, musste geradezu gefordert werden, dass die gesamte Macht in der Hand des Herrschers vereinigt werde; denn nur diese Machtfülle – so war der Gedanke – würde es ihm auch gestatten, das Vernünftige gemäß seiner Einsicht zu verwirklichen.²⁹ Le Mercier de la Rivière ging von der Überzeugung aus, dass es eine natürliche Ordnung der Politik gebe, derzufolge die Bedürfnisse des Staates oder Fürsten zugleich mit denen aller Klassen von Bürgern in vollkommener Harmonie zur größtmöglichen Befriedigung gelangten, so dass der Fürst seinen eigensüchtigsten Interessen nicht besser dienen konnte als durch die Förderung des allgemeinen Besten.³⁰ Die Evidenz dieser Ordnung hielt Le Mercier für so zwingend, dass es seiner Meinung nach genügte, dem Herrscher die Augen einmal dafür zu öffnen, um ihn für immer auf ihre Verwirklichung festzulegen.³¹ Der „despotisme naturel de l’évidence“ war ein „legaler“ Despotismus, weil er zur Verwirklichung des Naturgesetzes diente.³² Jede Macht, die sich ihm entgegenstellte, war dem Naturgesetz entgegen und insofern illegal. Doch der Despotismus war nicht nur notwendiges Mittel, um die Vernunft zu verwirklichen, sondern als legaler war er zugleich in der Freiheit aller aufgehoben, denn aller Gebrauch der Freiheit, der nicht auf das Vernünftige zielte, war bloße Willkür und Ungebundenheit und verdiente keinen Schutz. Umgekehrt war das vernünftige und damit notwendige Maß an individueller Freiheit diesem Despotismus in der Evidenz gesetzt. 27 Montesquieu: De l’Esprit des lois. Bd. 1, S. 19 ff. (Buch 2, Kap. 4); S. 123 f. (Buch 8, Kap. 6); S. 12 (Buch 2, Kap. 1). 28 Ebd., S. 123 f. (Buch 8, Kap. 6). 29 Le Mercier: L’ordre naturel (wie Anm. 24), S. 91 ff. Diese und die folgenden Belegstellen können nur den Charakter von beispielhaften Nachweisen haben. 30 Ebd., S. V f. 31 Ebd., S. 125: „La force de l’évidence est dans l’évidence même; aussi est-il certain que si-tôt que l’evidence est connue, sa force devient irrésistible.“ Vgl. die entsprechenden Gedankengänge bei Quesnay: Despotisme (wie Anm. 24), S. 641 ff., bes. S. 645 f. 32 Le Mercier: L’ordre naturel (wie Anm. 24), S. 129.

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Bedeutete der Begriff des despotisme légal eine klare Gegenposition gegen Montesquieus These von der Zusammengehörigkeit von Schrankenlosigkeit und Gesetzlosigkeit, so prägte Diderot den Begriff des despotisme juste et éclairé umgekehrt zur Bekräftigung dieser Auffassung. Für ihn war der Despotismus in einseitiger Zuspitzung schon durch den bloßen Umfang der fürstlichen Macht und nicht erst durch ihren illegitimen Gebrauch definiert. Mit dem Blick auf den König von Preußen schrieb er zwischen 1773 und 1774: Le gouvernement arbitraire d’un prince juste et éclairé est toujours mauvais [. . . ] Qu’est-ce qui caractérise le despote? est-ce la bonté ou la méchanceté? Nullement; ces deux notions n’entrent pas seulement dans sa définition. C’est l’étendue et non l’usage de l’autorité qu’il s’arroge.³³

Diderot ging es offensichtlich darum, jede absolute Fürstenmacht als solche von vornherein als despotisch zu denunzieren. Die wohltätige und legitime Monarchie der Tradition war für ihn nur als eine konstitutionell beschränkte denkbar. Den Begriff des despotisme éclairé prägte er nur, um darzutun, dass auch ein aufgeklärter Despot ein Despot bleibe, bzw. dass ein Despot, der an seiner Machtfülle festhielt, niemals wahrhaft aufgeklärt genannt werden könne. Für diesen Begriff trifft es in der Tat zu, dass er sich selbst aufhebt, und wirklich hat Diderot die von ihm als aufgeklärte Despotin apostrophierte Zarin Katharina II. dringend ermahnt, ihre Untertanen an der Gesetzgebung zu beteiligen.³⁴ Dieser Appell war konsequent im Sinne seiner Überzeugungen, denn die Aufgeklärtheit der Zarin sollte gerade in ihrer überlegenen Einsicht in das wahre Interesse ihres Staates bestehen. Das Wort éclairé besaß nämlich unmittelbar einen rein dianoetischen und erst in abgeleiteter Bedeutung auch einen moralischen Sinn. So kleidete zum Beispiel Mirabeau seine Überzeugung von der Unvereinbarkeit von Aufklärung und Despotismus ganz im Sinne Diderots unter anderem in die Worte: Si tous les princes envisageaient les suites d’une administration arbitraire, suites affreuses pour les hommes, et non moins terribles pour eux-mêmes, ils se garderaient bien d’être despotes [. . . ] Eclairons donc les hommes, et surtout les princes.³⁵

33 Denis Diderot: Réfutation suivie de l’ouvrage d’Helvétius intitulé l’Homme. Oeuvres complètes. Hrsg. v. J. Assézat. Bd. 2. Paris 1875, S. 381. Es heißt dort weiter: „Un des plus grands malheurs qui pût arriver à une nation, ce seraient deux ou trois règnes d’une puissance juste, douce, éclairée, mais arbitraire: les peuples seraient conduits par le bonheur à l’oubli complet de leurs privilèges, au plus parfait esclavage.“ 34 Diderot: De la commission (wie Anm. 24), S. 271 ff. 35 Mirabeau: Essai sur le despotisme. 2. Aufl. London 1776, S. 66.

72 | II Herrscher und Herrschaft Wenn Friedrich der Große meinte, dass in seiner Zeit „l’ignorance fait commettre plus de fautes que la méchanceté“, so brachte er damit ebenfalls zum Ausdruck, dass der wohltätige Herrscher sich in erster Linie durch seinen Verstand und durch seine Einsicht auszeichne.³⁶ Das Wort éclairé steht bei ihm daher im allgemeinen synonym für einsichtig, klug, weitblickend.³⁷ Die zitierten Beispiele für die Wortbedeutung von éclairé lassen darüber hinaus erkennen, dass mit dem Ausdruck keine spezifische Bindung an Elemente der Aufklärungsphilosophie bezeichnet werden sollte. Dementsprechend konnte dieses Prädikat auch Herrschern beigelegt werden, die ganz anderen Epochen und Kulturkreisen angehörten wie Marc Aurel, Elizabeth I., dem Kaiser von China usw.³⁸ Diese Fürsten wurden als aufgeklärt bezeichnet, weil sie angeblich so einsichtig gewesen waren zu erkennen, dass sie ihr eigenes Beste und das Beste ihrer Staaten am meisten beförderten, wenn sie die Gesetze achteten, Gerechtigkeit übten und für die allgemeine Wohlfahrt sorgten. Im allgemeinen Sprachgebrauch der Zeit war demnach ein aufgeklärter Fürst nichts anderes als eine besonders denkwürdige Ausprägung des legitimen Monarchen, wie er in der Tradition der politischen Theorie seit jeher gefordert worden war. Fragt man nach diesem Blick auf den Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts nach der Angemessenheit des Ausdrucks aufgeklärter Absolutismus, so lässt sich zumindest sagen, dass er nicht die einzig mögliche Begriffsbildung für den Historiker darstellt. Daher ist es kein Zufall, dass seit Roscher sowohl von aufgeklärtem Absolutismus wie von aufgeklärtem Despotismus gesprochen wird. Koser zum Beispiel verwandte den Ausdruck aufgeklärter Despotismus, eine Form, die auch

36 Friedrich der Große: Essai sur les formes de gouvernement et sur les devoirs des souverains. Oeuvres. Hrsg. v. J.-D.-E. Preuß. Bd. 9. Berlin 1848, S. 210. 37 Vgl. statt vieler anderer Beispiele: Ders.: Considérations sur l’état présent du corps politique de l’Europe. Oeuvres. Bd. 8. Berlin 1848, S. 4, wo er seiner Analyse der verborgenen Interessenlagen der europäischen Mächte die Bemerkung vorausschickt, er schreibe diese Abhandlung nicht etwa deshalb, weil er sich einbilde, „plus éclairé“ zu sein als „une infinité de ministres“. Horst Stuke: Art. Aufklärung. In: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 1. Stuttgart 1972, S. 247, schreibt dem Verbum aufklären spätestens seit 1720 und dem Substantiv Aufklärung etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts „die Vorstellung des Aufhellens, Aufdeckens und Klarmachens eines Sachverhalts“ zu, „der bisher im Dunkeln lag, ganz oder teilweise unbekannt und unerkannt war“ usw. 38 Friedrich der Große: Essai (wie Anm. 36), S. 210. Diderot: De la commission (wie Anm. 24), S. 272. Quesnay: Despotisme (wie Anm. 24), passim. Dass von „Aufklärung“ während des ganzen 18. Jahrhunderts grundsätzlich für alle vergangenen Epochen gesprochen werden konnte, unterstreicht Stuke: Art. Aufklärung (wie Anm. 37), S. 250.

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Hartung in den dreißiger Jahren noch bevorzugte.³⁹ Obwohl das Wort Absolutismus im Unterschied zu Despotismus nicht vor dem Ende des 18. Jahrhunderts in Gebrauch kam⁴⁰, lässt sich die nahe Verwandtschaft der beiden Begriffe aus zahlreichen Zeugnissen der Epoche belegen, da das Adjektiv absolut in verschiedenen Begriffsverbindungen seit langem gebräuchlich gewesen war.⁴¹ Es sei nur daran erinnert, dass Jaucourt den Despotismus in der „Encyclopédie“ als ein „gouvernement tyrannique, arbitraire et absolu d’un seul homme“ definierte.⁴² Der amerikanische Historiker Leonard Krieger spricht sich trotzdem dafür aus, den aufgeklärten Absolutismus sorgfältig vom aufgeklärten Despotismus zu unterscheiden und zur Kennzeichnung der politischen Systeme Friedrichs des Großen, Josephs II. und der anderen „aufgeklärten“ Fürsten nur das Wort Absolutismus zu verwenden.⁴³ Den Ausdruck aufgeklärter Despotismus will er der bloßen Idee einer Herrschaft der Vernunft durch einen unbeschränkten Monarchen vorbehalten, für die es gerade kennzeichnend sein soll, dass sie sich jeder Verwirklichung begriffsnotwendig entziehe.⁴⁴ Der aufgeklärte Despotismus wird damit zu einem Gegenstand der reinen Ideengeschichte und kann ebensowenig als Theorie oder Selbstauffassung des aufgeklärten Absolutismus betrachtet werden, wie die Konzeption des Despotismus bei den politischen Schriftstellern des 18. Jahrhunderts als Theorie der absoluten Monarchie zu verstehen ist. Der Begriff Despotismus war eine polemische Waffe der politischen Publizistik, die seit dem 17. Jahrhundert zunehmend gebraucht wurde, um vor der Steigerung der königlichen Gewalt auf Kosten der ständischen Rechte und Freiheiten zu warnen.⁴⁵ Diese polemische Spitze kehrten die Physiokraten bewusst um: im Namen des despotisme légal befürworteten sie die Konzentration der Macht in den Händen des Monarchen ausdrücklich, um damit die Voraussetzungen für

39 Reinhold Koser: Die Epochen der absoluten Monarchie in der neueren Geschichte. In: Aretin: Absolutismus (wie Anm. 2), S. 3, 35 ff. F. Hartung: Die geschichtliche Bedeutung des aufgeklärten Despotismus in Preußen und in den deutschen Kleinstaaten. In: Bulletin of the International Committee of Historical Sciences. Bd. 9. Paris 1937, S. 3–21. 40 Rudolf Vierhaus: Art. Absolutismus. In: C. D. Kernig (Hrsg.): Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Bd. 1. Freiburg, Basel, Wien 1966, Sp. 17. 41 Vgl. Leonard Krieger: An Essay on the Theory of Enlightened Despotism. Chicago, London 1975, S. 27 ff. 42 Louis de Jaucourt: Despotisme. In: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Bd. 10. Lausanne, Bern 1779, S. 789. 43 Krieger: Essay (wie Anm. 41), S. 19, 23 ff. Vgl. ders.: Kings and Philosophers 1689–1789. London 1970, S. 247. 44 Krieger: Essay (wie Anm. 41), passim; vgl. bes. S. 89. 45 Koebner: Despot and despotism (wie Anm. 26), S. 293 ff.

74 | II Herrscher und Herrschaft eine monarchische Regierung zu schaffen, die in ihrer Sorge für das allgemeine Wohl alle legitimen Monarchien der Tradition weit hinter sich lassen würde. Dieses revolutionäre Pathos der physiokratischen Begriffsbildung lässt sich durch den Begriff des aufgeklärten Absolutismus natürlich nicht vermitteln, obwohl die Fürsten dieses Typus ebenfalls davon durchdrungen waren. Dennoch ist der Ausdruck Absolutismus vorzuziehen, weil er nach dem in der Forschung eingeführten Sprachgebrauch der Verfassungswirklichkeit der in Frage stehenden Monarchien in der Tat weit besser entspricht.⁴⁶ Wenn, wie oben entwickelt, die theoretische Grundlage des Systems vorrangig in den Selbstaussagen der Herrscher gesucht werden soll, so besteht auch von den Quellen her wenigstens so lange kein zwingender Grund zur Orientierung der Begriffsbildung an der physiokratischen Terminologie, als nicht eine sehr weitgehende inhaltliche Übereinstimmung des fürstlichen Selbstverständnisses mit der Lehre der Physiokraten nachgewiesen ist. Für das Preußen Friedrichs des Großen weist Svarez den Vorwurf des Despotismus mit dem Hinweis auf die „inneren Einschränkungen der Souveränität“, die der Herrscher sich in Unterordnung unter die „Zwecke des Staats“ selbst auferlegt habe, ausdrücklich zurück.⁴⁷ Die Theorie von Le Mercier de la Rivière wird nicht nur von Krieger, sondern auch von anderen Autoren als eine bloße Idee, eine gedankliche Zuspitzung betrachtet, die in ihren wesentlichen Zügen den aufgeklärten Absolutismus nirgendwo nachhaltig beeinflusst habe.⁴⁸ Dennoch sollte man die formalen Gemeinsamkeiten dieser Lehre mit anderen Theorien, die nach allgemeinem Urteil wesentlich näher an die Wirklichkeit der monarchischen Regierung der Zeit heranreichten, nicht ganz außer acht lassen. Die unumschränkte Gewalt für den einen Herrscher forderte Le Mercier in der Annahme, dass der Monarch das allgemeine Beste weit besser erkennen und verwirklichen könne als eine Pluralität von Regierenden. Begründet wird diese Vermutung mit der Überzeugung, dass die „richtigen“, d. h. die vernünftigen Regierungsentscheidungen zueinander nicht in einem zufälligen Verhältnis stehen, sondern nur als Folgerungen aus einer durch Vernunft erkennbaren Gesamtordnung der Politik möglich seien. Diese Konzeption kommt den Positionen deutscher Kameralwissenschaftler und Staatsphilosophen, die traditionellerweise unter die Theoretiker des aufgeklärten Absolutismus gerechnet werden, sehr nahe. Auf Christian Wolff, der diese

46 Vgl. Hartung: Absolutismus (wie Anm. 2), S. 56 f. 47 Carl Gottlieb Svarez: Vorträge über Recht und Staat. Hrsg. v. Hermann Conrad u. Gerd Kleinheyer. Köln, Opladen 1960, S. 229. 48 Vgl. u. a. Heinz Holldack: Der Physiokratismus und die absolute Monarchie. In: Aretin: Absolutismus (wie Anm. 2), S. 152 ff.; Hartung: Absolutismus (wie Anm. 2), S. 61, 49.

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Reihe gewöhnlich anführt, sollte man in diesem Zusammenhang freilich nicht in erster Linie verweisen; denn bei ihm findet sich keine besondere Betonung des Vorrangs der Monarchie vor den anderen klassischen Regierungsformen⁴⁹; ohne eine solche Betonung aber sollte man nicht von einer Theorie des aufgeklärten Absolutismus sprechen. Dagegen glaubte zum Beispiel Justi, daß die monarchische Regierungsform, in Ansehung der Geschwindigkeit, womit die Mittel zur Glückseligkeit des Staats ergriffen werden können, und weil hierbei viele innerliche Bewegungen und Unordnungen zu vermeiden sind, allen andern Regierungsarten ungleich vorzuziehen sei⁵⁰.

Justi hob ähnlich wie Le Mercier hervor, dass das Interesse des Regenten und das Interesse der Untertanen „niemals voneinander getrennet werden“ könnten, d. h. dass sie im Gedanken des allgemeinen Besten – der „gemeinschaftlichen Glückseligkeit“, auch der „Glückseligkeit des Staats“ – zusammenfallen.⁵¹ Dass Politik eine vernünftige Gesamtordnung verwirklichen sollte, in der die einzelnen Institutionen und Regierungsentscheidungen in einem begründeten Zusammenhang stehen, brachte Justi zum Ausdruck, indem er den Staat mit einer Maschine verglich: „Ein wohl eingerichteter Staat muß vollkommen einer Maschine ähnlich sein, wo alle Räder und Triebwerke auf das genaueste ineinander passen, und der Regent muß der Werkmeister, die erste Triebfeder oder die Seele sein, wenn man so sagen kann, die alles in Bewegung setzt.“⁵² Der entscheidende Unterschied zwischen Justi und Le Mercier wird allerdings durch die Hervorkehrung ihrer formalen Gemeinsamkeiten verdeckt. Zwar fiel für beide das individuelle Interesse der Bürger mit dem allgemeinen Interesse des Staates zusammen. Während jedoch Justi das Gemeinwohl als das höchste Privatinteresse bezeichnete, bestimmte Le Mercier das freie Spiel aller Privatinteressen als die Bedingung des Gemeinwohls. An dieser Differenz zeigt sich die Schwierigkeit, von den politischen Schriftstellern aus eine allgemeine Theorie des aufgeklärten Absolutismus zu entwickeln. So rechtfertigt sich erneut das methodi-

49 Christian Wolff : Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen. Halle 1721. 2. Tl. 2 Kap. 55 257–263, S. 187 ff. In diesen Paragraphen wägt Wolff die Vorteile und Nachteile der verschiedenen Regierungsformen gegeneinander ab, ohne dabei der Monarchie einen besonderen Vorzug zu geben. 50 Johann Heinrich Gottlob v. Justi: Kurzer systematischer Grundriß aller ökonomischen und Cameralwissenschaften. Einleitung, § 4. Ges. polit. u. Finanz-Schr. Bd. 1. Kopenhagen, Leipzig 1761, S. 506. 51 Ebd., § 9, S. 509; 1. Abt., § 1, S. 511. 52 Gottlob von Justi: Von der wahren Macht der Staaten; ebd. Bd. 3. Kopenhagen, Leipzig 1764, S. 86 f.

76 | II Herrscher und Herrschaft sche Postulat, in den Äußerungen der Fürsten selbst danach zu suchen, was an ihrem angeblichen aufgeklärten Absolutismus nach ihrer eigenen Auffassung aufgeklärt war. Die Entscheidung für dieses Verfahren schließt die Bereitschaft ein, in der Lektüre der einschlägigen Schriften gleichsam noch einmal ganz von vorne anzufangen. Daraus folgt die Notwendigkeit, sich zunächst zu bescheiden und die Untersuchung exemplarisch auf einen einzigen Fürsten zu beschränken. Friedrich der Große ist nicht nur deshalb gewählt worden, weil er seit Roscher immer wieder als die reinste Verkörperung des aufgeklärten Absolutismus angesehen wurde, sondern auch weil er sich mehr als alle anderen Fürsten zeit seines Lebens um eine theoretische Begründung seiner Herrschaft und seiner Herrschaftsausübung bemühte. In den politischen Schriften Friedrichs ist das Bestreben zu erkennen, die Handlungsmaximen des Fürsten der Bestimmung durch die Vernunft zu unterwerfen. Das Vernünftige für den Staat ist, was in seinem wohlverstandenen Interesse liegt.⁵³ Dabei sieht Friedrich die wohlverstandene Staatsräson in voller Übereinstimmung mit den wahren Interessen der Untertanen.⁵⁴ Zugleich hat er sich immer wieder bemüht, sie auch mit den Geboten der Moral zur Deckung zu bringen. In der „Réfutation du Prince de Machiavel“ von 1739/40 folgt diese Möglichkeit daraus, dass er die Selbstliebe für das Prinzip der Tugend erklärt, so dass es den Anschein gewinnt, als ob eine Politik, die lediglich der natürlichen Selbstbehauptung dient, niemals in offenen Gegensatz zur Moral geraten könne.⁵⁵ Dem entspricht die Absicht der ganzen Schrift: es geht Friedrich darin nicht so sehr um die Aufzeigung der moralischen Verwerflichkeit der Empfehlungen des Florentiners als vielmehr um den Nachweis, dass dessen Ratschläge ihren Zweck verfehlten und dem Staate zum Schaden gereichten, statt ihm zu nützen: „Je ne parle point avec lui de religion, ni de morale, mais simplement de l’intérêt; il me suffira pour le confondre.“⁵⁶ Umgekehrt hofft Friedrich beweisen zu können, dass das Interesse des Staates in der Beobachtung der Moralgesetze liege:

53 Da diese Gedanken in nahezu allen politischen Schriften Friedrichs zu finden sind, erübrigen sich Einzelbelege. Die Terminologie wechselt jedoch. Vgl. z. B. die Gegenüberstellung von „les souverains qui ne sont pas philosophes“ und „les princes qui raisonnent plus profondément“ in: Friedrich der Große: Réfutation du Prince de Machiavel. Oeuvres. Bd. 8. Berlin 1848, S. 275. 54 Ders.: Essai (wie Anm. 36), S. 200 f. 55 Ders.: Réfutation (wie Anm. 53), S. 276. 56 Ebd., S. 191.

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Faudra-t-il disputer, faudra-t-il argumenter pour démontrer les avantages de la vertu sur le vice, de la bienfaisance sur l’envie de nuire, et de la générosité sur la trahison? Je pense que tout homme raisonnable connaît assez ses intérêts pour sentir lequel est le plus profitable des deux.⁵⁷

Bekanntlich hat Friedrich in der „Réfutation“ auch den Angriffskrieg gutgeheißen, wenn er zur Durchsetzung von Rechtsansprüchen oder zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts zwischen den Mächten dienen sollte. Dies ist weniger als ein partielles Überwiegen des „Machtstaatsgedankens“ über den „humanitären Staatsgedanken“ zu verstehen, wie Meinecke vorschlug, sondern ein ganz natürliches Ergebnis der Bemühung, die Grundsätze einer vernunftgemäßen Interessenpolitik zu entwickeln.⁵⁸ Seit seinem Brief an den Kammerjunker Natzmer vom Februar 1731 hat Friedrich immer wieder um die Abgrenzung einer moralisch vertretbaren Eroberungs- und Kriegspolitik von einem Eroberungsdrang um seiner selbst willen oder aus purer Machtgier gerungen.⁵⁹ Die Grenzlinie zu Machiavelli wollte Friedrich nicht zwischen Privatethik und moralischer Skrupellosigkeit, sondern durchaus auf der gemeinsamen Ebene der Staatsräson zwischen einer politischen Ethik und einer politischen Unmoral ziehen. Kraft dieser politischen Ethik konnten ihm dann Angriffskriege unter Umständen „conformes à la justice et à l’équité“ erscheinen.⁶⁰ Nach zwei Jahren eigener Regierungsverantwortung urteilte Friedrich nüchterner: er unterschied jetzt scharf zwischen Privatethik und der Handlungsweise, die dem Fürsten – wollte er sich behaupten – aufgezwungen werde.⁶¹ Doch dies gehört zur Frage nach der Verwirklichung einer aufgeklärten Außenpolitik. Dass er weiter daran arbeitete, sie in der Theorie zu entwickeln, ist aus den Schriften der Folgezeit zu belegen – bis hin zur dritten Fassung des Vorworts zur „Histoire de mon temps“ von 1775, wo er wiederum Leitlinien einer vernunftgemäßen Erwerbungspolitik formulierte. Die Kriege, die in Europa geführt würden, so heißt es da, endeten nach großen Verlusten an Menschenleben für den Sieger bestenfalls

57 Ebd., S. 234. Vgl. auch S. 205, 252, 291. 58 Friedrich Meinecke: Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte. Hrsg. v. Walther Hofer. 2. Aufl. München 1960, S. 333 f. in Verbindung mit S. 341 f. u. 349 f. 59 Friedrich der Große: Lettre à M. de Natzmer. Oeuvres. Bd. 16. Berlin 1850, S. 5 f.: Friedrich wollte die in diesem Brief entwickelten Perspektiven für eine künftige Erwerbungspolitik Preußens nur unter der Bedingung befürworten, dass die Dynastie im Dienste der Gerechtigkeit und des gemeinen Wohls regiere. 60 Ders.: Réfutation (wie Anm. 53), S. 297. 61 Ders.: Denkwürdigkeiten (1742). Vorwort. Die Werke Friedrichs des Großen in deutscher Übersetzung. Hrsg. v. G. B. Volz. Bd. 2. Berlin 1912, S. 2 f. Diese Erstfassung des Vorworts zur „Histoire de mon temps“ ist in der Ausgabe von Preuß nicht enthalten.

78 | II Herrscher und Herrschaft mit dem Gewinn eines kleinen Grenzstreifens, dessen Bevölkerung nicht einmal an die Zahl derer heranreiche, die auf den Schlachtfeldern geblieben seien. Dies erscheint vernunftwidrig, veranlasst Friedrich jedoch keineswegs, sich etwa für die Abschaffung des Krieges auszusprechen. Man müsse sich lediglich hüten, sich unbedachtsam hineinzustürzen. Ein Staatsmann müsse warten können, bis die richtige Gelegenheit sich biete; dabei müssten nicht nur die augenblickliche Lage, sondern auch alle möglichen Konsequenzen genauestens überlegt werden. Die Fürsten müssten lernen „qu’il faut se former un système, et le suivre pied à pied; et que celui qui a le mieux calculé sa conduite, est le seul qui peut l’emporter sur ceux qui agissent moins conséquemment que lui“⁶². Man geht vermutlich nicht fehl in der Annahme, dass ihm die Erwerbung Westpreußens bei der ersten Teilung Polens 1772 in diesem Sinne als ein Meisterstück aufgeklärter Machtpolitik erschien.⁶³ Den wahren Interessen der Untertanen sollte das Handeln nach Staatsräson in dem von Friedrich verstandenen Sinne deshalb dienen, weil ihm die Aufrechterhaltung der Gesetze und die Sorge für das Gemeinwohl nur möglich erschienen, wenn der Staat sich als Machtorganisation unter seinesgleichen behauptete. Voraussetzung war allerdings, dass die erheblichen Opfer, die den Untertanen dafür abverlangt wurden, auch tatsächlich und mit einem hohen Wirkungsgrad diesem Zweck zugeführt wurden. Friedrich ging davon aus, dass der notwendige Umfang der Anstrengungen, die ein Staat zur Sicherung seiner Existenz unternehmen müsse, durch die Macht seiner Nachbarn, also von außen, bestimmt werde.⁶⁴ Umgekehrt war die Finanzierung dieser Anstrengungen auf die Dauer nur zu sichern, wenn die Bürger und die Bauern in ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit geschützt und mit allen Mitteln gefördert wurden. So zeigt sich von verschiedenen Seiten, dass Außenpolitik und innere Verfassung der Staaten in Friedrichs Reflexionen über die „aufgeklärte“ Regierung nicht zu trennen sind, während die bisherige Literatur über den aufgeklärten Ab-

62 Ders.: Histoire de mon temps. Avant-propos (1775). Oeuvres. Bd. 2. Berlin 1846, S. XXXII. 63 Vgl. ders.: Mémoires depuis la paix de Hubertsbourg, 1763, jusqu’à la fin du partage de la Pologne, 1775. Oeuvres. Bd. 6. Berlin 1847, S. 47. Friedrich beschreibt dort den Vollzug der Teilung mit ganz ähnlichen Wendungen, wie er sie im Vorwort zur dritten Fassung der „Histoire de mon temps“ gewählt hatte (vgl. Anm. 62): „Telle fut la fin de tant de négociations, qui demandaient de la patience, de la fermeté et de l’adresse. [. . . ] C’est là le premier exemple que l’histoire fournisse d’un partage réglé et terminé paisiblement entre trois puissances; sans les conjonctures où l’Europe se trouvait alors, les plus habiles politiques y auraient échoué: tout dépend des occasions et du moment où les choses se font.“ 64 Ders.: Essai (wie Anm. 36), S. 203.

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solutismus mit wenigen Ausnahmen lediglich die Innenseite des Staatslebens in Betracht zieht.⁶⁵ Roscher hatte den konzentrierten Ausdruck des aufgeklärten Absolutismus in der mehrfach belegten Auffassung Friedrichs gesehen, dass der Fürst der erste Diener des Staates sei. Im Dienst des Fürsten am Staate manifestiert sich für Friedrich die Einheit der Interessen zwischen dem Herrscher und den Untertanen.⁶⁶ Es ist die Pflicht des Fürsten, sich dem Staatszweck zu unterwerfen, aber es ist auch sein Recht, im Namen des Staates die Handlungen seiner Untertanen zu bestimmen. So ist Friedrichs wiederholte Berufung auf den Gesellschaftsvertrag Bindung und Legitimation zugleich. Als „aufgeklärt“ erweist sich der Fürst, insoweit er sich diese Auffassung vom Wesen der monarchischen Regierung zu eigen macht und danach handelt.⁶⁷ Das ist nicht nur ein moralisches, sondern auch ein Erkenntnis- und ein Organisationsproblem. Darum ist der Akzent in Friedrichs Ausspruch nicht nur auf das Wort Diener, sondern ebensosehr auf das Beiwort erster zu legen. Schon in den Schriften der Kronprinzenzeit fordert Friedrich, dass die Fürsten die Regierung selbst in die Hand nehmen und sie nicht den Ministern überlassen sollten.⁶⁸ In den Politischen Testamenten wiederholt er diese Forderung.⁶⁹ Im Testament von 1768 schreibt er in diesem Zusammenhang, Richelieu habe unter Ludwig XIII. große Dinge vollbracht. Dennoch scheine es, „qu’un roi éclairé et, de raison, plus attaché aux intérêts de son royaume, en aurait fait davantage“⁷⁰. Kurz darauf folgt dann eine weitere, bezeichnende Feststellung über die französische Politik: La France manque de système; chaque ministre fait le sien, et le nouveau ministre prend le contrepied de ce que son prédécesseur avait fait.⁷¹

65 Hartung: Absolutismus (wie Anm. 2), S. 59 versteht die außenpolitische Zielsetzung des aufgeklärten Absolutismus als „das Idealbild einer neuen friedlichen, auf der Brüderlichkeit der Menschen und Völker beruhenden Ordnung unter den Staaten“. Wenn dies die einzig denkbare Form einer aufgeklärten Außenpolitik wäre, hätte Hartung angesichts der Realität der internationalen Beziehungen im 18. Jahrhundert schwerlich einen anderen Standpunkt einnehmen können als den, aufgeklärten Absolutismus im wesentlichen als ein innerstaatliches Phänomen zu behandeln. Vgl. auch: Ders.: Aufgeklärter Despotismus (wie Anm. 39), S. 8. 66 Friedrich der Große: Essai (wie Anm. 36), S. 200 f. 67 Ebd., S. 209 f. 68 Vgl. u. a.: Ders.: Considérations (wie Anm. 37), S. 26. 69 Ders.: Testament politique (1752) (wie Anm. 10), S. 37 ff.; Testament politique (1768), ebd., S. 188 ff. 70 Ebd., S. 189. 71 Ebd., S. 190.

80 | II Herrscher und Herrschaft Wie schon in der „Réfutation“, so hatte Friedrich auch im Politischen Testament von 1752 geschrieben, eine wohlgeleitete Regierung müsse einem so straffen System folgen, wie es nur „un système de philosophie“ sein könne; alle Maßnahmen müssten genau überlegt sein; Finanzen, Politik und Militärwesen müssten auf ein einheitliches Ziel hin ausgerichtet sein: auf „l’affermissement de l’État et l’accroissement de sa puissance“⁷². Ein solches System, so schreibt er wiederum sechzehn Jahre später, ne doit point être un ouvrage fait avec précipitation et légèreté; il doit être le fruit d’une profonde méditation, d’une grande connaissance des affaires, d’une prévoyance, du calcul et d’une sagesse consommée. Il faut, en travaillant sur ces matières, avoir l’idée de cette perfection imaginaire devant les yeux, pour s’en écarter le moins que possible et pour en approcher le plus près qu’il nous est donné d’y atteindre.⁷³

Ohne dass es an dieser Stelle ausdrücklich gesagt wäre, geht aus dieser Darstellung von selbst hervor, dass nur der Fürst, nicht aber kurzfristig amtierende Minister oder gar wechselnde Mehrheiten repräsentativer Versammlungen ein solches System entwickeln und zu ihrer Richtschnur sollten machen können. Friedrichs Ausführungen sollten insofern wirklich eine Theorie des aufgeklärten Absolutismus sein und nicht nur eine Theorie aufgeklärter Regierung im allgemeinen. Den Zweck der Regierung nach einem wohldurchdachten und in langer Erfahrung entwickelten System hatte Friedrich im Jahre 1752, wie oben erwähnt, als Selbstbehauptung und Machterweiterung des Staates bezeichnet. 1776 schrieb er in einem Exposé, wenn die Unregelmäßigkeiten und die Ziellosigkeit der französischen Politik auch in Preußen Schule machten, dann wäre es verloren; die großen Monarchien hielten sich durch ihre schiere Größe und ihre innere Kraft; die kleinen Staaten dagegen „sont vite écrasés, si tout en eux n’est (pas) force, nerf et vigueur“⁷⁴. Im Jahre 1777 stellte Friedrich in seinem „Essai sur les formes de gouvernement et sur les devoirs des souverains“ auf knappstem Raum sein aufgeklärtes Regierungsprogramm noch einmal im Zusammenhang dar.⁷⁵ Unter Berufung auf den Gesellschaftsvertrag weist er zunächst nach, dass Herrschaft als solche notwendig auf das Gemeinwohl verpflichtet sei. Die Prüfung der verschiede-

72 Ders.: Testament politique (1752) (wie Anm. 10), ebd., S. 38. 73 Ders.: Testament politique (1768) (wie Anm. 10), ebd., S. 177. Vgl. Ders.: Réfutation (wie Anm. 53), S. 289 f. 74 Ders.: Exposé du gouvernement prussien, des principes sur lesquels il roule, avec quelques réflexions politiques. In: Ders.: Die politischen Testamente (wie Anm. 10), S. 245. Vgl. Ders.: Testament politique (1768) (wie Anm. 10), ebd., S. 191. 75 Ders.: Essai (wie Anm. 36), S. 195–210.

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nen Regierungsformen lässt sodann die Monarchie als besonders vorteilhaft erscheinen, sofern der Monarch sich seiner Aufgaben bewusst sei. Ein solcher Monarch werde selbst regieren und sich nicht auf Minister verlassen, da nur er ein wirkliches Interesse am Wohl des Staates habe und den erforderlichen „système général“, nach dem die gesamte Politik ausgerichtet werden müsse, entwickeln könne. Nach einem kurzen Blick auf Gesetzgebung und Justizwesen folgt die Darlegung der Grundzüge dieses Systems, wobei die einzelnen Bestandteile in einer solchen Reihenfolge und Verknüpfung vorgestellt werden, dass ein jedes als der unmittelbare Zweck des nächstfolgenden erscheint.⁷⁶ Der oberste Bezugspunkt des Ganzen liegt im ersten Bereich, in der Außenpolitik, d. h. auf dem Feld, wo der Staat seine Existenz zu behaupten hat. Um sie sichern zu können, bedürfe der Fürst nicht nur eines hohen Maßes an Geschick und Weitblick in der Diplomatie, sondern auch eines starken und stets nach den modernsten Grundsätzen ausgerüsteten und geführten Heeres. Voraussetzung für Aufbau, Unterhalt und Einsatz dieser Streitmacht seien gesunde Finanzen. Deren Bestand wiederum sei nur zu sichern, wenn der Steuerpflichtige nicht überfordert werde. Um die Steuerbelastung auch in Notfällen nicht überspannen zu müssen, sei daher die Schaffung von finanziellen Reserven geboten. Insgesamt könnten jedoch die nötigen Einnahmen nur gewonnen werden, wenn der Fürst sich um die Beförderung der Landwirtschaft, des Handels und des Gewerbes bemühe. So folgt ein Grundsatz aus dem anderen. Zusammengenommen bilden sie die Voraussetzung dafür, dass der Fürst seiner durch den ursprünglichen Vertrag begründeten Verpflichtung nachkommen kann. Die Anstrengungen, die der Staat notwendig unternehmen muss, um seine Existenz zu behaupten, erscheinen jedoch als so überwältigend, dass das gemeine Wohl im Selbsterhaltungszweck des Staates aufgeht. Es gibt kein Gut, um dessentwillen der Staat gesetzt ist, das nicht zugleich als Mittel betrachtet würde, um seine Existenzfähigkeit zu sichern. Die Bauern sollten mit Steuern und Abgaben nicht so hoch belastet werden, dass sie mit ihren Familien nicht noch „avec une certaine aisance“ leben könnten⁷⁷: nicht weil der Staat das Eigentum und seinen Genuss zu schützen habe, sondern weil der Bauer sonst den Antrieb verliere, das Land zu bestellen; daraus aber müsste zwangsläufig großer gesamtwirtschaftlicher und politischer Schaden entstehen. In diesem Zusammenhang kritisierte Friedrich auch die Fortdauer der Erbuntertänigkeit in Preußen. Es mag dahingestellt bleiben, wie echt seine Empörung über diesen „barbarischen Brauch“ war: sicher ist, dass er den

76 Ebd., S. 201 ff. 77 Ebd., S. 204.

82 | II Herrscher und Herrschaft Gutsuntertanen wohl kaum mit einem Sklaven verglichen hätte, wenn er nicht zugleich davon überzeugt gewesen wäre, dass seine Befreiung aus der Untertänigkeit dem Staatszweck, d. h. der Logik seines politischen Systemdenkens im oben skizzierten Sinne, besser entsprochen hätte als der vorgegebene Zustand.⁷⁸ An dieser Stelle zeigt sich, dass Friedrich sein Programm des aufgeklärten Absolutismus, auch wenn man seine Ziele nicht individualistisch versteht, nicht hat voll verwirklichen können. Nach dem Gesagten erscheint der aufgeklärte Absolutismus Friedrichs des Großen als ein politisches Programm, dessen Zweck in erster Linie darin bestand, die Machtstellung und Unabhängigkeit Preußens trotz seiner relativen Kleinheit und der Beschränktheit seiner Hilfsquellen zu behaupten. Er bedeutete den Versuch, durch Disziplin, Scharfsinn und rationelle Planung das natürliche Übergewicht der anderen europäischen Großmächte wettzumachen. An einer bemerkenswerten Stelle des „Politischen Testaments“ von 1752 lässt Friedrich erkennen, dass er sogar die monarchische Selbstregierung in ihrer durch ihn verwirklichten Zuspitzung als einen von dieser Lage erzwungenen Notbehelf betrachtete: „pour que le destin de l’État soit solide, il ne faut pas que sa fortune tienne aux qualités bonnes ou mauvaises d’un seul homme.“ Daher wolle er seine Länder um so viele zusätzliche Provinzen vergrößern, dass er das Heer von den damaligen 136 000 auf 180 000 Mann vermehren könne, auf dass der Staat hinfort „se soutienne par lui même“.⁷⁹ Der Vergleich des Staates mit der Maschine oder dem Uhrwerk, den Friedrich und die Kameralisten sonst gerne gebrauchten, wird hier zum Bilde des Automaten gesteigert. Wollte man es weiter ausmalen, so würde die Vision eines sich selbst regulierenden Systems in den Blick rücken, das seines „ersten Dieners“ immer weniger bedürfte. Diese Perspektive unterstreicht den versachlichten, unpersönlichen Charakter, den eine wahrhaft vernunftgemäße Regierung nach Friedrichs Vorstellungen gewinnen musste, und in der Tat erscheint aus dem skizzierten System jede Willkür, jede Wahlfreiheit für den Monarchen geschwunden. Alle besonderen Einrichtungen und Maßnahmen scheinen zwingend aus der Prämisse zu folgen, dass der Staat sich behaupten müsse. Liegt die Notwendigkeit solcher Politik, wie dargelegt, in erster Linie in dem Missverhältnis zwischen den Anforderungen, die an den preußischen Staat gestellt wurden, und den Mitteln, die ihm unmittelbar zuflossen, begründet, so ergeben sich Folgerungen, die als Elemente für hypothetische Allgemeinaussagen über den aufgeklärten Absolutismus verwendet werden können. Es ist schon seit jeher darauf hingewiesen worden, dass der aufgeklärte Absolutismus ein vorwie-

78 Ebd., S. 205 f. 79 Ders.: Testament politique (1752) (wie Anm. 10), S. 66.

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gend mittel- und osteuropäisches Phänomen oder jedenfalls eine Erscheinung gewesen ist, die sich in den politisch und wirtschaftlich mächtigen westeuropäischen Ländern England, Holland und Frankreich offenbar nicht findet. Neben Preußen ist es vor allem das Österreich Josephs II., das als herausragendes Beispiel für den aufgeklärten Absolutismus gilt. Bedenkt man allein den Zusammenhang, der zwischen den josephinischen Reformen und der Niederlage gegen Preußen, wie sie durch den Ausgang des Siebenjährigen Krieges sanktioniert wurde, bestand, so drängt sich auch hier die Vermutung auf, dass es vor allem darum ging, durch entsprechende Anstalten den Staat von innen her zu festigen und seine machtpolitische Leistungsfähigkeit nach außen zu steigern. In dieser Perspektive lassen sich dann freilich auch die gescheiterten Reformversuche Turgots als Ansätze eines aufgeklärten Absolutismus interpretieren, denn die finanzielle Misere des französischen Staates war nur ein Sonderfall der allgemeinen Schwierigkeit, den Haushalt auszugleichen, ohne die äußere Machtstellung zu gefährden und ohne die Wirtschaft durch übermäßigen Steuerdruck zu ersticken.⁸⁰ Die vorgeschlagene Interpretation lässt es allerdings fragwürdig erscheinen, irgendwann um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine Epoche des aufgeklärten Absolutismus beginnen zu lassen. Denn die Mächtekonstellation, die für Friedrich außergewöhnliche Anstrengungen unumgänglich machte, war damals im Grundsätzlichen so wenig neu wie das politische Verhalten, das er ihr gegenüber empfahl. Speziell für Preußen reicht in dieser Hinsicht eine gerade Linie bis zum Großen Kurfürsten zurück, allenfalls unterbrochen durch Friedrich I. Man könnte geradezu sagen, der Aufstieg Preußens seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges sei nur unter der Bedingung einer Regierungsweise möglich gewesen, die wenigstens in ihrer Praxis dem aufgeklärten Absolutismus sehr nahe kommt. In diesem Sinne ließen sich außer einigen Hohenzollernherrschern auch andere deutsche Fürsten schon im 17. Jahrhundert dem aufgeklärten Absolutismus oder seinen Vorformen zurechnen; ein hervorragendes Beispiel ist Karl Ludwig von der Pfalz. In der Literatur wird das Problem des Beginns des aufgeklärten Absolutismus in Preußen nicht selten auf die Frage zugespitzt, ob wirklich erst Friedrich II. oder nicht vielmehr schon Friedrich Wilhelm I. zu den aufgeklärten Herrschern zu rechnen sei. Wird die Frage unter Hinweis auf die religiöse Verankerung der Herrschaftsauffassung Friedrich Wilhelms I. verneint, so liegt die Versuchung nahe, nur diejenigen Errungenschaften unter den Begriff des aufgeklärten Absolutis-

80 Auch Aretin: Einleitung (wie Anm. 12), S. 37, meint, man könne die Turgotschen Reformen „vielleicht als die Phase des aufgeklärten Absolutismus in Frankreich bezeichnen“.

84 | II Herrscher und Herrschaft mus zu fassen, mit denen Friedrich über seinen Vater hinausgegangen ist.⁸¹ Dadurch würde man jedoch wiederum dem Missverständnis Vorschub leisten, als bemesse sich das Maß an Aufklärung, dem ein Fürst in seiner Politik Raum gegeben habe, an der Summe der Neuerungen, die er im Namen der Vernunft oder des Gemeinwohls einführte. In Wirklichkeit jedoch wird man dem Phänomen des aufgeklärten Absolutismus – jedenfalls bei Friedrich dem Großen – nur gerecht, wenn man einen rationalen Gesamtentwurf der Politik und der Organisation des Staates voraussetzt, von dem aus erst entschieden werden konnte, welche Reformen oder Veränderungen nötig seien. Friedrich hatte niemals beabsichtigt, den Staat nach Regeln der Vernunft von Grund auf neu zu gestalten; wohl aber beanspruchte er, die Zweckmäßigkeit der tradierten Ordnung zu überprüfen und die bestehenden Institutionen im Sinne seiner System-Vorstellung entweder bloß neu zu definieren oder an denjenigen Stellen wirklich zu verändern, wo es das Interesse der Rationalität zu fordern schien. Daher scheint es der Wirklichkeit am ehesten zu entsprechen, wenn man den aufgeklärten Absolutismus als einen historischen Typus begreift, der sich in der historischen Realität in einem längeren Prozess entwickelte. Es erscheint begründet, in Preußen nicht schon Friedrich Wilhelm I., sondern erst Friedrich II. als Vertreter des aufgeklärten Absolutismus im vollen Sinne anzusehen, da die rein zweckrationale Rechtfertigung des Herrscheramts in der Tat als unterscheidendes Element gewertet werden muss. Daraus folgt aber nicht, dass das Wesen des aufgeklärten Absolutismus in Preußen – als Typus verstanden – sich an der Differenz zwischen diesen beiden Königen bemesse. Gerade wenn man versucht, den Begriff des aufgeklärten Absolutismus aus der Selbstauffassung der aufgeklärten Fürsten zu entwickeln, darf man nicht übersehen, dass Friedrich seinen Vater selber einmal als einen „Philosophen auf dem Thron“ bezeichnete: Friedrich Wilhelm I. sei nämlich davon durchdrungen gewesen, dass ein Fürst mit dem Gut und Blut seiner Untertanen sparsam umgehen müsse.⁸² Diese Überzeugung konnte natürlich sowohl aus einem christlichen Herrschaftsverständnis, als auch aus einer philosophischen Auffassung des fürstlichen Amtes abgeleitet werden. Es ist vielleicht bezeichnend, dass Friedrich auf die Herkunft der Gründe offenbar ein geringeres Gewicht legte. Wie bereits dargestellt, bedeutete die Interessenidentität zwischen Fürst und Untertanen, die allein in der Politik nach „System“ gewährleistet schien, nicht nur die Erfüllung einer Verpflichtung des Fürsten gegenüber den Untertanen, sondern zugleich eine neue Rechtfertigung für diesen, von den Bürgern prinzipiell unbe-

81 Hartung: Absolutismus (wie Anm. 2), S. 62 ff. 82 Friedrich der Große: Mémoires pour servir à l’histoire de la maison de Brandebourg. Oeuvres. Bd. 1. Berlin 1846, S. 126.

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grenzte Leistungen zu fordern, solange das Existenzbedürfnis des Staates selbst dadurch nicht gefährdet wurde, und ihnen gegebenenfalls bestimmte Rollen zuzuweisen. Damit hing unmittelbar sein Interesse zusammen, die Leistungsbereitschaft und die Leistungsfähigkeit der Untertanen zu steigern. In dieser Absicht konnte er sowohl zu Maßnahmen greifen, die wie eine Bevormundung aussehen, als auch zu solchen Entscheidungen kommen, die wie eine Vorwegnahme späterer „liberaler“ Errungenschaften wirken. Ein Beispiel für die erste Art von Maßnahmen ist der Versuch Friedrichs, den preußischen Adel gegen dessen Widerstand zur Einführung von Majoraten zu bewegen, um ihn vor wirtschaftlichem und damit auch politischem Niedergang zu bewahren. Ein Beispiel für die zweite Art von Maßnahmen ist die Politik religiöser Toleranz, die Friedrich mehrfach damit begründet hat, dass mit ihr nicht nur innerstaatlichen Konflikten und der Abwanderung religiöser Minderheiten vorgebeugt, sondern auch die Zuwanderung anderswo benachteiligter Gruppen gefördert würde: Le faux zèle est un tyran qui dépeuple les provinces: la tolérance est une tendre mère qui les soigne et les fait fleurir.⁸³

In beiden Fällen ist der Zweck vorrangig staatlich-machtpolitisch. Des Adels bedurfte Friedrich im Offizierkorps und in den höheren Rängen der Verwaltung, und eine zahlreiche, tatkräftige und wohlhabende Bevölkerung galt als eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Macht eines Staates überhaupt. In beiden Fällen ist aber auch offenkundig, warum Friedrich es als ein „Glück“ für die Untertanen – wozu hier auch der Adel zu rechnen ist – erklären konnte, wenn seine Absichten erfüllt würden. Denn dass die Erhaltung des Adels dessen eigenem wohlverstandenen Interesse entsprechen musste, liegt ebenso nahe wie die Überzeugung, dass die Freiheit ihrer Religionsausübung und die friedliche Verfolgung ihrer wirtschaftlichen Ziele für alle Untertanen ein elementares Bedürfnis sei. Es gab keinen Gegensatz zwischen Staatsräson und Wohlfahrtspolitik: vielmehr betrachtete Friedrich die Wohlfahrt der Untertanen als notwendige Voraussetzung für die Machtbehauptung des Staates – ein Gedanke übrigens, der sich bereits bei den Kameralisten des 17. Jahrhunderts wie Becher, Schröder und Hörnigk fin-

83 Ebd., S. 212. Vgl. auch: Ders.: Testament politique (1752) (wie Anm. 10), S. 31: sollte der Souverän eine der verschiedenen Religionen bevorzugen, so wäre es unvermeidlich, dass „on verrait d’abord se former des partis, les disputes s’échauffer, les persécutions commencer peu à peu et enfin la religion persécutée quitter sa patrie et des milliers de sujets enrichir nos voisins de leur nombre et de leur industrie“.

86 | II Herrscher und Herrschaft det.⁸⁴ Bezeichnenderweise erklärte Friedrich die Tatsache, dass so viele Staaten nicht nach diesen Grundsätzen regiert würden, nicht mit dem Eigennutz ihrer Fürsten, sondern damit, dass diese zu wenig über ihre Aufgaben nachgedacht hätten.⁸⁵ Die gedankliche Nähe zum despotisme naturel de l’évidence von Le Mercier de La Rivière ist nicht zu übersehen,⁸⁶ und wenn Friedrich es im Interesse des „bien de l’humanité“ für notwendig erklärte, dass alle Monarchen nach den Regeln dieser wohlverstandenen Staatsräson regierten, so wird zugleich der universale, menschheitliche Anspruch dieser Theorie deutlich.⁸⁷ Es kommt für das Verständnis solcher fürstlichen Wohlfahrtspolitik entscheidend darauf an, dass sie im Unterschied zu den liberalen Idealen einer späteren Zeit nicht im abstrakten Gedanken von individuellen Menschenrechten wurzelte. Wenn die „Sicherheit des Besitzes“ – oder allgemeiner: der subjektiven Rechte – die „Grundlage“ der bürgerlichen Gesellschaft und „jeder guten Regierung“ sein sollte,⁸⁸ so war dies nicht so sehr als ein rechtliches Postulat, sondern vielmehr als staatspolitische Klugheitsregel gemeint. Nur in einer Rechtsordnung konnten sich geregeltes wirtschaftliches Leben und privater Wohlstand entwickeln; diese aber bildeten die Voraussetzung für die Machtbehauptung des Staates. Vom Standpunkt des absoluten Fürsten aus waren die dargestellten Grundsätze in sich schlüssig und folgerichtig und enthielten auch nicht halbherzige Konzessionen an Ideen, in deren Konsequenz die Aufhebung des Absolutismus selbst gelegen hätte. So lässt sich zeigen, dass einige der Reformen, die Friedrich im Namen der Vernunft für seinen Staat forderte, durchaus nicht in Richtungen wiesen, die von einem liberalen Standpunkt aus als fortschrittlich bezeichnet werden könnten. Gerade der Plan, die Bildung von Familienfideikommissen zu fördern, wie überhaupt die gesamte Adelspolitik Friedrichs passen nicht im mindesten in das Bild des aufgeklärten Fürsten, wenn der Ausdruck Aufklärung in dieser Begriffsverbindung als Vorstufe des Liberalismus missverstanden wird. Wenn Friedrich diejenigen Fürsten verurteilte, die ihre Macht nur zur Befriedigung ihrer kurzsichtigen privaten Neigungen gebrauchten, so wollte er den Zweck des Staates stattdessen doch ebensowenig auf den Schutz der Privatinteressen aller einzelnen Bürger beschränken. Das Gemeinwohl war ihm nicht gleichbedeutend

84 Den leichtesten Zugang vermittelt noch immer: Kurt Zielenziger: Die alten deutschen Kameralisten. Ein Beitrag zur Geschichte der Nationalökonomie und zum Problem des Merkantilismus. Jena 1914. 85 Vgl. oben. 86 Vgl. oben. 87 Friedrich der Große: Essai (wie Anm. 36), S. 210, 88. 88 Ders.: Testament politique (1768) (wie Anm. 10), S. 111: „Sûreté des biens, sûreté des possessions: voilà le fondement de toute société et de tout bon gouvernement.“

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mit der Summe des Wohls aller Untertanen. Der Gedanke, dass der Staat seine Aufgabe darin sehen sollte, den Schutz eines beliebigen Tuns und Lassens seiner Bürger zu gewährleisten, lag ihm ganz ferne. Wo er von ihren Unternehmungen spricht, überwiegen die Überlegungen, wie er sie dazu bringen könne, sich so zu verhalten, damit das Interesse des Staates am wirksamsten befördert werde: „Cette nation est lourde et paresseuse. Ce sont deux défauts contre lesquels le gouvernement a sans cesse à lutter.“⁸⁹ Hier hielt er auch wohlmeinenden Zwang für angebracht und war sich dabei dessen bewusst, dass er den Eindruck von Gewalttätigkeit nicht vermeiden konnte: obwohl er den Leuten nur Gutes getan habe, dächten sie „que je leur vais porter le couteau à la gorge, dès qu’il s’agit de faire quelque réforme utile ou quelque changement nécessaire“.⁹⁰ In einem berühmten Aufsatz hat Rudolf Stadelmann vor Jahren die These aufgestellt, die Revolution habe im Jahre 1789 deshalb nicht auch auf Deutschland übergegriffen, weil der Absolutismus in maßgebenden deutschen Staaten aufgeklärt gewesen sei.⁹¹ Das kann nichts anderes heißen, als dass wesentliche Forderungen, die in Frankreich damals auf revolutionärem Wege erhoben wurden, in Deutschland bereits erfüllt gewesen seien, oder zumindest, dass die deutschen Fürsten durch ihr Gesamtverhalten Anlass zu der sicheren Erwartung gegeben hätten, dass wenigstens die wichtigsten Forderungen früher oder später aus freien Stücken von ihnen bewilligt würden. Sofern diese These mittelbar eine Aussage über die Bedingungen für Revolution am Ausgang des 18. Jahrhunderts enthält, lassen sich ohne Zweifel von verschiedenen Seiten her kritische Einwände dagegen erheben. Die Verschiedenartigkeit der gesellschaftlichen Voraussetzungen in Deutschland und Frankreich scheint darin zu wenig gewürdigt zu sein, ebenso die staatliche Zersplitterung Deutschlands und das Fehlen eines zugleich administrativen, politischen und gesellschaftlichen Mittelpunkts, wie Paris ihn für Frankreich bildete. Doch mit Hinweisen dieser Art wäre nicht widerlegt, dass eine wesentliche Ursache für das Ausbleiben der Revolution in Deutschland auch darin gesehen werden müsse, dass der Absolutismus hier längst damit begonnen habe, durch Reform von sich aus zu verwirklichen, was in Frankreich nur durch Revolution erzwungen werden konnte. Wenn diese These richtig ist, so müsste mit Bezug auf Preußen erklärt werden, inwiefern Friedrichs Regierungssystem bei denjenigen sozialen Gruppen, die als Wortführer der Opposition in Frage gekommen wären – Publizisten, Philo-

89 Ebd., S. 129. 90 Ebd. 91 Rudolf Stadelmann: Deutschland und die westeuropäischen Revolutionen. In: Ders.: Deutschland und Westeuropa. Laupheim 1948, S. 11–33.

88 | II Herrscher und Herrschaft sophen, vielleicht sogar Staatsbeamte –, die Zuversicht bewirken konnte, dass Deutschland auch ohne gewaltsamen Umsturz in den Genuss der Freiheit kommen werde. Das berühmte Wort Schlözers, dass in Deutschland die von unten kommende Aufklärung auch oben an Aufklärung treffe, muss etwas anderes bedeuten, als dass dem Freiheitsstreben des Untertanen ein Fürst gegenübertrat, der den Staat in ausschließlicher Verantwortung nach rationellen Grundsätzen als Machtorganisation zu leiten beanspruchte.⁹² In der Tat lässt sich zeigen, dass Schlözer nicht diese Seite der friderizianischen Staatsauffassung im Auge hatte. Vielmehr dachte er an die Abstellung aller Art von Missbräuchen, an den Verzicht auf höfischen Luxus, an die Milderung von Erbuntertänigkeit und Zensur, und er deutete diese Tatsachen als Anfänge der „ruhigen Wiedereroberung verlorener Menschenrechte“.⁹³ Wie sehr er sie als bloße Anfänge auffasste, zeigt sich an der Liste dessen, was er noch erwartete: jährlichen öffentlichen Rechenschaftsbericht über den Finanzhaushalt; Einrichtung von „Ständen“ mit Repräsentativcharakter und „legaler Publizität“ der Verhandlungen; Abschaffung aller Steuerprivilegien; gleichen Zugang zu Staatsämtern für alle usw.⁹⁴ Das heißt aber: Schlözer unterstellte Friedrichs rationalistischer, Staatsinteresse und Wohlfahrt der Untertanen zugleich befördernder Regierungsweise „liberale“ Motive, die der König niemals besessen hatte. Selbst aus Svarez’ Vorträgen vor dem Kronprinzen, dem späteren König Friedrich Wilhelm III., lassen sich Tendenzen zu einer stärkeren Betonung der individuellen Rechte heraushören, als bei Friedrich zu erkennen sind. Wenn Svarez dem „Oberhaupt des Staats [. . . ] die Pflicht und also auch das Recht“ zuspricht, „die äußeren freien Handlungen aller Einwohner des Staats nach den Zwecken desselben zu leiten und zu bestimmen“⁹⁵, so folgt er damit zwar getreu dem friderizianischen Grundsatz, dass die Freiheit des individuellen Tuns und Lassens dem Staatszweck untergeordnet bleiben müsse, aber zugleich liegt in der Betonung dessen, dass dabei nur die „äußeren“ Handlungen in Frage stehen, ein Moment der prinzipiellen Abgrenzung eines Freiraums für den einzelnen Untertanen, das sich in dieser Form bei Friedrich nicht findet. Auch Friedrich konnte schreiben, es sei „de toute évidence que le souverain n’a aucun droit sur la façon de penser des citoyens“, aber er verband diese Feststellung sofort mit der Bemerkung, diese Toleranz sei zugleich „si avantageuse aux sociétés où elle est établie, qu’elle fait le

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August Ludwig Schlözer: Staatsanzeigen. Bd. 16. H. 61. Göttingen 1791, S. 96. Ebd. Ders.: Allgemeines Statsrecht und Statsverfassungslehre. Göttingen 1793, S. 165 f. Svarez: Vorträge (wie Anm. 47), S. 229.

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bonheur de l’État“⁹⁶, und oft genug sprach er ausschließlich von den materiellen Vorteilen der Religionsfreiheit.⁹⁷ Demgegenüber erscheint der Toleranzgedanke bei Svarez von allen utilitaristischen Motiven gereinigt: „Innere Handlungen der menschlichen Seele können durch äußeren Zwang nicht bestimmt werden [. . . ] Gesetze also, welche Denk- und Gewissensfreiheit auf irgendeine Art verbieten oder einschränken wollen, sind keine Gesetze.“⁹⁸ Auch Kant hat das „Zeitalter der Aufklärung“ als „das Jahrhundert Friederichs“ gerühmt, weil dieser es „für Pflicht“ erklärt habe, „in Religionsdingen den Menschen nichts vorzuschreiben, [. . . ] und jedem frei ließ, sich in allem, was Gewissensangelegenheit ist, seiner eigenen Vernunft zu bedienen“.⁹⁹ Andererseits erkannte gerade Kant, dass die Erweiterung des persönlichen Freiheitsraums in seiner Zeit auch durch den Gang der Verhältnisse erzwungen wurde: „bürgerliche Freiheit kann jetzt auch nicht sehr wohl angetastet werden, ohne den Nachteil davon in allen Gewerben, vornehmlich dem Handel, dadurch aber auch die Abnahme der Kräfte des Staats im äußeren Verhältnisse, zu fühlen. Diese Freiheit geht aber allmählich weiter. Wenn man den Bürger hindert, seine Wohlfahrt auf alle ihm selbst beliebige Art, die nur mit der Freiheit anderer zusammen bestehen kann, zu suchen, so hemmet man die Lebhaftigkeit des durchgängigen Betriebes, und hiemit wiederum die Kräfte des Ganzen.“¹⁰⁰ Wie für Schlözer, so liegt auch für Kant die eigentliche Bedeutung des aufgeklärten Absolutismus darin, dass er den Übergang zu einer Monarchie mit Repräsentativverfassung – in Kants Terminologie: zu einer „republikanischen“ Verfassung¹⁰¹ – bilde. Da die sofortige und abrupte Einführung einer solchen Verfassung mit großen Nachteilen verbunden sein könne, so begnügt sich Kant für eine Zwischenzeit auch damit, „daß wenigstens die Maxime der Notwendigkeit einer solchen Abänderung dem Machthabenden innigst beiwohne, um in beständiger Annäherung zu dem Zwecke (der nach Rechtsgesetzen besten Verfassung) zu bleiben.“ Der aufgeklärte Fürstenstaat erscheint somit als ein reines und von vornherein, d. h. seinem Wesen nach begrenztes Durchgangsstadium: „Ein Staat kann sich auch schon republikanisch regieren, wenn er gleich noch, der vorliegenden Konstitution nach, despotische Herrschermacht besitzt.“¹⁰²

96 Friedrich der Große: Essai (wie Anm. 36), S. 208. 97 Vgl. oben. 98 Svarez: Vorträge (wie Anm. 47), S. 231. 99 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Polit. Schr. Hrsg. v. Otto Heinrich v. der Gablentz. Köln, Opladen 1965, S. 6 f. 100 Ders.: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Ebd., S. 20 f. 101 Ders.: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, ebd., S. 113 f. 102 Ebd., S. 135. Vgl. ebd., S. 114.

90 | II Herrscher und Herrschaft Nimmt man die zitierten Zeugnisse zusammen, so zeigt sich, dass die Zuversicht maßgebender Zeitgenossen der Französischen Revolution in Deutschland, durch eine schrittweise Reform die Freiheit verwirklicht zu sehen, auf Erwartungen gegründet war, die der aufgeklärte Absolutismus Friedrichs zwar geweckt, doch nur als Folgewirkung einer ganz anders motivierten Politik in Ansätzen verwirklicht hatte. Diese Erwartungen entsprangen in Wahrheit einer Missdeutung der Intentionen des preußischen Königs.¹⁰³ Zur Präzisierung der These Stadelmanns wäre dementsprechend darauf hinzuweisen, dass Friedrichs aufgeklärter Absolutismus auf die öffentliche Meinung der Revolutionsepoche weniger durch dasjenige wirkte, was er selbst gewesen ist oder gewollt hat, als vielmehr durch das Bild, das seine Bewunderer von ihm verbreiteten. Erst vom Standpunkt individualistischer, „liberaler“ Erwartungen aus konnte der aufgeklärte Absolutismus unter dem Aspekt der möglichen Alternative zur Revolution gesehen werden. Dies war jedoch nicht der Blickwinkel Friedrichs selbst. Er stand theoretisch noch ganz auf dem Boden der aristotelischen Tradition und formulierte von dieser Ebene aus die Anforderungen an die legitime monarchische Regierung. Diese Fehldeutung wirkt bis heute fort. Auch wenn die Forschung längst anerkannt hat, dass es nicht anginge, den aufgeklärten Fürsten die freiheitlichen Ziele der Revolution zu unterstellen, so zeigt sich doch fast überall die Tendenz, den aufgeklärten Absolutismus in der einen oder anderen Form als den aussichtslosen Versuch zu interpretieren, Aufklärung und unumschränkte Monarchie und damit auf der Ebene solcher Allgemeinbestimmungen letztlich Widersprechendes zusammenzuzwingen. Er erscheint daher durchweg schon von vornherein darauf angelegt, ein bloß labiles Übergangsstadium zu bilden, das sich früher oder später entweder für den Absolutismus oder für die Aufklärung entscheiden musste. Eine solche Charakterisierung träfe mit Bezug auf die Geschichte Preußens sehr viel mehr auf die Epoche der Reform zu. Nicht zufällig zeigt sich jedoch der grundlegende Unterschied zwischen der Reform und dem aufgeklärten Absolutismus gerade darin, dass die Reformer ihr Werk durch eine Verfassung krönen und damit ganz bewusst das absolutistische System überwinden wollten. Die innere Widersprüchlichkeit liegt daher auch bei der Reform nicht in der Konzeption, sondern folgt lediglich daraus, dass sie nicht vollendet wurde. Im übrigen lässt sich am Vergleich zwischen aufgeklärtem Absolutismus und Reform in Preußen vielleicht noch deutlicher zeigen, auf welche Weise der

103 Vgl. Möller: Aufklärung in Preußen (wie Anm. 11), S. 562: Nicolai habe „Preußen für einen der aufgeklärtesten Staaten“ gehalten, „keineswegs aber schon für aufgeklärt“, ebd., S. 564: den Berliner Aufklärern sei Friedrich II. als „die Gewähr“ dafür erschienen, „daß die Verbindung von Aufklärung und Absolutismus möglich war“.

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aufgeklärte Absolutismus sich von Aufklärung bestimmen ließ, als wenn man nur versucht, ihn von einem nicht aufgeklärten Absolutismus abzuheben. Die unterschiedliche Zielsetzung drückt sich besonders einprägsam in der Bildungspolitik aus. Für Friedrich den Großen, für die Unterrichtsminister Zedlitz und Massow war das Erziehungsideal dem Staatszweck untergeordnet.¹⁰⁴ Die Untertanen sollten diejenigen Kenntnisse und Fertigkeiten entwickeln, die ihnen zum Wohle des Staates nützlich sein würden. Dementsprechend musste „der Bauer anders wie der künftige Gewerbe oder mechanische Handwerke treibende Bürger und dieser wiederum anders als der künftige Gelehrte oder zu höheren Ämtern des Staates bestimmte Jüngling unterrichtet werden“¹⁰⁵. Die Erziehung sollte „nur die Fähigkeiten“, deren die Gesellschaft unmittelbar bedurfte, „in Tätigkeit setzen“.¹⁰⁶ Humboldt dagegen stellte schon in seinen „Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ von 1792 dieser Erziehung zum Bürger das Ideal einer Erziehung zum Menschen gegenüber und forderte, dass „die freieste, so wenig als möglich schon auf die bürgerlichen Verhältnisse gerichtete Bildung des Menschen“ überall vorangehe. Die Verfassung eines Staates hielt er für umso vernünftiger, je mehr sie es ermöglichte, dass die Erziehung zum Menschen und die Erziehung zum Bürger zusammenfielen, so dass „sich die natürliche Gestalt des Menschen, ohne etwas aufzuopfern, erhalten“ konnte.¹⁰⁷ Damit machte Humboldt den Menschen als solchen und sein unveräußerliches Recht auf umfassende Bildung zum Prüfstein und Maßstab für die Legitimität der Staatsordnung. Der Staat sollte nach dem Interesse des Menschen, nicht mehr der Mensch nach den Interessen des Staates geformt werden.¹⁰⁸ 104 Über die Entwicklung der bildungspolitischen Konzeptionen im Übergang von der friderizianischen Epoche zur Reformzeit vgl. zuletzt: Karl-Ernst Jeismann: Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft. Die Entstehung des Gymnasiums als Schule des Staates und der Gebildeten, 1787–1817. Stuttgart 1974. 105 Karl Abraham Frh. v. Zedlitz in: DZA, Rep. 76 alt, I, Nr. 1, Fol. 4; zit. Jeismann: Das preußische Gymnasium (wie Anm. 104), S. 79. 106 Wilhelm Dilthey: Friedrich der Große und die deutsche Aufklärung. Ges. Schr. Bd. 3. Leipzig, Berlin 1927, S. 168. 107 Wilhelm v. Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. Ges. Schr. 1. Abt. Hrsg. v. A. Leitzmann. Bd. 1. Berlin 1903, S. 143 f. Vgl. die Formulierung Hardenbergs in der Rigaer Denkschrift von 1807 in: Die Reorganisation des Preußischen Staates unter Stein und Hardenberg. 1. TI.: Allgemeine Verwaltungs- und Behördenreform. Hrsg. v. Georg Winter. Bd. 1. Leipzig 1931, S. 306: „Also eine Revolution im guten Sinn, gerade hinführend zu dem großen Zwecke der Veredelung der Menschheit, durch Weisheit der Regierung und nicht durch gewaltsame Impulsion von innen oder außen, – das ist unser Ziel, unser leitendes Prinzip.“ 108 Durch die Betonung dieses Gegensatzes zwischen aufgeklärtem Absolutismus und Reform in Preußen unterscheidet sich die vorliegende Untersuchung von dem Aufsatz von Eberhard

92 | II Herrscher und Herrschaft Eine Antwort auf die Frage nach dem Begriff, und das heißt zugleich: nach der Eigenständigkeit des aufgeklärten Absolutismus innerhalb der Geschichte der europäischen Monarchie der Neuzeit konnte hier nur unter dem Vorbehalt versucht werden, dass die für Friedrich den Großen nachgewiesenen Züge sich bei den anderen Herrschern, die gewöhnlich als aufgeklärt bezeichnet werden, wiederfinden. Wenn man, wie oben vorgeschlagen, den aufgeklärten Absolutismus als Typus versteht, der sich über einen längeren Zeitraum hin entwickelt hat, so entgeht man der misslichen Alternative, entweder seine Merkmale auf die Differenz zu reduzieren, die seine Vertreter von ihren Vorgängern unterschied, oder den Begriff so auszudehnen, dass seine Bindung an den für Friedrich und sein Jahrhundert so charakteristischen Vernunftglauben sich gänzlich verflüchtigt. Vor allem aber lässt sich nach dieser Auffassung jedenfalls für Preußen belegen, dass der aufgeklärte Absolutismus nicht nur ein Gedankengebäude, sondern in großem Umfang Wirklichkeit war: der zuletzt von Otto Büsch herausgearbeitete Zusammenhang von Sozialstruktur, Wirtschaftsverfassung und Militärsystem, der in den Hauptzügen bereits von Friedrich Wilhelm I. gestiftet worden war, ist aufgeklärter Absolutismus in der Praxis, auch wenn anzunehmen ist, dass er in dieser Form noch nicht den Idealen Friedrichs entsprach.¹⁰⁹ Schon in der Umdeutung der geburtsständischen Gliederung der Gesellschaft in eine berufsständische, wie sie in Übereinstimmung mit der friderizianischen Tradition das Allgemeine Landrecht offenbart,¹¹⁰ zeigt sich, dass in Preußen nicht nur mit Rücksicht auf einzelne, gleichsam isolierbare Reformen im Sinne der Aufklärungsphilosophie von aufgeklärtem Absolutismus gesprochen werden darf, sondern dass sein Wesen in erster Linie darin bestand, dass er den Staat und die historisch überkommenen Institutionen in ein zweckrationales System zu bringen suchte; nur was der Effizienz und Logik des Systems zuwiderlief, wurde abgebaut; nur was sie beförderte, wurde neu geschaffen. Dies war jedenfalls das Programm. Dass es in der Praxis niemals vollendet wurde, versteht sich von selbst. Wie bereits dargelegt, hat Friedrich ausdrücklich bedauert, dass er die Erbuntertänigkeit in seinen Staaten nicht ohne weiteres aufheben könne, und für die Verwirklichung der Erziehungspläne stellte er die finanziellen Mittel nicht zur Verfügung.¹¹¹ Auf dem Gebiet der auswärtigen Bezie-

Weis: Absolute Monarchie und Reform in Deutschland des späten 18. und des frühen 19. Jahrhunderts. In: Geschichte in der Gesellschaft. Fschr. Karl Bosl. Stuttgart 1974, S. 436–461, bes. S. 454 ff. 109 Otto Büsch: Militärsystem und Sozialleben im alten Preußen 1713–1807. Die Anfänge der sozialen Militarisierung der preußisch-deutschen Gesellschaft. Berlin 1962. 110 Reinhart Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848. 2. Aufl. Stuttgart 1975, S. 74 ff. 111 Jeismann: Das preußische Gymnasium (wie Anm. 104), S. 75.

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hungen erscheint die Erwerbung Westpreußens als ein Stück aufgeklärter Politik. Die Abschaffung der Tortur, der Toleranzgedanke, die Justizreform und das große Kodifikationswerk bleiben somit nicht die einzigen praktischen Errungenschaften dieses Regierungssystems. Aus vereinzelten in die Zukunft weisenden Signalen aus einer im übrigen rückständigen Epoche werden sie in der hier entwickelten Sicht allerdings zu wichtigen Elementen eines durchaus in sich geschlossenen politischen Systems. Sie sollten die Untertanen vor Beunruhigung und Schikanen schützen; sie dienten der inneren Befriedung und erfüllten damit vom Standpunkt des Staates aus den Zweck, der je individuellen wirtschaftlichen Betätigung zum Wohle des Ganzen den höchstmöglichen Wirkungsgrad zu verleihen. Wenn sich somit die Inanspruchnahme und Aktivierung aller gesellschaftlichen Kräfte durch den Staat und für den Staat als eine der wesentlichen Tendenzen des aufgeklärten Absolutismus zeigt, so scheint darin eine Bestätigung derjenigen Auffassungen zu liegen, die unter Hinweis auf die Regierungspraxis der sogenannten aufgeklärten Fürsten der Unterscheidung einer besonderen Epoche eines aufgeklärten Absolutismus mit Skepsis begegnen. Unter den neueren Autoren haben vor allem Charles Morazé und François Bluche auf den Modellcharakter der englischen Wirtschaftspolitik und des Staates Ludwigs XIV. für Friedrich den Großen und die anderen „aufgeklärten“ Fürsten hingewiesen, um damit die Einheit des gesamten Zeitalters zu unterstreichen.¹¹² Über der unbestreitbaren Gleichartigkeit der auf Selbstbehauptung und Machterweiterung ihrer Staaten gerichteten Fundamentalziele der absoluten Herrscher sollte jedoch nicht übersehen werden, dass eine solche Politik auf dem Boden einer relativ kleinen und an natürlichen Hilfsmitteln armen Macht nicht nur zur Straffung und Rationalisierung des gesamten staatlichen Betriebs in zuvor unbekanntem Ausmaß führen, sondern notwendig auch ein gesteigertes Interesse des Staates an der Leistungsfähigkeit und dem Leistungswillen der Untertanen zur Folge haben musste. Dieser Zusammenhang rechtfertigt es auch auf dem Standpunkt einer rein auf die politische Wirklichkeit gerichteten Sehweise, am aufgeklärten Absolutismus als einer besonderen Ausprägung des Absolutismus festzuhalten.

112 Charles Morazé: Finance et despotisme. Essai sur les despotes éclairés. In: Annales 3 (1948), S. 279. 293 ff.; François Bluche: Le despotisme éclairé. O. O. 1968, S. 37, 41, 341 ff., 354 u. ö.

The Breakdown of the Rule of Law. A Comparative View of the Depositions of George III, Louis XVI and Napoleon I The* deposition of a king cannot but constitute a breach of the law. Whenever a king is deposed, his right to rule and his right to bequeath his throne to his heirs are taken from him. By contrast, in pre-revolutionary Europe depositions were usually justified by the failure of the monarchs in question to grant, and by the intention of those who deposed them, to defend and to restore the rule of law. The deposition was thus presented as a measure aiming at the repair of an earlier breach of law that had been committed not by the subjects, but by the sovereign. One of the most famous examples of this kind of reasoning was applied to justify the deposition of James II in 1688. James was deposed because he allegedly had endeavoured ‘to subvert and extirpate the Protestant religion and the laws and liberties’ of the kingdom; in deposing him the ‘Lords Spiritual and Temporal and Commons’ aimed at ‘vindicating and asserting their ancient rights and liberties’.¹ Therefore, the deposition of James II, even though his right to the throne was disregarded, and the other cases in European history which belong to the same type, must not be interpreted as a breakdown of the rule of law but rather as a restoration and a confirmation of it. By contrast, from the middle of the nineteenth century, rulers were no longer deposed with the intention to maintain and secure the rule of law. Instead, they were overthrown because they had failed to meet certain expectations with which they had come to be associated – be it democracy as in the case of Louis-Philippe in 1848, or victory, as in the case of Napoleon III in 1870. The first departures from the traditional reasoning occurred in the age of the American and French revolutions. The three deposition processes to be analysed here in different respects constitute hybrid cases which still partook of the ancient legalistic idea that a king could not be rightfully deposed unless it had been demonstrated that he had broken the law, but did not ultimately restore the law that had been violated. Instead, the vacancy of the throne was used as an opportunity for the establishment of an entirely new political structure. Those who

* First publication in: Robert von Friedeburg (ed.): Murder and Monarchy. Regicide in European History, 1300–1800. Houndmills 2004, pp. 259–89. 1 An Act Declaring the Rights and Liberties of the Subject and Settling the Succession of the Crown (1689), in: A. Browning (ed.), English Historical Documents, vol. 6: 1660–1914, London 1966, pp. 123–4.

96 | II Herrscher und Herrschaft deposed the monarchs in question either did not want to restore the constitutions that had allegedly been infringed, or they failed when attempting to do so: America in 1776 and France in 1792 became republics, and the fall of Napoleon in 1814 paved the way for the restoration of monarchy by divine right. In this sense it appears appropriate to state that, other than most depositions of the preceding centuries, the three depositions in question brought about the breakdown of the rule of the law that had hitherto been in force, and ended in the establishment of new constitutions based on different principles of sovereignty. The following interpretations rest on the supposition that the Declaration of Rights of 1688 reflects the principles both of royal legitimacy and of legalism in dealing with an unlawful ruler in early modern Europe. The Declaration is therefore used as a point of reference in analysing the deposition of George III in 1776, of Louis XVI in 1792, and of Napoleon I in 1814. The comparative analysis will place its focus on the relationship which existed in all three of the selected cases between the deposition itself and the establishment of the following regime. As has been pointed out, the Declaration of Rights of 1688 was based on the idea that the deposition of James II was necessary in order to preserve the existing constitution. Even though the king’s legitimate successor, his recently born son by Maria di Modena, was excluded, parliament felt obliged to depart as little as possible from the lawful line of succession and appointed James’s eldest daughter Mary and her husband and cousin, William of Orange, to the throne. If both the deposition and the appointment of the new ruler are justified in terms of the established and preexisting law, the procedure may be classified as legalistic in the full sense of the term and thus distinguished from other types of justification.

1776: legalism or natural rights? It has long been observed that the American colonists used almost exclusively legal arguments to justify their opposition to British taxation and other unwelcome acts of parliament. The opposing pamphleteers pretended to defend the British constitution and the English legal tradition from the alleged encroachments originating from London, in much the same way as parliament in 1688 had defended the constitution against James II. As Edmund Burke pointed out as early as 1775, the spokesmen of the American colonists were well trained in English law, and they invoked English law to justify their opposition.² As early

2 Edmund Burke: Speech on Conciliation with the Colonies, 22 March 1775, in: Burke: Select Works, ed. by E. J. Payne, vol. 1, new edn., Oxford 1904, pp. 182–3.

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as 1929, the German historian Otto Vossler has shown that by this legalistic line of reasoning based on the ancient law of England, the American revolutionaries differed fundamentally from their French counterparts of 1789. Instead of having recourse to abstract human rights derived from philosophical speculation, they appealed to the existing English law, inherited from the preceding generations, in order to obtain redress for their grievances.³ Among the various sources on which Vossler based this interpretation, may be cited a remark by Thomas Jefferson in a letter to John Randolph from 25 August 1775: ‘My first wish is a restoration of our just rights’.⁴ Indeed, the American colonists invoked Magna Carta, Chief Justice Edward Coke and the common law and protested their birthright of natural born Englishmen. James Dickinson’s Letters from a Farmer in Pennsylvania of 1768 are a case in point. In determining the rights of the Americans Dickinson claimed to have ‘looked over every statute relating to these colonies’. When he protested against the imposition of revenues through parliament he did not argue that these were against natural right, but pointed out that never before ‘did the British Parliament [. . . ] think of imposing duties in America for the purpose of raising a revenue’. Dickinson calls this ‘an innovation; and a most dangerous innovation’.⁵ This term in itself shows how the criterion of right or wrong was the legal tradition of England and no abstract philosophical principle. When in 1776 the Continental Congress decided to secede from Great Britain, they saw fit to explain their grounds for this move, in a public declaration. During the constitutional conflict dating from 1763 the American colonists had stepby-step come to the conclusion that parliament had no jurisdiction over them at all. So that was why, in 1776, they did not declare independence from the body which had actually governed the colonies in the past, but from the king alone. This makes the declaration of Congress a somewhat fictitious document. Without the consent of parliament, none of the several duties and taxes about which the colonists had so vociferously complained could have been imposed on them, not to speak of the coercive acts of 1774. If these acts were tyrannical, as the colonists asserted, the tyrant was not so much the king but parliament. It should be kept in mind, of course, that the Continental Congress sought to achieve independence from Great Britain in a legally incontestable way. Otherwise it might have

3 Otto Vossler: Die Amerikanischen Revolutionsideale in ihrem Verhältnis zu den europäischen, untersucht an Thomas Jefferson (Beiheft 17 der Historischen Zeitschrift), München/Berlin 1929, pp. 11–7 and passim. 4 Thomas Jefferson to John Randolph, August 25, 1775, in: Julian P. Boyd (ed.), The Papers of Thomas Jefferson, vol. 1 (1760–76), Princeton 1950, p. 241. 5 John Dickinson: Letters from a Farmer in Pennsylvania, to the Inhabitants of the British Colonies, with an Historical Introduction by R. T. H. Halsey, New York 1903, pp. 13, 17, 19.

98 | II Herrscher und Herrschaft proved difficult to find the required support both among the American colonists and among foreign powers. Declaring oneself independent of the king meant declaring him deposed. It is for this reason that the Declaration of Rights of 1688 was used as a model for the American Declaration of Independence. Like the Declaration of Rights the Declaration of Independence contains a long list of charges against the king from which the conclusion is drawn – more expressly than in 1688 – that by the acts cited therein king George III had revealed himself a ‘tyrant’.⁶ Thomas Jefferson, the principal author of the Declaration of Independence, had used the same argument only a few weeks earlier in his draft of a preamble to the constitution of Virginia. This draft resembles the English Declaration of 1688 even more, since it lacks precisely the part for which the Declaration of Independence has become famous: the introductory section on natural rights. Instead it is simply stated that ‘George Guelph King of Great Britain & Ireland and Elector of Hanover, heretofore entrusted with the exercise of the kingly office in this government, hath endeavoured to pervert the same into a detestable & insupportable tyranny’. There follows a long list of alleged abuses which is ended by the conclusion that by these acts ‘George Guelf has forfeited the kingly office, and has rendered it necessary for the preservation of the people that he should be immediately deposed’.⁷ Many of the charges contained in the draft were later literally incorporated into the Declaration of Independence.⁸ There can be no doubt that the two declarations had a specific function within the constitutional conflict between the colonies and their king. They were legal documents designed for the purpose of showing that the colonists were right, not only in their complaints, but also in the conclusions they drew from the unlawful behaviour of their sovereign. To them it was essential to demonstrate convincingly that it was the king who was breaking the law, not the colonists. In the preamble to the constitution of Virginia it is stated at the end that ‘George Guelph, not only for his criminal abuses of the high duties of the kingly office, but also by his own free & voluntary act of abandoning & putting us from his allegiance subjection & dominion, may now lawfully, rightfully, & by consent of both parties be divested of the kingly powers’; the use of the word ‘now’ denotes that this conclusion could only have been drawn after it had been proved that by his unlawful acts George III

6 The Declaration of Independence as Adopted by Congress, in: Julian P. Boyd (ed.): The Papers of Thomas Jefferson, vol. 1, op. cit., p. 431. 7 The Virginia Constitution. First Draft by Jefferson, in: Julian P. Boyd (ed.): The Papers of Thomas Jefferson, vol. 1, op. cit., pp. 337–9. 8 Pauline Maier: American Scripture. Making the Declaration of Independence, New York 1997, pp. 105.

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had intended to wield an arbitrary power over the colonies. In the same way the Declaration of Independence, by the enumeration of ‘facts’, undertakes to prove that ‘the history of the present King of Great Britain is a history of repeated injuries and usurpations, all having in direct object the establishment of an absolute Tyranny over these States’, and at the end of the exposition of his abuses the conclusion is drawn that ‘a Prince, whose character is thus marked by every act which may define a Tyrant, is unfit to be the ruler of a free people’.⁹ The close logical connection between the charges against the king and the formula expressing the separation from him was one of the reasons why several historians have argued that from a legal point of view it was not the high-sounding and famous introduction but the second part of the Declaration that really mattered. This was clearly the position of Otto Vossler in 1929, when he pointed to Jefferson’s ‘defensive’ understanding of the revolution and his thoroughly ‘legalistic ideology’: ‘The Americans viewed themselves as the guardians and advocates of the good old law, the English law’.¹⁰ In 1965 Erich Angermann showed that its list of grievances and the corresponding conclusion place the Declaration of Independence in a long tradition of similar declarations in the history of the Western world by which subjects withdrew their allegiance from their sovereigns. The origins of this kind of procedure were to be found in feudal law according to which there was a reciprocal obligation between the ruler and the ruled: for the protection granted by the sovereign the subjects owed allegiance; by consequence it could be argued that as soon as the ruler had manifestly withdrawn his protection, the subjects were absolved from their obligations as well.¹¹ Among the historic precedents of the Declaration of Independence Angermann lists not only the Declaration of Rights of 1688 but also the declaration of the States General of 1581, through which the Netherlands had declared themselves absolved from their obligations towards Philip II of Spain, and the charges levelled at Charles I by the High Court of Parliament in January 1649.¹² To state that the Declaration of Independence was just another instance within this feudal tradition would in fact minimise the importance of Jefferson’s natural rights arguments in the introduction. Jefferson himself had not invoked natural rights in the preamble to the constitution of Virginia, and there are several instances in the Declaration of Independence where the charges against the king

9 The Virginia Constitution, op. cit., p. 340; The Declaration of Independence, op. cit., pp. 430–1. 10 Otto Vossler: Die Amerikanischen Revolutionsideale, op. cit., pp. 79, 15. 11 Erich Angermann: Ständische Rechtstraditionen in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, in: Historische Zeitschrift 200 (1965), p. 65. 12 Ibid., pp. 83–5.

100 | II Herrscher und Herrschaft are clearly not based on a philosophical natural law, but – as in the Declaration of Rights of 1688 – on English law and the British constitution, most unequivocally where the king is blamed for having ‘combined with others to subject us to a jurisdiction foreign to our constitution, and unacknowledged by our laws’ and likewise shortly afterwards, where it is said that ‘the free System of English Laws’ had been abolished ‘in a neighbouring Province’.¹³ But quite apart from these express references to English law it is obvious that so central a charge as having imposed ‘Taxes on us without our Consent’ had during the major part of the conflict been treated, not as a natural right of all mankind but as a principle of the British constitution. In this sense, the Stamp Act Congress of 1765 had resolved that the American subjects of the King of England were ‘intitled to all the inherent rights and liberties of his natural born subjects within the kingdom of Great Britain’ and that it was ‘the undoubted right of Englishmen, that no taxes be imposed on them but with their own consent, given personally or by their representatives’.¹⁴ Garry Wills has pointed out that ‘the entire raison d’être of the Congress, assembled in Philadelphia, was to petition for redress’, by which is meant a procedure clearly based on the existing constitution and aiming at the confirmation of what was regarded as the ancient rights of Englishmen. Therefore, in discussing the Declaration of Independence, it seems no wonder that Congress debated most intensely on the list of grievances proposed in Jefferson’s draft. According to Wills, this list ‘was at the heart of the petitioning process that had led, by way of unredressed grievances, to the great step of independence’. In this sense it is said that the Declaration of Independence ‘signaled the failure of the petitions’ which Congress had deliberated in 1774 and 1775.¹⁵ In 1981 John Phillip Reid confirmed Vossler’s and Angermann’s view – without however even mentioning them – with the observation: ‘Unsupported by any fact is the assumption that when Americans claimed they had a right to consent before being taxed or bound by legislation, they were thinking of a natural right’.¹⁶ Reid has expounded overwhelming evidence to substantiate his thesis that the Declaration of Independence was not a revolutionary manifesto, but a legal document which based the charges against the king not on natural but on British

13 The Declaration of Independence, op. cit., p. 431. 14 Resolutions of the Stamp Act Congress, 19 October 1765, in: Samuel Elliot Morison (ed.): Sources and Documents Illustrating the American Revolution, 2nd edn., Oxford 1929, p. 33. 15 Garry Wills: Inventing America. Jefferson’s Declaration of Independence, Garden City 1978, pp. 57, 63–4. 16 John Philip Reid: The Irrelevance of the Declaration, in: Hendrik Hartog (ed.): Law in the American Revolution and the Revolution in the Law. A Collection of Review Essays on American Legal History, New York and London 1981, p. 63.

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constitutional law: ‘Far from being a statement of abstract, natural principles, the Declaration is a document of peculiarly English constitutional dogmas’.¹⁷ If we assume for a moment that the preamble does not contain the legal substance of the Declaration, and if Vossler, Angermann and Reid are right in their supposition that it was not the law of nature, but the time-honoured English law to which the Continental Congress appealed, the question must be raised as to why the invocation of natural rights, without any express reference to English law, was nevertheless chosen to precede the Declaration. None of the three authors has even tried to answer this question. Both Vossler and Reid, however, have placed great emphasis on the assertion that in the perception of the Americans at the time of the Revolution there was not much of a difference between natural law and the British constitution. Vossler remembers how William Blackstone in his Commentaries on the Laws of England from 1765 had pointed out that the English constitution was based on natural law.¹⁸ Reid points out that ‘almost invariably, when one examines texts cited as evidence by historians that natural law was the basis of prerevolutionary American legal claims, they prove to contain the words ,natural and constitutional‘, and rely on ,constitutional‘ law alone’.¹⁹ Again the conclusion is drawn that the preamble to the Declaration of Independence and its appeal to ‘the Laws of Nature and of Nature’s God’ do not deserve the attention that has long been dedicated to them, beginning with Carl Becker’s statement of 1922 that Jefferson’s preamble is ‘a frank assertion of the right of revolution’.²⁰ It should be clear, however, that a legal document of the kind discussed here must be considered as a carefully constructed whole, the interpretation of which cannot dismiss any part of it as irrelevant. In her recent book on American Scripture Pauline Maier has tried to heed this maxim. She attributed the insertion of the philosophical preface and the arrangement of the whole to the need felt by Jefferson to give the legal document due form and style so as to enable it to gain the support of the colonial population for the cause of independence. In her view, the addition of the preamble was thus a matter of rhetoric, not argument.²¹

17 Ibid., p. 88. 18 Otto Vossler: Die Amerikanischen Revolutionsideale, op. cit., p. 19. 19 John Phillip Reid: The Irrelevance of the Declaration, op. cit., p. 69. 20 Carl Becker: The Declaration of Independence. A Study in the History of Political Ideas, New York 1922, p. 8. 21 Pauline Maier: American Scripture, op. cit., pp. 128–42.

102 | II Herrscher und Herrschaft At first sight, this seems to be a convincing explanation, but a closer analysis soon reveals that the artful disposition of the various linguistic elements within the text does not exclude that the recourse to natural rights philosophy may have had other motives as well. A comparison between the English Declaration of Rights and the Declaration of Independence shows that in 1688 parliament justified the opposition to James II by the need to defend the British constitution from the encroachments of the king. Defending the constitution, however, meant, among others, preserving the monarchy and changing as little as possible the right of succession to the crown. In 1688 it was obvious that the very appeal to the British legal tradition excluded the abolition of the monarchy and the proclamation of a republic. At this point it is worth remembering the way Edmund Burke judged the revolutionary character of the Glorious Revolution: in 1790, in his Reflections on the Revolution in France, he explained how in 1688 the British legislature ‘deviated from the direct line of hereditary succession’; however, when it ‘altered the direction, but kept the principle, they showed that they held it inviolable’.²² A few lines before Burke had explained that it is ‘far from impossible to reconcile [. . . ] the use both of a fixed rule, and an occasional deviation; the sacredness of an hereditary principle of succession in our government, with a power of change in its application in cases of extreme emergency’.²³ From this it follows that in 1776 a declaration on the example of the English Declaration of Rights, such as Jefferson’s preamble to the constitution of Virginia had been, could never have convincingly justified the abolition of the monarchy and the transition to a republic. The proclamation of a republic, however, was exactly what the Continental Congress had decided upon. It is interesting to note that in the preamble to the constitution of Virginia as quoted above, the conclusion from the accumulation of unlawful acts on the part of the king had rested with the assertion that George III was ‘divested of the kingly powers’.²⁴ Nothing was said about his descendants or family, still less about monarchy as such. In the corresponding statement contained in the Declaration of Independence, where the juridical conclusion is drawn from the unlawful acts of the king, it is likewise just this particular king who is said to have forfeited the crown. In other words, the appeal to the British constitution and the existing English law alone would never have justified the abolition of monarchy as such. Interestingly enough, the Declaration vindicates the right of the colonists to establish an entirely new government only in the preamble and again in the last two

22 Edmund Burke: Reflections on the Revolution in France, London and New York 1972, p. 20. 23 Ibid., p. 19. 24 The Virginia Constitution, op. cit., p. 340.

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paragraphs. According to the preamble ‘a long train of abuses and usurpations’ entitled the subjects ‘to throw off such Government, and to provide new Guards for their future security’, or, as the text continues more explicitly, ‘to alter their former Systems of Government’.²⁵ Such a far-reaching conclusion could not have been based on the tradition of English law. Since, however, Jefferson’s assignment had been to explain not only the deposition of the king but also the abolition of monarchy, it appears plausible that more was required than a replica of the Declaration of Rights which had been written with a view to deposing a particular monarch in order to defend and preserve monarchy itself. Obviously, then, at this juncture Jefferson was indeed obliged to make a certain distinction between the English legal tradition and a law of nature which would permit the abolition of monarchy. The Declaration of Independence would thus appear as a justification of two different acts, both contained in the famous resolution of the Continental Congress, adopted on 2 July 1776: by invoking English law, the deposition of George III was declared legal, and by appealing to the law of nature, the proclamation of the republic was declared legitimate. That these distinctions were indeed familiar to contemporaries can be deduced from a section of William Blackstone’s Commentaries on the Laws of England. In discussing the events of 1688, Blackstone says: In particular it is worthy [of] observation that the convention [. . . ] avoided with great wisdom the wild extremes into which the visionary theories of some zealous republicans would have led them. They held that this misconduct of king James amounted to an endeavour to subvert the constitution; and not to an actual subversion, or total dissolution of the government, according to the principles of Mr. Locke: which would have reduced the society almost to a state of nature [. . . ] and would have left the people at liberty to have erected a new system of state upon a new foundation of polity. They therefore very prudently voted it to amount to no more than an abdication of the government, and a consequent vacancy of the throne; whereby the government was allowed to subsist, though the executive magistrate was gone, and the kingly office to remain, though king James was no longer king. And thus the constitution was kept entire.²⁶

It is absolutely certain that Jefferson knew Blackstone’s Commentaries. From the section cited he must have learned two things: first, that the line of reasoning used in the Declaration of Rights of 1688 justified the declaration that the king had abdicated government; secondly, that additional arguments were required if a republic was to be established. It is significant that Blackstone himself pointed

25 Ibid., p. 430. 26 William Blackstone: Commentaries on the Laws of England, 10th edn., London 1787, book 1, ch. 3, pp. 213–14.

104 | II Herrscher und Herrschaft out what kind of arguments were to be expected from ‘zealous republicans’, when he alluded to ‘the principles of Mr. Locke’. Accordingly, Jefferson had to place great emphasis on the assertion that ‘whenever any Form of Government becomes destructive’ of the ends, for which it had been ordained, ‘it is the Right of the People to alter or to abolish it’.²⁷ To sum up, it appears obvious that the Continental Congress took advantage of the traditional method of deposing a sovereign which had on various occasions been used in European, especially in English history. But at the same time Congress defined objectives that could not be justified by any recourse to the British constitution. Thus the maxim of strict legality by which the charges against the king had been introduced in order to justify the withdrawal of allegiance on the part of his American subjects, was not followed when it came to devising a new system of government. To be sure, the colonists could not propose that the lawful successor of George III be made king of America, but they might have followed the example of the States General who almost a year before the deposition of Philip II in 1581 had concluded an agreement with François d’Anjou by which this prince was called upon to serve as their sovereign after the projected dismissal of the king of Spain.²⁸ When later on the Netherlands became a republic, this was the unintended result of the fact that after the premature death of the French prince they had not been able to find another suitable monarch. The partial deviation of the Continental Congress from the example set by the Declaration of Rights in 1688 shows that at the end of the eighteenth century law was about to acquire new meanings. If independence from the king of England was still justified in the traditional way by invoking the historic rights of Englishmen, the establishment of the republic had to be based on entirely new principles. From this angle it appears plausible that Jefferson should affirm that the deposition of the king transferred his subjects back into the state of nature where they were free to choose whatever system of government to them would seem ‘most likely to effect their Safety and Happiness’.²⁹ Clearly, the natural rights argument made the Declaration of Independence a revolutionary document of an entirely different character. Revolution ceased to be regarded essentially as a restoration of ancient principles, as had been the case in 1688. Instead, revolution

27 The Declaration of Independence, op. cit., p. 429. 28 Articles accordés conditionnellement entre le duc d’Anjou et les députés des états généraux, Plessis-les-Tours, 19 septembre 1580, in: Documents concernant les relations entre le duc d’Anjou et les Pays-Bas (1576–1583). Ed. by P. L. Muller and A. Diegerick, vol. 3, Gravenhage 1891, pp. 469–79. 29 The Declaration of Independence, op. cit., p. 429.

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now came to be understood as a new beginning, without precedent, based on popular sovereignty and current ideas of good government alone.

1792: the Limits of constitutionalism Even though the French National Assembly on 11 August 1789 hailed Louis XVI as the restorer of French liberty, obviously in the hope that he would sanction the famous August decrees by which feudalism was declared abolished, there is no doubt that the leaders of the Third Estate, far from resorting to past models of political organisation, aimed at the creation of an entirely new structure.³⁰ In this they followed the lead of Emmanuel-Joseph Sieyès who in his famous pamphlet – What is the Third Estate? – had claimed the constituent power for the nation.³¹ When, on 17 June 1789, the Third Estate transformed themselves into the National Assembly along the lines that had been designed by Sieyès, the king was deprived of the very essence of the power he had hitherto wielded. He would no longer be the sovereign, since sovereignty had been transferred – or restored – to the nation. Instead, he was made an agent of the constitution to be framed in due time. In exchange for the full power he had possessed under the ancien régime, he was attributed the executive function alone and the power of sanctioning the decrees of the Legislative Assembly, and in this reduced capacity he was allowed and even expected to remain king. According to the constitution of 1791, however, he would no longer be king of France; instead he was named king of the French, a title which indicated that he was supposed to derive his station and dignity from the will of the nation alone. The king had not been retained, albeit in a severely reduced fashion, on the ground that monarchy had for centuries been the law of the land, but because the National Assembly was convinced that the form of government that would best ‘effect’ the ‘safety and happiness’ of the people – to use the wording of the American Declaration of Independence – was constitutional monarchy. In other words, the arrogation of the constituent power by the National Assembly implied that the king and monarchy at large were placed as much at their disposal as all the other political institutions of the old regime. If the constitutional king was to be king by the will of the nation, and if he was permitted to assume his functions only after having taken the prescribed oath on the constitution, logic would have required to suspend the king, until the constitution had been worked out and accepted by him.

30 Archives parlementaires de 1787 à 1860, first series, vol. 8, Paris 1875, p. 398. 31 Emmanuel-Joseph Sieyès: Qu’est-ce que le Tiers État?, ed. by Edme Champion, Paris 1888, p. 67.

106 | II Herrscher und Herrschaft When, in the summer of 1791, the National Assembly discussed the consequences of the king’s flight from Paris on 21 June of that year, this view was indeed made explicit by Alexandre de Lameth who pointed out that, as early as in 1789, the principles which underlay the work of the Assembly would have demanded ‘that as long as the constituent power existed, the executive power in the hands of the king were suspended, because the throne was being organised, and the representatives of the nation should not have been hampered by any obstacle while fulfilling their mission’. According to Lameth, it was only in view of the ‘practical inconveniences’ that the Assembly had refrained from actually suspending the king, when in the summer of 1789 they began to work out a constitution.³² But after Louis’s forced return from Varennes, this was in fact what happened: the king was suspended, until such time as he would have taken the oath on the constitution. The constitution was to be framed largely on the English model, as it had been explained and interpreted by Montesquieu and other writers. To be sure, not every detail was found suitable for France. To cite an example, an upper chamber was not created, for fear of reinstating the old aristocracy and of reintroducing privilege into the new structure. If, nevertheless, the British constitution served as a model in most respects, it was to be expected that at critical junctures the members of the National Assembly should try to find support for their particular views in English constitutional law. It thus happened that when, after the king’s flight, the question arose as to whether he had to be put on trial, François Buzot pointed out that according to William Blackstone in English law the question whether or not, and in which cases, a king was to be considered abdicated had not been definitely settled, but that it was up to ‘the coming generations to take their appropriate decisions, whenever they were forced, in the interest of the well-being of the fatherland, to take recourse to this means, because the natural rights of society can never be destroyed or weakened by the lapse of time or by a constitution’.³³ Therefore the principle according to which in a constitutional monarchy the king was to be considered inviolable must not be applied rigorously in all cases. Accordingly, Buzot argued that the king had to answer for his flight, his constitutional inviolability notwithstanding, and that the nation, through a convention to be elected for the purpose, had to decide what should be done about him.³⁴

32 Alexandre de Lameth in the National Assembly, 25. 6. 1791, in: Archives parlementaires de 1787 à 1860, first series, vol. 27, Paris 1887, p. 519. 33 François Buzot in the National Assembly, 15. 7. 1791, ibid., vol. 28, Paris 1887, p. 324. 34 Ibid., p. 325.

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To this Joseph Barnave replied that if the English constitution had not provided for a case similar to the one that was now presenting itself to the French National Assembly, it was ‘because it had not provided for any case at all’. England did not possess a written constitution, and in many cases there had not even developed an established legal custom. In English history, therefore, whenever the question arose as to whether or not to depose the king, the decision was eventually taken according to the contingencies of the circumstances, not in compliance with fixed rules. Therefore, whenever English constitutional law was to be used as an argument, one could not have recourse to a written text but was driven to cite an authority such as Blackstone. At this point Barnave declared that this was ‘not the system we have decided upon: We have wanted that in our political and in our civil laws alike, everything, as far as possible, should be provided for’. Nothing should be left to arbitrariness; ‘even the revolutions’ should be ‘subjected to constitutional law’, an obvious allusion to future depositions of kings.³⁵ Barnave repeated that it was not for the respect of ancient rights that the National Assembly had decided to uphold monarchy. Instead, monarchy was considered indispensable on the ground that it appeared to be the only form of government which could safeguard the unity of a large, centralised state and grant both liberty and stability to the French nation. Barnave denied the possibility of France being turned into a republic, even though the foundation of the United States of America had apparently disproved what enlightened political writers had widely asserted before, namely that republican government worked in small states only. To this Barnave objected that the American republic was based on entirely different conditions. If it was true that America represented a large territory, it was nevertheless only thinly populated. Besides, the American people possessed simple habits and were mainly devoted to agriculture and other practical occupations. This made them ‘natural’ and ‘pure’ in their ways and ‘kept them from indulging in those artificial passions from which originate the revolutions of government’. By contrast, the French were an extremely numerous people, among whom a great many individuals were ‘exclusively occupied by those speculations of the mind which arouse the imagination and breed ambition and the love of glory’. Finally, France was surrounded by powerful neighbours who constantly threatened her independence, whereas America was free from any such menace. Therefore Barnave maintained that France was in need of a strong government which only constitutional monarchy could provide. Constitutional monarchy in turn was based on the balance between the king and the representation of the people. This balance could work only if both powers were

35 Joseph Barnave in the National Assembly, 15. 7. 1791, ibid., p. 328.

108 | II Herrscher und Herrschaft independent of each other. Independence of the royal power, however, required that the king was inviolable. From here Barnave proceeded to a discussion of the responsibility of the executive branch of the constitution. Since the king, his personal inviolability notwithstanding, must not be allowed to claim inviolability for the exercise of the executive functions in general, the constitution requires that he act through his ministers who take upon them the full responsibility by countersigning the royal acts. The inviolability of the king was therefore summed up by the principle that the king can do no wrong, because in the political sphere he was excluded from doing anything at all by himself. It was no easy task to convince the National Assembly that there was still a chance to establish constitutional monarchy in France with Louis XVI on the throne. The prospect had become doubtful not only because of the king’s flight, but also because of the famous memorandum he had left behind in the Tuileries in which he had solemnly protested against the work of the National Assembly and declared his refusal to acknowledge the revolution.³⁶ Barnave did not try to conceal any of these known facts, but denied the possibility of the National Assembly to depose the king, since the very principle of the king’s inviolability required his complete independence and therefore it was unthinkable that the constitution transfer to anyone the right to resort to punitive measures of any kind. If the Assembly were to have this right, the king would be made dependent from this body, and the balance of the constitution would be upset. As long as the majority of the National Assembly remained convinced that constitutional monarchy was the best form of government for the French, the lesson to be learned from the king’s flight was to find safeguards against hostile actions of the king in the future by which the security of the state and the stability of the government might be endangered. These safeguards had to be defined in such a way as not to impinge on the independence of the king from the Legislative Assembly. Therefore it was proposed to have the constitution carefully define the cases in which the king was to be considered deposed. Whereas in its present unfinished state the constitution did not contain the case of the king’s flight, with the consequence that he could not lawfully be deposed for it, the National Assembly was still in a position to provide for future actions of just this kind in the text under discussion. The ensuing sanctions would then not have to be deliberated by the Legislative Assembly, but would be pronounced automatically by the constitution. If the king committed

36 For the full text of the memorandum see Marcel Reinhard: La chute de la royauté. 10 août 1792, Paris 1969, pp. 437–50.

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the acts defined in the constitution, he would by these very acts abdicate the government. From this it appears plausible that the National Assembly, in their attempt to copy the English constitution as closely as possible, should approach the problem of deposing the king in the same manner as they approached the constitutional question as a whole, and to transform, as far as possible, into fixed rules that which had hitherto been determined by the uncertainties of custom and usage in the English legal tradition. In other words, they tried to adopt the legalism by which both the deposition of James II in 1688 and of George III in 1776 had been justified, with the only difference that what in England had merely been a legal tradition was to become a set of paragraphs in a written constitution. In fact, the Whigs had wished to state in the Declaration of Rights ‘that King James the Second, having endeavoured to subvert the constitution of this kingdom by breaking the original contract between king and people, and, by the advice of Jesuits and other wicked persons, having violated the fundamental laws, and having withdrawn himself out of the kingdom, has abdicated the government; and that the throne is thereby vacant’.³⁷ In the very wording of this clause it is implied that by committing certain acts the king had by implication declared to have abdicated. But since the royal acts in question and their juridical consequences had not been defined and enacted before, parliament had expressly to vote the abdication of the king. In like manner, in the American Declaration of Independence it is stated, among other things, that George III ‘has abdicated Government here, by declaring us out of his Protection and waging War against us’, whereas all the other royal acts listed in the Declaration are presented as an unquestionable proof that the king had degenerated into a tyrant who as such is declared ‘unfit to be the ruler of a free people’.³⁸ As in 1688, the inference from the illegal behaviour of the king is presented as a matter of common sense, but in order to have legal validity, it had also to be drawn expressly by the Continental Congress. Congress – as parliament in 1688 – had to vote the deposition. Thus ultimately the fate of the king appeared subordinated to these bodies. His independence was not granted, and therefore Barnave and others in July 1791 advocated the insertion into the constitution of a strict definition of the actions by which the king would be regarded as having abdicated the government. On 28 March 1791 the National Assembly had provided for just one such case, namely the contingency that the king should leave the country and disregard an

37 Quoted by Lois G. Schwoerer: The Declaration of Rights, 1689, Baltimore and London 1981, pp. 24–5. 38 The Declaration of Independence, op. cit., p. 431.

110 | II Herrscher und Herrschaft express order of the Legislative Assembly to return. During the preceding debate Charles-Claude-Christophe Gourdan had very ably outlined the central idea of the proposition by emphasising that it would be the law alone and neither the legislature nor the nation at large who in such a case would pronounce the abdication of the king.³⁹ By this standard Louis XVI clearly could not be declared deposed because of his flight to Varennes and of the memorandum he had left behind in the Tuileries. Therefore Jean-Baptiste Salle who spoke before Barnave proposed to complement this paragraph by adding two more cases: a king who leads an army against his own nation, and a king who retracts the oath he had taken on the constitution; besides, Salle proposed to insert a paragraph in which it was stated that a king who had abdicated the government would from then on become an ordinary citizen and as such would be held responsible for all acts committed by him after his abdication.⁴⁰ Salle’s proposals were adopted by the National Assembly and, along with the above mentioned article already deliberated in March and a deadline for the taking of the prescribed oath on the constitution, became part of the constitution of 1791.⁴¹ Obviously these articles reflect the circumstances that had led to their creation. The declaration which the king had left behind in the Tuileries had been widely interpreted as a withdrawal of his many assertions to acknowledge the work of the National Assembly, and the flight itself had aroused the suspicion that he had intended to go abroad and collect troops which would help to crush the revolution. If these acts had to be left without any sanction, for want of a corresponding paragraph in the constitution, another flight in the future would automatically lead to the abdication of the king. It should have become clear that by inserting the articles on the abdication of the king into the constitution the National Assembly tried to exclude for all time the necessity of declaring a king deposed. If the king committed the acts defined there, he was to be treated as though he had expressly abdicated. In fact the text distinguishes between abdication expresse (express abdication) and abdication légale (legal abdication), but implies that the consequences would be exactly the same, whereas the term déchéance (deposition) is not to be found.⁴² The constitution does not state that the abdication of the king was to have any influence on the principles determining the royal succession. Thus, the abdication of a king,

39 Debate in the National Assembly, 28. 3. 1791, in: Archives parlementaires de 1787 à 1860, first series, vol. 24, p. 431; Charles-Claude-Christophe Gourdan, ibid., p. 436; cf. Hyacinthe-FrançoisFelix Muguet de Nanthou in the National Assembly, 13. 7. 1791, ibid., vol. 28, Paris 1887, p. 236. 40 Jean-Baptiste Salle in the National Assembly, 15. 7. 1791, ibid., p. 324 41 Constitution française, 1791 Septembre 3, Chapitre II, Section I, Artt. 5–8. 42 Ibid., art. 8.

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be it express or legal, would not bring about a change of regime. A revision of the constitution that a change of regime would have entailed, was in fact made extremely complicated by the constitution itself. So after an abdication the lawful heir would succeed to the crown. Thus, the constitution from which, according to Barnave, it was expected that it provide for all cases conceivable, did not allow for a change of regime as a consequence of the abdication of the king. On the surface, the articles concerning the abdication of the king represent a singular perfection of the ancient idea of the rule of law and of legalism. Not only did the constitution strictly define what the king was not allowed to do, but it also entirely excluded the human factor from the determination of the sanctions. Hence no scope was left to a discretionary power; everything was settled by the abstract force of the law. In the preceding centuries it had nowhere ever been determined beforehand what a king was not supposed to do. Political writers had ascribed certain duties to the king – to protect the law, to promote the common good – but what this meant in practice had remained vague. When both the Bill of Rights of 1688 and the Declaration of Independence of 1776 listed a multitude of unlawful acts, allegedly committed by the king, and stated that only the repetition of these injuries and a long train of abuses proved that the king had deliberately impeded the rule of law, then it is obvious that the decision to declare him a tyrant involved a considerable amount of arbitrariness. With a view to these inconveniences, the constitution of 1791 marked a decisive step forward. Only a year later, it became clear that the articles in question were not effective in practice. In April 1792 the Legislative Assembly had declared war on Austria and Prussia. In July and August, the French were retreating on all fronts, Paris seemed in danger, and the king was suspected of promoting the cause of the enemy. His use of the constitutional veto power nourished these suspicions. On 10 August the Paris populace demanded his deposition, and the Legislative Assembly, acting under pressure, voted a decree by which the king was suspended. At the same time the Assembly invited the French people to elect a National Convention which in turn would decide on the future government of France.⁴³ This decree was unconstitutional in several respects. The suspension of the king had not been provided for in the constitution. Louis XVI had not committed any of the acts by which, according to the catalogue inserted into the constitution the year before, he was to be considered abdicated. The constitution had not placed the right to appeal to the sovereign nation into the hands of the Legislative

43 Pierre-Victurnien Vergniaud, on behalf of the extraordinary committee of the twelve, in the Legislative Assembly, 10. 8. 1792, in: Archives parlementaires de 1787 à 1860, first series, vol. 47, Paris 1896, pp. 645–6.

112 | II Herrscher und Herrschaft Assembly. Once the constituent power had created a constitution there was no legal way of appealing to the nation, except in accordance with the articles pertaining to constitutional revision. Strangely enough, the Assembly declared that the head of the executive power had aroused distrust by his behavior ‘in a war undertaken in his name against the constitution and national independence’.⁴⁴ This was undoubtedly a reference to one of the articles inserted in July 1791, and some of the members may have believed that it suited the purpose of pretending that the deliberations of the Assembly on 10 August 1792 were in keeping with the constitution. On the other hand, the fact that the Assembly refrained from stating that the king had abdicated, and from proclaiming his son the new king of the French, shows that in fact they did not really believe in the applicability of the corresponding articles of the constitution. In this way the principle of legality that had so diligently been incorporated into the constitution, in the end proved entirely ineffectual. The final decision over the fate of the king was relegated to a new assembly, the National Convention. On 21 September 1792 the Convention not only deposed this particular king, but abolished monarchy as such. The French nation took the liberty to create once more an entirely new government and a new law. The attempt of the National Assembly in 1791 to devise a finite set of rules by which the king was automatically to be considered out of power, in order to preserve the principle of legality, had failed dismally. Whereas the American Continental Congress in 1776 had justified at least the deposition of George III by strictly legal arguments, the French Legislative Assembly 1792 based their deliberations on general considerations such as ‘the dangers menacing the fatherland’, and ‘the distrust which the conduct of the head of the executive power had inspired’.⁴⁵ The deposition of Louis XVI was thus in more than one respect a breakdown of the rule of law. Not only was the old law of the ancien régime which had presided over the Bill of Rights and in part still over the Declaration of Independence, no longer in force, but the new law of the constitutional monarchy, which had been expected to be much more certain and effectual, was disregarded as well. In the final analysis, the king was deposed, not because he had revealed himself a tyrant in the ancient sense of the term, by violating the law of the land and committing all sorts of abuses, but because at a particular juncture it was – by some people – thought inexpedient for political reasons, to keep him on the throne. That means that a new criterion of legitimacy was developing. A king, to be acceptable to his subjects, so it was thought, had to do more than just respect the law of the land. He also had to

44 Ibid., p. 645. 45 Ibid., p. 645.

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meet certain expectations which, indeed, might vary over time. The deposition of Louis XVI in 1792 may perhaps be explained by the fact that at a point in time of national danger he had not given sufficient proof that he was willing to defend the country and its new constitution against the invading enemy. No less than just this had been expected of him. The deposition of George III as justified in the Declaration of Independence had been based on the legalistic argument that historic right must be respected by the king as much as by anybody else. Instead, the foundation of the republic in America was based on the consideration that mankind by nature possessed the right to establish a new government, if the old one no longer fulfilled its basic functions. When in June 1789 the French National Assembly arrogated to themselves the constituent power they set aside the traditional legalism and introduced a new criterion – the national will – as the foundation of the new political structure to be created by them. The new constitution, however, of necessity proceeded to establish its own legalism. While they intended to codify the wisdom of the unwritten English constitutional law, the French National Assembly even aimed at a higher degree of perfection. As we have seen, the Assembly was guided by the idea that the legality of a royal act in the future was to be judged by the written constitution and no longer by invoking historic precedent or by accumulating innumerable instances in order to prove a wicked design on the part of the king. The decision of 10 August 1792 to suspend the king and to appeal to a national convention was therefore a clear violation of the constitution and marked the breakdown of the rule of law which it had so carefully sought to establish.

1814: democratic legalism versus royal usurpation On 31 March 1814 the armies of the coalition entered Paris, and two days later the French Senate, at the instigation of Talleyrand, deposed Napoleon. On 3 April 1814 the Senate adopted a long list of charges against the emperor which had been drawn up by Senator Lambrechts and which served to justify the decree of the preceding day. The charges amounted to the demonstration that Napoleon had violated the social compact by which he had been empowered to rule. Therefore, it was concluded, he had to be considered abdicated.⁴⁶

46 Sénatus-consulte portant que Napoléon Bonaparte est déchu du trône, et que le droit d’hérédité établi dans sa famille est aboli, 3. april 1814, in: Bulletin des lois, fifth series, vol. 1, nr. 3; cf. Volker Sellin: Die geraubte Revolution. Der Sturz Napoleons und die Restauration in Europa, Göttingen 2001, pp. 150–5.

114 | II Herrscher und Herrschaft The procedure resembles closely the deliberations of the British parliament in 1688 and of the American Continental Congress in 1776. This may appear strange, since the Napoleonic empire possessed a written constitution, and one should have expected that the constitution contained appropriate norms for the case that the emperor should neglect his duties. In contrast to the French constitution of 1791, however, the imperial constitution of 1804 did not provide for the deposition of the emperor. Any attempt to depose him would therefore have to be based on extra-constitutional considerations. Nevertheless, the Senate felt obliged to make their deliberations appear lawful in the eyes of the nation. If disorder and anarchy were to be avoided, it was essential that the subjects in general and the bureaucracy in particular were convinced that the action of the Senate was based on legal principles. Therefore, Talleyrand had the Senate follow as closely as possible the example set by the Declaration of Rights of 1688. Much in the same way as parliament in the Glorious Revolution, the Senate wished to get rid of the emperor and at the same time to preserve the institutions of the empire. As Dominique de Pradt, the former archbishop of Malines and a close collaborator of Talleyrand, wrote, there were two objectives: ‘to shake off a yoke which had become intolerable, and to continue the established order’.⁴⁷ The established order was the institutional and legal heritage of the revolution as adapted and transformed by Napoleon. To declare the government dissolved and the people at liberty ‘to provide new Guards for their future security’, as the preamble to the American Declaration of Independence had stated, or to invite the nation to elect a national convention, as the Legislative Assembly had deliberated on 10 August 1792, would have appeared extremely dangerous to the Senate, quite apart from the fact that it was impossible to organise free elections as long as one half of France was still under the control of Napoleon and the other half, including the capital itself, under allied occupation. If, then, the overriding objective was to limit the revolt against Napoleon as far as possible to the exchange of the monarch, there was only one way left open to Talleyrand and the Senate: to have recourse to the pre-revolutionary method of demonstrating that the one time legitimate ruler had degenerated into a tyrant, and that the subjects, through their representative assemblies, were entitled to depose him, in order to preserve the existing institutions. In contrast with the American Continental Congress the French Senate wished to follow the example of 1688 not only as far as the deposition of Napoleon was concerned, but also with respect to the choice of the new ruler. Talleyrand would even have preferred to see no one else but Napoleon’s son on the throne, surrounded by a regency

47 Dominique de Pradt: Récit historique de la restauration de la royauté en France le 31 mars 1814, Paris 1816, p. 38.

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council during his minority, but as long as Napoleon himself was alive, one had to be afraid that he would have continued to govern behind the scenes.⁴⁸ The same was to be expected if one of Napoleon’s brothers had been made his successor. Therefore another person, not belonging to the Bonaparte family, had to be chosen, and here again, Talleyrand had a candidate ready at hand who could pretend to a certain degree of legitimacy, in the sense in which Mary Stuart and William of Orange had claimed legitimacy in 1688: not as the rightful heirs to the throne, but as those persons whose claims were regarded as justified to a higher degree than those of anybody else. It is in this sense that Talleyrand in his negotiations with Tsar Alexander on the afternoon of 31 March 1814, appears to have called Louis XVIII the ‘legitimate’ king of France.⁴⁹ If in fact Talleyrand used this expression on that occasion, his subsequent acts are sufficient proof that by this statement he cannot have intended to vindicate a birthright of the Bourbons to the French throne. Otherwise it would be hard to understand why the Senate, only a few days later, made Louis’s accession to the throne conditional on his acceptance of the new constitution, which in turn was based on national sovereignty and thus on the exact opposite of dynastic legitimacy. From this it becomes evident that the legitimacy which Talleyrand in his Memoirs claimed to have ascribed to Louis XVIII on 31 March, was actually not the legitimacy of the ruler, but the legitimacy of the candidate, as compared to other candidates who had likewise been taken into consideration, such as the Duke of Orléans and Count Bernadotte. If, for practical reasons, the succession of a Bonaparte was excluded, it appeared expedient to limit the choice of possible candidates by a seemingly legal argument that would discourage others from pretending to the throne. Talleyrand hoped that, thanks to the role which the Bourbons had played for centuries, the nation would, in the present crisis, give more credit to them than to anybody else outside the Bonaparte dynasty.⁵⁰ Thus, and paradoxically so, he declared Louis legitimate, not only because Louis was a Bourbon, but as much and even more so, because he was no Bonaparte. For these reasons, once the succession of the young king of Rome had been discarded, the Senate made LouisStanislas-Xavier of France, as the later Louis XVIII was named in the constitution of the Senate of 6 April 1814, his candidate to the throne of Napoleon, even though they were afraid of his counter-revolutionary inclinations.

48 Volker Sellin: Die geraubte Revolution, op. cit., p. 137. 49 Charles Maurice de Talleyrand-Périgord: Mémoires. Ed. by the duke of Broglie, vol. 2, Paris 1891, p. 165. 50 Volker Sellin: La restauration de Louis XVIII en 1814 et l’Europe, in: Lucien Bély (ed.): La présence des Bourbons en Europe, XVIe–XXIe siècle, Paris 2003, pp. 259–60; Sellin: Die geraubte Revolution, op. cit., pp. 136–9.

116 | II Herrscher und Herrschaft All this demonstrates how carefully Talleyrand followed the precedent of the Glorious Revolution. His intention was to give the revolution of the Senate against Napoleon the appearance of an unquestionably legal procedure. The reason that underlay this policy was the desire to preserve the institutional heritage of the revolution and the empire. Thus the whole action was presented as a defensive measure, in the same way as the Bill of Rights and, in part at least, the Declaration of Independence had been defensive legal instruments. By the whole procedure, Talleyrand hoped to avoid civil war, on the one hand, and to tie the returning Bourbons to the revolutionary achievements, on the other. The restoration of the Bourbons, according to Talleyrand, had to be limited to a restoration of the reigning family, whereas the restoration of the institutions of the ancient monarchy had by all means to be avoided. Talleyrand’s procedure at this point may appear contradictory. For the reasons stated above he believed that to make the Bourbon pretender the legitimate candidate for the throne, was the best means of avoiding internal conflict and civil war, but then he had to make sure that the returning Louis-Stanislas-Xavier, in spite of all his legitimacy, accept the conditions stated therein, in particular, to become king not by dynastic right, but by the free will of the nation, that is, by the right of revolution. In this respect Talleyrand was to fail, because he had underestimated the courage and resourcefulness of his candidate who not only was not willing to accept the throne which he pretended to have possessed anyhow for the last 19 years, as a gift from the nation, but was at the same time shrewd enough to know how to avoid it. Closer inspection of the decree by which Napoleon was declared abdicated, would show that in a number of details the Senate had not followed exactly the historic examples cited above. Thus, for instance, in contrast to what had declared both the British parliament in 1688 and the American Continental Congress in 1776, none of the charges levelled against Napoleon by the Senate had ever been mentioned before; much less had Napoleon been petitioned or admonished to refrain from his allegedly unlawful acts. Accordingly, there was no statement to the effect that only a long train of abuses justified the deposition of the ruler. Finally, the last paragraph of the grievances lists two considerations that do not aim at a real or alleged unlawful act of the emperor, but define an objective and a policy that Napoleon is said not to have pursued. The Senate states that ‘the manifest wish of the whole French nation demands a policy the first result of which would be the restoration of general peace, and which would also be the period of

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a solemn reconciliation among the nations of the great European family’.⁵¹ It goes without saying that the appeal to the wish of the nation may constitute a political justification, but can never serve as a strictly legal one. The striking difference between the American Declaration of Independence and the Declaration of the French Senate by which Napoleon was deposed in 1814 is to be seen in the fact that, for the foundation of the political order to be established after the fall of the former ruler, the American Declaration invoked the law of nature, whereas the Senate tried to argue legalistically in order to preserve the heritage of the revolution. Therefore the Senate took care to insert into the new constitution the basic achievements of the empire such as popular sovereignty, the civil code, and the recognition of the sale of former church and aristocratic lands. All this was intended to prevent the Bourbon king from restoring the ancient monarchy. The old-fashioned legalistic argument was thus used to save from destruction a political order which had originally been based on the law of nature, and to prevent the king from using a pretended constituent power for the abolition of basic achievements of the revolution. The candidate for kingship followed the invitation of the Senate, but before he arrived in Paris on 3 May 1814 he issued a declaration making clear that he was not willing to subordinate himself to the will of the nation as represented by the deliberations of the Senate.⁵² Instead he maintained his claim to be king in his own right, deriving his legitimacy from a pretended dynastic right which in fact had long ceased to exist. Thus in 1814 it was the new king of the old dynasty who interrupted the legal continuity.⁵³ In 1789 the Third Estate had usurped the constituent power which had until then belonged to the king. In 1814, on the contrary, when Louis XVIII demanded recognition of his dynastic right to be king, dismissing as ineffectual and invalid the principle of popular sovereignty on which the revolution had been based, Louis XVIII was the real usurper. He refused to take the oath on the constitution of the Senate, substituting his own pretended right to rule for the right of the nation to create its own government, a right that had first been established in 1789 and sanctioned in September 1791 by king Louis XVI himself, when he took the oath on the constitution.

51 Sénatus-consulte portant que Napoléon Bonaparte est déchu du trône, et que le droit d’hérédité établi dans sa famille est aboli, 3. 4. 1814, in Bulletin des lois, ser. 5, vol. 1, nr. 8; see also: Le Moniteur universel, 4. 4. 1814. 52 Volker Sellin: Die geraubte Revolution, op. cit., pp. 225–8. 53 This view was brilliantly developed by J. C. L. Simonde de Sismondi: Examen de la constitution française, Paris 1815; cf. in particular chapter 4: De la légitimité du gouvernement, pp. 75–89.

118 | II Herrscher und Herrschaft Even though Talleyrand and the Senate in April 1814 followed closely the model of the Glorious Revolution, it cannot be said that they stuck to the rule of law as established by the empire. The imperial constitution of 1804 did not allow for the deposition of the emperor. Therefore, both the proceedings of the Senate and the charges against Napoleon contained in the decree of deposition were devoid of any legal basis and must therefore be considered extra-constitutional. By referring to a social compact, as the English Whigs had done in 1688, the Senate in fact tried to revive an older idea of lawful government which, however, was incompatible with a written constitution, since a written constitution not only defines certain rules, but also excludes all those that are not expressly contained in it. Therefore, the appeal to an unwritten principle could not be based on the rule of law, and the legality of the action of the Senate was doubtful to a higher degree than both the proceedings of parliament in 1688 and the deliberations of the Continental Congress in 1776 had been. That Louis XVIII refused to accept the constitution of the Senate and substituted his own charte constitutionnelle for it, was another breakdown of the rule of law in that it denied the constitutional principle that the sovereignty rests with the nation. The success of both the deposition of Napoleon and the usurpation of the throne by Louis XVIII, however, must be explained by the overriding desire of the French to obtain peace. The constitutional propriety of the acts had become less important than their real or apparent political advantage. In 1789, the French National Assembly endeavoured to substitute a new constitutional legality, based on the law of reason, for the legality of the unwritten law of the ancien régime. The depositions of Louis XVI and Napoleon, however, have shown that written constitutions obviously did not command the same authority as the unwritten constitutional tradition had enjoyed before 1789. Once the nation had learned how to use their constituent power, they felt entitled to use it whenever they believed that the powers they had themselves constituted did not act in a way they had expected them to do. It should not be overlooked that as early as 1789 the Abbé Sieyès, in his famous pamphlet on the Third Estate, had written that ‘the national will’ was ‘always legal’, since it was ‘the origin of legality itself’.⁵⁴ The enunciation of this principle was to pave the way for so many repetitions of the act of creating a new government which the Third Estate had first begun in June 1789.

54 Emmanuel-Joseph Sieyès: Qu’est-ce que le Tiers État?, op. cit., p. 68.

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The fate of the deposed What to do with a deposed king? If kings were deposed because they had broken the law it seems logical to expect them to be put on trial, where they would answer for their unlawful acts. Among the three cases discussed above, only Louis XVI underwent this experience. The Continental Congress could not even consider such a move, since George III was safe, far away across the Atlantic Ocean and continuing to reign as king of Great Britain. By contrast, Napoleon, when he was deposed by the Senate, stayed close to Paris at Fontainebleau, but since he was protected by the troops who had remained loyal to him there was no way for the Senate to get hold of him. When, less than three weeks later, he went into exile on the isle of Elba, he was protected by the abdication treaty of 11 April 1814 which Tsar Alexander I had concluded with him on behalf of the coalition. By contrast, one year later, after his defeat at Waterloo, Napoleon might well have been taken prisoner and put on trial, once he had returned to Paris on 21 June 1815. Such a step, however, was not even contemplated. To what degree the situation was different from the spring of 1814, is shown by the fact that, when Napoleon, on 22 June, sent his declaration of abdication to the lower Chamber, the Representatives voted an address of gratitude to him.⁵⁵ At the same time groups of workers paraded the streets of Paris shouting: ‘The emperor or death! No abdication! Long live the emperor’.⁵⁶ The problem the nation had to face at the time was not to get rid of a tyrant, but to obtain an acceptable peace. After his second abdication, Napoleon was free to move wherever he pleased. For a moment he even considered resuming the command of the army and fighting the enemy who was invading the country. The confinement to the isle of St Helena was a measure taken by the British in order to exclude once and for all the possibility of Napoleon’s ever returning to the French throne. In a convention concluded between the four great powers on 2 August 1815, the emperor was declared a prisoner and the British government were empowered to take all the measures necessary ‘to render impossible any attempt on his part on the peace of Europe’.⁵⁷ The treatment of Napoleon after having come aboard the British frigate Bellerophon on 15 July 1815 at Rochefort, is therefore to be judged exclusively by the standards of the law of nations, not by criteria of constitutional propriety.⁵⁸

55 Jean Thiry: La seconde abdication de Napoléon I, Paris 1945, p. 62. 56 Ibid., p. 84. 57 Convention sur la Garde de Napoléon entre la Grande-Bretagne et les Puissances alliées, signée à Paris, le 2 août 1815, Comte d’Angeberg (ed.): Le congrès de Vienne et les traités de 1815, vol. 2, Paris 1863, pp. 1478–79. 58 Frank Giles: Napoleon Bonaparte: England’s Prisoner, London 2001, p. 7.

120 | II Herrscher und Herrschaft Louis XVI thus remains the only one of the three monarchs discussed so far who, after his deposition, had to face trial and execution. This trial was from the outset based on a deliberate and wilful rejection of the rule of law. The king was not tried in court, but by the National Convention which represented the national will. The national will, however, was regarded – in accordance with the assertion of the Abbé Sieyès – as being always legal. Therefore, any judgement passed by this body would have to be considered legal, no matter how well-founded it was. Justice, however, could only be administered with respect to a law which had existed, before the incriminating acts were committed. In his speech of 13 November 1792 Charles-François-Gabriel Morisson very ably worked out these contradictions and concluded that in the interest of justice and the principles of legalism the Convention should refrain from trying the king. He conceded that ‘a sovereign has no other rule than its supreme will. Yet as the will of any people must be that it flourish, and as nothing save justice can promote this end, its rights and its powers have as their limits such duties as justice dictates’.⁵⁹ Without denying in principle the nation’s irrevocable right to judge the king, Morisson reminded the assembly that the nation had in the past used their discretionary power to insert an article into their social contract stating that nobody must incur punishment for an act that had not been defined a crime by a law established before. Now, the constitution of 1791 had expressly excluded the possibility of holding Louis XVI responsible for acts committed as long as he was king, except for three single cases, none of which was relevant in the present discussion. Morisson ended by proposing a decree by which Louis was forever banished from the country. Should he return, he would incur the capital punishment.⁶⁰ In advocating a strictly legal procedure, Morisson in effect denied the possibility of trying the king. From this it could be inferred that the king’s suspension on 10 August and his deposition on 21 September were likewise devoid of legal justification and thus a serious departure from the rule of law. Louis-Antoine-Léon Saint-Just, the next speaker, confessed to agree with the principle that ‘to judge is to apply the law’. But then he proceeded to the assertion that the benefit of the laws was owed to citizens alone: ‘law supposes a common share in justice’; and he asked, what justice could ‘be common to humanity and kings’. Saint-Just maintained that the real problem was not to have Louis XVI

59 Charles-François-Gabriel Morisson in the National Convention, 13. 11. 1792, in: Archives parlementaires de 1787 à 1860, first series, vol. 53, Paris 1898, p. 386; the English version of the quotation is taken from: Michael Walzer (ed.): Regicide and Revolution. Speeches at the Trial of Louis XVI, Cambridge 1974, p. 112. 60 Ibid., pp. 386–90.

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answer ‘for the crimes of his administration’; the real problem was that to be king was in itself a crime: ‘Every king is a rebel and an usurper’. Therefore every king had to be considered ‘an alien, an enemy’, and as such he could not ‘be judged according to the laws of the land, or rather, the laws of polity’ but only ‘according to the law of nations’. In appealing to the law of nations, Saint-Just in fact advocated the legalism of the state of nature where force was the only law, where ‘force was used to repel force’. He concluded by admonishing the Convention to judge the king without delay, ‘for there is no citizen who does not have the right that Brutus had over Caesar’.⁶¹ By this allusion to the most famous case of tyrannicide in history Saint-Just summed up his central thesis: by assuming kingship, not by any act committed on the throne, Louis XVI had placed himself outside civil society; therefore he had forfeited the protection of its laws. Maximilien Robespierre on 13 December reverted to the idea of regarding Louis XVI not as a citizen, but as a stranger and as an enemy of the French nation who was subject not to the laws of the land, but to the law of nations. From this he concluded that Louis could not be judged in the ordinary sense of the term, but that the Convention was called upon to take a decision in the field of foreign policy. So he addressed the Convention by saying: There is no trial to be conducted here. Louis is not an accused man. You are not judges. You are, and you can only be, statesmen and representatives of the nation. You do not have a verdict to give for or against a man, but a measure to take for the public safety, a precautionary act to execute for the nation. A deposed king in a Republic is good only for two things: either to trouble the tranquility of the state and to undermine liberty, or to strengthen both.⁶²

If the Convention was not a tribunal and if accordingly they could not administer justice to the king, the only choice open to them was to act as the representatives of the nation and to legislate on the king, and in fact Robespierre concluded by proposing that the Convention proceed to ‘an immediate legal action on the fate of Louis XVI’.⁶³ The proposal amounted to the substitution of a deliberate and arbitrary act of the sovereign nation for a trial according to the established laws of the land and the constitution of 1791 which, as had been freely confessed by many speakers, would invariably have led to the acquittal of the king. Indeed,

61 Louis-Antoine-Léon Saint Just, ibid., pp. 391–2; Michael Walzer (ed.), op. cit., pp. 124–6. 62 Maximilien Robespierre in the National Convention, 3. 12. 1792, in: Archives parlementaires de 1787 à 1860, first series, vol. 54, p. 74; Michael Walzer (ed.), op. cit., p. 131. 63 Robespierre in the National Convention, 3. 12. 1792, in: Archives parlementaires de 1787 à 1860, first series, vol. 54, p. 77: ‘Je vous propose de statuer, dès ce moment, sur le sort de Louis’; Michael Walzer (ed.), op. cit., p. 138.

122 | II Herrscher und Herrschaft the condemnation and execution of Louis XVI was a matter not of right but of expedience, just as his suspension and deposition had been. The trial of the king thus confirmed once more the failure of the constitution of 1791 and demonstrated how difficult it had proved to lay the foundations of a new legalism, based on the precepts of reason, once the legalism of the ancien régime had been superseded. Whereas the national will was considered always legal and therefore, in theory at least, incompatible with any kind of legalism, be it traditional like the unwritten English constitution or of revolutionary origin such as the French constitution of 1791, to dispense with the rule of law would have made the revolution permanent. When Jefferson inserted into the Declaration of Independence the clause that it was the right and the duty of a people to throw off any government which in their opinion had become destructive to the ends, for which it had supposedly been created, he most probably did not envisage the possibility that within a short period of time this principle might be applied over and over again by the same people. This was, however, the experience of the French nation on several occasions from 1789 onwards, right through the following century. The three cases examined have demonstrated how, at the end of the eighteenth century, lawful government alone no longer protected kings from deposition. Even though the Continental Congress in 1776 justified their action to a large degree by the need to defend the constitution, it is easy to show that in reality they aimed at a change of regime. The long list of charges levelled against George III made it sufficiently clear, however, that the need for a careful juridical justification for the deposition itself was out of the question. In this respect Congress displayed a careful regard to the principles of the rule of law, the maintenance of which had traditionally served as the main justification for the deposition of kings. By contrast, the reasons given for the suspension of Louis XVI by the Legislative Assembly an 10 August 1792 were juridically untenable and amounted to the idea of deposing the king for the only reason that his conduct had inspired distrust and that in diverse parts of the kingdom the wish had been articulated to withdraw the powers conferred upon him. Suspicions and wishes are clearly political, not legal considerations, whereas the rules contained in the constitution and based on the principle of the king’s inviolability, were dismissed. In 1814, at the instigation of Talleyrand, the French Senate adopted the procedure of the Glorious Revolution, entirely discarding the imperial constitution which while containing the law of the land had unfortunately not provided for the deposition of the emperor. For political considerations, with the enemy having occupied the capital and large parts of the French territory, the Senate in fact did not have many alternatives. The universal desire for peace and internal tranquility helped the returning Louis XVIII to substitute divine right kingship for the principle of popular sovereignty, thus breaking the legal continuity once more and laying his government on entirely

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new foundations. From then on, retaining or deposing rulers became more and more a question not of right or wrong, but of political expedience. In the same period in which royal legitimacy was made an ideological principle with a view to strengthening monarchy, it actually changed its meaning and gradually came to adopt plebiscitary connotations. Since the middle of the nineteenth century, kings have been deposed for the simple reason that they had failed to meet the expectations that had been vested in them, be they democratic, as in the case of Louis-Philippe, or military, as in the case of Napoleon III, or national, as in the case of the Italian rulers who were dethroned in the process of Italian unification. The cases of 1776, 1792, and 1814, analysed above, marked the beginning of this process, which was crowned by the fall of three ‘legitimate’ emperors in 1917 and 1918 who apparently had not possessed any chance to survive the defeat of their countries in the First World War.

Stuart und Bonaparte. Zwei Typen von Legitimität – zwei Typen von Scheitern Unter* dem gestellten Thema möchte ich Ihnen eine Reihe von Überlegungen zu einem Projekt vortragen, das viel zu groß ist, als dass ich es an einem einzigen Abend nach allen Seiten hin erörtern könnte. Die Beschäftigung mit dem Sturz Napoleons I. hat mich auf den Gedanken gebracht, die Herrscherabsetzungen im neuzeitlichen Europa im Zusammenhang und vergleichend zu untersuchen. Schon die Beurteilung der Absetzung Napoleons war nicht möglich ohne den Vergleich mit anderen Absetzungen. Dass ich im Titel des Vortrags statt des Begriffs Absetzung den Begriff des Scheiterns gewählt habe, ist ebenfalls auf meine Beschäftigung mit dem Sturz Napoleons zurückzuführen. Dort hat sich nämlich gezeigt, dass der Begriff Absetzung nicht ausreicht. Napoleon wurde vom französischen Senat am 3. April 1814 zwar in aller Form abgesetzt, aber am 6. April hat der Kaiser auch noch abgedankt, gerade als ob er bis dahin noch in uneingeschränktem Besitz der Macht geblieben wäre. Andere Herrscher, wie zum Beispiel Zar Nikolaus II. im März 1917, sind der drohenden Absetzung durch Thronverzicht zuvorgekommen. Um solche Vorgänge mit einbeziehen zu können, habe ich mich im Titel meines heutigen Vortrags für den weiteren Begriff des Scheiterns entschieden. Herrscherabsetzungen zu vergleichen, erscheint also zunächst deshalb notwendig, weil man sonst schon bei der Betrachtung einer einzelnen Absetzung gar nicht wüsste, worauf man eigentlich achten soll. Das habe ich zuerst aus einem Aufsatz von Erich Angermann in der Historischen Zeitschrift aus dem Jahre 1965 gelernt, in dem die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, durch die Georg III. von England von seinen amerikanischen Untertanen der Gehorsam aufgekündigt wurde, mit den Absetzungserklärungen gegen Philipp II. von Spanien von 1581, mit der Anklageschrift gegen Karl I. von England 1649 und mit der Bill of Rights von 1688 verglichen wird. Der Aufsatz von Angermann ist eine Rarität, denn Arbeiten, in denen mehrere Absetzungen miteinander verglichen werden, sind äußerst selten. Nicht ein einziges Werk ist mir dagegen bekannt geworden, in dem versucht worden wäre, über mehrere Jahrhunderte der Neuzeit hinweg die wichtigsten Absetzungen systematisch einander gegenüberzustellen. Ich kann daher nicht auf einer entwickelten Forschung aufbauen und meinem Vortrag keine Auseinandersetzung mit der Literatur voranstellen. Offen lasse ich heute

* Vortrag, gehalten im Colloquium Historicum der Universität Heidelberg am 12. Juli 2002. Erstveröffentlichung in diesem Band.

126 | II Herrscher und Herrschaft die Frage, ob man das Thema überhaupt sinnvoll behandeln kann, wenn man das Mittelalter nicht miteinbezieht. Dort gibt es nach meinem Eindruck jedenfalls eine viel breitere Forschung, angefangen bei Fritz Kerns Gottesgnadentum und Widerstandsrecht von 1914 bis hin zu dem für das Thema in vieler Hinsicht einschlägigen Werk von Ernst Kantorowicz über The King’s Two Bodies von 1957, und mir scheint auch, dass der Herrscherwechsel von Childerich III. auf Pippin im Jahre 751 für die Neuzeit ebenso große Bedeutung besitzt wie für das Mittelalter, führt er doch eine geradezu mustergültige Lösung für ein Zentralproblem gerade neuzeitlicher Herrscherabsetzungen vor, bei denen die Überantwortung der Herrschaft auf den ohnehin Erbberechtigten nur ganz selten vorkam. Ich meine das Problem der Übertragung der Legitimität. 751 wurde es, wenn ich recht sehe, in genialer Einfachheit dadurch gelöst, dass ein neues Legitimierungsverfahren erfunden wurde, die kirchliche Salbung. Die Geschichte jeder einzelnen Absetzung stellt vor eine Fülle von Fragen. Daher ist die Versuchung für jeden Autor groß, sich auf einzelne Absetzungen zu konzentrieren. Ich bin jedoch der Meinung, dass man versuchen muss, durch einen Vergleich von Herrscherabsetzungen über mehrere Epochen hinweg zu Aussagen über Entwicklung und Wandel der Monarchie in Europa zu gelangen. Wenn sich etwa die Gründe für das Scheitern von Herrschern und das Verfahren der Absetzung im Laufe der Zeit gewandelt hätten, dann wäre dies ein Hinweis darauf, dass sich die Erwartungen an die Monarchie, die rechtliche Stellung des Monarchen und die Funktion der Monarchie in der Gesellschaft ebenfalls verändert haben müssen. Für den heutigen Vortrag habe ich zwei Dynastien in weit auseinanderliegenden Epochen und in zwei verschiedenen Ländern ausgewählt, um exemplarisch vorführen zu können, zu welchen Ergebnissen ein solcher Vergleich führen könnte. Dass ich gerade diese beiden Dynastien ausgewählt habe, dazu hat mich ein Abschnitt aus Metternichs Bericht über seine Begegnung mit Napoleon in Dresden am 26. Juni 1813 angeregt. Metternich versuchte damals, zwischen der im Frühjahr geschlossenen russisch-preußischen Allianz und dem französischen Kaiser einen Frieden zu vermitteln. In diesem Zusammenhang verlangte er von seinem Gegenüber territoriale Zugeständnisse. Diese lehnte Napoleon ab, wobei er folgende Begründung gegeben haben soll: Nun gut, was will man denn von mir? [. . . ] daß ich mich entehre? Nimmermehr! Ich werde zu sterben wissen, aber ich trete keine Hand breit Bodens ab. Eure Herrscher, geboren auf dem Throne, können sich zwanzig Mal schlagen lassen, und doch immer wieder in ihre Residenzen zurückkehren; das kann ich nicht, ich, der Sohn des Glückes. Meine Herrschaft überdauert den Tag nicht, an dem ich aufgehört habe, stark und folglich gefürchtet zu sein.

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Ich habe an anderer Stelle dargelegt, warum ich es für unwahrscheinlich halte, dass Napoleon diese Äußerung wirklich getan hat. Es kommt heute auch gar nicht darauf an. Wichtig ist allein, dass die Version Metternichs offensichtlich dazu dienen sollte, die Ablehnung der österreichischen Friedensvorschläge durch Napoleon zu erklären. Metternich hat seinen Bericht im Jahre 1829 niedergeschrieben, also mitten in der Epoche der Restauration, und so kann es nicht verwundern, dass er durch und durch den Geist der Heiligen Allianz atmet. In diesem Sinne wollte der österreichische Staatskanzler sagen, dass allein die dynastische Legitimität der geborenen Herrscher Stabilität und Frieden verbürge, weil nur der legitime Herrscher kompromissfähig sei, während der aus der Revolution hervorgegangene Usurpator seine Herrschaftsberechtigung durch den Erfolg immer neu beweisen müsse. Das heißt umgekehrt, dass ein solcher Herrscher den Thron unweigerlich verliere, sobald der Erfolg ihn verlasse. So ist es Napoleon neun Monate nach der Unterredung in Dresden tatsächlich auch ergangen: Wenige Tage, nachdem die verbündeten Armeen in Paris einmarschiert waren, wurde er abgesetzt. Bei seinem Neffen, Napoleon III., erfolgte die Sanktion im Jahre 1870 noch schneller. Am 2. September verlor er die Schlacht von Sedan und geriet in preußische Gefangenschaft; am 4. September wurde in Paris im Hôtel de Ville die Republik ausgerufen. Die beiden Kaiser aus dem Hause Bonaparte scheinen das Diktum, das Metternich Napoleon in den Mund legte, somit durch ihr eigenes Schicksal zu bestätigen. Zur Gegenprobe könnte man eine Fülle von Herrschern anführen, die ihre militärischen Ziele verfehlten und trotzdem nicht abgesetzt wurden – man denke zum Beispiel an Maria Theresia nach den Schlesischen Kriegen oder nach dem Siebenjährigen Krieg. Wenn jedoch die Metternichsche Formulierung als Ausgangspunkt für eine tiefergehende Betrachtung dienen soll, dann sollte bedacht werden, dass Napoleon selbst seine Legitimität nicht allein auf den militärischen Erfolg zu gründen strebte. Mindestens ebenso wichtig waren ihm seine inneren Reformen, die Verfassung des Empire, die großen Kodifikationen und ganz besonders das Konkordat von 1801, welches nicht nur die Gewissen, sondern auch die Erwerber von ehemaligem Kirchengut beruhigen sollte. Entscheidend ist, dass die Legitimität Napoleons, statt auf Geburt, auf politischer Leistung beruhte, und dass sie in dem Augenblick ins Wanken geraten konnte, in dem die Leistung ausblieb. Nun waren im Ancien Régime jedoch auch Herrscher abgesetzt worden, die auf dem Thron geboren waren. Dass auch sie ihre Legitimität verloren, muss also, wenn Metternich recht behalten soll, andere Gründe gehabt haben. Zu den berühmtesten Fällen gehören Karl I. und Jakob II. von England und Schottland, Vater und Sohn aus dem Hause Stuart.

128 | II Herrscher und Herrschaft In der Tat war es in diesen Fällen nicht das Ausbleiben des äußeren Erfolgs, was zum Sturz geführt hatte, sondern gerade umgekehrt die Sorge der Untertanen, dass die beiden Könige auf einem Wege, den sie missbilligten, zu erfolgreich sein könnten. Beide Absetzungen waren das Ergebnis eines Machtkampfs zwischen der Krone und dem Parlament. Dieser Machtkampf war im Kern ein Verfassungskonflikt, in dem um die Abgrenzung zwischen den Rechten der Untertanen und der königlichen Prärogative gerungen wurde. Ein solcher Konflikt brauchte an sich nicht zwingend zum Sturz des Herrschers zu fuhren. Das zeigt die Verabschiedung der Petition of Right von 1628, als es dem House of Commons gelang, von Karl I. eine Bestätigung seiner Auffassung zu erlangen, dass Zwangsanleihen ohne parlamentarische Zustimmung rechtswidrig seien. Der König erschien in dem Konflikt als derjenige, der sich im Interesse der Stärkung der Krongewalt über die altüberlieferten Rechte des Parlaments hatte hinwegsetzen wollen. Das Parlament erschien als Sachwalterin und Verteidigerin der überkommenen, selbstverständlich ungeschriebenen Verfassung. Dass der Angriff auf die Verfassung vom König ausging, wird sechzig Jahre später in der Declaration of Rights in die Formel gefasst, Jakob II. habe danach gestrebt, „die protestantische Religion und die Gesetze und Freiheiten dieses Königreichs umzustoßen und zu beseitigen“. Der wichtigste Vorwurf, der ihm in diesem Zusammenhang gemacht wurde, war sein Anspruch, ohne Zustimmung des Parlaments Gesetze suspendieren bzw. von ihrer Anwendung dispensieren zu dürfen. In der Tat hatte er, ähnlich wie schon sein Vorgänger Karl II., durch eine Declaration of Indulgence versucht, die Beschränkungen, welche die Gesetzgebung der Restauration nach 1660 protestantischen Dissenters und Katholiken auferlegt hatte, einseitig außer Kraft zu setzen. Die größte Hürde vor der Übernahme eines öffentlichen Amts durch einen Katholiken bildete seit 1673 die Test Act, und deren Durchsetzung war gerade die Antwort des Parlaments auf die im Jahr zuvor von Karl II. abgegebene Declaration of Indulgence gewesen. Im Unterschied zum Jahre 1628 kam es 1687 und 1688 nicht zu einer friedlichen Beilegung des Konflikts. Vielmehr rief eine Gruppe von Magnaten Wilhelm von Oranien ins Land. Als Jakob II. erkannte, dass seine Machtmittel erschöpft waren, floh er nach Frankreich, und das Parlament erklärte, dass der König auf die Regierung verzichtet habe, so dass der Thron nunmehr unbesetzt – vacant – sei. Bekanntlich hatte der Widerstand der Tories und des House of Lords gegen die Absetzung des von Gott legitimierten Herrschers durch die Untertanen dazu geführt, dass die Declaration of Rights an dieser entscheidenden Stelle zweideutig formuliert war. Im Entwurf des House of Commons hatte nämlich völlig unmissverständlich und ohne beschönigende Floskel gestanden, dass Jakob II. den original contract between king and people gebrochen und dass er die Grundgesetze des Königreichs verletzt habe.

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Das Argument des Vertragsbruchs durch den König beruht auf dem Grundsatz, dass gegen den ungerechten Herrscher Widerstand erlaubt sei. Dem entspricht die aus der Antike überlieferte Vorstellung, dass politische Herrschaft stets an das Recht und an das Gemeinwohl gebunden sei. Wo die Rechtsbindung aufgegeben werde, sei die Herrschaft despotisch. Despotische Herrschaft aber hatte Aristoteles die Herrschaft des Hausvaters über seine Sklaven genannt (griechisch: archè despotiké). Davon unterschied er scharf die Herrschaft in einem geordneten Gemeinwesen. In der Monarchie hieß sie archè basilike, in der Republik archè politikè. Die Vertragstheorie fügte diesem Grundsatz die Überlegung hinzu, dass die Menschen niemals eine Herrschaft über sich hätten anerkennen wollen, die nicht auf das Recht gegründet gewesen wäre, da gerade der Schutz des Rechts das einzig denkbare Motiv für den Eintritt in einen Staat habe sein können. Daraus folgte, wie etwa bei Althusius oder den französischen Monarchomachen des 16. Jahrhunderts exemplarisch nachzulesen ist, der Anspruch der Untertanen auf Vertragserfüllung bzw. – alternativ – das Recht auf Widerstand gegen den vertragsbrüchigen Herrscher. Das Widerstandsrecht war somit ein Recht auf Verteidigung der bestehenden Verfassung, und seine Wahrnehmung hatte dementsprechend – modern gesprochen – keinen revolutionären, sondern einen konservativen Charakter. In Übereinstimmung damit wurden Wilhelm von Oranien und seine Frau Maria Stuart nach der Absetzung Jakobs II. nur unter der Bedingung auf den englischen Thron berufen, dass sie gelobten, die von ihrem Vorgänger missachteten und bestrittenen Rechte und Freiheiten des Königreichs und der Untertanen zu respektieren. Das Recht auf Widerstand bis hin zur Absetzung des Herrschers bestand somit nur unter der Voraussetzung, dass der Herrscher das Recht und damit den ursprünglichen Vertrag gebrochen hatte und offenkundig nach der Aufhebung der bestehenden Verfassung trachtete. Widerstand war nur als Verteidigung des herrschenden Rechts möglich und bedurfte zu seiner Rechtfertigung des sorgfältigen Nachweises, dass der Verteidigungsfall tatsächlich gegeben war. Aus diesem Grunde musste die Instanz, welche den König wegen Missachtung des Rechts abzusetzen strebte, den Vertragsbruch des Herrschers beweisen. Dieser Beweis wurde in der Form geführt, dass dem Absetzungsbeschluss eine Aufzählung der Unrechtsakte des Herrschers vorangestellt wurde. Eine solche Liste von Rechtsbrüchen, in diesem Fall von Jakob II., enthält infolgedessen auch die Declaration of Rights von 1688, und sie endet mit der Feststellung, alle aufgezählten Akte des Königs seien utterly and directly contrary to the known laws and statutes and freedom of this realm. Solche Listen von Verfehlungen des Herrschers finden sich ganz ebenso in den anderen Absetzungserklärungen der frühen Neuzeit, so im niederländischen Plakkaat van Verlatinge vorn 26. Juli 1581 gegen Philipp II. von Spanien, in der

130 | II Herrscher und Herrschaft Anklageschrift des Rumpfparlaments vom 20. Januar 1649 gegen Karl I., hier allerdings in verkürzter Form, und in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776. In dieser von Thomas Jefferson entworfenen Erklärung wird eigens betont, dass Governments long established should not be changed for light and transient causes, also nicht schon wegen jeder beliebigen und einmaligen Verfehlung; Georg III. könne jedoch a long train of abuses and usurpations nachgewiesen werden, und eben diese Häufung beweise, dass Georg zielbewusst den Plan verfolgt habe, über seine amerikanischen Untertanen einen absolute Despotism aufzurichten. Die Häufung von Rechtsbrüchen war ein ebenso wichtiges Element, auf das regelmäßig hingewiesen wurde, wie auch der Hinweis darauf, dass wiederholte Bitten um Abstellung der Beschwerden ohne Erfolg geblieben seien. Eben die genannten Listen von Rechtsbrüchen der Herrscher, verbunden mit dem Hinweis, dass Herrschaft eine anvertraute Gewalt sei, die nicht in Willkür ausarten dürfe, hatte Erich Angermann in dem eingangs erwähnten Aufsatz miteinander verglichen, und da er sie bei allen untersuchten Absetzungsverfahren wiederfand, folgerte er, dass die Absetzungen sämtlich demselben Muster folgten und auf denselben ständischen Rechtsauffassungen beruhten. Die Absetzungen der beiden Stuart-Könige, die ich im Titel des Vortrags angesprochen habe, stehen somit nicht für sich, sondern repräsentieren einen Typus, den Typus des Ancien Régime. Es ist ein Typus der Herrschaftslegitimität und ein Typus des Scheiterns zugleich, denn alle genannten Herrscher haben ihre Throne nicht wegen politischer Erfolglosigkeit, sondern wegen Missachtung des Rechts oder wegen ihrer Unfähigkeit, das Recht zu schützen, verloren. In den englischen Auseinandersetzungen des 17. Jahrhunderts wurde das Anliegen der Untertanen in die Formel gefasst, es gehe um nichts anderes als darum, the rule of law, die Herrschaft des Rechts, sicherzustellen. Selbstverständlich gebrauchte der König dasselbe Argument, sprach von den Eingriffen des House of Commons in seine Prärogative und rechtfertigte seinen Widerstand dagegen seinerseits mit dem Willen und der Pflicht, die Verfassung zu verteidigen. Im Sinne der Unterscheidung Metternichs waren die Könige des Ancien Régime „auf dem Thron geboren“ worden. Ihre Legitimität war dynastisch begründet gewesen und hatte nicht erst durch politische Leistungen erworben und ständig neu bestätigt werden müssen. Diese ererbte Legitimität konnte jedoch verloren gehen, wenn ein Herrscher sich als unfähig erwies, seine eigentliche Aufgabe zu erfüllen und das Recht zu schützen. In diesem Fall hielten zahlreiche Rechtslehrer Widerstand für erlaubt und geboten. Die Entscheidung darüber wollten sie jedoch nicht jedem beliebigen Untertanen anheimgeben. Althusius zum Beispiel wies allein den von ihm so genannten Ephoren, den optimates oder den magistratus inferiores, also den Ständen, in England dem Parlament, das Recht aktiven Widerstands zu. Die Lehre vom Widerstandsrecht hat in der

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Neuzeit ihre eigene Entwicklung durchgemacht. Sie soll uns hier nur insoweit beschäftigen, als bestimmte Rechtsauffassungen dazu beitragen können, die einzelnen Absetzungsfälle zu interpretieren. Die Bezugnahme auf einen Herrschaftsvertrag, die Bestimmung eines rechtlichen Verfahrens, das Erfordernis eines öffentlich dargebrachten Beweises für den tyrannischen Charakter des Herrschers und die wiederum öffentlich vollzogene rechtliche Deduktion der daraus sich ergebenden Sanktionen: all dies unterstreicht, dass Widerstand und Herrscherabsetzung streng nach Rechtsgesichtspunkten behandelt werden mussten. Für Opportunitätsrücksichten oder politische Vorlieben war kein Raum. Der Grund liegt auf der Hand. Das Herrschaftsrecht einschließlich des Thronfolgerechts gehörte zu den unantastbaren Rechtsbeständen der Monarchie. Mit der Absetzung eines Herrschers, zumal dann, wenn zugleich seine gesamte Nachkommenschaft von der Thronfolge ausgeschlossen wurde, griffen die Untertanen tief in das öffentliche Recht ein. Ein solcher Eingriff musste daher seinerseits rechtlich unanfechtbar sein, damit das neue Regime, das an die Stelle des gestürzten treten würde, nicht durch die Thronansprüche der ausgeschlossenen Herrscher erschüttert würde, bis hin zum Bürgerkrieg. Das eben war schon 751 eine Hauptschwierigkeit gewesen. Dem so charakterisierten Typus Stuart steht nun der Typus Bonaparte gegenüber. Im Lichte der überkommenen monarchischen Tradition und nach den Grundsätzen der Heiligen Allianz waren der eine wie der andere Bonaparte Usurpatoren. Sie übten eine irreguläre und angemaßte monarchische Herrschaft aus, die sich, wie Metternich und andere glauben machen wollten, nur durch Einsatz fragwürdiger Mittel eine begrenzte Zeitspanne halten konnte. Wie unvermittelt ein Bonaparte hinweggefegt werden konnte, sobald der Erfolg ihn verlassen hatte, zeigt völlig unzweideutig das Beispiel Napoleons III. Bei Napoleon I. könnte man bezweifeln, dass sein Sturz ebenfalls nach diesem neuen Muster vollzogen wurde. Zwar ist der Zusammenhang zwischen den militärischen Rückschlägen und der Absetzung offensichtlich. Zugleich aber wurde ganz traditionell verfahren, nicht anders als 1688 oder 1776. Als magistratus inferior agierte der französische Senat. In einer von Senator Charles-Joseph-Mathieu Lambrechts aufgesetzten Erklärung wurden die angeblichen Rechtsbrüche des Kaisers aufgezählt, ganz ebenso wie in der Declaration of Rights und der Declaration of Independence, und wie dort wurde argumentiert, man wolle die Institutionen verteidigen und vor Angriffen schützen und sich aus diesem Grunde von dem Rechtsbrecher trennen. Napoleon wurde wie Jakob II. und Georg III. als Tyrann hingestellt, aber nicht ex defectu tituli, wie man zunächst denken könnte, sondern quoad exercitium. Damit wurde seine Legitimität stillschweigend als ursprünglich in gleichem Maße gefestigt angesehen wie die Legitimität, welche die auf dem Thron geborenen Könige des Ancien Régime genossen hatten. Wie im Jahre 1688 waren auch 1814 zuvor ausländische

132 | II Herrscher und Herrschaft Armeen auf die Hauptstadt zumarschiert. Vermochte Napoleon nicht, die Alliierten an der Einnahme von Paris zu hindern, so hatte Jakob II. Wilhelm von Oranien militärisch nichts entgegensetzen können, weil seine Armee desertiert war. Aus all diesen Gründen könnte man versucht sein, einen Unterschied zwischen den Absetzungsverfahren von 1688 und von 1814 zu bestreiten. Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass sich die Absetzung Napoleons zu der Absetzung Jakobs II. verhielt wie eine schlechte Kopie zum Original. Talleyrand nahm sich die Glorreiche Revolution zum Vorbild, um einen Absetzungsakt in Szene zu setzen, für den im Grunde die wesentlichen Voraussetzungen fehlten. Wäre Napoleon wirklich nichts anderes als ein Sohn des Glücks und ein militärischer Abenteurer gewesen, dann hätte es seit dem Vordringen der Alliierten auf französischen Boden, spätestens jedoch nach ihrem Einmarsch in Paris spontane Erhebungen mit dem Ziel seines Sturzes geben müssen. Da dergleichen nicht stattfand, Talleyrand und Zar Alexander I. Napoleon jedoch unbedingt loswerden wollten, besann sich der Herzog von Benevent auf das Verfahren, nach dem im Ancien Régime Herrscher entthront worden waren und ließ flugs einen pacte social konstruieren, von dem man behaupten konnte, dass Napoleon ihn gebrochen habe, wofür Beweise erfunden wurden, die zusammengenommen nach bewährtem Muster ein eindrucksvolles Sündenregister ergaben. Dass im Unterschied zu 1688 in Frankreich kein Konflikt zwischen Krone und Parlament, hier also zwischen Kaiser und Senat oder zwischen Napoleon und dem französischen Volk, vorausgegangen war, in dem über die Auslegung der Verfassung im Interesse des rule of law gestritten worden wäre, brauchte schon deshalb nicht aufzufallen, weil Talleyrand oder der Senat sich nicht ausdrücklich auf die englischen Erfahrungen mit den Stuarts bezogen. Die militärischen Rückschläge Napoleons und der Einmarsch der Verbündeten in die französische Hauptstadt hatten allerdings die Voraussetzung für den Sturz Napoleons geschaffen, und die Revolte der Marschälle am 4. April zeigt, dass seine Autorität auch im Kreis seiner engsten Vertrauten zerbrochen war. Insofern kann man sagen, dass Talleyrand den Wünschen der französischen Nation vorgegriffen hatte und der Sturz des Kaisers letztlich doch in erster Linie die Folge der Tatsache war, dass das Glück ihn verlassen hatte. Der Sturz Napoleons I. vollzog sich also nach einem Muster, das seiner Stellung nicht adäquat war. Das prozessähnliche, an Rechtskategorien orientierte Verfahren des Ancien Régime passte nicht zu einem plebiszitär legitimierten Herrscher. Dessen Machtstellung war nämlich letztlich allein vom Willen des Volkes abhängig; der Souverän aber ist bekanntlich niemandem rechenschaftspflichtig. Daher entscheidet er nicht nach dem Recht, sondern in freier Willkür aufgrund der politischen Leistung, die der Herrscher in seinen Augen erbracht hat.

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Scheint somit die Hypothese bestätigt, dass die von Metternich dem Kaiser Napoleon in den Mund gelegte Unterscheidung zwischen den geborenen Herrschern und den Glücksrittern sich an den beiden Typen Stuart und Bonaparte historisch verifizieren lässt, könnte ich meinen Vortrag beenden, wenn sich an dieser Stelle nicht die Frage aufdrängte, welchem der beiden Typen denn die anderen Herrscher Europas zuzuordnen sind. Während ich vorhin schon festgestellt habe, dass die Könige des Ancien Régime offenbar sämtlich dem Stuartschen Legitimitätstypus angehören, scheint auch in dieser Beziehung mit der Französischen Revolution ein Wandel eingetreten zu sein. So hätte die Absetzung Ludwigs XVI., wäre er wie ein Stuart behandelt worden, mit einem Bruch der Verfassung von 1791 begründet werden müssen. Dieser Vorwurf wurde jedoch nicht erhoben, und der König hatte in der Tat nicht gegen die Verfassung verstoßen und keinen der verschiedenen Tatbestände erfüllt, an welche die Verfassung den Verlust des Throns geknüpft hatte. Dass ihm später der Prozess gemacht wurde, widersprach der Verfassung ebenfalls, denn dort war bestimmt worden, dass ein König nach seiner Abdankung in die Klasse der Bürger eintrete und nur für solche Vergehen vor Gericht zur Verantwortung gezogen werden könne, die er von diesem Zeitpunkt an begangen habe. Auch darin unterschied sich das Verfahren von dem Stuart-Typus, dass zu keinem Zeitpunkt die Verteidigung der Verfassung als Motiv der Absetzung bezeichnet wurde. Das Motiv war vielmehr die Verteidigung der Revolution. Diese schien Ludwig durch die Art, wie er von seinem verfassungsmäßigen Veto Gebrauch gemacht hatte, zu gefährden. Damit aber würde das Schicksal der Monarchie, statt wie im Ancien Régime an das Recht, an die Erwartungen geknüpft, welche die Bürger Frankreichs für die Zukunft hegten. Ludwig XVI. war von der Nationalversammlung vom Schützer des Rechts in den Hauptagenten einer Utopie, der Utopie von Freiheit und Gleichheit, verwandelt worden, natürlich gegen seinen Willen, und wahrscheinlich hat er seine neue Funktion noch nicht einmal verstanden. Dass er am 10. August 1792 zunächst suspendiert und am 21. September vom Konvent abgesetzt wurde, erklärt sich jedenfalls vor allem damit, dass er dieser Rolle in den Augen der Protagonisten der Revolution nicht gerecht geworden war. Zur Bestätigung dieser Interpretation sollte man sich die Gründe vergegenwärtigen, die dazu geführt hatten, dass er nicht schon im Vorjahr, nach seiner fehlgeschlagenen Flucht, abgesetzt worden war. Das entscheidende Argument war gewesen, dass man den König brauche, um die inzwischen fertiggestellte Verfassung in Kraft setzen zu können. In dieser Verfassung sollte Ludwig die exekutive Gewalt übernehmen, und dies erschien damals deshalb wichtig, weil die Mehrheit der Nationalversammlung davon überzeugt war, dass nur die konstitutionelle Monarchie mit einer sorgfältig austarierten Gewaltenteilung die Ziele der Revolution – Freiheit und Gleichheit und die Gewähr der Menschen- und Bürgerrechte – würde verwirklichen können. Die Frage nach Recht oder Unrecht

134 | II Herrscher und Herrschaft trat also ganz in den Hintergrund; es ging allein um die Frage der politischen Opportunität im Interesse der revolutionären Utopie. Das heißt aber, dass der von Gott und dynastisch legitimierte König aus der Epoche vor der Revolution seit 1789 nicht mehr existierte. Ludwig XVI. war nur noch Verfassungsorgan, über dessen Beibehaltung oder Abschaffung allein nach Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit entschieden wurde. Aus dieser an Ludwig XVI. gemachten Beobachtung soll nunmehr die Hypothese abgeleitet werden, dass die Revolution auch für die historischen Dynastien eine neue Art von monarchischer Legitimität geschaffen habe, der dem Typus Bonaparte weit näher stand als dem Typus Stuart. Der Wandel erfolgte zweifellos nicht von einem Tag auf den andern, aber er lässt sich beim Studium der Herrscherabsetzungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nicht übersehen. Es genügte nicht, dass der Herrscher das Recht schützte; vielmehr musste er auch Erfolge vorweisen. Das mussten wiederum nicht notwendig militärische Erfolge sein; entscheidend war etwas anderes. Die Revolution hatte die Orientierung an der Tradition zunehmend altmodisch werden lassen. An ihre Stelle traten Zukunftsentwürfe, an deren Verwirklichung die Leistung eines Herrschers gemessen wurde. Ludwig XVI. war gescheitert, weil er der Verwirklichung der neuen Ideen im Wege stand. Karl X. geriet 1830 in den Konflikt mit der Deputiertenkammer, weil er deren Vorstellungen von parlamentarischer Regierung nicht entsprechen wollte – Vorstellungen, die sich in dieser Form nicht auf die Verfassung berufen konnten. Erst die Juliordonnanzen, zu denen er in seiner Verzweiflung Zuflucht nahm, lassen sich eindeutig als Verfassungsbruch einstufen. Bemerkenswert im Sinne unserer Hypothese ist der Slogan, mit dem Adolphe Thiers, einer der Architekten der Julirevolution, am Morgen des 30. Juli 1830 auf Plakaten an den Hauswänden in Paris für Louis-Philippe aus dem Hause Orléans warb: „Le duc d’Orléans est un prince dévoué à la cause de la Révolution. Le duc d’Orléans est un roi citoyen.“ Man erkennt, was vom neuen König in erster Linie erwartet wurde: Dass er sich der Revolution verpflichtet wisse. Die Revolution gilt dabei als fortwirkendes Prinzip, das immer vollständiger verwirklicht werden sollte; sie war weniger Vergangenheit und festgelegte Norm als vielmehr vage Zukunftshoffnung. Weiter heißt es, der Herzog von Orléans akzeptiere die Charte, „wie wir sie immer hatten haben wollen“, das heißt mit parlamentarischer Regierung, und der letzte Satz lautet, der Herzog von Orléans werde seine Krone vom Volk empfangen. Der Thronwechsel von 1830 in Frankreich weist viele Parallelen zur Glorreichen Revolution in England im Jahre 1688 auf. Wie dort das Parlament, so etablierte hier die Deputiertenkammer ihre Suprematie über die Krone, und wie in England wurde der Kandidat für den Thron erst eingesetzt, nachdem er den Eid auf die Verfassung abgelegt hatte. Aber in England war selbstverständlich keine

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Rede davon gewesen, dass der Vorzug des neuen Königspaars darin bestehe, dass es das Prinzip der Revolution auf seine Fahne geschrieben hätte. Wie 1688 wurde allerdings mit dem Gedanken des Vertragsbruchs operiert, und klarer als damals wurde zur Rechtfertigung der Berufung eines neuen Königs erklärt, der Thron sei vakant „en fait et en droit“, eine Aussage, die auf Wunsch der Tories in der Glorreichen Revolution vermieden worden war. Dass der Übergang der Herrschaft von Karl X. auf Louis-Philippe ein Janusgesicht zeigt, liegt an dem Bestreben Thiers’ und des Kreises um die Zeitung Le National, den Republikanern keine Chance zu lassen, die Republik zu proklamieren. Wie schon 1814 wurde das Muster von 1688 instrumentalisiert, um die notwendigen Beschlüsse in den Kammern zu fassen, wo die Orléanisten die Mehrheit besaßen, statt die Entscheidung über das künftige Regime der Straße zu überlassen. Verfolgt man die Geschichte der Charte constitutionnelle von 1814 bis 1848, so zeigt sich, dass die Herrscher weniger an deren Buchstaben als vielmehr an den Erwartungen gemessen wurden, die sich an diese Verfassung knüpften. Diese Erwartungen jedoch wurden mit fortschreitender gesellschaftlicher und politischer Entwicklung immer radikaler. So genügten die Verbesserungen der Charte von 1830 in den späten vierziger Jahren den inzwischen gewachsenen Ansprüchen nicht mehr. Aus der Bankettbewegung zugunsten einer Erweiterung des Wahlrechts ging die Revolution von 1848 hervor, und nicht zufällig lautete der erste Satz der Proklamation der Provisorischen Regierung an das Französische Volk vom 24. Februar: „Eine rückschrittliche und oligarchische Regierung ist dank des Heldenmuts des Volks von Paris soeben gestürzt worden“. Rückschrittlich und oligarchisch – das sind Attribute, die eine unerwünschte Politik und ein unpopuläres Programm, nicht aber eine Verletzung des Rechts oder einen Bruch der Verfassung ausdrücken. Dementsprechend unterzog sich auch niemand der Mühe, dem geflohenen Bürgerkönig Rechtsbrüche nachzuweisen. Das hätte auch kaum zu der weiteren Feststellung in der Proklamation der Provisorischen Regierung gepasst, wo von dem Blut des Volkes, das in den Barrikadenkämpfen geflossen war, gesagt wird, es habe „eine nationale und volkstümliche Regierung“ geschaffen, die im Einklang stehe „mit den Rechten, den Fortschritten und dem Willen dieses großen und noblen Volkes“. Die Rücksicht auf die Rechte, die Fortschritte und den Willen des Volkes wird damit mittelbar als das Kriterium bezeichnet, dem eine monarchische Regierung entsprechen musste, um als legitim zu gelten. Der plebiszitäre Charakter dieser Forderung liegt auf der Hand, zumal mit dem Begriff „Fortschritte“ im Plural zugleich ausgedrückt wird, dass vom Herrscher erwartet wurde, dass er mit der Zeit ging, dass er sich neuen Entwicklungen anpasste und dass er auch ganz neu aufkommende Wünsche der Bürger zu erfüllen bereit war. Hatten die Franzosen 1830 und 1848 ihre Könige gestürzt, weil diese deren konstitutionelle und demokratische Erwartungen nicht erfüllt hatten, so for-

136 | II Herrscher und Herrschaft mierte sich um dieselbe Zeit anderswo in Europa in den Nationalbewegungen eine auf Veränderung drängende Kraft, der nach der Jahrhundertmitte in Italien und Deutschland mehrere Monarchien zum Opfer fielen. Hier wurde die Frage nach der Rechtlichkeit und Gesetzmäßigkeit der Regierungen nicht einmal geprüft. Der Großherzog von Toskana, der Herzog von Modena und der König beider Sizilien standen der italienischen Einheitsbewegung ebenso im Wege wie der Papst als Beherrscher des Kirchenstaats, und in Deutschland annektierte Preußen nach dem Sieg über Österreich und seine Verbündeten im Jahre 1866 kurzerhand eine ganze Reihe von Staaten im Raum nördlich des Mains: Schleswig und Holstein, Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt. Die Annexion schloss in Italien wie in Deutschland den Sturz der Dynastien ein. In der Begründung des Gesetzentwurfs der preußischen Regierung für den Vollzug der Annexion wird neben dem Sicherheitsbedürfnis des preußischen Staates vor allem auf die nationalen Bestrebungen der deutschen Nation abgehoben: „Die Regierungen“ der betreffenden Staaten, so heißt es dort, haben durch ihre beharrliche Ablehnung der von Preußen vorgeschlagenen Reform des Bundes und durch den offenen, mit dem Zweck der Vereitelung derselben unternommenen Krieg bewiesen, daß auf ihre Mitwirkung zur Befriedigung der nationalen Bedürfnisse und berechtigten Wünsche des deutschen Volkes nicht zu rechnen ist. Sie haben damit ihren Fortbestand unmöglich gemacht, indem sie gezeigt haben, daß derselbe mit der Erreichung befriedigender Zustände der deutschen Nation unvereinbar ist.

Noch entschiedener sprach Bismarck sich in der Kommission des Abgeordnetenhauses aus, indem er die Eroberungen „mit dem Recht der deutschen Nation, zu existieren, zu athmen und sich zu einigen“, begründete, „zugleich aber mit dem Recht und der Pflicht Preußens, dieser deutschen Nation die für ihre Existenz nöthige Basis zu liefern.“ Die Absetzung des Königs von Hannover und der anderen Herrscher war nun keineswegs von der eigenen Bevölkerung angestrebt oder auch nur gebilligt worden. Vielmehr nahm die Regierung des siegreichen Preußen gleichsam treuhänderisch das Recht für sich in Anspruch, im Namen, aber ohne Auftrag, des hannoverschen und kurhessischen wie des gesamten deutschen Volkes ein Nationalinteresse wahrzunehmen, in der Überzeugung, dass die Nation dieses Vorgehen – fast möchte man sagen: nach Erlangung der Volljährigkeit – nachträglich gutheißen werde, ganz ebenso wie die italienische Nation die Eroberungen der Truppen Cavours und Garibaldis nachträglich durch formelle Plebiszite bestätigte und ihnen damit die national-demokratische Sanktion verlieh. Als erster hatte Napoleon diese Art von treuhänderischer Herrscherabsetzung praktiziert und zwar ebenfalls in der Überzeugung, dass die ehemaligen Untertanen der abgesetzten Herrscher es ihm nachträglich danken würden. An der Grün-

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dung des Königreichs Westfalen lässt sich das Verfahren exemplarisch studieren. Der Kaiser übersandte seinem Bruder Jérôme am 15. November 1807 aus Fontainebleau die für Westfalen vorgesehene Verfassung und schärfte ihm gleichzeitig ein, sie sorgfältig zu beachten: „Soyez roi constitutionnel“, schrieb er da. Wenn Jérôme seinen Untertanen die Vorteile und Segnungen einer „weisen und liberalen Regierung“ und der Freiheit, der Gleichheit und des Wohlstands, wie die Prinzipien der Revolution sie ermöglichten, erst einmal schmackhaft gemacht hätte, dann werde keiner von ihnen mehr unter die alten, absoluten Herrscher, schon gar nicht unter „le gouvernement arbitraire prussien“ zurückkehren wollen. Nach demselben Verfahren hat Napoleon auch andere Staaten zu gewinnen versucht. Überall richtete er Verfassungen ein und hoffte, damit die Zustimmung der fremden Untertanen zu den von ihm vorgenommenen gewaltsamen Herrscherabsetzungen zu erlangen, und überall zeigt sich dasselbe Bild, ob in Spanien oder in Italien oder in Polen: Der Sturz der alten Monarchien sollte dank der Überlegenheit und Modernität der napoleonischen Herrschaftsprinzipien nachträglich gerechtfertigt erscheinen, während die neuen Monarchien auf plebiszitärer Grundlage errichtet werden sollten. Die Wiederholung dieses Vorgangs durch den gottbegnadeten und formell nach wie vor dynastisch legitimierten König Wilhelm I. von Preußen knapp 60 Jahre später unterstreicht, dass die Grenzen zwischen den Herrschern, die auf dem Thron geboren waren, und den Söhnen des Glücks fließend geworden waren. Dass diese Grenze mit dem Fortgang der Jahrzehnte in der Tat kaum noch eine Rolle spielte, zeigte sich zuletzt in der Schlussphase des Ersten Weltkriegs, als in Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland die Monarchien untergingen. In allen drei Staaten hatte sich das Schicksal der Herrscher so eng mit dem Erfolg im Krieg verknüpft, dass sie, zumindest für ihre Person, kaum eine Chance hatten, eine Niederlage politisch zu überstehen. Ihre angeborene Herrscherwürde schützte sie nicht mehr wie noch zu Zeiten Metternichs davor, zur politischen Verantwortung gezogen zu werden. Besonders eng erscheint die Verknüpfung des Kriegsglücks mit dem Herrscheramt bei Zar Nikolaus II., seitdem er im September 1915 persönlich den Oberbefehl über die russischen Streitkräfte übernommen hatte. Eine Folge dieser Entscheidung war, dass er fortan vorwiegend im Hauptquartier in Mogilev statt in der Hauptstadt weilte. Das erklärt mindestens zum Teil, warum er die Zuspitzung der Lage in Petrograd im Februar 1917 nicht richtig einzuschätzen wusste. Nach einer Reihe von Fehlentscheidungen, deren gravierendste die Anweisung an den lokalen Kommandeur Chabalov vom 25. Februar 1917 gewesen war, auf die Aufständischen auf den Straßen und Plätzen der Hauptstadt zu schießen, folgte er dem Drängen der Mehrheit seiner Generale und des Dumapräsidenten Rodzjanko und dankte am 2. März nach russischem Kalender vom Hauptquartier der Nordarmee in Pskov aus für sich und seinen bluterkranken

138 | II Herrscher und Herrschaft Sohn Aleksej zugunsten seines Bruders Michail ab. Diese Abdankungserklärung wirkt wie eine Parodie auf das Napoleon von Metternich in den Mund gelegte Bekenntnis. Hatte Napoleon nach der Darstellung Metternichs angeblich behauptet, er könne sich auf dem Thron nur so lange halten, als er stark und gefürchtet, und das hieß in diesem Fall vor allen Dingen: militärisch erfolgreich, sei, so erklärte Nikolaus zur Begründung seines Thronverzichts, infolge des Aufruhrs in Petrograd habe sich die Lage dahin entwickelt, dass Russland nur unter der Voraussetzung Aussicht habe, den Krieg erfolgreich zu beenden, dass er auf den Thron verzichte. Mit anderen Worten: Auch Nikolaus verknüpfte sein Herrscheramt unauflöslich mit dem militärischen Erfolg; ein Einlenken, die Suche nach einem Verständigungsfrieden, kam nicht in Betracht: Das Schicksal Rußlands, die Ehre unserer heroischen Armee, das Wohl des Volkes und die ganze Zukunft unseres teuren Vaterlandes fordern, daß der Krieg um jeden Preis zu einem siegreichen Ende geführt wird.

Nikolaus glaubte diesen Preis mit seiner Person bezahlen zu müssen. Daher ordnete er sich dem einmal gefassten Kriegsziel unter, ganz ebenso wie Napoleon sich unter das Gesetz des Erfolgs hatte stellen müssen. Bezeichnend für die Amtsauffassung des Zaren war die Tatsache, dass er die Abdankungserklärung nicht etwa an das russische Volk und schon gar nicht an die Reichsduma oder die provisorische Regierung richtete, sondern an den Chef des russischen Generalstabs, General Aleksejev, gerade als handle es sich um nichts weiter als eine Maßnahme, die eine vorübergehende Erschwerung in der Kriegführung aus der Welt schaffen sollte, eine Maßnahme von einer Art also, die zunächst nur den Generalstab etwas anging. Oder anders ausgedrückt: Der Zar ging subjektiv völlig in der Rolle des Oberbefehlshabers auf; sein Rücktritt war somit in erster Linie der Verzicht auf den Oberbefehl und erst in zweiter Linie der Verzicht auf die Herrscherwürde. Dazu passt, dass es wesentlich die Generale gewesen waren, welche den Zaren im Interesse der Weiterführung des Krieges zum Rücktritt gedrängt hatten, und dieser selbst betrachtete die Loyalität der Armee gegenüber seinem Haus als die entscheidende Bedingung für den Fortbestand der Monarchie. Bis zu diesem Punkt noch nicht erörtert habe ich die naheliegende Frage, wie es kommt, dass im Zeitalter der ministeriellen Gegenzeichnung Monarchen überhaupt noch abgesetzt werden konnten. Als Beispiel sei die französische Verfassung von 1791 angeführt. Dort wurde einerseits bestimmt: „La personne du roi est inviolable et sacrée“; andererseits wurde festgesetzt, dass kein Befehl des Königs ausgeführt werden dürfe ohne ministerielle Gegenzeichnung und dass die Minister dafür die Verantwortung zu übernehmen hätten. Zweck der Bestimmung war, die Exekutive zur Rechenschaft ziehen zu können, ohne gleich den König

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zu stürzen. Bekanntlich wurde diese Art der Ministerverantwortlichkeit im wesentlichen strafrechtlich verstanden. Daran erkennt man, dass die Konzeption der Ausübung der königlichen Gewalt noch in starkem Maße von den Vorstellungen des Ancien Régime bestimmt war, wonach der König in erster Linie das Recht zu schützen und den rule of law sicherzustellen hatte. Es ist bezeichnend, dass die Rechtskonstruktion oder, wie man auch sagen könnte, die konstitutionelle Fiktion, dass the king can do no wrong, in der Praxis vielfach versagte. Polignac zog Karl X., Guizot Louis-Philippe mit vom Thron, und auch Wilhelm II. half es wenig, dass nach der Reichsverfassung von 1871 der Reichskanzler durch seine Gegenzeichnung die Verantwortung für die politischen Akte des Herrschers übernahm. Die Großen Vier in Paris schüttelten verständnislos den Kopf, als Bethmann Hollweg beantragte, statt des Kaisers für die Verletzung der belgischen Neutralität im Sinne des Artikels 227 des Versailler Vertrags vor einem internationalen Strafgerichtshof zur Verantwortung gezogen zu werden. Zunächst muss man die konstitutionellen Regime mit parlamentarischer Regierung von denjenigen unterscheiden, in denen nicht parlamentarisch regiert wurde. Als Robert von Mohl um die Mitte des 19. Jahrhunderts für die parlamentarische Regierung warb, war eines seiner Hauptargumente, dass nur bei diesem System die Fehlschläge der Regierung nicht dem Herrscher, sondern den Ministern zugeschrieben würden. Von parlamentarischer Regierung kann man jedoch mit Bezug auf die diskutierten Herrscherabsetzungen allenfalls für die Julimonarchie sprechen. Ein weiterer Grund dafür, dass die Kontrasignatur die Herrscher nicht schützte, war der Symbolcharakter eines Herrschers für ein Regime und dessen Politik. Wilhelm II. etwa verkörperte durch sein öffentliches Auftreten und durch die Inszenierung seiner Herrschaft ein ganzes politisches System jenseits aller Regierungsrechte, die ihm die Verfassung des Reiches zubilligen oder vorenthalten mochte. Ein dritter Gesichtspunkt offenbart vielleicht am deutlichsten den fiktiven Charakter des Gegenzeichnungsprinzips: Die Verfassungen waren fabriziert worden in der Absicht, für die Zukunft ein politisches System zu begründen, das allen Ansprüchen an Bürgerfreiheit, Rechtssicherheit und politischer Mitwirkung gewachsen wäre. Doch abgesehen davon, dass die Ansprüche stiegen, konnten die geschriebenen Verfassungen so etwas wie Altehrwürdigkeit, mithin die gewachsene Autorität von Traditionen wie das öffentliche Recht Englands, kaum erreichen, schon gar nicht in kurzer Frist. Eben darum konnte es dazu kommen, dass die von der verfassunggebenden Gewalt der französischen Nation geschaffene Verfassung von 1791 schon nach einem Jahr wieder über Bord geworfen wurde. Das Prinzip selbst, dass die Nation die verfassunggebende Gewalt besitze, machte die einmal geschaffenen Verfassungen verfügbar für beliebig viele weitere Verfassungsschöpfungen durch denselben Souverän. Bei einem Konflikt war nur zu schnell das Argument bei der Hand, eine Verfassung, die dem König das Recht

140 | II Herrscher und Herrschaft auf ein suspensives Veto einräume oder die es ihm erlaube, einen Minister wie Polignac oder Guizot zu berufen, sei wohl nicht richtig gestrickt worden und müsse schleunigst revidiert werden. Das führt auf die Frage, welche Arten von Regierungsformen auf die Herrscherabsetzungen zu folgen pflegten. Nimmt man das bisher Gesagte auf, dann müsste man vermuten, dass im Ancien Régime wiederum Monarchien, seit der Französischen Revolution dagegen überwiegend Republiken geschaffen worden seien. Der Grund für diese Vermutung liegt auf der Hand. Im Ancien Régime erfolgte die Absetzung in Abwehr von Angriffen auf das bestehende Recht; das Motiv der Absetzung war also, am geltenden Recht festzuhalten. Dementsprechend müsste man erwarten, dass statt des zum Tyrannen gewordenen Königs ein neuer Herrscher auf den Thron berufen würde, der die bestehende Verfassung höher achtete als der abgesetzte. Das beste Beispiel für ein solches Verfahren ist der Wechsel von Jakob II. Stuart auf Wilhelm von Oranien und Maria Stuart in England 1688. Die Unterscheidung von Ernst Kantorowicz zwischen dem body natural des Königs und seinem body politic macht den Zusammenhang von einer anderen Seite her plastisch. Der Widerstand galt dem König als body natural, nicht dem Königsamt. So berief das englische Parlament im Bürgerkrieg im Namen Karls I. (als king body politic) die Armeen ein, die denselben Karl I. (jetzt aber als king body natural) bekämpfen sollten. Wir haben gesehen, dass seit Ludwig XVI. Absetzungen nicht so sehr deshalb erfolgten, weil die Bürger ihrem Herrscher Rechtsbrüche vorgeworfen hätten, sondern weil sie mit seiner Leistung nicht zufrieden waren oder weil er ihren dynamisch voranschreitenden Erwartungen nicht entsprach. Dass auf der Grundlage einer derart aktualisierten Volkssouveränität nach einer Absetzung eine neue Monarchie geschaffen worden wäre, dass also der king body politic unangetastet geblieben wäre, ist wenig wahrscheinlich, und so steht zu vermuten, dass auf das Scheitern von Monarchen in der Regel die Proklamation von Republiken folgte. Dafür gibt es in der Tat zahlreiche Beispiele: so in Frankreich 1792, 1848 und 1870, in Russland 1917, und in Deutschland und Österreich-Ungarn 1918. Schon nach dem Fluchtversuch Ludwigs XVI. im Juni 1791 war in der Nationalversammlung unter Hinweis auf das amerikanische Beispiel die Errichtung der Republik gefordert worden. Dem widersprach damals Barnave mit dem Argument, für ein dicht besiedeltes und von mächtigen Nachbarn umgebenes Land wie Frankreich eigne sich nur die monarchische Regierungsform. Amerika dagegen sei zwar ein großes, dafür aber dünn besiedeltes Land; es sei nicht von Nachbarn bedroht, und seine Bürger seien von einfacher Lebensart und übten praktische Tätigkeiten aus, statt sich gefährlichen intellektuellen Spekulationen hinzugeben.

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Tatsächlich gab es auch nach der Französischen Revolution mehrere Fälle, in denen auf die Absetzung eines Herrschers die Berufung eines anderen folgte. Auf den Sturz Napoleons I. folgte die Restauration der Bourbonen, und auf den Sturz Karls X. 1830 folgte das Bürgerkönigtum des Louis-Philippe von Orléans. Umgekehrt blieben die Generalstaaten nach der Absetzung Philipps II. von Spanien Republik, und ebenso dachten die Vereinigten Staaten nach ihrer Trennung vom Mutterland nicht daran, sich einen anderen König zu suchen. Ambivalent ist der Fall Karls I. von England. Nach seiner Hinrichtung 1649 wurde die Monarchie abgeschafft und die Republik unter dem Namen eines Commonwealth proklamiert. Schon 1653 wurde das Commonwealth jedoch durch das Protektorat abgelöst, das monarchieähnliche Züge trug, so dass Cromwell 1657 sogar die Krone angeboten wurde. Das spricht auch hier dafür, dass die Republik im Grunde für eine ungeeignete Staatsform gehalten wurde. Da die Monarchie mit dem Sohn des gestürzten Königs schon 1660 restauriert wurde, könnte man sich fragen, ob die Republik mehr war als ein Zwischenspiel, das sich lediglich aufgrund der gegebenen politischen und personellen Konstellationen ein Jahrzehnt hatte halten können, zumal sich im Unterschied zur Restauration der Bourbonen 1814 die Institutionen der restaurierten Monarchie in England kaum von der alten Monarchie unterschieden. Dass die Generalstaaten nach der Absetzung Philipps II. zur Republik wurden, war nicht Absicht, sondern Ergebnis der einfachen Tatsache, dass sie keinen König fanden. Dabei hatten sie besonders klug verfahren wollen und Philipp den Gehorsam erst aufgekündigt, nachdem sie mit François d’Anjou am 29. September 1580 den Vertrag von Plessis-lès-Tours geschlossen hatten, um ihn gegen Anerkennung bestimmter Fundamentalrechte mit der Übernahme der Herrschaft zu betrauen. François d’Anjou zeigte sich der Aufgabe jedoch nicht gewachsen, und das Experiment scheiterte im Juni 1583 kläglich. Auch die Bestrebungen, Heinrich III. von Frankreich oder Elisabeth I. von England zum Fürsten und Herrn zu gewinnen, zerschlugen sich nacheinander. Anders liegt der Fall in Nordamerika. Bernard Bailyn hat gezeigt, dass die gebildeten Amerikaner vor der Revolution unter dem Eindruck der Lektüre antiker Schriftsteller standen, so dass ihre Kritik an den korrupten Praktiken der britischen Monarchie sich mit der Idealisierung der Republik im alten Rom verband. Die Vorstellung, dass die britische Monarchie zur Tyrannis entartet sei, war somit längst verbreitet, als Thomas Paine im Januar 1776 mit der Flugschrift Common Sense die Gemüter auf den Gedanken der Trennung vom Mutterland und auf die Preisgabe der Monarchie einstimmte. Dass umgekehrt Frankreich im Frühjahr 1814 an der Monarchie festhielt, hing zum einen damit zusammen, dass die Republik noch immer dadurch diskreditiert war, dass die Militärdespotie, der man sich soeben entledigt hatte, einst aus ihr hervorgegangen war; zum andern hätten die siegreichen Verbündeten, die in

142 | II Herrscher und Herrschaft Paris weilten, den Übergang zur Republik kaum hingenommen. In der Julirevolution 1830 dagegen stand die Republik tatsächlich auf der Tagesordnung, und es war, wie wir gesehen haben, vor allem dem Geschick von Adolphe Thiers zu verdanken, dass sie keine Chance erhielt. Ich fasse zusammen. – Der Vergleich von Herrscherabsetzungen im neuzeitlichen Europa hat zwei Typen von Legitimität, zwei Typen von Scheitern und zwei Typen von Absetzungsverfahren zutage gefördert, von denen jeweils der eine im Ancien Régime, der andere seit der Französischen Revolution die Regel war. Ich habe die beiden Typen mit den Namen Stuart und Bonaparte gekennzeichnet. Beim Typ Stuart beruhte die Legitimität des Herrschers einerseits auf der Geburt, andererseits auf seiner Fähigkeit und Bereitschaft, das Recht zu schützen, beim Typus Bonaparte auf der politischen Leistung und der dadurch erzeugten Akzeptanz auf Seiten der Untertanen. In diesem Zusammenhang hat sich gezeigt, dass auch die traditionellen Monarchien sich seit der Französischen Revolution zunehmend auf diese plebiszitäre oder, wenn man will, bonapartistische Legitimität stützten. Da die Monarchen vom Typ Stuart nur wegen Bruch des Rechts und Angriffen auf die Verfassung gestürzt werden konnten, mussten solche Attentate sorgfältig nachgewiesen werden, weil anders das Recht auf Widerstand nicht gegeben gewesen wäre. Aus diesem Grunde konnten Monarchen dieses Typs nur unter öffentlicher, juristisch akribischer Demonstration der Rechtswidrigkeit ihrer Amtsführung abgesetzt werden. Die Monarchen vom Typ Bonaparte dagegen verloren ihre Legitimität, sobald sie die Zustimmung ihrer Untertanen über eine kritische Grenze hinaus einbüßten. Wenn der Souverän zur Absetzung schritt, war er niemandem gegenüber rechenschaftspflichtig. Der Thronverzicht Nikolaus’ II. hat gezeigt, dass ein Monarch auch dann, wenn er formell selbst der Souverän war, eine Begründung für seinen Schritt geben konnte, die den mutmaßlichen Willen der Nation zum Maßstab nahm. Nicht anders verfuhr Bismarck, als er die Annexionen in Norddeutschland mit den nationalen Bestrebungen der Deutschen rechtfertigte. Das persönliche Schicksal der abgesetzten Herrscher und ihrer Familien hat immer wieder gezeigt, dass ein gewesener Monarch sich nicht, wie in der französischen Verfassung von 1791 vorgesehen, friedlich ins bürgerliche Privatleben zurückziehen konnte. Wenn ihm nicht wie Karl I. und Ludwig XVI. in engem zeitlichen Zusammenhang mit der Absetzung der Prozess gemacht und er zum Tode verurteilt wurde, blieb nur das Exil oder die Verbannung auf eine sonnige Insel wie Elba oder auf eine abgelegene und unwirtliche Insel wie St. Helena. Es fehlte wenig, und Nikolaus II. wäre nach England emigriert. Stattdessen brachte man ihn nach Tobol’sk in Sibirien und von da nach Jekaterinburg im Ural, wo er im Keller des Hauses eines gewissen Ipat’ev mit seiner Familie in der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 grausam ermordet wurde, nur damit er nicht in die

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Hände der Weißen fiel. Denn auch ein König oder Zar, der seine Krone verloren hatte, konnte sich unter Umständen als gewaltiges politisches Kapital erweisen, und wenn dieses Kapital in falsche Hände geriet, dann konnte das unerwünschte Folgen haben. Das zeigt, wie schwierig es war, einen Herrscher wirklich loszuwerden.

Der napoleonische Staatskult Der* napoleonische Staatskult ist bisher kaum bearbeitet worden.¹ Schon die Terminologie ist unsicher. In der Forschung überwiegt der Begriff „Napoleonkult“ bzw. „culte de Napoléon“; daneben finden sich in deutschsprachigen Veröffentlichungen gelegentlich Ausdrücke wie „Staatskult um Napoleon“ oder „Französischer Staatskult“.² Als französischsprachiges Gegenstück dazu begegnet die Formel vom „culte napoléonien officiel“ oder vom „culte impérial“.³ Den Begriff „Napoleonkult“ gebrauchen einige Autoren für die erinnernde Verehrung des Kaisers in der Epoche nach seinem Sturz.⁴ Andere verstehen darunter den Kult zur Zeit der Herrschaft Napoleons.⁵ In diesem Sinne wird in der Forschung auch für die Monarchien des 19. Jahrhunderts vom „monarchischen Kult“ gesprochen.⁶ Wieder andere Autoren unterscheiden nicht zwischen diesen beiden Bedeutungen.⁷ * Erstdruck in: Guido Braun/Gabriele B. Clemens/Lutz Klinkhammer/Alexander Koller (Hrsg.): Napoleonische Expansionspolitik. Okkupation oder Integration? Berlin 2013, S. 138–159. 1 Die einzige Monographie zum Thema ist C. Buchholz: Französischer Staatskult 1792–1813 im linksrheinischen Deutschland. Mit Vergleichen zu den Nachbardepartements der habsburgischen Niederlande. Frankfurt a. M. 1997. Auf rheinischen Quellen fußt auch die knappe Darstellung der napoleonischen Festkultur in M. Rowe: From Reich to State. The Rhineland in the Revolutionary Age, 1780–1830. Cambridge 2003, S. 151 f. 2 W. Siemann: Propaganda um Napoleon in Württemberg. Die Rheinbundära unter König Friedrich I. (1806–1813). In: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 47 (1988), S. 362. 3 C. Triolaire: Célébrer Napoléon après la République. Les héritages commémoratifs révolutionnaires au crible de la fête napoléonienne. In: Annales Historiques de la Révolution Française 4 (2006), S. 76. Den Hinweis auf diesen Aufsatz verdanke ich Thierry Lentz, Paris; J.-O. Boudon: Grand homme ou demi-dieu? La mise en place d’une religion napoléonienne. In: Romantisme. Revue du dix-neuvième siècle 100 (1988), S. 135–139. 4 W. Klein: Der Napoleonkult in der Pfalz. München/Berlin 1934; J.-M. Lucas-Dubreton: Le culte de Napoléon 1815–1848. Paris 1960; A. Jourdan: Mythes et légendes de Napoléon. Un destin d’exception, entre rêve et realité. Toulouse 2004, S. 47–87. 5 A. Karll: Französische Regierung und Rheinländer vor 100 Jahren. Ein Beitrag zur Geschichte der amtlichen Mache. Leipzig 1921, S. 172 f.; R. Dufraisse: Témoignages sur le culte de Napoléon dans les pays de la rive gauche du Rhin (1797–1811). In: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 2 (1976), S. 255–284; W. Zajewski: Le culte de Napoléon dans la ville libre de Dantzig (1807–1813). In: Revue d’histoire moderne et contemporaine 23 (1976), S. 556–572. 6 Vgl. allein die Untertitel von S. Mergen: Monarchiejubiläen im 19. Jahrhundert. Die Entdeckung des historischen Jubiläums für den monarchischen Kult in Sachsen und Bayern. Leipzig 2005, und von H. Büschel: Untertanenliebe. Der Kult um deutsche Monarchen 1770–1830. Göttingen 2006, sowie die in den beiden Werken genannte Literatur. 7 G. Groß: Der Napoleonkult in Trier. In: E. Dühr/C. Lehnert-Leven (Hrsg.): Unter der Trikolore. Sous le drapeau tricolore. Trier in Frankreich – Napoleon in Trier 1794–1814. Bd. 2. Trier 2004, S. 721–745; Boudon: Grand homme (wie Anm. 3).

146 | II Herrscher und Herrschaft Schon wegen dieser Mehrdeutigkeit empfiehlt es sich, den Begriff „Napoleonkult“ zu vermeiden. Hinzu kommt bei einem Herrscher, der an imperial-römische Traditionen anknüpfte, der Umstand, dass der Begriff zu dem Missverständnis verleiten könnte, es handle sich um einen Kaiserkult nach dem Muster der römischen Antike. Der römische Kaiser wurde jedoch als Gottheit verehrt.⁸ Dergleichen hat Napoleon nicht angestrebt.⁹ Auch jede Gleichsetzung mit dem stalinistischen Personenkult ginge fehl; denn der Kult um die Person des Diktators wurde von Chruščev auf dem zwanzigsten Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion im Jahre 1956 unter Berufung auf Karl Marx aus gutem Grund als systemwidrig angeprangert, während die Verehrung des Herrschers zum Wesen der Monarchie gehört. Der Begriff „Staatskult“ unterstreicht im Gegensatz zum Begriff „Napoleonkult“ die Systemangemessenheit des Phänomens. Außerdem löst er es aus der ausschließlichen Bindung an das Erste Kaiserreich und ermöglicht dadurch den Vergleich mit früheren und späteren Staatskulten. In der Tat stand der napoleonische Staatskult in der Tradition des Staatskults der Französischen Revolution. Nachdem die Gesetzgebung der Assemblée nationale den Einzelnen aus seinen traditionellen ständischen Bindungen gelöst hatte, schien es unumgänglich, ihn über seine gewonnenen Rechte aufzuklären und zu einem loyalen Bürger des neuen Staates zu formen. Genau diesem Zweck diente der Staatskult. Er manifestierte sich in den nationalen Festen zuerst der Revolution, dann des Kaiserreichs. Die französische Verfassung von 1791 stellte fest: „Il sera établi des fêtes nationales pour conserver le souvenir de la Révolution française, entretenir la fraternité entre les citoyens et les attacher à la Constitution, à la Patrie et aux lois.“ Dieselbe Vorschrift findet sich auch in der Direktorialverfassung von 1795.¹⁰ Napoleon sah sich nicht weniger als die verschiedenen Vorgängerregime

8 M. Clauss: Kaiser und Gott. Herrscherkult im römischen Reich. Stuttgart/Leipzig 1999, S. 17: „Der römische Kaiser war Gottheit“. 9 Boudon: Grand homme (wie Anm. 3), S. 135, meint dagegen, Napoleon habe sich den römischen Kaiserkult zum Vorbild genommen. 10 Constitution française 1791, Titre I. In: J. Godechot (Hrsg.): Les Constitutions de la France depuis 1789. Paris 1970, S. 37; Constitution du 5 fructidor an III (22 août 1795), Art. 301, ebd., S. 134; vgl. dazu V. Sellin: Gewalt und Legitimität. Die europäische Monarchie im Zeitalter der Revolutionen. München 2011, S. 205–216. Unter den zahlreichen Publikationen zur Festkultur der Französischen Revolution vgl. vor allem M. Ozouf : La fête révolutionnaire 1789–1799. Paris 1976, und J. Ehrard/P. Villaneix (Hrsg.): Les fêtes de la Révolution. Colloque de Clermont-Ferrand (juin 1974). Paris 1977. Keines der beiden Werke bezieht die Nationalfeste des Kaiserreichs mit ein. Auch J. Godechot: Les Institutions de la France sous la Révolution et l’Empire. Paris 1968, behandelt zwar auf den Seiten 269 f. und 531–535 in der gebotenen Kürze die Feste der Revolution und des Direktoriums; für das Kaiserreich findet sich jedoch nur ein einziger Satz: ebd., S. 719.

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seit 1789 dazu gezwungen, seine Herrschaft durch inszenierte Gemeinschaftsakte im Bewusstsein und Willen der Nation zu verankern. Wie schon die Revolution grenzte er sich auf diese Weise von der Monarchie des Ancien Régime ab. Zugleich diente der napoleonische Staatskult seit der Proklamation des Kaiserreichs aber auch der Distanzierung von der Republik. Die jährlichen Feiern am Gründungstag der Republik, dem 1. vendémiaire (22. September), oder am Tag der Hinrichtung Ludwigs XVI., dem 2. pluviôse (21. Januar), hätte Napoleon kaum abschaffen können, wenn er nicht etwas Neues an ihre Stelle gesetzt hätte. An diesen nationalen Feiertagen waren die Franzosen ebenso nachdrücklich auf die Republik eingeschworen worden, wie Napoleon sie seit 1804 auf der Grundlage eines neuen Festkalenders auf das Kaisertum zu verpflichten suchte. Auf die erzieherische Funktion der nationalen Feste hatte Rabaut SaintÉtienne bereits im Jahre 1792 hingewiesen: „L’éducation nationale demande des cirques, des gymnases, des armes, des jeux publics, des fêtes nationales“.¹¹ Wie der Abbé Sieyès bezeugt, wurden die Nationalfeste im Jahre 1793 „in den allgemeinen Plan des öffentlichen Unterrichts“ einbezogen,¹² und La Revellière-Lépeaux, im Direktorium von 1795 bis 1799 für die öffentliche Erziehung zuständig, setzte im Jahre 1798 auseinander, dass der culte religieux, die cérémonies civiles und die fêtes nationales, die zugleich eng miteinander verbunden sein müssten, zusammengenommen demselben Ziel dienten: der Aufrechterhaltung der Sitten und der Bewahrung der Republik.¹³ Schon im Vorfeld des ersten großen Fests

Buchholz: Staatskult (wie Anm. 1) dagegen beschreibt den Staatskult der Revolution und des Kaiserreichs im Zusammenhang; dafür ist die Untersuchung auf einen regionalen Ausschnitt des damaligen französischen Staatsgebiets beschränkt. O. Dotzenrod: Republikanische Feste im Rheinland zur Zeit der Französischen Revolution. In: D. Düding/P. Friedemann/P. Münch (Hrsg.), Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Hamburg 1988, S. 63, glaubt, Napoleon habe keine „zu Propagandazwecken eingesetzte Feste“ benötigt, „um die linksrheinischen Gebiete endgültig mit der französischen Republik zu vereinen“. 11 Zitiert nach L. Bergeron: Évolution de la fête révolutionnaire. Chronologie et typologie. In: Ehrard/Viallaneix (Hrsg.): Fêtes (wie Anm. 10), S. 127. 12 E. Sieyes: Von der neuen öffentlichen Unterrichtsanstalt in Frankreich. In: Ders.: Politische Schriften, übersetzt und hrsg. von K. E. Oelsner. Bd. 2. Leipzig 1796, S. 299. 13 L. M. de La Revellière-Lépeaux: Réflexions sur le culte, sur les cérémonies civiles et sur les fêtes nationales, lues dans la séance du 12 floréal an VI de la classe des sciences morales et politiques de l’Institut national. In: Ders.: Mémoires. Bd. 3. Paris 1895, S. 7; vgl. dazu H. Grange: La RevellièreLépeaux, théoricien de la fête nationale (1797). In: Ehrard/Viallaneix (Hrsg.): Fêtes (wie Anm. 10), S. 493–502; A. Mathiez: La théophilanthropie et le culte décadaire 1796–1801. Essai sur l’histoire religieuse de la Révolution. Paris 1903, S. 144–161; und Ozouf : Fête (wie Anm. 10), S. 236: „Dans le cours de la Révolution, pas de débat sur l’instruction où il ne soit aussi question des fêtes; pas de débat sur les fêtes où il ne soit dit que les fêtes doivent servir à l’instruction.“

148 | II Herrscher und Herrschaft der Französischen Revolution, des Fests der Fédération von 1790, hatte der Architekt Bernard Poyet geschrieben, die großen öffentlichen Feiern übten eine elektrisierende Wirkung auf die Menschen aus mit dem Ergebnis, dass sie zuletzt alle von denselben Empfindungen beherrscht würden.¹⁴ Im selben Sinne erklärte wiederum La Revellière-Lépeaux sechs Jahre später, die Nationalfeste sollten bei den Teilnehmern „produire un tel dévouement que chaque citoyen soit prêt à sacrifier ses passions et ses vœux les plus ardents au bonheur et à la gloire de la république, au point de mépriser la mort et de braver la douleur pour assurer l’un et l’autre“.¹⁵ Die Teilnahme aller Bürger an den Festen war somit eine Existenzfrage für die Republik und deshalb Bürgerpflicht. Im Unterschied zu den frühen Festen der Revolution wurde der Staatskult des Kaiserreichs von Anfang an von oben geplant und angeordnet. Die öffentlichen Feste des Kaiserreichs waren „fêtes octroyées“.¹⁶ In einem Rundschreiben an die Unterpräfekten und Maires schrieb der Präfekt des Département Donnersberg, Jeanbon St. André, am 6. August 1807 über die bevorstehenden Feiern zum Geburtstag des Kaisers in einer charakteristischen Wendung: „La joie publique doit se manifester partout“.¹⁷ Die allgemeine Freude wurde angeordnet, um die Bürger zu treuen Untertanen des Kaisers zu formen. Im Zuge der fortschreitenden Ausdehnung des Kaiserreichs durch immer neue territoriale Annexionen wurde der Staatskult zugleich ein vorrangiges Instrument der Integration nichtfranzösischer und aus anderen politischen Traditionen stammender Bürger. Entsprechendes gilt für die Satellitenstaaten, die Napoleon selbst oder ein Mitglied seiner Familie regierte. Auch in diesen Gebieten wurde der napoleonische Staatskult nach denselben Grundsätzen eingeführt wie im französischen Kaiserreich, gegebenenfalls in Anpassung an die jeweiligen lokalen Umstände und Besonderheiten. Dabei ging es nicht nur um die Gewöhnung der Untertanen an einen neuen Herrscher. Vielmehr setzten sich auch die napoleonischen Satellitenstaaten aus Gebieten zusammen, die vor dem Eingreifen Napoleons selbständige oder Teile von selbständigen Territorien gewesen waren, so dass ihre Untertanen durch den Staatskult erst zu einer neuen Einheit geformt werden mussten. Darum werden im Folgenden das Königreich Italien und das Großherzogtum Berg exemplarisch in die Analyse

14 „Le sentiment de chacun devient celui de tous par une espèce d’électrisation, dont les hommes les plus pervers ont de la peine à se défendre“; zitiert nach M.-L. Biver: Fêtes révolutionnaires à Paris. Paris 1979, S. 205. 15 La Revellière-Lépeaux: Réflexions (wie Anm. 13), S. 22. 16 Ozouf : Fête (wie Anm. 10), S. 23. 17 Der Präfekt des Département Donnersberg, Jeanbon St. André, an die Unterpräfekten und an die Bürgermeister von Mainz und Bingen, 6. 8. 1807, Landesarchiv Speyer, G6/456, fol. 114r.

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einbezogen. In Rheinbundstaaten wie Bayern, die von überkommenen Dynastien regiert wurden, begingen die dort stationierten französischen Truppen die in Frankreich angeordneten Nationalfeste. Die Regierung in München gewährte die erforderliche Unterstützung, ohne dass der französische Feiertag dadurch zugleich zu einem bayerischen Feiertag geworden wäre: „Es war ein französischer Nationalfeiertag, der auf bayerischem Boden gefeiert wurde“.¹⁸ Da jedoch auch die bayerische Monarchie vor der Aufgabe stand, ihre im Zuge der territorialen Neuordnung Deutschlands seit 1803 bunt zusammengewürfelten Untertanen zu einer Staatsnation zu integrieren, stiftete sie nach dem Ende der napoleonischen Epoche in Gestalt des Münchner Oktoberfests ebenfalls ein Nationalfest.¹⁹ Willkommene Anlässe zu weiteren nationalen Festen in den deutschen Staaten boten Monarchiejubiläen.²⁰ Ein wesentliches Kennzeichen jedes Kults ist die rituelle Mitwirkung seiner Anhänger. Da durch den napoleonischen Staatskult die gesamte Gesellschaft des Kaiserreichs zu einem einheitlichen Staatsbewusstsein erzogen werden sollte, musste ein Weg gefunden werden, um Millionen von Menschen in einem Gebiet, das in der Zeit seiner größten Ausdehnung von Hamburg bis Rom reichte, in Gedanken und Werken am politischen Ritual zu beteiligen. Dementsprechend wurden die Feste nicht nur in den großen Städten, sondern auch in den kleinsten und entlegensten Gemeinden des Reiches gefeiert. Nur auf diese Weise wurde es möglich, grundsätzlich die gesamte Bevölkerung in das Festgeschehen einzubeziehen. Die Ubiquität des Fests entsprach einerseits dem universalen Herrschaftsanspruch des modernen Staates auf die Gesamtheit seiner Mitglieder, andererseits dem Gedanken der Volkssouveränität und der politischen Partizipation aller Bürger. Schon die Fête de la Fédération vom 14. Juli 1790 war im ganzen Königreich gefeiert worden.²¹ Und in der Tat: Wenn der Staatskult der

18 W. Wesemüller: Der öffentliche Napoleon in Bayern. Inszenierung, Propaganda, Apologie und Spott. Öffentliche Wahrnehmung Napoleons im Spannungsverhältnis von französischer Hegemonialpolitik und bayerischer Souveränitätspolitik 1805/06–1814. Unveröffentlichte Münchner Magisterarbeit 2000, S. 84, zitiert mit Erlaubnis und durch Vermittlung von Wolfram Siemann, München. 19 Vgl. dazu V. Sellin: Nationalbewußtsein und Partikularismus in Deutschland im 19. Jahrhundert. In: J. Assmann/T. Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1988, S. 256 (in diesem Band S. 287–304). 20 Vgl. Mergen: Monarchiejubiläen (wie Anm. 6), S. 12: „Schon zu Beginn dieses Jahrhunderts entdeckten auch die jungen Königreiche in den deutschen Einzelstaaten das historische Jubiläum als geeigneten Mechanismus der Inszenierung des Königs“. 21 Vgl. Ozouf : Fête (wie Anm. 10), S. 48: „On pense trop souvent à la Fédération parisienne, sans un regard pour les milliers de fêtes provinciales et même villageoises qui la doublent, dans une passion de la simultanéité.“

150 | II Herrscher und Herrschaft staatsbürgerlichen Erziehung dienen sollte, dann durfte in einer demokratischen Verfassung niemand davon ausgeschlossen werden. Dementsprechend hatte schon La Revellière-Lépeaux gefordert, dass die fêtes nationales in der Weise angelegt werden sollten, dass „dans la plus petite commune de la république comme dans la plus grande, chaque citoyen reconnaisse partout le même plan, le même objet, les mêmes rites, les mêmes chants“.²² Vorbild für die Ubiquität der Feiern nach einem einheitlichen Plan war die Kirche. Die Priester, so schrieb La Revellière-Lépeaux, hätten die Menschen stets dadurch an ihre Herrschaft zu binden gewusst, dass sie den Gottesdienst überall in denselben Formen abhielten.²³ Im Kaiserreich bedeutete die Ubiquität die regelmäßige Wiederholung und Bestätigung des Plebiszits, das die Erhebung Napoleons zum Kaiser legitimiert hatte. In den Gebieten, die erst nach 1804 von Frankreich annektiert wurden, und in den von Napoleon oder Angehörigen seiner Familie regierten Nachbarstaaten erscheinen die Feiern dementsprechend als ein regelmäßig erneuertes Ersatzplebiszit. Man verkennt den spezifischen Charakter des Staatskults, in den die ganze Nation einbezogen wurde, wenn man nur die Feste in Paris oder in einzelnen Gemeinden oder Departements ins Auge fasst.²⁴ Damit die Nation den Kult als ihre kollektive Handlung auffassen könne, mussten die Feste nicht nur im gesamten Reich, sondern auch am gleichen Tag und zur gleichen Stunde stattfinden. Auch das hatte La Revellière-Lépeaux in der zitierten Schrift von 1798 gefordert.²⁵ Die Gleichzeitigkeit wurde dadurch sichergestellt, dass die Feste zentral von der Regierung organisiert wurden. Die Anordnung von Nationalfesten behielt sich der Kaiser sogar selbst vor. Die kirchlichen Zeremonien trug er den Erzbischöfen und Bischöfen, die weltlichen

22 La Revellière-Lépeaux: Reflexions (wie Anm. 13), S. 24. 23 Ebd., S. 25. 24 Die bisher erschienenen Untersuchungen zur politischen Festkultur im Kaiserreich beschränken sich durchweg auf einzelne Regionen, Départements oder Städte. Vgl. die bereits genannten Titel von Buchholz: Staatskult (wie Anm. 1), Groß: Napoleonkult (wie Anm. 7); ferner ebenso U. Schneider: Politische Festkultur im 19. Jahrhundert. Die Rheinprovinz von der französischen Zeit bis zum Ende des Ersten Weltkriegs (1806–1918). Essen 1995; R. Schmidt: Die Mobilisierung der Provinz. Revolutionärer Wandel und politische Festkultur in Amiens. In: R. Reichardt/ R. Schmidt/H.-U. Thamer (Hrsg.): Symbolische Politik und politische Zeichensysteme im Zeitalter der Französischen Revolutionen 1789–1848. Münster 2005, S. 113–130; Triolaire: Célébrer Napoléon (wie Anm. 3); B. Benoit: Fêtes et cérémonies officielles à Lyon en l’honneur du Premier Consul et de l’Empereur (1799–1815). In: R. Zins (Hrsg.): Lyon sous le Consulat et l’Empire. Actes du colloque de Lyon (15–16 avril 2005). Reyrieux 2007, S. 67–83. 25 Grange: La Revellière-Lépeaux (wie Anm. 13), S. 501.

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den Präfekten auf.²⁶ Die Präfekten und die Bischöfe richteten sodann entsprechende Rundschreiben und Anordnungen an die ihnen unterstellten Amtsträger. Namentlich in den größeren Städten wurden die Festprogramme durch Plakate bekanntgemacht. Nach den Festen waren die Bürgermeister und Unterpräfekten dem Präfekten, die Bischöfe und Präfekten dem Innenminister berichtspflichtig.²⁷ Die Einmütigkeit der ganzen Nation in der Gleichzeitigkeit des kultischen Geschehens wurde auch dadurch veranschaulicht, dass bei ausgezeichneten Anlässen wie der Krönungsfeier am 2. Dezember 1804 und der Taufe des Königs von Rom am 9. Juni 1811, die beide in Notre-Dame in Paris stattfanden, Delegationen aus dem ganzen Reich nach Paris eingeladen wurden.²⁸ Ungeachtet dessen wurde die Krönungsfeier entsprechend dem ubiquitären Charakter des Kults am selben Tag auch in den einzelnen Departements unter Einsatz von Statuen oder Büsten Napoleons mitgefeiert.²⁹ Ein wesentliches Element des kultischen Rituals ist die regelmäßige Wiederholung. Die wichtigsten Nationalfeste dienten der Vergegenwärtigung eines zur beständigen Erinnerung bestimmten Ereignisses von symbolischer Bedeutung für das Reich und wurden daher Jahr für Jahr an bestimmten Tagen wiederholt. Die für das Kaiserreich konstitutiven Ereignisse waren der Geburtstag Napoleons am 15. August 1769 und seine Krönung zum Kaiser der Franzosen am 2. Dezember 1804. Während das Napoleonsfest durchweg am 15. August begangen wurde, war für die Feier des Krönungstags, bei der seit 1806 zugleich des Siegs von Austerlitz über Österreich und Russland am 2. Dezember 1805 gedacht wurde, der erste Sonntag im Dezember vorgesehen. Gesetzliche Grundlage für diese beiden Feste war ein kaiserliches Dekret vom 19. Februar 1806.³⁰ Im Königreich Italien war die

26 Décret imperial relatif aux Cérémonies publiques, Préséances, Honneurs civils et militaires, le 24 messidor an XII (13. 7. 1804), I.re Partie, Titre I.er , Section II, Art. 5. 27 Als Beispiel für die Erfüllung der genannten Amtspflichten durch einen Geistlichen sei der Bischof von Albenga im Département Genua genannt. Am 19. August 1806 sandte er einen ausführlichen Bericht über den Gottesdienst und die Prozession, die am Napoleonstag stattgefunden hatten, an den Innenminister Champagny. Die Instruktion, die er am 30. Juni an „tous les Curés, Clergé, et Fidèles de la Ville et du Diocèse“ gesandt hatte, fügte er bei: Paris, Archives Nationales (= AN), F/1cIII/Gênes/2. 28 Landesarchiv Speyer G6/456, fol. 13r: Der Präfekt des Département Donnersberg an die Unterpräfekten von Speyer, Kaiserslautern und Zweibrücken und an den Bürgermeister von Mainz; darin Hinweis auf Art. 7 des Décret impérial du 21 messidor an XII (10. 7. 1804). Danach sollten die Nationalgarden in jedem Département des Reiches eine Deputation aus jeweils 16 Männern mit einer Fahne zur Kaiserkrönung Napoleons nach Paris abordnen. 29 Buchholz: Staatskult (wie Anm. 1), S. 244–247. 30 Décret impérial concernant la Fête de Saint Napoléon, celle du Rétablissement de la Religion catholique en France etc., 19. 2. 1806.

152 | II Herrscher und Herrschaft Feier von Napoleons Geburtstag bereits durch Dekret vom 9. September 1805 angeordnet worden.³¹ Statt der Kaiserkrönung wurde dort an einem Jahr für Jahr neu bestimmten Tag des Monats Mai die Krönung Napoleons zum König von Italien am 26. Mai 1805 gefeiert.³² Neben diesen jährlich wiederkehrenden Erinnerungsfesten stand eine große Zahl von okkasionellen Festen. Anlässe dazu boten dynastische Ereignisse wie die Eheschließung Napoleons mit Marie Louise von Österreich am 1. April 1810 und die Taufe des Königs von Rom am 9. Juni 1811. Besuche des Kaisers in einer Stadt wurden nach dem Vorbild der traditionellen Entrée des Königs zu Zeiten des Ancien Régime häufig ebenfalls in den Formen eines rituellen Fests gefeiert. Eine eigene Kategorie bildeten die Dankgottesdienste nach Schlachtensiegen. Der Kaiser pflegte sie aus dem jeweiligen Hauptquartier durch Rundschreiben an die Bischöfe für ganz Frankreich anzuordnen. So schrieb er am 12. frimaire XIV (3. Dezember 1805) aus Austerlitz einen Tag nach der berühmten Schlacht: „Au reçu de la présente, vous voudrez donc bien, selon l’usage, chanter un Te Deum, auquel notre intention est que toutes les autorités constituées et notre peuple assistent.“³³ Mit der Anordnung von Dankgottesdiensten nach Schlachtenerfolgen griff Napoleon eine Tradition des Ancien Régime wieder auf. Michèle Fogel hat diese Praxis der alten Monarchie als „Zeremonien der Information“ interpretiert, durch die der König ein für das Land wichtiges Ereignis nicht nur als Faktum bekanntgab, sondern mittels der ritualisierten Form zugleich in das göttliche Heilsgeschehen einordnete, ein Verfahren „qui permet de transformer les curieux en fi-

31 Decreto relativo alla festa dell’anniversario della nascita di S. M. l’Imperatore e Re, 9. 9. 1805. 32 Vgl. z. B. Dekret des Vizekönigs Eugène de Beauharnais vom 10. 5. 1806, in dem die erste Jahresfeier der Krönung auf den 15. Mai festgesetzt wurde, mit detaillierten Vorschriften für den Ablauf der Zeremonie, auf einem zweisprachigen Plakat, Mailand, Archivio di Stato (= AS Milano), Fondo Potenze sovrane post 1535, cartella 173 (1806–1808). 33 Napoléon aux Évêques, 3. 12. 1805. In: Correspondance de Napoléon I er . Bd. 11. Paris 1863, Nr. 9539, S. 445 f. Vgl. die entsprechenden Rundschreiben Napoleons nach der Schlacht bei Jena, ebd., Bd. 13. Paris 1863, Nr. 11025, S. 367, Weimar, 15. 10. 1806: „Au reçu de la présente, veuillez donc réunir nos peuples dans les temples, chanter un Te Deum et ordonner des prières pour remercier Dieu de la prospérité qu’il a accordée à nos armes“, nach der Schlacht bei Friedland, ebd., Bd. 15. Paris 1864, Nr. 12766, S. 340, Wehlau, 17. 6. 1807: „Notre intention est qu’au reçu de la présente vous vous concertiez avec qui de droit et vous réunissiez nos sujets de votre diocèse dans vos églises métropolitaine et paroissiales, pour y chanter un Te Deum et adresser au ciel les autres prières que vous jugerez convenable d’ordonner dans de pareilles circonstances“, und vor Moskau, ebd., Bd. 24. Paris 1868, Nr. 19195, S. 212 f., Možajsk, 10. 9. 1812: „Réunissez mon peuple dans les églises pour chanter des prières, conformément à l’usage et aux règles de l’Église en pareille circonstance“.

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dèles de Dieu et de la monarchie“.³⁴ Wie Fogel zeigt, ordnete Ludwig XV. während des Österreichischen Erbfolgekriegs nicht weniger als 28 Mal das Absingen des Tedeum in den Kirchen Frankreichs zum Dank für militärische Erfolge an.³⁵ Der König und nur er entschied darüber, ob mittels der kirchlichen Feier ein Schlachtensieg zu einem Ereignis von Bedeutung für die Monarchie erhoben würde.³⁶ Dass Napoleon diesen Brauch der untergegangenen Monarchie übernahm, zeigt, dass die einzelnen Komponenten des von ihm entwickelten Staatskults nicht an ihrer Originalität gemessen werden dürfen, sondern an ihrer Eignung zur Verwurzelung einer neuartigen Monarchie, deren eigentümlicher Charakter gerade in der Verbindung von demokratisch-revolutionären mit monarchisch-restaurativen Elementen bestand. Die von den Bischöfen auf Anordnung des Kaisers organisierten Dankgottesdienste waren im Übrigen nicht die einzigen Gelegenheiten, bei denen die militärischen Erfolge des Kaisers gefeiert wurden. Sowohl am Krönungstag als auch am Geburtstag Napoleons stand der Dank für seine militärischen Leistungen im Mittelpunkt der Ansprachen und Dankgebete. In Kaiserslautern sah das Programm für den Napoleonstag des Jahres 1807 sogar die öffentliche Verlesung der wenige Wochen zuvor abgeschlossenen Friedensverträge von Tilsit mit dem Zaren und dem König von Preußen vor: „Après la lecture de chaque Traité de paix le maire entonnera le cris: Vive l’Empereur le Pacificateur!! et les timballes et les trompettes se feront entendre.“³⁷ Die Feste folgten jeweils einem bestimmten, in der Grundanlage genau vorgeschriebenen Ablauf, der zum großen Teil an die in der Revolution entwickelte Festkultur anknüpfte, wobei die republikanischen Symbole und Ausdrucksformen allerdings durch monarchische ersetzt wurden. Nach Empfang der entsprechenden Anordnung des Präfekten stellten die Bürgermeister das konkrete Festprogramm auf und trugen dabei nicht nur den lokalen Gegebenheiten, sondern auch ihren finanziellen Möglichkeiten Rechnung.³⁸ Dieses Programm legten sie den Präfekten zur Genehmigung vor, und diese reichten es an den Innenmi-

34 M. Fogel: Les cérémonies de l’information dans la France du XVIe au XVIIIe siècle. Paris 1989, S. 230. Den Hinweis auf dieses Buch verdanke ich Lucien Bély, Paris. 35 Ebd., S. 252. 36 Ebd., S. 255. 37 Programme pour la Célébration du quinze Août dans la Commune de Kaiserslautern, 6. 8. 1807, Art. 10 und 11, Landesarchiv Speyer, G6/456, fol. 124r. 38 Vgl. z. B. das Rundschreiben des Präfekten des Département Aisne vom 3. 8. 1806 an die Bürgermeister über die Gestaltung des bevorstehenden Napoleonsfestes (gedruckt), AN F/1cIII/Aisne/12 (Fêtes nationales): „Que cette journée reçoive tout l’éclat dont elle est susceptible, en proportion des ressources locales. Vous trouverez dans votre zèle et dans votre intelligence des rnoyens qu’il me serait difficile de connaître et d’indiquer“.

154 | II Herrscher und Herrschaft nister weiter, nicht selten unter Beifügung eines Kostenvoranschlags.³⁹ Zu den vorgeschriebenen und daher überall anzutreffenden Programmpunkten gehörte die Ankündigung der Feste schon am Vorabend und erneut früh am Morgen mit Böllerschüssen und langanhaltendem Glockenläuten. Am Vormittag versammelten sich sämtliche Beamten und Militärs in der Mairie, in den Hauptstädten der Départements in der Präfektur, und zogen anschließend im Zug (cortège), entsprechend protokollarischer Rangordnung, unter Begleitung oder durch das Spalier des Militärs oder der Nationalgarde, durch menschengesäumte Straßen, geschmückt mit Blumen, Zweigen und Transparenten, unter Kanonendonner und Glockengeläut, in die Kirche. Die protokollarische Rangordnung war durch das kaiserliche Dekret vom 24. messidor des Jahres XII (13. Juli 1804) verbindlich festgelegt worden und galt auch für die Sitzordnung im Gotteshaus.⁴⁰ Dort wurde das feierliche Tedeum gesungen. In seiner Ansprache würdigte der Geistliche die Bedeutung des Tages. Am Ende folgte das Gebet für den Kaiser. In Speyer wurden am Napoleonsfest 1806 bei der morgendlichen Versammlung im Rathaus drei Festzüge gebildet; der eine zog in die katholische, der zweite in die lutherische, der dritte in die reformierte Kirche.⁴¹ Die Beamten und Militärs, „toutes les autorités militaires, civiles et judiciaires“, wie es in den Dekreten und Anordnungen hieß, repräsentierten im Ritual den Staat. Erst ihre Mitwirkung in amtlicher Tracht verlieh den Festen ihren offiziellen Charakter. Sie waren zur Teilnahme verpflichtet. Zum rituellen Ablauf der Feste gehörte das gemeinsame Mahl für die Beamten und die Notabeln der jeweiligen Gemeinde.⁴² Dabei wurden nicht selten weit über hundert Personen bewirtet. Nichts könnte die Verbindung zwischen dem napoleonischen Staat und den Notabeln anschaulicher vergegenwärtigen als dieses Bankett. Durch Speisung der Ärmsten oder durch Ausgabe von Brot und anderen Lebensmitteln wurden zugleich die unteren Klassen der Bevölkerung symbolisch in das Festmahl einbezogen. Hilfe für die Bedürftigen wurde allerdings auch auf andere Weise geleistet. Die einzelnen Gemeinden nutzten hierbei die gebotenen Gestaltungsspielräume. Eine besondere Rolle spielten die von der Gemeinde gestifteten Heiraten von mit-

39 Vgl. z. B.: Der Präfekt des Département Donnersberg, Jeanbon St. André, an den Innenminister, 16. 5. 1811, über die Planungen für das Tauffest des Königs von Rom, AN F/1cIII/MontTonnerre/4 (Fêtes nationales 1806–1811). 40 Décret impérial, 13. 7. 1804 (wie Anm. 26). 41 Le sous-préfet de l’arrondissement communal de Spire au Préfet, 17. 8. 1806, AN F/1cIII/MontTonnerre/4 (Fêtes nationales 1806–1811). 42 Das politische Bankett ist in der Revolution entstanden. Für die Zeit des Direktoriums vgl. dazu A. von Ungern-Sternberg: Politische Bankette zur Zeit des Direktoriums. In: Reichardt/ Schmidt/Thamer (Hrsg.): Symbolische Politik (wie Anm. 24), S. 131–154.

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tellosen Mädchen, jeweils verbunden mit einer stattlichen Mitgift. Davon wird noch zu sprechen sein. An den Nachmittagen war die Bevölkerung eingeladen, sich an Spielen und Wettkämpfen, den réjouissances publiques, zu beteiligen, und der Abend galt dem Tanz, der nicht selten bis zum nächsten Morgen dauerte. Das gesamte Festprogramm war ein einziges großes Schauspiel in mehreren Akten, bei dem spätestens vom frühen Nachmittag an zwischen Zuschauern und Mitwirkenden nicht mehr klar zu unterscheiden war. Schon an der Ausschmückung der Straßen und Plätze für den Festzug beteiligte sich die Bevölkerung. Regelmäßiger Bestandteil des Fests waren im Übrigen die Beleuchtung wenigstens der öffentlichen Gebäude und ein nächtliches Feuerwerk. Die allegorischen Figuren, die Transparente, die präzise Ordnung des Festzugs, der Dank im Gebet, das Erlebnis der Gemeinschaft bei Tisch, die Freude bei Spiel und Wettkampf, die Ausgelassenheit beim Tanz, der Glanz der Illuminationen und das Spektakel des Feuerwerks transponierten die politische Wirklichkeit in die Sphäre des Außeralltäglichen, um sie dadurch zu legitimieren. Wie schon die Feste der Revolution beruhte auch die napoleonische Festkultur auf ganz unterschiedlichen und zum Teil weit zurückreichenden Überlieferungen. Der Rückgriff auf einen alteingewurzelten Traditionsbestand erhöhte die Chance, die Bürger für das neue Regime zu gewinnen. Vor allem drei Traditionen machte Napoleon sich zunutze: das monarchische Fest, die Volksfeste und die religiöse Gläubigkeit. Der Kaiser erschien, diesen Traditionen entsprechend, in den Festen in dreifacher Gestalt: als charismatischer, als volksnaher und als gottgegebener Herrscher. Schon im Ancien Régime waren dynastische und politische Ereignisse öffentlich gefeiert worden. Politische Anlässe konnten Friedensschlüsse, dynastische Anlässe Eheschließungen in der königlichen Familie oder die Geburt von Prinzessinnen oder Prinzen bilden.⁴³ Ball, Feuerwerk, Illuminationen und öffentliche Lustbarkeiten hatten zum Repertoire dieser Feiern gehört.⁴⁴ Zwar hatten die wichtigsten Feste nur in Versailles und in Paris stattgefunden, aber auch in anderen Städten des Landes waren Feste gefeiert worden. Schon die höfischen Feste des Ancien Régime hatten der Legitimation der Monarchie gedient, sei es vor dem Adel, sei es gegenüber den zahlreichen Zuschauern, die gekommen waren, um die im Freien veranstalteten Teile des Programms zu erleben und sich an den öffentlichen Vergnügungen im Park von Versailles oder auf den Straßen und Plätzen

43 A.-C. Gruber: Les grandes fêtes et leurs décors à l’époque de Louis XVI. Genève/Paris 1972, S. 19, 38, 103, 115, 132. 44 Ebd., passim.

156 | II Herrscher und Herrschaft der Hauptstadt zu beteiligen.⁴⁵ Der wichtigste Unterschied der napoleonischen Staatsfeste bestand demgegenüber in ihrem obligatorischen Charakter und ihrer gleichzeitigen Durchführung in jedem Winkel des Reiches mit einem grundsätzlich einheitlichen und standardisierten Ablauf. Die Organisation von Spielen und sportlichen Wettkämpfen an den Nachmittagen und von Tanzveranstaltungen am Abend und in der Nacht wurde aus der Praxis der Revolutionsfeste übernommen. Sie hatte schon damals dem Zweck gedient, dem Volk die aktive Beteiligung an den Feierlichkeiten zu ermöglichen und es nicht auf die Rolle von Zuschauern zu beschränken. Erst die Mitwirkung aller machte die politischen Feste der Revolution und des Kaiserreichs zu kultischen Feiern. Bei der Gestaltung der Volksfeste wurde den lokalen Traditionen Rechnung getragen. Manche der in Frankreich üblichen Geschicklichkeitsproben wie der Kletterbaum (mât de cocagne) waren in Deutschland offenbar unbekannt. Der Podestà von Venedig hoffte im Jahre 1810 dadurch eine größere Beteiligung am Staatsfest aus Anlass der Vermählung Napoleons mit Marie Louise von Habsburg zu erreichen, dass bei dieser Gelegenheit das Tragen der traditionellen Masken eine ganze Woche lang gestattet werde.⁴⁶ Als weitere Attraktion hatte er sich eine Wettfahrt der gondolieri auf dem Canal Grande ausgedacht.⁴⁷ Ein Schifferstechen, wie es am 9. Juni 1811 in Turin auf dem Po durchgeführt wurde, ließ sich nur in Städten anberaumen, die am Wasser lagen.⁴⁸ Die Instrumentalisierung des katholischen Glaubens drückt sich schon in den Daten der Feste aus. Der Geburtstag Napoleons fiel auf den Tag von Mariä Himmelfahrt. Am selben Tag wurde der Namenstag eines mit Hilfe des Mailänder Kardinals Caprara gefundenen Heiligen namens Napoleon begangen, der unter Kaiser Diokletian das Martyrium erlitten haben soll. Außerdem wurde an diesem Tag der Abschluss des Konkordats von 1801 gefeiert.⁴⁹ Die Verquickung der Staats-

45 Offenbar wurde die Menge im Jahre 1769 zum ersten Mal als Zuschauer zu einem Feuerwerk in den Park von Versailles zugelassen: vgl. ebd., S. 71; bei der Eheschließung des späteren Ludwig XVI. mit Marie-Antoinette 1770 begnügte sich die Stadt Paris aus finanzieller Not damit, auf der Place Louis XV ein Feuerwerk abzubrennen und auf den Boulevards Tanz und Volksfeste zu organisieren: ebd., S. 84. 46 Der Podestà von Venedig an den Präfekten des Dipartimento dell’Adriatico, 11. 4. 1810, AS Milano, Potenze sovrane post 1535, cartella 190 (1810). 47 Ebd. 48 Programme des fêtes qui auront lieu à Turin le 9 Juin 1811, AN F/1cIII/Pô/4, Nr. 2 (Fêtes nationales). Buchholz: Staatskult (wie Anm. 1), S. 287, berichtet von einem Bootsrennen der Schützenkönige von Cochem auf der Mosel am Napoleonstag 1808. Im Übrigen klammert er die réjouissances publiques aus seiner Darstellung der napoleonischen Staatsfeste weitgehend aus. 49 Der erste Titel des kaiserlichen Dekrets vom 19. 2. 1806 (wie Anm. 30), definiert den 15. August als das Zusammentreffen der genannten drei Festanlässe: „La fête de saint Napoléon et celle

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feiertage mit kirchlichen Festtagen sicherte dem Kaiser die Präsenz und die Ansprechbarkeit auch derjenigen, die ihm eher mit Distanz gegenüberstanden. Die Feier des Kronjubiläums bzw. des Tags von Austerlitz, jeweils am ersten Sonntag im Dezember, fiel zwangsläufig mit dem Advent zusammen. Der Festzug war eine zweckentsprechende Abwandlung der kirchlichen Prozession. Regelmäßig wurde in den Anweisungen der Präfekten zur Gestaltung der Umzüge auf das Vorbild des Fronleichnamsfests, der Fête-Dieu, verwiesen.⁵⁰ Das Tedeum war in der Revolution außer Gebrauch gekommen.⁵¹ Im Vorfeld des Föderationsfests vom 14. Juli 1790 schrieb die Chronique de Paris: „Le Te Deum! Mais des tyrans l’ont fait chanter, mais on l’a chanté pour la naissance de Charles IX, . . . de Louis XIV; on l’a chanté pour des crimes, on l’a chanté pour des puérilités; et certes ce qui a été bon pour tout cela, je n’en veux point pour le 14 juillet.“⁵² Trotz solcher Bedenken wurde das Tedeum auf dem Fest noch einmal gesungen, aber nachdem es im Ancien Régime eine zentrale Funktion in der öffentlichen Selbstdarstellung der Monarchie gespielt hatte, war seine Abschaffung nach dem Sturz des Königtums nur eine Frage der Zeit. Die Wiederaufnahme des Tedeum im Kaiserreich steht in engem Zusammenhang mit der durch das Konkordat von 1801 erneuerten Allianz von Thron und Altar, einer wesentlichen Voraussetzung für die Indienstnahme der Kirche

du rétablissement de la religion catholique en France, seront célébrées, dans toute l’étendue de l’Empire, le 15 août de chaque année, jour de l’Assomption, et époque de la conclusion du concordat.“ Zur Entstehung des Napoleonsfests vgl. M.-C. de Bouët du Portal: À propos de la SaintNapoléon. La solennité du 15 août sous le premier et le second empire. In: Revue de l’Institut Napoléon 158–159 (1992), S. 150–156. Die Wiederbelebung des Fests im Zweiten Kaiserreich beschreibt S. Hazareesingh: The Saint-Napoleon. Celebrations of Sovereignty in Nineteenth-Century France. Cambridge/Mass. 2004. Eine Auswirkung des napoleonischen Staatskults auf deutschem Boden beschreibt S. Laux: Das Patrozinium „Saint Napoléon“ in Neersen (1803–1856). Ein Beitrag zur Rezeption der napoleonischen Propaganda im Rheinland. In: J. Engelbrecht/S. Laux (Hrsg.): Landes- und Reichsgeschichte. Festschrift für Hansgeorg Molitor zum 65. Geburtstag. Bielefeld 2004, S. 351–381. Das Patrozinium wurde erst im Jahre 1856 durch den Erzbischof von Köln wieder aufgehoben, ebd., S. 378. Den Hinweis auf den Aufsatz verdanke ich Herrn Dr. Olaf Richter, Hauptstaatsarchiv Düsseldorf. 50 Jules Baciocchi, Bürgermeister von Alessandria, 16. 8. 1806, über das Napoleonsfest vom Vortag, AN F/1cIII/Marengo/5 (Fêtes nationales 1806–1811). Baciocchi schreibt, er habe vor dem Fest Anweisung gegeben, „que les toiles seraient tendues sur toutes les rues par où la Procession devait passer, ainsi qu’on pratique pour la Fête Dieu, Corpus Domini, et que les particuliers auraient fait orner dans le cours de cette Procession leurs boutiques, portes, balcons, et fenêtres pour rendre la fonction plus brillante“. 51 S. Žak: Das Tedeum als Huldigungsgesang. In: Historisches Jahrbuch 102 (1982), S. 31. 52 Zitiert nach A. Coy: Die Musik der Französischen Revolution. Zur Funktionsbestimmung von Lied und Hymne. München/Salzburg 1978, S. 20.

158 | II Herrscher und Herrschaft für den napoleonischen Staatskult. Nach dem Konkordat sicherte die Salbung durch Papst Pius VII. bei der Kaiserkrönung am 2. Dezember 1804 Napoleon die Zustimmung der gläubigen Katholiken.⁵³ Der Kaiser griff jedoch nicht nur bei den öffentlichen Feiern auf den Klerus zurück. Am Ende jeder Messe musste, wie im Konkordat mit dem Papst vereinbart, das schon im Ancien Régime übliche Gebet für den Herrscher gesprochen werden.⁵⁴ Ihren massivsten Ausdruck fand die Abstützung des Untertanengehorsams auf die Bibel im kaiserlichen Katechismus von 1806. Darin wurde in die Auslegung des vierten Gebots in aller Breite der ausdrückliche Hinweis aufgenommen, dass Gehorsam gegenüber der kaiserlichen Obrigkeit den Gehorsam gegenüber den Gesetzen einschließe, durch welche den Untertanen Steuern und Konskription auferlegt würden.⁵⁵ Im März 1807 wurde eine italienische Fassung des Katechismus auch im Königreich Italien eingeführt.⁵⁶ Über das Absingen des Tedeum und das Gebet für den Kaiser hinaus wurden die Geistlichen verpflichtet, während des Gottesdienstes am Tag eines Nationalfests in der Predigt die Leistungen des Herrschers zu würdigen. Nach dem kaiserlichen Dekret vom 19. Februar 1806 musste beim Krönungsjubiläum in den Kirchen „un ministre du culte“ eine Rede halten „sur la gloire des armées françaises, et sur l’étendue du devoir imposé à chaque citoyen de consacrer sa vie à son prince et à la patrie“.⁵⁷ Dementsprechend schrieb der Präfekt des Département Marengo,

53 Vgl. J.-O. Boudon: Les fondements religieux du pouvoir impérial. In: N. Petiteau (Hrsg.): Voies nouvelles pour l’histoire du Premier Empire. Territoires. Pouvoirs. Identités. Paris 2003, S. 206 f. 54 Concordato fra Pio VII e la Repubblica francese, 15. 7. 1801, Art. 8. In: A. Mercati (Hrsg.): Raccolta di Concordati su materie ecclesiastiche tra la Santa Sede e le autorità civili. Bd. 1. Roma 1954, S. 563. Der Text des Gebets wurde nach der Gründung des Kaiserreichs sinngemäß angepasst. Vgl. die entsprechenden Anordnungen für das Regno d’Italia vom 31.7. und 3. 8. 1805 sowie vom 17. 5. 1806, AS Milano, Culto Parte moderna 2732 (Funzioni sacre), P.G. 1802–1815. 55 „Demande. – Quels sont les devoirs des chrétiens à l’égard des princes qui les gouvernent, et quels sont en particulier nos devoirs envers Napoléon Premier, notre empereur? Réponse. – Les chrétiens doivent aux princes qui les gouvernent, et nous devons en particulier à Napoléon Ier ; notre empereur, l’amour, le respect, l’obéissance, la fidélité, le service militaire, les tributs ordonnés pour la conservation et la défense de l’empire et de son trône; nous lui devons encore des prières ferventes pour son salut et pour la prospérité spirituelle et temporelle de l’Etat“; zitiert nach A. Latreille: Le Catéchisme Impérial de 1806. Études et documents pour servir à l’histoire des rapports de Napoléon et du clergé concordataire. Paris 1935, S. 80. 56 Il Segretario Generale della Reggenza del Governo provvisorio al Sig. Incaricato del Portafoglio del Ministero dell’Interno, Milano, 10. 5. 1814, AS Milano, Culto, Parte moderna, 2725 Dottrina cristiana (Catechismo) 1802–1806. In derselben Akte finden sich ein ausführlicher Schriftwechsel zwischen Kardinal Caprara, Erzbischof von Mailand, und dem Minister für den Kultus, Bovara, sowie die italienische Fassung des Katechismus. 57 Décret impérial, 19. 2. 1806 (wie Anm. 30), Titre II, Art. 8.

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Cossé-Brissac, in seinem Bericht über das Krönungsjubiläum 1809 in Alessandria an den Innenminister, zwischen der Messe und dem Tedeum habe Abbé Bini, „Prédicateur célèbre dont la réputation s’étend fort au loin dans les deux Italies, . . . tracé un magnifique tableau des victoires de Sa Majesté, et des bienfaits dont il a comblé ses peuples“, und der Bischof von Albenga im Département Genua charakterisierte seine eigene Predigt am 15. August 1806 mit den Worten, „à la fin de la Messe, revêtu des habits Pontificaux“, habe er eine Ansprache gehalten, „analogue à la circonstance“, und dabei versucht „de relever de la manière la plus vive, et la plus touchante les bienfaits, que nous avons reçus de notre Empereur: et d’inspirer, et d’alimenter dans le cœur de mes Diocésains l’amour, la fidélité, la reconnaissance, que nous lui devons“.⁵⁸ Schon in der ersten Phase der Revolution hatten die Geistlichen mit politischen Ansprachen an den öffentlichen Feiern mitgewirkt. Im Zuge der Déchristianisation des Jahres II war diese Praxis aufgegeben worden. Erst Napoleon griff darauf zurück. Die Organisation der Feste oblag den Maires. Durch ein ausgeklügeltes System der Berichterstattung wurden die Präfekten und durch diese der Innenminister nach den Festen über jede Einzelheit unterrichtet. Dass die Abwesenheit jedes einzelnen Beamten registriert wurde, zeigt sich zum Beispiel daran, dass der Unterpräfekt des Arrondissement Elberfeld am 25. August 1813 dem Präfekten des Rhein-Département berichtete, dass am Napoleonsfest am 15. August „der Domänen-Rentmeister Daniels bei Absingung des Te-Deum nicht zugegen gewesen sey“.⁵⁹ Von einem anderen Beamten heißt es, dass er das Fest nicht an seinem Dienstort, wohl aber in Düsseldorf, wo er sich am 15. August aufgehalten habe, mitgefeiert habe. Darüber habe er eine amtliche Bescheinigung vorgelegt.⁶⁰ Nicht überall entsprach die Durchführung der Feste den Erwartungen. General Menou, Oberbefehlshaber in den Départements jenseits der Alpen, beklagte am 24. November 1806 in einem Brief an Innenminister Champagny die armselige Aufführung des Tedeum in Turin zur Feier der Schlacht von Jena und Auerstedt. Gleichzeitig bot er dem Maire von Turin an, die Kosten für eine würdige Gestaltung der auf den 7. Dezember anberaumten Feier des Tags der Kaiserkrönung selbst zu

58 Der Präfekt von Marengo, Cossé-Brissac, aus Alessandria an den Innenminister, 4. 12. 1809, AN F/1cIII/Marengo/5, Nr. 3 (Fêtes nationales 1806–1811); der Bischof von Albenga an Innenminister Champagny, 19. 8. 1806, AN F/1cIII/Gênes/2 (Fêtes nationales). 59 Der Unterpräfekt des Arrondissements Elberfeld an den Präfekten des Rhein-Département, 25. 8. 1813, Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (künftig: HSAD), Großherzogtum Berg 9689, Die Feier des Napoleonsfestes 1813, Präfektur des Rhein-Département. 60 Der Bürgermeister von Remscheid an den Präfekten in Elberfeld, 16. 8. 1813, ebd.

160 | II Herrscher und Herrschaft übernehmen, falls die Stadt sie nicht aufbringen könne.⁶¹ Zahlreich sind die Meldungen der Präfekten über die Nichterfüllung der Vorschriften durch Geistliche. Sie häuften sich nach der Exkommunikation Napoleons durch den Papst im Juni 1809. Namentlich im ehemaligen Kirchenstaat, in der Toskana und in Ligurien, sowie in Holland und den ehemals österreichischen Niederlanden (z. B. in Venlo 1811 und 1812 und in Jemappes 1809) weigerten sich zahlreiche Priester, dem Tedeum beizuwohnen oder das vorgeschriebene Gebet für den Kaiser – „Domine, salvum fac nostrum imperatorem et regem Napoleonem“ – zu sprechen.⁶² Schon im Jahre 1808 hatte Pius VII. es dem Klerus in einem Rundschreiben an die Bischöfe untersagt, Aufgaben zu übernehmen, die der Unterstützung oder Bekräftigung des Regimes dienen sollten. Ausdrücklich wurde das Absingen des Tedeum in den Feiern am Tag der Kaiserkrönung verboten.⁶³ In Terni verließ Priester Bondi die Kirche zu Beginn der Feier des Krönungstags am 1. Dezember 1812. Nach den Gründen befragt, erklärte er, dass er an religiösen Zeremonien, die von der Regierung angeordnet würden, nicht teilnehme.⁶⁴ Wenn gütliches Zureden nichts bewirkte, wurden Geistliche deportiert, die römischen Priester zumeist über Civitavecchia nach Korsika.⁶⁵ Auch aus dem Innern Frankreichs (Allier, Bas-Rhin, Nièvre, Puy de Dôme) ist Widerstand von Geistlichen bezeugt. Aus Neufchâtel (Seine inférieure) wird 1809 von einem Priester berichtet, er habe die vorgeschriebene Ansprache zum 15. August dazu genutzt, seine Verehrung für Ludwig XVIII. zum Ausdruck zu bringen, Napoleon dagegen mit keinem Wort erwähnt.⁶⁶ Wegen seiner Ansprache in Bordeaux am Tag der Kaiserkrönung 1808 ließ Napoleon nicht nur den Prediger, den Abbé d’Anglade, verhaften, sondern zitierte auch den zuständigen Erzbischof von Bordeaux nach Paris und zwang ihn, sich von einem seiner Generalvikare, vom Generalsekretär des Erzbistums und vom Vorsteher des Großen Seminars zu trennen.⁶⁷ Wie schwer es war, den

61 General Menou an Innenminister Champagny, 24. 11. 1806; Menou an den Bürgermeister von Turin, 24. 11. 1806, AN F/lcIII/Pô/4, Nr. 2 (Fêtes nationales). 62 AN F*7/2260 Police générale, Cultes, 1811–1813, fol. 54v (Venlo); AN F*7/2259 Police générale, Cultes, 1806–1813, fol. 33v (Jemappes). 63 A. Latreille: L’Église catholique et la Révolution française. Bd. 2: L’Ère napoléonienne et la crise européenne (1800–1815). Paris 1950, S. 159. 64 AN F*7/2260 (wie Anm. 62), fol. 73r. 65 Den Widerstand des Klerus in den italienischen und speziell in den im ehemaligen Kirchenstaat eingerichteten Départements gegen Eingriffe der Regierung in die traditionelle Liturgie schildert anschaulich M. Broers: The Politics of Religion in Napoleonic Italy. The War against God. 1801–1814. London 2002, S. 77–85. 66 AN F*7/2259 (wie Anm. 62), fol. 74v. 67 J.-O. Boudon: Napoléon et les cultes. Les religions en Europe à l’aube du XIXe siècle, 1800– 1815. Paris 2002, S. 291 f.

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napoleonischen Staatskult im ganzen Lande durchzusetzen, zeigt eine neuere Untersuchung über das Massif central. Danach ist dort nach 1804 das Tedeum nur bei 63 % der öffentlichen Feste gesungen worden.⁶⁸ Der Bischof von Mainz berichtete dem Minister des Kultus im Mai 1806, dass die Mehrheit der Bevölkerung weiterhin die aufgehobenen Feiertage begehe, statt zu arbeiten. Ähnliche Klagen erhob der Bischof von Trier.⁶⁹ Die peinlich genaue Beobachtung des Verhaltens der Beamten und des Klerus bei den Nationalfesten zeigt, dass ein wesentlicher Zweck des napoleonischen Staatskults in der Disziplinierung des staatlichen und kirchlichen Apparats bestand. Doch nicht genug damit: Die vorgeschriebene Freude war auch ein Mittel der sozialen Kontrolle. Wer wollte in einer Gemeinde schon in den Ruf geraten, dem Kaiser und seinen Siegen gleichgültig gegenüberzustehen und sich nicht an den öffentlichen Dankgebeten zu beteiligen! Ein zentraler Bestandteil des Festprogramms war die Krönung einer Rosière, eines Rosenmädchens. Die Tradition der Rosières wird auf den heiligen Medardus, Bischof von Noyon, aus dem fünften Jahrhundert zurückgeführt. Nach der für das 18. Jahrhundert bezeugten Praxis wurde in Salency nahe Noyon am Fest der Rosière am 8. Juni alljährlich einem unbescholtenen jungen Mädchen im Heiratsalter vom Herrn von Salency eine Mitgift von 25 Pfund verliehen. Im Anschluss daran wurde es feierlich zur Kirche geleitet. Dort setzte ihm der Ortspfarrer während des Gottesdienstes einen Kranz von Rosen aufs Haupt.⁷⁰ Dieser lokale Brauch wurde 1766 durch einen Besuch der Gräfin von Genlis in Salency und 1773 und 1774 durch einen Prozess gegen Danré, den damaligen Herrn von Salency, der sich geweigert hatte, seinen Part in der Zeremonie zu übernehmen, weiteren Kreisen bekannt.⁷¹ Daraufhin wurde in vielen Gemeinden vor allem Nordfrankreichs das Fest der Rosières eingeführt. Man hat geradezu von einer Rosières-Bewegung im ausgehenden Ancien Régime gesprochen.⁷² In der Revolution wurde der Brauch

68 Triolaire: Célébrer Napoléon (wie Anm. 3), S. 89. 69 AN F/19/5597 Police des Cultes. Für Malines (Mecheln) in den ehemals Österreichischen Niederlanden vgl. Latreille: Église (wie Anm. 63), S. 169. 70 S. Maza: The Rose-Girl of Salency: Representations of Virtue in Prerevolutionary France. In: Eighteenth-Century Studies 22/3. Special Issue: The French Revolution in Culture (1989), S. 395. Eine überarbeitete Version des Aufsatzes mit dem Untertitel „From Theatricality to Rhetoric“ findet sich in: Dies.: Private Lives and Public Affairs. The Causes Célèbres of Prerevolutionary France. Berkeley/Los Angeles/London 1993, S. 68–111; die angegebene Stelle dort auf S. 69. 71 Dies.: Rose-Girl (wie Anm. 70), S. 396. 72 W. R. Everdell: The Rosières Movement, 1766–1789. A Clerical Precursor of the Revolutionary Cults. In: French Historical Studies 9 (1975), S. 27 f.

162 | II Herrscher und Herrschaft säkularisiert. Soweit er aus Mangel an Mitteln nicht verschwand, wurde statt der Frömmigkeit die weltliche Tugend gekrönt.⁷³ Auch die Cisalpinische Republik verfügte am 8. messidor des Jahres VI (26. Juni 1798) per Gesetz die Ausstattung von bedürftigen heiratsfähigen jungen Mädchen. Anlass war die Feier des ersten Jahrestags der Gründung der Republik am 20. messidor VI (8. Juli 1798). Jede Municipalità benannte damals zwei verdiente junge Mädchen – zitelle, auch donzelle – aus bedürftigen Verhältnissen. Durch Los wurden zwölf von ihnen zum Empfang einer Mitgift von je 100 Mailänder Pfund bestimmt.⁷⁴ In dem Dekret vom 2. Mai 1803, mit dem die Repubblica Italiana ein alljährliches Nationalfest am ersten Sonntag des Monats Juni einführte, wurden zu ständigen Programmpunkten neben öffentlichen Spielen und der Verleihung von Preisen an erfolgreiche Landwirte und Handwerker wiederum auch Mitgifte für Töchter verdienter Bürger bestimmt.⁷⁵ Diese Praxis der Republik wurde 1805 in das Königreich Italien übernommen.⁷⁶ In den folgenden Jahren wurden die Mitgifte jeweils zum Jahrestag der Krönung Napoleons zum König von Italien ausgeschrieben, jedoch an Napoleons Geburtstag am 15. August verliehen. So wurden zum Beispiel im Jahre 1807 im Distrikt Mailand 20 Mitgifte zu je 150 Mailänder Pfund übergeben. Mädchen im heiratsfähigen Alter wurden öffentlich aufgefordert, entsprechende Gesuche einzureichen und dabei sowohl ihre Bedürftigkeit als auch ihre Würdigkeit darzutun. Zuletzt entschied wiederum das Los.⁷⁷ In Frankreich bestimmte das Dekret vom 13. prairial des Jahres XII (2. Juni 1804), dass aus Anlass der bevorstehenden Kaiserkrönung jede Municipalité der Städte Paris, Lyon, Marseille und Bordeaux, sowie jedes Arrondissement des Reichs eine „fille pauvre et de bonne conduite“ mit einer Mitgift von je 600 Francs ausstatten sollte. Die Hochzeitsfeiern sollten am Tag der Kaiserkrönung begangen

73 M. Guillot: Rosières et prix de vertu. Prétextes ou acteurs de la vie de banlieue? (1781–1914). In: N. Gérôme u. a. (Hrsg.): La Banlieue en fête. Saint-Denis 1988, S. 149. 74 Raccolta delle leggi, proclami, ordini ed avvisi, pubblicati in Milano nell’anno VI repubblicano, Bd. 5, 1798, S. 165 f. 75 Decreto della Consulta di Stato che istituisce una Festa nazionale, 2. 5. 1803, Bollettino delle leggi della Repubblica Italiana 1803 (anno II). Vgl. S. Bosi: 26 giugno 1803. Festa nazionale della Repubblica Italiana. In: C. Capra/F. Della Peruta/F. Mazzocca (Hrsg.): Napoleone e la Repubblica Italiana (1802–1805). Milano 2002, S. 56. 76 Ministro dell’Interno ai Signori Prefetti, 4. 4. 1805, AS Milano, Potenze sovrane post 1535, cartella 144 (1804–1805). 77 Ministro dell’Interno, Avviso, 3. 5. 1807 (gedruckt), AS Milano, Potenze sovrane post 1535, cartella 170 (1807).

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werden und damit eine besondere Weihe und Aufmerksamkeit erfahren.⁷⁸ Damit wurde die Stiftung von Mitgiften für bedürftige heiratsfähige Mädchen in den napoleonischen Festritus übernommen. Über die Person des Bräutigams wurde nichts bestimmt. In Genua wurden am Napoleonsfest 1807 nur Schwestern von Rekruten (conscrits) als Rosières ausgelost.⁷⁹ Erscheint die Stiftung der Mitgifte an dieser Stelle damit als ein Akt der indirekten Fürsorge für die Soldaten, so wurden die Mitgiftzahlungen im Kaiserreich (nicht im Königreich Italien) schon bald an die Bedingung geknüpft, dass die jungen Mädchen verdiente Veteranen heirateten.⁸⁰ In Alessandria wurde die Rosière am Krönungsfest von 1809 mit einem jungen Soldaten verheiratet, der in der Schlacht von Eylau verwundet worden war und eine Pension bezog.⁸¹ Anlässlich der Eheschließung des Kaisers mit Marie Louise von Österreich erging am 25. März 1810 ein Dekret, in dem neben der Freilassung bestimmter Kategorien von Strafgefangenen und einer Amnestie für Deserteure die Heirat von 6.000 Veteranen, die wenigstens einen Feldzug mitgemacht hatten, mit jungen Frauen aus ihrer Gemeinde angeordnet wurde.⁸² Die Bräute sollten eine Mitgift von jeweils 1 200 Francs in Paris und 600 Francs in allen anderen Teilen des Empire erhalten. Das Dekret schrieb die Verteilung der 6 000 Mitgifte auf die Städte im Einzelnen vor. Paris musste sechzig junge Mädchen ausstatten, die anderen Städte des Reiches je nach Größe entweder zehn oder fünf oder zwei. Die Hochzeiten sollten nach Möglichkeit im ganzen Reich gleichzeitig am 22. April 1810 und damit am Ostersonntag gefeiert werden. Wie Innenminister Montalivet am 28. März 1810 in einem Rundschreiben

78 Décret impérial contenant des actes d’indulgence et de bienfaisance, le 13 prairial an XII (2. 6. 1804). 79 Der Präfekt des Département Genua an den Innenminister, Genua, 21. 8. 1807, AN F/1cIII/ Gênes/2 (Fêtes nationales). 80 Schmidt: Mobilisierung (wie Anm. 24), S. 127–129, beschreibt die Stiftung einer Mitgift in Amiens zum Tag der Kaiserkrönung 1807. Seine Vermutung, die Braut sei wegen ihres Vornamens Rose zur Rosière impériale erhoben worden, ist nach dem oben Gesagten jedoch nicht haltbar. Bei Buchholz: Staatskult (wie Anm. 1) kommt der Begriff gar nicht vor. Vgl. im Übrigen N. Petiteau: Lendemains d’Empire. Les soldats de Napoléon dans la France du XIXe siècle. Paris 2003, S. 191–195. C. Istasse: Les „mariages de la rosière“ dans le Département de Sambre-etMeuse. Indices sur la réinsertion sociale des anciens soldats de Napoléon Ier . In: Napoleonica 4 (2009), S. 14–16, übersieht, dass die Vermählung der rosières deshalb in feierlichem Rahmen und in Gegenwart zahlreicher Würdenträger stattfand, weil sie in das Programm des jeweiligen Nationalfests integriert wurde. 81 Der Präfekt des Département Marengo, Cossé-Brissac, an den Innenminister, Alessandria, 4. 12. 1809, AN F/1cIII/Marengo/5, Nr. 3 (Fêtes nationales 1806–1811). 82 Décret impérial contenant des Actes de bienfaisance et d’indulgence à l’occasion du Mariage de sa Majesté l’Empereur et Roi, 25. 3. 1810.

164 | II Herrscher und Herrschaft an die Präfekten ausführte, war die Stiftung der Mitgifte nicht nur als Akt der Wohltätigkeit gedacht. Vielmehr sollte sie zeigen, welches Maß an Anteilnahme der Sieger über Europa – „le vainqueur de l’Europe“ – seinen Soldaten stets entgegenbringe. Insofern komme sie nicht nur den jetzt bedachten Veteranen zugute, sondern ermutige auch die jüngeren Soldaten dazu, auf das Wohlwollen, die „bienveillance“, des Souveräns zu vertrauen. Aus diesen Gründen müsse den Hochzeiten ein festlicher Rahmen gegeben und den Veteranen besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.⁸³ Der Kaiser scheint diese Art der politischen Werbung angesichts des wachsenden Drucks der Konskription, der zahlreichen Desertionen und der nicht endenden Verluste auf den Schlachtfeldern Europas für ratsam gehalten zu haben. Die von den Behörden vorgeschriebenen Festprogramme ließen Spielraum für spontane Einfälle. Manche Gemeinde und mancher Bürger suchten sich dadurch vor anderen auszuzeichnen. Oft zwang jedoch auch der Mangel an finanziellen Mitteln dazu, sich etwas Besonderes auszudenken. Der Präfekt des Département Rhin-et-Moselle schrieb in seinem Bericht über das Napoleonsfest von 1807 aus Koblenz an den Innenminister, die Bevölkerung habe das Fest nicht nach den offiziellen Richtlinien ausrichten können, weil sie arm sei. Sein Glanz sei daher weniger den angeordneten Maßnahmen als der freudigen Mitwirkung der Bewohner zu verdanken gewesen. Die Feier sei weit mehr durch Freiheit der Gestaltung gekennzeichnet gewesen als durch Befolgung der Vorschriften. Unter den Besonderheiten, die der Präfekt hervorhob, findet sich auch die Stiftung eines Festochsens durch den Bürger Kollmann in Boppard, und wie um dem Verdacht zuvorzukommen, die Bescheidenheit des Fests sei ein Zeichen von mangelndem Patriotismus, erinnerte der Präfekt am Ende seines Berichts daran, dass das Departement, obwohl es erst seit einigen Jahren zu Frankreich gehöre, am pünktlichsten sein Kontingent zur Konskription stelle, die geringste Zahl von Deserteuren aufweise und mit seinen Kontributionszahlungen weniger im Rückstand sei als die Mehrzahl der übrigen Departements.⁸⁴ In Götterswickerhamm bei Essen (Großherzogtum Berg) wurde der Napoleonstag im Jahre 1813 dazu genutzt, um die Bevölkerung unentgeltlich gegen die schwarzen Blattern zu impfen.⁸⁵ In derselben Gemeinde war zwei Jahre zuvor bei der Feier des Tauftags des Königs

83 AN F1a26/1 (Circulaires 1810). 84 Der Präfekt des Rhein-Mosel-Département an den Innenminister, 16. 9. 1808, AN F/1cIII/ Rhin-et-Moselle/5, Nr. 2 (Fêtes nationales an XIII-1812). 85 Der Bürgermeister von Götterswickerhamm an den Arrondissements-Präfekten Freiherrn von Sonsfeld zu Essen, 18. 8. 1813, HSAD Großherzogtum Berg 9689 Feier des Napoleonsfestes 1813, Präfektur des Rhein-Département. Vgl. Buchholz: Staatskult (wie Anm. 1), S. 286.

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von Rom, die im ganzen Herrschaftsbereich Napoleons am 9. Juni 1811 begangen wurde, einem Jungen, der am selben Tage getauft wurde, aus Gemeindeland ein 600 Ruthen großes Grundstück behufs einer Haus-, Hof- und Garten-Stelle für seine mittellosen Eltern zum Patengeschenk gemacht worden.⁸⁶ Die Stadt Mainz (Département Donnersberg) stiftete den beiden Jungen, die am gleichen Tag wie der König von Rom geboren waren, je 1 000 Francs. Das Geld sollte angelegt und den Eltern bis zur Großjährigkeit der Kinder zu 5 % verzinst werden.⁸⁷ In Perugia (Département Trasimène) errichteten die Kerzenmacher der Stadt am Tauftag des Königs von Rom einen Triumphbogen aus Wachs.⁸⁸ In Frankenthal (Département Donnersberg) wurde am Napoleonsfest im Jahre 1806 ein passendes Theaterstück aufgeführt, das der Notar Franz geschrieben hatte. Wie sehr bei Gelegenheit das aktuelle politische Geschehen in den Festprogrammen berücksichtigt wurde, belegt ein Transparent, das am selben Tag am Gebäude der Unterpräfektur Speyer aufgehängt wurde. Dargestellt war der französische Adler, wie er die Flüsse Rhein, Main und Neckar in seinen Krallen hielt; daneben stand ein Wort Vergils: „Imperium sine fine dedi“; weiter unten war ein Buch abgebildet mit der Aufschrift „Deutsche ReichsVerfassung“ – in deutscher Sprache und in altdeutscher Schrift; darunter stand: „Pactum Rheni, Aug. 1806“.⁸⁹ Besonders groß waren die Variationen bei den Akten der Fürsorge für die Armen. Montpellier plante 1811 zur Tauffeier des Königs von Rom nicht nur die Ausstattung von sechs jungen Mädchen, die Veteranen heirateten, mit je 600 Francs, sondern auch die Verteilung von Brot und Bekleidung an die Armen der Stadt im Wert von jeweils 3 000 Francs.⁹⁰ In Genua wurde am 9. Juni 1811 zur Feier der Geburt des Königs von Rom um 14 Uhr auf der Piazza Acquaverde in zwei eigens errichteten Pavillons an 150 Kinder aus der Armenschule ein Essen ausgegeben.⁹¹ In der Stadt Alessandria wurden 1809 zum Tag der Kaiserkrönung die von den Ärmsten im Pfandhaus hinterlegten Pfänder ausgelöst.⁹²

86 Der Präfekt des Rhein-Département, Borcke, an den Innenminister des Großherzogtums Berg, 21. 9. 1813, HSAD Großherzogtum Berg 126. 87 Maire et Conseil municipal de Mayence, Projet de Programme des cérémonies et des réjouissances bei der Feier zur Taufe des Königs von Rom, 30. 4. 1811, AN F/1cIII/Mont-Tonnerre/4 (Fêtes nationales 1806–1811). 88 Der Präfekt des Département Trasimène an den Innenminister, 16. 5. 1811, AN F/1cIII/Trasimène/1 (Fêtes nationales). 89 Der Unterpräfekt des Arrondissement communal von Speyer an den Präfekten, 17. 8. 1806, AN F/1cIII/Mont-Tonnerre/4. 90 Extrait des registres des délibérations du conseil municipal de la ville de Montpellier, 29. 4. 1811, AN F/1cIII/Hérault/12 (Fêtes nationales). 91 Festprogramm für Genua vom 25. 5. 1811, AN F/1cIII/Gênes/2 (Fêtes nationales). 92 Präfekt Cossé-Brissac an den Innenminister, 4. 12. 1809, AN F/1cIII/Marengo/5.

166 | II Herrscher und Herrschaft Die finanzielle Belastung durch die regelmäßigen Feiern machte den Gemeinden zum Teil erhebliches Kopfzerbrechen. Der Präfekt des Département Aisne teilte dem Innenminister am 3. Januar 1806 mit, der Bürgermeister von Laon, dem Hauptort des Département, habe angesichts der Armut der Gemeinde mit seiner Zustimmung auf den volkstümlichen Teil der Feier des Siegs von Austerlitz verzichtet und stattdessen 600 Francs zur Verteilung von Brot und Holz an die Bedürftigen bewilligt.⁹³ Im Département Somme bezahlten mehrere Bürgermeister das Fest zur Geburt des Königs von Rom selbst, weil die Gemeindekasse erschöpft war.⁹⁴ Auch aus dem Département Aisne berichtete der Präfekt dem Innenminister, dieses Mal im Jahre 1811, beim Tauffest für den König von Rom am 9. Juni hätten viele Bürgermeister die nötigen Mittel aus der eigenen Tasche zugeschossen.⁹⁵ Der Staatskult des Ersten Kaiserreichs war die napoleonische Antwort auf eine Herausforderung, die mit der Französischen Revolution entstanden war. Die Ablösung einer traditional geprägten Gesellschaft durch eine Gesellschaft, die ihre Normen immer wieder neu setzen musste, erforderte von Anfang an besondere Anstrengungen, um die jeweils neuen politischen Ordnungen in das Bewusstsein aller Bürger einzupflanzen. Unter den hierzu geschaffenen staatspädagogischen Einrichtungen ragt das politische Fest mit seiner rituellen Regelhaftigkeit hervor. Der napoleonische Staatskult zielte darauf ab, durch Propaganda und Disziplinierung einen imperialen Patriotismus zu erzeugen, um das aus der Revolution hervorgegangene Kaiserreich und die Dynastie Bonaparte unausrottbar in Denken und Wollen der Nation einzuprägen. Entsprechendes gilt für die Satellitenstaaten des Kaiserreichs. Die napoleonische Festkultur fußte einerseits auf der Festkultur der Revolution; andererseits war sie durch die Übernahme zentraler Elemente der öffentlichen Selbstdarstellung der Monarchie des Ancien Régime geprägt, wie namentlich die Wiedereinführung des Tedeum als Huldigungs- und Dankgesang zeigt. An den napoleonischen Staatsfesten erweist sich somit der ambivalente Charakter der monarchischen Restauration, die Napoleon mit dem Übergang zum Kaisertum vollzog. Während er sich durch die plebiszitäre Legitimation seiner Herrschaft und durch den Titel eines Kaisers der Franzosen zur revolutionären Basis seiner Würde bekannte, erneuerte er mit der Indienstnahme der Kirche gleichzeitig das traditionelle Bündnis von Thron und Altar.

93 Der Präfekt des Département Aisne an den Innenminister, 3. 1. 1806, AN F/1cIII/Aisne/12 (Fêtes nationales). 94 Naissance du roi de Rome. Etat des programmes arrêtés par les Communes du Département de la Somme, pour les réjouissances à l’occasion de la fête du 9 Juin, ohne Datum, ohne Unterzeichner, AN F/1cIII/Somme/8 (Fêtes nationales). 95 Der Präfekt von Aisne an den Innenminister, 1. 7. 1811, AN F/1cIII/Aisne/12 (Fêtes nationales).

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Es liegt auf der Hand, dass die Nationalfeste im Zuge der napoleonischen Expansionspolitik eine strategische Funktion erhielten. In dem Maße, in dem Napoleon dem Kaiserreich und seinen Satellitenstaaten ohne Rücksicht auf historische Grenzen und gewachsene Loyalitäten immer neue Gebiete angliederte, sollte der Staatskult die jeweils hinzutretenden Neubürger mit der bestehenden Gesellschaft politisch zu einheitlichen Staatsnationen verschmelzen, um dem napoleonischen Herrschaftssystem Dauer zu verleihen.⁹⁶

96 Es ist ein Reflex der Vernachlässigung des napoleonischen Staatskults durch die historische Forschung, wenn Hazareesingh: Saint-Napoleon (wie Anm. 49), S. 4, urteilt: „the Saint-Napoleon ceremonies were modest in scale and essentially provided local officials with opportunities to sing the praises of the emperor“.

Absetzung, Abdankung und Verbannung. Das politische Ende Napoleons I. Die* Völkerschlacht bei Leipzig vom 16. bis 18. Oktober 1813 setzte der Herrschaft Napoleons über das rechtsrheinische Deutschland ein Ende. Um die Jahreswende von 1813 auf 1814 überschritten die verbündeten Armeen den Rhein und drangen auf französisches Staatsgebiet vor.¹ Vom 5. Februar 1814 an rangen die Bevollmächtigten der Koalition in Châtillon-sur-Seine mit Napoleons Außenminister Caulaincourt um einen Friedensvertrag. Da Napoleon die vor allem von den Briten geforderte Rückführung Frankreichs in die Grenzen von 1792 ablehnte, wurden die Verhandlungen am 19. März ergebnislos abgebrochen.² Abgesehen von Zar Alexander hatte die Koalition bis dahin nicht das Ziel verfolgt, Napoleon zu stürzen. Nach dem Abbruch des Kongresses von Châtillon schien ein Ende des Krieges jedoch nur erreichbar zu sein, wenn Frankreich eine neue Regierung erhielt. Allerdings waren sich die Verbündeten darin einig, dass eine Absetzung des Kaisers nur durch die französische Nation selbst herbeigeführt werden könne. Am 31. März 1814 rückten die Truppen der Koalition unter Führung des Zaren in die französische Hauptstadt ein. Von diesem Tag an gerechnet dauerte es noch über sechzehn Monate, bis Napoleon endgültig und wirksam von der Macht entfernt war. Am 1. April 1814 bildete der Sénat conservateur eine provisorische Regierung unter dem Vorsitz des Fürsten Talleyrand.³ Schon damit griff er in die Regierungsrechte Napoleons ein. Am 2. und 3. April setzte der Senat den Kaiser in Wahrnehmung des Rechts auf Widerstand gegen einen ungerechten Herrscher ab. Dabei

* Erstdruck in: Susan Richter und Dirk Dirbach (Hrsg.): Thronverzicht. Die Abdankung in Monarchien vom Mittelalter bis in die Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 228–238. 1 Ausführlicher, als es in einem Tagungsbeitrag möglich ist, habe ich die nachfolgenden Überlegungen an anderer Stelle behandelt. Zu nennen sind vor allem: Volker Sellin: Die geraubte Revolution. Der Sturz Napoleons und die Restauration in Europa, Göttingen 2001; ders.: The Breakdown of the Rule of Law: A Comparative View of the Depositions of George III, Louis XVI and Napoleon I. In: Robert von Friedeburg (Hrsg.): Murder and Monarchy. Regicide in European History, 1300–1800, Houndmills/Basingstoke/Hampshire 2004, S. 259–289; ders.: Der Tod Napoleons. In: Francia, 35/2008, S. 273–294. Dort finden sich jeweils auch weitere Nachweise (vgl. in diesem Band S. 95–123, 181–206). 2 Zum Kongress von Châtillon vgl. Sellin: Revolution (wie Anm. 1), S. 99–120; unter den älteren Untersuchungen schon wegen ihres umfangreichen Quellenanhangs nach wie vor unentbehrlich August Fournier: Der Congress von Châtillon. Die Politik im Kriege von 1814. Eine historische Studie, Wien 1900. 3 Sellin: Revolution (wie Anm. 1), S. 147.

170 | II Herrscher und Herrschaft nahm er sich die Absetzung Jakobs II. von England in der Glorreichen Revolution zum Vorbild. Wie Jakob II. wurde Napoleon nicht unter dem Vorwurf abgesetzt, dass er die Macht unrechtmäßig erworben habe; die Begründung war vielmehr, dass er die ihm übertragene Macht missbraucht habe. Nach alteuropäischen Rechtsbegriffen wurde er dementsprechend nicht als Tyrann „ex defectu tituli“, sondern als Tyrann „ex parte exercitii“ gestürzt.⁴ Der Machtmissbrauch musste bewiesen werden. Daher enthielt das Absetzungsdekret nach dem Muster der „Declaration of Rights“ von 1688 eine lange Liste von angeblichen Rechtsbrüchen des Kaisers.⁵ Der Entschluss zur Absetzung Napoleons war durch eine Erklärung befördert worden, die Zar Alexander nach dem Einmarsch im Namen der verbündeten Regierungen abgegeben hatte. Darin hieß es, die Koalition werde mit Napoleon oder mit einem Mitglied seiner Familie nicht mehr verhandeln.⁶ Die Franzosen waren daher vor die Wahl gestellt zwischen der Fortsetzung des Krieges auf unabsehbare Zeit und einem baldigen Friedensschluss. Dass nicht nur der Kaiser, sondern auch seine Dynastie von der Herrschaft über Frankreich ausgeschlossen wurde, entsprach, strenggenommen, nicht der Logik des Widerstands gegen einen ungerechten Herrscher. Zwei Befürchtungen sprachen jedoch gegen die Thronfolge des gerade dreijährigen Königs von Rom. Entweder würde Österreich über die zur Regentin berufene Kaiserin Marie Luise einen im Vergleich zu den anderen Siegermächten unverhältnismäßigen Einfluss auf die französische Politik gewinnen, oder Napoleon selbst würde hinter der Szene der wirkliche „Spiritus rector“ bleiben. Letztlich hätten sich Talleyrand und der Senat auch hier auf das Vorbild der Glorreichen Revolution berufen können. Damals war der Ausschluss des Thronfolgers sogar wichtiger gewesen als die Absetzung des regierenden Herrschers selbst, hatte doch erst die unerwartete Geburt eines katholischen Prinzen den Ruf nach dem rettenden Wilhelm von Oranien ausgelöst.⁷ Der napoleonische Senat besaß zwar gewisse verfassungsrechtliche Zuständigkeiten, aber nicht die Befugnis, den Kaiser und seine Dynastie zu stürzen. Darin glich er dem englischen Parlament von 1688 wie auch dem amerikanischen Kontinentalkongress, der sich, obwohl er als Organ in der Verfassung der Kolonien nicht einmal vorgesehen war, im Juli 1776 das Recht nahm, König Georg III.

4 Vgl. Hella Mandt: Art.: Tyrannis, Despotie. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 663. 5 Text des Absetzungsdekrets in: Bulletin des lois du Royaume de France, 5e série. Bd. 1, Paris 1814, S. 7–11. 6 Text der Erklärung in: Le Moniteur universel, 2. 4. 1814. 7 Sellin: Revolution (wie Anm. 1), S. 150–155.

Absetzung, Abdankung und Verbannung

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von England für abgesetzt und die Kolonien für unabhängig zu erklären. Der Senat rechtfertigte seinen Schritt mit dem Hinweis darauf, dass er im damaligen Augenblick das einzige handlungsfähige Staatsorgan und damit als einziger in der Lage sei, Widerstand zu leisten und das Land aus der politischen Krise zu führen. Zum Zwecke der nachträglichen Legitimierung seiner Aktion sollte die am 6. April von ihm verabschiedete Verfassung später einem Referendum unterworfen werden.⁸ Die Berufung einer verfassunggebenden Versammlung kam nicht in Betracht, da sich große Teile des Landes in der Hand der Verbündeten, die verbleibenden Teile unter der Kontrolle Napoleons befanden. Weder der Senat noch die Alliierten verfügten über die erforderlichen Machtmittel, um die Absetzung tatsächlich zu vollziehen. Der Kaiser hatte sich auf dem nahen Schloss Fontainebleau einquartiert, umgeben von seinen Truppen. Militärisch war er nicht besiegt, und er traf Anstalten, Paris zurückzuerobern. Diesen Plan machten am 4. April seine Marschälle zunichte. Sie weigerten sich, dem Kaiser in einen Bürgerkrieg zu folgen.⁹ Diese Weigerung war eine unerwartete Folge des Absetzungsdekrets. Die Aktion des Senats hatte die Nation gespalten. Die provisorische Regierung hatte das Militär von der Gehorsamspflicht gegenüber dem Kaiser entbunden. Während der Gehorsam gegenüber dem Kaiser bis dahin selbstverständlich als patriotische Pflicht angesehen worden war, regten sich nach dessen Absetzung bis in den Kreis seiner Marschälle hinein Zweifel, ob die Fortsetzung des Kampfes noch etwas anderem nütze als Napoleons persönlichem Ehrgeiz. Der Aufstand der Marschälle bewog Napoleon noch am selben 4. April, eine Erklärung aufzusetzen, dass er zugunsten seines Sohnes abtrete. Diese Erklärung war kein Thronverzicht, sondern lediglich ein Angebot, unter bestimmten Bedingungen abzudanken. Die wichtigsten Bedingungen waren die Anerkennung der Thronfolge des Königs von Rom unter der Regentschaft der Kaiserin Marie Luise und ein akzeptabler Friedensvertrag.¹⁰ Ohne dass er es in der Erklärung ausgesprochen hätte, bestand Napoleon weiterhin auf dem Besitz Belgiens mit Antwerpen und auf der Rheingrenze. Da die Alliierten es bereits im Februar auf dem Kongress von Châtillon abgelehnt hatten, Frankreich die Rheingrenze zuzugestehen, kann Napoleon nicht

8 Constitution française, 6. 4. 1814, Art. 29: „La présente Constitution sera soumise à l’acceptation du peuple français dans la forme, qui sera réglée“. In: Wilhelm Altmann (Hrsg.): Ausgewählte Urkunden zur außerdeutschen Verfassungsgeschichte seit 1776. Berlin 1897, S. 204, und in: Bulletin des lois du Royaume de France, 5e série. Bd. 1, Paris 1814, S. 18. 9 Sellin: Revolution (wie Anm. 1), S. 176. 10 Text der Abdankungserklärung vom 4. 4. 1814. In: Napoleon I. Correspondance. Bd. 27, Paris 1869, Nr. 21555, S. 358.

172 | II Herrscher und Herrschaft ernsthaft geglaubt haben, dass sie jetzt auf diese Forderung eingehen würden. Daher ist anzunehmen, dass das Abdankungsangebot vom 4. April in erster Linie ein Schachzug war, um den Widerstand der Marschälle zu brechen. Mit seiner Bereitschaft, abzudanken und das Land zu verlassen, ja aus dem Leben zu scheiden, glaubte Napoleon jeden Verdacht zerstreuen zu können, es gehe ihm nur um den Erhalt seiner persönlichen Machtstellung, zumal die Forderung nach Bewahrung der natürlichen Grenzen von vielen geteilt wurde. Sollten die Alliierten auf sein Angebot nicht eingehen, dann, so das Kalkül des Kaisers, war bewiesen, dass ein ehrenvoller Frieden nur durch Fortsetzung des Kampfes erreicht werden könne. Dementsprechend sandte Napoleon seinen Außenminister Caulaincourt zusammen mit den Marschällen Ney und Macdonald nach Paris und trug ihnen auf, mit dem Zaren über das Abdankungsangebot zu verhandeln. Am Abend des 4. April wurden die Abgesandten vom Zaren empfangen. Die Verhandlungen wurden jedoch alsbald auf den nächsten Morgen vertagt, weil Alexander sich mit seinen Verbündeten auf das weitere Vorgehen abstimmen wollte. In die zweite Verhandlungsrunde am 5. April platzte die Nachricht vom Abfall des Corps des Marschalls Marmont. Der Marschall hatte diesen Abfall zwar eingeleitet, nach Bekanntwerden der Abdankungsbereitschaft des Kaisers jedoch zurückgestellt. Aufgrund eines Missverständnisses war das Corps unter General Souham in der Nacht vom 4. auf den 5. April trotzdem hinter die Linien des Feindes marschiert. Damit war Napoleon die Möglichkeit genommen, die Hauptstadt zurückzuerobern, und der Zar brach die Verhandlungen mit den kaiserlichen Emissären sofort ab.¹¹ Dass der Zar sich überhaupt auf die Unterredungen eingelassen hatte, zeigt, welchen Respekt er noch immer vor der militärischen Macht seines Gegners hegte. Immerhin hatte er damit gegen seine eigene, am 31. März öffentlich erklärte Absicht verstoßen, mit Napoleon nicht mehr zu verhandeln, ganz abgesehen davon, dass er sich mit der bloßen Aufnahme der Gespräche über das Absetzungsdekret des Senats hinwegsetzte und die provisorische Regierung offen desavouierte. Hätte der Zar Napoleon als wirksam abgesetzt betrachtet, hätte er kaum über seine Abdankung mit ihm verhandeln können. Nach dem Scheitern der Abdankungsinitiative vom 4. April und nach dem Verlust des Corps Marmont blieb Napoleon keine andere Möglichkeit, als ein neues, weitergehendes Abdankungsangebot zu unterbreiten. Eine entsprechende Erklärung setzte er am 6. April auf. Diesmal knüpfte er die Abdankung nicht mehr an bestimmte Friedensbedingungen und auch nicht mehr an die Anerkennung der Thronfolge seines Sohnes. Dagegen forderte er eine angemessene Ausstattung für

11 Sellin: Revolution (wie Anm. 1), S. 183–185.

Absetzung, Abdankung und Verbannung

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seine Person und für seine Familie.¹² Am Morgen des 7. April machten sich seine drei Unterhändler erneut auf den Weg zum Zaren. Wiederum ließ sich der Zar auf Verhandlungen ein. Da die vorgesehene finanzielle Ausstattung des Kaisers zu Lasten des französischen Staates gehen sollte, verlangte der Zar, dass die provisorische Regierung unter Führung Talleyrands zu gleichen Rechten an den Verhandlungen beteiligt werde. Das lehnten die Vertreter des Kaisers ab, hätten sie doch damit dessen Absetzung stillschweigend anerkannt und jede Verhandlung über die Bedingungen seiner Abdankung gegenstandslos gemacht. Schließlich einigte man sich auf die Fiktion, dass die Vertreter der provisorischen Regierung nicht als solche, sondern lediglich als Berater des russischen Außenministers Nesselrode an den Verhandlungen teilnähmen. Ergebnis der Verhandlungen war der Abdankungsvertrag von Fontainebleau vom 11. April 1814. Als Gegenleistung für seine Abdankung wurden Napoleon die Souveränität über die Insel Elba und der Kaiserin Marie Luise die Herrschaft über die Herzogtümer Parma, Piacenza und Guastalla zugesprochen. Darüber hinaus wurde zu Lasten des französischen Staates eine jährliche Pension von zwei Millionen Franken für Napoleon vereinbart. Auch die Familie Napoleons wurde bedacht. Die provisorische Regierung erklärte unter demselben Datum ihren Beitritt zu dem Abkommen und verpflichtete sich zur Durchführung aller Frankreich betreffenden Bestimmungen.¹³ Aufgrund des Vertrags verließ der Kaiser am 20. April Fontainebleau und brach nach Elba auf. Der Vertrag von Fontainebleau war Ausdruck der bestehenden Machtverhältnisse. Napoleon verfügte auch nach dem Abfall des Corps Marmont noch über eine Streitmacht. Sein Rückhalt in der Bevölkerung war schwer abzuschätzen. Es lag im Interesse der Zukunftschancen des Nachfolgeregimes, dass ein Bürgerkrieg vermieden wurde. Die Unterstützung der Armee für die neue Ordnung war zweifellos leichter zu gewinnen, wenn Napoleon einen fairen Abgang erhielt. Insofern lag auch der provisorischen Regierung viel am Abschluss des Abdankungsvertrags. Bekanntlich hielt es den Kaiser nur zehn Monate auf der Insel Elba. Am 1. März 1815 landete er mit wenigen Getreuen in Golfe Juan und brach alsbald nach Paris auf. Am 13. März stellten die noch immer in Wien versammelten Großmächte nach

12 Text der Abdankungserklärung vom 6. 4. 1814. In: Napoléon I. Correspondance. Bd. 27, 1869, Nr. 21558, S. 361. 13 Traité dit de Fontainebleau, conclu à Paris, le 11 avril 1814, entre l’empereur Napoléon, l’Autriche, la Prusse et la Russie. In: Jean-Baptiste Capefigue (Hrsg.): Le congrès de Vienne et les traités de 1815. Bd. 1, Paris 1863, S. 149–151; ebd., S. 151: Déclaration du Gouvernement provisoire de France, sur le traité du 11 avril 1814, Paris, le 11 avril 1814.

174 | II Herrscher und Herrschaft einer Vorlage des französischen Außenministers Talleyrand fest, mit seiner Rückkehr aus Elba habe Napoleon den Vertrag von Fontainebleau gebrochen. Damit habe er sämtliche Garantien verwirkt, die ihm durch diesen Vertrag zugesprochen worden seien: die Herrschaft über Elba nicht nur, sondern auch den Status eines Souveräns. Das bedeutete, dass Napoleons Eindringen in Frankreich nicht als Kriegshandlung eines benachbarten Staates, sondern als Rebellion eines Privatmanns gegen eine rechtmäßige Regierung aufgefasst werden musste. Dementsprechend erklärten die Verbündeten, Napoleon habe sich mit diesem Schritt der vindicte publique, also der öffentlichen Strafverfolgung, ausgesetzt.¹⁴ Seine Rückkehr auf den französischen Thron deuteten die Großmächte zugleich als Bruch des Friedens von Paris vom 30. Mai 1814, da dieser laut Präambel unter der Bedingung geschlossen worden sei, dass Frankreich „unter die väterliche Regierung seiner Könige“ zurückgekehrt sei.¹⁵ Nach dieser Logik hatte Napoleon schon durch seine bloße Rückkehr auf den französischen Thron den Kriegszustand wiederhergestellt. Einer erneuten Kriegserklärung schien es nicht zu bedürfen. In Wirklichkeit hatte die französische Regierung den Vertrag von Fontainebleau längst vor Napoleon gebrochen. Im Gegensatz zur Versicherung der provisorischen Regierung in der Beitrittserklärung zum Vertrag hatte Frankreich bis Februar 1815 keinerlei Zahlungen geleistet und den Kaiser auf Elba daher in wachsende Finanznot gestürzt. Am 13. Oktober 1814 hatte Talleyrand seinem König von Wien aus geschrieben, „es sei zu wünschen, daß in dieser Sache etwas getan werde.“¹⁶ Im November 1814 stellte Madame Bertrand fest, Napoleon besitze „kaum einen Schilling und nicht einmal einen Ring, den er jemandem schenken könnte“; der britische Beauftragte Campbell notierte in seinem Tagebuch, Napoleon erscheine beunruhigt wegen des Mangels an Geld und sei von der Sorge bestimmt, dass auf Seiten der Koalition nicht die Absicht bestehe, den Vertrag von Fontainebleau zu erfüllen. In Briefen an den britischen Außenminister Lord Castlereagh deutete Campbell wiederholt an, dass die Finanznot den Kaiser dazu zwingen könne, Elba zu verlassen.¹⁷ Die Siegermächte teilten diese Besorgnis und 14 Déclaration des Puissances signataires du Traité de Paris, réunies au Congrès de Vienne au sujet de l’évasion de Napoléon de l’île d’Elbe, Vienne, le 13 mars 1815. In: Capefigue (Hrsg.): Le congrès de Vienne (wie Anm. 13), Bd. 2, 1863, S. 912 f. 15 Quinzième Protocole de la séance du 12 mai 1815 des Plénipotentiaires des huit Puissances, Seconde Question: L’offre de sanctionner le Traité de Paris peut-elle changer les dispositions des Puissances? In: Capefigue (Hrsg.): Le congrès de Vienne (wie Anm. 13), Bd. 2, 1863, S. 1184–1187; Text des ersten Friedens von Paris. In: Ebd., Bd. 1, 1863, S. 161–178; die Präambel ebd., S. 161. 16 Talleyrand an Ludwig XVIII., 13. 10. 1814. In: Georges Pallain (Hrsg.): Correspondance inédite du prince de Talleyrand et du roi Louis XVIII. Paris 1881, S. 42 f. 17 Neil Campbell: Napoleon on Elba. Diary of an Eyewitness to Exile. Hrsg. von Jonathan North, Welwyn Garden City 2004, S. 140, 158, 177.

Absetzung, Abdankung und Verbannung

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forderten Talleyrand auf, seine Regierung zur Vertragserfüllung zu ermahnen.¹⁸ Dem Kaiser war im übrigen zugetragen worden, dass es am Rande des Wiener Kongresses Überlegungen gebe, ihn – ebenfalls unter Bruch des Vertrags von Fontainebleau – von Elba an einen entlegenen Ort zu deportieren. Schon damals war neben den Azoren, Santa Lucia, das zu den kleinen Antillen gehört, und Botany Bay an der Ostküste Australiens auch Sankt Helena genannt worden.¹⁹ Auf Sankt Helena bekannte Napoleon im April 1816, dass die Sorge vor der bevorstehenden Deportation seine Rückkehr nach Frankreich beschleunigt habe.²⁰ Napoleon hätte im April 1814 nicht abgedankt, wenn ihm nicht die Garantien des Vertrags von Fontainebleau gegeben worden wären. Dementsprechend erhebt sich die Frage, ob die Nichterfüllung des Vertrags durch die Alliierten nicht auch ihn von der Pflicht zur Vertragserfüllung befreit habe. Dann wäre auch sein Verzicht auf die Herrschaft in Frankreich gegenstandslos geworden, und seine Rückkehr auf den französischen Thron im März 1815 wäre keine Rebellion gewesen, sondern die erneute Wahrnehmung eines Herrschaftsrechts, das er nicht rechtswirksam verloren hatte. Den Konflikt zwischen Ludwig XVIII. und Napoleon I. durch ein Referendum zu entscheiden, lehnten die Verbündeten ab, obwohl sie im März 1814 noch der Meinung gewesen waren, allein der französischen Nation stehe es zu, über ihre künftige politische Ordnung zu befinden. Grund für die jetzige Weigerung war die Sorge, dass Napoleon, sollte er die Herrschaft über Frankreich behalten, Europa von neuem in nicht enden wollende Kriege stürzen würde. Daher ließen sich die Verbündeten auch nicht durch das von Napoleon Ende April 1815 durchgeführte Plebiszit umstimmen, das die Wiederherstellung des Kaisertums und die neue Verfassung, den von Benjamin Constant entworfenen „Acte additionnel aux constitutions de l’Empire“, bestätigte.²¹ Auch auf das wiederholte Angebot Napoleons, den Frieden von Paris vom Vorjahr in völkerrechtlich bindender Form noch einmal zu ratifizieren, gingen sie nicht ein.

18 Paul Gruyer: Napoléon. Roi de l’île d’Elbe. Paris 1906, S. 193–195. 19 Campbell: Napoleon on Elba (wie Anm. 17), S. 140, 165; Henry Houssaye: 1815. La première Restauration; le retour de l’île d’Elbe; les cent jours. Paris 1893, S. 142 f., 169; vgl. Talleyrand an Ludwig XVIII., 13. 10. 1814. In: Pallain (Hrsg.): Correspondance (wie Anm. 16), S. 43; vgl. auch Adam Zamoyski: Rites of Peace. The Fall of Napoleon and the Congress of Vienna. London 2007, S. 449–451. 20 Emmanuel Comte de Las Cases: Le Mémorial de Sainte Hélène. Texte établi et commenté par Gérard Walter. Bd. 1, Paris 1956, S. 484. 21 Acte additionnel aux constitutions de l’Empire du 22 avril 1815. In: Jacques Godechot (Hrsg.): Les constitutions de la France depuis 1789. Paris 1970, S. 231–239.

176 | II Herrscher und Herrschaft So blieb nur die Entscheidung der Waffen, die Napoleon hatte vermeiden wollen. Die Frage, wer für diesen erneuten Konflikt die Verantwortung trage, stellte sich alsbald nach dem Sieg der Koalition bei Waterloo im Juni 1815. Feldmarschall Blücher ließ nämlich schon wenige Tage später den Herzog von Wellington ersuchen, Napoleon, sobald er denn in seine Hände gefallen sei, an das preußische Hauptquartier auszuliefern. Napoleon sei „durch die Erklärung der verbündeten Mächte in die Acht erklärt“ und müsse hingerichtet werden, am liebsten „auf demselben Fleck, wo der Herzog von Enghien erschossen worden“ sei. Zur Begründung schrieb Blüchers Generalstabschef Gneisenau an General von Müffling, den preußischen Verbindungsoffizier bei Wellington: „So will es die ewige Gerechtigkeit, so bestimmt es die Deklaration vom 13. März, so wird das Blut unserer am 16. und 18. [Juni] getöteten und verstümmelten Soldaten gerächt“.²² Wellington wies die Behauptung, der Wiener Kongress habe Napoleon mit seiner Erklärung vom 13. März für vogelfrei erklärt, zurück. „Livré à la vindicte publique“ heiße lediglich, dass Napoleon nach seiner Ergreifung der Justiz übergeben werden müsse.²³ Auf die weitere Behauptung Blüchers, Napoleon trage die Verantwortung für Tod und Verstümmelung der Soldaten vor Waterloo, ging Wellington nicht ein. Diese Verantwortung konnte man dem Kaiser nur aufbürden, wenn man ihn für den Krieg selbst verantwortlich machte, und das war nach der Vorgeschichte des Feldzugs von 1815 mehr als fraglich, ganz abgesehen davon, dass die Führung eines Angriffskriegs damals völkerrechtlich nicht verboten war. Am 22. Juni 1815 dankte Napoleon zugunsten seines Sohnes erneut ab, um seiner Absetzung durch die Kammern zuvorzukommen.²⁴ Während die Kammern hofften, nach der Entmachtung Napoleons bessere Friedensbedingungen zu erreichen, hoffte der Kaiser, durch den freiwilligen Thronverzicht die Erbfolge seines Sohnes sicherzustellen. Die Kammern und den Kaiser verband somit die Überzeugung, dass die Verbündeten ein Verbleiben Napoleons auf dem Thron nicht dulden würden. Nach seiner zweiten Abdankung konnte Napoleon sich zunächst frei bewegen. Angesichts der stürmischen Sympathiekundgebungen der Pariser Bevölkerung fürchteten die Kammern und die provisorische Regierung unter Fouché allerdings, Napoleon könnte sich, gestützt auf die Straße, zu einem neuen Staatsstreich hinreißen lassen. Daher verlangte Fouché seine Abreise aus Paris. Inzwi-

22 Neithardt von Gneisenau an Müffling, 27. 6. 1815 und 29. 6. 1815. In: Friedrich Carl Ferdinand von Müffling: Aus meinem Leben. Berlin 1851, S. 273, 275. 23 Müffling an Gneisenau, 28. 6. 1815. In: Hans Delbrück: Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neithardt von Gneisenau. 1814, 1815. Bd. 4, Berlin 1880, S. 543. 24 Text der Abdankungserklärung vom 22. 6. 1815. In: Napoléon I. Correspondance. Bd. 28, Paris 1869, Nr. 22063, S. 299 f.

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schen rückten die verbündeten Armeen immer näher, und Napoleon musste vor allem vermeiden, den Preußen in die Hände zu fallen. Zunächst dachte er daran, sich in die Vereinigten Staaten zu begeben. Bei Rochefort an der Atlantikküste standen zwei Fregatten bereit. Als die Briten jedoch Miene machten, seine Ausreise zu verhindern, begab sich der Kaiser am 15. Juli 1815 freiwillig auf das englische Schiff „Bellerophon“ und damit in die Obhut Großbritanniens.²⁵ Es ist viel darüber spekuliert worden, warum Napoleon nicht wenigstens versucht hatte, die britische Blockade zu durchbrechen. Resignation nach der erneuten Abdankung, sein Stolz, der ihn daran hinderte, sich in einem Frachtraum zu verstecken, seine abnehmende Entschlusskraft und die Sorge um sein umfangreiches Gefolge, zu dem auch Frauen und Kinder gehörten, sind zur Erklärung angeführt worden.²⁶ Die Ergebung Napoleons in britischen Gewahrsam stürzte die Regierung in London in nicht geringe Verlegenheit. In einem Brief vom 13. Juli hatte Napoleon den Prinzregenten darum ersucht, ihm das Leben eines Landedelmanns in England zu gestatten.²⁷ Das lehnte die Regierung Liverpool kategorisch ab. Zumal nach den Erfahrungen von Elba hielt sie die Gefahr für viel zu groß, dass Napoleon von England aus versuchen würde, die Macht in Frankreich erneut an sich zu reißen. Das aber wollte sie um der Erhaltung des europäischen Friedens willen unter allen Umständen vermeiden. Vor Gericht stellen konnte sie den Kaiser in England nicht, denn er hatte nicht gegen englische Gesetze verstoßen. Dagegen hatte Ludwig XVIII. ihn am 6. März zum Rebellen erklärt, und so hätte ihm, nicht anders als Marschall Ney, in Frankreich wegen Hochverrats der Prozess gemacht werden können.²⁸ Ein Todesurteil und die anschließende Hinrichtung, wie sie Marschall Ney am 7. Dezember 1815 widerfahren sollte, wären in diesem Fall kaum zu umgehen gewesen. Doch Frankreich stellte keinen Antrag auf Auslieferung. Die Hinrichtung Napoleons hätte die französische Nation gespalten und aller Voraussicht nach den ohnehin schwankenden Thron Ludwigs XVIII. vollständig untergraben. Die innenpolitische Stabilisierung Frankreichs war jedoch eines der wichtigsten Kriegsziele der Koalition gewesen. Daher wurde die britische Regierung am 2. August von ihren Verbündeten dazu ermächtigt, mit dem gemeinsamen Gefangenen

25 Michael John Thornton: Napoleon after Waterloo. England and the St. Helena Decision. Stanford 1968, S. 3–37. 26 Frank Giles: Napoleon Bonaparte: England’s Prisoner. London 2001, S. 4. 27 Napoléon I au Prince régent d’Angleterre, 14. 7. 1815. In: Napoléon I. Correspondance. Bd. 28, 1869, Nr. 22066, S. 301. 28 Ordonnance du Roi, 6. 3. 1815. In: Le Moniteur Universel, 7. 3. 1815, S. 263, Art. 1: „Napoléon Bonaparte est déclaré traître et rebelle pour s’être introduit à main armée dans le département du Var.“

178 | II Herrscher und Herrschaft nach ihrem Ermessen zu verfahren.²⁹ Gestützt auf diese Ermächtigung ließ sie ihn am 15. August auf der „Northumberland“ auf die im Südatlantik gelegene Insel Sankt Helena verbringen. Dort ist Napoleon am 5. Mai 1821, noch nicht 52 Jahre alt, gestorben. Die Verbannung auf Sankt Helena erfolgte ohne vorgängigen Gerichtsbeschluss. Sie war in der Tat auch keine Strafe im Rechtssinne. Vielmehr diente sie allein der Sicherheit Großbritanniens und ganz Europas davor, dass Napoleon die Welt erneut in den Krieg stürzen würde. Mit der peinlichen Überwachung des Gefangenen zeigte die britische Regierung, dass sie nach wie vor mit dessen Willen und Fähigkeit rechnete, die Herrschaft in Frankreich ein weiteres Mal zurückzuerobern. Warum wurde Napoleon gestürzt? Im Frühjahr 1814 wurde Napoleon zunächst abgesetzt, dann zur Abdankung gezwungen, nicht, weil er als Usurpator angesehen worden wäre, und nicht, weil er den Krieg verloren hätte, sondern weil er nicht rechtzeitig hatte Frieden schließen können. Bis zuletzt vertraute er geradezu mit Verbissenheit einseitig auf sein überlegenes militärisches Können. Darüber verlor er den Blick für die wirklichen Kräfteverhältnisse und für die Entschlossenheit seiner Gegner. Die Gefahr der Intrige hatte er unterschätzt, und mit der Verweigerung der Marschälle hatte er nicht gerechnet. Im Jahre 1815 wurde er gestürzt, weil die Großmächte ihm nach der Entmachtung vom Vorjahr nicht noch einmal eine Chance einräumen wollten, obwohl er sich bereit erklärt hatte, den Frieden von Paris zu bestätigen. Wenn Napoleon die Schlacht bei Waterloo gewonnen hätte, wären die Verbündeten mit Sicherheit spätestens im folgenden Jahr mit noch größeren Armeen zurückgekehrt, um ihn aus Frankreich zu vertreiben. Für wie gefährlich sie ihn hielten, zeigt sich daran, dass die britische Regierung ihn wie ein wildes Tier auf einer fernen Insel in Fesseln legte. Im Unterschied zum April 1814 war der zweite Sturz Napoleons im Juni 1815 erfolgt, weil die Verbündeten seine Rückkehr auf den Thron im März als unrechtmäßig und seine wiedererrichtete Herrschaft daher als usurpatorisch betrachteten. Ihr militärischer Sieg bei Waterloo gab ihnen die Möglichkeit, seine Entmachtung durchzusetzen. Angesichts der Machtverhältnisse könnte es so scheinen, als habe die Absetzung Napoleons durch den Senat am 3. April 1814 für seinen effektiven Sturz nur eine geringe Rolle gespielt. Viel entscheidender erscheint das Zerbröckeln seiner militärischen Macht. In der Tat zwangen ihn der Aufstand seiner Marschälle und

29 Convention sur la Garde de Napoléon entre la Grande-Bretagne et les Puissances alliées, signée à Paris, le 2 août 1815, Art. II. In: Capefigue (Hrsg.): Le congrès de Vienne (wie Anm. 13), Bd. 2, S. 1478.

Absetzung, Abdankung und Verbannung

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die Desertionen in seinem Heer, eine Abdankungsvereinbarung zu schließen, bevor ihm seine letzten Trümpfe unter der Hand zerronnen wären. Es ist jedoch nicht zu verkennen, dass erst die Absetzungsentscheidung des Senats den Staatenkrieg in einen Bürgerkrieg verwandelte und dass es vor allem die Furcht vor einem Bürgerkrieg war, der die Marschälle zur Gehorsamsverweigerung bewogen hatte. Noch aus einem anderen Grund war die Absetzung Napoleons durch den Senat historisch von weittragender Bedeutung. Schon die Absetzung Jakobs II. im Jahre 1688 war als eine Maßnahme zur Verteidigung der bestehenden Rechts- und Verfassungsordnung gerechtfertigt worden. Sie verpflichtete die Nachfolger auf die Einhaltung der elementaren Rechtsgrundsätze des bisherigen Regimes. Insofern trug sie einen defensiven, ja konservativen Charakter, und wenn sie deshalb die glorreiche genannt wurde, so nannten die Zeitgenossen von 1814 die ihrem Vorbild folgende Revolution des Senats eine „glückliche Revolution“, eine „heureuse révolution“.³⁰ Der mit der Verfassung des Senats vom 6. April 1814 auf den Thron berufene spätere Ludwig XVIII. ist der Erwartung, dass er die Errungenschaften der französischen Revolution und des Kaiserreichs bewahre, zwar nur mit Einschränkung nachgekommen. Ganz konnte er sich ihr jedoch nicht entziehen. Man muss daher feststellen, dass die Form, in der Napoleon abgesetzt wurde, die Voraussetzung dafür bildete, dass wesentliche Teile der durch die Revolution und das Kaiserreich geschaffenen Rechts- und Sozialordnung Frankreichs weit über das Ende des Empire hinaus aufrechterhalten werden konnten.

30 Belege in Sellin: Revolution (wie Anm. 1), S. 168.

Der Tod Napoleons Napoleon* Bonaparte verschied am 5. Mai 1821 um 17.49 Uhr im Alter von noch nicht 52 Jahren im Hause Longwood auf Sankt Helena, einem Felseneiland im südlichen Atlantik.¹ Dorthin war er im Jahre 1815 auf Anordnung der britischen Regierung gebracht worden. Obwohl Napoleon die Schauplätze seines Wirkens fast sechs Jahre lang nicht mehr betreten hatte, wurde sein Tod in Europa als Epoche empfunden. Franz Grillparzer schrieb ein Trauergedicht, das von dem Bewusstsein zeugt, einer Generation von Epigonen anzugehören.² Die letzte Strophe lautet: Schlaf wohl! und Ruhe sei mit deinem Tod, Ob du die Ruhe gleich der Welt gebrochen; Hat doch ein Höherer bereits gesprochen: Von Anderm lebt der Mensch als nur von Brod, Das Große hast am Kleinen du gerochen, Und sühnend steh’ auf deinem Leichenstein: Er war zu groß, weil seine Zeit zu klein!³

Napoleon starb fern von seiner Familie. Seine Frau, die Kaiserin Marie-Louise, und sein am 20. März 1810 geborener Sohn, der König von Rom, waren nicht bei ihm. Er hatte die beiden vor seinem Aufbruch von Paris zum Feldzug in Frankreich am 25. Januar 1814 zum letzten Mal gesehen.⁴ Am 29. März 1814 war die als Regentin eingesetzte Kaiserin vor den herannahenden Armeen der Verbündeten mit der Regierung zuerst nach Rambouillet ausgewichen und kurz darauf nach Blois weitergezogen.⁵ Während Napoleon in Fontainebleau seinen Aufbruch auf die Insel Elba vorbereitete, reiste Marie-Louise auf Geheiß ihres Vaters, des Kaisers Franz von Österreich, mit ihrem Sohn nach Wien, wo sie am 21. Mai eintraf.⁶ Weniger als ein halbes Jahr später warf sie sich Adam Adalbert Graf Neipperg in die

* Erstdruck in: Francia. Forschungen zur Westeuropäischen Geschichte 35 (2008), S. 273–294. 1 [Henri Gaden] Bertrand: Cahiers de Sainte-Hélène, Janvier-Mai 1821. Hrsg. von Paul Fleuriot de Langle. Paris 1949, 5. 5. 1821, S. 195. 2 Vgl. dazu Barbara Besslich: Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung 1800– 1945. Darmstadt 2007, S. 137–148. 3 Franz Grillparzer: Napoleon. Geschrieben im Jahre 1821. In: Ders.: Sämtliche Werke. Historischkritische Gesamtausgabe. Hrsg. von August Sauer/Reinhold Backmann, Abt. 1, Bd. 10: Gedichte, Teil 1. Wien 1932, S. 61. 4 Irmgard Schiel: Marie Louise. Eine Habsburgerin für Napoleon. Stuttgart 1983, S. 211. 5 Ebd., S. 234–239. 6 Ebd., S. 266 f.

182 | II Herrscher und Herrschaft Arme, der sie im Auftrag ihres Vaters als Beschützer und Aufpasser auf eine Reise nach Italien und durch die Schweiz begleitete, während der kleine Napoleon in Wien geblieben war.⁷ Am 20. April 1816 nahm Marie-Louise das Herzogtum Parma in Besitz, das ihr durch den Vertrag von Fontainebleau vom 11. April 1814 zugesprochen worden war.⁸ Neipperg blieb an ihrer Seite. Im Jahre 1817 schenkte sie ihm eine Tochter, zwei Jahre später einen Sohn. Am 8. August 1821, drei Wochen, nachdem sie vom Tod Napoleons erfahren hatte, ließ sie sich in aller Stille mit Neipperg trauen.⁹ Napoleon hatte sich lange bemüht, wieder mit Marie-Louise vereint zu werden. Am 4. Dezember 1814 beklagte er sich gegenüber dem Beauftragten der britischen Regierung auf Elba, Sir Neil Campbell, bitterlich über „die Schwäche und Unmenschlichkeit des Kaisers von Österreich, der ihm seine Frau und sein Kind vorenthalte“.¹⁰ Wenige Tage nach der Rückkehr von Elba ersuchte er seinen Schwiegervater, die Kaiserin und seinen Sohn nach Straßburg bringen zu lassen.¹¹ Er liebte seinen Sohn über alles. Noch neun Tage vor seinem Tode machte er sich Gedanken über dessen Zukunft. „Er muss stets stolz darauf sein, als Franzose geboren zu sein; man kann nicht wissen, welches sein Schicksal sein wird; vielleicht wird er eines Tages über Frankreich herrschen; er darf daher nichts tun, was die Franzosen von ihm entfernen und gegen ihn aufbringen könnte. Es ist wichtig, dass er eine gute Erziehung erhält; [. . . ] man muss sich bemühen, ihm die richtigen Vorstellungen von seinem Vater und den Ereignissen beizubringen; denn wahrscheinlich wird man versuchen, ihm ein falsches Bild zu vermitteln.“¹² In der Nacht vom 3. auf den 4. Mai 1821 hatte der Kaiser, der kaum noch sprach, im Sterben gefragt, wie sein Sohn heiße; in der folgenden Nacht, der letzten vor seinem Tode, hatte er den Namen seines Sohnes ausgerufen; das war eines seiner letzten Worte.¹³ 7 Zu Neipperg vgl. ebd., S. 274–278; zum Beginn der Affäre ebd., S. 290. 8 Ebd., S. 330; Traité dit de Fontainebleau, conclu à Paris, le 11 avril 1814, entre l’empereur Napoleon, l’Autriche, la Prusse et la Russie, Art. 5. In: M. Capefigue (Hrsg.): Le congrès de Vienne et les traités de 1815, Bd. 1. Paris 1863, S. 149. 9 Schiel: Marie Louise (wie Anm. 4), S. 337–339. Napoleon war über die Beziehungen seiner Frau zu Neipperg offenbar schon auf Elba unterrichtet; vgl. Paul Gruyer: Napoleon. Roi de l’île d’Elbe. Paris 1906, S. 255; vgl. ebenso: [Gaspard] Gourgaud: Sainte-Hélène. Journal inédit de 1815 à 1818, Bd. 2. Paris o. J., 9. 7. 1817, S. 195: „On blâme la conduite de l’Impératrice, qui s’amuse avec M. de Neipperg, tandis que l’Empereur est ici! Est-il joli homme, au moins, ce Neipperg?“ 10 Sir Neil Campbell: Napoleon on Elba. Diary of an Eyewitness to Exile. Hrsg. von Jonathan North. Welwyn Garden City 2004, S. 147. 11 Napoleon an Franz I., Kaiser von Osterreich, 1. 4. 1815. In: Napoléon I er : Correspondance, Bd. 28. Paris 1869, Nr. 21.753, S. 60 f. 12 Bertrand: Cahiers (wie Anm. 1), 26. 4. 1821, S. 168 f.; vgl. auch ebd., 24. 4. 1821, S. 159. 13 Ebd., 3. 5. 1815, S. 192; 5. 5. 1815, S. 195.

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Am 6. Mai 1821 führte der aus Korsika stammende Arzt und Anatom Francesco Antommarchi in Anwesenheit von sieben britischen Ärzten eine Autopsie an dem Leichnam des Kaisers durch.¹⁴ Dabei wurde ein vermutlich kanzeröses Magengeschwür festgestellt. Akut könnte sein Tod durch blutiges Erbrechen verursacht worden sein. Folgt man dem Rechtsmediziner Paul Fornès, so ist nicht bekannt, welche Folgen ein Magengeschwür haben konnte, das über viele Jahre hinweg nicht behandelt worden war.¹⁵ Aufgrund der Autopsie galt 140 Jahre lang Magenkrebs als Ursache für den Tod Napoleons. Zweifel an diesem Befund äußerte erst im Jahre 1961 der Göteborger Zahnarzt und Stomatologe Sten Forshufvud in einem Aufsatz in der Zeitschrift „Nature“ und in einem gleichzeitig veröffentlichten Buch, das in der deutschen Fassung von 1962 den Titel trägt „Mord an Napoleon?“ Forshufvud behauptete in diesen Schriften, der Kaiser habe an einer chronischen Arsenvergiftung gelitten.¹⁶ Auf diesen Gedanken hatte ihn die Lektüre der Memoiren von Louis Marchand gebracht, dem Kammerdiener Napoleons, in denen das körperliche Befinden und die Beschwerden Napoleons einen breiten Raum einnehmen. In den Berichten Marchands und anderer Beobachter auf Sankt Helena glaubte Forshufvud in annähernder Vollständigkeit die charakteristischen Symptome gefunden zu haben, die durch die langjährige Zufuhr von geringen Dosen von Arsen hervorgerufen werden. Der zweite Band der Memoiren Marchands, in denen die Jahre auf Sankt Helena behandelt werden, war im Jahre 1955 veröffentlicht worden.¹⁷ Zur Bestätigung seiner Vermutung ließ Forshufvud 1959 an der Universität Glasgow angeblich von Napoleon stammende Haare analysieren. Dabei wurde in der Tat ein überhöhter Arsengehalt festgestellt. Jean-François Lemaire hat darauf aufmerksam gemacht, dass nicht allein die Lektüre der Aufzeichnungen Marchands, sondern auch ein aktuelles Ereignis der schwedischen Tagespolitik Forshufvud auf den Gedanken gebracht haben könnte, dass auf Sankt Helena Gift im Spiel gewesen sei. Im Januar 1958 wurde auf Veranlassung von König Gustav VI. Adolf der in der Kathedrale von Västeras ruhende Leichnam des 1577 im Gefängnis verstorbenen Königs Erik XIV.

14 L’autopsie de Napoléon d’après les mémoires du docteur Antommarchi. In: Jean-François Lemaire u. a.: Autour de „L’empoisonnement“ de Napoléon. Paris 2001, S. 107–110. 15 Questions complémentaires au docteur Paul Fornès, ebd., S. 64. 16 Sten Forshufvud/Hamilton Smith/Anders Wassén: Arsenic content of Napoleon I’s hair probably taken immediately after his death. In: Nature 192 (1961, October 14), S. 103–105; Sten Forshufvud: Mord an Napoleon? Düsseldorf/Wien 1962, S. 87, 205 u. ö.; die deutsche Ausgabe war die Übersetzung einer inzwischen abgeänderten französischen Version unter dem Titel: Napoléon a-t-il été empoisonné? Paris 1962. 17 Louis Marchand: Mémoires. Hrsg. von Jean Bourguignon/Henry Lachouque, Bd. 2: SainteHélène. Paris 1955.

184 | II Herrscher und Herrschaft exhumiert. Gustav VI. Adolf, Liebhaber-Archäologe, wollte dem lange gehegten Verdacht auf den Grund gehen, sein Vorgänger aus dem 16. Jahrhundert sei vergiftet worden. Die gerichtsmedizinische Untersuchung bestätigte in der Tat einen überhöhten Arsengehalt im Körper des Toten.¹⁸ Forshufvud ist 1985 gestorben. Seine Thesen sind vor allem von zwei Autoren aufgegriffen worden: dem Kanadier Ben Weider und dem Franzosen René Maury. Ben Weider ist im Hauptberuf Geschäftsmann in der Sportartikel- und FitnessBranche. Zugleich ist er Mitgründer und war bis Oktober 2006 Vorsitzender der International Federation of Bodybuilders. Im Jahre 1995 rief Weider eine International Napoleonic Society ins Leben, der er ebenfalls präsidiert. René Maury ist Emeritus der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Montpellier I. Ben Weider und René Maury haben mehrere Bücher über den Tod Napoleons veröffentlicht, zum Teil im Zusammenwirken mit anderen Autoren. Ko-Autor des letzten Buches zum Thema von Maury ist François de Candé-Montholon, ein Nachfahre des Generals Montholon, der zu der kleinen Gruppe derer gehörte, die Napoleon nach Sankt Helena begleitet hatten.¹⁹ Keiner der drei Autoren zweifelt daran, dass die mittlerweile von verschiedenen Laboratorien untersuchten Haare tatsächlich von Napoleon stammen und dass die von Louis Marchand und anderen beschriebenen Beschwerden des Kaisers als Symptome einer chronischen Arsenvergiftung angesehen werden müssen. Sie sind sich aber auch sicher, dass diese Vergiftung nicht akzidentieller Natur, sondern auf menschlichen Vorsatz zurückzuführen sei. Schon Forshufvud hatte geschrieben: „Napoleon ist ermordet worden, das kann kaum bezweifelt werden.“²⁰ Sie gehen noch weiter. Sie sind überzeugt, dass sie den Mörder kennen. Alle drei halten den General Charles Tristan Graf Montholon für den Täter. Wenn man den Anschlag auf das Leben Napoleons für erwiesen hält, bietet sich ein solcher Verdacht fast zwangsläufig an, da der Täter über Jahre hinweg eng mit Napoleon zusammengelebt haben muss, um ihm regelmäßig eine geringe Dosis

18 Jean-François Lemaire: La mort de Napoléon. Faits, hypothèses, fantasmes. In: Ders. u. a.: Autour de „L’empoisonnement“ de Napoléon (wie Anm. 14), S. 45; Vergiftete Erbsensuppe für König Erik XIV.? In: FAZ, 22. 1. 1958, S. 6; K. H. Neeb: Kleine Gehalte an Arsen in biologischen Materialien. In: Fresenius’ Zeitschrift für analytische Chemie 201, Heft 1 (1964), S. 400. 19 Vgl. u. a. Ben Weider/David Hapgood: The Murder of Napoleon. London 1982; Ben Weider: Napoléon est-il mort empoisonné? Paris 1999; René Maury: L’assassin de Napoléon ou le mystère de Sainte-Hélène. Paris 1994, deutsche Ausgabe unter dem Titel: Napoleon wurde ermordet. Das Geheimnis von Sankt-Helena. Stuttgart 1996; ders.: Albine, le dernier amour de Napoléon. Paris 1998; ders.: François de Candé-Montholon: L’énigme Napoléon résolue. L’extraordinaire découverte des documents Montholon. Paris 2000. 20 Forshufvud: Mord an Napoleon? (wie Anm. 16), S. 239.

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des Gifts verabreichen zu können. Diese Bedingung erfüllt unter den Begleitern des Kaisers auf St. Helena außer dem Kammerdiener Marchand, an dessen unverbrüchlicher Treue zu seinem Herrn bisher niemand gezweifelt hat, nur Montholon.²¹ Las Cases, der Autor des Mémorials von Sainte-Hélène, verließ die Insel bereits Ende 1816, General Gourgaud Anfang 1818 und Madame Montholon im Juli 1819. General Bertrand dagegen wohnte von Anfang an in einigen Kilometern Entfernung von Napoleons Unterkunft in Longwood House. René Maury nennt die Tat, deren er Montholon bezichtigt, in seinem ersten Buch das „vielleicht größte kriminelle Meisterwerk aller Zeiten“.²² In der Frage der Motive sind sich die drei Autoren allerdings nicht einig, und Maury allein hat nacheinander sogar drei verschiedene Antworten auf diese Frage angeboten. Für Forshufvud steht Montholon am Ende einer Auftragskette, die vom Grafen von Artois, dem Bruder und späteren Nachfolger Ludwigs XVIII., über Talleyrand und den Herzog von Richelieu bis zum französischen Kommissar auf St. Helena, dem Marquis de Montchenu, und von da zum eigentlichen Täter reicht. Auch Ben Weider sieht in Montholon einen Auftragsmörder, glaubt jedoch, er habe gleichzeitig für die britische Regierung und für den Grafen von Artois gearbeitet.²³ Artois sei bereits seit dem Jahr 1800 von der fixen Idee besessen gewesen, Napoleon zu ermorden.²⁴ Die britische Regierung dagegen habe verhindern wollen, dass Napoleon ein weiteres Mal nach Frankreich zurückkehre; außerdem seien ihr die Kosten der Internierung und Bewachung Napoleons auf die Dauer zu hoch geworden.²⁵ René Maury hält Montholon für einen Täter aus eigenem Antrieb, allerdings aus jeweils unterschiedlichen Motiven. In seinem ersten Buch von 1994 – „L’assassin de Napoléon ou le mystère de Sainte-Hélène“ – hält er Habgier für das Motiv. Er vermutet, Montholon habe es darauf abgesehen gehabt, in Napoleons Testament für seine Dienste belohnt zu werden. Durch die Verabreichung des Gifts habe er den Eintritt des Erbfalls beschleunigen wollen.²⁶ Tatsächlich hat Napoleon im April 1821, nur wenige Wochen vor seinem Tode, sein Testament von 1816 geändert und Montholon einen beträchtlichen Teil seines Vermögens

21 Charakteristisch für die Beweisführung: Maury: Napoleon wurde ermordet (wie Anm. 19), S. 291: „Kurz und gut, wenn Montholon nicht der Schuldige ist, kann niemand anderer es sein. Doch da Napoleon nun einmal unzweifelhaft ermordet worden ist, muss es einen Mörder geben!“ 22 Maury: Napoleon wurde ermordet (wie Anm. 19), S. 11; vgl. auch ebd., S. 66: „das perfekteste Verbrechen aller Zeiten“. 23 Weider: Napoléon est-il mort empoisonné? (wie Anm. 19), S. 15. 24 Ebd., S. 49. 25 Ebd., S. 99, 104. 26 Maury: Napoleon wurde ermordet (wie Anm. 19), S. 92 f.

186 | II Herrscher und Herrschaft vermacht.²⁷ Seine Frau Albine, mit der Napoleon ein Verhältnis eingegangen war, wird von Maury der Mitwisser- und Komplizenschaft, ja der Anstiftung, verdächtigt.²⁸ In seinem zweiten Buch von 1998 – „Albine. Le dernier amour de Napoléon“ – wird Eifersucht zum wesentlichen Motiv erklärt. Montholon habe ohne Wissen seiner Frau gehandelt mit dem Ziel, Napoleon so krank zu machen, dass der Gouverneur ihn zur medizinischen Behandlung nach Europa zurückschicken müsste. Damit wäre auch für seine Begleiter der Aufenthalt auf Sankt Helena beendet gewesen, und das hätte zwangsläufig die Trennung Albines von Napoleon zur Folge gehabt.²⁹ Maury stützte diese These auf eine Sammlung von Briefen und anderen Dokumenten, die der genannte Nachfahre Montholons, François de Candé-Montholon, im Sommer 1984 auf einem Speicher gefunden, Maury jedoch erst im Frühjahr 1997 zugänglich gemacht hat.³⁰ Dieselben bisher unveröffentlichten Quellen liegen auch Maurys zusammen mit Candé-Montholon gemeinsam verantworteten, dritten und letzten Werk – „L’énigme Napoléon résolue“ – aus dem Jahre 2000 zugrunde, in dem die Sehnsucht nach Albine zum entscheidenden Motiv Montholons erklärt wird. Maury führt zunächst wie in seinem vorhergehenden Buch aus, Montholon habe Napoleon eine chronische Arsenvergiftung beigebracht, um dessen Gesundheitszustand künstlich so weit zu verschlechtern, dass der britische Gouverneur Sir Hudson Lowe und die Regierung in London sich gezwungen sähen, ihn nach Europa zurückzuschaffen, um ihm dort eine angemessene medizinische Betreuung widerfahren zu lassen. Auch nach dieser Deutung soll Montholon Napoleons Rückkehr herbeigewünscht haben, weil damit seine Aufgabe in Longwood gleichfalls beendet und er wieder mit seiner Frau vereint gewesen wäre, die Sankt Helena am 2. Juli 1819 zusammen mit ihren drei Kindern wegen einer Erkrankung hatte verlassen müssen.³¹ Dass Montholon das Gift nur in ganz geringen Dosen über einen langen Zeitraum

27 Jacques Macé: Dictionnaire historique de Sainte-Hélène. Chronologique, biographique et thématique. Paris 2004, S. 428, 433. 28 Maury: Napoleon wurde ermordet (wie Anm. 19), S. 291; vgl. auch S. 152, 110–112; die am 26. Januar 1818 geborene Tochter Albines mit Namen Josephine soll Napoleon auffallend ähnlich gesehen haben. Nach dem Tod Napoleons trennten sich die Eheleute Montholon voneinander. 29 Maury: Albine (wie Anm. 19), S. 192, 199 f. 30 François de Montholon-Candé: Préface zu Maury: Albine (wie Anm. 19), S. 11 f.; ders.: Avantpropos. In: Maury/Candé-Montholon: L’énigme Napoléon résolue (wie Anm. 19), S. 9–13. 31 Maury/Candé-Montholon: L’énigme Napoléon resolue (wie Anm. 19), S. 128: „En dégradant imperceptiblement la santé de Napoléon à son insu, Montholon espère obtenir leur rapatriement à tous“; Marchand: Mémoires. Bd. 2 (wie Anm. 17), S. 212 f., berichtet, Albine de Montholon habe abreisen müssen, weil sie ernstlich erkrankt sei und der Arzt Dr. Verling erklärt habe, dass sie bei dem auf St. Helena herrschenden Klima nicht wieder gesund werden könne.

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hinweg verabreicht habe, erklärt Maury im Unterschied zu seinem ersten Buch damit, dass er gar nicht die Absicht gehabt habe, den Kaiser zu töten.³² Damit wendet er sich zugleich gegen die Behauptungen Forshufvuds und Weiders, wonach Napoleon aus politischen Gründen ermordet worden sei. Sein Tod sei auch nicht unmittelbar infolge der Arsenvergiftung eingetreten, sondern weil ihm am 3. Mai von seinen britischen Ärzten eine weit überhöhte Dosis des quecksilberhaltigen Abführmittels Kalomel verabreicht worden sei. Dieses Mittel sei zwar an sich selbst harmlos, aber im Zusammenwirken mit dem regelmäßig zugeführten Arsen habe es eine todbringende Reaktion ausgelöst.³³ Der französische Historiker Jacques Macé hat für Forshufvud und seine Fortsetzer die Bezeichnung empoisonnistes geprägt.³⁴ Das nicht übersetzbare Wort bedeutet so viel wie „Anhänger der Vergiftungsthese“. In mehreren naturwissenschaftlichen und medizinischen Arbeiten der letzten Jahre sind erhebliche Bedenken gegen die Behauptungen der empoisonnistes vorgebracht worden. Die vorgebrachten Zweifel betreffen die Echtheit der untersuchten Haare, die Schwierigkeit, bei der Analyse von Haaren die Spuren von eingenommenem Arsen von den Spuren von äußerlich angelagertem Arsen aus Konservierungsmitteln, Puder und anderen Chemikalien zu unterscheiden, die unzureichend geprüfte Möglichkeit einer Vergiftung durch Tapetenfarben, Genussmittel, Medikamente, Trinkwasser, Kohlenfeuer und anderes mehr und in diesem Zusammenhang bis vor kurzem fast durchweg auch das Fehlen zeitgenössischer Kontrollpersonen. Wie die Kanadier Hindmarsh und Corso außerdem hervorheben, berichten die Begleiter Napoleons von einer Reihe von Symptomen nichts, die bei einer chronischen Arsenvergiftung zu erwarten gewesen wären, nämlich Gewichtsverlust sowie bestimmte dermatologische und neurologische Veränderungen.³⁵ Lin, Alber und Henkelmann haben

32 So schon in: Maury: Albine (wie Anm. 19), S. 200; vgl. Maury/Candé-Montholon: L’énigme Napoléon résolue (wie Anm. 19), S. 125: „Il n’a pas empoisonné pour tuer mais pour partir, pour rejoindre au plus tôt la femme qu’il aime.“ 33 Maury/Candé-Montholon: L’énigme Napoléon résolue (wie Anm. 19), S. 147. 34 Vgl. Thierry Lentz: L’intime conviction ou la méthode? In: Lemaire u. a.: Autour de „L’empoisonnement“ de Napoléon (wie Anm. 14), S. 73, Anm. 2. 35 J. Thomas Hindmarsh/Philip F. Corso: The Death of Napoleon Bonaparte: A Critical Review of the Cause. In: Journal of the History of Medicine 53 (1998), S. 207–209; vgl. ebd., S. 208: „The most prominent dermatologic feature of chronic arsenic poisoning is also constant: raindrop pigmentation of the skin, particularly around the axillae, groins, temples, eyes, neck, and nipples, although it may also extend over the shoulders and chest anteriorly and posteriorly.“ Im Autopsiebericht Francesco Antommarchis in: Lemaire u. a.: Autour de „L’empoisonnement“ de Napoléon (wie Anm. 14), S. 107–110, fehlen in der Tat Feststellungen über pathologische Veränderungen der Haut, obwohl nach heutiger medizinischer Erkenntnis „Hautveränderungen [. . . ] die ersten und die häufigsten Zeichen der chronischen Arsenvergiftung“ darstellen; so E. G. Jung/E. Boh-

188 | II Herrscher und Herrschaft im Jahre 2004 auch in Haaren Napoleons aus dem Jahre 1814 einen überhöhten Arsengehalt festgestellt, ein Ergebnis, das neuerdings durch die an der Universität Pavia durchgeführten Untersuchungen von Adalberto Piazzoli und anderen bestätigt wurde. Die Gruppe um Clemenza, Piazzoli und andere hat erstmalig zeitgenössische Kontrollpersonen aus der Familie Napoleons einbezogen. Durch einen Vergleich der Haare aus Sankt Helena mit Haaren Napoleons im Kindesalter und während seines Exils auf Elba im Jahre 1814 mit Haaren des Königs von Rom aus mehreren Jahren zwischen 1812 und 1826 und mit Haaren der Kaiserin Josephine, die ihr unmittelbar nach ihrem Tod im Jahre 1814 abgeschnitten worden waren, haben die beteiligten Wissenschaftler – Physiker, Chemiker und Toxikologen – dank verfeinerter Untersuchungsmethoden den Nachweis erbracht, dass die Generation um 1800 generell einer höheren Belastung mit Arsen ausgesetzt war als die heutige und dass der festgestellte Arsengehalt in den Haaren Napoleons daher die Annahme eines Verbrechens auf keinen Fall rechtfertigt.³⁶ Umgekehrt haben Lugli, Kopp Lugli und Horcic im Jahre 2005 aufgrund einer Kalkulation der Gewichtsabnahme Napoleons in seinem letzten Lebensjahr die traditionelle Vermutung erhärtet, dass Napoleon an Magenkrebs gestorben sei.³⁷ Die professionelle Geschichtswissenschaft hat die Giftmordthese bis vor wenigen Jahren weitgehend totgeschwiegen. Noch in der im Jahre 2005 erschienenen Biographie Napoleons von Johannes Willms findet sich kein Wort darüber.³⁸ Auch in Willms’ Buch „Napoleon. Verbannung und Verklärung“ von 2000, dessen erste hundert Seiten dem Aufenthalt des Kaisers auf Sankt Helena gewidmet sind, wird der Verdacht Forshufvuds und der anderen empoisonnistes nicht erwähnt.³⁹ Ebenso fehlt auch in der letzten Auflage von Jean Tulards klassischer Biographie „Napoléon ou le mythe du sauveur“ von 1987 jeglicher Hinweis auf die Debatte. Keiner der empoisonnistes findet sich im Literaturverzeichnis

nert: Die chronische Arsenvergiftung. In: Klaus Püschel (Hrsg.): Rechtsmedizin und Grenzgebiete. Festschrift zum 60. Geburtstag von Werner Janssen. Bremen 1985, S. 39. 36 Xilei Lin/D. Alber/R. Henkelmann: Elemental contents in Napoleon’s hair cut before and after his death: Did Napoleon die of arsenic poisoning? In: Anal Bioanal Chem 379 (2004), S. 218–220; Massimo Clemenza et al.: Misure con attivazione neutronica sulla presenza di arsenico nei capelli di Napoleone Bonaparte e di suoi famigliari. In: Il Nuovo Saggiatore. Bollettino della Società Italiana di Fisica 24 1/2 (2008), S. 19–30. 37 A. Lugli/A. Kopp Lugli/M. Horcic: Napoleon’s autopsy: New perspectives. In: Human Pathology 36 (2005), S. 320–324. Aufgrund des Vergleichs von zwölf Paar von Napoleon zwischen 1800 und 1821 getragenen Hosen sind die Autoren zu dem Ergebnis gelangt, dass sein Gewicht bis zum Jahre 1820 zwar von 67 auf 90 Kilogramm zugenommen, dass es jedoch in seinem letzten Lebensjahr wieder um 11 auf 79 Kilogramm abgenommen habe. 38 Johannes Willms: Napoleon. Eine Biographie. München 2005. 39 Vgl. Ders.: Napoleon. Verbannung und Verklärung. München 2000, S. 113–116.

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des 2004 erschienenen Buchs des Amerikaners Stuart Semmel, „Napoleon and the British“, obwohl Ben Weider die britische Regierung ebenso entschieden für den Tod Napoleons verantwortlich macht, wie René Maury sie von jeder Schuld freispricht.⁴⁰ Diskutiert, wenn auch entschieden bezweifelt, wird die Vergiftungsthese dagegen von dem britischen Historiker Frank Giles in seinem 2001 erschienenen Buch „Napoleon Bonaparte: England’s Prisoner“.⁴¹ Als erster französischer Historiker hat Jacques Macé sich im Jahre 2000 gegen die Thesen Forshufvuds und seiner Nachfolger gewandt. Er schrieb ein ganzes Buch, um die „Ehre“ des Generals von Montholon wiederherzustellen. Im ersten Teil wird die Lebensgeschichte Montholons und seiner Frau Albine nach den Akten rekonstruiert; besonders eingehend werden die Lebensumstände auf Sankt Helena und die Beziehungen des Ehepaars zu Napoleon dargestellt; im zweiten Teil widerlegt Macé mit überzeugenden Argumenten die Hauptthesen der empoisonnistes.⁴² Ein eingehender, die historischen wie die medizinischen Fragen gleichermaßen berücksichtigender Beitrag zur Diskussion wurde ein Jahr später von Jean-François Lemaire, Paul Fornès, Pascal Kintz und Thierry Lentz vorgelegt. Unter dem Titel „Autour de ,l’empoisonnement‘ de Napoléon“ enthüllen die Autoren – Gerichtsmediziner, Toxikologen und Historiker – aus unterschiedlichen Blickwinkeln die Fragwürdigkeit der Positionen der empoisonnistes.⁴³ Die Zurückhaltung der Geschichtswissenschaft dürfte vor allem zwei Gründe haben. Zum einen erscheint die Beweisführung der empoisonnistes vielfach so wenig schlüssig, dass der Gedanke naheliegt, eine ausdrückliche Widerlegung ihrer Thesen erübrige sich. Zum andern zweifeln viele Historiker offensichtlich an der Relevanz der Frage nach den Ursachen von Napoleons Tod. Dass alle drei empoisonnistes in der Historie Autodidakten sind, spricht noch nicht gegen ihre Thesen. Es fällt jedoch auf, dass sie von einem geradezu missionarischen Eifer und einer völlig unkritischen Bewunderung für Napoleon besessen sind. Forshufvud wollte im Namen des Kaisers einen Prozess eröffnen, um

40 Vgl. Stuart Semmel: Napoleon and the British. New Haven/London 2004, S. 335–342; Maury/Candé-Montholon: L’énigme Napoléon résolue (wie Anm. 19), S. 188: „Il faut donc rejeter catégoriquement la culpabilité des Anglais dans la mort de Napoléon.“ 41 Frank Giles: Napoleon Bonaparte: England’s Prisoner. London 2001, S. 111 f. 42 Jacques Macé: L’honneur retrouvé du général de Montholon de Napoléon Ier à Napoléon III. Paris 2000; vgl. Ders.: Le général Montholon. Un fidèle bonapartiste, de Sainte-Hélène au fort de Ham. Conférence prononcée le 22 septembre 2001 au Musée de l’Armée à Paris. In: http://ame-liefr.club.fr/Montholon.html [zuletzt aufgerufen am 14. 4. 2008]; vgl. ferner Ders.: Napoléon n’a pas été assassiné. Point final. . . ? In: Revue du Souvenir napoléonien, no 443, oct.–nov. 2002, S. 17–21. 43 Lemaire u. a.: Autour de „L’empoisonnement“ de Napoléon (wie Anm. 14).

190 | II Herrscher und Herrschaft die Mörder namhaft zu machen,⁴⁴ und René Maury hat seinem ersten Buch die Erklärung vorangestellt, es sei geschrieben worden, „um den Kaiser Napoleon zu rächen, der mehr als irgendein anderer für den Ruhm der französischen Waffen getan“ habe.⁴⁵ Zugleich haben die empoisonnistes zum Teil unorthodoxe Vorstellungen davon, wie in der Geschichtswissenschaft Aussagen bewiesen werden. So hat Ben Weider die Leser seines Buches von 1999 aufgefordert, mit Hilfe eines beigegebenen Stimmzettels über seine Thesen abzustimmen. Angeblich haben 95% sich für die Vergiftungsthese ausgesprochen.⁴⁶ Die empoisonnistes geizen mit Nachweisen. Sie zitieren häufig aus den Quellen, geben jedoch kaum je die Herkunft der Zitate an. In René Maurys zweitem Buch – „Albine. Le dernier amour de Napoléon“ – werden nicht nur keine Aussage und kein Zitat belegt; es gibt auch kein Literaturverzeichnis, und die zahlreichen Dialoge sind, wie der Autor immerhin bekennt, frei erfunden. Maury nennt das Werk eine „biographie romancée“.⁴⁷ In der Interpretation von Vorgängen und von Dokumenten überschreiten die empoisonnistes immer wieder die Grenzen zur reinen Spekulation, während sie gleichzeitig darauf verzichtet haben, ihre Hypothesen in den Archiven zu überprüfen. Weder Sten Forshufvud noch Ben Weider haben auch nur einen einzigen Beleg für ihre Behauptung vorweisen können, Montholon sei vom Grafen von Artois als Mörder gedungen geworden.⁴⁸ Ein Mittel, mit dem René Maury mit Vorliebe arbeitet, ist die Insinuation. Er stellt Hypothesen auf und erklärt sodann, sie seien nicht mit letzter Sicherheit zu beweisen. Dennoch wiederholt er sie immer wieder, indem er zugleich die Argumente sammelt, die für sie sprechen könnten, so dass der ungeübte Leser sich am Ende des Eindrucks kaum erwehren kann, der Beweis sei erbracht.⁴⁹ Charakteristisch für dieses Verfahren ist die Präsentation von Thesen in Frageform. Auf diese Weise lässt sich noch die abwegigste Interpretation einer Aussage als Erkenntnis präsentieren: Am 2. Oktober 1819 soll

44 Forshufvud: Mord an Napoleon? (wie Anm. 16), S. 22. 45 Maury: Napoleon wurde ermordet (wie Anm. 19), S. 5. 46 Émile René Gueguen: Napoléon a été assassiné. Acte d’accusation contre le comte d’Artois et les ministres anglais, http://www.napoleonicsociety.com/french/ActeAccusation.htm [zuletzt aufgerufen am 14. 4. 2008], S. 2. 47 Maury: Albine (wie Anm. 19), S. 18. 48 Vgl. Thierry Lentz: L’intime conviction ou la méthode? In: Lemaire u. a.: Autour de „L’empoisonnement“ de Napoléon (wie Anm. 14), S. 80. 49 Ein Beispiel für dieses Verfahren ist die Annahme, Albine Montholon sei an dem Verbrechen ihres Mannes beteiligt gewesen. Es handle sich dabei um „eine Hypothese von hoher Wahrscheinlichkeit, aber keineswegs um eine gesicherte historische Tatsache“; seines „Erachtens“ sei „nicht daran zu zweifeln, dass der Gedanke an dieses Verbrechen zuerst von Albine ausgegangen ist“; „der Giftmord“ stelle „nach Ansicht der bedeutendsten Kriminologen ein crime féminin par excellence dar“; vgl. Maury: Napoleon wurde ermordet (wie Anm. 19), S. 291, 114.

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Montholon seiner Frau geschrieben haben: „Ce que je te répète, mon Albine, ce que je te répéterai toujours c’est que mon unique pensée est de te rejoindre, que c’est vers ce but que se dirigent toutes mes actions“. Maury macht aus diesem unverfänglichen Satz, in dem Montholon nichts anderes sagte, als dass er alle nur denkbaren Anstrengungen unternehme, um wieder mit Albine vereint zu werden, ein – wiederum nur suggeriertes – Eingeständnis der Tat, indem er schreibt: „À quelles ,actions‘ fait-il donc allusion? Sinon à l’arsenic dont il ne lui parlera jamais?“⁵⁰ Als Montholon im Jahre 1840 wegen Beteiligung an dem Putschversuch des Louis-Napoléon Bonaparte bei Boulogne zu zwanzig Jahren Haft und zur Aberkennung aller Titel, Grade und Auszeichnungen verurteilt worden war, schrieb er an seine Mutter: „Welch schreckliche Strafe, und mein Verbrechen, ich wiederhole es, besteht darin, dass ich ein Opfer des Schicksals geworden bin!“⁵¹ Maury interpretiert diese Aussage als Geständnis Montholons, dass er Napoleon Gift gegeben habe, obwohl nicht ein einziges Wort in dem Brief auf Sankt Helena verweist und kein überzeugender Grund zu erkennen ist, warum man daran zweifeln sollte, dass Montholon sich an dieser Stelle auf den gescheiterten Putschversuch und das infolgedessen gegen ihn verhängte Urteil bezieht. Alle empoisonnistes messen den Berichten über das körperliche Befinden Napoleons entscheidende Bedeutung für ihre Thesen zu. Sie sind untereinander aber gar nicht darüber einig, wann sich die ersten Vergiftungssymptome gezeigt haben sollen. Forshufvud und Ben Weider behaupten, die Folgen der Vergiftung seien bereits im Mai 1816 erkennbar geworden.⁵² Dagegen will René Maury die „ausschlaggebenden Symptome der Vergiftung“ erst seit „Ende 1817, Anfang 1818“ erkennen.⁵³ Weil er in seinem dritten Buch jedoch die These vertritt, dass Montholon Napoleon das Arsen aus Sehnsucht nach seiner in Europa weilenden Frau verabreicht habe, dürfte er, um nicht mit sich selbst in Widerspruch zu geraten, in Wirklichkeit nicht annehmen, dass Napoleon schon vor deren Abreise aus Sankt Helena, also vor dem 2. Juli 1819, Gift bekommen habe. Noch ein weiterer Widerspruch findet sich bei Maury. In seinem ersten Buch hatte er Montholons Bereitschaft zur Tat unter anderem damit erklärt, dass dieser ein „Aristokrat“ gewesen sei, wenn auch ein „heruntergekommener“. Als Ari-

50 Maury/Candé-Montholon: L’énigme Napoléon résolue (wie Anm. 19), S. 141. 51 Zit. nach: ebd., S. 176. 52 Forshufvud: Mord an Napoleon? (wie Anm. 16), S. 108; Weider: Napoléon est-il mort empoisonné? (wie Anm. 19), S. 80. 53 Maury/Candé-Montholon: L’énigme Napoléon résolue (wie Anm. 19), S. 46; ebenso schon in: Maury: Napoleon wurde ermordet (wie Anm. 19), S. 111.

192 | II Herrscher und Herrschaft stokrat, dessen Familie der Monarchie seit Dutzenden von Generationen gedient habe, sei ihm Napoleon als „die Verkörperung des Bösen, das heisst der Revolution und der neuen Ordnung“ und als „Emporkömmling“ erschienen.⁵⁴ Man fragt sich unwillkürlich, wie sich eine solch elementare Anhänglichkeit an die Monarchie und die Verachtung für die Revolution und für die Familie Bonaparte damit zusammenreimen sollen, dass Montholon sich später, wie derselbe Maury einige Seiten zuvor berichtet hatte, an Louis-Napoléon Bonaparte anschloss und 1840 an dessen Landung und Putschversuch in Boulogne teilnahm.⁵⁵ Die methodischen Unzulänglichkeiten und Widersprüche machen die empoisonnistes angreifbar. Einen schlüssigen Beweis für die These, Napoleon sei vergiftet worden, haben sie nicht erbringen können. Schon die Herkunft der untersuchten Haare vom Haupt Napoleons lässt sich nicht mit letzter Sicherheit erweisen.⁵⁶ Dass vom überhöhten Arsengehalt auf ein Verbrechen geschlossen wird, ist ein weiterer methodisch unzulässiger Schritt. Das deutsche Wort „Vergiftung“ ist doppeldeutig. Im Französischen werden die beiden Bedeutungen mit zwei verschiedenen Ausdrücken wiedergegeben: intoxication und empoisonnement. Nur die intoxication – also der Umstand, dass in den untersuchten Haaren Arsen vorhanden ist – lässt sich beweisen, nicht aber der empoisonnement, die Verabreichung des Gifts in verbrecherischer Absicht. Der zweite Grund, weshalb sich die Historiker bisher nur wenig mit der von Forshufvud angestoßenen Debatte auseinandergesetzt haben, könnte, wie bereits angedeutet, darin liegen, dass sie die Frage, woran Napoleon gestorben sei, nicht für sonderlich relevant halten. Im Unterschied zu anderen politischen Morden – man denke etwa an die Ermordung Colignys 1572 oder an das Attentat, dem Heinrich IV. 1610 zum Opfer fiel – ist nicht ohne weiteres zu erkennen, dass der Tod Napoleons irgendwelche Folgen für den weiteren Gang der Geschichte Frankreichs oder Europas gehabt hätte. Politisch, so scheint es, war Napoleon spätestens seit der Niederlage bei Waterloo tot. In seiner Abdankungserklärung vom 22. Juni 1815 hatte er verkündet: „Mein politisches Leben ist beendet.“⁵⁷ Am 20. Mai 1817 bemerkte er zu General Gourgaud: „Obwohl ich noch lange Jahre zu

54 Maury: Napoleon wurde ermordet (wie Anm. 19), S. 291. 55 Ebd., S. 274 f. 56 Vgl. Questions complémentaires au docteur Paul Fornès. In: Lemaire u. a.: Autour de „L’empoisonnement“ de Napoléon (wie Anm. 14), S. 64: „On ne pourra jamais savoir si les cheveux examinés jusqu’à présent sont bien ceux de Napoléon“; Pascal Kintz: Détermination de l’arsenic dans les cheveux attribués à Napoléon, ebd., S. 70: „L’authentification des cheveux n’a pas été définitive.“ 57 Déclaration au peuple français, 22. 6. 1815. In: Napoléon I er : Correspondance (wie Anm. 11), Nr. 22.063, S. 300.

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leben habe, bin ich doch tot.“⁵⁸ Wie der Vertreter der britischen Regierung auf Elba, Sir Neil Campbell, in seinem Tagebuch festhielt, hatte Napoleon sich allerdings auch zeit seines ersten Exils schon wiederholt für tot erklärt und hinterher doch noch einmal nach der Macht in Frankreich gegriffen.⁵⁹ Dennoch scheint er Sankt Helena je länger je mehr als die letzte Station seines Lebens begriffen zu haben. Nicht erst durch den Tod, der ihn dort am 5. Mai 1821 ereilte, sondern durch sein zweimaliges Scheitern an der militärischen Übermacht seiner Gegner, so könnte man sagen, waren seine Wirkungsmöglichkeiten zerstört worden. Das ist allerdings eine Deutung, die sich erst im nachhinein treffen lässt. Zu seinen Lebzeiten hielt wenigstens die britische Regierung es nicht für ausgeschlossen, dass Napoleon noch einmal versuchen könnte, die Macht in Frankreich an sich zu reißen. Warum sonst begnügte sie sich nicht damit, ihn auf die abgelegene Insel im Südatlantik zu verbannen, sondern unterwarf ihn dort auch noch einer äußerst strengen und kleinlichen, um nicht zu sagen, lächerlichen, dazuhin höchst kostspieligen Überwachung? Es durfte kein Tag vergehen, an dem ein eigens dazu abgestellter Offizier nicht zweimal die Anwesenheit des Kaisers festgestellt hätte. Einen engen Bezirk um das Haus Longwood herum durfte Napoleon nur mit britischer Eskorte verlassen. Der gesamte Briefverkehr wurde kontrolliert. Der Hafen von Jamestown wurde ständig von britischen Kriegsschiffen überwacht. Trotz aller Sicherheitsvorkehrungen wurde die britische Regierung immer wieder von der panischen Furcht ergriffen, Napoleon könnte ihrer Obhut entfliehen – so im März 1819, als ein verdächtiges amerikanisches Schiff sich nicht aus den Gewässern um Sankt Helena vertreiben lassen wollte, oder im September 1820, als der Ausbruch der Revolution in Neapel und „der zweifelhafte Zustand Frankreichs“ günstige Voraussetzungen für ein Eingreifen Napoleons in Europa zu bieten schienen.⁶⁰ Immerhin scheint Napoleon wiederholt mit dem Gedanken einer Rückkehr nach Europa gespielt zu haben. So setzte er auf den Tod des englischen Prinz-

58 Gourgaud: Sainte-Hélène (wie Anm. 9), Bd. 2, S. 85. 59 Campbell: Napoleon on Elba (wie Anm. 10), S. 65, 78, 125, 139. 60 William Forsyth: History of the Captivity of Napoleon at St. Helena; from the letters and journals of the late Lieutenant-General Sir Hudson Lowe, Bd. 3. London 1853, S. 150 f., 251. Das Zitat stammt aus einem Brief des zuständigen Ministers Lord Bathurst an den Gouverneur von Sankt Helena, Sir Hudson Lowe, vom 30. September 1820; vgl. die Ansicht von Lord Rosebery: Napoleon. The Last Phase. London 1900, S. 57 f.: „Our own view is that under no circumstances could Napoleon have ever again conquered Europe; his energies were exhausted, and so was France for his lifetime. But the Allies could not know this; they would have been censurable had they taken such a view into consideration, and in any case Napoleon, well or ill, active or inactive, if at large, would have been a formidable rallying-point for the revolutionary forces of Europe.“

194 | II Herrscher und Herrschaft regenten. Ihm würde die Prinzessin Charlotte nachfolgen. „Sie wird mich zurückrufen“, meinte er am 21. Juni 1817, nicht ahnend, dass sie fünf Monate später knapp zweiundzwanzigjährig sterben sollte.⁶¹ Auch Fluchtplänen scheint Napoleon von Zeit zu Zeit nachgehangen zu sein. Am 14. Juli 1817 ließ er sich sogar eine Karte der Insel vorlegen, um Fluchtwege zu erkunden.⁶² Solange Napoleon derartige Pläne schmiedete, blieb er ein Faktor im politischen Spiel. Dann war sein Tod aber auch mehr als nur eine biographische, vielmehr war er zugleich und vor allem eine politische Zäsur. Allerdings scheint Napoleon keinen seiner Fluchtpläne konsequent verfolgt zu haben. Nachdem er an jenem Tag die Karte studiert hatte, soll er, folgt man dem mehr als zwanzig Jahre später niedergeschriebenen Bericht Montholons, lachend gesagt haben: „Ich habe noch fünfzehn Jahre zu leben, all das ist sehr verlockend; aber es ist töricht, ich muss hier sterben, oder Frankreich muss hierher kommen, um mich zu holen. Wenn Jesus Christus nicht am Kreuz gestorben wäre, so wäre er nicht Gott.“⁶³ Am 1. November 1820 erklärte Napoleon Montholon, nachdem ihm erneut kurz nacheinander zwei Pläne zur Flucht nach Amerika vorgetragen worden waren, dessen einer den Einsatz von Unterseebooten (bateaux submarins) vorsah: In Amerika hätten mich nach weniger als sechs Monaten die gedungenen Mörder des Grafen von Artois getötet. [. . . ] Im übrigen muss man stets seinem Schicksal gehorchen. Alles ist dort oben aufgezeichnet. Nur mein Martyrium kann meiner Dynastie die Krone Frankreichs zurückbringen. In Amerika erwarten mich nur Mord und Vergessen. Ich ziehe Sankt Helena vor.⁶⁴

61 Gourgaud: Sainte-Hélène (wie Anm. 9), Bd. 2, S. 153. 62 Ebd., S. 207. 63 Charles Tristan Montholon, comte de: Récits de la captivité de l’empereur Napoléon à SainteHélène. Bd. 2. Paris 1847, S. 151 f.: „J’ai encore quinze ans de vie, tout cela est bien séduisant; mais c’est une folie, il faut que je meure ici ou que la France vienne m’y chercher. Si Jésus-Christ n’était pas mort sur la croix, il ne serait pas Dieu.“ Gourgaud: Sainte-Hélène (wie Anm. 9), Bd. 2, S. 207, berichtet ebenfalls von dem Gespräch, jedoch ohne die resignative Wendung am Schluss und ohne den Vergleich mit dem Schicksal Christi. Die Stelle ist jedoch insofern aufschlussreich, als Napoleon bei dieser Gelegenheit erklärte, er wolle nicht heimlich und bei Nacht fliehen: „Par la ville et en plein jour, ce serait le mieux. Par la côte et avec nos fusils de chasse, nous renverserions bien un poste de dix hommes.“ 64 Montholon: Récits de la captivité de l’empereur Napoléon (wie Anm. 63), Bd. 2, S. 434 f.: „Je ne serais pas six mois en Amérique sans être assassiné par les sicaires du comte d’Artois. [. . . ] D’ailleurs, il faut toujours obéir à sa destinée. Tout est écrit là-haut. Il n’y a que mon martyre qui puisse rendre la couronne de France à ma dynastie. Je ne vois en Amérique qu’assassinat ou oubli. J’aime mieux Sainte-Hélène“. Zu den verschiedenen Entführungsplänen von Anhängern Napoleons, die vor der Verfolgung durch die französische Justiz nach Amerika geflohen

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Napoleons Selbststilisierung zum Märtyrer in christlicher Analogie ließe sich vorzüglich in die Legende einfügen, zu der Napoleon auf Sankt Helena den Grundstein legte, namentlich durch sein von Las Cases festgehaltenes „Mémorial de Sainte-Hélène“: Napoleon, der verkannte und zu Unrecht verfolgte Wohltäter der Welt, der sich angeschickt hatte, die Nationen Europas zu emanzipieren und in einer dauerhaften Friedensordnung miteinander zu verbinden.⁶⁵ Noch am 10. März 1821 gab der Kaiser sich erneut der Hoffnung hin, die Insel bald verlassen zu können. Wenn er wählen dürfe, würde er nach Amerika gehen: „In Amerika würde ich mich sehr wohlfühlen; zuerst würde ich meine Gesundheit wiederherstellen; danach würde ich sechs Monate lang das Land durchqueren; [. . . ]. Ich würde Louisiana sehen. Ich war es, der sie ihnen gegeben hat.“⁶⁶ Am 27. März ging es Napoleon schlecht. Er dachte an den Tod: Wenn ich meine Laufbahn jetzt beendete, so wäre das ein Glück. [. . . ] Wenn ich in Amerika wäre, so könnte ich ohne Zweifel noch weiterleben. Im übrigen will ich nicht sterben, ich wünsche mir den Tod nicht, aber ich messe dem Leben heute nur einen geringen Wert bei. [. . . ] Sicher wäre es besser zu sterben, als hier vor sich hin zu leben, wie ich es seit sechs Jahren tue.⁶⁷

Für seinen Tod auf Sankt Helena machte er bereits im voraus Großbritannien verantwortlich: Er werde sterben, „ermordet von der englischen Oligarchie und ihrem gedungenen Mörder“, dem Gouverneur der Insel, Sir Hudson Lowe. Getötet werde er „zunächst durch das Klima, dann mittels Nadelstichen, schließlich durch Mangel an Bewegung.“⁶⁸ Napoleon sprach auf Sankt Helena allerdings auch noch auf ganz andere Weise von seinem Tod. So überlegte er, wie die Geschichte weitergegangen wäre und welchen Platz er darin eingenommen hätte, wenn er in einer seiner zahlreichen Schlachten gefallen wäre. Von seinem Selbstmordversuch vom 13. April 1814 scheint er nicht gesprochen zu haben.⁶⁹ Wohl aber scheint ihn der Gedanke an

waren, vgl. den Artikel „Projets d’évasion“ in: Macé: Dictionnaire historique de Sainte-Hélène (wie Anm. 27), S. 370–374. Einer der Pläne sah vor, Napoleon an die Spitze einer Konföderation der spanischen Kolonien Mittelamerikas, Mexikos und von Texas zu stellen (ebd., S. 372). 65 Emmanuel Las Cases, comte de: Le Mémorial de Sainte-Hélène. Texte établi et commenté par Gérard Walter, 2 Bde. Paris 1956. 66 Bertrand: Cahiers de Sainte-Hélène, Janvier 1821–Mai 1821 (wie Anm. 1), 10. 3. 1821, S. 95 f. 67 Ebd., 27. 3. 1821, S. 105. 68 Ebd., 22. 4. 1821, S. 138. 69 Armand Augustin Louis Caulaincourt: Mémoires. Hrsg. von Jean Hanoteau. Paris 1933, Bd. 3, S. 357–366; vgl. Volker Sellin: Die geraubte Revolution. Der Sturz Napoleons und die Restauration in Europa. Göttingen 2001, S. 191.

196 | II Herrscher und Herrschaft Selbstmord immer wieder beschäftigt zu haben, zum Beispiel Anfang August 1815 vor der Verschiffung nach Sankt Helena und am 12. Mai 1817.⁷⁰ Am 24. Januar 1816 meinte er: „Mit Rücksicht auf die Geschichte hätte ich in Moskau, in Dresden oder in Waterloo sterben müssen.“⁷¹ Wäre Napoleon in Moskau oder in Borodino gefallen, dann hätte man das Scheitern des russischen Feldzugs von 1812 womöglich auf diesen Unglücksfall zurückgeführt. Vor allem aber hätten gute Chancen dafür bestanden, dass seine Dynastie erhalten blieb und Frankreich einen besseren Frieden gewann als 1814 und 1815. Wäre er in Waterloo gefallen, hätte er einen ehrenvollen Untergang erlebt und sich zumindest die Demütigungen erspart, die er danach sowohl von einigen seiner alten Weggefährten als auch durch die Verbündeten erfuhr. Den Zeitpunkt und die Umstände von Napoleons Tod sollten nach dem Empfang der Todesnachricht im Sommer 1821 auch andere zum Gegenstand von Betrachtungen machen. So schrieb der Herausgeber der Mainzer Zeitung, Friedrich Lehne, ein ehemaliger Klubist, unter dem 12. Juli in seinem Blatt: Wäre dieser Mann vor zehn Jahren gestorben, wie würden die Totenglocken durch halb Europa gesummt, wie würden alle Höfe die Trauer angelegt, wie würde ein anderer Fontanes sein Rednertalent haben glänzen lassen, wie würden alle Kirchen Frankreichs schwarz verziert worden sein; welche Oden, welche Elegien würden wir gelesen haben. Nun gingen hinter seinem Sarge einige treue Unglücksgefährten, vielleicht einige englische Offiziere, heimlich froh, der Sorgfalt seiner Bewachung überhoben zu sein, aber doch ergriffen von dem Schauspiele der Wandelbarkeit des Glücks. Anstatt eines kostbaren Mausoleums ist die Klippe, auf der er starb, sein Monument, schreckbar und groß wie sein Schicksal.⁷²

Eine naheliegende Möglichkeit seines vorzeitigen Todes hat Napoleon auf Sankt Helena offenbar nicht diskutiert: den Tod durch ein französisches Erschießungskommando, wie er am 7. Dezember 1815 Marschall Ney ereilte. Ludwig XVIII. hatte Ney damit beauftragt, sich an der Spitze von eilig zusammengezogenen Truppen Napoleon in den Weg zu stellen, als dieser von Elba zurückgekehrt zur Hauptstadt strebte. Noch bevor es zu einem militärischen Zusammenstoß gekommen war, wechselte Ney am 14. März 1815 in Lons-le-Saunier jedoch die Seiten und schloss sich Napoleon an.⁷³ Am 6. Dezember verurteilte ihn die Pairskammer wegen Hoch-

70 Las Cases: Le Mémorial de Sainte-Hélène (wie Anm. 65), Bd. 1, S. 42 f.; Gourgaud: SainteHélène (wie Anm. 9), Bd. 1, S. 547 f.; ebd., Bd. 2, S. 66 f. 71 Gourgaud: Sainte-Hélène (wie Anm. 9), Bd. 1, S. 130. 72 Zit. nach Paul Holzhausen: Napoleons Tod im Spiegel der zeitgenössischen Presse und Dichtung. Frankfurt 1902, S. 32 f. 73 Éric Perrin: Le Maréchal Ney. Paris 1993, S. 273–280.

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verrats zum Tode. Tags darauf wurde das Urteil vollstreckt.⁷⁴ Wenn aber Ney des Hochverrats schuldig war, so muss man sich fragen, ob Napoleon selbst nicht erst recht als Hochverräter hätte vor Gericht gestellt werden müssen. Der Versuch Napoleons vom Sommer 1815, in Frankreich wieder die Regierungsgewalt an sich zu reißen, war in der Tat ganz ohne Zweifel ein Akt des Hochverrats. Man könnte freilich einwenden, dieses Verbrechen sei durch das Plebiszit vom 22. und 23. April geheilt worden, mit dem das französische Volk Napoleon die Herrschaft erneut übertrug. Waren die Großmächte noch im Frühjahr 1814 der Auffassung gewesen, dass Napoleon durch den Willen der Nation zur Herrschaft legitimiert sei, so waren sie ein Jahr später davon vollständig abgerückt. Auf die Nachricht von der Rückkehr Napoleons verabschiedeten die Signatarstaaten des Friedens vor Paris in Wien, wo ihre Repräsentanten seit Herbst 1814 versammelt waren, am 13. März eine öffentliche Erklärung, mit der sie sich auf eine gemeinsame politische Linie festlegten. Die Erklärung hatte Talleyrand von seinem Sekretär La Besnardière entwerfen lassen und im Einvernehmen mit Metternich dem Kongress vorgelegt.⁷⁵ Ohne erst abzuwarten, ob sich das französische Volk für die Erneuerung des Kaiserreichs und gegen die Aufrechterhaltung der Restaurationsmonarchie aussprechen werde, erklärten sie sich darin ohne weiteres für „zutiefst davon überzeugt, dass ganz Frankreich sich um seinen legitimen Souverän scharen und diesen letzten Versuch eines verbrecherischen und ohnmächtigen Wahns unverzüglich zum Scheitern bringen werde.“⁷⁶ Und am 12. Mai 1815 bekräftigten sie in Zurückweisung eines Rundschreibens Napoleons an die europäischen Souveräne vom 4. April noch einmal, dass weder das „ausdrückliche“ noch das „stillschweigende Einverständnis“ der französischen Nation, also auch nicht ein Plebiszit, dessen Rückkehr an die Macht in Frankreich legitimieren können.⁷⁷ Nach Auffassung der Großmächte hatte Napoleon jedoch auch das Herrschaftsrecht über das Fürstentum Elba verwirkt und zugleich den Status eines Souveräns

74 Ebd., S. 354–356. 75 Talleyrand an Louis XVIII., 12. 3. 1815. In: M. G. Pallain (Hrsg.): Correspondance inédite du prince de Talleyrand et du roi Louis XVIII. Paris 1881, S. 326; Henry Houssaye: 1815. La première Restauration; le retour de l’île d’Elbe; les cent jours. Paris 1893, S. 294 f. 76 Déclaration des Puissances signataires du traité de Paris, réunies au congrès de Vienne au sujet de l’évasion de Napoléon de l’île d’Elbe, Vienne, le 13 mars 1815. In: Capefigue (Hrsg.): Le congrès de Vienne (wie Anm. 8), Bd. 2, S. 912. 77 Quinzième Protocole de la séance du 12 mai 1815 des Plénipotentiaires des huit Puissances. In: Capefigue: (Hrsg.): Le congrès de Vienne (wie Anm. 8), Bd. 2. Paris o. J., S. 1184; Lettre circulaire aux souverains, 4. 4. 1815. In: Napoléon I er : Correspondance. Bd. 28 (wie Anm. 11), Nr. 21.769, S. 76 f.; der Kaiser behauptet in dem Schreiben, seine Rückkehr an die Macht sei „l’ouvrage d’une irrésistible puissance, l’ouvrage de la volonté unanime d’une grande nation qui connaît ses devoirs et ses droits“ (ebd., S. 76).

198 | II Herrscher und Herrschaft verloren. Durch den Bruch des Abdankungsvertrags von Fontainebleau vom 11. April 1814, der ihm die Insel zugesichert hatte, habe er „den einzigen Rechtstitel zerstört, an den seine Existenz gebunden gewesen sei; so habe er sich selbst des Schutzes der Gesetze beraubt und vor der ganzen Welt bewiesen, dass es mit ihm weder Frieden noch Waffenstillstand geben könne.“⁷⁸ Napoleon habe sich „außerhalb der bürgerlichen und sozialen Beziehungen gestellt und sich, als Feind und Störer der Ruhe der Welt, der öffentlichen Strafverfolgung ausgesetzt“ (il s’est livré à la vindicte publique).⁷⁹ Unter Berufung auf die Erklärung vom 13. März vereinbarten die Großmächte am 25. März 1815 in einem Bündnisvertrag, gemeinsam Krieg gegen ihn und gegen all diejenigen zu führen, die sich ihm anschließen sollten. In Artikel 8 des Vertrags wurde Ludwig XVIII. eingeladen, dem Bündnis beizutreten. Nach Artikel 3 sollten die Waffen nicht eher ruhen, als bis Napoleon „vollkommen außerstande gesetzt sei, Unruhe zu stiften und seine Versuche zu erneuern, sich der obersten Gewalt in Frankreich zu bemächtigen.“⁸⁰ Der Versuch, die Macht in Frankreich erneut an sich zu reißen, stand im Widerspruch zu dem von Napoleon im Vertrag von Fontainebleau ausgesprochenen Herrschaftsverzicht.⁸¹ Aus diesem Vertragsbruch leiteten die Mächte das Recht ab, den Vertrag insgesamt für aufgelöst zu erklären. Damit verlor der Kaiser in der Tat die Attribute der Souveränität, die er dank des Vertrags auch nach seinem Thronverzicht in Frankreich weiterhin besessen hatte. Mit den Attributen der Souveränität verlor er jedoch auch das Recht zur Kriegführung. Sein Einbruch in Frankreich konnte daher nur noch als Akt eines Privatmanns, und das heisst: nicht als eine Kriegshandlung im Rahmen des Völkerrechts, sondern als Rebellion eines einzelnen gegen eine rechtmäßige Regierung, angesehen werden. Damit wird einer der politischen Zwecke der Erklärung deutlich: Die

78 Déclaration des Puissances, 13. 3. 1815 (wie Anm. 76), S. 912: „En rompant ainsi la Convention qui l’avait établi à l’île d’Elbe, Buonaparte détruit le seul titre légal auquel son existence se trouvait attachée. En reparaissant en France, avec des projets de troubles et de bouleversements, il s’est privé lui-même de la protection des lois, et a manifesté, à la face de l’univers, qu’il ne saurait y avoir ni paix ni trêve avec lui“; vgl. Traité dit de Fontainebleau (wie Anm. 8), S. 148–151; dazu weitere zugehörige Aktenstücke ebd., S. 151–156. 79 Déclaration des Puissances, 13. 3. 1815 (wie Anm. 76), S. 913. 80 Traité d’alliance de Vienne entre la Grande-Bretagne, l’Autriche, la Prusse et la Russie, conclu le 25 mars 1815. In: Capefigue (Hrsg.): Le congrès de Vienne (wie Anm. 8), Bd. 2, S. 972 f. Wie Las Cases: Le Mémorial de Sainte-Hélène (wie Anm. 65), Bd. 1, S. 578, berichtet, bemerkte Napoleon am 5. Mai 1816, „onze cent mille hommes“ seien „contre sa seule personne“ marschiert. 81 Traité dit de Fontainebleau (wie Anm. 8), Art. 1, S. 148: „L’empereur Napoléon renonce pour lui, ses successeurs et descendants, ainsi que pour chacun des membres de sa famille, à tout droit de souveraineté et de domination, tant sur l’empire français et le royaume d’Italie, que sur tout autre pays.“

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Untertanen des französischen Königs sollten davor abgeschreckt werden, zu Napoleon überzugehen. Nicht nur als Außenminister Ludwigs XVIII., sondern auch aus persönlichen Gründen musste Talleyrand das größte Interesse daran haben, Napoleons Unternehmung zum Scheitern zu bringen. Da Talleyrand den Kaiser im Vorjahr verraten und seinen Sturz herbeigeführt hatte, würde er kaum nach Frankreich zurückkehren können, wenn Napoleon dort wieder herrschte. Ein weiterer Zweck der Erklärung bestand aus der Sicht ihres Initiators dementsprechend darin, die Großmächte auf die entschiedene Bekämpfung Napoleons festzulegen. Mit der Verurteilung von Napoleons Rückkehr als Akt der Usurpation legten sie die Grundlage für den Entschluss zum Kriege. Die Übernahme der Macht in Frankreich durch Napoleon und namentlich die Zustimmung der Nation zu diesem neuerlichen Herrschaftswechsel interpretierten sie nämlich nicht nur als Bruch des Vertrags von Fontainebleau, sondern auch als Aufkündigung des Friedens von Paris vom 30. Mai 1814. Die am 9. Mai 1815 vom Wiener Kongress eingesetzte Kommission kam am 12. Mai zu dem Schluss, dass die Abschaffung des Kaiserreichs die wesentliche Voraussetzung eines Friedensvertrags gewesen sei, auf den sich bis zur Rückkehr Buonapartes nach Paris alle Beziehungen zwischen Frankreich und dem übrigen Europa gegründet hätten. [. . . ] Die französische Nation kann sich, selbst wenn man annimmt, sie sei vollkommen frei und einig, dieser grundlegenden Voraussetzung nicht entziehen, ohne den Vertrag von Paris und ihre sämtlichen gegenwärtigen Beziehungen mit dem europäischen System umzustürzen.⁸²

Tatsächlich war der Friede von Paris unter der Bedingung abgeschlossen worden, dass Frankreich, wie es in der Präambel heißt, sous le gouvernement paternel de ses rois zurückgekehrt sei.⁸³ Daher wies der Kongress nicht nur das Angebot Napoleons zurück, den Frieden von Paris, der mit Ludwig XVIII. geschlossen worden war, auch seinerseits noch einmal unverändert zu sanktionieren, sondern sie interpretierte die Zustimmung der Franzosen zur Rückkehr Napoleons auf den Thron auch als „eine Kriegserklärung gegen Europa“; denn der Friede zwischen Europa und Frankreich habe nur aufgrund des Vertrags von Paris bestanden; der Vertrag von Paris jedoch sei „unvereinbar mit der Herrschaft Buonapartes.“⁸⁴ Wenn die Rückkehr Napoleons auf den Thron eine Kriegserklärung war, dann brauchten die Mächte den Krieg nicht selbst zu erklären. Sie betrachteten sich

82 Quinzième Protocole de la séance du 12 mai 1815 (wie Anm. 77), S. 1184. 83 Traité de paix entre la France et les Puissances alliées [. . . ], signé à Paris, le 30 mai 1814. Capefigue (Hrsg.): Le congrés de Vienne (wie Anm. 8), Bd. 1, S. 161. 84 Quinzième Protocole de la séance du 12 mai 1815 (wie Anm. 77), S. 1185.

200 | II Herrscher und Herrschaft und die von ihnen geschaffene Neuordnung Europas als angegriffen und stellten ihre Armeen ins Feld mit dem Ziel, den Friedensstörer zu entmachten. Da sie Napoleon nicht wieder als legitimen Herrscher anerkannten, war ihr Kriegsziel nicht ein Friedensvertrag mit ihm, sondern seine unwiderrufliche Ausschaltung als politischer Faktor. Dass Talleyrand sich auf dem Wiener Kongress mit seiner Argumentation durchsetzte, ist um so bemerkenswerter, als der Vertrag von Fontainebleau von der französischen Regierung längst gebrochen war, als Napoleon die Insel Elba verließ. Nach Artikel 3 des Vertrags war dem Kaiser zu Lasten des französischen Staates eine jährliche Pension von 2 Millionen Francs, nach Artikel 6 waren seiner Familie noch einmal 2,5 Millionen Francs zugesichert worden.⁸⁵ Frankreich hatte jedoch keinerlei Zahlungen geleistet und den Kaiser auf Elba daher in wachsende Finanznot gestürzt. Am 13. Oktober 1814 schrieb Talleyrand seinem König von Wien aus, „es sei zu wünschen, dass in dieser Sache etwas getan werde.“⁸⁶ Im selben Brief berichtete der französische Außenminister, dass es fraglich sei, ob die Kaiserin Marie-Louise, wie ebenfalls im Vertrag von Fontainebleau vereinbart, die italienischen Herzogtümer Parma, Piacenza und Guastalla erhalten werde.⁸⁷ Im November 1814 stellte Madame Bertrand fest, Napoleon besitze „kaum einen Schilling und nicht einmal einen Ring, den er jemandem schenken könnte“; der britische Beauftragte Campbell notierte in seinem Tagebuch: Napoleon „appears to be agitated by the want of money, and to be impressed with a fear that there is no intention of fulfilling the treaty made at Paris, in respect of the sums stipulated for himself and his family“, und in Briefen an den britischen Außenminister Lord Castlereagh deutete er wiederholt an, dass die Finanznot den Kaiser dazu zwingen könnte, Elba zu verlassen.⁸⁸ Die Siegermächte teilten diese Besorgnis und forderten Talleyrand auf, seine Regierung zur Vertragserfüllung zu ermahnen.⁸⁹ Dem Kaiser war im übrigen zugetragen worden, dass es am Rande des Wiener Kongresses Überlegungen gebe, ihn – ebenfalls unter Bruch des Vertrags von Fontainebleau – von Elba an einen entlegenen Ort zu deportieren.⁹⁰ Schon

85 Traité dit de Fontainebleau (wie Anm. 8), S. 148 f. 86 Talleyrand an Ludwig XVIII., 13. 10. 1814. In: Pallain (Hrsg.): Correspondance inédite (wie Anm. 75), S. 42 f. 87 Ebd., S. 41 f. 88 Campbell: Napoleon on Elba (wie Anm. 10), S. 140, 158, 177. 89 Gruyer: Napoléon. Roi de l’île d’Elbe (wie Anm. 9), S. 193–195. Napoleon war bekannt, dass Ludwig XVIII. entschlossen war, die Verpflichtungen Frankreichs aus dem Vertrag zu missachten: vgl. Louis Marchand: Memoires. Bd. 1: L’île d’Elbe; les cent jours. Hrsg. von Jean Bourguignon, Paris 1952, S. 78. 90 Campbell: Napoleon on Elba (wie Anm. 10), S. 140, 165.

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damals war neben den Azoren, Santa Lucia, das zu den kleinen Antillen gehört, und Botany Bay an der Ostküste Australiens auch Sankt Helena genannt worden.⁹¹ Nach der Schlacht bei Waterloo vom 16. bis 18. Juni 1815 ließ Feldmarschall Blücher den Herzog von Wellington ersuchen, Napoleon, sobald man sich seiner bemächtigt habe, an das preußische Hauptquartier auszuliefern. Bonaparte sei „durch die Erklärung der verbündeten Mächte in die Acht erklärt“. Aus „parlamentarischen Rücksichten“ trage Wellington vielleicht Bedenken, „den Ausspruch der Mächte zu vollziehen“. Napoleon müsse jedoch hingerichtet werden, am liebsten „auf demselben Fleck, wo der Herzog von Enghien erschossen worden“ sei. Zur Begründung schrieb Blüchers Generalstabschef Gneisenau an General von Müffling, den preußischen Verbindungsoffizier bei Wellington: „So will es die ewige Gerechtigkeit, so bestimmt es die Deklaration vom 13. März, so wird das Blut unserer am 16. und 18. getöteten und verstümmelten Soldaten gerächt.“⁹² Wellington lehnte dieses Ansinnen ab und erklärte, „er glaube nicht, dass die Declaration vom 13. März uns zu einer Hinrichtung autorisiere, weil ‚livré à la vindicte publique‘ nicht vogelfrey erklärt sei, sondern bestimme“, dass Napoleon dem „Verfahren der Justiz übergeben“ werde. „Als Freund“ fügte Wellington hinzu, „eine solche Hinrichtung würde in der Geschichte immer als eine ‚action odieuse‘ erscheinen, wenn auch die gegenwärtig lebenden Generationen sie nicht tadelten.“⁹³ Diese Haltung Wellingtons konnte sich Gneisenau nur damit erklären, dass Großbritannien sich in der Schuld Napoleons sehe,

91 Houssaye: La première Restauration (wie Anm. 75), S. 142 f., 169. Die Azoren hatte Talleyrand vorgeschlagen, sehr zur Freude seines Königs; vgl. Talleyrand an Ludwig XVIII., 13. 10. 1814. In: Pallain (Hrsg.): Correspondance inédite (wie Anm. 75), S. 43; Ludwig XVIII. an Talleyrand, 21. 10. 1814, ebd., S. 71 f. Zur Zwangslage, in die Napoleon durch das Verhalten der Siegermächte gebracht wurde, vgl. auch Adam Zamoyski: Rites of Peace. The Fall of Napoleon and the Congress of Vienna. London 2007, S. 449–451. 92 Neithardt von Gneisenau an Müffling, 27. 6. 1815 und 29. 6. 1815. In: Friedrich Carl Ferdinand Müffling: Aus meinem Leben. Berlin 1851, S. 273, 275. 93 Müffling an Gneisenau, 28. 6. 1815. In: Hans Delbrück: Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neithardt von Gneisenau. Bd. 4: 1814, 1815. Berlin 1880, S. 543. Vgl. dazu den Brief Wellingtons an Sir Charles Stuart, 28. 6. 1815, über die weitere Behandlung Napoleons. In: Robert Stewart, Viscount Castlereagh: Correspondence, Despatches, and Other Papers, Third Series, Bd. 2. London 1853, S. 386 f.: „The Parisians think the Jacobins will give him over to me, believing that I will save his life. Blücher writes to kill him; but I have told him that I shall remonstrate, and shall insist on his being disposed of by common accord. I have likewise said that, as a private friend, I advised him to have nothing to do with so foul a transaction – that he and I had acted too distinguished parts in these transactions to become executioners – and that I was determined that, if the Sovereigns wished to put him to death, they should appoint an executioner, who should not be me.“

202 | II Herrscher und Herrschaft habe es „diesem Bösewicht“ doch zu verdanken, dass seine „Größe, Wohlstand und Reichtum so sehr hoch gesteigert worden“. Preußen dagegen sei „durch ihn verarmt“.⁹⁴ Nach seiner Abdankung am 22. Juni 1815 dachte Napoleon vorübergehend daran, sich in den Vereinigten Staaten niederzulassen. In Frankreich wäre er früher oder später den verbündeten Armeen in die Hände gefallen. Zwei Fregatten standen bei Rochefort an der Atlantikküste bereit. Als die Briten jedoch Miene machten, seine Ausreise zu verhindern, begab er sich am 15. Juli 1815 freiwillig auf das englische Schiff „Bellerophon“ und damit in die Obhut Großbritanniens.⁹⁵ Es ist viel darüber spekuliert worden, warum Napoleon nicht wenigstens versuchte, die britische Blockade zu durchbrechen. Resignation nach der erneuten Abdankung, sein Stolz, der ihn daran hinderte, sich in einem Frachtraum zu verstecken, seine abnehmende Entschlusskraft und die Sorge um sein umfangreiches Gefolge, zu dem auch Frauen und Kinder gehörten, sind zur Erklärung angeführt worden.⁹⁶ In einem Brief an den Prinzregenten vom 13. Juli vertraute er sich dem Schutz der Gesetze des britischen Volkes an, „als des mächtigsten, beständigsten und großherzigsten meiner Feinde“.⁹⁷ Wie Caulaincourt in seinen Erinnerungen berichtet, hatte Napoleon sich bereits im Frühjahr 1814 mit dem Gedanken getragen, seine Tage als Privatmann in England, dem Land mit den „freiheitlichsten Institutionen Europas“, zu beschließen.⁹⁸ Die Regierung Liverpool war im Sommer

94 Gneisenau an Müffling. In: Müffling: Aus meinem Leben (wie Anm. 92), S. 275 f. Zur Beurteilung der preußischen Haltung vgl. Delbrück: Leben Gneisenaus (wie Anm. 93), S. 432: „Gneisenau’s Auffassung darf uns nicht überraschen. Wenn die Verbündeten früher in Napoleon, als anerkanntem Kaiser der Franzosen einen völkerrechtlich legitimen Gegner bekämpft hatten, so glaubten Gneisenau und seine Gesinnungsgenossen diesmal in ihm nichts sehen zu dürfen, als einen Abenteurer, der sich durch Verrat und Gewalt des Gouvernements momentan bemächtigt hat.“ Andrew Roberts: Napoleon and Wellington. The battle of Waterloo – and the great commanders who fought it. New York 2001, S. 191, urteilt über Wellingtons Weigerung, Napoleon zu ergreifen und an Blücher auszuliefern: „It was therefore very much Wellington’s personal intervention that saved Napoleon’s life during those crucial two weeks in late June and early July 1815.“ 95 Vgl. den Brief des britischen Premierministers Lord Liverpool an Castlereagh, 7. 7. 1815. In: Castlereagh: Correspondence (wie Anm. 93), Third Series, Bd. 2, S. 416, zu den Reiseplänen Napoleons: „If he sails from either Rochfort [sic] or Cherbourg, we have a good chance of laying hold of him. If we take him, we shall keep him on board of ship till the opinion of the Allies has been taken.“ Zu Vorgeschichte und Ablauf der Einschiffung Napoleons vgl. Michael John Thornton: Napoleon After Waterloo. England and the St. Helena Decision. Stanford 1968, S. 3–37. 96 Giles: Napoleon Bonaparte (wie Anm. 41), S. 4. 97 Napoleon I er au Prince Régent d’Angleterre, 14. 7. 1815. In: Napoleon I er : Correspondance, Bd. 28 (wie Anm. 11), Nr. 22066, S. 301. Vgl. Giles: Napoleon Bonaparte (wie Anm. 41), S. 2. 98 Caulaincourt: Mémoires (wie Anm. 69), Bd. 3, S. 326.

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1815 jedoch weit davon entfernt, sich durch Napoleons Entscheidung, wie dieser erwartet hatte, geehrt zu fühlen. Aufgrund der Verträge mit den anderen Großmächten war sie dazu verpflichtet dahin mitzuwirken, dass Napoleon auch die geringste Möglichkeit genommen werde, die Ruhe Europas noch einmal zu stören. Mit dieser Verpflichtung wäre es nicht vereinbar gewesen, Napoleon ein Leben als Landedelmann irgendwo in England zu gestatten. Zu groß wäre die Gefahr gewesen, dass er bei günstiger politischer Konstellation von dort aus ein weiteres Mal versucht hätte, die Macht in Frankreich an sich zu reißen. Allerdings brauchte Napoleon auch nicht zu fürchten, in England vor Gericht gestellt zu werden. Für einen Prozess wegen Bruchs des Vertrags von Fontainebleau gab es keine rechtliche Grundlage, ganz abgesehen davon, dass Ludwig XVIII. ihn vor Napoleon gebrochen hatte. Auch die Führung eines Angriffskriegs war völkerrechtlich damals nicht verboten, und ob Napoleon im Krieg von 1815 überhaupt als Angreifer zu betrachten gewesen wäre, erscheint zumindest fraglich.⁹⁹ Wegen Hochverrats aber hätte Napoleon nur in Frankreich belangt werden können. Tatsächlich hatte Ludwig XVIII. Napoleon am 6. März öffentlich zum Verräter und Rebellen gestempelt und seine Ergreifung gefordert.¹⁰⁰ Im Juli und

99 Das Verbot des Angriffskriegs wurde durch den Briand-Kellogg-Pakt von 1928 in das Völkerrecht eingeführt. Der Zweite Weltkrieg und die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse regten eine neue Diskussion über die rechtliche Bewertung historischer Kriege an. In seiner Biographie Friedrichs des Großen von 1947 urteilte der britische Historiker Gooch, „the rape of Silesia ranks with the partition of Poland among the sensational crimes of modern history“; vgl. George Peabody Gooch: Frederick the Great. The Ruler, the Writer, the Man. London 1947, S. 10 f. Ein Beispiel ganz anderer Art bietet der Schriftsteller Roland Marwitz: Napoleon muss nach Nürnberg. Ein Bühnenstück in acht Bildern. Bühnenmanuskript, o. J., aus dem Jahre 1946. Auf S. 37 wendet sich der Verteidiger Napoleons mit Namen Caulaincourt an seinen Mandanten mit den Worten: „Hätten Ihre Besieger nach Ihrer Niederlage Sie anders behandelt, Sie nicht als Souverän noch nach dem Thronverzicht geehrt, sondern Sie als Verbrecher vor Gericht gestellt, so wäre der Welt auch Ihr Nachfolger erspart geblieben, und Ihr Name früher erloschen sein, als es jetzt geschehen wird.“ Besslich: Napoleon-Mythos (wie Anm. 2), S. 437, hebt zurecht hervor, dass diese Hypothese einen Versuch darstellt, einen Teil der Schuld an den Verbrechen Adolf Hitlers auf die Sieger von 1814 abzuwälzen. 100 Ordonnance du Roi, 6. 3. 1815. In: Le Moniteur Universel, 7. 3. 1815, S. 263, Art. 1: „Napoléon Bonaparte est déclaré traître et rebelle pour s’être introduit à main armée dans le département du Var. Il est enjoint à tous les gouverneurs, commandans de la force armée, gardes nationales, autorités civiles et même aux simples citoyens, de lui courir sus, de l’arrêter et de le traduire incontinent devant un conseil de guerre qui, après avoir reconnu l’identité, provoquera contre lui l’application des peines prononcées par la loi.“ Vgl. Houssaye: 1815. La première Restauration (wie Anm. 75), S. 228; Jean Tulard: Les vingt jours (1er –20 mars 1815). Napoléon ou Louis XVIII? Paris 2001, S. 84 f.; Evelyne Lever: Louis XVIII. Paris 1988, S. 372 f.; Guillaume de Bertier de Sauvigny: La Restauration. Paris 1955, S. 98. Vgl. Lord Rosebery: Napoleon (wie Anm. 60), S. 58;

204 | II Herrscher und Herrschaft August stellte er jedoch an Großbritannien keinen Antrag auf Auslieferung. Verurteilung und Hinrichtung des Kaisers hätten das Land tief gespalten und Ludwigs eigene Stellung gefährdet. Schon Ney hatte die französische Regierung unter der Hand zur Flucht ins Ausland verhelfen wollen. Da Ney die gebotenen Möglichkeiten jedoch nicht wahrgenommen hatte, kommentierte Ludwig XVIII. seine Festnahme mit der Bemerkung, noch größeren Schaden als durch seinen Verrat werde der Marschall ihm dadurch zufügen, dass er sich habe ergreifen lassen.¹⁰¹ Am 14. Juli schrieb der britische Außenminister Castlereagh an Premierminister Liverpool, was „Verhaftung und Bestrafung der prominenten Verräter“ durch die französische Monarchie anbelange, so habe er den Eindruck, dass ein großer Widerwille dagegen bestehe, „Blut zu vergießen“, und dass man eher an „Deportation und Ächtung“ in großem Umfang denke. Den Grund für diese Zurückhaltung sah Castlereagh in dem „offensichtlichen Schwächezustand“ der Regierung, aber er fürchtete, dass der Verzicht auf eine rigorose strafrechtliche Verfolgung der Staatsverbrecher die Autorität des Königs allgemeiner Verachtung aussetzen würde.¹⁰² Nun lag es im gemeinsamen Interesse aller europäischen Großmächte, dass das Regime der Bourbonen in Frankreich sich stabilisiere. Angesichts seiner prekären Stellung bezweifelte die britische Regierung allerdings, dass Ludwig XVIII. in der Lage wäre, Napoleon wirksam daran zu hindern, jemals wieder nach der Macht in Frankreich zu greifen.¹⁰³ Immerhin scheint die Auslieferung Napoleons für den Fall, dass er in britischen Gewahrsam gelangen sollte, noch Anfang Juli ernsthaft erwogen worden zu sein, wie aus einem Brief hervorgeht, den Liverpool am 7. Juli an Castlereagh schrieb:

Talleyrand empfahl seinem König von Wien aus, Napoleon wie einen Banditen zu behandeln: Talleyrand an Ludwig XVIII., 7. 3. 1815. In: Pallain (Hrsg.): Correspondance inédite (wie Anm. 75), S. 320: „Du reste, toute entreprise de sa part sur la France serait celle d’un bandit. C’est ainsi qu’il devrait être traité, et toute mesure permise contre les brigands devrait être employée contre lui.“ 101 Perrin: Maréchal Ney (wie Anm. 73), S. 327: „Le malheureux! En se laissant prendre, il va nous faire plus de mal qu’il ne nous en a fait en passant à Bonaparte.“ 102 Castlereagh an Liverpool, 14. 7. 1815. In: Charles K. Webster (Hg.): British Diplomacy 1813– 1815. London 1921, S. 344. 103 Für die Einschätzung der Regierung in London vgl. Liverpool an Castlereagh, 7. 7. 1815. In: Castlereagh: Correspondence (wie Anm. 93), Third Series, Bd. 2, S. 416: „It is in vain to conceal from ourselves that the situation of the King will become very critical, as soon as the Allied armies are withdrawn from France; and it is even doubtful how far his authority can be established, under present circumstances, on such a footing as to secure it against another revolution.“ Vgl. im selben Sinne auch Liverpool an Castlereagh, 10. 7. 1815, ebd., S. 422: „It will be an Herculean task, I think, to give any real strength to this Government. For, what is a King, unsupported by opinion, by an army, or by a strong national party?“

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The most easy course would be to deliver him up to the King of France, but then we must be quite certain that he would be tried and have no chance of escape. I have had some conversation with the civilians, and they are of opinion that this would be, in all respects, the least objectionable course. We should have a right to consider him as a French prisoner, and as such to give him up to the French Government.¹⁰⁴

Als der Kaiser dann tatsächlich in britische Obhut gelangt war, wollte die Regierung Liverpool das Risiko jedoch nicht eingehen, das seine Auslieferung an Frankreich für die Sicherheit Europas in ihren Augen mit sich gebracht hätte. Daher zog sie es vor, die dauerhafte Entmachtung Napoleons selbst zu übernehmen. Schon am 15. Juli hatte Liverpool an seinen Außenminister geschrieben: If you should succeed in getting possession of his person, and the King of France does not feel sufficiently strong to bring him to justice as a rebel, we are ready to take upon ourselves the custody of his person, on the part of the Allied Powers; and indeed, we should think it better that he should be assigned to us than to any other member of the Confederacy.¹⁰⁵

Am 17. Juli bestätigte Castlereagh Liverpools Vermutungen über das Zögern der französischen Regierung: „You must make up your mind to be his gaolers. The French Government will not try him as a traitor.“¹⁰⁶ Da ein Hochverratsprozess rechtlich in England nicht hätte durchgeführt werden können, blieb der britischen Regierung zuletzt keine andere Wahl als die Verbannung Napoleons unter strengster Aufsicht. Die Befugnis hierzu leitete sie aus dem Recht auf Selbsterhaltung ab.¹⁰⁷ Die Vollmacht, in dieser Frage für die Verbündeten zu handeln, beruhte auf einer Vereinbarung vom 2. August 1815, in der die vier Siegermächte Napoleon zu ihrem Kriegsgefangenen erklärten und die britische Regierung mit seiner Bewachung beauftragten. Die Wahl des Orts und der nötigen Maßnahmen wurde Großbritannien anheimgestellt. Die britische Regierung entschied sich für Sankt Helena, das der britischen Ostindienkompanie gehörte. Für den Ort sprach, dass er weit entfernt, mit seiner steil abfallenden Felsenküste schwer zugänglich und von der See her leicht zu überwachen war.¹⁰⁸

104 Liverpool an Castlereagh, 7. 7. 1815, ebd., S. 416 f. 105 Liverpool an Castlereagh, 15. 7. 1815, ebd., S. 430. 106 Castlereagh an Liverpool, 17. 7. 1815. In: Webster: British Diplomacy (wie Anm. 102), S. 350. 107 Forsyth: History of the Captivity of Napoleon (wie Anm. 60), Bd. 1. London 1853, S. 9. 108 Zur Entscheidung für Sankt Helena vgl. Liverpool an Castlereagh, 21. 7. 1815. In: Castlereagh: Correspondence (wie Anm. 93), Third Series, Bd. 2, S. 434: „There is only one place in the circuit of the island where ships can anchor, and we have the power of excluding neutral vessels altogether, if we should think it necessary. At such a distance and in such a place, all intrigue would be impossible; and, being withdrawn so far from the European world, he [d. h. Napoleon] would very soon be forgotten.“

206 | II Herrscher und Herrschaft Als die „Bellerophon“ sich der britischen Küste näherte und zuerst vor Torbay, dann vor Plymouth Anker warf, wurde Napoleon nicht gestattet, britischen Boden zu betreten. Gleichwohl forderten Whig-Blätter wie der „Morning Chronicle“ und der Verfassungsjurist Capel Lofft, den Kaiser in den Genuss von habeas corpus gelangen zu lassen. Schließlich befinde er sich als Passagier eines britischen Schiffes auf nationalem Territorium und genieße daher den Schutz der britischen Gesetze.¹⁰⁹ Wäre Napoleon tatsächlich vor einen britischen Richter geführt worden, hätte dieser ihn wahrscheinlich auf freien Fuß setzen müssen, da der vermeintliche Delinquent nicht gegen britische Gesetze verstoßen hatte. Dass gestürzte Herrscher für die Nachfolgeregime eine Gefahr darstellen, hatte nicht nur Napoleon selbst durch seine Rückkehr von Elba bewiesen. Auch die Hinrichtung Ludwigs XVI. nach einem jeder Rechtsstaatlichkeit spottenden Prozess am 21. Januar 1793 hatte wesentlich dem Zweck gedient, eine Restauration der Monarchie unmöglich zu machen. Dasselbe gilt von der Ermordung der Zarenfamilie in Jekaterinburg in der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918. Die Regierung Liverpool hätte sich beträchtliche Kosten und Anfeindungen aller Art ersparen können, wenn sie die Verantwortung für den Gefangenen abgelehnt und ihn nach Frankreich ausgewiesen hätte. Statt der britischen Regierung ohne jeden stichhaltigen Beweis die Anstiftung zur Vergiftung des Kaisers zu unterstellen, sollte man anerkennen, dass die Entscheidung für dessen Verschiffung nach Sankt Helena zugleich eine Entscheidung gegen einen rechtlich fragwürdigen Hochverratsprozess und gegen den politischen Mord war, wie ihn andere gestürzte Herrscher in der Geschichte erlitten haben. Hinzu kommt, dass die Abgelegenheit des Orts und die strenge Bewachung Napoleon auch vor Anschlägen dritter schützte. Die empoisonnistes haben aus Verbannung und Tod Napoleons eine Mordgeschichte gesponnen. Historiker und Mediziner haben die Fragwürdigkeit dieser Geschichte offengelegt. Damit ist der Weg frei für eine Debatte darüber, wie die Behandlung, die Napoleon nach seiner zweiten Abdankung zuteil wurde, im historischen Vergleich zu beurteilen ist angesichts der Aufgabe, vor die sich die Großmächte gestellt sahen: Frankreich und Europa nach einem Vierteljahrhundert von Krieg und Revolution endlich politische Stabilität zu verschaffen. Denn daran kann kein Zweifel bestehen: Unter rechtlichen Gesichtspunkten war die Verbannung Napoleons nach Sankt Helena genau so fragwürdig, wie es ein Prozess vor einem britischen Gericht gewesen wäre, von einer Hinrichtung ohne Prozess ganz zu schweigen.

109 Giles: Napoleon Bonaparte (wie Anm. 41), S. 23 f.

Napoleon auf der Säule der Großen Armee. Metamorphosen eines Pariser Denkmals Nicht* nur einmal wie der Komtur in Mozarts Oper Don Giovanni von seinem Sockel, sondern nicht weniger als dreimal ist Napoleon von der Säule der Großen Armee auf der Place Vendôme in Paris herabgestiegen oder vielmehr heruntergeholt worden: 1814, 1863 und 1871, und dreimal ist er wieder hinaufgestellt worden: 1833, 1863 und 1875. Daran zeigt sich, dass dieses Denkmal im 19. Jahrhundert nicht als totes Relikt des Ersten Kaiserreichs angesehen wurde, sondern in seiner wechselnden Gestalt bis in die Dritte Republik hinein als ein politisches Programm, das unter den aufeinander folgenden Regimen immer wieder neu zur Stellungnahme zwang. Beim letzten der verschiedenen Denkmalsstürze oder Denkmalstransformationen, am 16. Mai 1871 unter der Herrschaft der Commune, ist nicht nur das Standbild Napoleons entfernt, sondern gleich die ganze Säule umgestürzt worden. Dass dieser Akt als symbolische Verdammung von Werten gedacht war, die im Widerspruch zu den Zielen der neuen Pariser Revolution standen, ergibt sich aus dem Dekret der Commune vom 12. April, mit dem die Beseitigung der Vendôme-Säule angeordnet wurde: La Commune de Paris, considérant que la colonne impériale de la place Vendôme est un monument de barbarie, un symbole de force brutale et de fausse gloire, une affirmation du militarisme, une négation du droit international, une insulte permanente des vainqueurs aux vaincus, un attentat perpétuel à l’un des trois grands principes de la république française, la fraternité; décrète: Article unique. – La colonne de la place Vendôme sera démolie.¹

Ganz offensichtlich ließ sich das Fortbestehen der Säule in den Augen der Führer der Commune nicht vereinbaren mit der von ihnen angestrebten Revolutionierung der internationalen Beziehungen, deren Leitideen künftig die Brüderlichkeit und die Überwindung des Militarismus sein sollten.² Die Zerstörung des Denkmals sollte diese Grundsätze symbolisch in Geltung setzen.

* Erstdruck in: Christof Dipper, Lutz Klinkhammer, Alexander Nützenadel (Hrsg.): Europäische Sozialgeschichte. Festschrift für Wolfgang Schieder, Berlin 2000, S. 377–402. 1 Georges Bourgin/Gabriel Henriot (Hrsg.): Procès-verbaux de la Commune de 1871. Edition critique. Bd. 1, Paris 1924, S. 190. – Für ihre tatkräftige Unterstützung bei der Fertigstellung des Manuskripts danke ich meinen beiden Mitarbeiterinnen cand. phil. Julia Fendesack und cand. phil. Julia Scialpi. 2 Zum Begriff der „Brüderlichkeit“ vgl. Wolfgang Schieder: Art. Brüderlichkeit, Bruderschaft, Brüderschaft, Verbrüderung, Bruderliebe. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 552–581, hier bes. S. 578 f. Zur

208 | II Herrscher und Herrschaft War die Vendôme-Säule jedoch über Generationen hinweg eine Verkörperung von Werten, die zumindest von Teilen der Gesellschaft als gültig anerkannt wurden, dann scheint es angezeigt, ihre Geschichte zwischen Erstem Kaiserreich und Dritter Republik als Geschichte dieser Wertvorstellungen zu schreiben. Im Vordergrund steht dabei naturgemäß die Geschichte der Einstellungen zu Napoleon I. und zu seiner Herrschaft. Der Stand der Forschung rechtfertigt einen solchen Plan, zumal nachdem Winfried Speitkamp mit seinem Sammelband auf das Problem des Denkmalssturzes aufmerksam gemacht hat.³ Im Jahre 1977 hat Jörg Traeger die Entstehungsgeschichte der Säule unter vorwiegend kunstgeschichtlichen Fragestellungen untersucht; die Geschichte des Denkmals nach seiner Fertigstellung bleibt außer Betracht.⁴ Die reich illustrierten Monographien von Prinz Achille Murat (1970) und von Fernand de Saint-Simon (1982) präsentieren die Abfolge der Ereignisse mit vielen Einzelheiten bis in die Dritte Republik hinein; die Autoren verzichten jedoch weitgehend auf historische Interpretationen, und die Übernahme ihrer Versionen der nicht selten unvollkommen oder widersprüchlich überlieferten Vorgänge wird dadurch erschwert, dass die Quellen nicht genannt werden.⁵ Die Säule wurde nach dem Feldzug Napoleons von 1805 gegen die verbündeten Mächte Österreich und Russland, der am 2. Dezember nach nur wenigen Wochen durch den überwältigenden Sieg bei Austerlitz entschieden wurde, in Auftrag gegeben. Auf einem bronzenen Reliefband nach dem Vorbild der Trajanssäule in Rom, das sich spiralförmig nach oben schraubt, wird der gesamte Feldzug dargestellt. Hatte Trajan auf der Säule einst seine Erfolge über die Daker gefeiert, so suchte Napoleon jetzt seinen Sieg über die Gegner von 1805 zu verewigen, und wie eine Trajansstatue auf dem Gipfel der Säule in Rom gestanden hatte, ließ auch Napoleon die Säule in Paris durch sein Standbild krönen. Architekten der Säule waren Jacques Gondouin und Jean-Baptiste Lepère. Die Statue des Kaisers

Begriffsgeschichte von militarisme vgl. die Hinweise auf zwei Belege bei Proudhon von 1861 und 1864. In: Werner Conze: Art. Militarismus. In: Ebd., Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 21 f. 3 Winfried Speitkamp (Hrsg.): Denkmalsturz. Zur Konfliktgeschichte politischer Symbolik. Göttingen 1997; vgl. darin besonders Günther Lottes: Damnatio historiae. Über den Versuch einer Befreiung von der Geschichte in der Französischen Revolution, S. 22–48; zur „Vendôme-Säule“ finden sich dort wenigstens zwei Sätze (S. 28). 4 Jörg Traeger: Über die Säule der Großen Armee auf der Place Vendôme in Paris. In: Friedrich Piel/Jörg Traeger (Hrsg.): Festschrift Wolfgang Braunfels. Tübingen 1977, S. 405–418. 5 Le Prince Achille Murat: La colonne Vendôme. Paris 1970; Fernand de Saint Simon: La place Vendôme. Paris 1982. Eine ganz knappe Zusammenfassung der Geschichte der Säule im 19. Jahrhundert findet sich bei Albert Boime: Hollow Icons. The Politics of Sculpture in NineteenthCentury France. Kent, Ohio, 1987, S. 8 f.

Napoleon auf der Säule der Großen Armee

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schuf Antoine-Denis Chaudet. Die Gesamthöhe des Bauwerks betrug 44,17 m.⁶ Die Säule wurde am 15. August 1810, dem Geburtstag Napoleons, auf dem Gipfel seiner europäischen Machtstellung, eingeweiht. Entgegen dem Anschein hat sich der Gedanke einer nach Programm und Gestaltung so getreuen Übertragung des römischen Vorbilds in einem längeren Zeitraum über mehrere Stadien hinweg erst allmählich entwickelt. Bereits im Jahre 1800 hatte die Regierung des Konsulats den Beschluss gefasst, in jedem Hauptort aller Departements eine Ruhmessäule zu Ehren der französischen Armeen zu errichten.⁷ In Paris war als Standort der Säule die Place Vendôme ausersehen. In der Mitte dieses Platzes, der unter der Regierung Ludwigs XIV. von Jules HardouinMansart angelegt worden war, hatte ursprünglich ein Reiterstandbild des Sonnenkönigs von François Girardon gestanden, bis es nach der Absetzung Ludwigs XVI. am 20. August 1792 zerstört wurde.⁸ Das erste Säulenprojekt wurde nicht verwirklicht. Stattdessen beschloss die französische Regierung am 1. Oktober 1803, an derselben Stelle eine Säule nach dem Muster der Trajanssäule in Rom zu errichten. Sie sollte 2,73 m im Durchmesser und 20,78 m in der Höhe erhalten. Auf dem Säulenschaft sollten in spiraliger Anordnung 108 allegorische Figuren aus Bronze angebracht werden, welche die Departements der Republik symbolisieren sollten. Auf der Spitze der Säule sollte das Standbild Karls des Großen aufgestellt werden, das französische Truppen im Jahre 1794 aus Aachen nach Paris gebracht hatten.⁹ Die Nachahmung der Trajanssäule schloss in diesem Augenblick also noch nicht die Darstellung eines siegreichen Feldzugs ein, zielte insofern auch nicht auf ein Monument des Triumphs im eigentlichen Sinne, und auch die Aufstellung einer Statue Napoleons und damit des gegenwärtigen Herrschers war noch nicht vorgesehen. Napoleon war damals noch Konsul auf Lebenszeit, Frankreich war noch Republik. Dennoch zeigt die Entscheidung für die Aachener Figur Karls des Großen, dass Napoleon nach dem Kaisertum strebte, und zwar offenbar in einer Verknüpfung der Traditionen der römischen Kaiseridee und des Kaisertums Karls des Großen. Die Bezugnahme auf Karl den Großen erschien aus zwei Gründen zweckmäßig. Einmal enthielt sie einen konkreten territorialen Anspruch, und zum andern unterstrich sie die Absicht Napoleons, zugleich die Nachfolge der deutschen Kaiser anzutreten. Er selbst wäre bei der Verwirklichung dieses Pro-

6 Murat: Vendôme (wie Anm. 5), S. 79. 7 Simon: Vendôme (wie Anm. 5), S. 118. 8 Traeger: Säule der Großen Armee (wie Anm. 4), S. 405. 9 Extrait des régistres des délibérations du gouvernement de la république, 8 vendémaire an XII (1. 10. 1803), Archives Nationales Paris, F/21/576, dossier 1, Nr. 44. Zum Aachener Standbild Karls des Großen vgl. Traeger: Säule der Großen Armee (wie Anm. 4), S. 409.

210 | II Herrscher und Herrschaft jekts zwar nicht persönlich in Erscheinung getreten, aber die bildliche Orientierung der allegorischen Darstellung der 108 Departements auf die Person Karls wäre ein unmissverständlicher Hinweis gewesen, zumal die Figuren, welche die Departements repräsentieren sollten, nach einem Brief Vivant Denons, des wichtigsten Vertrauensmanns Napoleons in allen Fragen der Kunst und der Kunstpolitik, Karl dem Großen eine Krone darreichen sollten.¹⁰ Eine mit der Begutachtung des Projekts beauftragte Kommission sprach sich jedoch vor der Classe des Beaux-arts de l’Institut Ende Mai 1804 gegen diesen Plan aus. Inzwischen hatte der französische Senat beschlossen, die Republik in ein Kaiserreich zu verwandeln. So stand dem Gedanken nichts mehr im Wege, die Departements als symbolische Vergegenwärtigung der französischen Nation und ihres Willens zu verstehen, Napoleon die Kaiserkrone zu überreichen. Nach Meinung der Kommission wurde damit zugleich der Weg frei für eine auch ästhetisch befriedigendere Lösung. Da die Statue Karls verhältnismäßig klein sei, hätte auch die Säule auf bescheidene Dimensionen beschränkt werden müssen. Auf dem großen Platz wäre sie damit jedoch um jede Wirkung gebracht worden. Mit dem Vorschlag, ein Standbild Napoleons auf die Säule zu stellen, gewinne man dagegen zugleich die Möglichkeit, die Höhe des Bauwerks der Umgebung anzupassen. Die Classe des Beaux-arts machte sich das Votum der Kommission sofort zu eigen.¹¹ Auch in dieser Form hätte der Säule im Vergleich zur Trajanssäule noch die Anbindung an einen bestimmten Feldzug gefehlt. Dieses Element wurde durch den glänzenden Erfolg im Feldzug von 1805 beigebracht. Der Gedanke des Triumphs wurde dadurch noch unterstrichen, dass die für das Reliefband und die Statue erforderliche Bronze durch die Einschmelzung von österreichischen und russischen Kanonen gewonnen werden sollte, die auf diesem Feldzug erbeutet worden waren. Als Name der Säule war von nun an Colonne d’ Austerlitz vorgesehen, wobei offenkundig ist, dass die Anknüpfung an diesen Feldzug noch weitergehende Implikationen in sich barg.¹² Der Feldzug von 1805 wurde am 26. Dezember 1805 durch den Frieden von Pressburg beendet. Die einer Reihe von deutschen Mittelstaaten in diesem Frieden verbriefte Zusicherung der Souveränität bildete den ersten Schritt auf dem Weg zum Rheinbundvertrag vom 12. Juli 1806 und zur Niederlegung der Kaiserkrone durch den deutschen Kaiser Franz II. am 6. August desselben Jahres. Zusammen mit dem soeben gegründeten Königreich Italien und

10 Note remise par M. Denon à la Commission nommée par la classe des Beaux-arts de l’Institut national, o. D. (aber im Frühjahr 1804), Archives Nationales Paris, F/21/576, dossier 1, Nr. 38. 11 Extrait des registres de la classe des Beaux arts. Séance du samedi 6 prairial an XII (26. 5. 1804), Archives Nationales Paris, F/21/576, dossier 1, Nr. 39. 12 Zur Namensgebung vgl. Traeger: Säule der Großen Armee (wie Anm. 4), S. 405.

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dem im Jahre 1806 besetzten Königreich Neapel sicherte sich der französische Kaiser in diesem Augenblick in der Tat eine Machtstellung, die in Begriffen der Geographie derjenigen Karls des Großen entsprach, und die Beschränkung des habsburgischen Kaisertums auf Österreich ließ nunmehr Napoleon als Repräsentanten einer übernationalen und universalen Kaiseridee erscheinen. Insofern spricht viel für den Vorschlag Jörg Traegers, die Statue Chaudets mit dem Lorbeerkranz auf dem Haupt, der kurzen Chlamys und den nackten Beinen, dazu dem auf den Boden gestützten Schwert, die nur unvollkommen zu den antiken Kaiserdarstellungen passen will, als eine bewusste Verbindung des römischen Kaiserbilds mit der Bildnistradition Karls des Großen zu deuten.¹³ Der Rückgriff auf die römischen Kaiser der Antike bleibt deutlich genug, allein schon in der Anspielung auf die Trajanssäule, aber auch in der – anders als in den ersten Projekten – nach dem Sieg bei Austerlitz möglichen Übernahme des Gedankens des Heerkaisertums. Andererseits blieb die gleichzeitige Berufung auf Karl den Großen aus politischen und historischen Gründen erwünscht. Die Änderung des Namens der Säule in Colonne de la Grande Armée im Jahre 1810 – angeblich aus Rücksicht auf das durch Napoleons Heirat mit der österreichischen Prinzessin Marie-Luise nunmehr verschwägerte Haus Habsburg, das nicht unnötig an seine Schmach von 1805 erinnert werden sollte¹⁴ – bedeutete keine Abkehr von der imperialen Aussage des Monuments. Wie sich zeigen wird, begünstigte die Namensänderung in der Folge die Ausbildung einer Tradition, die in der Säule vor allem ein Denkmal für die Leistungen der französischen Armee sehen wollte. Der Einmarsch der alliierten Truppen in die französische Hauptstadt am 31. März 1814 unter Führung des Zaren Alexander I., König Friedrich Wilhelms III. von Preußen und des österreichischen Generalissimus Fürst Schwarzenberg bildete Auftakt und Voraussetzung für die Beendigung der Herrschaft Napoleons: Am 3. April wurde der Kaiser vom Senat förmlich abgesetzt, am 11. April wurde der Abdankungsvertrag von den Alliierten unterzeichnet.¹⁵ Nach den Erfahrungen des Jahres 1792 überrascht es nicht, dass der Regimewechsel Anlass für Denkmalszerstörungen und Denkmalserneuerungen wurde.¹⁶ Schon am Spätnachmittag des 31. März versuchten royalistische Heißsporne, die Statue des Kaisers von der

13 Vgl. ebd., S. 407–410. 14 Vgl. ebd., S. 405. 15 Am 2. April beschloss der Senat die Absetzung, am 3. April wurde das Absetzungsdekret mit der von Senator Lambrechts formulierten Begründung verabschiedet; der Text in: Le Moniteur universel, 4. 4. 1814, S. 369; der sogenannte Vertrag von Fontainebleau vom 11. 4. 1814 in: Leonard Jacob Borejko Chodzko (Comte d’Angeberg): Le Congrès de Vienne et les traités de 1815. Bd. 1, Paris 1863, S. 148–151. 16 Vgl. ebd., S. 407–410.

212 | II Herrscher und Herrschaft Vendôme-Säule herunterzustoßen. Genannt werden unter anderem der Vicomte Sosthène de la Rochefoucauld und der Marquis de Maubreuil.¹⁷ Auch Meynard de la Vallette bekannte sich zur Mitwirkung.¹⁸ Jedoch führten weder Schläge mit einem Schmiedehammer noch der Versuch, der Statue ein langes Tau um den Hals zu schlingen und sie nach Einkerbung der Beine vom Platz aus herunterzuziehen, zum Erfolg. Zuletzt kletterte einer der Eiferer dem Kaiser auf die Schultern und schlug ihm zweimal ins Gesicht.¹⁹ In den folgenden Tagen wurden Pferde eingesetzt, um die Statue mit Hilfe von Tauen herunterzuzerren; doch auch dieser Versuch schlug fehl.²⁰ Schließlich wurde der Gießer der Statue, Jean-Baptiste Launay, verpflichtet, sein Werk kunstgerecht herunterzunehmen. Am Abend des Karfreitags, des 8. April 1814, um 6 Uhr, war das Werk vollbracht.²¹ Angeordnet hatten die Entfernung der Statue zwei Edelleute, die in den Diensten des Grafen von Artois standen, des jüngeren Bruders Ludwigs XVIII. und vom 14. April an Lieutenant général du Royaume: Jean-René-Pierre de Semallé und Armand de Polignac.²² Zur Übermittlung des Befehls an Launay und zur Überwachung der Ausführung bediente sich Semallé eines gewissen Dumas de Montbadon.²³ Nun waren diese Parteigänger des Grafen von Artois nicht im mindesten befugt, eine derartige Maßnahme anzuordnen. Daher wandten sie sich an die russische Besatzungsmacht, um von ihr einen entsprechenden Befehl zu erwirken. Da Launay nicht bereit war, die Montbadon von den russischen Militärs gegebene Vollmacht anzuerkennen, schleppte dieser ihn persönlich zum Stab des Zaren. Dort empfing Launay aus der Hand des Comte de Rochechouart, eines Offiziers französischer Herkunft in den Diensten Alexanders, unter Androhung militärischer Exekution am 4. April den Befehl, die Statue bis 6. April, Mitternacht, von der Säule zu nehmen.²⁴ Noch immer im Zweifel, ob er gehorchen müsse, ließ Launay sich den

17 Houssaye: 1814. 68. Aufl., Paris 1912, S. 567 f. 18 Schreiben des Präfekten der Seine an den kommissarischen Innenminister der provisorischen Regierung vom 7. 4. 1814, Archives Nationales Paris, F/21/576, dossier 1, Nr. 112. 19 Houssaye: 1814 (wie Anm. 17), S. 568. 20 Jean-René-Pierre Comte de Sémallé: Souvenirs. Paris 1898, S. 173. 21 Jean-Baptiste Launay: Relation des faits qui se sont passés lors de la descente de la statue de Napoléon, érigée sur la colonne de la place Vendôme, et de la destruction de ce chef-d’œuvre de sculpture. Paris 1825, S. 17. 22 Neuvilles, Directeur de correspondance und chef de la troisième division im Innenministerium, an den Innenminister, 22. 9. 1814, Archives Nationales Paris, F/13/205, Nr. 38. 23 Comte de Sémallé: Souvenirs (wie Anm. 20), S. 174; vgl. auch Launay: Statue de Napoléon (wie Anm. 21), S. 10 ff. 24 Text des Befehls ebd., S. 13.

Napoleon auf der Säule der Großen Armee

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Befehl zusätzlich vom Pariser Polizeipräfekten Pasquier bestätigen.²⁵ Mit welchen Argumenten Semallé die russischen Stäbe für die Mitwirkung gewonnen hatte, ist nicht bekannt. Es muss jedoch auch im russischen Interesse gelegen haben, dass dem ungezügelten royalistischen Aufruhr auf der Place Vendôme ein Ende gesetzt werde, da er leicht hätte Gegenaktionen von Anhängern Napoleons provozieren können. Die Motive der wilden, aber mit ihren Methoden erfolglosen Denkmalszerstörer liegen auf der Hand: Dass das Standbild des Kaisers von seiner hohen Warte aus die Wiedereinsetzung der Bourbonen beobachte, erschien den Anhängern der Monarchie unannehmbar. Schwerer zu verstehen ist, warum der Royalist Semallé sich in seinen Memoiren nicht wenigstens zu seinem Interesse an der Entfernung der Statue bekennt und stattdessen behauptet, die Initiative zur kunstgerechten Abnahme der Statue sei vom Gießer Launay ausgegangen.²⁶ Semallé begründet noch nicht einmal, warum er dem von ihm behaupteten Drängen Launays überhaupt nachgegeben haben will. Vielleicht wollte Semallé später nicht mehr wahrhaben, dass er sich der Besatzungsmacht bedient hatte, um das Standbild Napoleons von der Säule nehmen zu lassen. Semallé hat seine Erinnerungen erst zwischen 1848 und 1852 niedergeschrieben und damit zu einer Zeit, als die Anhänger der Bourbonen sich schon seit langem gegen den Vorwurf verteidigen mussten, die Restauration von 1814 und 1815 sei entgegen den wahren Interessen der französischen Nation auf Drängen der Alliierten erfolgt.²⁷ Die Mitwirkung der Sieger an der Entfernung der Statue hat später zur Entstehung einer Meinungstradition geführt, wonach dieser Denkmalssturz von den Alliierten erzwungen worden sei.²⁸ So gesehen, musste es irgendwann zu

25 Ebd., S. 14. Die Version Comte de Sémallés: Souvenirs (wie Anm. 20), S. 173, wonach Launay angesichts der verschiedenen Versuche, die Statue herunterzureißen, selbst verzweifelt um die Erlaubnis gebeten habe, den Auftrag für die Operation zu erhalten, verdient angesichts der Schilderung, die Launay: Statue de Napoléon (wie Anm. 21) selbst gegeben hat, vor allem aber angesichts des ebd., S. 13, im Wortlaut abgedruckten Befehls des russischen Offiziers, keinen Glauben. Warum hätte militärische Exekution angedroht werden sollen, wenn der auf solche Weise Bedrohte nichts sehnlicher gewünscht hätte, als den Befehl auszuführen! 26 Comte de Sémallé: Souvenirs (wie Anm. 20), S. 173; vgl. im übrigen Anm. 24. 27 Zu Entstehungszeit und Quellenwert der Memoiren von Sémallé vgl. Guillaume de Bertier de Sauvigny/Alfred Fierro: Bibliographie critique des mémoires sur la Restauration écrits ou traduits en français. Genève 1988, S. 236. 28 Bereits im September 1814 meinte der französische Innenminister, dass die Alliierten „firent descendre la statue de Napoléon“: L’Abbé de Montesquiou an Beugnot, 17. 9. 1814, Archives Nationales Paris, F/21/576, dossier 1, Nr. 111; Le Constitutionnel, 28. 7. 1833, schrieb von „cette statue de Napoléon renversée en 1814 par la coalition européenne“. Zur Ansicht Heinrich Heines im Jahre 1832 vgl. unten.

214 | II Herrscher und Herrschaft einem nationalen Anliegen werden, dass Napoleon seinen Platz auf der Säule zurückerhalte. Der Pariser Polizeipräfekt Pasquier reflektierte diese nationalistische Sicht, allerdings ohne Bezugnahme auf die Rolle der Sieger, in seinen Memoiren, wo er schrieb, die Aktionen der royalistischen Eiferer am Abend des 31. März hätten ihn alarmiert, da sie „l’esprit national et l’esprit militaire“ unweigerlich in höchsten Aufruhr versetzen müssten; immerhin werde ein Denkmal angegriffen, welches auf glanzvollste Weise die „gloire des armées françaises“ verewige.²⁹ In Wahrheit entspricht diese Auffassung erst einer späteren Deutung der Ereignisse. Sonst müsste man annehmen, Pasquier hätte sich am Tage des Einmarschs der Alliierten größere Sorgen um den Sturz der Statue als um den Sturz des Kaisers selbst gemacht, zu dem er im übrigen nicht wenig beigetragen hatte. Immerhin kann man aus diesen Bemerkungen eine gewisse Distanzierung Pasquiers von dem Denkmalssturz herauslesen. Noch deutlicher distanziert hat sich allerdings Launay in seiner Darstellung der Vorgänge. Nicht nur dass er betonte, er habe lediglich unter Androhung militärischer Zwangsmittel und unter Bewachung durch russische Soldaten gehandelt; Launay legte auch Wert auf die Feststellung, dass er der Statue jederzeit die gebührende Achtung gezollt habe. So habe er keines der vielen Seile, die er habe um sie legen müssen, um ihren Hals geschlungen: „respect et fidélité aux souverains, telle est ma devise“.³⁰ Auch sei nicht er es gewesen, der mit Meißeln und Feilen Kerben in die Beine der Statue oberhalb der Knöchel habe schneiden lassen, um sie stürzen zu können. Nach der Abnahme habe er die Figur auf einen eigens vorbereiteten Wagen gehoben, aufrecht, wie sie auf der Säule gestanden habe, und in dieser Position in seine Werkstatt gefahren. Aufrecht habe er sie sodann in einen seiner Höfe gestellt, in Anerkennung „de la vénération que le peuple doit à son souverain, lors même qu’il est déchu“.³¹ Der Graf von Artois hatte Semallé ermächtigt, die Statue zu verkaufen, um aus dem Erlös seine Unkosten zu bestreiten. Nach der Übernahme der Regierung bestätigte der König diese Erlaubnis. Semallé ließ die Statue jedoch zunächst bei Launay stehen und schärfte ihm ein, sie ohne sein ausdrückliches Einverständnis an niemanden auszuliefern.³² Auf der Säule war unmittelbar nach der Abnahme der Statue das Lilienbanner gehisst worden, ein Akt von tiefer Symbolik, insofern der Bourbonenkönig damit zum Ausdruck brachte, dass er die von der Armee unter Napoleon erbrachten Leistungen anerkenne, auch wenn sie im Dienste einer

29 Etienne-Denis Pasquier: Mémoires. Bd. 2, Paris 1893, S. 263 f. 30 Launay: Statue de Napoléon (wie Anm. 21), S. 20. 31 Ebd., S. 20 f. 32 Neuvilles: correspondance (wie Anm. 22); Semallé an Laune, 21. 9. 1814, Archives Nationales Paris, F/21/576, dossier 1, Nr. 106.

Napoleon auf der Säule der Großen Armee

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Sache und eines Regimes erbracht worden seien, die er von Grund auf ablehnen müsse. Die Unterstützung der Armee zu gewinnen, war eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Gelingen der Restauration, und so erinnert der Vorgang unmittelbar an das denkwürdige erste Zusammentreffen der Marschälle Napoleons mit dem aus dem britischen Exil zurückkehrenden Ludwig XVIII. im Schloss von Compiègne, wo der König nach Darstellung des Marschalls Macdonald erklärt haben soll, er betrachte die Marschälle als „les plus fermes colonnes de l’Etat“ und wolle sich bei der Ausübung seiner Herrschaft auf sie stützen.³³ Nach der Rückkehr Napoleons von Elba im März 1815 wurde das Lilienbanner durch die Trikolore ersetzt.³⁴ Schon bald aber regten sich Initiativen, die Statue wieder auf die Säule zu stellen. Am 6. April schrieb der Präfekt des Departements Seine an Innenminister Carnot, eine große Zahl von Bürgern des Departements trete dafür ein, dass die Skulptur zurückkehre. „Il a paru à tous que l’image du héros qui a porté si haut la gloire de la France, ne pouvait trop tôt reparaître sur un des plus beaux monuments de la capitale“.³⁵ Am 11. April erwiderte der Innenminister, der Kaiser wünsche nicht, dass die Statue wiederaufgestellt werde.³⁶ Der Gießer Launay wurde von der neuen Regierung gleichwohl gezwungen, die noch immer von ihm verwahrte Skulptur herauszugeben.³⁷ Aus diesem Grunde befand sie sich in der Hand der Behörden, als Ludwig XVIII. nach der Schlacht bei Waterloo zu seiner zweiten Restauration ansetzte. Die Statue wurde dem Gießer Mesnel anvertraut, der sie ähnlich wie vor ihm Launay vor der Vernichtung bewahren wollte. Sein Widerstand zerbrach allerdings, als der Plan der Wiedererrichtung des Reiterstandbilds Heinrichs IV. auf dem Pont Neuf vor der Verwirklichung stand, an der Mesnel selbst beteiligt war. Das erste Standbild Heinrichs war 1635 errichtet worden und 1792 den Denkmalszerstörungen nach der Absetzung Ludwigs XVI. zum Opfer gefallen. Jetzt wurde der Napoleon Chaudets eingeschmolzen und ging in den Guss von Heinrichs neuem Pferd ein. Mesnel hatte versucht, die Einschmelzung dadurch abzuwenden, dass er mehr als dreimal so viel Bronze anbot, als die Statue Chaudets enthielt. Vergeblich. Offenbar war die Verwendung für das Reiterstandbild Heinrichs IV. gewollt, um den Triumph der Bourbonen über den Spross der

33 Maréchal Macdonald (Duc de Tarente): Souvenirs. Paris 1892, S. 310. 34 Préfecture de Police an den Innenminister, Comte Carnot, 25. 3. 1815, Archives Nationales Paris, F/21/576, dossier 1, Nr. 68. 35 Comte de Bondy an Comte Carnot, 6. 4. 1815, Archives Nationales Paris, F/21/576, dossier 1, Nr. 101. 36 Carnot an Bondy, 11. 4. 1815, Archives Nationales Paris, F/21/576, dossier 1, Nr. 100. 37 Launay: Statue de Napoléon (wie Anm. 21), S. 30.

216 | II Herrscher und Herrschaft Revolution gleichsam auch materiell zu vollziehen. In einem Brief an das Journal des Artistes bekannte Mesnel im Jahre 1831, dass er im rechten Arm Heinrichs eine kleine Figur Napoleons und im Leib des Pferdes mehrere Kästchen mit Liedern, Schmähschriften und dergleichen versteckt habe.³⁸ Mit diesen unsichtbaren Beigaben versehen, wurde das Reiterstandbild im August 1818 auf seinem alten Platz aufgestellt. Man könnte sich fragen, ob Mesnel glaubte, auf solch magische Weise die legitimatorische Funktion des Denkmals für die restaurierte Monarchie unterlaufen zu können. Jedenfalls offenbart sein Bekenntnis, welche Kräfte einem Denkmal zugetraut wurden. Als die Julirevolution des Jahres 1830 ausbrach, wehte noch immer das Lilienbanner von der Säule auf der Place Vendôme, aber noch im Verlauf der drei Glorreichen Tage wurde es erneut durch die Trikolore ersetzt. Wie schon in der Restaurationsepoche, so verursachte die Flagge auch in den ersten Jahren der Julimonarchie immer neuen Ärger, weil sie unter den Einflüssen der Witterung litt und deshalb etwa viermal jährlich erneuert werden musste.³⁹ Ein Beamter des Ministeriums für öffentliche Arbeiten schlug am 7. September 1832 daher vor, entweder die Fahne dadurch zu schonen, dass sie nur bei Tag gehisst würde, oder ganz auf die Fahne zu verzichten. Er verstehe sehr wohl, dass auf ein öffentliches Gebäude mit einer bestimmten Funktion eine Flagge gehöre, mais je ne vois pas ce qu’il signifie au haut d’une colonne qui doit être considérée elle-même comme un drapeau et qui doit être surmontée de la statue de Napoléon.⁴⁰

Die letzte Feststellung war keine originelle Eingebung des Beamten, sondern lediglich ein Hinweis auf ein bevorstehendes Ereignis. Die Regierung LouisPhilippes hatte bereits im Frühjahr 1831 beschlossen, Napoleon wieder auf die Säule zu stellen. Da die ursprüngliche Statue von Chaudet eingeschmolzen worden war, musste eine neue Statue angefertigt werden. Aus diesem Grunde billigte

38 Der Brief Mesnels ist abgedruckt im Journal des Artistes et des Amateurs, 5. Jg., Bd. 1, Nr. 17, 24. 4. 1831, S. 316. Ob die Behauptungen Mesnels jemals am Denkmal überprüft wurden, war nicht festzustellen. 39 Vgl. für die Restaurationsepoche: Lainé (Ministre Secrétaire d’Etat de l’Intérieur) an Lafolie (Conservateur des monuments), 10. 4. 1818, Archives Nationales Paris, F/21/576, dossier 1, Nr. 71: „Le drapeau de la Colonne de la place Vendôme occasionne une assez forte dépense et cependant il est presque toujours en assez mauvais état“; Lafolie an Lainé, 15. 4. 1818, ebd., Nr. 70, mit einer Berechnung der Kosten seit der zweiten Restauration; Dépenses relatives au drapeau de la colonne de la place Vendôme depuis le 29 juillet 1830, undatiert, aber etwa August/September 1832, Archives Nationales Paris, F/21/1375. 40 Mély d’Oissel, Directeur des travaux publics an den Minister, 7. 9. 1832, Archives Nationales Paris, F/21/1375.

Napoleon auf der Säule der Großen Armee

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der König am 13. April 1831 den Vorschlag des Ministers für öffentliche Arbeiten, d’Argoult, einen Wettbewerb für eine neue Skulptur auszuschreiben, nachdem Casimir Périer, Innenminister und Vorsitzender des Ministerrats, bereits zuvor das grundsätzliche Einverständnis des Königs mit der Rückführung Napoleons auf die Säule erlangt hatte, möglicherweise in der Annahme, die Statue Chaudets existiere noch.⁴¹ In seinem Bericht für den König, mit dem er den Vorschlag der Wiederaufrichtung der Statue begründete, beklagte der Ministerpräsident die „Verstümmelung“ des Monuments im Jahre 1814 und nannte sie „un triste vestige de l’invasion étrangère“. Das ist zwar eine historisch fragwürdige Feststellung, aber zugleich ein deutlicher Hinweis auf die Motive für die Erneuerung der Statue: Es ging nicht zuletzt darum, eine nationale Schmach zu tilgen. Denkmäler seien wie die Geschichte; sie seien unverletzlich wie sie, müssten alle „souvenirs nationaux“ bewahren und dürften nur unter den Schlägen der Zeit fallen. Votre Majesté ne veut déchirer aucune des pages brillantes de notre histoire; elle admire tout ce qu’admire la France, et elle est fière de tout ce qui enorgueillit la nation.⁴²

In Wirklichkeit war es weniger die Weisheit des Ministers als der Druck der öffentlichen Meinung, der zur Erneuerung der Statue Napoleons führte.⁴³ Hinzu kam, dass das Regime hoffte, durch die Rehabilitierung Napoleons seine eigene Legitimität zu befestigen. Bekanntlich hatte die Legende inzwischen ein Bild des Kaisers gewoben, in dem der Verteidiger und Retter der Revolution, der Kriegsheld und der überragende Anwalt der nationalen Interessen Frankreichs den Despoten hatte vergessen lassen. Noch unter der Restauration hatte sich diese Sicht bei Gelegenheit auch auf der politischen Bühne bereits bemerkbar gemacht. So hatte die Weigerung des österreichischen Botschafters Apponyi, vier Marschälle Napoleons auf Einladungen zu einem Ball mit ihren im Kaiserreich verliehenen Titeln anzusprechen, die einen Herrschaftsanspruch auf Territorien in Österreich und Italien vorspiegelten, am 31. Januar 1827 zu einer lebhaften Debatte in der Deputiertenkammer geführt. Victor Hugo hatte sich durch den Vorfall zu einer Ode A la colonne de la place Vendôme inspirieren lassen, in der die Säule zu einem Zei-

41 Le Moniteur universel, 15. 4. 1831, S. 799; Napoléon. Sur la colonne de la Grande Armée, in: Journal des Artistes et des Amateurs, 5. Jg., Bd. 1, Nr. 16, 17. 4. 1831, S. 293 f., S. 296 f. 42 Ebd., S. 293 f. 43 Vgl. Le National, 29. 7. 1833; danach wurde die Statue „réclamée dès le lendemain de la révolution de juillet par le peuple de Paris“; durch ihre Enthüllung am 28. 7. 1833 habe die Regierung die Möglichkeit erhalten „d’offrir au puissant esprit de nationalité, qui avait besoin de se faire jour, un objet digne de lui“.

218 | II Herrscher und Herrschaft chen der Warnung vor einer Wiederkehr der französischen Armee stilisiert wird, gerichtet an die Sieger von 1814 und 1815, besonders an Österreich: Mais quoi! n’entends-je point, avec de sourds murmures, De ta base à ton front bruire les armures? Colonne! il m’a semblé qu’éblouissant mes yeux, Tes bataillons cuivrés cherchaient à redescendre [. . . ] Que tes demi-dieux, noirs d’une héroïque cendre, Interrompaient soudain leur marche vers les cieux! Leur voix mêlait des noms à leur vieille devise: „Tarente, Reggio, Dalmatie et Trévise!“⁴⁴

Die Erneuerung der Statue auf der Vendôme-Säule war keineswegs der einzige Vorgang, in den der allgemeine Aufschwung des Nationalgefühls und der Prozess der Rehabilitierung Napoleons unter der Julimonarchie mündeten; mindestens ebenso kennzeichnend waren die Vollendung des Arc de Triomphe de l’Etoile im Jahre 1836 und ganz besonders die Rückführung der sterblichen Überreste Napoleons von St. Helena im Jahre 1840.⁴⁵ Zu den Bedingungen der Ausschreibung vom 14. April gehörte die Vorgabe, dass Napoleon – anders als im Werk von Chaudet – in Uniform darzustellen sei, da auch die Figuren auf dem Reliefband in französische Uniformen gekleidet seien.⁴⁶ Gegen das Argument, dass die Kleidung von Feldherr und Soldaten in Übereinstimmung gebracht werden müsse, wurde eingewandt, zu dem antiken Gesamtcharakter des Monuments hätte gleichwohl auch eine Statue nach antiker Manier gepasst.⁴⁷ Das entscheidende Motiv für die Veränderung war politischer Natur. Das Journal des Artistes meinte, die Regierung wolle den General Bonaparte darstellen und nicht den Kaiser Napoleon.

44 Victor Hugo: A la colonne de la place Vendôme. In: Ders.: Odes et ballades. Les orientales. Paris 1912, S. 167; die brüskierten Marschälle waren Macdonald (duc de Tarente), Oudinot (duc de Reggio), Soult (duc de Dalmatie) und Mortier (duc de Trévise); vgl. zu dem Vorfall Hubert Juin: Victor Hugo. Bd. 1: 1802–1843, Paris 1980, S. 493–497, und vor allem Guillaume de Bertier de Sauvigny: Metternich et la France après le congrès de Vienne. Bd. 3: Au temps de Charles X, 1824/1830, Paris 1971, S. 1139–1161; die Debatte in der Kammer am 31. 1. 1827 in: Le Moniteur universel, 1. 2. 1827, S. 142 f. 45 Jean Tulard: Le retour des cendres. In: Pierre Nora (Hrsg.): Les lieux de mémoire. Bd. 2: La nation, Paris 1986, S. 81 ff., S. 92 ff.; Boime: Hollow Icons (wie Anm. 5), S. 37 ff.; Bernard Ménager: Les Napoléon du peuple. Paris 1988, S. 82 f.; Janet Ladner: Napoleon’s Repatriation – Why 1840?. In: Consortium on Revolutionary Europe 1750–1850. Selected Papers. Tallahassee 1995, S. 489–501. 46 Napoléon. Sur la colonne de la Grande Armée (wie Anm. 41,) S. 297. 47 Concours pour la statue de Napoléon. In: Journal des Artistes et des Amateurs. 5. Jg., Bd. 1, Nr. 17, 24. 4. 1831, S. 314.

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Napoléon empereur ne rappelle qu’un despote: Napoléon soldat rappelle un héros. Sous un régime de liberté, il faut ne rappeler que sa gloire militaire.⁴⁸

In der Tat durfte die Rehabilitierung Napoleons nicht so weit gehen, dass sie als Bekenntnis zum Empire als zu einer überlegenen Staatsform und Louis-Philippe als bloßer Platzhalter eines neuen Bonaparte hätten missverstanden werden können. Daher musste das Julikönigtum versuchen, den Napoleonkult mit den Prinzipien der Freiheit zu verbinden, wie sie mit der Revision der Charte von 1830 soeben erst sanktioniert worden waren. Auch aus diesem Grunde konnte Napoleon kaum anders als in Gestalt des Soldaten auf die Säule zurückkehren, wenn man schon eine neue Statue anfertigen musste und den Akt insofern nicht einfach als Heilung der Verstümmelung von 1814 ausgeben konnte. So durfte Napoleon also nur in derselben Rolle auf die Vendôme-Säule zurückkehren, in der ein anderer Sieger von 1805, Admiral Nelson, einige Jahre später in London auf dem Trafalgar Square verewigt werden sollte, als Diener des Vaterlands und als Mehrer seines Ruhms. Als nationaler Held, der den Ruhm der französischen Waffen in alle Teile Europas getragen hatte, und nicht als neurömischer Imperator war Napoleon in der volkstümlichen Erinnerung lebendig geblieben. In der bekannten Uniform, in der er alle seine Schlachten geschlagen hatte, mit dem kleinen Hut und im grauen Gehrock, blieb er im Gedächtnis haften, und so wurde er auch besungen, zum Beispiel von dem Dichter Pierre Jean de Béranger: On parlera de sa gloire Sous le chaume bien longtemps. L’humble toit, dans cinquante ans, Ne connaîtra plus d’autre histoire. [. . . ] Mes enfants, dans ce village, Suivi de rois, il passa. Voilà bien longtemps de ça. Je venais d’entrer en ménage. A pied grimpant le coteau Où pour voir je m’étais mise, II avait petit chapeau Avec redingote grise.⁴⁹

48 Ebd.; Concours pour la statue de Napoléon. In: Journal des Artistes et des Amateurs. 5. Jg., Bd. 1, Nr. 23, 5. 6. 1831, S. 429. 49 Pierre Jean de Béranger: Les souvenirs du peuple. In: Ders.: Œuvres complètes. Bd. 2, 1851, S. 186. Das 1828 geschriebene Lied wurde nach zwei Weisen gesungen; vgl. Pierre Barbier/France Vernillat: Histoire de France par les chansons. Bd. 5: Napoléon et sa légende, 2. Aufl., Paris 1958,

220 | II Herrscher und Herrschaft Unter dem 25. März 1832 berichtete Heinrich Heine aus Paris, selbst den „besonnenen, ächten Demokraten“ sei der Name Napoleon „lieb und werth, weil er fast synonym geworden mit dem Ruhme Frankreichs und dem Siege der dreyfarbigen Fahne“, und er verband diese Feststellung sogleich mit der Vendôme-Säule: Eben weil sie so groß ist und stark, will sich das Volk an sie lehnen, in dieser vagen, schwankenden Zeit, wo die Vendomesäule das Einzige in Frankreich ist, was fest steht. Um diese Säule drehen sich alle Gedanken des Volks. Sie ist sein unverwüstliches eisernes Geschichtsbuch, und es liest darauf seine eigenen Heldenthaten.

Und dann lässt Heine erahnen, auf welche Weise die Verstümmelung des Denkmals von 1814 nach 18 Jahren von vielen Franzosen wahrgenommen wurde: „Besonders aber lebt in seiner Erinnerung die schmähliche Art, wie von den Deutschen das Standbild dieser Säule mißhandelt worden, wie man dem armen Kaiser die Füße abgesägt, wie man ihm, gleich einem Diebe, einen Strick um den Hals gebunden, und ihn herabgerissen von seiner Höhe.“⁵⁰ Nicht umsonst hatte Launay den größten Wert darauf gelegt, die Statue mit Respekt zu behandeln, ihr nicht die Füße abzusägen und ihr kein Seil um den Hals zu legen.⁵¹ Nach dem Bericht Heines indessen verband sich inzwischen Mitleid mit dem geschundenen Denkmal, oder genauer, mit dem vom Schicksal geschlagenen Mann, den es darstellte, mit einer nationalen und zugleich antideutschen Gefühlsaufwallung, obwohl an der Entfernung des Kaiserbilds im April 1814 Deutsche ganz gewiss nicht beteiligt gewesen waren. Durch die Misshandlung seiner Statue hatte der Napoleon der volkstümlichen Erinnerung seine despotischen Verirrungen gesühnt; er durfte wieder als Sohn der Revolution und insofern auch als Vorvater der freiheitlichen Juliverfassung gefeiert werden. In diesem Sinne schloss Heine seine Betrachtung mit der Feststellung: „Wenn man in der Folge den Napoleon wieder hinaufsetzt auf die Vendomesäule, so steht er dort nicht mehr als Imperator, als Caesar, sondern als ein durch Unglück gesühnter und durch Tod gereinigter Repräsentant der Revoluzion, als ein Sinnbild der siegenden Volksgewalt.“⁵² In diesem Geiste wurden nach der Julirevolution Petitionen an die Deputiertenkammer gerichtet mit dem Ziel, die sterblichen Überreste Napoleons nach

S. 176 f. Zur Datierung vgl. Dietmar Rieger: Französische Chansons von Béranger bis Barbara. Französisch/Deutsch, Stuttgart 1987, S. 314. 50 Heinrich Heine: Französische Zustände. Artikel V. Paris, 25. März 1832. In: Ders.: Historischkritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. v. Manfred Windfuhr, Bd. 12/1, bearb. v. Jean-René Derré/Christiane Giesen, Hamburg 1980, S. 126. 51 Vgl. oben. 52 Heine: Französische Zustände (wie Anm. 50), S. 127.

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Frankreich zu holen. Über die Frage, an welcher Stelle der Kaiser in der Heimat seine letzte Ruhestätte finden sollte, entstand alsbald eine lebhafte Diskussion, während der auch immer wieder vorgeschlagen wurde, ihn unter der VendômeSäule beizusetzen.⁵³ Dieser Gedanke lag schon deshalb nahe, weil unter die Trajanssäule in Rom ebenfalls eine Urne mit der Asche des Kaisers gestellt worden war. Die Weigerung der Kammer in der Sitzung vom 2. Oktober 1830, sich mit den Petitionen zu befassen, veranlasste Victor Hugo zur Niederschrift einer weiteren Ode auf die Vendôme-Säule.⁵⁴ In einem der zahlreichen Verse dieser Ode gibt der Dichter dem Gedanken Raum, dass die Verehrung für Napoleon weder die unangemessene Hochschätzung militärischer Gewalt noch die Missachtung der in der Julirevolution neu gewonnenen Freiheit bedeute: La France, guerrière et paisible, A deux filles du même sang: – L’une fait armée invincible, L’autre fait le peuple puissant. La Gloire, qui n’est pas l’aînée, N’est plus armée et couronnée; Ni pavois, ni sceptre oppresseur; La Gloire n’est plus décevante, Et n’a plus rien dont s’épouvante La Liberté, sa grande sœur!⁵⁵

Damit war umschrieben, welcher Napoleon ohne Schaden, ja mit Gewinn für die politische Stabilität in das kulturelle Gedächtnis der Julimonarchie aufgenommen werden konnte: der volkstümliche Heerführer, der ruhmreiche Schlachtensieger, der nationale Held.⁵⁶ Das unterschwellige Fortleben eines volkstümlichen Bonapartismus war in der Julirevolution offen zutage getreten, die Restauration des Kaiserreichs schien für einen Augenblick zum Greifen nahe, zumal der Herzog von Reichstadt damals gerade volljährig geworden war. Louis-Philippe war gut beraten, wenn er das Mögliche versuchte, um diesen politischen Bedürfnissen im

53 Vgl. dazu Michael Paul Driskel: As Befits a Legend. Building a Tomb for Napoleon, 1840–1861. Kent/Ohio, 1993, S. 35 ff., S. 178; Tulard: Le retour des cendres (wie Anm. 45), S. 95. 54 Victor Hugo: A la Colonne. In: Ders.: Poésies. Hrsg. v. Jean Bertrand Barrere, Bd. 1, Paris 1984, S. 213–222. Die Ode ist mit dem Datum des 9. Oktober 1830 versehen. Das Sitzungsprotokoll der Chambre des députés vom 2. 10. 1830 in: Le Moniteur universel, 3. 10. 1830, S. 1218. 55 Hugo: A la Colonne (wie Anm. 54), S. 218. 56 Zum Konzept des kulturellen Gedächtnisses vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992; ders.: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. in: Ders./Tonio Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988, S. 9–19.

222 | II Herrscher und Herrschaft Rahmen der Monarchie Rechnung zu tragen.⁵⁷ Die Vorstellung, dass das Bekenntnis zur gloire, der Stolz auf den Waffenruhm der französischen Armeen, auf solche Weise erneuert werden müsse, dass sie mit der liberté nicht in Widerspruch trete, wurde fast zu einem Gemeinplatz. Im Jahre 1840 brachte der damalige Innenminister Rémusat diese Vorstellung in einer Rede vor der Kammer auf die Formel, dass gerade und nur die Freiheit die Würdigung des Kriegsruhms wieder möglich mache, „car il y a une chose, une seule, qui ne redoute pas la comparaison avec la gloire: c’est la liberté“⁵⁸ Unter solchen Vorzeichen wurde die Säule selbst immer häufiger als Nationaldenkmal, als „monument national“ oder als „colonne nationale“ apostrophiert.⁵⁹ Dass gerade die Säule auch in den Augen des kaisertreuen Volkes eine besondere Symbolkraft besaß, zeigt sich schon daran, dass sowohl 1831 als auch 1832, jeweils am 5. Mai, dem Todestag Napoleons, auf dem VendômePlatz regimefeindliche Demonstrationen stattfanden.⁶⁰ Die 36 eingereichten Modelle wurden vom 5. Juni 1831 an in der Ecole royale des Beaux-arts öffentlich ausgestellt.⁶¹ Die Jury von fünfzehn von der Regierung berufenen Personen, darunter Maler, Architekten und Bildhauer, sprach sich mit sieben zu fünf Stimmen für den Entwurf von Emile Seurre aus.⁶² Zwei volle Jahre später, am 1. Juni 1833, wurde die Skulptur von Crozatier im Beisein des Ministers für Handel und öffentliche Arbeiten, Adolphe Thiers, und mehrerer Abgeordneter gegossen.⁶³ Am 20. Juli 1833 wurde sie auf die Säule gehievt, eingehüllt in ein grünes Tuch mit silbernen Bienen.⁶⁴ Die festliche Enthüllung fand am 28. Juli im Rahmen der Feierlichkeiten anlässlich der dritten Wiederkehr der drei Glorreichen Tage der Julirevolution in Anwesenheit König Louis-Philippes statt. Als die Umhüllung fiel, entblößten der König und die anwesenden Generäle ihre Häupter, und alle Degen wurden der Statue entgegenstreckt.⁶⁵ Da stand er nun, wie ihn Béranger beschrieben hatte, und nicht wie ein römischer Imperator, und die Zeitung Le National schrieb zwei Tage später: „Sous cette redingote et sous le petit

57 Ménager: Les Napoléon du peuple (wie Anm. 45), S. 70 ff., S. 82 f. 58 Zit. nach Tulard: Le retour des cendres (wie Anm. 45), S. 81 f. 59 [Anonym]: La Colonne. L’Ancienne statue de Napoléon et la nouvelle, 28. 7. 1833, S. 4; Concours pour la statue de Napoléon (wie Anm. 47), S. 314. 60 Ménager: Les Napoléon du peuple (wie Anm. 45), S. 77, 80. 61 Napoléon. Sur la colonne de la Grande Armée (wie Anm. 41), S. 297; Concours pour la Statue de Napoléon (wie Anm. 48), S. 429; Le National, 13. 6. 1831. 62 Journal des Artistes et des Amateurs. 5. Jg., Bd. 1, Nr. 25, 19. 6. 1831, S. 472. 63 Ebd., 7. Jg., Bd. 1, Nr. 23, 9. 6. 1833,S. 428. 64 Ebd., 7. Jg., Bd. 2, Nr. 3, 21. 7. 1833, S. 45; Le National, 29. 7. 1833. 65 Le Constitutionnel, 29. 7. 1833.

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chapeau, nous retrouvons le héros des bivouacs et des récits populaires.“⁶⁶ Das Journal des Artistes deutete die Säule auf der Place Vendôme nach ihrer endlichen Wiederherstellung als Apotheose nicht eines einzelnen, sondern als „une apothéose nationale“.⁶⁷ Die künstlerische Qualität der Statue von Seurre wurde dagegen unterschiedlich beurteilt. Mit ihrer Kleidung und der dreieckigen Kopfbedeckung stehe die Figur in Disharmonie mit der „noblesse du monument“, das sie kröne, meinte das Journal des Artistes; es sei zu bedauern, „daß der moderne Geschmack, die Schule der Neuerer, in einem Wort: die Romantik, es dem Bildhauer unmöglich gemacht hätten, etwas Besseres zu schaffen.“ Jedes Talent auf der Welt hätte scheitern müssen an der „redingote“ und dem „petit chapeau“.⁶⁸ Zu Beginn des Jahres 1852 nahm Karl Marx in einer Serie von Artikeln eine Analyse des Staatsstreichs vom 2. Dezember 1851 vor, bekannt unter dem Titel „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“. Nach dem Staatsstreich hatte sich Louis-Napoleon Bonaparte zum Präsidenten auf zehn Jahre bestellen lassen. Die Errichtung des Zweiten Kaiserreichs stand noch bevor. Der letzte Satz der Marxschen Schrift lautet: „Aber wenn der Kaisermantel endlich auf die Schultern des Louis Bonaparte fällt, wird das eherne Standbild Napoleons von der Höhe der Vendômesäule herabstürzen.“⁶⁹ Im Vorwort zur zweiten Auflage der Schrift erklärte Marx im Juni 1869, diese Vorhersage habe sich inzwischen erfüllt.⁷⁰ Mit der Erfüllung kann er nur den im November 1863 erfolgten Austausch der Statue von Seurre gegen eine neue, von Auguste Dumont angefertigte Statue gemeint haben, welche den Kaiser nach dem Vorbild von Chaudet wieder als römischen Imperator darstellte. Mit dem Schlusssatz der Schrift von 1852 hatte Marx also sagen wollen, die Wiederherstellung des napoleonischen Kaisertums durch Louis Bonaparte werde die romantische Erinnerung an den ersten Napoleon, wie sie im Volke lebte und von Seurre in seiner Statue von 1833 zum Ausdruck gebracht worden war, zerstören. Dass dem Neffen Napoleons die Errichtung eines zweiten Kaiserreichs gelang, dazu hat die volkstümliche Verehrung für den Oheim entscheidend beigetragen. Trotzdem entbehrt es nicht der Konsequenz, dass Napoleon III. sich mit der Fi-

66 Le National, 30. 7. 1833. 67 Journal des Artistes et des Amateurs. 7. Jg., Bd. 2, Nr. 5, 4. 8. 1833, S. 75. 68 Ebd., 7. Jg., Bd. 2, Nr. 7, 18. 8. 1833, S. 97 ff. 69 Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In: Ders./Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA). 1. Abt., Bd. 11, Berlin 1985, S. 189. 70 Ders.: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Vorwort zur zweiten Ausgabe (1869). In: Ders./Friedrich Engels: Werke. Bd. 8, Berlin 1960, S. 560.

224 | II Herrscher und Herrschaft gur des bloßen Schlachtensiegers auf der Säule nicht zufrieden gab. Im Unterschied zur Julimonarchie bezog sein Regime seine Legitimation wesentlich aus dem Ersten Kaiserreich. Es verstand sich als dessen Restauration, und insofern lag es nahe, dass Napoleon III. danach strebte, den umfassenden Anspruch seines Kaisertums auch auf der zum nationalen Denkmal gewordenen Säule authentisch zur Geltung zu bringen. Mit dem Bekenntnis zu Napoleon dem Kaiser erhöhte er sich selbst, während Louis-Philippe sich damit erniedrigt hätte. Sich dagegen wie dieser auf Napoleon, den Feldherrn, zu berufen, hätte im Zweiten Kaiserreich nur zu abträglichen Vergleichen herausgefordert. Am 4. November 1863 wurde die Statue von Emile Seurre von der Säule herabgelassen, um in der Vorstadt, auf dem rond point der Place Napoléon in Courbevoie, ihren neuen Standort einzunehmen; am 5. November wurde Dumonts Statue auf die Säule gesetzt.⁷¹ Wenige Tage zuvor hatte Napoleon III. entschieden, dass die Aufstellung von keinerlei Zeremonien begleitet werde.⁷² Somit ließ sich der Kaiser eine Gelegenheit entgehen, durch eine öffentliche Demonstration der imperialen Traditionen Frankreichs seine eigene Stellung zu befestigen. Der Kontrast zum Verfahren Louis-Philippes im Juli 1833 ist unverkennbar. Die Gründe für den Verzicht auf eine feierliche Enthüllung der neuen Statue sind möglicherweise in der Veränderung des innenpolitischen Klimas zu suchen, die seit dem Frühjahr verstärkt fühlbar wurde. Die Wahlen vom Mai hatten der Opposition 35 Sitze eingebracht, in Paris war kein einziger offizieller Kandidat gewählt worden, und am 11. Januar 1864 sollte Adolphe Thiers in einer Aufsehen erregenden Rede im Corps législatif von der Regierung die Garantie von fünf fundamentalen Freiheiten fordern und damit den Prozess der allmählichen Liberalisierung des Regimes einleiten.⁷³ Zu dieser Entwicklung hätte eine feierliche Beschwörung des Ersten Kaiserreichs schwerlich gepasst, zumal sie der Opposition einen günstigen Anlass geboten hätte, ihre freiheitlichen Forderungen erneut vor der Öffentlichkeit auszubreiten. So gesehen erfolgte der Austausch der Statuen im Grunde zu spät. Es wäre vermutlich klüger gewesen, Napoleon hätte ihn unmittelbar nach dem erfolgreichen

71 Le Temps, 5. 11. 1863. 72 Ministère de la Maison de l’Empereur et des Beaux-arts, Direction des Bâtiments civils, Vermerk, 28. 10. 1863, Archives Nationales Paris, F/21/757, Nr. 6. Im Gegensatz dazu schreibt Boime: Hollow Icons (wie Anm. 5), S. 9, Dumonts Statue sei „with maximum publicity and pageantry“ enthüllt worden. Zutreffend dagegen: Matthew Truesdell: Spectacular Politics. Louis-Napoléon Bonaparte and the Fête impériale. 1849–1870. New York/Oxford 1997, S. 156 f. 73 Vgl. Louis Girard: Napoléon III. Paris 1986, S. 360 ff.; John Patrick Tuer Bury/Robert P. Tonibs: Thiers 1797–1877. A Political Life. London 1986, S. 168. Vgl. im übrigen Truesdell: Spectacular Politics (wie Anm. 72), S. 157 f.

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Abschluss des Krimkriegs und der Pariser Friedenskonferenz von 1856 vornehmen lassen. So aber wurde in demselben Augenblick ein römischer Imperator auf die Säule gehoben, als die Machtstellung des Kaisers bereits im Schwinden begriffen war. Napoleon III. hatte an diesem 5. November 1863 jedoch anderswo einen vielbeachteten Auftritt. Zur Eröffnung der Legislaturperiode sprach er vor beiden Häusern des Parlaments und äußerte sich angesichts des polnischen Aufstands vor allem zur Außenpolitik. Dabei ließ er die Sätze fallen: „Les traités de 1815 ont cessé d’exister. La force des choses les a renversés ou tend à les renverser presque partout.“⁷⁴ Das lässt sich durchaus auch als Kommentar zur Aufstellung der neuen Kaiserstatue verstehen, hatten diese Verträge doch den Sturz des Ersten Kaiserreichs besiegelt. Vielleicht hatte Napoleon III. den Austausch der Skulpturen auch deshalb ohne weitere Formalitäten vornehmen lassen, weil er sich der Beliebtheit des Werks von Seurre bewusst war. Zumindest ein Teil der Öffentlichkeit bedauerte jedenfalls die Entfernung der volkstümlichen Figur des Kriegshelden. Der Napoleon Seurres, schrieb Edmond Texier im Siècle, „ne rappelait ni Trajan ni Charlemagne; il était à la fois le Napoléon de la legende et de l’histoire, le Napoléon chanté par Béranger et raconté par M. Thiers“; und Emile de la Bédollière meinte wenige Tage später in derselben Zeitung, „ce travestissement olympien“, in der sich der Kaiser auf der Säule nach dem Wechsel wieder präsentiere, passe nicht mehr in diese Zeit.⁷⁵ Am 2. September 1870 geriet Napoleon III. bei Sedan in preußische Gefangenschaft. Zwei Tage später, am 4. September 1870, wurde in Paris die Republik ausgerufen. Eine Versammlung von Künstlern der Hauptstadt gründete eine Vereinigung und wählte den Maler Gustave Courbet zu ihrem Präsidenten. Viele Künstler sorgten sich um den Verbleib von Kunstwerken, die der gestürzte Kaiser aus den staatlichen Museen in seine Residenzen hatte bringen lassen. Zur Wahrnehmung der öffentlichen Ansprüche auf diese Kunstwerke wurde eine Kommission gebildet, deren Vorsitz ebenfalls Courbet übernahm.⁷⁶ Ausdrücklich in seiner Eigenschaft als Vorsitzender dieser Kommission ersuchte der „citoyen Courbet“ am 14. September 1870 die Regierung in einem öffentlichen Appell um die Genehmigung, die Säule auf der Place Vendôme zu demontieren. Courbet gebrauchte das Wort „déboulonner“, eine sprachliche Neuschöpfung, mit der of-

74 Le Moniteur universel. Journal officiel de l’Empire Franais, 6. 11. 1863, S. 1311. 75 Le Siècle, 1. 11. und 4. 11. 1863. 76 Rodolphe Walter: Un dossier délicat: Courbet et la colonne Vendôme. In: Gazette des Beauxarts. 115. Jg., 1973, S. 173; Alfred Darcel: Les musées, les arts et les artistes pendant le siège de Paris. In: Gazette des Beaux-arts. 13. Jg., 1871, S. 288.

226 | II Herrscher und Herrschaft fenbar die Vorstellung nicht der Zerstörung, sondern der Zerlegung des Denkmals in seine Bestandteile verbunden war. Zur Begründung hieß es: Attendu que la colonne Vendôme est un monument dénué de toute valeur artistique, tendant à perpétuer par son expression les idées de guerre et de conquête qui étaient dans la dynastie impériale, mais que réprouve le sentiment d’une nation républicaine; Attendu qu’il est, par cela même, antipathique au génie de la civilisation moderne et à l’idée de fraternité universelle qui désormais doit prévaloir parmi les peuples; Attendu aussi qu’il blesse leurs susceptibilités légitimes et rend la France ridicule et odieuse aux yeux de la démocratie européenne, Emet le vœu usw.⁷⁷

Der erste Absatz stellt die Forderung nach Beseitigung der Säule in den Zusammenhang mit dem soeben erfolgten Regimewechsel und erinnert insofern an die Entfernung der Napoleon-Statue durch Royalisten im Jahre 1814 und vor allem an die zahlreichen Denkmalsstürze nach der Absetzung Ludwigs XVI. im Jahre 1792. Die Behauptung, dem Monument fehle jeder künstlerische Wert, wird ausdrücklich damit begründet, dass sie nach Gegenstand und Darstellungsweise kriegerische Gesinnungen fördere. Courbet unterschied also nicht zwischen der künstlerischen Qualität und der inhaltlichen Aussage; er schrieb also nicht etwa, der Wert des Denkmals als Kunstwerk sei nicht groß genug, um seine Erhaltung trotz der unerwünschten politischen Botschaft zu rechtfertigen. Dass durch die Reihung der Argumente in dem Appell dennoch der Anschein erweckt wird, als sei ein ästhetisches Urteil der wichtigste Grund für das Verlangen nach Beseitigung der Säule, kann nur damit erklärt werden, dass Courbet in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Künstlerkommission für rein politische Stellungnahmen gar kein Mandat gehabt hätte. Er durfte aber damit rechnen, dass eine öffentliche Forderung, wenn sie von der Kommission ausging, leichter Gehör fand, als wenn er nur als Privatmann aufgetreten wäre. Dass er den Appell vom 14. September 1870 formal als Sprecher der Künstler an die Regierung gerichtet hatte, gab dem Maler später, als er beim Verhör vor dem Militärgericht darauf angesprochen wurde, die Möglichkeit zu behaupten, dass er die ganze Frage nur vom künstlerischen Standpunkt aus betrachtet habe.⁷⁸

77 Zit. nach: Maurice Chouiy: Bonjour, Monsieur Courbet! Paris 1969, S. 73 f. 78 IIIe Conseil de Guerre (séant à Versailles), Audience du 14 août. In: Gazette des Tribunaux. 14./15. 8. 1871, S. 435. Auf ausdrückliche Aufforderung des Staatsanwalts gab Courbet bei dieser Gelegenheit ein Urteil über die künstlerische Qualität der Säule ab: „Cette colonne était une faible représentation de la colonne Trajane, dans des proportions mal combinées. Il n’y a pas de perspectives, ce sont des bonshommes qui ont sept têtes et demi, toujours la même à quelque hauteur que ce soit. Ce sont des bonshommes en pain d’épice. Et j’étais honteux qu’ on montrât

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Der Seitenhieb auf die „kaiserliche Dynastie“, ebenfalls im ersten Abschnitt, lässt erkennen, dass die Zerstörung der Säule vor allem eine antibonapartistische Demonstration hätte sein sollen. Courbet hatte seine Abneigung gegen das Zweite Kaiserreich schon vor dessen Zusammenbruch offen bekannt, als er im Juni 1870 die Annahme des Kreuzes der Ehrenlegion zurückwies.⁷⁹ Im übrigen wollte Courbet sich keineswegs mit dem Abbau der Vendôme-Säule und dem damit verknüpften Demonstrationseffekt begnügen. Vielmehr forderte er im zweiten Teil des Appells ausdrücklich auch die Beseitigung der Statue von Seurre, die seit 1863 in Courbevoie aufgestellt war. Außerdem sollten alle Straßennamen geändert werden, „qui rappellent pour les uns des victoires, des défaites pour les autres.“⁸⁰ An dieser Stelle vermischte sich der antibonapartistische und republikanische Eifer Courbets mit einer starken Dosis von Antinationalismus und Defätismus. Immerhin war der Feind nach dem Erfolg bei Sedan gerade im Begriff, auf die Hauptstadt vorzurücken. Vor welcher „démocratie européenne“ sich Frankreich in diesem Augenblick mit der Besinnung auf seine kämpferischen Tugenden hätte lächerlich machen sollen, bleibt unerfindlich. Wenn der Feind im Land steht und die Abtretung von Provinzen fordert, ist es schwierig, eine Neuordnung der internationalen Beziehungen im Zeichen der „fraternité universelle“ einzuleiten. Am 18. März 1871 brach in Paris der Aufstand der Commune aus. Courbet kandidierte am 26. März bei den Wahlen für den Conseil, verfehlte jedoch knapp sein Ziel. Erst bei den Nachwahlen vom 16. April hatte er Erfolg.⁸¹ Als der Conseil am 12. April das eingangs zitierte Dekret verabschiedete, mit dem die Zerstörung der Vendôme-Säule angeordnet wurde, war Courbet somit noch nicht Mitglied dieses Gremiums. Diese Tatsache wird in der Literatur als Beweis dafür gewertet, dass Courbet keinen Anteil am Zustandekommen des Beschlusses gehabt haben könne.⁸² In der Tat ergibt sich aus dem Sitzungsprotokoll, dass das Dekret

cela comme une œuvre d’art.“ In diesem Urteil fehlt jeder Bezug auf die inhaltliche Aussage des Monuments. Man wird daher nicht annehmen können, Courbet habe einen Kunstbegriff gepflegt, demzufolge Sujet und Aussage eines Kunstwerks in die ästhetische Beurteilung einbezogen werden mussten. Dementsprechend antwortete der Maler (ebd.) auf die nächste Frage des Staatsanwalts, ob er also von „künstlerischem Eifer“ angetrieben gewesen sei: „Tout simplement. Je n’étais jamais en aucune façon un homme politique. Je n’ai jamais cessé dans ma manière d’agir de protéger les arts.“ Den Vorrang des politischen Motivs betont auch Albert Boime: Art and the French Commune. Imagining Paris after War and Revolution. Princeton 1995, S. 193 ff. 79 Choury: Bonjour, Monsieur Courbet! (wie Anm. 77), S. 68 ff. 80 Zit. nach ebd., S. 74. 81 Walter: Un dossier délicat (wie Anm. 76), S. 174 f. 82 Ebd., S. 177; Choury: Bonjour, Monsieur Courbet! (wie Anm. 77), S. 102.

228 | II Herrscher und Herrschaft auf Antrag von Félix Pyat beschlossen wurde.⁸³ Nach der Analyse von Courbets Appell vom 14. September 1870 erscheint es jedoch fraglich, ob der Verzicht auf die Erwähnung künstlerischer Gesichtspunkte im Text des Dekrets vom 12. April 1871 gleichzeitig dafür spricht, dass Courbet auch nicht informell an seiner Vorbereitung mitgewirkt hat.⁸⁴ Der Text des Dekrets ist kürzer und damit straffer als der Appell vom September, und er ist schärfer formuliert; aber er enthält keinen Gedanken, der sich nicht auch dort schon findet.⁸⁵ Für Courbets geradezu fanatischen Willen zur Beseitigung des Monuments sprechen schließlich zwei weitere Tatsachen. Einmal hatte er diese Maßnahme im September nicht einfach nur gefordert, sondern er hatte bei der Regierung ausdrücklich um die Genehmigung nachgesucht, das Werk selbst auszuführen. Zum andern verlangte er am 27. April im Conseil der Commune, inzwischen Mitglied dieses Gremiums, dass das Dekret vom 12. des Monats auch tatsächlich umgesetzt werde.⁸⁶ Das Plädoyer des Staatsanwalts im Prozess gegen Courbet und andere Mitglieder der Commune hob ausdrücklich auf diesen Fanatismus ab: II avait une haine stupide pour un monument élevé à la gloire de nos armes, monument devenu plus sacré en présence des calamités qui venaient de frapper le pays.⁸⁷

Der Antrag vom 27. April auf Durchführung des Dekrets vom 12. belastete Courbet im Prozess schwer;⁸⁸ und am Ende wurde er von allen Anklagepunkten, in denen er der Mitverantwortung für die Verbrechen der Commune bezichtigt wurde, freigesprochen mit Ausnahme eines einzigen: der „complicité de destruction de monuments“; für diese Tat wurde er am 2. September 1871 zu sechs Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe von 500 Francs verurteilt.⁸⁹ Denn Courbets Mahnung vom 27. April war beherzigt und die Säule tatsächlich zerstört worden. Ursprünglich war die Aktion für den 5. Mai, Napoleons Todestag, geplant gewesen; die Vorbereitungen konnten jedoch erst zehn Tage später abgeschlossen werden, so dass der Denkmalssturz schließlich am 16. Mai voll-

83 Bourgin/Henriot: Procès-verbaux de la Commune de 1871 (wie Anm. 1), S. 188. 84 Diese Meinung vertritt Walter: Un dossier délicat (wie Anm. 76), S. 177. 85 Vgl. oben. 86 Bourgin/Henriot: Procès-verbaux de la Commune de 1871 (wie Anm. 1), S. 522: „Courbet demande que l’on exécute le décret de la Commune sur la démolition de la colonne Vendôme.“ 87 IIIe Conseil de Guerre (séant à Versailles), Audience du 23 août. In: Gazette des Tribunaux. 24. 8. 1871, S. 464. 88 Ebd.: „il y a même fait personnellement une motion criminelle“. 89 IIIe Conseil de Guerre (séant à Versailles). Audience du 2 septembre. In: Gazette des Tribunaux, 3. 9. 1871, S. 499.

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zogen wurde. Angesichts dieser langen Vorlaufszeit muss man sich fragen, ob die Säule auch zerstört worden wäre, wenn Courbet nicht an die Ausführung des Dekrets erinnert hätte; denn schon am 21. Mai sollten reguläre Truppen in die Hauptstadt eindringen und den Aufstand der Commune blutig niederschlagen. Die Säule wurde wie ein Baum gefällt. Oberhalb des Sockels war eine große Kerbe in den Säulenschaft geschlagen worden, so dass sie in der Folge leicht mit Tauen zu Fall gebracht werden konnte. Sie stürzte auf ein Bett aus Mist und Reisig, das vorbereitet worden war, um den Sturz abzufedern: ob zur Erhaltung der Reliefs oder zum Schutz der umstehenden Gebäude, die bei einem harten Aufschlag des Kolosses von umherfliegenden Splittern hätten getroffen werden können, ist nicht geklärt. Courbet behauptete später, er selbst habe das Reisig ausbreiten lassen, um die Säule zu retten.⁹⁰ Das würde mit seiner angeblich von Anfang an verfolgten Zielsetzung übereinstimmen, die Säule nicht zu zerstören, sondern bloß zu zerlegen, und, wie er später vor Gericht ausführte, an einem seiner Meinung nach geeigneteren Ort, nämlich auf der Esplanade vor dem Hôtel des Invalides, wieder aufzubauen.⁹¹ Als im Jahre 1873 gegen Courbet beim Tribunal civil de la Seine von der Regierung eine Zivilklage mit dem Ziel angestrengt wurde, ihn unter Berufung auf die Entscheidung des Militärgerichts von 1871 zur Übernahme der Kosten für die Wiederherstellung der Säule zu verurteilen, schrieb der Maler an den Präfekten des Departements Doubs, nicht er habe die Säule umgeworfen; ihre Zerstörung sei vielmehr vollbracht worden „par le sentiment public et l’action d’une révolution sociale.“⁹² An dieser Aussage ist zweifellos richtig, dass die Beseitigung der Säule im Einklang stand mit den revolutionären Zielen der Commune insgesamt. Sie war ein Akt, der ihr Bestreben symbolisierte, die Gesellschaft Europas auf eine neue Grundlage zu stellen, allen kriegerischen Ehrgeiz und den Nationalismus zu überwinden und ein Zeitalter des allgemeinen Völkerfriedens einzuleiten. Das war mehr als die bloße Bekämpfung des Bonapartismus. Vielmehr wollte die Commune sich von aller bisherigen Geschichte lossagen. Von dieser Idee, so

90 Courbet an Etienne Baudry, 18. 6. 1875. In: Roger Bonniot: Le „déboulonneur“ Courbet et la réédification de la colonne Vendôme. Interventions de ses amis saintais en faveur de Gustave Courbet en exil (1875). In: Gazette des Beaux-arts, 109. Jg., 1967, S. 229: „jai sauvé la colonne même dans sa chute (a laquelle je nai pu m’opposer on ne s’oppose pas a deux millions d’individus) c’est moi qui ait fait mettre les facines pour prévoir les dégats et les brisures“ (Orthographie nach dem Original). 91 IIIe Conseil de Guerre (séant à Versailles). Audience du 11 août In: Gazette des Tribunaux, 12. 8. 1871, S. 429. 92 Courbet an de Sandrans, Préfet du Doubs, Ornans, 12. 7. 1873. In: Bonniot: Le „déboulonneur“ Courbet (wie Anm. 90), S. 233.

230 | II Herrscher und Herrschaft utopisch sie auch gewesen sein mag, scheint auch Courbet durchdrungen gewesen zu sein, und so muss man die Zerstörung der Vendôme-Säule auch in diese weiteren Zusammenhänge einordnen.⁹³ Damit unterstreicht die zitierte Briefstelle aber zugleich noch einmal, dass es eben doch nicht künstlerische, sondern politische Gesichtspunkte waren, die ihn bei seinem Kampf gegen die Säule beherrscht hatten. Aufschlussreich für die politischen Utopien, denen Courbet während des Aufstands der Commune nachhing, ist sein Appell an die Pariser Künstler vom 5. April, in dem es unter anderem heißt: Ah! Paris, Paris, la grande ville vient de secouer la poussière de toute féodalité. [. . . ] Sa révolution est d’autant plus équitable qu’elle part du peuple. Ses apôtres sont ouvriers, son Christ a été Proudhon. [. . . ] Notre ère va commencer; coïncidence curieuse, c’est dimanche prochain, le jour de Pâques; est-ce ce jour-là que notre résurrection aura lieu? Adieu le vieux monde et sa diplomatie.⁹⁴

Vor der drohenden Verpflichtung zur Schadensersatzleistung floh Courbet am 22. Juli 1873 in die Schweiz, zuerst nach Vevey und danach in das benachbarte La Tour-de-Peilz.⁹⁵ Dort ist er am 31. Dezember 1877 gestorben, ohne Frankreich wiedergesehen zu haben. Seine Schuld gegenüber dem französischen Staat war im Mai 1876 durch Gerichtsbeschluss auf 323 000 Francs festgesetzt worden.⁹⁶ Schon am 22. Mai 1871 hatte Jules Simon, Minister für Unterricht und Kultus, vor der Nationalversammlung die Vorlage eines Gesetzentwurfs zur Wiederherstellung der Vendôme-Säule angekündigt.⁹⁷ Mit 466 zu 60 Stimmen beschloss das Gremium am 30. Mai 1873 die Wiederaufrichtung der Säule in der Form, wie sie vor der Zerstörung bestanden hatte.⁹⁸ Mit dieser überwältigenden Mehrheit gaben die Abgeordneten einer Stimmung Ausdruck, die in der Nation weit verbreitet war, selbst in Kreisen kritischer Intellektueller. Victor Hugo hatte die Zerstörung der Vendôme-Säule in einer spontanen Reaktion schon am 26. Mai 1871 „un acte de

93 Vgl. dazu Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich (zuerst 1871). 3. Aufl. 1891. In: Ders./ Friedrich Engels: Werke. Bd. 17, Berlin 1962, S. 346: „Und, um ganz unverkennbar die neue geschichtliche Ära zu bezeichnen, die sie einzuleiten sich bewußt war, warf die Kommune [. . . ] das kolossale Symbol des Kriegsruhms nieder, die Vendôme-Säule.“ 94 Zit. nach: Choury: Bonjour, Monsieur Courbet! (wie Anm. 77), S. 90 f. 95 Bonniot: Le „déboulonneur“ Courbet (wie Anm. 90), S. 234. 96 Ebd., S. 242. 97 Annales de l’Assemblée nationale. Bd. 3, 22. 5. 1871, S. 110. 98 Ebd., Bd. 18, 30. 5. 1873, S. 151 ff.

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lèse-nation“ genannt.⁹⁹ Zwanzig Jahre später beschrieb Emile Zola in seinem Roman „La Débâcle“, was die Figur des Maurice über die Commune dachte und dass „de toutes les violences, une seule lui avait serré le cœur d’une angoisse secrète, le renversement de la colonne Vendôme“; Maurice hatte nämlich noch im Ohr, was ihm sein Großvater einst erzählt hatte von „Marengo, Austerlitz, Iéna, Eylau, Friedland, Wagram, la Moskowa, des récits épiques dont il frémissait encore“.¹⁰⁰ Vereinzelte Anregungen, die Säule nicht wieder aufzubauen, hatten keine Resonanz gefunden. Gründlicher scheint dagegen die Frage erörtert worden zu sein, was für eine Figur auf ihre Spitze gestellt werden solle. Minister Simon hatte 1871 eine Statue vorgeschlagen, welche Frankreich darstellen sollte. Graf Joachim Murat brachte 1873 die Wiederaufstellung der Statue von Seurre ins Gespräch.¹⁰¹ Die Debatte zeigt, dass einige Abgeordnete es als problematisch empfanden, dass ausgerechnet die Republik, die aus dem schmählichen Zusammenbruch des Zweiten Kaiserreichs hervorgegangen war, Napoleon I. in der Pose des Imperators wieder auf den Sockel stellen sollte. Dass die Nationalversammlung mit überwältigender Mehrheit über diese Bedenken hinwegging, bedarf der Erklärung. Zunächst war die Säule mit der Statue von Dumont zwar ein Denkmal Napoleons des Kaisers, aber nach dem verlorenen Krieg gegen die Deutschen von 1870/71 lag ihre Bedeutung nicht mehr nur in diesem imperialen Charakter. Vielmehr gewann das Monument nach der Niederlage die Funktion, die französische Nation durch die Erinnerung an die Tage nationalen Ruhms wieder aufzurichten. Diese Wirkung wäre freilich auch durch die Krönung der Säule mit der Statue von Seurre mit dem grauen Gehrock und dem kleinen Hut erzielt worden. Mit dem Rückgriff auf dieses Werk hätten die Franzosen Napoleon I. kaum weniger Ehre angetan und hätten doch zugleich ihren ganzen Unmut über Napoleon III. zum Ausdruck bringen können, der die Statue von Seurre in die Vorstadt verbannt hatte. Dass diese Möglichkeit nicht ergriffen wurde, erklärt sich damit, dass man sich unter keinen Umständen den Anschein geben wollte, als anerkenne man auch nur de facto irgendeinen Akt der Commune. Die Formulierung im Gesetzentwurf vom 30. Mai 1873, die Säule solle wiederhergestellt werden, „telle qu’elle existait au moment de sa destruction“, ist nicht nur eine Verdeutlichung des Ziels der Restaurierung des Monuments, sondern zugleich ein politisches

99 Victor Hugo: A M. le rédacteur de L’Indépendance belge, Bruxelles, 26. 5. 1871. In: Ders.: Œuvres complètes, Politique. Hrsg. v. Jean-Claude Fizaine, Paris 1985, S. 796. 100 Emile Zola: La Débâcle, 3.7. Hrsg. v. Henri Mitterand, Paris 1984, S. 541; über die Berichterstattung Zolas aus Paris während der Commune für den Sémaphore de Marseille vgl. Walter: Un dossier délicat (wie Anm. 76), S. 176 ff., S. 183, Anm. 17. 101 Annales de l’Assemblée nationale. Bd. 3, 22. 5. 1871, S. 151; Annexe Nr. 1697, S. 5.

232 | II Herrscher und Herrschaft Programm. Die getreue Wiederherstellung des Denkmals gewann dadurch eine ganz ähnliche Funktion wie seine Zerstörung am 16. Mai 1871: Sie sollte eine damnatio memoriae bewirken. Die Spuren des Aufstands der Commune sollten so vollständig wie möglich getilgt werden. Die Commune hatte die bürgerliche Gesellschaft aufs tiefste erschreckt. Sie wurde als ein Ereignis ohne Beispiel in der europäischen Geschichte, als schwere Bedrohung der sozialen Ordnung, ja geradezu als Zivilisationsbruch empfunden: [. . . ] la lutte terrible qu’il a fallu soutenir pour renverser ce gouvernement insurrectionnel et reconquérir Paris, l’effroyable catastrophe dans laquelle les chefs de la Commune vaincue ont voulu ensevelir leur défaite, prouvent assez qu’il s’agissait là, non d’une simple insurrection, mais d’une de ces guerres sociales qui ont effrayé l’antiquité et que notre civilisation chrétienne semblait avoir à jamais reléguées dans les souvenirs du passé.¹⁰²

Das Ziel, das Denkmal ohne Rücksicht auf die Gültigkeit seiner Aussage in den Zustand zurückzuversetzen, in dem es sich vor dem Aufstand der Commune befunden hatte, bewirkte zwangsläufig seine Historisierung, denn das vorrangige Motiv für seine Wiederherstellung war nicht das Bedürfnis nach Identifizierung mit der Denkmalsidee oder der dargestellten Persönlichkeit, und wenn eine legitimatorische Funktion für die Dritte Republik mit der Restaurierung verbunden war, dann am ehesten im Sinne der vollständigen Austilgung aller Überreste und Erinnerungen an die Commune. Prägnant brachte diese Historisierung Emile Villemot im Leitartikel der Zeitung L’ Opinion vom 30. Dezember 1875 anlässlich der Wiederaufstellung der Statue von Dumont am Vortag zum Ausdruck. Der Autor trifft am Fuße der vollständig restaurierten Säule einen Kollegen von einer anderen Zeitung, und dieser meint, sie könnten sich gegenseitig dazu beglückwünschen, dass „l’auguste bonhomme de là-haut est en bronze“. Denn wäre er „en chair et en os“, dann hätte keiner von uns beiden „l’honneur d’être tiré chaque jour à plusieurs milliers d’exemplaires.“¹⁰³ Zu dieser Distanzierung paßt, daß der Abschluß der Restaurierung und die Wiederaufstellung der Statue nicht festlich begangen wurden. Gegen die These, die Wiederherstellung der Säule sei in erster Linie erfolgt, um die Spuren der Commune zu beseitigen, könnte eingewandt werden, dass andere Zerstörungen der Commune nicht rückgängig gemacht worden seien, zum Beispiel die Zerstörung der Tuilerien. Obwohl ein Wiederaufbau des Schlosses

102 Martial Delpit: Rapport, Annexe au procès-verbal de la séance du 22 décembre 1871. In: Assemblée nationale. Session 1871, Nr. 740, Enquête parlementaire sur l’insurrection du 18 mars, Bd. 1, Versailles 1872, S. 2. 103 Emile Villemot: Au pied de la colonne. In: L’Opinion, 30. 12. 1875.

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zumindest in den ersten Jahren möglich gewesen wäre, seien die Ruinen dem Verfall preisgegeben worden, um schließlich über ein Jahrzehnt nach dem Brand vollends abgetragen zu werden. Einer genaueren Prüfung hält der Einwand dennoch nicht stand. Noch im Sommer 1871 beauftragte der Chef du Pouvoir Exécutif, Adolphe Thiers, den Architekten des Louvre und der Tuilerien, Hector Lefuel, mit der Ausarbeitung eines Kostenvoranschlags für den Wiederaufbau des Schlosses. Das Ergebnis seiner Berechnungen legte Lefuel dem Minister für öffentliche Arbeiten am 12. August 1871 vor.¹⁰⁴ Schon dieser erste Bericht lässt erkennen, warum der Wiederaufbau der Tuilerien auf ungleich größere und im Ergebnis, wie sich zeigen sollte, unüberwindliche Schwierigkeiten stieß. Zunächst war mit dem Vielfachen an Kosten zu rechnen. Während das Gesetz über die Wiederherstellung der Vendôme-Säule von 1873 der Regierung zur Finanzierung einen Kredit von 250 000 Francs einräumen sollte, bezifferte Lefuel die Kosten für den Wiederaufbau der Tuilerien noch ohne Innenausbau auf 8,4 Millionen Francs. Das nächste Problem war die Frage, ob die Gelegenheit nicht genutzt werden sollte, um die von Louis-Philippe und von Napoleon III. vorgenommenen baulichen Veränderungen wieder zu beseitigen. Lefuel sprach sich dafür aus, dem Schloss die im 16. Jahrhundert durch Philibert Delorme und Jean Bullant verliehene Gestalt zurückzugeben, obwohl er zu wissen glaubte, dass vermutlich der überwiegende Teil der öffentlichen Meinung die getreue Wiederherstellung des Zustands, wie er vor der Commune bestanden hatte, wünsche, weil dieses Verfahren als „la plus simple et la plus juste réparation de l’acte de Vandalisme, commis par des fous furieux“, angesehen würde, während in der Rekonstruktion des Renaissanceschlosses die vertrauten Tuilerien für das Publikum kaum noch erkennbar wären.¹⁰⁵ Diese Diskussion erinnert natürlich an die Überlegungen, ob man für die Vendôme-Säule nicht auf den von Seurre geschaffenen Napoleon zurückgreifen solle. Ein Beschluss über die sofortige Wiederherstellung war für die Tuilerien noch aus einem weiteren Grund schwerer zu fassen als für die Vendôme-Säule. Es fehlte das Einverständnis über die Zweckbestimmung des Gebäudes. Ein Denkmal bleibt ein Denkmal, ganz gleich unter welchem Regime; ein Königsschloss aber kann kein Königsschloss bleiben in einer Republik. Nun blieb die Frage, ob Frankreich nicht doch wieder zur Monarchie zurückkehren solle, bis 1876 offen. Hätte die Nationalversammlung die Monarchie wiederhergestellt, dann hätte man natürlich auch die Tuilerien wieder als Residenz gebraucht. Das konnte

104 Lefuel an den Ministre des Travaux publics, 12. 8. 1871. Archives Nationales Paris, F/21/881. 105 Bericht Lefuels an den Conseil général des Bâtiments civils in der Sitzung vom 16. 2. 1872. Archives Nationales Paris, F/21/881.

234 | II Herrscher und Herrschaft 1871 aber niemand absehen, und so blieb dem Staats- und Regierungschef Thiers zunächst gar nichts anderes übrig, als Lefuel die Aufgabe zu stellen „de dresser un plan sans un programme“ und vor allem anderen „de faire disparaître au plus vite les ruines, qu’a laissées la Commune et qui déshonorent Paris.“¹⁰⁶ Nach weiteren fruchtlosen Debatten, die sich jahrelang hinzogen, schlug eine Regierungskommission am 28. Oktober 1877 schließlich vor, die Tuilerien in derjenigen Gestalt wieder aufzubauen, in der Ludwig XIV. sie hinterlassen hatte, und ein Museum darin einzurichten.¹⁰⁷ Inzwischen hatte sich der Zustand der Ruinen unter den Einflüssen der Witterung allerdings in einem Maße verschlechtert, dass die Fachleute sich nicht darüber einig werden konnten, ob eine Restaurierung überhaupt noch möglich wäre oder ob die Wiederherstellung des Schlosses nicht auf einen völligen Neubau hinauslaufe. Angesichts dieser Diskussion verstärkte sich der Druck aus der Kammer, auf alle Fälle erst einmal die Ruinen zu beseitigen. Georges Clemenceau beschwor die Abgeordneten am 29. Juli 1879 „pour l’honneur de Paris, pour l’honneur de la France, ôtez-nous ces ruines qui nous humilient et qui déshonorent la ville de Paris!“¹⁰⁸ Das war noch immer dasselbe Anliegen, das Thiers schon unmittelbar nach der Niederwerfung der Commune zum Ausdruck gebracht hatte. In der Debatte betonten Clemenceau und andere Abgeordnete, dass für die Zukunft alle Optionen für einen Wiederaufbau offen blieben; entscheidend sei für den Augenblick, dass endlich die Spuren des nationalen Unglücks beseitigt würden. Am 21. März 1882 verabschiedete die Kammer, am 27. Juni 1882 der Senat ein Gesetz, das die Entfernung der Ruinen und den Bau eines Museums für moderne Kunst nach Plänen von Charles Garnier, Lefuels Nachfolger, vorsah. Die Ruinen wurden bis September 1883 beseitigt; das Museum wurde nie gebaut.¹⁰⁹ Im Vergleich zur Geschichte der VendômeSäule hat sich jedoch gezeigt, dass dieselbe Absicht, die dort die rasche und getreue Wiederherstellung bewirkte, hier nach langen Debatten schließlich zur Abtragung der Ruinen führte: die Absicht nämlich, die Spuren der Commune möglichst vollständig zu beseitigen.

106 Lefuel an den Ministre des Travaux publics, 4. 5. 1876. Archives Nationales Paris, F/21/881. 107 Ministère des Travaux publics, Rapport de la Sous-Commission etc., 28. 10. 1876. Archives Nationales Paris, F/21/882. 108 Chambre des députés, 29. 7. 1879. In: Journal officiel de la République française, 30. 7. 1879, S. 7749. 109 Jean-François Pinchon: Charles Garnier et l’hypothétique. In: Monuments Historiques. Nr. 177, novembre 1991, Les Tuileries, S. 46 ff.; Pierre-Nicolas Sainte Fare Garnot/Emmanuel Jacquin: Le château des Tuileries. Paris 1988, S. 204.

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In vieler Hinsicht hat sich die Säule der Großen Armee auf der Place Vendôme als ein Spiegel der politischen Geschichte Frankreichs im 19. Jahrhundert erwiesen. An den Veränderungen, die an der Säule und an dem Standbild auf ihrer Spitze zwischen 1814 und 1875 vorgenommen wurden, lassen sich vor allem die wechselnden Einstellungen zum Ersten Kaiserreich, zur Person Napoleons I. und zur Funktion seiner militärischen Leistungen für das Nationalbewusstsein der Franzosen ablesen. Die Statue Chaudets wurde 1814 entfernt, weil sie die Herrschaft Napoleons über Frankreich symbolisiert hatte. 1833 wurde die Statue von Seurre aufgestellt, weil die Franzosen eines sichtbaren Ausdrucks ihres nationalen Stolzes bedurften, der sich damals vor allem an die volkstümliche Erinnerung an den Feldherrn Napoleon knüpfte. Die auf schwankenden Grund gestellte Julimonarchie griff dieses Bedürfnis bei ihrem Bestreben, sich als freiheitlich und national zugleich zu legitimieren, bereitwillig auf. Dem erneuerten Kaisertum Napoleons III. konnte die Beschränkung auf den bloßen Feldherrn freilich nicht genügen. Da das Regime sich als Wiederkehr des Ersten Kaiserreichs ausgab, war es nur folgerichtig, dass auch der Napoleon auf der Säule 1863 wieder kaiserliche Gewänder anlegte. Die Zerstörung der Säule durch die Commune 1871 erfolgte im Zeichen einer radikalen Auflehnung gegen ein Nationalgefühl, das sich wesentlich auf die Erinnerung an militärische Leistungen der Vergangenheit gründete. Die Wiederherstellung der Säule 1875 diente gewiss der Verteidigung des nationalen Waffenruhms, war aber mehr noch Ausdruck des Bestrebens, das Gedächtnis an die Commune so vollständig wie möglich auszulöschen. Ganz konnte dieses Ziel freilich nicht erreicht werden. Denn die getreue Wiederherstellung bedeutete unweigerlich zugleich eine inhaltliche Distanzierung von der Aussage des Denkmals und damit eine Historisierung. Diese Folge der Zerstörung war nicht zu vermeiden. Der Denkmalssturz durch die Commune nahm der Dritten Republik die Möglichkeit, ihrerseits eine zeitgemäße Transformation des Denkmals ins Auge zu fassen, etwa durch Rückgriff auf die Statue von Seurre oder durch die Ersetzung Napoleons durch eine allegorische Darstellung Frankreichs, wie Jules Simon sie vorgeschlagen hatte. Während sowohl die Julimonarchie als auch das Zweite Kaiserreich das Denkmal auf eine solche Weise verändert hatten, dass es zentrale Anliegen und Zielsetzungen ihrer jeweiligen Regime zum Ausdruck brachte, stellte die Dritte Republik einen Kaiser wieder auf den Sockel, mit dem sie sich, soweit er Kaiser war, nicht mehr identifizieren konnte. Bis 1870 war die Vendôme-Säule ein Bekenntnismal und Legitimationsinstrument gewesen; seit 1875 blieb ihr nur die Funktion eines Erinnerungsmals an vergangene Größe und Macht.

Die Bestrafung des Usurpators. Edouard Manets „Erschießung des Kaisers Maximilian von Mexiko“ „On ne peut impunément jouer l’empereur improvisé au Mexique“ Jules Favre am 27. Januar 1864 im Corps législatif

In* Manets Schaffen nimmt die Darstellung der Erschießung des Kaisers Maximilian von Mexiko, mit der er sich in den Jahren 1867 und 1868 beschäftigte, eine Sonderstellung ein. Während mythologische und historische Themen nach der herrschenden Kunstanschauung auch in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Frankreich noch als die vornehmsten Gattungen der Malerei galten, hatte Manet sich in der Wahl seiner Motive von Anfang an vor allem dem wirklichen, alltäglichen und privaten Leben seiner eigenen Zeit und Umwelt zugewandt. Der „Absinthtrinker“ von 1859, die „Musik im Tuileriengarten“ von 1862 oder das „Frühstück im Freien“ von 1863 mögen hierfür als Beispiele dienen. Manet hatte sich mit der Bevorzugung dieser Motive bewusst gegen die akademische Tradition gestellt. Umso erstaunlicher erscheint es, dass er die Exekution des Kaisers Maximilian von Mexiko am 19. Juni 1867 zum Anlass nahm, sich trotz seiner bisherigen Zurückhaltung in der Gattung der Historienmalerei zu versuchen. Zuvor hatte er nur einmal ein politisches Ereignis dargestellt: das Gefecht zwischen den Schiffen „Kearsarge“ und „Alabama“ (Abb. 6). Es handelte sich um einen Vorgang aus dem amerikanischen Sezessionskrieg, der sich am 19. Juni 1864 weitab vom Kriegsschauplatz vor der Küste von Cherbourg ereignete. Dabei versenkte das Schiff der Nordstaaten, die „Kearsarge“, die unter konföderierter Flagge fahrende „Alabama“. Manet stellte das Bild binnen weniger Wochen nach dem Ereignis fertig. Eine politische Aussage ist aus dem bewegten und farbenprächtigen, von kühlen Grüntönen beherrschten Gemälde allerdings kaum herauszulesen.¹ Auch das Format bleibt mit 137,8 mal 128,9 Zentimetern weit hinter der „Exekution Maximilians“ zurück, die in der letzten Fassung 252 mal 302 Zentimeter misst. * Mein Heidelberger Kollege Peter Anselm Riedl hat den vorliegenden Aufsatz vor der Veröffentlichung gelesen und mir namentlich zur Deutung und Rezeptionsgeschichte des „Dritten Mai 1808“ von Francisco Goya sehr wertvolle Hinweise gegeben (vgl. unten). Dafür sei ihm an dieser Stelle herzlich gedankt. Erstdruck in: Pantheon 54 (1996), S. 108–122. 1 Vgl. Anne Coffin Hanson: Manet and the Modern Tradition. New Haven/London 1977, S. 123: „Here is history as it occurred, without allegorical gloss or moral message, depicted in clear daylight rather than traditional chiaroscuro.“ Joseph C. Sloane: Manet and History. In: Art Quarterly 14 (1951), S. 94, nennt das Werk „an attractive seascape“ und findet „hardly a trace of the feeling of a bitterly fought naval engagement“.

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Abb. 1: Edouard Manet: Die Erschießung Kaiser Maximilians. 1867/68, Öl auf Leinwand, 252:302 cm. Mannheim, Städtische Kunsthalle.

Abb. 2: Edouard Manet: Die Erschießung Kaiser Maximilians. 1867, Öl auf Leinwand, 196:259,8 cm. Boston, Museum of Fine Arts, Gift of Mr. And Mrs. Frank Gair Macomber.

Die Bestrafung des Usurpators

Abb. 3: Edouard Manet: Die Erschießung Kaiser Maximilians, drei Fragmente. 1867/68, Öl auf Leinwand, Montage 193:284 cm. London, National Gallery.

Abb. 4: Edouard Manet: Die Erschießung Kaiser Maximilians. 1867/68, Lithographie 33,5:43,7 cm.

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Abb. 5: Edouard Manet: Die Erschießung Kaiser Maximilians. 1867/68, Öl auf Leinwand, 48:58 cm. Kopenhagen, Ny Carlsberg Glyptotek.

Abb. 6: Edouard Manet: Das Gefecht zwischen „Kearsarge“ und „Alabama“. 1864, Öl auf Leinwand, 137,8:128,9 cm. Philadelphia Museum of Art, The John G. Johnson Collection.

Die Bestrafung des Usurpators

Abb. 7: Francisco Goya: Der 3. Mai 1808. 1814, Öl auf Leinwand, 266:345 cm. Madrid, Museo del Prado.

Abb. 8: Jean-Léon Gérôme: 7. Dezember 1815, neun Uhr in der Frühe (Der Tod des Marschall Ney). 1868, Öl auf Leinwand, 64:103 cm. Sheffield, City Art Galleries.

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242 | II Herrscher und Herrschaft

Abb. 9: Paul Alexandre Protais: Der Morgen vor dem Angriff. 1863, Öl auf Leinwand, 49:80 cm. Chantilly, Musée Condé.

Abb. 10: Francisco Goya: Pedro Romero tötet den innehaltenden Stier. 1815/16, Radierung und Aquatinta, 24,4:35,5 cm.

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Abb. 11: Edouard Manet: Stierkampf. 1865/66, Öl auf Leinwand, 48:60,6 cm. Chicago, The Art Institute, Mr. And Mrs. Martin A. Ryerson Collection.

Eine Sonderstellung im Werk Manets nimmt „Die Erschießung Kaiser Maximilians“ auch insofern ein, als das Bild von der Zensur des Regimes Napoleons III. betroffen wurde. Die Ausstellung der endgültigen Fassung des Bildes im Salon von 1869 wurde Manet verwehrt (Abb. 1). Bevor er das Werk überhaupt eingereicht hatte, war ihm „officieusement“ mitgeteilt worden, dass „son tableau, excellent d’ailleurs, avait toutes les chances de ne point être admis au prochain salon, s’il insistait pour l’y présenter.“² Die Verbreitung einer Lithographie von der Erschießung wurde ihm ebenfalls untersagt (Abb. 4).³ Vieles spricht dafür, dass Manet diese Arbeit besonders wichtig war. Der Maler hat sich allem Anschein nach weit über ein Jahr lang mit dem Bild beschäftigt und in dieser Zeit drei großformatige Fassungen in Öl, eine kleinere Ölskizze und eine Lithographie, also

2 „Chronique des Arts et de la Curiosité“, 7. 2. 1869, zit. nach Antony Griffiths: Execution of Maximilian. In: The Burlington Magazine 119 (1977), S. 777. Zur Geschichte des Salons und zu seiner Funktion im 19. Jahrhundert vgl. George Heard Hamilton: Manet and His Critics. Nilestford/ Massachusetts 1986; ebd., S. 11: „Only at the Salon could the young painter hope to reach his prospective audience and thus sell his work.“ 3 Ebd.

244 | II Herrscher und Herrschaft insgesamt fünf Fassungen, angefertigt.⁴ Der Vergleich der Fassungen sollte die Möglichkeit bieten, die Entwicklung des Bildgedankens zu rekonstruieren, um auf diesem Wege zugleich zu einer gesicherten Interpretation der politischen Aussage zu gelangen. In Wirklichkeit ist die Deutung des Werks bis zum heutigen Tag außerordentlich kontrovers und damit offen geblieben. Stefan Germer hat eine verbindliche Deutung sogar prinzipiell ausgeschlossen, indem er Manet den bewussten „Verzicht auf die Setzung definitiver Bedeutungen“ unterstellte.⁵ Dass Manet dem Bild jedenfalls ein besonderes Gewicht beilegte, ergibt sich aus einer Bewertung des Malers aus dem Jahre 1871. Er bezifferte die definitive Fassung damals auf 25 000 Francs und damit ebenso hoch wie das „Frühstück im Freien“, während ihm die „Olympia“ 20 000 Francs wert war.⁶ Eine Sonderstellung nimmt das Werk schließlich durch seine Rezeptionsgeschichte ein. Die Zensurmaßnahmen des Zweiten Kaiserreichs verhinderten, dass das Bild unmittelbar nach seiner Entstehung in Frankreich gezeigt wurde. Tatsächlich wurde das Bild auch nach dem Zusammenbruch des napoleonischen Regimes nicht in Frankreich ausgestellt, und auch in die Retrospektive, die nach Manets Tod im Januar 1884 in der „École Nationale des Beaux-Arts“ in Paris veranstaltet wurde, hat keine Fassung des Bildes Eingang gefunden.⁷ Bei einer Versteigerung von nachgelassenen Bildern des Malers im selben Jahr 1884 wurde die letzte Fassung des Bildes zwar angeboten, jedoch nicht verkauft.⁸ Auch wenn man in Rechnung stellt, dass Manet zu Lebzeiten gerade wegen seiner bedeutendsten Bilder von der Kritik reichlich geschmäht worden war, fällt die Reserve gegenüber dem Maximilian-Bild auf. Sie findet bis heute ihren Ausdruck in der Tatsache, dass sämtliche Ölfassungen des Bildes sich im Besitz ausländischer Museen befinden: im Museum of Fine Arts in Boston (seit 1930), in der National Gallery

4 Der Zeitraum, innerhalb dessen Manet an den verschiedenen Fassungen gearbeitet hat, lässt sich nicht exakt bestimmen. Der erste Zeitungsbericht, aus dem der Maler Einzelheiten über den Hergang der Erschießung hätte erfahren können, erschien in „Le Mémorial Diplomatique“ vom 6. 7. 1867. Der Text ist abgedruckt bei Pamela M. Jones: Appendix: Documentation. In: Edouard Manet and the „Execution of Maximilian“. An Exhibition by the Department of Art. Brown University, February 21 through March 22, 1981, Brown University 1981, S. 116. Die meisten Autoren nehmen an, dass Manet unmittelbar nach dem 6. Juli mit der ersten Fassung des Bildes (heute in Boston) begonnen habe. Als Terminus ad quem hat aufgrund der Notiz in der „Chronique des Arts et de la Curiosité“ vom 7. 2. 1869 (vgl. oben) der Anfang des Jahres 1869 zu gelten. 5 Stefan Germer: Le Répertoire des Souvenirs. Zur Reflexion des Historischen bei Manet. In: Manfred Fath/Ders. (Hrsg.): Edouard Manet. Augenblicke der Geschichte. Ausstellungskatalog Mannheim 1992/93. München 1992, S. 5, 49. 6 Nils Gösta Sandblad: Manet. Three Studies in Artistic Conception. Lund 1954, S. 157. 7 Oskar Bätschmann: Edouard Manet. Der Tod des Maximilian. Frankfurt/Leipzig 1993, S. 18. 8 Ebd.

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in London (seit 1918), in der Ny Carlsberg Glyptotek in Kopenhagen und in der Kunsthalle Mannheim (seit 1910).⁹ Die skizzierte Sonderstellung der „Erschießung Kaiser Maximilians“ erklärt, warum das Bild in der Forschung besonders ausgiebig diskutiert wurde. Grundlegend für den heutigen Forschungsstand wurde der Beitrag von Nils Gösta Sandblad von 1954.¹⁰ Die von Sandblad vor allem aufgrund ikonographischer Beobachtungen vorgeschlagene Reihung der fünf Fassungen – Boston, London, Lithographie, Kopenhagen und Mannheim – ist seither ganz überwiegend auf Zustimmung gestoßen. Unter den späteren Publikationen sind die Aufsätze im Katalog der Ausstellung „Edouard Manet and the ‚Execution of Maximilian‘“ hervorzuheben, die vom 21. Februar bis 22. März 1981 in der Brown University in Providence, Rhode Island, gezeigt wurde.¹¹ Die erstmalige Ausstellung aller vier Ölfassungen in London vom 1. Juli bis zum 27. September 1992 und in Mannheim vom 18. Oktober 1992 bis zum 17. Januar 1993 bildete ebenfalls den Anlass für eine Reihe wichtiger Studien für den Katalog.¹² Im Jahre 1993 veröffentlichte Oskar Bätschmann eine Monographie, in der sich die hauptsächlichen Fragen, die in der Forschung bis dahin behandelt worden waren, noch einmal vorgestellt finden.¹³ Das Interesse des politischen Historikers richtet sich naturgemäß auf die Deutung, die Manet dem dargestellten Ereignis der Zeitgeschichte gegeben hat. Drei Fragen drängen sich auf: Warum hat Manet das Thema gewählt? Welche politische Aussage verbirgt sich in dem Bild? Erklärt sich die Vielzahl der Fassungen aus einem Ringen um den treffenden Ausdruck für die politische Deutung des Vorgangs? Dass Manet das politische Thema im Sommer 1867 überhaupt aufgriff, wird in der Forschung im wesentlichen übereinstimmend mit ganz unpolitischen Motiven erklärt. Als die Nachricht von der Exekution Maximilians zwischen Ende Juni und Anfang Juli 1867 in Paris eintraf, fand dort gerade die große Weltausstellung statt. Parallel zur Weltausstellung zeigte Manet am Pont de l’Alma auf eigene Kos-

9 John Leighton/Juliet Wilson-Bareau: „Die Erschießung Kaiser Maximilians“. Provenienz und Ausstellungsgeschichte der drei Bildfassungen. In: Manfred Fath/Stefan Germer (Hrsg.): Edouard Manet (wie Anm. 5), S. 195 ff. 10 Vgl. Anm. 6. 11 Vgl. Anm. 4. 12 Der Mannheimer Katalog ist die um mehrere Beiträge erweiterte deutschsprachige Fassung des Katalogs aus der National Gallery: Juliet Wilson-Bareau (Hrsg.): Manet: The Execution of Maximilian. Painting, Politics and Censorship. London 1992. Zitiert wird im folgenden aus dem Mannheimer Ausstellungskatalog (wie Anm. 5). 13 Vgl. Anm. 7.

246 | II Herrscher und Herrschaft ten eine Auswahl seiner Bilder. Der Erfolg war gering. Da könnte die Erregung der französischen Öffentlichkeit über die Hinrichtung Maximilians ihm als Chance erschienen sein, durch die umgehende Verarbeitung des Themas in einem Gemälde doch noch Aufmerksamkeit für seine Ausstellung zu wecken. Damit hätte sich das Verfahren vom Jahre 1864 wiederholt, als er schon wenige Wochen nach dem vieldiskutierten Seegefecht vor Cherbourg sein Bild von der Versenkung der „Alabama“ im Schaufenster des Pariser Kunsthändlers Alfred Cadart in der Rue Richelieu ausstellte (Abb. 6).¹⁴ Voraussetzung war freilich, dass das Bild noch rechtzeitig vor dem Ende der Weltausstellung wie auch seiner eigenen Ausstellung, also vor dem 30. Oktober 1867, fertig würde. Eine zweite Erklärung, die zu der ersten keineswegs im Gegensatz steht, besagt, Manet habe sich angesichts seiner ständigen Misserfolge trotz seiner prinzipiellen Abneigung gegen die Gattung des Historienbilds schließlich doch entschlossen, ein Ereignis der Zeitgeschichte darzustellen, um seine Kompetenz auch in diesem als vorrangig geltenden Fach zu beweisen und damit die Voraussetzung für seine Anerkennung als Maler zu schaffen.¹⁵ Was die politische Aussage des Bildes anbelangt, so scheint die heutige Forschung sich darin einig, dass Manets Darstellung als Anklage gegen Napoleon III. gelesen werden müsse, seit Sandblad 1954 die Unhaltbarkeit einer älteren Auffassung nachgewiesen hatte, derzufolge der dargestellte Gegenstand Manet ganz gleichgültig und lediglich „un prétexte à peindre“ gewesen sei.¹⁶ Dafür scheinen zunächst die Zensurmaßnahmen zu sprechen. Auch die Interpretation dieser Maßnahmen durch Manets Freund Emile Zola weist in diese Richtung. Zola vermutete, das Bild sei verfemt worden, weil die Ähnlichkeit der Uniformen der dargestellten Soldaten mit französischen Uniformen den Schluss nahelege, Frankreich werde für die Hinrichtung Maximilians verantwortlich gemacht.¹⁷ In

14 Wilson-Bareau: Manet und die Erschießung Kaiser Maximilians. In: Manfred Fath/Stefan Germer (Hrsg.): Edouard Manet (wie Anm. 5), S. 105; vgl. auch Bätschmann: Edouard Manet (wie Anm. 7), S. 3, 94 f. 15 Vgl. Albert Boime: New Light on Manet’s „Execution of Maximilian“. In: Art Quarterly 36 (1973), S. 175. 16 Sandblad: Manet (wie Anm. 6), S. 118 ff.; der zitierte Ausdruck stammt von Germain Bazin: ebd., S. 119; ebd. auch das Urteil von Paul Colin: „On peut être certain que la tragédie de Queretaro ne lui parut pas plus émouvante que la veste en velours du ‚Déjeuner à l’atelier‘.“ 17 Vgl. Bätschmann: Edouard Manet (wie Anm. 7), S. 20. Emile Zola veröffentlichte am 4. 2. 1869 in „La Tribune“ eine satirische Notiz über das Verbot der Behörden, die Lithographie zu vervielfältigen. Darin heißt es u. a.: „C’est là une des mesures qui sauvent un gouvernement [. . . ] et je conseille à M. Manet [. . . ] de représenter Maximilien, plein de vie, ayant à son côté sa femme, heureuse et souriante [. . . ]. En examinant une épreuve de la lithographie incriminée, j’ai remarqué que les soldats fusillant Maximilien portaient un uniforme presque identique à celui de nos trou-

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der Tat war Erzherzog Maximilian von Österreich als Werkzeug der imperialistischen Politik Napoleons III. in Mexiko zum Kaiser proklamiert worden, und seine Gefangennahme und Hinrichtung standen in engem Zusammenhang mit dem vorzeitigen Abzug der französischen Truppen im Februar und März 1867.¹⁸ Dass Edouard Manet eine kritische Haltung gegenüber dem Zweiten Kaiserreich einnahm, ist vielfach belegt. Vor wenigen Jahren hat Philip Nord noch einmal die einschlägigen Zeugnisse zusammengetragen und geprüft und Manet im Ergebnis als radikalen Republikaner in einer Position zwischen Léon Gambetta und Henri Rochefort gekennzeichnet.¹⁹ Manets Republikanismus lässt sich für seine gesamte Lebenszeit belegen. Am 22. März 1849 schrieb er aus Rio de Janeiro an seinen Vater voller Sorge über die Zukunft der Republik in Frankreich, weil er befürchtete, dass der im Dezember 1848 mit überwältigender Mehrheit ins Amt berufene Präsident Louis-Napoléon Bonaparte nicht viel von einem Republikaner an sich habe.²⁰ Während des Wahlkampfs von 1877 stellte Manet sein Atelier für eine republikanische Wahlversammlung zur Verfügung.²¹ Freundschaftliche Beziehungen seiner Familie, vor allem seines Bruders Gustave, und die Cafés und Salons, die er regelmäßig aufsuchte, sprechen ebenfalls für seine radikalrepublikanische Orientierung.²² Im Jahre 1880 schließlich hielt Manet den 14. Juli, der zum ersten Mal offiziell als Nationalfeiertag begangen wurde, auf zwei Postkarten fest: Auf der einen ist neben eine Trikolore „Vive la république“ geschrieben, auf der anderen steht neben zwei gekreuzten Nationalflaggen „Vive l’amnistie“, womit Manet auf die am 11. Juli 1880 von der Deputiertenkammer beschlossene Amnestie für die Teilnehmer am Aufstand der Commune von 1871 anspielte.²³

pes. Les artistes fantaisistes donnent aux Méxicains des costumes d’opéra-comique; M. Manet, qui aime d’amour la vérité, a dessiné les costumes vrais, qui rappellent beaucoup ceux des chasseurs de Vincennes. Vous comprenez l’effroi et le courroux de messieurs les censeurs. Eh quoi! un artiste osait leur mettre sous les yeux une ironie si cruelle, la France fusillant Maximilien“; zit. nach: Manet 1832–1883, Paris 1983, S. 529 f. 18 Vgl. Alfred Jackson Hanna/Kathryn Abbey Hanna: Napoleon III and Mexico. American Triumph over Monarchy. Chapel Hill 1971, S. 98, 299 f. 19 Philip Nord: Manet and Radical Politics. In: Journal of Interdisciplinary History 19 (1989), S. 447. 20 Edouard Manet: Lettres de jeunesse 1848–1849. Voyage à Rio. Paris 1928, S. 67: „Vous avez donc encore eu des emotions à Paris, tâchez de nous garder pour notre retour une bonne république, car je crains que L. Napoléon ne soit pas très républicain.“ 21 Nord: Manet and Radical Politics (wie Anm. 19), S. 448. 22 Ebd., S. 450 ff. 23 Ebd., S. 449, 465 f.

248 | II Herrscher und Herrschaft Eine ganze Reihe von Interpretationsvorschlägen, die sich auf einzelne Komponenten des Bildes beziehen, bestätigt die Vorherrschaft einer Deutung, die aus dem Bild eine Anklage gegen das bonapartistische Regime herauslesen möchte. So wurde zum Beispiel in dem Sergeanten mit rotem Käppi am rechten Bildrand, der in der zweiten Fassung zum ersten Mal erscheint, ein verstohlenes Porträt Napoleons III. vermutet, um die Täterschaft des französischen Kaisers vollends offenkundig zu machen.²⁴ In das Deutungsschema der Anklage gehört schließlich die verbreitete Annahme, die entgegen den später eingehenden Berichten von Manet festgehaltene Plazierung Maximilians zwischen den beiden mexikanischen Generälen Miramon und Mejia sei als Assoziation mit Golgatha gedacht. Maximilian würde dementsprechend mit Christus verglichen oder zumindest als Märtyrer dargestellt. Als Beleg dafür wird schließlich angeführt, dass Maximilian seinen Sombrero – am deutlichsten auf der Kopenhagener Ölskizze – so weit im Nacken trage, dass dessen Rand seinen Kopf wie ein Heiligenschein umrahme.²⁵ Die symbolische Bedeutung von Maximilians Sombrero erschien auch dadurch bestätigt, dass der ansonsten um historische Genauigkeit im Detail bemühte Maler den Kaiser auch dann noch mit dem Hut darstellte, als bekannt geworden war, dass er bei der Hinrichtung keinen Hut getragen habe.²⁶ Eine Bemerkung von Sandblad vertiefend hat Albert Boime 1973 gemeint, Manet habe sich selbst mit

24 Pamela M. Jones: Structure and Meaning in the „Execution Series“. In: Edouard Manet and the „Execution of Maximilian“ (wie Anm. 4), S. 17, hält es, einer Anregung von Kermit S. Champa folgend, für möglich, dass Manet sich an dem offiziellen Porträt Napoleons III. von HippolyteJean Flandrin (um 1860/61) orientiert habe. Bätschmann: Edouard Manet (wie Anm. 7), S. 34, denkt dagegen an ein Plakat von 1852 mit einem Porträt Napoleons ohne die bekannten Schnurrbartspitzen. 25 Jones: Structure and Meaning in the „Execution Series“ (wie Anm. 24), S. 15, meint, Maximilian selbst habe sich in seiner Ansprache an die Mexikaner unmittelbar vor seiner Hinrichtung mit Christus identifiziert, während „Le Mémorial Diplomatique“ vom 20. 7. 1867 Hauptmann Lopez, der Maximilian an General Escobedo verraten hatte, mit Judas verglichen habe; vgl. im übrigen ebd., S. 18, 21; vgl. auch John House: Über Historienmalerei, Zensur und Hintersinn. Manets „Erschießung Kaiser Maximilians“. In: Manfred Fath/Stefan Germer (Hrsg.): Edouard Manet (wie Anm. 5), S. 37; Juliet Wilson Bareau: The Hidden Face of Manet. An Investigation of die Artist’s Working Processes, o. O. 1986, S. 59; Stephen Bann: The Odd Man out. Historical Narrative and the Cinematic Image. In: History and Theory. Beiheft 26 (1957), S. 52; Bätschmann: Edouard Manet (wie Anm. 7), S. 55, 70; Sandblad: Manet (wie Anm. 6), S. 147 f., 157. 26 Vgl. „Le Mémorial Diplomatique“, 10. 10. 1867. In: Jones: Appendix: Documentation (wie Anm. 4), S. 121: „Lorsque tout fut prêt, l’Empereur ôta son chapeau et le donna à Tudos, lui disant de le remettre à son père comme le dernier qu’il eût jamais porté.“ Tudos war Maximilians ungarischer Koch gewesen; der Zeitungsartikel beruhte auf seinem Augenzeugenbericht.

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Maximilian identifiziert: der erfolglose Maler als Opfer der Kritik und der allgemeinen Ablehnung.²⁷ Auch wo die Forschung die religiösen Implikationen und die These von der Selbstprojektion des Malers mit Skepsis behandelt, bleibt doch die übereinstimmende Auffassung, dass Manet die Exekution Maximilians verurteilte und dass das Bild in dem Sinne als Anklage gegen Napoleon III. zu verstehen sei, dass er für den Tod des Erzherzogs verantwortlich gemacht werde. Dass Manet insgesamt fünf Fassungen herstellte, davon drei als Ölbilder in großem Format, wird vielfach damit begründet, dass er sich um größtmögliche historische Genauigkeit bemüht habe.²⁸ Da die Nachrichten über den Hergang und die Umstände der Exekution jedoch nur stückweise und über einen langen Zeitraum hinweg, der sich mindestens bis in den Oktober 1867 erstreckte, in Frankreich eingetroffen seien, habe Manet das Bild mehrmals neu entwerfen müssen. Aus dem Vergleich der Zeitungsberichte mit den verschiedenen Fassungen ließen sich Anhaltspunkte für deren Datierung und chronologische Reihung gewinnen. Mit ikonographischen Überlegungen dieser Art wird vor allem begründet, dass die heute in Boston hängende Version die erste Fassung bilde (Abb. 2). Manet hatte die Soldaten zunächst offenbar mit Sombreros und nach unten zu breit ausgestellten Hosen gemalt. Am 11. August 1867 jedoch berichtete Albert Wolff im „Figaro“, dass die Mitglieder des Exekutionskommandos ähnliche Uniformen getragen hätten wie französische Soldaten; ihre Kopfbedeckung seien Käppis und nicht Sombreros gewesen.²⁹ Es hat den Anschein, als habe Manet zunächst begonnen, die erste Fassung entsprechend umzuarbeiten; ein Teil der Sombreros erscheint bereits in Käppis verwandelt.³⁰ Von der zweiten (Londoner)

27 Boime: New Light on Manet’s „Execution of Maximilian“ (wie Anm. 15), S. 190 ff.; vgl. dazu die kritische Bemerkung von Hanson: Manet and the Modern Tradition (wie Anm. 1), S. 111, Anm. 257; vgl. ebenso Sandblad: Manet (wie Anm. 6), S. 149 f. 28 Diese Erklärung geht auf den Bericht von Manets Freund und Biograph Théodore Duret zurück; vgl. Wilson-Bareau: Manet und die Erschießung Kaiser Maximilians (wie Anm. 14), S. 111; vgl. dazu auch Sandblad: Manet (wie Anm. 6), S. 127 f. 29 „Le Figaro“, 11. 8. 1867, zit. nach Jones: Appendix: Documentation (wie Anm. 4), S. 120. Wolff veröffentlichte dort den Brief eines nicht namentlich genannten Mannes, der Mexiko am 6. Juli verlassen hatte. Außerdem beschrieb er vier Photographien, die dem Brief beigelegen hatten. Auf einer von ihnen war das Erschießungskommando abgebildet. Wolff schrieb darüber: „Les soldats ont des visages hideux et sinistres. Leur uniforme ressemble à l’uniforme français: le képi et la tunique paraissent être en toile grise, le ceinturon en cuir blanc; le pantalon, descendant jusqu’aux pieds est d’une étoffe plus foncée.“ 30 Bätschmann: Edouard Manet (wie Anm. 7), S. 7 f., folgert daraus, dass die erste Fassung vor dem 11. August angefertigt und nach dem 11. August korrigiert worden sein müsse. Die erste Fassung sei schon deshalb als unvollendet anzusehen, weil die Korrekturarbeiten nicht abge-

250 | II Herrscher und Herrschaft Fassung an tragen die Soldaten dann die an die französischen Chasseurs de Vincennes erinnernden Uniformen (Abb. 3). Außerdem suchte Manet von nun an auch die Zahl der Soldaten an dem Bericht Wolffs zu orientieren, demzufolge das Peloton aus sechs Soldaten, einem Korporal und einem Offizier bestanden haben soll.³¹ Möglicherweise hat sich Manet aus einer nahen Kaserne einen Trupp Soldaten ins Atelier schicken lassen, um sie als Modelle zu benutzen.³² In den drei letzten, darunter der endgültigen (Mannheimer) Fassung tritt als neues Moment die Mauer hinter der Erschießungsszene hinzu. Oskar Bätschmann weist darauf hin, dass sich eine Mauer erstmals in einer Zeichnung der Exekution finde, die am 10. August 1867 in der New Yorker Zeitschrift „Harper’s Weekly“ veröffentlicht wurde.³³ Die Unterschiede in den verschiedenen Fassungen des Gemäldes lassen sich jedoch nicht nur mit dem Streben nach historischer Genauigkeit erklären. Es ist schon lange bemerkt worden, dass Manet eine Reihe von Details bewusst anders wiedergab, als sie berichtet worden waren. Andere Elemente überging er völlig.³⁴ Schließlich stimmen alle Autoren darin überein, dass in der Folge der Versionen des Bildes ein Prozess der Versachlichung und der emotionalen Distanzierung vom dargestellten Gegenstand zu beobachten sei. Nicht wenige Autoren sprechen geradezu vom Ausdruck der „Gleichgültigkeit“.³⁵ An die Stelle der unmittelbaren Gegenwärtigkeit der Bostoner Fassung sei zuletzt die Historizität des Vergangenen in der Mannheimer Fassung getreten.³⁶ Das Streben nach historischer Genauigkeit kann daher nur eines unter mehreren Motiven dafür gewesen sein, dass Manet so lange an dem Thema gearbeitet hat. Vielleicht war es nicht einmal das wich-

schlossen worden seien. In diesem Sinne urteilt auch Wilson-Bareau: Manet und die Erschießung Kaiser Maximilians (wie Anm. 14), S. 113, 122 f. Sandblad: Manet (wie Anm. 6), S. 121 ff., hatte den Beginn der Arbeit an der ersten Fassung auf die Zeit nach dem 10. August datiert. Jones: Structure and Meaning in the „Execution Series“ (wie Anm. 24), S. 16, datiert die Bostoner Fassung wie Bätschmann, hält sie jedoch nicht für unvollendet. 31 „Le Figaro“, 11. 8. 1867 (wie Anm. 29). 32 Vgl. Sandblad: Manet (wie Anm. 6), S. 129 f. Skeptisch hierzu Wilson-Bareau: Manet und die Erschießung Kaiser Maximilians (wie Anm. 14), S. 117. 33 Bätschmann: Edouard Manet (wie Anm. 4), S. 53, 61; vgl. auch Boime: New Light on Manet’s „Execution of Maximilian“ (wie Anm. 15), S. 185. In Wirklichkeit hatte „Le Figaro“ bereits am 5. 7. 1867 berichtet, dass die Exekution vor einer Friedhofsmauer stattgefunden habe: vgl. Jones: Appendix: Documentation (wie Anm. 4), S. 117. 34 Vgl. dazu unten. Jones: Structure and Meaning in the „Execution Series“ (wie Anm. 24), S. 12, 14, betont den hohen Grad an Selektivität in der Berücksichtigung der berichteten Tatsachen. 35 Vgl. Sandblad: Manet (wie Anm. 6), S. 129. 36 Germer: Le Répertoire des Souvenirs (wie Anm. 5), S. 44; Elizabeth Reid: Realism and Manet. In: Edouard Manet and the „Execution of Maximilian“ (wie Anm. 4), S. 77 ff.

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tigste. Für die Interpretation des Bildes folgt daraus die Verpflichtung, zugleich nach den künstlerischen Gründen zu fragen, die Manet zu immer wieder neuen Anläufen und jedenfalls zur Anfertigung von drei erheblich voneinander abweichenden großformatigen Versionen veranlasst haben. Zu den künstlerischen Gesichtspunkten ist selbstverständlich auch die politische Aussage zu rechnen, da auch sie nur mit malerischen Mitteln zum Ausdruck gebracht werden konnte. Die Vermutung, Manet habe das aktuelle politische Thema gewählt, um angesichts der Erregung der Öffentlichkeit die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich und seine Ausstellung am Pont de l’Alma zu lenken, hat gewiss vieles für sich; sie erklärt allerdings nicht, warum er sich über den Oktober 1867 hinaus noch über ein Jahr lang mit dem Thema beschäftigte, obwohl die Nachricht aus Mexiko ihren Neuigkeitswert inzwischen längst eingebüßt hatte und auch die Ausstellung, für die das Bild möglicherweise gedacht war, längst zu Ende gegangen war. Dagegen würde die Annahme, Manet habe trotz seines entschiedenen Widerstrebens schließlich doch ein Historienbild gemalt, um sich als vollgültiger Maler zu empfehlen, die Weiterarbeit an dem Bild erklären. Die Annahme passt allerdings schlecht zu der Tatsache, dass die Darstellung als solche vor allem in der Endfassung keinerlei Kompromisse mit der anerkannten Gattung des Historienbilds einging. Es fehlen Dramatik und Emotion; das Bild erweckt weder Entsetzen noch Grauen noch das Gefühl des Triumphes. Die Farbgebung und die Lichtführung setzen keine klaren Akzente. Wenn das Bild, wie vielfach behauptet, als Anklage gegen das Regime Napoleons III. gemeint war, dann wäre auch dies vielleicht ein Grund gewesen, warum Manet auch nach dem 30. Oktober 1867 an dem Bild weitergearbeitet hat. Immerhin könnte man fragen, warum Manet nicht schon früher versucht hatte, politische Kritik am Zweiten Kaiserreich in seiner Malerei zum Ausdruck zu bringen, zumal das Bild von der Erschießung Maximilians bereits in die Phase der schrittweisen Liberalisierung des Regimes fiel. Auch könnte man sich vorstellen, dass Manet die Kritik durch ein anderes Sujet unmittelbarer und eindeutiger hätte zum Ausdruck bringen können. Napoleon III. soll durch seine mexikanische Politik und durch den vorzeitigen Abzug der französischen Truppen den gewaltsamen Tod des Kaisers Maximilian verschuldet haben.³⁷ Schon Nils Gösta Sandblad und neuerdings besonders eindringlich Pamela M. Jones haben die Auffassung vertreten, diese Schuldzuweisung habe sich in der französischen Öffentlichkeit und ganz ebenso bei Manet

37 Vgl. Marianne Ruggiero: Manet and the Image of War and Revolution: 1851–1871. In: Ebd., S. 26 f.; Hanson: Manet and the Modern Tradition (wie Anm. 1), S. 116; Bann: The Odd Man out (wie Anm. 25), S. 52.

252 | II Herrscher und Herrschaft im Sommer 1867 erst allmählich entwickelt. Zunächst habe jedermann die Hinrichtung Maximilians voller Abscheu damit erklärt, dass die Mexikaner Barbaren seien, die einen wohlmeinenden und legitimen, weil von allen europäischen Regierungen anerkannten Herrscher wider alle Grundsätze des Rechts und der Zivilisation ermordet hätten. Diese Auffassung spiegele sich in der ersten (Bostoner) Fassung. Ende Juli sei dann ein Meinungsumschwung in dem Sinne erfolgt, dass auch den Mexikanern ein Recht auf nationale Selbstbestimmung zuerkannt werden müsse. Dementsprechend liege die letzte Verantwortung für den Tod Maximilians bei der französischen Regierung, wie „Le Figaro“ am 28. des Monats unmissverständlich andeutete: [. . . ] en sauvegardant notre liberté, apprenons à respecter celles des autres. Plus d’interventions contraires au sentiment du droit et de la justice. Plus d’expéditions du Mexique et de Rome. Les autres peuples sont maîtres de leurs destinées, et la France faillirait à son rôle traditionnel si elle opprimait leur volonté.³⁸

Beide – Sandblad wie Jones – sehen in dieser Veränderung der Perspektive einen wesentlichen Grund für die Preisgabe der ersten und die Konzeption einer ganz neuen zweiten Fassung. Für Sandblad ging es darum, eine „more objective reconstruction of the drama“ vorzunehmen; Jones sieht das Hauptanliegen Manets in der zweiten Fassung darin, durch die andersartige Gestaltung der Uniformen – halb mexikanisch, halb französisch – die doppelte Verantwortung für den Tod Maximilians zum Ausdruck zu bringen: die der Mexikaner, „who actually shot Maximilian“, und die der Franzosen, „whose intervention policy indirectly brought about his demise.“³⁹ Diese Deutung impliziert, dass Manet sein Urteil über die Hinrichtung im Laufe der Auseinandersetzung mit dem Thema verändert habe, und zwar in Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung. Eine Mitverantwortung Maximilians selbst bleibt außer Betracht.⁴⁰ Niemand hat bisher die Frage gestellt, warum der radikale Republikaner Manet seine Ablehnung des Zweiten Kaiserreichs ausgerechnet dadurch zum

38 Zit. nach Jones: Structure and Meaning in the „Execution Series“ (wie Anm. 24), S. 13. Ebd., S. 12 ff., die These vom Meinungsumschwung; Sandblad: Manet (wie Anm. 6), S. 151 ff. 39 Ebd., S. 152; Jones: Structure and Meaning in the „Execution Series“ (wie Anm. 24), S. 14; vgl. ebd., S. 16, wo es heißt, durch die Übermalungen an der Kleidung der Soldaten sei auch die Bostoner Fassung bereits zu einer teils (noch) antijuaristischen, teils (schon) antinapoleonischen Darstellung umgestaltet worden. 40 House: Über Historienmalerei, Zensur und Hintersinn (wie Anm. 25), S. 37 f., betrachtet Maximilian immerhin „bis zu einem hohen Grad“ auch als „das Opfer seiner eigenen Entscheidungen“. Die „einzig klare Schuld“ hätten die Franzosen jedoch „zu Hause in Paris“ gesehen.

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Ausdruck bringen sollte, dass er auf das Mitleid mit dem unglücklichen Erzherzog setzte. Der stammte immerhin aus einer der ältesten Dynastien Europas und war insofern ein prominenter Vertreter des Monarchismus. Vor allem aber hatte er sich als Werkzeug des bonapartistischen Imperialismus missbrauchen lassen. Das Kaisertum in Mexiko wurde mit militärischer Gewalt an die Stelle der verfassungsmäßigen Republik gesetzt, deren Präsident Benito Juárez war.⁴¹ Als die französischen Truppen das Land im März 1867 auf Druck der Vereinigten Staaten verließen, bestürmten Napoleon III. und Marschall Bazaine, der Oberbefehlshaber der französischen Truppen in Mexiko, Maximilian geradezu, abzudanken und nach Europa zurückzukehren. Stolz, Halsstarrigkeit und politische Blindheit hinderten den Kaiser jedoch daran, den Appellen zu folgen.⁴² So konnte sich die stärkste politische Kraft im Lande, die Republik unter ihrem Präsidenten Juárez, erneut durchsetzen. Am 15. Mai wurde Maximilian, zuletzt durch Verrat, in Queretaro – etwa 250 Kilometer nordwestlich von Mexiko-Stadt – gefangengenommen. Am 19. Juni wurde er nach kurzem Prozess vor einem Kriegsgericht zusammen mit seinen beiden mexikanischen Generälen Miramon und Mejia erschossen.⁴³ Damit endete der Versuch einer auswärtigen Macht, das verfassungsmäßige Regime in Mexiko, die Republik unter dem liberalen Präsidenten Juárez, mit Gewalt zu beseitigen und ein anderes Regime an seine Stelle zu setzen, das sich auf die französischen Truppen und auf die Minderheit der konservativen Kräfte stützte: die Großgrundbesitzer, die Armee und die Kirche. Dieser Versuch hatte zahllose Mexikaner das Leben gekostet. Kein Zweifel: Maximilian war ein Usurpator. Die Hinrichtung in Queretaro war die Strafe für seinen Hochverrat. Sein Ende ermöglichte die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung in Mexiko. Es ist schwer vorstellbar, dass die Kritik des Republikaners Manet darin bestanden haben soll, dass er ausgerechnet diesen Usurpator aus dem Hause Habsburg als unschuldiges Opfer der imperialistischen Politik Napoleons III., ja als Märtyrer, hinstellte. Man braucht deswegen nicht anzunehmen, dass der Maler die Exekution gebilligt habe. Auch Victor Hugo hatte die mexikanische Expedition aufs schärfste verurteilt und gleichwohl an Präsident Juárez appelliert, das Leben des Kaisers zu schonen.⁴⁴ Entsprechend kann auch Manet gegenüber dem Bürgerkrieg zwischen Maximilian und den Verteidigern der Republik unter Juárez nicht

41 Zu Juárez und der politischen Geschichte Mexikos in der Jahrhundertmitte vgl. neuerdings Brian Hamnett: Juárez. London/New York 1993. 42 Vgl. Alfred Hanna/Kathryn Hanna: Napoleon III and Mexico (wie Anm. 18), S. 290 ff. 43 Ebd., S. 300; vgl. auch Hamnett: Juárez (wie Anm. 41), S. 193. 44 Ebd., S. 194.

254 | II Herrscher und Herrschaft im Zweifel darüber gewesen sein, welcher der beiden Parteien er seine Sympathie zuwenden solle. Um es noch einmal zu wiederholen: Man kann den summarischen Prozess gegen Maximilian vor einem eilig zusammengesetzten Kriegsgericht für fragwürdig halten, man kann das Todesurteil angreifen und erst recht seine Vollstreckung als eine unbegründete Härte ansehen, aber man kann schwerlich behaupten und sollte eine solche Auffassung ohne nähere Belege auch Manet nicht unterstellen, dass Maximilian an seinem Schicksal unschuldig gewesen sei. Eine authentische Äußerung Manets über die französische Intervention in Mexiko und über die Rolle des Erzherzogs Maximilian ist bisher nicht entdeckt worden. Wenn der Maler aufgrund der verschiedensten Zeugnisse jedoch als Republikaner eingestuft werden muss, dann kann seine Auffassung in dieser Frage nicht allzu weit von der Kritik entfernt gewesen sein, die von der republikanischen Opposition im Corps législatif, der Volksvertretung des Zweiten Kaiserreichs, an der mexikanischen Politik der Regierung geübt wurde. Der Abgeordnete Adolphe Guéroult zum Beispiel, der Mexiko aufgrund seiner mehrjährigen Tätigkeit als französischer Konsul in Mazatlan persönlich kennengelernt hatte, legte am 25. Januar 1864 vor dem Parlament dar, dass in Mexiko zwei Parteien einander gegenüberstünden: die klerikale und die liberale Partei. Die klerikale Partei, auf die Frankreich sich stütze, sei „arriéré, intolérant, exclusif, impossible“ und unfähig, sich auf irgendeine Weise mit den Grundsätzen der „modernen Gesellschaft“ zu befreunden. Die Prinzipien der liberalen Partei dagegen, „ce sont les nôtres, ce sont ceux que nous professons tous dans cette enceinte, ce sont les principes de la Révolution française, de la civilisation moderne.“ Dementsprechend wäre Frankreichs „natürlicher Verbündeter“ in Mexiko diejenige Partei gewesen, „welche sich zu denselben Grundsätzen bekennt wie wir“, und nicht die Partei, die überall das gerade Gegenteil „der Prinzipien, welche die Grundlage des modernen öffentlichen Rechts bilden“, vertritt. Dementsprechend gleiche „die Art von Befreiung“, die Frankreich dort zugunsten der Mexikaner ins Werk gesetzt habe, „auf einzigartige Weise der Befreiung“, welche die Preußen den Franzosen bescheren wollten, „als sie 1792 und 1815 in Frankreich einmarschierten.“⁴⁵ Der Vergleich der französischen Interventionstruppen in Mexiko mit den Preußen in der Epoche der Französischen Revolution war eine Herausforderung besonderer Art und ein geschickter Schachzug zugleich. Am 20. September 1792 war bei Valmy der preußische Versuch gescheitert, die Revolution zu ersticken und die Monarchie in Frankreich mit Waffengewalt wiederherzustellen. In der Schlacht von Waterloo hatten preußische Truppen unter Blücher am 18. Juni 1815

45 „Le Moniteur universel“, 26. 1. 1864.

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entscheidend zur endgültigen Niederlage Napoleons I. beigetragen. Die Erinnerung an Valmy musste jeden Republikaner mit Genugtuung, die Erinnerung an Waterloo jeden Bonapartisten mit Abscheu erfüllen. Der von Guéroult gezogene Vergleich lief auf den Vorwurf hinaus, mit der Intervention gegen die liberale Republik unter Juárez kämpfe die Regierung nicht nur gegen die republikanischen Traditionen der Französischen Revolution, sondern sie stelle sich auch gegen das Vermächtnis des Ersten Kaiserreichs, auf das sich Napoleon III. zur Legitimation seiner eigenen Herrschaft so gerne berief. Die Einsetzung des Erzherzogs Maximilian als Kaiser von Mexiko konnte in dieser Perspektive wie eine nachträgliche Rechtfertigung der Restauration Ludwigs XVIII. und der Verbannung Napoleons I. auf St. Helena erscheinen. Das Argument war geschickt auf die regimetreue Mehrheit des Hauses berechnet: Zum einen enthielt es den Vorwurf, das Regime bringe sich durch seine mexikanische Politik mit seinen eigenen Prinzipien in Widerspruch; zum andern beschwor es mit der Vision der eindringenden Preußen und der Erinnerung an die bourbonische Restauration von 1814 und 1815 politische Überzeugungen, die Republikanern und Bonapartisten gemeinsam waren, so dass die Opposition sich zugleich als Sachwalter der anerkannten nationalen Interessen Frankreichs empfehlen konnte. Dass die französische Regierung in Mexiko eine Partei unterstütze, deren Ziele in entschiedenem Gegensatz zu den Ideen von 1789 stünden, brachte Guéroult, der nach dem Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 vorübergehend inhaftiert worden war, auch mit einem Zitat aus der von ihm herausgegebenen gemäßigt republikanischen Zeitung „L’Opinion nationale“ vom 4. August 1863 zum Ausdruck, in dem es hieß, in Mexiko wiederhole sich die Römische Frage.⁴⁶ In Rom hatte die Regierung der Zweiten Republik unter der Präsidentschaft von Louis-Napoléon Bonaparte im Frühsommer 1849 mit einem Expeditionscorps unter General Oudinot interveniert, die römische Republik beseitigt und den nach Gaeta entflohenen Papst Pius IX. und sein rückständiges Regime wieder eingesetzt. Seither schützten französische Truppen den Kirchenstaat vor einer neuen Revolution und seit 1860 zugleich vor der Eingliederung in den demokratisch legitimierten italienischen Nationalstaat. Am 26. Januar 1864 erklärte Adolphe Thiers, der nur zwei Wochen zuvor in einer aufsehenerregenden Rede eine entschiedene Liberalisierung des Regimes gefordert hatte, im Corps législatif, die politischen Fragen, welche die Mexikaner umtrieben, seien dieselben Streitfragen, welche Europa seit einem Dreivierteljahrhundert in Atem hielten: der Konflikt „entre ce qu’on appelle l’ancien régime

46 Ebd.

256 | II Herrscher und Herrschaft et le nouveau.“ Seine zustimmende Charakterisierung der Regierung des Präsidenten Juárez lässt deutlich erkennen, dass auch Thiers die französische Intervention in Mexiko schon im Grundsatz vor allem deswegen verurteilte, weil sie sich gegen diejenigen Kräfte im Lande richtete, die sich auf den Boden der Revolution von 1789 stellten und sich entschlossen zu den Prinzipien des demokratischen Verfassungsstaats und des nationalen Selbstbestimmungsrechts bekannten.⁴⁷ Zu den entschiedenen Gegnern der französischen Politik in Mexiko gehörte auch Jules Favre, einer der prominentesten Sprecher der republikanischen Opposition im Corps législatif. Favre stellte klar, dass Frankreich in Mexiko Krieg führe gegen ein Volk, „qui défend son indépendance et sa nationalité.“⁴⁸ Das Recht auf nationale Selbstbestimmung gelte jedoch universell, für jedes Volk und auf jedem Punkt der Erdkugel.⁴⁹ Daher entbehre die Macht des Kaisers Maximilian der Legitimität, solange sie sich nicht auf die freie Zustimmung der ganzen mexikanischen Nation stützen könne.⁵⁰ Das Volk von Mexiko sei jedoch gar nicht gefragt worden.⁵¹ Infolgedessen beruhe die Stellung des Erzherzogs in Mexiko allein auf „Gewalt“ und „Unterdrückung“: „Nous sommes allés y établir un gouvernement par l’épée, un trône sur nos baïonnettes.“⁵² Damit ist die Herrschaft Maximilians unzweideutig als Usurpation gekennzeichnet. Favre nannte die Kandidatur des Habsburgers für den Kaiserthron in Mexiko eine „candidature d’aventure“,⁵³ und er ließ es sich nicht entgehen, die Usurpation Maximilians in Mexiko mit der Usurpation Napoleons III. in Frankreich zu vergleichen: Unter „schallendem Gelächter auf einigen Bänken“, wie das Protokoll vermerkt, nannte Favre den Erzherzog „le modèle des candidats officiels“, das heißt der zur Sicherung einer regimetreuen Mehrheit bei den Wahlen zum Corps législatif mit allen Mitteln der Wahlbeeinflussung und amtlichen Protektion ausgestatteten Regierungskandidaten.⁵⁴ In den Augen der republikanischen Opposition war die Praxis der „candidatures officielles“ ein

47 Ebd., 27. 1. 1864. Zur Haltung der Opposition gegenüber der mexikanischen Politik Napoleons III. vgl. auch Frank Edward Lally: French Opposition to the Mexican Policy of the Second Empire. Baltimore 1931. 48 Jules Favre: Discours parlementaires. Bd. 2, Paris 1881, S. 347 (27. 1. 1864). Zu Jules Favre vgl. Joel S. Cleland: Jules Favre and the Republican Opposition to Napoleon III. Ph. D. Thesis, University of South Carolina, 1974. 49 Jules Favre: Discours parlementaires. Bd. 3, Paris 1881, S. 240 (9. 7. 1867). 50 Favre: Discours parlementaires (wie Anm. 48), S. 556 (3. 6. 1865). 51 Ebd., S. 346 (27. 1. 1864). 52 Ebd., S. 537 (10. 4. 1865). 53 Ebd., S. 179 (14. 3. 1862). 54 Ebd., S. 344 (27. 1. 1864).

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Symbol für den undemokratischen Charakter des bonapartistischen Regimes.⁵⁵ Nach Favres Überzeugung war sich der Erzherzog sehr wohl bewusst, „qu’on ne peut impunément jouer l’empereur improvisé au Mexique, alors qu’on n’est pas soutenu par une puissance considérable comme est la France.“⁵⁶ Daraus zog die republikanische Opposition jedoch nicht den Schluss, dass die französischen Truppen in Mexiko bleiben müssten, so lange Maximilian sie zur Aufrechterhaltung seiner Herrschaft benötige, sondern Jules Favre forderte umgekehrt, und zwar bereits am 10. April 1865, dass die Truppen nach Frankreich zurückkehrten.⁵⁷ Dementsprechend warf er der Regierung nach dem Tode des Erzherzogs auch nicht vor, dass sie ihn schutzlos seinem Schicksal überlassen habe. Ihre Verantwortung für seinen Tod sah er vielmehr darin, dass sie „gegen die Vernunft“ und „gegen das Recht“ überhaupt versucht habe, ihn in Mexiko zum Kaiser zu machen.⁵⁸ Zwar wolle er sich so kurz nach den Ereignissen von Queretaro jeglichen Vorwurfs gegen die Politik des Kaisers enthalten,⁵⁹ aber angesichts bestimmter Verlautbarungen der Regierung müsse er sich gleichwohl gegen die Postulierung einer „Art von Ausnahmerecht für einen Menschen“ wenden, eines „göttlichen Rechts, welches die Throne schütze und Schande über diejenigen bringe, die sie stürzen“; „das Schicksal eines beliebigen Sohns Frankreichs, der in Erfüllung seiner Pflicht und ohne daß jemand davon Notiz genommen hätte, auf fremdem Boden sein Leben gelassen“ habe, sei „des Mitgefühls würdiger“ als das Schicksal Maximilians.⁶⁰ Wie sich zeigt, verurteilten die Abgeordneten der republikanischen Opposition im Corps législatif übereinstimmend den Versuch der französischen Regierung, in Mexiko die verfassungsmäßige Republik zu beseitigen und dem Lande statt dessen eine von rückwärtsgerichteten Kräften getragene Monarchie aufzuzwingen. Da diese einhellige Stellungnahme in liberalen und republikanischen Grundüberzeugungen verankert war, liegt die Vermutung nahe, dass auch Manet in der Intervention Napoleons III. in Mexiko einen Verrat an den Prinzipien von 1789 und eine Missachtung des Selbstbestimmungsrechts der mexikanischen Na-

55 Zur Praxis der Wahlbeeinflussung im Zweiten Kaiserreich vgl. Theodore Zeldin: The Political System of Napoleon III. London 1953, bes. S. 78 ff.; einen guten Überblick über die Politik Napoleons III. bietet James F. McMillan: Napoleon III. London/New York 1991; sehr hilfreich ist William E. Echard (Hrsg.): Historical Dictionary of the French Second Empire. 1852–1870. London 1985. 56 Favre: Discours parlementaires (wie Anm. 48), S. 347 (27. 1. 1864). 57 Ebd., S. 538; vgl. auch ebd., S. 550 f. (8. 6. 1865). 58 Favre: Discours parlementaires (wie Anm. 49), S. 240 (9. 7. 1867). 59 Ebd., S. 245 (9. 7. 1867). 60 Ebd., S. 247 (9. 7. 1867).

258 | II Herrscher und Herrschaft tion erblickte. Dabei ist nicht auszuschließen, dass Manets Urteil in Wirklichkeit noch härter ausfiel, denn die zitierten Abgeordneten sind eher dem gemäßigten Flügel der republikanischen Opposition zuzurechnen, und „das Maß an Freiheit“, das ihnen unter dem Regime vergönnt war, gestattete es ihnen „noch nicht“, die ganze Wahrheit auf der Tribüne des Corps législatif auszusprechen, wie Favre am 24. Juli 1867 hervorhob.⁶¹ Mit der scharfen Verurteilung der französischen Interventionspolitik durch die republikanische Opposition kontrastiert allerdings auffällig die Zurückhaltung in der Bewertung der Rolle des Erzherzogs Maximilian selbst. Ursache dieser Zurückhaltung ist zunächst ohne Zweifel die in den konstitutionellen Monarchien gepflegte Fiktion, für die Fehler einer Regierung seien nicht die Fürsten, sondern ihre Berater verantwortlich. Dementsprechend war auch nicht der französische Kaiser selbst Zielscheibe der Kritik an der Politik Frankreichs in Mexiko, sondern seine Minister. Gegenüber einem auswärtigen und zumal verbündeten Herrscher trat als Grund der Zurückhaltung sodann der im internationalen Verkehr übliche Respekt und außerdem der Umstand hinzu, dass die Aufgabe eines Parlaments in erster Linie darin besteht, die eigene Regierung zu kontrollieren und nicht die Regierungen anderer Staaten. Außerhalb des Parlaments und zumal für einen Künstler fielen alle diese Rücksichten weg. Manet wäre kein Republikaner gewesen, wenn er an die konstitutionelle Fiktion geglaubt hätte, dass ein Herrscher kein Unrecht tun könne. Also war Maximilian für ihn kein unschuldiges Opfer der französischen Politik, sondern ein mit vollem Bewusstsein handelnder Mittäter. Selbst wenn die Hauptverantwortung für die mexikanische Expedition auf die Regierung Frankreichs fiel, so war der Erzherzog doch die Person gewesen, die den Thron ohne Zustimmung der mexikanischen Nation usurpiert hatte. Dass er aber etwa deshalb als Opfer der französischen Politik angesehen worden sei, weil die französischen Truppen ihn schutzlos in Mexiko zurückgelassen hätten, kann ebenso wenig die Position eines Republikaners gewesen sein. Denn abgesehen davon, dass Maximilian das Land ebenfalls hätte verlassen können, hätte er des Schutzes aus dem einzigen Grunde bedurft, dass die mexikanische Nation nicht unter ihm und seinem Kaisertum, sondern in der verfassungsmäßigen Republik leben wollte. Schließlich konnte man nicht gut die mexikanische Expedition über Jahre hinweg in schärfster Form anprangern und nach ihrem schmachvollen Ende der Regierung vorwerfen, sie habe sie vorzeitig abgebrochen. Als „Usurpator Mexikos“ deutete den Erzherzog auch der deutsche Dichter Johann Georg Fischer in seinem Trauerspiel „Kaiser Maximilian von Mexiko“, das

61 Ebd., S. 290 (24. 7. 1867).

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wie Manets Bilder in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Ereignis von Queretaro entstanden ist.⁶² Dem objektiven Befund der Usurpation stellte Fischer das subjektive Rollenverständnis des Kaisers als „Märtyrer“ gegenüber: Märtyrer im Sinne eines wohlmeinenden Herrschers, der sich für sein Volk aufopfert.⁶³ Die Tragödie Maximilians bestand dementsprechend darin, dass Wollen und Wirklichkeit in unauflöslichen Widerspruch gerieten. Am Ende stirbt Maximilian nicht als Märtyrer für eine überzeitliche und zukunftsweisende Idee. Vielmehr büßt er mit seinem Tod für sein weltfremdes Festhalten an historisch überholten Vorstellungen von guter Regierung durch einen väterlichen Fürsten, während das Volk von Mexiko in Wahrheit frei sein und sein Schicksal selbst bestimmen wollte.⁶⁴ Ganz jenseits der Frage nach Usurpation oder Legitimität Maximilians steht die Deutung des italienischen Dichters Giosuè Carducci in der zwischen 1878 und 1889 geschriebenen Ode „Miramar“.⁶⁵ Carducci machte den Kaiser ausdrücklich zum Opfer, zur „devota vittima“, freilich nicht zum Opfer der gescheiterten Expansionspolitik Napoleons III., sondern zum Sühnopfer für die Verbrechen, welche die Konquistadoren über drei Jahrhunderte zuvor im Namen Karls V. an den Azteken begangen hatten.⁶⁶ Maximilian ist hier in erster Linie der Spross des Hauses Habsburg und trägt durch seinen Tod die Schuld seiner Vorfahren ab.⁶⁷ Diese Sicht Carduccis auf das Haus Habsburg beruhte auf der Perspektive des italienischen Risorgimento, das ebenfalls gegen die vor Zeiten errichtete Fremdherrschaft Österreichs erkämpft werden musste. Dem Franzosen Manet musste sie eher fern liegen, und so lassen sich auch in keiner Version seines Bildes Hinweise auf eine derartige Auffassung des Vorgangs erkennen. Jeder Versuch, die politische Aussage des Manetschen Bildes neu zu bestimmen, bleibt jedoch an den ikonographischen Befund gebunden. Erleichtert wird die Interpretationsaufgabe allerdings durch die Möglichkeit des Vergleichs zwi-

62 Johann Georg Fischer: Kaiser Maximilian von Mexiko. Trauerspiel in fünf Akten. Stuttgart 1868, 2. Akt, 2. Szene, S. 60. Fischer, geboren 1816 in Groß-Süßen bei Geislingen (Württemberg), gestorben 1897 in Stuttgart, war ein Verehrer Friedrich Schillers und ist selbst mit Gedichten und politisch-historischen Dramen hervorgetreten, darunter „Friedrich der Zweite von Hohenstaufen“ (1863) und „Florian Geyer, der Volksheld im deutschen Bauernkrieg“ (1866). 63 Fischer: Kaiser Maximilian von Mexiko (wie Anm. 62), S. 62 f. 64 Vgl. ebd., Vorwort, S. 6: „Das Ende des unglücklichen Kaisers mit seinen josephinischen Ideen“; dagegen über Juárez.: „Wer möchte das Recht der nationalen Selbstbestimmung nicht als ein ewig unbestreitbares ehren [. . . ]!“ 65 Giosuè Carducci: Miramar. In: Ders.: Odi barbare. Hrsg. von Manara Valgimigli, Bologna 1960, S. 157–167. Miramare heißt das Schloss am Meer bei Triest, das Maximilian sich seit 1856 bauen ließ. Den Hinweis auf dieses Gedicht verdanke ich Frau Maria Grillo, Universität Catania. 66 Ebd., S. 166, Zeile 71. 67 Ebd., S. 167, Zeile 75 f.: „te io voleva, io colgo te, rinato fiore d’Absburgo“.

260 | II Herrscher und Herrschaft schen den fünf Fassungen, sofern man sich nicht darauf versteift, die sukzessiven Veränderungen einfach mit dem Eintreffen neuer Nachrichten zu erklären. Tatsächlich sind die Freiheiten, die Manet sich gegenüber den verschiedenen Berichten genommen hat, so zahlreich, dass die historische Genauigkeit nicht mehr als eines unter mehreren Entscheidungskriterien gewesen sein kann. Zu den Abweichungen gehören zum Beispiel die Position Maximilians zwischen den Generälen, sein Sombrero, der Umstand, dass Manet nur ein Erschießungspeloton statt deren drei gemalt hat, schließlich das Verschwinden des achten Offiziers in der Mannheimer Fassung, an dessen ursprüngliche Stellung hinter dem Erschießungskommando nur noch ein kleiner roter Fleck an der Stelle, wo seine Mütze sich befunden haben muss, erinnert.⁶⁸ Zum andern darf man annehmen, dass selbst eine sorgfältige Berücksichtigung der – vor allem am Anfang zum Teil widersprüchlichen – Nachrichten dem Maler noch genügend Spielraum für die Entfaltung seiner Phantasie gelassen hätte. Wie frei Manet tatsächlich mit den Nachrichten umging, zeigt ein Vergleich eines Berichts im „Figaro“ vom 5. Juli 1867 und schon der Bostoner Fassung des Bildes, die frühestens in der zweiten Juliwoche begonnen worden sein kann. In diesem Bericht ist bereits davon die Rede, dass die Exekution vor der Mauer eines Friedhofs stattgefunden habe. Selbst wenn man die dunklere Fläche hinter den drei Verurteilten auf dem Bostoner Bild als Andeutung einer Mauer auffassen könnte, so ist diese jedenfalls in der Londoner Fassung weggefallen. Auf keinem der Bilder sind die drei Bänke und die drei Kreuze wiedergegeben, die nach dem Artikel vom 5. Juli vor der Exekution an der Mauer aufgestellt worden sein sollen.⁶⁹ Der Schluss drängt sich auf, dass Manet nur diejenigen Einzelheiten berücksichtigte, die seinem Bildgedanken entsprachen. Das bedeutet zugleich, dass jedes Detail auf dem Bild selbst dann als Bestandteil der Aussage interpretiert werden muss, wenn es – außerdem – historisch verbürgt war. Damit rechtfertigt sich

68 Dass drei Erschießungspelotons gebildet worden seien, Miramon in der Mitte gestanden sei und Maximilian seinen Hut vor der Hinrichtung abgelegt habe, berichtete „Le Mémorial Diplomatique“ am 10. 10. 1867 auf der Grundlage des Augenzeugenberichts von Tudos (wie Anm. 26); von einem einzigen Erschießungskommando, bestehend aus sechs Schützen, einem Korporal und einem Offizier, hatte Albert Wolff am 11. 8. 1867 in „Le Figaro“ berichtet (wie Anm. 29). Von der zweiten Fassung an malte Manet durchweg acht Soldaten; in der Londoner Fassung ist allerdings von dem kommandierenden Offizier nur der erhobene Säbel zu sehen, der hinter den sechs Schützen emporragt; in der Mannheimer Fassung scheint diese Figur oder vielmehr der Säbel übermalt worden zu sein. 69 Der Bericht in „Le Figaro“ vom 8. 7. 1867 in: Jones: Appendix: Documentation (wie Anm. 4), S. 116 f.; dass schon in der Bostoner Fassung eine Mauer angedeutet sein könnte, hält Jones: Structure and Meaning in the „Execution Series“ (wie Anm. 24), S. 16, für möglich.

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um so mehr der Versuch, die verschiedenen Fassungen noch einmal unter der Fragestellung miteinander zu vergleichen, inwiefern an ihnen ein Prozess des Ringens um die angemessene Umsetzung der intendierten politischen Aussage sichtbar wird. Da Manet offenbar keine Äußerungen darüber hinterlassen hat, wie er das Bild verstanden wissen wollte, hat die kunstgeschichtliche Forschung seit jeher versucht, die intendierte Aussage auf indirektem Wege zu ermitteln. In diesem Zusammenhang hat sich die einhellige Ansicht gebildet, die Exekution Maximilians verweise auf Francisco Goyas „Der 3. Mai 1808“ (Abb. 7). Dargestellt ist dort die Erschießung spanischer Freiheitskämpfer durch französische Soldaten, die sich am 2. Mai 1808 an dem Aufstand gegen die französische Okkupationsarmee unter Murat beteiligt hatten. Manets Wertschätzung der spanischen Malerei ist bekannt und in seinen Werken der sechziger Jahre vielfach belegt. Dass er auch den „3. Mai“ gesehen haben muss, ergibt sich daraus, dass Manet 1865 Madrid und den Prado besucht hatte. Außerdem hat Charles Yriarte 1867 in Paris eine Monographie über Goya veröffentlicht, in der auch die bewusste Erschießungsszene beschrieben und in einem Stich abgebildet war.⁷⁰ Yriarte bezeichnete das Bild als „eines der berühmtesten Werke“ Goyas. Auf jeden Fall sei es „das bekannteste“.⁷¹ Dass die Kenntnis des Bildes schon damals auch in Frankreich verbreitet gewesen sein muss, ergibt sich aus einer Bemerkung im Vorwort, wonach über Goya in Frankreich bereits sehr viel geschrieben worden sei.⁷² Dass ein Maler, der einen nicht gerade alltäglichen Vorgang wie eine Hinrichtung darstellen will, sich mit entsprechenden Vorbildern auseinandersetzte, läge auf jeden Fall nahe. Speziell Manet hat jedoch viele seiner Bilder unter bewusster Bezugnahme auf Gemälde der Vergangenheit gemalt. „Das Frühstück im Freien“ von 1863 knüpfte an „Das Urteil des Paris“ von Raffael bzw. Raimondi und an „Das ländliche Konzert“ von Giorgione an, die berühmte „Olympia“, ebenfalls von 1863, an Tizians „Venus von Urbino“. Die allgemeine Anordnung der Soldaten und der Opfer in Manets „Exekution“ gleicht der Anordnung bei Goya: Die Soldaten feuern von rechts nach links; die Gesichter der Schützen sind nicht zu sehen; die Opfer stehen links und wenden dem Betrachter ihre Vorderseite zu. Eine Bezugnahme Manets auf Goya – darauf hat bisher niemand aufmerksam gemacht – könnte man auch in der Datierung seines Bildes sehen: Goyas Bild trägt das Datum des dargestellten Ereignisses im Titel, und Manet setzte das Datum der

70 Charles Yriarte: Goya. Sa biographie, les fresques, les toiles, les tapisseries, les eaux-fortes et le catalogue de l’œuvre avec cinquante planches inédites. Paris 1867. 71 Ebd., S. 86. 72 Ebd., S. 10.

262 | II Herrscher und Herrschaft Exekution Maximilians in der endgültigen Fassung unter seine Signatur, gerade als wäre das Bild an diesem Tag fertig geworden (Abb. 1). Die Vermutung, dass diese Verfahrensweisen etwas miteinander zu tun haben könnten, wird erhärtet durch den Titel eines Bildes von Jean-Léon Gérôme, das ebenfalls im Jahre 1868 und wahrscheinlich in Kenntnis des Manetschen Bildes entstanden ist: „7. Dezember 1815, neun Uhr in der Frühe“ (Abb. 8).⁷³ Dargestellt ist die Hinrichtung des Marschalls Ney. Wie sich im weiteren Verlauf zeigen wird, spricht einiges dafür, dass auch dieses Bild sich aufgrund seiner politischen Aussage in eine Reihe mit Goyas und Manets Exekutionsdarstellungen einfügen lässt.⁷⁴ Die Vermutung, die Datierung der Endfassung der „Erschießung Kaiser Maximilians“ sei als eine Art von Titelgebung gedacht gewesen, mit der Manet demonstrativ auf Goyas Erschießungsszene habe anspielen wollen, setzt voraus, dass das Bild Goyas entweder von diesem selbst mit dem Datum des dargestellten Ereignisses tituliert wurde oder dass es wenigstens zu der Zeit, als Manet an der „Erschießung Maximilians“ arbeitete, unter einem solchen Titel bekannt war. In der Forschung gilt die Meinung, dass von Goya selbst kein Titel für das Bild überliefert sei. Dagegen ist auf dem Himmel des inhaltlich mit der Exekutionsszene zusammengehörigen Bildes vom Aufstand des 2. Mai 1808 von Goyas Hand „MADRID/DOS DE MAYO“ vermerkt.⁷⁵ In seiner Monographie von 1867 führte Yriarte Goyas Bild von der Erschießung unter dem Titel „Le Deux Mai (Dos de Mayo)“ auf, das Bild vom Aufstand dagegen heißt dort „Scène du Deux Mai“.⁷⁶ Damit ist zunächst wahrscheinlich gemacht, dass Manet und sein Publikum das Erschießungsbild unter dem reinen Datumstitel des 2. Mai gekannt haben. Dass Yriarte diesen Titel nicht erfunden hat, ergibt sich schon daraus, dass das Bild in einem Inventar des Prado von 1857 unter dem Titel „Dia dos de Mayo de 1808 en la montaña del Principe Pio“ aufgeführt ist.⁷⁷ Im übrigen sprechen Logik und Lebenswahrscheinlichkeit dafür, die beiden Bilder im Unterschied zu der heute üblichen Benennung als „Zweiter“ beziehungsweise „Dritter Mai 1808“ mit demselben Datum, nämlich dem 2. Mai, zu bezeichnen. Der Aufstand gegen die französischen

73 Vgl. Gerald M. Ackerman: Gérôme and Manet. In: Gazette des Beaux Arts 70 (1967), S. 169 f. 74 Vgl. unten. 75 Pierre Gassier/Juliet Wilson/François Lachenal: Goya. Leben und Werk. Köln 1994 (Nachdruck der Ausgabe Fribourg 1971), S. 257. – Für diesen Hinweis danke ich Peter Anselm Riedl, Heidelberg. 76 Yriarte: Goya (wie Anm. 70), S. 86, 130. 77 Museo del Prado: Inventario General de Pinturas. I. La Colección Real. Madrid 1990, S. 493. Das Bild vom Aufstand hieß im Inventar von 1857 „Dos de Mayo de Madrid de 1808 en la Puerta del Sol“; im neuesten Inventar von 1990 heißt es schlicht „El Dos de mayo de 1808“, während das Erschießungsbild dort den Titel trägt „El Tres de mayo de 1808“: ebd., S. 492 f.

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Truppen brach am Morgen des 2. Mai 1808 in Madrid aus und tobte den ganzen Vormittag lang. Spätestens um 14 Uhr war er niedergeschlagen, und etwa eine Stunde später begannen die Exekutionen. Sie setzten sich in der Nacht fort und endeten erst am Morgen des folgenden Tages.⁷⁸ Nun findet die Erschießung auf dem Bild Goyas bei Nacht statt. Es kann sich dabei nur um die Nacht vom 2. auf den 3. Mai handeln. Was sich von einem Tag ausgehend in die Nacht hinein erstreckt, wird im allgemeinen jedoch als Ereignis dieses Tages erlebt, selbst wenn es bis nach Mitternacht andauern sollte. Und so entspricht es der Lebenswahrscheinlichkeit, dass beide Ereignisse – der Aufstand und die Hinrichtungen – in der Erinnerung der Spanier als zusammengehörig und am selben Tag geschehen lebendig waren, als Goya das Geschehen sechs Jahre später malte. So gesehen erscheint es durchaus denkbar, dass die Titelgebung „MADRID/DOS DE MAYO“ auf dem ersten Bild sich in Wirklichkeit auf beide Bilder zugleich bezog. Keiner der verschiedenen Autoren, die in Goya einen Bezugspunkt für Manets „Exekution“ erblickt haben, hat darauf verzichtet, die Bezugnahme auch auf die inhaltliche Aussage auszudehnen: Dargestellt sei jeweils die Ermordung unschuldiger Opfer von der Hand der Soldateska. Pamela M. Jones und Marianne Ruggiero gingen 1981 noch einen Schritt über diese Position hinaus, indem sie versuchten, die von beiden Malern dargestellten politischen Konstellationen in den Vergleich einzubeziehen. Pamela M. Jones sieht die Gemeinsamkeit des „Dritten Mai“ und der Bostoner Fassung des „Maximilian“ im Ausdruck des Patriotismus. Bei Goya sei es der Patriotismus des spanischen Volkes gewesen; bei Manet soll es das französische Nationalgefühl gewesen sein, das durch das brutale Vorgehen gegen Maximilian und damit zugleich gegen Frankreich verletzt worden sei.⁷⁹ Dementsprechend seien die Soldaten in der ersten Fassung als Mexikaner dargestellt. Dass die Soldaten in allen späteren Fassungen französischen Soldaten zumindest ähnlich sehen, deutet Pamela M. Jones im weiteren Verlauf als einen Wechsel der Bildaussage. Durch die Veränderung der Uniformen werde das Bild zu „a more forthright attack on imperialist policy“. Den Vergleich mit Goya verfolgt sie dementsprechend von der zweiten Fassung an nicht weiter.⁸⁰ Marianne Ruggiero sieht die Parallele zwischen Goya und Manets Bostoner Fassung zunächst in dem Umstand, dass beide Male „an insurgent army faces an imperial invader“, fügt jedoch hinzu, dass „Goya’s victims“ in der Bostoner Ver-

78 Gabriel H. Lovett: Napoleon and the Birth of Modern Spain. Bd. 1: The Challenge to the Old Order. New York 1965, S. 140 ff., bes. S. 147 ff.; A. Grasset: La Guerre d’Espagne (1807–1813), Bd. 2, Paris 1925, S. 27 f. 79 Jones: Structure and Meaning in the „Execution Series“ (wie Anm. 24), S. 13. 80 Ebd., S. 17.

264 | II Herrscher und Herrschaft sion „Manet’s executioners“ seien.⁸¹ Diesen Gedanken hält sie jedoch wie Pamela M. Jones nur für die erste Fassung aufrecht, da sie aufgrund des Wechsels der Uniformen in den folgenden Fassungen ebenfalls zu der Überzeugung gelangt, Maximilian solle nunmehr „as the victim not of the insurgents but of the Imperial forces responsible for his fate“ erscheinen.⁸² In Übereinstimmung damit steht die Ansicht von Kathryn L. Brush, „Manet’s ultimate ambition“ sei gewesen „to portray Maximilian as the martyr of French politics“: „The unmistakably French firing squads of the London, Copenhagen and Mannheim paintings clearly demonstrate that there was no longer any confusion in Manet’s mind as to the identity of the culprit responsible for the death of the Emperor.“⁸³ Alle drei Autorinnen sehen in sämtlichen Manetschen Fassungen eine wesentliche, wenngleich nicht eigens thematisierte Gemeinsamkeit mit Goyas „Drittem Mai“. Die Hingerichteten erscheinen in der Rolle der unschuldigen Opfer, die Soldaten verkörpern dagegen Unrecht und Gewalt. Insofern hätte Manet die Bildaussage Goyas ganz wörtlich übernommen. Dass Manet so verfahren wollte, ist natürlich nicht von vornherein auszuschließen, doch sollte man zugleich mit der Möglichkeit rechnen, dass die Bezugnahme auf Goya als eine Provokation der eingefahrenen Seh- und Denkgewohnheiten von Manets Zeitgenossen gedacht war, ganz ebenso wie die Anspielung auf Raffael und Giorgione im „Frühstück im Freien“ und auf Tizian bei der „Olympia“ provozieren sollte. Warum die Vorstellung schwerfallen muss, dass der Republikaner Manet den Kaiser Maximilian als Märtyrer angesehen und das Bild in diesem Sinne als Anklage gegen Napoleon III. gemalt haben soll, ist bereits mit allgemeinen Überlegungen begründet worden. Nimmt man jedoch einmal an, die Provokation wäre auch bei diesem Bild ein wesentlicher Teil von Manets Intention gewesen, und anerkennt man in der Anspielung auf Gemälde der Vergangenheit ein bevorzugtes Mittel Manets, um aufzurütteln, dann würde sich nicht nur erklären, warum der Maler nicht schon früher ein regimekritisches Bild gemalt hat, sondern auch, warum er ausgerechnet die Exekution Maximilians fern in Mittelamerika zum Gegenstand eines solchen Oppositionsbildes wählte. Dass in der „Exekution Maximilians“ eine Provokation steckt, wäre dabei keine prinzipiell neue Entdeckung; denn auch die Durchführung der Exekution durch französische Soldaten – wenn das Kommando denn diesen Anschein haben sollte – wäre natürlich eine unge-

81 Ebd. 82 Ruggiero: Manet and the Image of War and Revolution (wie Anm. 37), S. 26. 83 Kathryn L. Brush: Manet’s „Execution“ and the Tradition of the „Histoire“. In: Edouard Manet and the „Execution of Maximilian“ (wie Anm. 4), S. 45 f.

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heure Provokation gewesen. Nicht gesehen wurde dagegen bisher eine Provokation, die sich nur aus dem Vergleich mit Goya ergibt. Marianne Ruggiero hatte die Parallele der dargestellten Vorgänge zwischen Goya und wenigstens Manets Bostoner Fassung aus gutem Grunde darin gesehen, dass in beiden Fällen eine „insurgent army“ einem „imperial invader“ gegenüberstehe, nur dass Goyas Opfer Manets Henker gewesen seien. Aus dieser Einsicht schmiedet sie jedoch nicht den Schlüssel zu einer neuen politischen Interpretation von Manets Bild. Für den Republikaner Manet musste sich die Vergleichbarkeit der Vorgänge jedoch schon mit Bezug auf den jeweiligen gesamtpolitischen Hintergrund aufdrängen. Beide Exekutionen waren die Folge bonapartistischer Expansion und Intervention in einem Drittland. In beiden Fällen rief die napoleonische Gewaltpolitik den Widerstand des um Freiheit und nationale Unabhängigkeit kämpfenden Volkes hervor. Die Bilder von Goya und Manet – thematisch verknüpft durch den Vorgang der Exekution – greifen allerdings politisch gegensätzliche Folgen der Gewaltpolitik auf. Darin eben liegt das Paradox der Darstellung Manets im Vergleich zu Goya. Im Jahre 1808 übten napoleonische Soldaten Gewalt und ermordeten die Freiheitskämpfer des überfallenen Landes: Goyas Bild zeigt die Unterdrückung des Rechts der spanischen Nation, selbst über ihr politisches Schicksal zu bestimmen, durch das napoleonische Frankreich. Im Jahre 1867 wurde der Strohmann eines anderen Napoleon erschossen, weil er sich dazu hergegeben hatte, die Freiheit und Unabhängigkeit der mexikanischen Nation zu unterdrücken. Goya malte einen Gewaltakt gegen Recht und Gesetz, Manet einen Akt der Durchsetzung und Manifestation von Recht und Gesetz. Hatte Goya die Unterdrückung der Freiheitskämpfer Spaniens dargestellt, so erscheinen diese bei Manet durch die Freiheitskämpfer Mexikos gleichsam gerächt. Die Verletzung des Rechts von 1808 wird durch die Hinrichtung Maximilians symbolisch gesühnt. Die Politik der beiden Napoleons zu verknüpfen, wäre dabei für sich genommen noch keineswegs ein Zeichen von Regimekritik. Vielmehr hat sich Napoleon III. von Anfang an selber auf seinen Oheim berufen und das Zweite Kaiserreich als Wiederherstellung des Kaisertums Napoleons I. gefeiert.⁸⁴ Schon deshalb lag es für einen Kritiker Napoleons III. nahe, auch die Opfer der Expansionspolitik der beiden Kaiser miteinander zu vergleichen.

84 Ein zentraler Beleg für diese öffentliche Selbstdeutung Napoleons III. ist die Präambel zur Verfassung des Zweiten Kaiserreichs vom 14. Januar 1852, abgedruckt u. a. in: Wilhelm Altmann (Hrsg.): Ausgewählte Urkunden zur außerdeutschen Verfassungsgeschichte seit 1776, Berlin 1897, S. 246 ff.

266 | II Herrscher und Herrschaft Unter den Kritikern Napoleons III. war Manet allerdings keineswegs der einzige, der die Intervention in Mexiko vom Jahre 1862 an mit der Okkupation Spaniens im Jahre 1808 in Verbindung brachte. Auch Jules Favre erinnerte am 27. Januar 1864 im Corps législatif daran, dass 56 Jahre zuvor Napoleon I. „a eu un jour son Mexique aussi“,⁸⁵ und am 8. Juni 1865 hob er hervor, dass diese Unterdrückung des Selbstbestimmungsrechts der spanischen Nation nichts als einen tiefen Hass gegen die Franzosen erzeugt habe.⁸⁶ Beide Male versäumte es Favre nicht, darauf hinzuweisen, dass der Krieg in Spanien eine wesentliche Ursache für den Zusammenbruch der Herrschaft Napoleons I. in Europa und für seinen Sturz als Kaiser der Franzosen bilden sollte. Der spiegelverkehrte Vergleich der beiden Exekutionen stellte Manet allerdings vor die schwierige Aufgabe, die Hinrichtung Maximilians eindeutig als Vollzug des Gesetzes und nicht als willkürlichen Gewaltakt erscheinen zu lassen. Es sieht ganz so aus, als sei das Ringen um die Bewältigung dieser Aufgabe der Hauptgrund dafür gewesen, dass Manet sich so lange mit dem Bild beschäftigte und sich erst mit der dritten großformatigen Fassung, der Mannheimer, zufriedengab. Die vorgeschlagene Interpretation verlangt, dass die Hauptsache im Bilde nicht die Verurteilten seien, sondern das Erschießungskommando. Die Soldaten nehmen tatsächlich in allen Fassungen den größten Raum ein und erscheinen namentlich im Vergleich mit Goyas „Drittem Mai“ deutlich zur Bildmitte hin verschoben.⁸⁷ Demgegenüber fällt auf, dass die Gesichter der Opfer, besonders das Gesicht Maximilians, fast durchweg undeutlich gezeichnet sind. Das gilt besonders für die Bostoner Fassung, in der Miramon fast ganz hinter dem Pulverdampf verschwindet (Abb. 2), aber selbst in dem Mannheimer Bild erscheint das Antlitz Maximilians merkwürdig verschleiert, und auf die Gesichter der beiden Generäle fällt ein Schatten, dessen Ursache nicht erkennbar ist (Abb. 1). Der Vergleich der Bostoner mit allen späteren Fassungen zeigt jedoch vor allem bei den Soldaten wichtige Veränderungen, die mit der Absicht zu erklären sind, die Exekution als geordneten, gesetzmäßigen Vorgang erscheinen zu lassen. An die Stelle des ungeordneten wilden Haufens in Boston ist in den späteren Fassungen ein Kommando in rhythmischer, das heißt regelförmiger Aufstellung getreten. Die Soldaten haben jeden Anschein von Partisanen oder Guerilleros abgelegt. Ihr Erscheinungsbild ist gepflegt, zivilisiert, sozusagen europäisch. Hier mag das Motiv für die Ähnlichkeit mit französischen Soldaten gelegen haben. Mit dem

85 Favre: Discours parlementaires (wie Anm. 48), S. 355. 86 Ebd., S. 555. 87 Dies beobachtete schon Sandblad: Manet (wie Anm. 6), S. 123.

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Bild des französischen Soldaten verband sich für den Betrachter in Frankreich, so vermutlich das Kalkül, am ehesten die Vorstellung von einer gesetzestreuen und disziplinierten Truppe, wobei zu betonen ist, dass Manet an Einzelheiten deutlich zu machen suchte, dass es sich nicht wirklich um französische Uniformen handeln sollte: So sind zum Beispiel die Gürtel weiß, während die Chasseurs de Vincennes schwarze Gürtel trugen. Eine wesentliche Veränderung bildete schließlich die Ersetzung des breitbeinigen, dem Betrachter frontal zugewandten Sergeanten in der Bostoner Fassung durch den ungerührt mit der Überprüfung seines Gewehrs beschäftigten Sergeanten mit roter Mütze in allen folgenden Fassungen. Der Sergeant in Boston steht provozierend selbstbewusst vor der Szene, gerade als sei seine vordringliche Aufgabe, eine Einmischung von Dritten in das Geschehen abzuwehren. Dadurch gewinnt das Erschießungskommando jedoch den Anschein, als bilde es eine autonome Handlungseinheit. Genau dieser Eindruck passt jedoch schlecht zu der Funktion eines bloß ausführenden Organs der Justiz. Als erstem ist Thomas Schlotterback aufgefallen, dass der Sergeant der Londoner und aller folgenden Fassungen ein Zitat aus Paul Alexandre Protais’ Bild „Der Morgen vor dem Angriff“ von 1863 darstellt (Abb. 9). Das Bild von Protais wurde 1863 im Salon ausgestellt und dann noch einmal 1867 bei der Weltausstellung gezeigt.⁸⁸ Dort wird Manet es in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit seiner Arbeit an der „Exekution des Maximilian“ gesehen haben. In Protais’ Bild spielt der Sergeant die Rolle des erfahrenen Routiniers, der sich durch die gespannte Erwartung der jüngeren Soldaten nicht aus der Ruhe bringen lässt. Dass Manet ausgerechnet diese Figur in sein Bild übertrug, spricht dafür, dass er nach einem Ausdruck für Leidenschaftslosigkeit, Regelhaftigkeit, Routine suchte.⁸⁹ Dies wären demnach die Attribute des einzigen Soldaten, dessen Antlitz dem Betrachter – wenigstens im Halbprofil – zugekehrt ist und von dessen Gemütsverfassung er sich seine Vorstellung vom Charakter des dargestellten Vorgangs bilden muss. Mit Schlotterbacks Entdeckung wird zugleich die Vermutung hinfällig, der Sergeant trage die Züge des juaristischen Generals Porfirio Diaz.⁹⁰ Schon Kurt Martin hatte gesehen, dass allein die Abwendung der Schützen vom Betrachter, die sich schon von der ersten Fassung an findet, den Eindruck des

88 Thomas Schlotterback: Manet’s „L’Exécution de Maximilien“. In: Actes du XXIIè Congrès International d’Histoire de l’Art (1969), Bd. 2, Budapest 1972, S. 791 f. 89 Vgl. Boime: New Light on Manet’s „Execution of Maximilian“ (wie Anm. 15), S. 188 f. 90 Vgl. Aaron Scharf : Art and Photography. London 1965, S. 44 ff.

268 | II Herrscher und Herrschaft bloßen Vollzugs hervorrufen musste.⁹¹ Die Unerschütterlichkeit des routinierten Sergeanten im selben Augenblick, in dem das Kommando feuert, unterstreicht diese Deutung. Nicht Hass oder Rachsucht sind die Motive für die Tat, sondern der gesetzliche Befehl.⁹² Der Prozess der Versachlichung und Distanzierung im Fortgang der Fassungen lässt sich besonders an der Umgestaltung des Exekutionskommandos demonstrieren, während sich in dieser Hinsicht an den Opfern, speziell an Maximilian, kaum etwas veränderte. Der Kaiser steht in allen Fassungen da wie einer, der ruhig und gefasst dem Vollzug des Gesetzes entgegensieht. Zum Entsetzen wie bei Goya besteht kein Anlass. Die Soldaten handeln nicht aus Willkür, sie vollstrecken nur ein Urteil. Dieses Urteil war keine Überraschung. Maximilians Hut ist die eigentliche Pointe in dem Gemälde, aber nicht etwa, weil die Krempe an einen Heiligenschein erinnern könnte. Wie bereits erörtert, hätte es nicht zum Republikanismus Manets gepasst, den Erzherzog als Märtyrer darzustellen. Der Sombrero bildet vielmehr deshalb die Pointe, weil er Maximilian gleichzeitig als Usurpator und als lächerliche Figur erscheinen lässt. Der Sombrero erfüllt in dem Bild die Funktion eines Symbols des mexikanischen Volkes. Auf Maximilians Haupt erscheint er als die Krone des Usurpators, als Zeichen für die vorgespiegelte Volkstümlichkeit, für die angemaßte Legitimation durch das Volk. Maximilian wirkt lächerlich, weil er seiner Exekution in der Illusion des Volkskaisertums entgegentritt, ein Don Quixote, der den Bezug zur Wirklichkeit verloren hat. Als lächerliche Figur erinnert die Erscheinung mit dem großen runden Hut am ehesten an Watteaus „Gilles“, den Manet bereits im „Alten Musiker“ von 1862 zitiert hatte.⁹³ Indem Manet Maximilian nicht nur als Eindringling und als Werkzeug des fremden Eroberers, sondern durch den Sombrero in erster Linie als Usurpator kennzeichnet, legt er den Vergleich mit den beiden Usurpatoren nahe, deren Imperialismus die Voraussetzungen sowohl für die Exekution des „Dritten Mai“ als auch für die „Exekution Maximilians“ geschaffen hatte. Auf diese Weise drückt Manets Bild eine fundamentale Kritik am Bonapartismus überhaupt aus, die viel tiefer reicht, als es die Anklage wegen des angeblichen Märtyrertods des fehlgeleiteten Erzherzogs je vermocht hätte. Während also seit der zweiten (der Londoner)

91 Kurt Martin: Edouard Manet. Die Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko. Berlin 1948, S. 10. 92 So auch House: Über Historienmalerei, Zensur und Hintersinn (wie Anm. 25), S. 38. 93 Vgl. Michael Fried: Manet’s Sources. Aspects of His Art. 1859–1865. In: Artforum 7 (1969), S. 30 ff.; eine Beziehung zwischen Watteaus „Gilles“ und Manets „Maximilian“ hält auch Oskar Bätschmann: Edouard Manet (wie Anm. 7), S. 70, für möglich.

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Fassung das Erscheinungsbild des Erschießungskommandos völlig neu gestaltet ist, tritt in der dritten und endgültigen großformatigen Fassung in der Kunsthalle Mannheim hinter den Soldaten und Opfern die große Mauer hinzu. Sie war erstmalig in der Lithographie und in der Kopenhagener Ölskizze aufgetaucht, und zwar in der Lithographie abgewinkelt, so dass sich angesichts des Lichteinfalls von links die Opfer mit ihren hellen Gesichtern von der im Schatten liegenden Querwand, die Soldaten mit ihren dunklen Uniformen von der sonnenbeschienenen Längswand deutlich abheben (Abb. 4 und 5).⁹⁴ Die Einführung der Mauer wird wiederum vielfach mit dem Eintreffen neuer Berichte und Illustrationen in Verbindung gebracht. Sandblad schreibt, die Hinzufügung der Mauer „must mean that he had read a new account of the drama.“⁹⁵ Wie bereits erwähnt, war jedoch schon am 8. Juli 1867 im „Figaro“ berichtet worden, die Exekution habe vor einer Friedhofsmauer stattgefunden, ohne dass der Maler dieser Information in den beiden ersten Fassungen Rechnung getragen hätte.⁹⁶ Selbst wenn das Motiv historischer Detailtreue bei der Einführung der Mauer eine Rolle gespielt haben sollte, kann dies angesichts der bereits mehrfach nachgewiesenen Selektivität Manets gegenüber den Berichten aus Mexiko nicht der entscheidende Grund für die Neuerung gewesen sein. Der Vergleich der verschiedenen Versionen zeigt, dass mit der Mauer zugleich ein weiteres Element in dem Bild auftaucht: die Zuschauer. Man könnte versucht sein, in den Zuschauern ein folkloristisches Ornament zu erblicken – „a new element of local colouring“⁹⁷ –, sei es, um auf diese Weise das Land zu kennzeichnen, in dem sich der Vorgang abspielte, sei es, um dem Drama der Exekution zur emotionalen Entlastung ein komödiantisches Gegengewicht hinzuzufügen. Die komödiantische Pointe würde allerdings nur stechen, wenn man annehmen dürfte, die Exekution habe hinter der Mauer stattgefunden, um die Öffentlichkeit gerade auszuschließen. Aus Neugier oder Sensationslust wären einige Bewohner Queretaros dennoch auf die Mauer geklettert, um die Hinrichtung mitzuerleben. Nun wird in der Forschung fast einhellig darauf hingewiesen, dass Mauer und Zuschauer auf Manets Bild plaziert sind wie Absperrung und Publikum auf Darstellungen von Stierkämpfen. Als bildnerisches Vorbild wird auch hierfür ein Werk Goyas angeführt, die Radierung von 1816: „Pedro Romero tötet den inne-

94 95 96 97

Vgl. Jones: Structure and Meaning in the „Execution Series“ (wie Anm. 24), S. 19 f. Sandblad: Manet (wie Anm. 6), S. 141. Vgl. oben; vgl. Brush: Manet’s „Execution“ (wie Anm. 83), S. 46. Sandblad: Manet (wie Anm. 6), S. 141.

270 | II Herrscher und Herrschaft haltenden Stier“ (Abb. 10).⁹⁸ Manet hat 1865 selbst einen Stierkampf gemalt, und auch dort sind die Zuschauer – wenngleich auf mehreren Rängen – in derselben Weise hinter den Absperrungen angeordnet wie bei Goya (Abb. 11). Die Assoziation des Stierkampfs ist auf unterschiedliche Art und Weise gedeutet worden. Pamela M. Jones sieht darin einen Hinweis auf die „brutality involved in bullfighting and by extension the Mexican affair.“⁹⁹ George Mauner glaubt in der „Exekution Maximilians“ eine absichtliche Parallelisierung zu Manets Stierkampfbild von 1865 zu erkennen; Plazierung von Torero und Stier zueinander entsprechen in der Tat der Aufstellung der Soldaten und Maximilians mit seinen Generälen; das Schwert des Toreros ist auf den Stier gerichtet wie die Gewehre der Soldaten auf die drei Verurteilten. „In both cases has the victim, who stands perfectly still, come to accept his fate; in both cases is the death blow to be delivered in a calculated, dispassionate fashion.“¹⁰⁰ Indem Manet die Exekution Maximilians mit einem Stierkampf vergleiche, bei dem jeden Tag ein neues Opfer in die Arena geführt werde, mindere er zwar vielleicht ihre „historical significance“, gleichzeitig aber erweitere er „its meaning to encompass humanity without restrictions of time or place.“¹⁰¹ Der Gedanke, dass der Vergleich mit dem Stierkampf das einmalige Ereignis der Hinrichtung des Kaisers Maximilian in ein regelhaftes Geschehen umdeute, lässt sich unschwer in die Hypothese einordnen, dass die Exekution in Manets Bild als Vollzug des Gesetzes, also einer Rechtsregel, dargestellt werden sollte. Indem die Mauer mit den Zuschauern an den Stierkampf erinnert, wird jedoch noch ein weiterer Gedanke bildlich umgesetzt. Wenn die Mauer die Absperrung in der Arena symbolisiert, dann diente sie nicht dazu, Zuschauer fernzuhalten, sondern sie schuf im Gegenteil erst die Voraussetzung dafür, dass Zeugen das Geschehen beobachteten. Die Absperrung soll die Zuschauer vor dem Stier schützen und dadurch ihre Anwesenheit ermöglichen. Ohne Zuschauer wäre der Stierkampf ohne Sinn. Mauer und Zuschauer verstärken in Manets Bild dementsprechend die Aussage, dass es sich um den Vollzug des Gesetzes handelt, der die Öffentlichkeit nicht zu scheuen braucht, und nicht um einen Willkürakt wie bei Goyas „Drittem Mai“, wo die Erschießung nachts und irgendwo auf freiem Feld stattfindet.¹⁰² In

98 Jones: Structure and Meaning in the „Execution Series“ (wie Anm. 24), S. 21. 99 Ebd. 100 George Mauner: Manet, Peintre-Philosophe. A Study of the Painter’s Themes. University Park/London 1975, S. 123. 101 Ebd. 102 Der Ort des Geschehens ist die Montaña del Principe Pio, heute im Madrider Stadtteil Moncloa gelegen. Die Umgebung, vor allem die Stadt im Hintergrund, entspricht jedoch kaum

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dieser Hinsicht gleicht die Bostoner Fassung in ihrer romantischen Wildheit noch stark dem „Dritten Mai“, während die Klarheit der Farben und Figuren vor grüner Wiese und blauem Himmel in der Londoner Fassung schon in deutlichem Gegensatz dazu stehen (Abb. 2 und 3). Doch erst die drei folgenden Fassungen führen mit den Zuschauern auf der Mauer unverkennbar die Öffentlichkeit ein, Öffentlichkeit als unterscheidendes Merkmal eines Rechts- und Verfassungsstaats, während in der definitiven Mannheimer Version die gleichmäßige Helligkeit der Szene im ganzen sowie die Heiterkeit der Landschaft, die zuerst das Londoner Bild beherrscht hatte, ebenfalls erhalten geblieben sind (Abb. 1). Die Zuschauer zeigen teils Neugier, teils Langeweile. Dass jemand entsetzt oder auch nur schockiert gezeigt werde, wie vielfach behauptet wird, lässt sich nicht bestätigen.¹⁰³ Dagegen sprechen schon die aufgestützten Ellbogen der Frau in der Mitte sowie des Mannes rechts, der offenbar mit dem Schlaf kämpft. Auch dadurch wird das Routinehafte, Regelgerechte des Vorgangs unterstrichen. Kompositorisch bildet die Zuschauergruppe – selbst in die Form eines flachen Dreiecks gebracht – die Spitze eines größeren gleichschenkligen Dreiecks, dessen Seiten links durch das ausgestellte rechte Bein Mejias und rechts durch das linke Bein des Sergeanten angedeutet werden.¹⁰⁴ Dadurch wird nicht nur die Kontraposition zwischen den Opfern und dem von Protais entliehenen Sergeanten, sondern zugleich die Mittelstellung der feuernden Soldaten hervorgehoben. Der Vorgang des Schießens, die Vollstreckung des Urteils: Das ist in der Tat das eigentliche Thema des Bildes. Eben darum sind die Soldaten auch bei der Abgabe der Salven dargestellt. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Manets „Exekution“ klar von einem anderen Bild einer Hinrichtung, das um dieselbe Zeit entstanden ist und 1868 im

der tatsächlichen Situation; vgl. dazu Hugh Thomas: Goya. The Third of May 1808. London 1972, S. 24 f. Eine historisch exakte Wiedergabe der Örtichkeit hätte mit Bezug auf den Gesamtvorgang ohnehin nur exemplarischen Charakter haben können, weil die Hinrichtungen des 2. Mai an mehreren Stellen zugleich stattfanden; da sie bereits am frühen Nachmittag begannen, war Goya jedenfalls nicht durch den Gesichtspunkt historischer Authentizität gezwungen, die Szene in die Nacht zu verlegen; vgl. dazu Lovett: Napoleon and the Birth of Modern Spain (wie Anm. 78), S. 148. 103 Nach Ansicht von Wilson-Bareau: Manet und die Erschießung Kaiser Maximilians (wie Anm. 14), S. 124, drücken die Zuschauer auf der Mauer „Schrecken und Entsetzen“ aus; Ruggiero: Manet and the Image of War and Revolution (wie Anm. 37), S. 27, erkennt (in der Mannheimer Fassung) nur bei wenigen Zuschauern „passion“, während in der Lithographie „the spectators have their sombreros pulled over their eyes as if dozing as the execution takes place“; vgl. auch Bätschmann: Edouard Manet (wie Anm. 7), S. 66: „Manets Publikum zeigt kaum Reaktion.“ 104 Vgl. Sandblad: Manet (wie Anm. 6), S. 156.

272 | II Herrscher und Herrschaft Salon gezeigt wurde: Jean-Léon Gérômes Darstellung der Erschießung des Marschalls Ney (Abb. 8). Gerald M. Ackermann vermutet, Gérôme, der mit Manet befreundet gewesen sei, habe die „Exekution Maximilians“ in dessen Atelier gesehen und deshalb explizit darauf Bezug nehmen können.¹⁰⁵ Bei Gérôme hatte die Erschießung gerade stattgefunden; der Erschossene liegt mit dem Gesicht auf dem Boden; das Erschießungskommando ist in einiger Entfernung im Abmarsch begriffen. Verblüffend erscheint, dass auch diese Hinrichtung vor einer Mauer stattgefunden hatte. Auch hier ist das Kommando nur von hinten zu sehen. Dass der Vorgang ein Justizakt zur Sühne eines im Namen eines Napoleon begangenen Staatsverbrechens war, zeigt die Aufschrift auf der Mauer: „Vive l’Empereur!“ Die Aufschrift ist durchgestrichen. Man könnte sich vorstellen, dass Gérôme damit in der Tat unter Anspielung auf Manets „Exekution Maximilians“ den Tod vor der Mauer als die Art der gerichtsförmigen Erledigung bonapartistischer Usurpation durch einen Verfassungsstaat charakterisieren wollte. Marschall Ney war bekanntlich nach der ersten Abdankung Napoleons in den Dienst Ludwigs XVIII. getreten. Als Napoleon von der Insel Elba zurückkehrte, wurde Ney ihm entgegengestellt, aber als er auf den ehemaligen Kaiser traf, ging er zu ihm über und verriet seinen König. Dass Gérôme das Bild in eine Reihe mit Manets „Exekution“ und Goyas „Drittem Mai“ stellen wollte, dafür könnte auch, wie schon bemerkt, die Titelgebung sprechen: Gérômes Bild heißt: „7. Dezember 1815, neun Uhr in der Frühe“. Manets Bild trägt in der endgültigen Fassung den Tag der Hinrichtung wie einen Titel unter der Signatur: „19. Juni 1867“, und Goyas Bild oder vielmehr Gegenbild nennt ebenfalls das Datum des dargestellten Ereignisses als Titel: „Der dritte“ – oder eigentlich „Der zweite“ – „Mai 1808“.¹⁰⁶ Man kann das Datum des dargestellten Ereignisses zum Titel wählen, wenn das Ereignis sich so tief in das kollektive Gedächtnis eingegraben hat, dass es dem Betrachter bei der bloßen Nennung des Tages sofort vor Augen steht. Eben daraus ergibt sich jedoch für den Maler zugleich die Möglichkeit, durch die Wahl des bloßen Datums zum Titel zu demonstrieren, dass er das dargestellte Ereignis als eine Tatsache von historischem Rang verstanden wissen will. Der unrühmliche Abzug der französischen Truppen aus Mexiko und der blutige Epilog in Queretaro waren gewiss schwere Fehlschläge der napoleonischen Politik, aber man kann nicht sagen, dass das Regime dadurch ernstlich erschüttert worden wäre. Das Plebiszit vom 8. Mai 1870 – das erste seit 1852 – sollte dem Kaiser nur wenige Jahre später noch einmal die Zustimmung der überwältigenden

105 Ackerman: Gérôme and Manet (wie Anm. 73), S. 170. 106 Vgl. dazu oben.

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Mehrheit des Wahlvolks bescheren. Vom historischen Rang des 19. Juni 1867 im Zusammenhang der französischen Geschichte kann daher bestenfalls im Sinne eines Symbols gesprochen werden, und auch dies höchstens in den Augen der republikanischen Minderheit, die dem Kaiser den Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 nicht vergessen hatte. In Manets Deutung wurde Maximilian in Mexiko das Schicksal zuteil, dem Louis-Napoléon Bonaparte bislang entgangen war, obwohl auch er eine Republik zerstört und seine eigene Herrschaft auf ihren Trümmern errichtet hatte. In seiner letzten und endgültigen Fassung verlangt Manets Bild von der Erschießung Maximilians dem Betrachter das Äußerste an republikanischer Vernunft und Prinzipientreue ab, auch wenn die Kühle und die Emotionslosigkeit der Darstellung die Einsicht erleichtern, dass das unsägliche Geschehen einer politischen Logik entsprach, die nach der Überzeugung der Verantwortlichen zur Verwirklichung des freiheitlichen Rechtsstaats in nationaler Selbstbestimmung führen sollte. Jules Favre hatte recht behalten: „Man kann nicht ungestraft in Mexiko aus dem Nichts heraus den Kaiser spielen“, wenn man nicht von einer fremden Macht gestützt wird.¹⁰⁷ Die Strafe traf den Usurpator, kaum dass Frankreich seine Truppen abgezogen hatte. Dass das Bild auch nach dem Sturz des Zweiten Kaiserreichs in Frankreich keine Freunde fand, erweist das Bekenntnis Manets zum radikalen Republikanismus, der überall und für alle Völker gelten sollte, als eine vorzeitige Vision, die seiner Generation weit vorauslag. Die Dritte Republik erlebte den Aufschwung eines neuen, mit imperialistischen Ansprüchen auftretenden Nationalismus. Damals baute Frankreich vom Senegal aus sein großes Kolonialreich in Westafrika auf und befestigte seine Herrschaft in Indochina. Es verwundert nicht, dass ein solches Zeitalter für Manets politische Botschaft wenig Verständnis aufbrachte.

107 Vgl. oben.

| III Monarchie, Nation, Nationalismus

Demokratie und Nationalismus Die* Demokratie der Bundesrepublik Deutschland ist auf den Trümmern eines Reiches gewachsen, das an seinem übersteigerten Nationalismus zugrundegegangen war. Man muss diesen Nationalismus deswegen übersteigert nennen, weil der Begriff Nationalismus an sich in der geschichts- und sozialwissenschaftlichen Terminologie ein politisch-soziales Ordnungsprinzip der modernen Welt bezeichnet, das keineswegs notwendig mit Expansion und Unterdrückung einhergeht. Wenn daher nach dem Verhältnis von Demokratie und Nationalismus gefragt wird, so kommt es offenbar darauf an, verschiedene Ausformungen des Nationalismus zu unterscheiden. Dass es auch in der deutschen Geschichte eine Form des Nationalismus gegeben hat, die aufs engste mit dem demokratischen Prinzip verbunden war, zeigt sich beispielhaft am Verfassungswerk der Deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche von 1848/49, mit dem ein zugleich demokratischer und nationaler Staat begründet werden sollte. Ganz allgemein gesprochen ist der Nationalismus eine Erscheinung des demokratischen Zeitalters seit den Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Nordamerika und Frankreich. In den älteren Zeiten hat es wohl Nationalbewusstsein und Nationalgefühl, gelegentlich vielleicht sogar Nationalstolz gegeben, nicht aber Nationalismus. Der Nationalismus beschränkt sich nämlich nicht auf die Ebene des Bewusstseins und des Gefühls, sondern er ist ein Prinzip politischer Veränderung, das die Nation anstelle ständisch-dynastischer Bestimmungsgründe zum politischen und gesellschaftlichen Organisationsmuster und Bezugspunkt erhebt. Die gesellschaftliche Mobilisierung und die wachsende Sensibilisierung der öffentlichen Meinung für nationale Belange wirkten dahin zusammen, dass die Regierungen zunehmend mit nationalen Ansprüchen und Erwartungen rechnen mussten, und zwar auch in Ländern, in denen keine oder noch keine modernen Repräsentativverfassungen existierten. Während die Regierungen in liberal-demokratischen Verfassungsstaaten gewissermaßen die ausführenden Organe der Gesellschaft und ihres politischen Willens bildeten und daraus zugleich ihre Legitimation empfingen, konnten die nationalen Bestrebungen der Gesellschaft in obrigkeitlichen Systemen nur indirekt mit der Staatsleitung vermittelt werden. Je stärker der Druck in Richtung auf Demokra-

* Ansprache des Rektors der Universität Heidelberg, Prof. Dr. Volker Sellin, aus Anlass der Übergabe des Rektoramtes am 24. Oktober 1987, 10.00 Uhr, Aula der Neuen Universität. Erstdruck in: Heidelberger Jahrbücher 32 (1988), S. 1–10.

278 | III Monarchie, Nation, Nationalismus tisierung anwuchs, desto eher drängte sich den Regierungen in solchen Staaten die gleichsam freiwillige Befriedigung der nationalen Ansprüche als eine Ersatzlegitimation auf, ohne dass sie damit ihre autoritären Herrschaftsgrundsätze preisgeben mussten. Nennt man die erste Form der Verknüpfung von gesellschaftlicher Bewegung und Staat demokratischen Nationalismus, so kann man die zweite Form als plebiszitären Nationalismus bezeichnen. Demokratie bedeutet dabei nicht notwendig, dass bereits alle gesellschaftlichen Schichten das Recht auf politische Teilhabe besitzen. Es genügt, dass die Staatsgewalt überhaupt auf die Gesellschaft übergegangen ist und dass es Verfahren der politischen Willensbildung gibt, kraft deren der politisch aktive Teil der Gesellschaft selbständig nationale Ziele definiert und durch verantwortliche Organe zur Ausführung bringt. Im übrigen ist die Unterscheidung zwischen demokratischem und plebiszitärem Nationalismus idealtypisch gemeint. In der Wirklichkeit können sich Strukturen entwickeln, die an beiden Typen teilhaben. Gerade die moderne Demokratie ist in der Regel nicht frei von plebiszitären Zügen. Bei vielen Völkern trat der Nationalismus zuerst als eine soziale Bewegung auf mit dem Ziel, eine staatlose Nation ohne Rücksicht auf bestehende politische Ordnungen in einen eigenen Staat zusammenzufassen. Diese Form des Nationalismus war demokratisch, insofern die nationalen Bewegungen die Nation anstelle der überlieferten Gewalten zum Souverän erklärten. Das heißt nicht, dass in der Praxis mit der Verwirklichung des angestrebten Nationalstaats auch die sofortige und dauerhafte Errichtung einer demokratischen Verfassung gelingen musste. Die deutsche, die italienische, die tschechische, die polnische und viele andere Nationalbewegungen sind Beispiele für die Identität von nationaler und demokratischer Zielsetzung. Gerade dadurch verkörpern sie zugleich den Gedanken der politischen Neuordnung Europas unter dem Gesichtspunkt der Nationalität. Ihre Repräsentanten predigten die Solidarität und die Verbrüderung der erwachenden Nationen. Hoffnungen auf ein befriedetes Europa der demokratischen Nationalstaaten waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter den Liberalen Europas weit verbreitet, und die internationale Solidarität bewährte sich in der Unterstützung der aufständischen Griechen und Polen in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren. In einigen Staaten hat sich die in der ständisch-dynastischen Epoche geformte Staatsgesellschaft zur modernen Nation fortentwickelt, ohne Grenzen verändern zu müssen. Doch auch hier war die nationale Bewegung notwendig zugleich demokratisch. Die amerikanische Nation entwickelte sich im Zeichen des gemeinamerikanischen Sonderbewusstseins der ursprünglichen dreizehn Kolonien und insofern im Rahmen einer vorrevolutionären politischen Ordnung. Als die kolonialen Eliten im Jahre 1776 die Unabhängigkeit dieser Nation

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verkündeten, konnten sie sich nur auf den Boden des demokratischen Selbstbestimmungsrechts stellen. Die Unabhängigkeitserklärung ist nicht nur die Geburtsurkunde der amerikanischen Nation, sondern auch der amerikanischen Demokratie. Der französische Staat, wie er sich am Vorabend der Revolution von 1789 darstellte, war das Ergebnis einer wechselvollen dynastischen Politik, die es verstanden hatte, durch Heirat, Diplomatie und Eroberung eine große Zahl historisch und ethnisch zum Teil durchaus heterogener Provinzen zusammenzufügen. Der so geschaffene Territorialbestand fiel nach der Entmachtung des Monarchen nicht wieder auseinander, weil sich in den führenden Schichten des Dritten Stands in allen Teilen des Reiches über die Provinzgrenzen hinweg ein Bewusstsein der Zusammengehörigkeit entwickelt hatte. Dieses Bewusstsein bildete die Voraussetzung dafür, dass sich im Jahre 1789 eine französische Nation anstelle des Monarchen zum Souverän erklärte. Nur als Nation konnte der Dritte Stand das Recht auf demokratische Selbstbestimmung in Anspruch nehmen. Für die Entwicklung des Verhältnisses von Demokratie und Nationalismus ist es im weiteren Verlauf von erheblicher Bedeutung geworden, ob die Konstituierung des erstrebten Nationalstaats nur den Umsturz oder gleitenden Wandel der Verfassung in einem bestehenden Staat wie in Frankreich bzw. England oder zugleich die Gründung eines ganz neuen Staates wie in Deutschland oder Italien erforderlich machte. Nicht zufällig hat die Nationalismusforschung zwei Nationsbegriffe unterschieden. Der westeuropäische Typus wurde von Friedrich Meinecke Staatsnation, der mittel- und osteuropäische Typus dagegen Kulturnation genannt. Hans Kohn unterschied in ähnlichem Sinne zwischen subjektivem und objektivem Nationsbegriff. Aus einer ganzen Reihe von Ursachen war die Verwirklichung des demokratischen Selbstbestimmungsrechts durch die Gründung von Nationalstaaten für objektive Nationen sehr viel schwieriger als die Konstituierung einer subjektiven Nation. Durch die Gründung eines neuen Staates wurde notwendig das Mächtegleichgewicht in Europa berührt. Aus eigener Kraft gelangte daher kaum eine Nationalbewegung zum Ziel. Die Allianz mit einer Macht von europäischem Gewicht konnte jedoch entweder die äußere Vollendung des Nationalstaats verzögern wie im Falle Italiens, wo die Hauptstadt Rom erst nach der Niederlage Napoleons III. bei Sedan gewonnen wurde, oder sie konnte die Verwirklichung der demokratischen Ziele der Bewegung einschränken wie im Falle des Deutschen Reiches von 1871, das sich nur unter der Führung der Großmacht Preußen auf der Bühne Europas niederlassen konnte, dafür aber in seiner Verfassung über die Halbheiten des preußischen Konstitutionalismus nicht hinauskam. Ein gemeinsamer Aufstand mehrerer unterdrückter Nationen Europas schien 1848 zu gelingen, aber es zeigte sich schon bald, dass die im Vormärz propagierte

280 | III Monarchie, Nation, Nationalismus brüderliche Solidarität der Völker schnell an ihre Grenzen stieß. Die deutsche Nationalbewegung geriet in Konflikt mit der dänischen. Die nationalen Bestrebungen der Tschechen wurden nicht ernst genommen, und die Ansprüche der Polen wurden in der deutschen Nationalversammlung von einigen Abgeordneten unter anderem mit dem Argument angeblicher kultureller und politischer Überlegenheit der Deutschen zurückgewiesen. Im österreichischen Kaiserstaat gelang es der Regierung, die nationalrevolutionären Aufstände der einzelnen Nationalitäten mit Truppen niederzuschlagen, in denen Angehörige jeweils anderer Nationalitäten dominierten, während die Revolution in Ungarn mit Hilfe des Zaren erstickt wurde, in dessen Reich keine Erhebung stattgefunden hatte. Eine weitere Schwierigkeit für die sogenannten objektiven Nationen rührte aus der Gemengelage, in der sie sich vielfach befanden. Es war vor allem in Mittelund Osteuropa von vornherein kaum möglich, Sprach- und Siedlungsgrenzen mit Staatsgrenzen zur Deckung zu bringen. Aus dieser Sachlage musste folgerichtig das Problem der nationalen Minderheiten entstehen, das für eine Demokratie eine Herausforderung besonderer Art darstellte. Denn die nationale Minderheit konnte im Unterschied zu anderen Minderheiten niemals zur Mehrheit werden. Vor allem aber neigten die Mehrheitsnationen schon deshalb zur Missachtung der Rechte der Minderheiten, weil sie langfristig nur in der Angleichung der Minderheiten an die Mehrheit eine Garantie für ihre staatliche Unversehrtheit erblickten. So war es gerade das Zeitalter der Demokratie und der nationalen Mobilisierung, das die Politik der forcierten Assimilierung und damit einer staatsbürgerlichen Entrechtung besonderer Art erfand. Das Bekenntnis zum objektiven Nationsbegriff verwandelte sich unter der Hand in die Propagierung des subjektiven Nationalbegriffs nach französischem Vorbild. Die letzte Konsequenz solcher Uniformierungspolitik sollte die Umsiedlung und Vertreibung ganzer Bevölkerungen werden, deren Assimilierung man für nicht durchführbar hielt. Wie weit die Unterscheidung zwischen subjektivem und objektivem Nationsbegriff tatsächlich trägt, ist in der Forschung umstritten. Der Vergleich mit der nationalstaatlichen Entwicklung in England und Frankreich gibt jedenfalls Anlass, nach möglichen Alternativen auch in der deutschen Geschichte zu fragen. Tatsächlich haben in Deutschland im 19. Jahrhundert beide Nationsbegriffe eine Rolle gespielt. Zunächst steht außer Frage, dass das Heilige Römische Reich Deutscher Nation vor allem während der letzten anderthalb Jahrhunderte seines Bestehens an nationsbildender Kraft weit hinter den westeuropäischen Staaten zurückblieb, und doch hat sie auch ihm nicht völlig gefehlt. Besonders im deutschen Südwesten herrschte ein ausgeprägter Reichspatriotismus, und vielleicht lässt sich die nationale Prägewirkung des Reiches auch noch daran erkennen, dass die deutsche Nationalversammlung in der Revolution von 1848/49 die Grenzen des zu gründenden Nationalstaats gerade nicht ethnisch-sprachlich

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soweit ausdehnen wollte, als „die deutsche Zunge klingt“, um mit Ernst Moritz Arndt zu sprechen, sondern sich im wesentlichen an den Grenzen des Reiches in seiner letzten Periode bzw. an den Grenzen des Deutschen Bundes orientierte. Die Rückführung der Niederländer etwa oder der Deutschschweizer wurde nicht ernsthaft erwogen, von den Elsässern ganz zu schweigen. Schleswig dagegen, um das es zu einer tiefen Krise der Nationalversammlung kam, hatte zwar nicht zum Reich gehört, aber der Anspruch auf diese Provinz wurde ebenfalls primär unter Berufung auf altes ständisches, nicht so sehr auf ein neues nationalrevolutionäres Recht erhoben. Gleichzeitig trug die Nationalversammlung keine Bedenken, die Tschechen in Böhmen, die Slowenen in Kärnten, Steiermark und Krain und die Italiener in Tirol kraft reichs- und bundesrechtlicher Tradition in den deutschen Nationalstaat einzuschließen. So ist ganz unzweifelhaft, dass die deutsche Nationalbewegung nicht ausschließlich von der objektiven Nationsvorstellung geprägt war; vielmehr verdankte sie einen Teil ihrer Durchschlagskraft den politischen Traditionen des Reiches. Zugleich aber hatte sie auf einer anderen Ebene gegen die nationsprägende Kraft der deutschen Einzelstaaten, namentlich der mittleren und größeren unter ihnen, anzukämpfen. Der Partikularismus entwickelte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts teils dank der integrierenden Wirkung frühzeitig gewährter politischer Partizipationsrechte, teils dank gezielter einzelstaatlicher Traditionspflege zu einer starken Kraft, und es gab seit der Epoche Napoleons bemerkenswerte Ansätze zur Ausbildung einer Pluralität genuiner Staatsnationen nach westeuropäischem Muster auf deutschem Boden. Dass diese Ansätze nicht zum Ziel gelangten, erklärt sich zunächst daraus, dass es eine konkurrierende gesamtdeutsche Nationalbewegung gab; dann aber auch daraus, dass eine zugleich partikularstaatlich-nationale und demokratische Bewegung nach dem Beispiel des Dritten Standes von 1789 in den deutschen Einzelstaaten nicht zum Durchbruch gelangen konnte, solange der Deutsche Bund als kollektiver Sicherungsverein jeden demokratischen Fortschritt in einem Mitgliedsstaat im Namen des monarchischen Prinzips wieder zunichtemachen würde. Deshalb musste selbst eine einzelstaatlich orientierte nationaldemokratische Bewegung sich schließlich das Ziel eines freien deutschen Nationalstaats setzen. Für manche Liberale wurde auf diese Weise die nationale Einheit zum bloßen Mittel, um die demokratische Freiheit zu erlangen. Nationalismus wurde in den Dienst der Demokratie gestellt. Die Konkurrenz zwischen gesamtdeutschem und einzelstaatlichem Nationalismus lässt am deutschen Beispiel eine Tatsache von allgemeiner Geltung erkennen. Wenn der Demokratisierungsprozess der letzten zweihundert Jahre den Nationalstaat zum leitenden Prinzip der Zuordnung von Bevölkerungen und Staa-

282 | III Monarchie, Nation, Nationalismus ten erhoben hat, dann bedeutete das in der Praxis nicht nur, dass Nationen ohne eigenen Staat sich einen Staat suchten, sondern auch, dass Staaten ihre Gesellschaften zu Nationen zu entwickeln strebten. Regionalistische Tendenzen in mehreren Staaten Westeuropas und in Nordamerika machen in der Gegenwart deutlich, dass die volle Kongruenz zwischen Staat und Nation vielleicht ein niemals ganz zu erreichendes Ziel darstellt. Offensichtlich ist Gruppenbewusstsein dieser Art jederzeit für neue Entwicklungen offen. Daher hat bisher auch noch kein Nationalstaat darauf verzichten können, sich kontinuierlich um die Befestigung und Vertiefung des nationalen Bewusstseins seiner Bürger zu bemühen. Denkmäler, nationale Feiertage, Flaggen, Hymnen und Paraden sind die vertrauten Mittel solcher fortgesetzter Integration. Ein markantes Beispiel für die Konkurrenz zwischen verschiedenen und verschieden begründeten Nationalismen innerhalb desselben Staatswesens bietet im 20. Jahrhundert die Sowjetunion. Zunächst scheint sie sich in die Fragestellung nach dem Verhältnis von Demokratie und Nationalismus überhaupt nicht einordnen zu lassen, denn nach ihrem ideologischen Selbstverständnis ist sie dem proletarischen Internationalismus verpflichtet und daher nicht nationalistisch, und eine Demokratie nach westlichen Begriffen will sie ebenfalls nicht sein. Im Lichte des Marxismus-Leninismus sind westliche Demokratie und Nationalismus vielmehr Phänomene, die der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation und damit einer Stufe des historischen Prozesses zugehören, welche die Sowjetunion bereits überwunden hat. In der Praxis freilich stand die Sowjetunion von Anfang an vor ganz ähnlichen nationalpolitischen Problemen wie Länder, die nicht zur kommunistischen Welt gehören. Das zaristische Russland war ein Vielvölkerstaat gewesen. In der bolschewistischen Revolution stellte sich daher die Frage, ob der Sturz des Zaren den Völkern Russlands die Autonomie oder Unabhängigkeit bringen würde. Stellt man die Existenz nationaler Aspirationen in Rechnung, dann bot sich die Propagierung des nationalen Selbstbestimmungsrechts geradezu als ein Mittel an, um der Revolution eine möglichst breite Unterstützung zu sichern. In der Tat verkündete eine Deklaration der Bolschewiki vom 2./15. November 1917 den Völkern Russlands Gleichheit untereinander, Souveränität und das Recht auf freie Selbstbestimmung. Der Verwirklichung dieses Grundsatzes stand jedoch das Interesse an der Konstituierung einer starken revolutionären Gesamtmacht entgegen. Nachdem sich die Hoffnungen Lenins auf die baldige Entfesselung der Weltrevolution, durch welche die Existenz selbständiger Nationalstaaten hinfällig geworden wäre, zerschlagen hatten, entschloss sich Stalin nach 1924 dazu, den Sozialismus zunächst in einem Lande, nämlich in der Sowjetunion, aufzubauen. Als Macht unter Mächten und von nationalistischen Zentrifugalkräften bedroht, bedurfte die Sowjetunion auf diesem Wege jedoch offensichtlich ebenfalls einer

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integrierenden Ideologie über den Marxismus-Leninismus hinaus. Wenn in die Pflege eines Sowjetpatriotismus seit 1934 Traditionen eines großrussischen Nationalismus als Herrschaftsmittel gegenüber den anderen Nationen des Imperiums eingingen, wird damit nur unterstrichen, dass auch der ganz anders geartete Prozess politischer Willensbildung in den sozialistischen Staaten sich einerseits den Gegebenheiten nationaler Differenzierung und andererseits der Notwendigkeit stellen muss, übernationale oder transnationale politische Einheiten durch ein Zusammengehörigkeitsbewusstsein seiner Bevölkerungen zu integrieren. Die Herausbildung einer sowjetischen Staatsnation scheint noch keineswegs abgeschlossen, und so ist auch die Frage noch nicht endgültig zu beantworten, ob die Möglichkeiten politischer Partizipation, die das Sowjetregime bietet, ausreichen, um die nationale Integration der sowjetischen Völkerschaften zustandezubringen. Zahlreiche neue Staaten Afrikas stehen heute ebenfalls vor dem Problem, verschiedene und zum Teil gegenläufige ethnische bzw. staatlich-administrative Traditionen zu vereinbaren. Die heutigen Grenzen dieser Staaten sind in der Regel die Grenzen, die die Kolonialmächte nach ihren eigenen Kriterien festgelegt hatten. Im Zuge der antikolonialistischen Bewegungen hat sich in diesen Kolonien ein mehr oder weniger ausgeprägter Nationalismus entwickelt, dessen Hauptinhalt das Ziel der politischen Unabhängigkeit bildete. Hinter diesem Ziel konnten vorübergehend Differenzen ethnisch-sprachlicher oder religiöser Art zurücktreten, um sich nach Erlangung der Souveränität um so stärker zur Geltung zu bringen. Die Entwicklung der Demokratie in diesen Ländern wird nicht zuletzt davon abhängen, inwieweit es gelingt, im Zuge eines gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses einen immer größeren Teil der Bevölkerungen dazu zu bringen, sich als Staatsnation zu begreifen und auf effektiver Beteiligung an der politischen Willensbildung zu bestehen. Damit ist eine gesellschaftspolitische Aufgabe bezeichnet, die sich den europäischen Nationalstaaten schon im 19. Jahrhundert gestellt hatte. Am Anfang waren alle nationalen Verfassungsstaaten und alle Nationalbewegungen lediglich von schmalen bürgerlichen Eliten getragen worden. Mit der politischen Demokratisierung der Nationalstaaten musste die Entwicklung nationaler Solidarität in immer breiteren Bevölkerungskreisen einhergehen. Das Problem einer Verbindung von Nationalismus und Demokratie stellte sich somit auch unter dem Blickwinkel der schrittweisen Gewinnung der gesamten Staatsgesellschaft für die Nation. Diese Aufgabe ist auf sehr unterschiedliche Art und Weise angepackt worden. Für liberal-demokratisch verfasste Staatswesen handelte es sich darum, die bestehenden Institutionen durch die Erweiterung des Wahlrechts, den Ausbau des Bildungssystems und ähnliche Maßnahmen für alle Bürger zu öffnen. Autokratische und obrigkeitliche Regime versuchten dagegen, den

284 | III Monarchie, Nation, Nationalismus nationalen Konsens durch eine Politik herzustellen, die wesentliche soziale und ökonomische Aspirationen der Massen befriedigte, ohne sie gleichzeitig an der Formulierung der Politik effektiv zu beteiligen. Die unvollkommene Demokratisierung des politischen Systems machte das deutsche Kaiserreich zu einem klassischen Beispiel für die plebiszitäre Variante des Nationalismus. Bekanntlich suchte das Kaiserreich die Arbeiterschaft durch Sozialversicherung und imperialistische Zukunftsversprechungen für den nationalen Staat zu gewinnen, während es die organisierte Arbeiterbewegung auf alle mögliche Art und Weise behinderte und grundlegende Reformen wie die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen bis zuletzt verweigerte. Vergleicht man die Konstituierung des deutschen Nationalstaats 1871 mit der Geburtsstunde der französischen Nation 1789, so zeigt sich ein wesentlicher Unterschied darin, dass in Deutschland nicht die bürgerliche Gesellschaft alleine und mit dem Anspruch auf den ausschließlichen Besitz der verfassungsgebenden Gewalt die Nation darstellte, sondern dass der König von Preußen sich im Verein mit den übrigen deutschen Fürsten aus Gründen politischer Opportunität, vor allem aber aus preußisch-machtstaatlichen Partikularinteressen heraus, mit der liberaldemokratischen Nationalbewegung verbündete und ihr auf diese Weise zu einem partiellen Erfolg verhalf. Indem sich der König von Preußen aber zum Vollstrecker des bürgerlichen Nationalismus machte, stellte er sich als deutscher Kaiser notwendigerweise unter nationalen Legitimationszwang. Der Verlust der nationalen Legitimation durch die deutsche Niederlage im Weltkrieg führte denn auch folgerichtig seinen Sturz herbei. In der national-plebiszitären Legitimationsstruktur des wilhelminischen Obrigkeitsstaats trat der Nationalismus in scharfen Gegensatz zur Demokratie. In seiner plebiszitären Variante bildete er geradezu ein Bollwerk gegen die Demokratisierung des politischen Systems. Nicht demokratische Selbstbestimmung, sondern machtstaatliche Selbstbehauptung wurde zum Inbegriff der nationalpolitischen Bestrebungen. Die Ablehnung der parlamentarischen Institutionen durch den plebiszitären Nationalismus ließe sich besonders am Bonapartismus aufzeigen, aber auch der Boulangismus im Frankreich der späten achtziger Jahre stand im Zeichen der Kritik am liberaldemokratischen Verfassungsstaat. In Russland bildeten sich bezeichnenderweise nach Ausbruch der Revolution von 1905 rechtsradikale Verbände, darunter die bekannte „Union des russischen Volkes“ des Petersburger Arztes Dubrovin, mit dem Ziel, das autokratische System unter Relativierung der soeben gewährten Volksvertretung und unter möglichster Erhaltung der überlieferten Sozialordnung auf die unmittelbare Unterstützung der Massen zu gründen.

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Im deutschen Kaiserreich waren die Befugnisse des Reichstags vor allem im Bereich der Außen- und Militärpolitik beschränkt. Die nationalpolitische Willensbildung in der Gesellschaft und ihre Kontrolle und Kanalisierung durch die Regierung vollzogen sich daher hier zum großen Teil außerhalb der verfassungsmäßigen Institutionen. Eine Schlüsselrolle spielten dabei die nationalen Agitationsverbände. Teils dienten sie der Mobilisierung von öffentlicher Unterstützung für die von der Regierung initiierte Politik; dafür ist der Deutsche Flottenverein ein Beispiel. Teils aber formierten sie eine nationale Opposition und versuchten, die Regierung zu einem schärferen nationalistischen Kurs zu veranlassen; dies gilt vor allem für den Alldeutschen Verband und den wenige Jahre vor dem Weltkrieg ins Leben gerufenen Deutschen Wehrverein. Diese Verbände waren besonders gefährlich für die Monarchie, denn sie stellten deren Fähigkeit in Frage, die von ihre selbst beanspruchte Legitimation in ausreichendem Maße zu erbringen. Der radikale plebiszitäre Nationalismus war somit ein Ansatz zur Politisierung der Massen, der sich in den Formen der politischen Willensbildung schroff von liberaldemokratischen Grundätzen unterschied. Offensichtlich stieß er vor allem in solchen gesellschaftlichen Gruppen auf Zustimmung, die angesichts des Erstarkens der Arbeiterbewegung und einer neuen industriekapitalistischen Elite um ihren sozialen Status fürchteten. Das belegen für das Kaiserreich neuerdings Analysen der sozialen Trägergruppen des Alldeutschen Verbands. Vor allem aber wird es durch die Forschungen zu den sozialgeschichtlichen Voraussetzungen des Faschismus in Italien und des Nationalsozialismus in Deutschland bestätigt. In beiden Ländern hatten nicht nur in ihrem sozialen Status bedrohte mittelständische Gruppen einen starken Anteil an den faschistischen Bewegungen, sondern die Machtergreifungen erscheinen auch in beiden Fällen als Ergebnis einer Allianz zwischen der jeweiligen faschistischen Bewegung und Teilen der überlieferten sozialen und politischen Eliten, die in einer konkreten Krisensituation keinen anderen Weg mehr zur Erhaltung ihrer Machtpositionen sahen. Die Entartung eines demokratischen zu einem plebiszitären Regime nach dem Muster des Aufstiegs Napoleons III. oder der nationalsozialistischen Machtergreifung erscheint in dieser Perspektive als Krise im verschlungenen Prozess des Übergangs von der ständischen zur modernen egalitären Gesellschaft – im Falle des Nationalsozialismus als eine moralische und politische Krise ohne Beispiel, die unübersehbare Opfer forderte. Als Symptom der Transformationskrise sind auch die Usurpation und gleichzeitige Entdemokratisierung der Nationalidee durch die Monarchie im deutschen Kaiserreich zu deuten. Die demokratische Stabilität der Bundesrepublik erklärt sich vor allem damit, dass residuale soziale und politische Machtbastionen vordemokratischer Herkunft, die noch die Weimarer Republik belastet hatten, mit dem Dritten Reich zusammengebro-

286 | III Monarchie, Nation, Nationalismus chen sind. Entsprechendes gilt, unter anderen Vorzeichen, für die Deutsche Demokratische Republik. Beide deutsche Staaten ordnen sich damit in ihrer je eigenen Sphäre einer Staatengesellschaft zu, die trotz aller übernationaler Integrationsbemühungen politischer oder ideologischer Art bisher nationalstaatlich gegliedert geblieben ist. Die beiden deutschen Staaten sind dabei allerdings insofern in einer besonderen Lage, als sie jeweils nur einen Teil der deutschen Nation vertreten. Dass sich auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze ein je partikulares Staatsbewusstsein entwickelt hat, steht im Einklang mit historischen Erfahrungen aus dem 19. Jahrhundert. Wie schon einmal in der Epoche zwischen dem Wiener Kongress und der Revolution von 1848 stellt sich die Frage, ob aus der partikularstaatlichen Integration eines Tages mehrere, in diesem Falle zwei deutsche Staatsnationen hervorgehen werden oder ob sich das Bewusstsein der Zugehörigkeit zur deutschen Gesamtnation trotz staatlicher Trennung behaupten kann. Nach den vorgetragenen Reflexionen über das Verhältnis von Demokratie und Nationalismus wäre die Ausbildung von zwei gesonderten deutschen Nationen um so eher zu erwarten, je mehr die politischen Systeme durch politische Partizipationsrechte welcher Art auch immer vor ihren Bürgern legitimiert erscheinen. Auf der anderen Seite bleibt die weitere Entwicklung aber schon deshalb offen, weil – wie nicht zuletzt die kurze Geschichte der Bundesrepublik lehrt – auf verschiedenen Integrationsebenen durchaus mehrere Solidaritäten gleichzeitig bestehen können: regionale, nationale und übernationale Solidaritäten schließen einander keineswegs aus, zumal wenn im Rahmen einer föderalen Struktur auf jeder Ebene auch eine Form der politischen Mitwirkung gewährleistet ist. Es stünde im Einklang mit der These von der Zusammengehörigkeit von Nationalismus und Demokratie, wenn das Zeitalter des Nationalstaats nicht durch dessen Abschaffung, sondern durch seine Einbindung in umfassendere, mit politischen Partizipationsmöglichkeiten ausgestattete Ordnungen schrittweise abgelöst würde.

Nationalbewusstsein und Partikularismus in Deutschland im 19. Jahrhundert Mit* den Begriffen „Nationalbewusstsein“ und „Partikularismus“ sind zwei gegensätzliche Positionen und Programme bezeichnet, welche die deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert vor der Bismarckschen Reichsgründung wesentlich bestimmt haben. Der Gegensatz zwischen ihnen bezieht sich auf die Frage, wo der Schwerpunkt der staatlichen Entwicklung in Deutschland liegen sollte: in einem erst noch zu schaffenden deutschen Nationalstaat oder in den bestehenden Einzelstaaten. Vor die Wahl zwischen diesen alternativen Möglichkeiten waren die Deutschen durch die politischen Umwälzungen in der napoleonischen Epoche gestellt worden. Die Fremdherrschaft hatte zur Entstehung eines deutschen Nationalbewusstseins geführt, das auf politische Verwirklichung drängte. Nach der Vertreibung Napoleons erschienen die Aussichten auf die Begründung eines deutschen Nationalstaats schon deshalb günstig, weil eine bloße Wiederherstellung des vornapoleonischen Zustands nicht möglich war. Durch Säkularisation und Mediatisierung und durch umfangreiche administrative Reformen waren an die Stelle der kaum überschaubaren Vielfalt der territorialen Bildungen, vor allem im Süden und Westen des ehemaligen Reiches, formell souveräne Mittelstaaten getreten, die ein jeweils seit alters bestehendes Kerngebiet mit neu erworbenen und in der Summe nicht selten viel umfangreicheren Gebieten verbanden. Mit Ausnahme des Königs von Sachsen hatten die durch diese Umwälzungen begünstigten Fürsten sich rechtzeitig von Napoleon losgesagt und auf die Seite der Gegenkoalition geschlagen, so dass sie als Mitstreiter im Befreiungskrieg auch an der politischen Neugestaltung Deutschlands beteiligt werden mussten. Schließlich schied eine Rückkehr zum alten Reich auch deshalb aus, weil das Erlebnis der Fremdherrschaft zu der Erfahrung verarbeitet worden war, dass von Frankreich Gefahr drohe, solange Deutschland zersplittert und uneinig sei. Napoleon hatte die Politik Ludwigs XIV. ins Gedächtnis gerufen, und mit dem Wunsch, Deutschland so mächtig zu machen, dass es erneut den französischen Aggressionen gewachsen sei, verband sich ein vernichtendes Urteil über die Geschichte des Reiches spätestens seit dem Westfälischen Frieden. Die Bereitschaft, aus der Erfahrung zu lernen, prägte die Beschlüsse des Wiener Kongresses von 1814/15 zur territorialen Neuordnung Deutschlands und Europas

* Erstdruck in: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt 1988, S. 241–264.

288 | III Monarchie, Nation, Nationalismus entlang der gesamten französischen Ostgrenze. Überall wurden starke territoriale Gruppierungen geschaffen, die etwaigen französischen Expansionsbestrebungen nicht so leicht erliegen konnten. Nicht nur die faktischen Gegebenheiten, sondern auch Gesichtspunkte politischer Rationalität sprachen somit gegen eine Wiederherstellung des vornapoleonischen Zustands, gegen eine Restauration also im vollen Sinne des Wortes. Der Deutsche Bund, eine lockere Föderation der souveränen deutschen Staaten, die auf dem Wiener Kongress geschaffen wurde, beruhte ganz auf der Verbindung der gegebenen Machtlage und der Rationalität des europäischen Sicherheitsinteresses. Er war kaum mehr als eine Verteidigungsgemeinschaft zur Aufrechterhaltung des Status quo nach außen wie im Innern; die Hoffnungen auf einen deutschen Nationalstaat ließ er unerfüllt. In den Augen der Nationalbewegung fehlte dem Deutschen Bund die Einheit, eine wirksame Zentralgewalt; ihm fehlte die Souveränität. Vor allem aber fehlte ihm eine gemeindeutsche Repräsentation, ein Parlament. Er war nicht demokratisch. Souverän waren die Einzelstaaten. Die Tendenz auf Erhaltung und Befestigung dieser Souveränität aber war vom Standpunkt der Nationalbewegung aus eben Partikularismus, Sondergeist. Im Gegensatz zu den politischen sind die sozialgeschichtlichen Voraussetzungen der Entstehung des modernen Nationalbewusstseins in Deutschland noch viel zu wenig erforscht. Die Reformen des napoleonischen Zeitalters, die in vieler Hinsicht die bereits mehr oder weniger weit vorangeschrittenen Reformen der aufgeklärten Staatspraxis des 18. Jahrhunderts vollendeten, hatten die überlieferte ständische und korporative Ordnung zerstört und eine Gesellschaft rechtsgleicher Staatsbürger freigesetzt. Die überlieferten Beschränkungen der Berufswahl, der Freizügigkeit, der Familiengründung oder des Gütererwerbs waren aufgehoben worden. Die Schulbildung wurde verbessert. Gleichzeitig beschleunigte sich das Wachstum der Bevölkerung. Die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen stellten auch die traditionale Legitimität der monarchischen Herrschaft in Frage. Hatte schon der aufgeklärte Absolutismus die bestehende Ordnung nur noch mit ihrem überwiegenden Nutzen gerechtfertigt, so konnten die Willkür der territorialen Umverteilung und die über jedes historische Recht hinweggehenden Reformen im Zeitalter Napoleons vollends den Eindruck erwecken, dass nur noch Macht und Zufall die Staaten formten und zusammenhielten. So war gesellschaftlich wie politisch das Problem gestellt, in welchen Solidaritäten die aus ihren überlieferten Bindungen herausgelösten Bürger ihre künftige Identität finden würden. Trotz der revolutionären Veränderungen der Epoche bot in dieser Lage die geschichtliche Erinnerung Anknüpfungspunkte für die Gewinnung neuer politi-

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scher Orientierungen. Einmal war die Existenz einer deutschen Nation als vorund außerpolitische Gegebenheit im historischen Gedächtnis vor allem der Gebildeten gegenwärtig. So schrieb Wilhelm von Humboldt im Dezember 1813: „Auch lässt sich das Gefühl, dass Deutschland ein Ganzes ausmacht, aus keiner deutschen Brust vertilgen, und es beruht nicht bloss auf Gemeinsamkeit der Sitten, Sprache und Literatur (da wir es nicht in gleichem Grade mit der Schweiz, und dem eigentlichen Preussen theilen), sondern auf der Erinnerung an gemeinsam genossene Rechte und Freiheiten, gemeinsam erkämpften Ruhm und bestandene Gefahren, auf dem Andenken einer engeren Verbindung, welche die Väter verknüpfte, und die nur noch in der Sehnsucht der Enkel lebt.“¹ Zum anderen konnten die Einzelstaaten auf eine lange Tradition dynastischer Herrschaft und Staatsbildung verweisen. Weit stärker als in den Institutionen des Reiches hatte in den vergangenen Jahrhunderten in Österreich und Preußen, in Bayern, Hannover und Sachsen das Schwergewicht der staatlichen Entwicklung in Deutschland gelegen. So wurde die Auseinandersetzung zwischen deutscher Nationalbewegung und Partikularismus in mancher Hinsicht zu einem Kampf um die maßgebende Erinnerung und schon deswegen vor allem in der Zeit vor der Revolution von 1848 wesentlich zu einem Kampf um öffentliche Zustimmung, um das politische Bewusstsein der Bürger. Die zunächst nur von einer begrenzten Zahl von Gebildeten verfochtene Nationalidee musste in immer weitere Kreise getragen werden, um ihre politische Verwirklichung vorzubereiten. Umgekehrt standen die Fürsten vor der Aufgabe, in ihren Herrschaftsbereichen ein einheitliches Staatsbewusstsein zu schaffen, um eine neue Legitimität zu begründen. Besonders dringlich war diese Aufgabe in denjenigen Staaten, die neue Gebiete hinzugewonnen hatten und daher Bevölkerungen der verschiedensten territorialen Herkunft in sich vereinigten. Die beiden Zielsetzungen waren eigentümlich gegenläufig. Während das Nationalbewusstsein die Voraussetzung für eine künftige Staatsschöpfung bilden sollte, verfolgte die Ausbildung eines partikularen Staatsbewusstseins den Zweck, eine bereits geschehene Staatsgründung nachträglich zu befestigen. Gegenstand der folgenden Überlegungen ist nun weder die Entwicklung und Ideologie der deutschen Nationalbewegung und des Partikularismus noch eine Darstellung der politischen Konflikte zwischen den deutschen Fürsten und der nationaldemokratischen Opposition. Vielmehr soll an wenigen ausgewählten Beispielen gezeigt werden, dass beide Bewegungen in ganz analoger Weise histori-

1 W. v. Humboldt: Denkschrift über die deutsche Verfassung (1813). In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 11. Berlin 1903, S. 95–112, hier S. 97.

290 | III Monarchie, Nation, Nationalismus sche Erinnerungen beschworen, um neue Solidaritäten zu erzeugen. Dabei bringt es der Bezug auf die Vorlesungsreihe mit sich, dass Phänomene angesprochen werden, die im allgemeinen eher am Rande des Interesses der Geschichtswissenschaft stehen. Am 20. November 1814 griff Joseph Görres mit einem Artikel im Rheinischen Merkur in die Diskussion um die Errichtung eines Denkmals für die Völkerschlacht bei Leipzig vom Oktober 1813 ein. Die Forderung nach einem solchen Denkmal beruhte natürlich auf der Überzeugung, dass diese Schlacht als ein ausgezeichneter historischer Augenblick verstanden werden müsse. Wer ein Ereignis in solcher Art aus dem Strom des Geschehens heraushebt, fällt nicht nur ein Urteil über Vergangenes, sondern er drückt zugleich Hoffnungen und Erwartungen für die Zukunft aus, denn das Denkmal sollte selbstverständlich nicht nur erinnern, sondern es sollte zugleich mahnen. Das Denkmal sollte eine Tradition stiften und Bewusstsein verändern. Im Denkmal sollte der Schlachtensieg zu einem Vermächtnis überhöht werden, das die kommenden Generationen verpflichtete. Diesen Gedanken griff Görres auf. Wenn es darauf ankomme, dass die Menschen sich veränderten, dann könne man, so meinte er freilich, getrost darauf verzichten, Bilder oder Säulen zu errichten. Entscheidend sei vielmehr, dass „wir [. . . ] selber Hand an uns“ legen, „wie der Künstler sie an Erz und Steine legt“. Und er fuhr fort: „Wenn wir es dann zu einer rechten Gestalt gebracht, und uns in einem Willen aneinander schließen, dann ist unser Volk selber eine leuchtende Ehrensäule, wie noch keine in der Geschichte gestanden hat.“² Damit ist deutlich ausgesprochen, welcher bleibende Sinn der Völkerschlacht gegeben werden sollte. Sie wird als Ermahnung aufgefasst zum Zusammenschluss der Nation, zur Errichtung eines deutschen Nationalstaats. Der Tag der Bezwingung Napoleons sollte zum Auftakt des nationalen Zusammenschlusses aller Deutschen werden. Bemerkenswert ist, wie Görres dieses Ziel begründet. Er führt weder Argumente rechtlicher Art ins Feld, noch verweist er auf Überlegungen politischer Zweckmäßigkeit. Statt dessen stellt er den Augenblick in einen großen geschichtlichen Zusammenhang und hebt ihn damit über den Alltag hinaus. Er deutet die Geschichte der deutschen Nation nach einem dreistufigen Schema, das heilsgeschichtliche Züge trägt und schon deshalb einen verpflichtenden Charakter für sich in Anspruch nimmt. Nach diesem Schema vollzog sich die deutsche Geschichte im Dreischritt von Idee und Verheißung, Fluch und Vergessen, Wiedergewinnung und Vollendung. Die Idee soll im mittelalterlichen Reich zum Ausdruck gekommen sein, als die Deutschen, einig hinter dem König und Kaiser,

2 J. Görres: Der Dom in Köln (1814). In: Rheinischer Merkur Nr. 151 (20. November 1814), o. S.

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alle anderen Nationen Europas an Kraft überragten. Der Fluch soll sich in Selbstsucht und Zwietracht, kurz: in politischer Zersplitterung niedergeschlagen haben, die namentlich im 17. und 18. Jahrhundert das Deutsche Reich zum Spielball fremder Aggressionen gemacht hatte. Die dritte und letzte Stufe sollte mit der Vertreibung Napoleons begonnen haben. Die Deutschen, so war der Gedanke, hatten den fremden Eroberer besiegt, weil sie einig waren. Damit hatten sie gezeigt, dass der Fluch seine Wirksamkeit verloren hatte. So war jetzt die Zeit gekommen, die deutsche Einheit auf Dauer zu verwirklichen. Dass Görres es ablehnte, den Anbruch dieser dritten Epoche durch ein Schlachtendenkmal dem Gedächtnis einzuprägen, erklärt sich nun zu einem guten Teil auch daraus, dass er eine ganz andere Idee verfolgte, wie nicht nur der Anbruch der neuen Zeit, sondern zugleich der Gedanke des Wiederanknüpfens und Vollendens symbolisch vergegenständlicht werden könnte. In seiner rheinischen Heimat stand ein groß- und weiträumig geplantes Bauwerk, das, im Mittelalter begonnen, seit Jahrhunderten unvollendet geblieben war: der Dom in Köln. Als „heiliges Vermächtniß“ bezeichnet Görres ihn, „den späten Enkeln zur Vollziehung hingegeben“. Solange Deutschland politisch zerspalten war, fehlte die Kraft, das angefangene Werk zu vollenden: „In seiner trümmerhaften Unvollendung, in seiner Verlassenheit ist es ein Bild gewesen von Teutschland, seit der Sprach- und Gedankenverwirrung; so werde es denn auch ein Symbol des neuen Reiches, das wir bauen wollen [. . . ] Es ist wie ein Gelübde der Väter, das wir zu lösen gehalten sind.“³ Im unvollendeten Dom ist somit die bisherige deutsche Geschichte sinnbildlich gegenwärtig. Die Vollendung des Doms wird die Vollendung der deutschen Geschichte symbolisieren. Es ist ein merkwürdiges Verhältnis zur Geschichte, das aus diesen Überlegungen spricht. Aus der Geschichte werden gleichsam die Imperative gewonnen, die gebieten, was jetzt geschehen soll. Dabei konnte ein und dasselbe Phänomen freilich in entgegengesetztem Sinne gedeutet werden – zum Beispiel gerade auch die Unterbrechung des Kölner Dombaus am Ausgang des Mittelalters. Heinrich Heine etwa besang den Dom im Januar 1844 mit den Worten: Er sollte des Geistes Bastille sein, Und die listigen Römlinge dachten: In diesem Riesenkerker wird Die deutsche Vernunft verschmachten!

3 Ebd.

292 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Da kam der Luther, und er hat Sein großes „Halt!“ gesprochen – Seit jenem Tage blieb der Bau Des Domes unterbrochen. Er ward nicht vollendet – und das ist gut. Denn eben die Nichtvollendung Macht ihn zum Denkmal von Deutschlands Kraft Und protestantischer Sendung.⁴

Auch dies war ein Imperativ, wenn auch mit entgegengesetztem Vorzeichen. Selbst in der ironischen Brechung der Heineschen Verse bleibt doch der Gedanke erkennbar, dass große Taten der Vergangenheit die Gegenwart verpflichteten. August Reichensperger, einer der wirkungsvollsten Vorkämpfer für die Vollendung des Kölner Doms, meinte 1840: „Ein Volk, welches das Ruhmwürdige seiner Vergangenheit nicht zu erkennen und hochzuhalten weiß, ist einer rühmlichen Gegenwart nicht werth [. . . ]; denn stark ist man nur in dem Bewußtsein, daß der vergängliche Augenblick durch etwas Höheres, Bleibendes getragen wird“.⁵ Zwei Jahre, nachdem diese Worte geschrieben waren, weihte der König von Bayern, Ludwig I., die nach seinen Ideen von Leo von Klenze erbaute Walhalla ein. Sie diente, wie schon der Name verrät, der symbolischen Verewigung und Vergegenwärtigung der ruhmeswürdigen Großen Deutschlands in allen Epochen seiner Geschichte. Ein Vergleich dieses Monuments mit den Kölner Dombauplänen ist aufschlussreich und schon deshalb gerechtfertigt, weil mehrfach, unter anderem von Ludwig I. selbst, vorgeschlagen worden war, den Kölner Dom nach Art der Westminster Abbey zugleich zu einer nationalen Gedächtniskirche zu machen und Gedenktafeln und Skulpturen zur Erinnerung an die Großen der deutschen Nation darin anzubringen. Die Idee der Denkmalskirche unterstreicht den bereits angesprochenen quasireligiösen Anspruch des Nationalgedankens. Den Vorsatz zum Bau der Walhalla hatte Ludwig als Kronprinz im Jahre 1807, ebenfalls unter dem Eindruck der napoleonischen Fremdherrschaft, gefasst. Die Form des Tempels sollte auch hier eine religiöse Weihe stiften. Die Wahl des griechischen statt des gotischen Baustils zeigt jedoch einen anderen historischen Bezugspunkt an: hier wird der deutsche Nationalgedanke auf die klassischen Ideale der Humanität gegründet. Wie in Köln geht es jedoch um die Darstellung deut-

4 H. Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen (1844). In: Ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. von M. Windfuhr, Bd. 4. Hamburg 1985, S. 89–157, hier S. 99. 5 A. Reichensperger: Einige Worte über den Dombau zu Cöln, von einem Rheinländer an seine Landsleute gerichtet (1840). In: Ders.: Vermischte Schriften über christliche Kunst. Leipzig 1856, S. 7–26, hier S. 20.

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scher, nicht menschlicher Größe überhaupt. Der Besuch der Gedenkstätte sollte deutsche Nationalerziehung bewirken, nicht Menschenbildung. „Rühmlich ausgezeichneten Teutschen steht als Denkmal und darum Walhalla“, schrieb der Stifter, „auf daß teutscher der Teutsche aus ihr trete, besser, als er gekommen.“⁶ Das nationalpädagogische Bedürfnis im Umgang mit der eigenen Geschichte bestimmte in derselben Epoche drei weitere Unternehmungen zur Bewahrung und Bekanntmachung der nationalen Überlieferung: die Einrichtung von Museen, die Denkmalspflege und die Sammlung der Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters. Zwei Institutionen ragen hervor, die bis zum heutigen Tage bestehen: die im Jahre 1819 durch Karl Freiherr vom Stein ins Leben gerufene Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, deren Zweck eine „Gesamtausgabe der Quellenschriftsteller deutscher Geschichten des Mittelalters“⁷ war; sowie das 1852 nach Jahren der Planung durch Hans Freiherr von Aufseß gegründete Germanische Nationalmuseum in Nürnberg. Sammlung und Erhaltung der historischen Denkmäler waren nach den Säkularisationen der Epoche um 1800 naheliegende Aufgaben, wie gerade in Heidelberg etwa aus der Geschichte der Sammlung Boisserée bekannt ist; aber diese Aufgaben konnten doch nur empfunden werden, wenn sich zuvor ein historischer Sinn und ein historistisches Bedürfnis entwickelt hatten. Gerade bei Stein liegt der nationalpolitische Antrieb auf der Hand. „Seit meinem Zurücktreten aus den öffentlichen Verhältnissen“, schrieb er im August 1818, „beschäftigte mich der Wunsch, den Geschmack an deutscher Geschichte zu beleben, ihr gründliches Studium zu erleichtern und hiedurch zur Erhaltung der Liebe zum gemeinsamen Vaterland und des Gedächtnisses unserer großen Vorfahren beizutragen.“⁸ Wenn Stein betonte, dass er diesen Plan erst nach dem Rücktritt von seinen verschiedenen Ämtern verwirklicht habe, so gilt auch von den übrigen bisher genannten Unternehmungen, dass sie aus privater Initiative entsprungen sind. Die Vollendung des Kölner Doms wurde von dem verzweigten Netz der Dombauvereine propagiert und finanziert. Für andere Domvollendungen gilt entsprechendes. Das Germanische Nationalmuseum wurde 1852 vom Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine ins Leben gerufen. Alle diese Initiativen erweisen sich somit schon von ihrer organisatorischen Form her als ein Teil der gesellschaftlichen Bewegung des Vormärz, auch wenn derartige

6 Walhalla’s Genossen, geschildert durch König Ludwig den Ersten von Bayern, den Gründer Walhalla’s. München 1842, S. VII. 7 Zit. nach H. Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae historica. In: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 42 (1921), S. 38. 8 Ebd., S. 3 f.

294 | III Monarchie, Nation, Nationalismus nationalkulturelle Unternehmungen nicht zwingend in die politische Forderung nach einem deutschen Nationalstaat einzumünden brauchten. Sie beschworen das Gedächtnis an eine große deutsche Vergangenheit und waren Symbol und vielleicht auch Ersatz für ein politisches Wollen, dem die Verwirklichung vorerst verwehrt war. Aber die nationale Rhetorik war politisch mehrdeutig, und die Symbole waren es erst recht. Wilhelm von Humboldt befürwortete den Ausbau des Kölner Doms durch Friedrich Wilhelm III. von Preußen im Jahre 1815 mit der Begründung, dass eine solche Tat „das schönste Monument“ wäre, „was die preußische Herrschaft über den Rhein sich selbst setzen könnte“; und er fügte hinzu: „Schon das Unternehmen würde Enthusiasmus in der ganzen Gegend hervorbringen und auf ein Menschenalter hin wäre der Stadt Köln und der Gegend durch den Bau Nahrung gegeben.“⁹ Hier ging es also darum, die Kölner und Rheinländer mit ihrer auf dem Wiener Kongress soeben beschlossenen und historisch ganz zufälligen Zugehörigkeit zum preußischen Staate zu versöhnen, und zwar nicht nur durch wirtschaftlich-materielle Impulse, sondern eben auch durch Wiederbelebung der eigentümlichen kulturellen Traditionen des katholischen Rheinlands innerhalb des protestantisch geprägten Preußen. Das preußische Interesse an der partikularstaatlichen Integration der neuerworbenen Gebiete, zumal nach dem Kölner Kirchenstreit von 1837, bestimmte ohne Zweifel auch Friedrich Wilhelm IV. ganz wesentlich zur Teilnahme am Kölner Dombaufest von 1842, bei dem der Grundstein für die Wiederaufnahme der Bauarbeiten gelegt wurde. Zwar feierte der König in seiner Ansprache ebenfalls den deutschen nationalen Gedanken, zumal die Rheinkrise von 1840 die antifranzösischen Gefühle gerade wieder neu belebt hatte, aber seine Rede „von einem durch die Einigkeit seiner Fürsten und Völker großen, mächtigen, ja, den Frieden der Welt unblutig erzwingenden Deutschland“¹⁰ bedeutete politisch nichts anderes als die Bekräftigung des Status quo im Sinne von Struktur und Funktion des Deutschen Bundes. Die politische Einheit aller Deutschen war etwas ganz anderes als die unverbindliche Einigkeit der Fürsten und Völker. So war also der Kölner Dom für Friedrich Wilhelm IV. sicher kein Mahnmal zur deutschen Einheit; seine Vollendung war für ihn vielmehr in erster Linie Symbol partikular-preußischer Integration im Sinne seiner christlich-ständischen Staatsidee. Doch der Partikularismus war nicht allein Sache der Fürsten. Es

9 A. v. Sydow (Hrsg.): Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, Bd. 5. Berlin 1912, S. 153. 10 Zit. nach L. Ennen: Der Dom zu Köln von seinem Beginne bis zu seiner Vollendung. Köln 1880, S. 160.

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gab selbstverständlich auch eine auf den Partikularstaat orientierte liberale Opposition, und auch sie konnte den Kölner Dom zum Symbol ihrer politischen Ziele machen. So wandte sich der Dichter Robert Prutz anlässlich des Kölner Domfests an den König von Preußen mit den Worten: Nicht Dome bloß, nicht Burgen und Paläste Bau’ fort, o Herr, an einem andern Haus, Bau’ fort, bau’ fort an einer andern Veste: Den Dom der Freiheit, bau’ ihn aus! [. . . ] Gieb frei den Weg! denn Freiheit ist das Beste, Du baust mit ihr zugleich den eignen Thron: So sprich das Wort zum zweiten Dombaufeste, Sprich aus das Wort: Konstitution!¹¹

Auch die Walhalla war nicht als nationalrevolutionäres Mahnmal gedacht. Zwar wurde hier die kulturelle Identität der deutschen Nation über die Großen ihrer Geschichte ins Bewusstsein gerufen, aber der Gedanke einer engeren politischen Zusammenfassung aller Deutschen war damit nicht verbunden. Im Gegenteil: die Verknüpfung des Gedächtnisses an die Größe der deutschen Nation mit der Erinnerung an die erfolgreiche Wiederherstellung ihrer politischen Unabhängigkeit – lediglich dank der Einigkeit der Fürsten und ohne staatliche Einheit – konnte geradezu als Rechtfertigung für den politischen Status quo und den Ausbau der partikularen Staatlichkeit verstanden werden. Anders wäre die Förderung eines kulturellen, aber politisch unverbindlichen Nationalgedankens gerade durch den partikularistischen Ludwig I. kaum zu verstehen. Die Förderung des deutschen Nationalbewusstseins – das zeigt gerade die Walhalla – war also nicht gleichbedeutend mit dem Bedürfnis nach Gründung eines deutschen nationalen Staates. Für die zunächst vom Bürgertum der Gebildeten und der akademischen Jugend, schon bald jedoch, wie etwa die Sozialgeschichte des Hambacher Fests von 1832 zeigt, auch von Teilen des Kleinbürgertums, schließlich auch von den entstehenden wirtschaftsbürgerlichen Gruppen, besonders im Rheinland, getragene Nationalbewegung kam es jedoch gerade darauf an, den politischen Status quo zu überwinden und die deutsche Einheit zu schaffen. Für diese Oppositionsbewegung bildete das nationale Bewusstsein daher bloß Voraussetzung und erste Stufe der gesamtdeutschen Integration. Ihr sollten die Stufen der konstitutionell-politischen und der administrativen Integration folgen.

11 R. E. Prutz: Dem Könige von Preußen. Zum Kölner Dombaufest, d. 4. Septbr. 1842. In : Ders.: Gedichte. Zürich/Winterthur 1843, S. 88–92, hier S. 89, 91.

296 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Die Einzelstaaten dagegen waren mit der Gewinnung eines legitimierenden Konsensus und mit der Integration ihrer im Zuge der napoleonischen Umwälzungen hinzuerworbenen Gebiete und Bevölkerungen beschäftigt. Die Reihenfolge der Stufen verlief hier tendenziell gerade umgekehrt, wie auf der nationalpolitischen Ebene angestrebt; aber einzelne Stufen konnten auch unausgeführt bleiben oder in bloß rudimentärer Entwicklung verharren. Ein lehrreiches Beispiel bietet Bayern, das im folgenden stellvertretend für die anderen Einzelstaaten näher beleuchtet werden soll. Hier lassen sich die drei Stufen der administrativen, der politisch-partizipatorischen und der ideologischen Integration besonders gut, und zwar auch in ihrer zeitlichen Abfolge unterscheiden. Am Anfang steht die administrative Integration, das Werk des Grafen Montgelas. Es galt, aus der Summe der Herrschaftsrechte und der zahlreichen territorialen Einheiten mit ihren ganz unterschiedlichen Verwaltungsorganisationen einen straff und einheitlich durchgeformten, zentralisierten modernen Gesamtstaat zu bilden. Es folgte die politisch-partizipatorische Integration durch die Verfassung von 1818 mit einer in zwei Kammern gegliederten Repräsentation. Die gegebenen Möglichkeiten der Mitwirkung der Bürger an Gesetzgebung und Besteuerung sollten den durch den bloßen Zufall zusammengeworfenen Untertanen eine politische Identität im Rahmen des neu geschaffenen Staates verleihen. Die Verfassung bot dem Staatsvolk in Grenzen die Möglichkeit, einen gemeinsamen politischen Willen zu artikulieren. Den Trägern der neuen partikularen Staatlichkeit erschienen diese beiden Stufen der Integration noch unzureichend. Die Willkür der territorialen Zuschreibungen, die in dem mehrfachen Herrschaftswechsel bestimmter Gebiete einen besonders krassen Ausdruck gefunden hatte, war noch zu lebhaft im Gedächtnis. Man musste, so schien es, den Schwaben, den Franken und den Pfälzern im neuen Bayern auf geeignete Weise auch deutlich machen, dass es besser für sie sei, unter dem Hause Wittelsbach zu leben, als etwa zu Württemberg zu gehören oder einen eigenen Mittelstaat mit zentralisierter Verwaltung und einer Verfassung zu bilden oder schließlich nach einem deutschen Nationalstaat zu streben. Welche politischen Folgen es haben konnte, wenn eine hinzugewonnene Region von den Vorteilen der Zugehörigkeit zu Bayern nicht überzeugt war, sollte gerade das Hambacher Fest in der linksrheinischen Pfalz zeigen. Es war kein Zufall, dass diese erste nationaldemokratische Massendemonstration der deutschen Geschichte in einer infolge des napoleonischen und nachnapoleonischen Umbruchs gleichsam heimatlos gewordenen Region stattfand. In Voraussicht solcher Gefahren hatte schon im Jahre 1810 der bayerische Historiker und Hofbibliothekar Johann Christoph Freiherr von Aretin gefordert, baldmöglichst geeignete Schritte zu ergreifen, um einen bayerischen „National-Charakter“ auszubilden. Überall

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sehe man gegenwärtig nur noch „Europäer“ mit demselben „Geschmack“, denselben „Leidenschaften“ und denselben „Sitten“, weil „ihnen nicht durch NationalEinrichtungen ein National-Charakter gegeben worden“ sei. Unter „gleichen Umständen“ würden alle „gleich handeln“: „Überall, wo sie Gold zu gewinnen, und Weiber zu verderben finden, sind sie ja zuhause.“ Daraus folgerte Aretin: „Nur dann, wenn wir machen können, daß der Baier nie Bürger eines anderen Staates als des bayerischen werden kann, haben wir die Selbständigkeit von Bayern fest gegründet.“ Die Formung einer eigenen „National-Physiognomie“ sollte die Bayern „von anderen Völkern unterscheiden und ihnen die Lust benehmen [. . . ], sich mit denselben zu verschmelzen“.¹² Was Aretin hier fordert, lässt sich als ideologische Integration bezeichnen, und zwar im Sinne der planvollen Lenkung der Orientierungen hin auf den neuen Staat. Was sich auf gesamtdeutscher Ebene als Anfang und Voraussetzung gezeigt hatte, wurde hier zur letzten und höchsten Stufe der Integration: die Schaffung eines Nationalbewusstseins, in diesem Falle eines bayerischen. Der durch Krieg und Diplomatie von der Dynastie geschaffene neubayerische Staat sollte nachträglich auch zu einem Staat der erst noch zu entwickelnden bayerischen Nation gemacht werden. Wie das gesamtdeutsche, so verstand sich auch das bayerische Nationalbewusstsein – das machte Aretin ganz deutlich – als Gegenbewegung gegen den Kosmopolitismus der Aufklärung. Die ideologische Integration nun bedurfte des Gedächtnisses. So wurde etwa versucht, das unterscheidende bayerische Nationalgefühl auf den Stolz auf die geschichtliche Größe des Hauses Wittelsbach zu gründen. Die Leistungen der Dynastie wurden teils durch die Erinnerung an ihre Taten und ihr ehrwürdiges Alter, teils durch symbolische Veranschaulichung ihrer gegenwärtigen Bedeutung zum Bewusstsein gebracht. Die klassizistische Ausgestaltung Münchens zu einer Hauptstadt von europäischem Zuschnitt zum Beispiel enthielt zwischen Feldherrnhalle und Siegestor architektonisch und inhaltlich eine Fülle von Anknüpfungen an die Tradition. Es ist schon ein merkwürdiger Vorgang, dass eine Jahrhunderte alte Dynastie, deren Herrschaft bis vor kurzem durch unvordenkliche Übung wie selbstverständlich legitimiert war, sich plötzlich durch solche Anstrengungen in Erinnerung bringen musste. Dieses Bedürfnis nach Erfindung von Traditionen führte nun auf der partikularstaatlichen Ebene zu ganz ähnlichen Gedächtnismustern, wie sie bereits für die gesamtdeutsche Ebene aufgezeigt wurden. Hatte Görres die Schaffung der gesamtdeutschen Einheit als Wiederaufnahme und Verwirklichung einer in der

12 J. C. Frhr. v. Aretin: Literärisches Handbuch für die baierische Geschichte und alle ihre Zweige. München 1810, S. 6 f., 9 f.

298 | III Monarchie, Nation, Nationalismus großen Zeit des Mittelalters gestifteten Idee gefordert, so sprach der bereits zitierte Aretin unter Anknüpfung an die politische Selbständigkeit des Bayernstamms in vorkarolingischer Zeit von der „Wiedergeburt“ der „baierischen Nation“ und der Wiedererlangung der Königswürde, ja der Wiederherstellung des „baierischen Namens“.¹³ Auf welche Mittel die bewegliche Phantasie Aretins verfallen konnte, um einen bayerischen Nationalgeist zu erzeugen, beweist der Umstand, dass er im Jahre 1819 „teutsche Spielkarten für das bayrische Volk“ herausgab, auf denen Motive dargestellt waren, die zur Ausbildung eines spezifisch bayerischen Sonderbewusstseins geeignet erscheinen mochten: teils Szenen aus der bayerischen Geschichte, in denen die „edle Liebe“ des bayerischen Volks „zu Fürst und Vaterland“ zum Ausdruck gekommen sein soll (z. B. Herz As); teils Symbole für „die Hoffnungen Bayerns“ wie zum Beispiel eine Darstellung der soeben geschaffenen Volksvertretung (Gras Siebener); teils Hinweise auf schmerzliche historische Erfahrungen, zum Beispiel mittels einer „Länder Verlust-Karte“ (Eichel As), auf der sich ehemals bayerische Gebiete verzeichnet fanden, die inzwischen unter fremde Herrschaft gekommen waren.¹⁴ In Analogie zu den Bemühungen des Freiherrn vom Stein organisierte Ludwig I. in Anknüpfung an zahlreiche private, lokale und regionale Initiativen ein lückenloses Netz von Geschichtsvereinen, die sich um die Sammlung, Erhaltung und Bearbeitung historischer Quellen kümmern sollten. Im Mai 1827 befahl er die umfassende Registrierung und Erhaltung aller in seinem „Reiche zerstreuten architektonischen, plastischen und anderen Denkmalen der Vorzeit“. Die Erhaltung der Denkmale würde „zur Belebung des Nationalgeistes“ beitragen.¹⁵ Gerade auch von den neubayerischen Untertanen erwartete Ludwig, dass die Förderung des Gedächtnisses an ihre je besonderen Vergangenheiten sie um so fester an den bayerischen Staat binden werde, denn sie bedeutete nichts anderes als die Anerkennung ihrer historischen Identität. Dass diese Überlegung zu einer Korrektur der rationalistischen Staatsintegration durch Montgelas führen konnte, zeigt die Neueinteilung und Umbenennung der acht Kreise Bayerns durch Verordnung vom 19. November 1837. Die nach dem französischen Vorbild der Departementsbenennung gewählten geographischen Bezeichnungen wurden aufgegeben. An ihre Stelle traten die historischen

13 Ebd., S. 18, 6. 14 J. C. Frhr. v. Aretin: Vaterländische Erinnerungen bey Gelegenheit der neu herausgegebenen teutschen Spielkarten für das bayrische Volk. Augsburg 1819, S. 5 ff., 26 f. 15 Zit. nach G. Stetter: Die Entwicklung der Historischen Vereine in Bayern bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Diss. München 1963, S. 82.

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Stammesnamen. Die Kreise hießen fortan Ober- und Niederbayern, Schwaben, Oberpfalz, Ober-, Mittel- und Unterfranken und Pfalz. Der bayerische Staat verbürgte damit gleichsam die Identität der historischen Stämme. Er anerkannte, wie ein Zeitgenosse zustimmend erklärte, das Recht der Provinzen auf ihre historischen Namen. So kann es schließlich kaum überraschen, dass der Schöpfer der Walhalla auch in München eine Ruhmeshalle errichten ließ, in der das Gedächtnis an die großen Bayern – einschließlich derjenigen aus den neubayerischen Gebieten – verewigt werden sollte. Sein Sohn und Nachfolger Maximilian II. Joseph ergriff 1853, ein Jahr nach Gründung des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg, die Initiative zur Einrichtung eines bayerischen Nationalmuseums in München. Es wurde im Jahre 1867 eröffnet und bot mit seiner historischen Galerie im ersten Stock die Möglichkeit, die Geschichte des Hauses Wittelsbach in allen seinen historischen Verzweigungen auf rund 150 Wandbildern zu illustrieren. Im Rahmen dieses überwiegend dynastischen und historisch weit zurückgreifenden Programms gewann auch die Begründung einer spezifisch neubayerischen Tradition Raum. Die konstitutiven Akte des neuen Bayern waren ebenfalls dargestellt: so die Huldigung der neuerworbenen Provinzen an Max Josephs Königsthron und vor allem die Gewährung der neuen ständischen Verfassung Bayerns von 1818. Diese Verfassung bildete jenseits aller historisierenden Ideologie das wichtigste institutionelle Band zwischen Monarch und Nation. Insofern musste ihre Einführung ein besonders wichtiger Anlass zur Begründung eines identitätsstiftenden Gedächtnisses sein. Schon am 26. Mai 1819, am ersten Jahrestag der Verfassungsgewährung, ließ König Maximilian I. Joseph eine Denkmünze prägen. Auf der Vorderseite erscheint die Büste des Königs, in antiker Stilisierung mit Lorbeerkranz. Auf der Rückseite erkennt man einen Kubus, auf dem durch das Rautenmuster bezeichneten bayerischen Boden ruhend. Der Kubus versinnbildlicht offenbar Festigkeit; hier symbolisiert er die Verfassung, wie die Aufschrift zeigt: „Charta Magna Bavariae“. Unter dem Kubus ist das Datum des Verfassungsoktrois, der 26. Mai 1818, angegeben.¹⁶ An vielen Orten des Landes, offenbar besonders gerne in neubayerischen Gebieten, wurden Denkmäler zum Gedenken an König Maximilian I. Joseph und sein Verfassungswerk errichtet. Als Beispiel sei das Denkmal im ehemals hochstiftischen Passau genannt.

16 F. Kobler: Charta magna Bavariae. In: H. Glaser (Hrsg.): Krone und Verfassung. König Max I. Joseph und der neue Staat. Wittelsbach und Bayern III/1. München/Zürich 1980, S. 114–120, hier S. 114.

300 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Am bekanntesten ist das vom Münchner Magistrat gestiftete Max-JosephsDenkmal in München auf dem Platz vor dem Nationaltheater. Unter den Reliefs von Rauch am Sockel des Monuments nimmt die Darstellung der Verfassungsübergabe eine programmatisch-zentrale Funktion ein. Der thronende König überreicht der vor und weit unter ihm knieenden Bavaria die Konstitution – ein unübersehbarer Hinweis auf das monarchische Prinzip, wonach der König Inhaber der gesamten Staatsgewalt blieb und sich nur in ihrer Ausübung aus freien Stücken an die Mitwirkung der Stände band. Die Stände selbst werden auf dem Relief durch einen Edelmann, einen Bürger und einen Bauern dargestellt. Ein Verfassungsdenkmal besonderer Art bildet die über 30 Meter hohe Verfassungssäule im Park des Schlosses Gaibach über Volkach am Main. Sie wurde vom Grafen von Schönborn, einem fränkischen Standesherrn, das heißt einem ehemals reichsunmittelbaren Fürsten, gestiftet. Leo von Klenze besorgte den Entwurf. Der Maler Peter von Heß wurde 1822 beauftragt, die feierliche Grundsteinlegung vom 26. Mai 1821 in einem Gemälde festzuhalten. Das Bild war für den sogenannten Konstitutionssaal auf Schloss Gaibach bestimmt. Die Stiftung des Standesherrn symbolisiert die Versöhnung mit dem Verlust der Reichsfreiheit dank der Verfassung, die gerade den Standesherren besondere Rechte einräumte. Das Gemälde verdeutlicht diese Symbolik dadurch, dass es den Kronprinzen Ludwig zeigt, wie er mit der Linken den Grafen von Schönborn an der Hand nimmt und mit der Rechten auf den Grundstein verweist.¹⁷ Als letzter Bereich, in dem die Analogie zwischen gesamtdeutscher und partikularstaatlicher, hier an Bayern exemplifizierter Nationsbildung verfolgt werden kann, soll noch kurz das Phänomen des nationalen Festes herausgegriffen werden. Das politische Fest bildete ein wesentliches Moment der nationaldemokratischen Bewegung: Wartburgfest 1817 und Hambacher Fest 1832 kennzeichnen Stufen ihrer Entwicklung, in Turner- und Sängerfesten aktualisierte sich die nationale Zusammengehörigkeit, Denkmalsfeste unterstrichen den integrativen und identitätsstiftenden Sinn der Denkmalssetzung. Doch auch der Partikularismus suchte sich dieses Mittels zu bedienen. Unter den Vorschlägen, die der bereits zitierte Freiherr von Aretin 1810 in der Absicht unterbreitete, einen eigentümlichen Nationalcharakter im Bayernvolke auszubilden, findet sich auch der Gedanke, „ein Fest“ einzusetzen, „das alle Decennien mit Würde gefeyert werden müßte“, und vielsagend fügte Aretin hinzu, man müsse „das Volk [. . . ] unaufhörlich mit sich selbst, und mit dem Vaterlande beschäftigen.“¹⁸

17 M. Junkelmann: Die Grundsteinlegung der Konstitutionssäule zu Gaibach am 26. Mai 1821. In: H. Glaser (Hrsg.): Krone und Verfassung (wie Anm. 16), III/2, S. 318. 18 Aretin: Literärisches Handbuch (wie Anm. 12), S. 13.

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In der Tat entstand im selben Jahr ein bayerisches Nationalfest, das seither jährlich gefeiert wird: das Münchner Oktoberfest. Schon die Umstände seiner Entstehung verdeutlichen die Verbindung von Dynastie und Volk, die es befestigen sollte. Der 12. Oktober war Namenstag von König Maximilian I. Joseph. Im Jahre 1810 wurde an diesem Tag Kronprinz Ludwig mit Prinzessin Therese von Sachsen-Hildburghausen vermählt. Im Rahmen der Hochzeitsfeierlichkeiten fand am 17. Oktober 1810 ein Pferderennen auf einem freien Gelände außerhalb Münchens statt. Dies war der Beginn der Oktoberfest-Tradition. Zu Ehren der Kronprinzessin erhielt das Gelände den Namen „Theresienwiese“. Ein Vierteljahrhundert später konnte Joseph von Hazzi, ein hoher bayerischer Beamter, der sich um die Förderung des Oktoberfests besonders bemüht hatte, schreiben: „Es steht ein jährliches Nationalfest da, wie keines in der Welt [. . . ] Es ist gleichsam ein allgemeines Rendezvous für alle Bewohner des Reiches, für alle Bayern dazu geschaffen, wie einst für die Griechen in Olympia.“¹⁹ Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus dem Gesagten? Zunächst hat sich gezeigt, dass in Deutschland im 19. Jahrhundert wenigstens auf zwei Ebenen Prozesse der Nationsbildung stattgefunden haben: auf der gesamtdeutschen wie auf der partikularstaatlichen Ebene. Überraschend klingt diese Feststellung nur solange, als man unter Nation ausschließlich eine ethnische oder kulturelle Einheit versteht. Außer diesem, wie man gesagt hat, kulturell-objektiven gibt es jedoch auch einen politisch-subjektiven Nationsbegriff, der seine klassische Ausprägung in der Amerikanischen und in der Französischen Revolution gefunden hat. Danach konstituiert sich die Nation in dem Willen derer, die eine nationale Solidarität begründen. Der Dritte Stand innerhalb der zufälligen Grenzen des von den französischen Königen geschaffenen französischen Staates erklärte sich 1789 zur Nation mit dem Willen, sich eine politische Verfassung zu geben und damit selbst über sein Schicksal zu bestimmen. In Nordamerika bildeten die Bürger der 13 Kolonien, als sie sich 1776 zu unabhängigen Staaten erklärten, eine neue Nation. Auch hier war also der gemeinsame Wille das eigentliche Konstituens der Nation. Objektive Kriterien gab es nicht: weder eine gemeinsame Sprache noch eine gemeinsame Konfession, noch eine gemeinsame Geschichte, noch die ausschließende Gemeinsamkeit der geographischen Lage: Kanada blieb außerhalb der Vereinigten Staaten. Wer nicht zur Nation gehören wollte, wanderte aus. Die Emigration war eine notwendige Begleiterscheinung der Französischen wie der Amerikanischen Revolution.

19 Zit. nach G. Möhler: Das Münchner Oktoberfest. Brauchformen des Volksfestes zwischen Aufklärung und Gegenwart. München 1980, S. 46.

302 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Der kulturell-objektive Nationsbegriff dagegen entsprach eher den Gegebenheiten in Mittel- und Osteuropa. Die Nationen wurden dort als vorstaatliche, objektiv gegebene Phänomene aufgefasst, konstituiert durch kulturelle Gemeinsamkeiten wie Sprache und historische Erinnerung. Die Nationen bestanden daher unabhängig vom Willen derer, die ihnen zugerechnet wurden. Nach Meinung der Vorkämpfer dieses Nationsgedankens konnten solche Nationen ihre Eigenart und Identität allerdings vergessen. Deshalb sprachen sie von der Notwendigkeit der Erweckung oder vom Erwachen der Nationen, von der nationalen Wiedergeburt, in Italien vom „Risorgimento“. Joseph Görres hat uns als Beispiel für den kulturell-objektiven Nationsbegriff gedient. Görres wollte die seit alters bestehende, aber in Selbstvergessenheit versunkene deutsche Nation wieder zum Bewusstsein ihrer selbst bringen. Dieses Bewusstsein, so schien es, musste in erster Linie durch die Aufdeckung der gemeinsamen Herkunft und der gemeinsamen Traditionen auf allen Gebieten des politischen und kulturellen Lebens geweckt werden: in der Sprache, in Lied und Sage, in der Kunst, im Recht. Im Gegensatz dazu versuchten die Regierungen der Partikularstaaten, innerhalb der zufälligen Grenzen der von den Dynastien zusammengewürfelten Ländermassen neue Nationen zu bilden – und das hieß im Sinne des politischsubjektiven Nationsbegriffs Willensgemeinschaften zu erzeugen, die sich auf den Boden dieser so gegebenen Staaten stellten. Was im Frankreich von 1789 durch den zur Nationalversammlung konstituierten Dritten Stand revolutionär von unten gegen den Alten Staat durchgesetzt worden war, sollte sich hier als Werk der Fürsten vollziehen im Sinne einer Nationsbildung von oben. Die schrittweise Gewährung von Verfassungen in den meisten deutschen Staaten im Vormärz bildete einen notwendigen Schritt auf diesem Weg der Nationsbildung. Aber die frühkonstitutionellen Verfassungen waren mit den Verfassungen der Revolution vor allem deshalb nicht zu vergleichen, weil sie nicht vom Grundsatz der Volkssouveränität ausgingen. Die Vermutung liegt auf der Hand, dass der Versuch, die partikulare Staatlichkeit zusätzlich mit der Beschwörung vorkonstitutioneller Traditionen zu legitimieren, die Funktion hatte, die angedeuteten Mängel der Verfassungen zu kompensieren. Wie gezeigt wurde, sind beide Nationsbildungsprozesse aus dem Zusammenbruch der überlieferten politischen und gesellschaftlichen Ordnung um 1800 hervorgegangen. Sie stellten konkurrierende Konzepte für eine neue Orientierung der Solidaritäten dar. Obwohl das partikularstaatliche Ordnungskonzept zunächst vor allem den Interessen der Fürsten entsprach, während der gesamtdeutsche Gedanke in erster Linie von der bürgerlich-liberalen Bewegung getragen wurde, lässt sich eine klare Trennung der jeweiligen Trägerschaften nach diesem Schema nicht durchführen. Denn die bürgerliche Bewegung strebte bekanntlich nicht nach Aufhebung der Einzelstaaten, sondern nach ihrer De-

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mokratisierung und damit notwendig zugleich nach ihrer Konsolidierung im Rahmen eines föderativ aufgebauten deutschen Nationalstaats. Besonders in Partikularstaaten mit fortgeschrittener Verfassungsentwicklung konnte sich daher geradezu ein „liberaler Partikularismus“ entwickeln. Hierher gehört das Gedicht von Prutz für Friedrich Wilhelm IV., aber auch die bekannte Erklärung Carl von Rottecks von 1832, im Zweifelsfalle wolle er lieber in einem freiheitlichen Baden leben als in einem deutschen Reich, in dem die Freiheit fehlte: „Lieber Freiheit ohne Einheit, als Einheit ohne Freiheit.“²⁰ Rottecks Positionsbestimmung ist ein Indiz dafür, wie stark der kulturellobjektive deutsche Nationalgedanke inzwischen von Elementen des westeuropäischen Gedankens von der Nation als politischer Willensgemeinschaft überlagert und relativiert worden war. Dem entspricht auf der anderen Seite, dass die verfassungspolitischen Ziele auch der deutschen Nationalbewegung sich bis in das Verfahren hinein immer stärker am westeuropäischen Vorbild orientierten. Beim Ausbruch der Revolution im Frühjahr 1848 waren die Berufung einer Nationalversammlung, das Bekenntnis zur Nationalsouveränität und die Proklamation von Grundrechten selbstverständliche Schritte auf dem Weg zur Schaffung eines deutschen nationalen Staates. Doch die revolutionäre Bewegung von 1848 zielte auch in den Einzelstaaten teils auf fortschreitende Liberalisierung bereits bestehender Verfassungen, teils auf Berufung von Nationalversammlungen zur erstmaligen Einführung des Verfassungsstaats, so in Österreich und in Preußen. Der Vorgang unterstreicht noch einmal das Gewicht der partikularen Staatsbildung in Deutschland. Dabei steht außer Zweifel, dass die partikulare Nationsbildung die politische Stoßkraft der gesamtdeutschen Nationalbewegung schon insofern schwächte, als sie eine alternative Identifikationsmöglichkeit bereitstellte. So gesehen war nach dem Scheitern der Revolution durchaus offen, welche Form der Nationsbildung am Ende die Oberhand gewinnen würde. Die Gründung eines deutschen Nationalstaats war keine geschichtliche Notwendigkeit. Der stark föderative Charakter des Bismarckreiches bezeugt den Erfolg der partikularen Nationsbildungen in den Einzelstaaten. Im übrigen ist die Bismarcksche Reichsgründung bekanntlich mindestens ebenso sehr ein Sieg des preußischen und eine Niederlage des österreichischen Partikularismus wie die politische Durchsetzung des deutschen Nationalgedankens gewesen, zumal das Reich weder alle Deutschen in sich schloss, noch alle Nichtdeutschen aus sich entließ. Schließlich musste auch dieser unvollkommene Nationalstaat um den Konsens

20 Zit. nach H. v. Rotteck: Karl von Rotteck’s Leben. In: Carl von Rotteck’s gesammelte und nachgelassene Schriften, Bd. 4. Pforzheim 1843, S. 400.

304 | III Monarchie, Nation, Nationalismus breiter gesellschaftlicher Gruppen kämpfen, die unzweifelhaft zur deutschen Kulturnation gehörten: um Elsässer und Süddeutsche, um die Katholiken und um die Arbeiterschaft. Daran zeigt sich bereits, dass das neugeschaffene Kaiserreich nach 1871 in mancher Hinsicht vor ähnlichen Integrationsaufgaben stand wie die partikularen Staaten des Vormärz. Ein Vergleich der jeweiligen Versuche zur Traditionsbildung wäre in diesem Zusammenhang aufschlussreich, und zwar gerade auch unter dem Gesichtspunkt, inwieweit die Pflege eines bestimmten Gedächtnisses, z. B. an die geschichtlichen Leistungen des Hauses Hohenzollern und der preußischen Armee, auch hier die Funktion hatte, den Mangel an nationaler Selbstbestimmung zu ersetzen.

Die Erfindung des monarchischen Prinzips. Jacques-Claude Beugnots Präambel zur „Charte Constitutionnelle“ I. Louis, par la grâce de Dieu, Roi DE FRANCE ET DE NAVARRE, A tous ceux qui ces présentes verront, SALUT.¹ II. La divine Providence, en nous rappelant dans nos États après une longue absence, nous a imposé de grandes obligations. La paix était le premier besoin de nos sujets: nous nous en sommes occupés sans relâche; et cette paix si nécessaire à la France comme au reste de l’Europe, est signée. Une charte constitutionnelle était sollicitée par l’état actuel du royaume; nous l’avons promise, et nous la publions. Nous avons considéré que, bien que l’autorité toute entière résidât en France dans la personne du Roi, nos prédécesseurs n’avaient point hésité à en modifier l’exercice, suivant la différence des temps; que c’est ainsi que les communes ont dû leur affranchissement à Louis-le-Gros, la confirmation et l’extension de leurs droits à Saint-Louis et à Philippe-le-Bel; que l’ordre judiciaire a été établi et développé par les lois de Louis XI, de Henri II et de Charles IX; enfin, que Louis XIV a réglé presque toutes les parties de l’administration publique par différentes ordonnances, dont rien encore n’avait surpassé la sagesse. III. Nous avons dû, à l’exemple des Rois nos prédécesseurs, apprécier les effets des progrès toujours croissans des lumières, les rapports nouveaux que ces progrès ont introduits dans la société, la direction imprimée aux esprits depuis un demi-siècle, et les graves altérations, qui en sont résultées: nous avons reconnu que le vœu de nos sujets pour une charte constitutionnelle était l’expression d’un besoin réel; mais en cédant à ce vœu, nous avons pris toutes les précautions pour que cette charte fût digne de nous et du peuple auquel nous sommes fiers de commander. Des hommes sages, pris dans les premiers corps de l’État, se sont réunis à des commissaires de notre Conseil, pour travailler à cet important ouvrage. IV. En même temps que nous reconnaissions, qu’une constitution libre et monarchique devait remplir l’attente de l’Europe éclairée, nous avons dû nous souvenir aussi que notre premier devoir envers nos peuples était de conserver, pour leur propre intérêt, les droits et les prérogatives de notre couronne. Nous avons espéré qu’instruits par l’expérience, ils seraient convaincus que l’autorité suprême peut seule donner aux institutions qu’elle établit, la force, la permanence et la majesté dont elle est elle-même revêtue; qu’ainsi, lorsque la sagesse des rois s’accorde librement avec le vœu des peuples, une charte constitutionnelle peut être de longue durée; mais que, quand la violence arrache des concessions à la faiblesse du Gouvernement, la liberté publique n’est pas moins en danger que le trône même. Nous avons enfin cherché les principes de la charte constitutionnelle dans le caractère français, et dans les monumens vénérables des siècles passés. Ainsi, nous avons vu dans le renouvellement

1 Text der Präambel nach: Bulletin des Lois du Royaume de France, 5.e série, t. 1, no. 17/133 (1814), S. 197–199. – Die römischen Ziffern zu Beginn jedes Absatzes wurden zur Erleichterung der Orientierung hinzugefügt.

306 | III Monarchie, Nation, Nationalismus de la pairie une institution vraiment nationale, et qui doit lier tous les souvenirs à toutes les espérances, en réunissant les temps anciens et les temps modernes. V. Nous avons remplacé, par la chambre des députés, ces anciennes assemblées des Champs de Mars et de Mai, et ces chambres du tiers-état, qui ont si souvent donné tout-à-la-fois des preuves de zèle pour les intérêts du peuple, de fidélité et de respect pour l’autorité des rois. En cherchant ainsi à renouer la chaîne des temps, que de funestes écarts avaient interrompue, nous avons effacé de notre souvenir, comme nous voudrions qu’on pût les effacer de l’histoire, tous les maux qui ont affligé la patrie durant notre absence. Heureux de nous retrouver au sein de la grande famille, nous n’avons su répondre à l’amour dont nous recevons tant de témoignages, qu’en prononçant des paroles de paix et de consolation. Le vœu le plus cher à notre cœur, c’est que tous les Français vivent en frères, et que jamais aucun souvenir amer ne trouble la sécurité qui doit suivre l’acte solennel, que nous leur accordons aujourd’hui. VI. Sûrs de nos intentions, forts de notre conscience, nous nous engageons, devant l’assemblée qui nous écoute, à être fidèles à cette charte constitutionnelle, nous réservant d’en jurer le maintien, avec une nouvelle solennité, devant les autels de celui qui pèse dans la même balance les rois et les nations. VII. A CES CAUSES, NOUS AVONS volontairement, et par le libre exercice de notre autorité royale, ACCORDÉ ET ACCORDONS, FAIT CONCESSION ET OCTROI à nos sujets, tant pour nous que pour nos successeurs, et à toujours, de la Charte constitutionnelle qui suit.

Die* Wiener Schlussakte (WSA) vom 15. Mai 1820 schrieb den Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes für die Gewährung und die Auslegung von Verfassungen die Beachtung des sogenannten monarchischen Prinzips vor. Da der Deutsche Bund, „mit Ausnahme der freien Städte“, heißt es dort in Artikel 57, „aus souveränen Fürsten“ bestehe, müsse „dem hierdurch gegebenen Grundbegriffe zufolge die gesamte Staatsgewalt in dem Oberhaupte des Staates vereinigt bleiben“; „der Souverän“ könne „durch eine landständische Verfassung nur in der Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung der Stände gebunden werden“.² Das monarchische Prinzip war die Antwort der Gegenrevolution auf den zuerst in Frankreich im Jahre 1789 von der Versammlung des Dritten Stands erhobenen Anspruch der Nation auf die verfassunggebende Gewalt. Im Besitz dieser Gewalt fühlte sich die Nation frei, über die Staatsform nach Gutdünken zu entscheiden. Im Jahre 1789 entschied sie sich in Frankreich zunächst für die Monarchie. Während die Monarchie nach dem demokratischen Prinzip nur kraft der Verfassung existiert, erscheint in einer Monarchie nach dem monarchischen Prinzip umgekehrt

* Erstdruck in: Armin Heinen/Dietmar Hüser (Hrsg.): Tour de France. Eine historische Rundreise. Festschrift für Rainer Hudemann. Stuttgart 2008, S. 489–497. 2 WSA, Art. 57. In: Ernst Rudolf Huber (Hrsg.): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Bd. 1. Stuttgart 3 1978, S. 99.

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die Verfassung als eine freie Konzession des Monarchen, und den Vertretern der Nation stehen nur diejenigen Rechte politischer Mitwirkung zu, die in der Verfassung ausdrücklich aufgezählt sind. Auf diesen Grundsätzen beruhte die konstitutionelle Entwicklung in Deutschland bis zum Ende der Monarchie im Jahre 1918. Wesentlich hierdurch unterschied sich der deutsche Verfassungsstaat am Vorabend des Ersten Weltkriegs von den parlamentarischen Regimen Großbritanniens, Frankreichs und Italiens. Umso wichtiger erscheint es, daran zu erinnern, dass das monarchische Prinzip nicht in Deutschland, sondern in Frankreich erfunden wurde. Niedergelegt wurde das monarchische Prinzip zuerst in der Präambel zur charte constitutionnelle Ludwigs XVIII. vom 4. Juni 1814. In der Mitte von Absatz II findet sich eine Formulierung, die den Wortlaut des Artikels 57 WSA fast wörtlich vorwegnimmt: „Nous avons considéré que, bien que l’autorite toute entière résidât en France dans la personne du Roi, nos prédécesseurs n’avaient point hésité à en modifier l’exercice, suivant la différence des temps. L’autorite toute entière“ entspricht der „gesamten Staatsgewalt“, und die „Mitwirkung“ Dritter an „der Ausübung bestimmter Rechte“ findet ihr Gegenstück in der Bereitschaft des Königs „à en modifier l’exercice“. Ganz offensichtlich hat die charte constitutionnelle die deutsche Verfassungsentwicklung beeinflusst. Schon deshalb erscheint es nützlich, die Entstehungsgeschichte der charte und die Einbettung der zitierten Formel in den Gesamttext der Präambel noch einmal in den Blick zu nehmen. Nachdem die Verbündeten mit Zar Alexander I. an der Spitze am 31. März 1814 in Paris eingezogen waren, erklärte der französische Senat Napoleon am 2. April für abgesetzt.³ Am 6. April verabschiedete er eine Verfassung nach dem Grundsatz der Volkssouveränität. Tags darauf wurde die Verfassung auch vom corps législatif angenommen. In Artikel 2 dieser Verfassung wurde der damals im englischen Exil weilende Bruder Ludwigs XVI., der Graf von Provence, unter seinem bürgerlichen Namen Louis-Stanislas-Xavier de France auf den Thron Frankreichs berufen. Nach Artikel 29 wurde seine Thronbesteigung allerdings unter die Bedingung gestellt, dass er die Verfassung beschwöre. Den demokratischen Charakter der Monarchie zeigte auch der Titel an, der für den König vorgesehen war: Nicht als roi de France, sondern als roi des Français sollte er regieren. Mit diesen Bestimmungen knüpfte die Verfassung des Senats an die erste Verfassung der Revolution an, die Ludwig XVI. am 14. September 1791 beschworen hatte.

3 Für den historischen Zusammenhang und die Entstehungsgeschichte der charte constitutionnelle verweise ich auf meine ausführliche Darstellung in: Volker Sellin: Die geraubte Revolution. Der Sturz Napoleons und die Restauration in Europa. Göttingen 2001.

308 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Schon dieses Detail beweist, dass die Absetzung Napoleons und die Berufung des Grafen von Provence auf den Thron nicht in der Absicht erfolgt waren, die Monarchie des Ancien régime zu restaurieren. Ziel des Senats und des Vorsitzenden der provisorischen Regierung, des Fürsten Talleyrand, war im Gegenteil, die durch die Revolution und Napoleon geschaffenen Institutionen in die nachfolgende Epoche hinüberzuretten. Wie ein enger Mitarbeiter Talleyrands, Dominique de Pradt, sich ausdrückte, wollte die Verschwörergruppe zwei Dinge erreichen: „être délivré d’un joug devenu intolérable, et continuer l’ordre établi“.⁴ Das erklärt, warum für den Sturz Napoleons die Absetzung Jakobs II. von England zum Muster gewählt wurde. Dem Vorbild der Glorreichen Revolution von 1688 folgend, konstruierte der Senat die Absetzung Napoleons als einen Akt zur Verteidigung der Institutionen gegen die Rechtsbrüche des Herrschers, und genauso wie Wilhelm von Oranien und Maria Stuart erst nach dem Eid auf die Declaration of Rights zu Königen erhoben wurden, so sollte auch der aus dem Exil zurückgerufene Bourbonenprinz vor seiner Thronbesteigung die Verfassung beschwören, die den Fortbestand der aus der Revolution und dem Kaiserreich überkommenen politischen und gesellschaftlichen Ordnung garantierte. Hätte der Graf von Provence die vom Senat gestellten Bedingungen akzeptiert, dann hätte er damit zugleich die Revolution und das demokratische Prinzip sanktioniert. Er hätte im Sinne des Abbé Sieyès anerkannt, dass die verfassunggebende Gewalt nicht beim Monarchen, sondern bei der Nation liege. Dazu war er nicht bereit. In seinen Augen war er seit dem Tod des Dauphins 1795 König von Frankreich unter dem Namen eines Ludwig XVIII.⁵ Eine andere Position wäre mit dem Gedanken monarchischer Legitimität, die nur im Wege der Vererbung weitergegeben werden konnte, nicht vereinbar gewesen. Den Anspruch des Senats, ihm die königliche Würde im Namen der Nation zu übertragen, betrachtete Ludwig daher als eine unerhörte Anmaßung. Da er jedoch nicht auf den Thron verzichten wollte, musste er einen Weg finden, um seinen dynastischen Standpunkt durchzusetzen, ohne den Senat und die Nation zum offenen Widerstand zu provozieren. In der Bewältigung dieser Aufgabe bewies Ludwig XVIII. eine beispiellose Kaltblütigkeit und großes Geschick. Während sich in Frankreich in Erinnerung an die großen Könige der Vergangenheit wie Ludwig den Heiligen und Heinrich IV. die Hoffnungen zunehmend auf die Rückkehr der Bourbonen konzentrierten, gab Ludwig XVIII. wochenlang nicht zu erkennen, ob er die Verfassung des Senats

4 Dominique de Pradt: Recit historique sur la restauration de la royauté en France le 31 mars 1814. Paris 1816, S. 38. 5 Den Sohn Ludwigs XVI. selbst zählte er als Ludwig XVII. und fingierte dessen Regierung für die Jahre 1793 bis 1795.

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beschwören werde. Seine Ankunft in Frankreich zögerte sich hinaus. Erst am 24. April betrat er in Boulogne wieder französischen Boden. Eine öffentliche Stellungnahme gab er erst am 2. Mai, dem Vorabend seines Einzugs in die Hauptstadt, von Saint-Ouen am Stadtrand von Paris aus ab. In der Erklärung von Saint-Ouen trat er als Louis, „par la grâce de Dieu, Roi de France et de Navarre“ auf.⁶ Schon damit bekannte er sich offen zur monarchischen Legitimität. Er ließ keinen Zweifel daran, dass er sich bereits als König betrachte, ohne dass er die Senatsverfassung beschworen hätte, und mit dem Titel eines Roi de France griff er sogar hinter die Verfassung von 1791 zurück. Insofern ignorierte er nicht nur weiterhin den Sturz der Monarchie im Jahre 1792, sondern auch die Inanspruchnahme der verfassunggebenden Gewalt durch die Nation seit 1789. Dennoch wies er die Verfassung des Senats nicht rundweg zurück. Vielmehr erklärte er, ihre Grundlagen seien gut („nous avons reconnu que les bases en étaient bonnes“); allerdings sei eine große Zahl von Artikeln von der Übereilung („précipitation“) geprägt, mit der sie redigiert worden seien.⁷ Daher könne die Verfassung des Senats in ihrer gegenwärtigen Form nicht zum Grundgesetz des Staates erhoben werden. In diesen Aussagen verbirgt sich das Dilemma, in dem Ludwig sich befand. Ohne Zweifel gehört die Bestimmung des Inhabers der verfassunggebenden Gewalt zu den Grundlagen einer Verfassung, und gerade in diesem Punkt wollte Ludwig die Senatsverfassung nicht anerkennen. Dass er deren Grundlagen in der Erklärung von Saint-Ouen trotzdem „gut“ nannte, zeigt, dass er sich scheute, diese fundamentale Differenz deutlich zum Ausdruck zu bringen. Dazu passt auch, dass er das Gewicht seiner Kritik an der Verfassung betont herunterspielte, indem er die von ihm identifizierten Mängel lediglich auf die Übereilung zurückführte, mit der einzelne Artikel formuliert worden seien. Obwohl er mit dem Anspruch auftrat, längst König von Frankreich zu sein, erweckte seine Erklärung mit derartigen Formulierungen den Eindruck, als stimme er mit den Intentionen des Senats grundsätzlich überein und als wolle er im Wesentlichen an den durch die Revolution und das Kaiserreich geschaffenen Institutionen festhalten. Genau in dieser Erwartung war er vom Senat für den Thron vorgeschlagen worden. Hätte er sie in diesem Augenblick zurückgewiesen, hätte er die Geschäftsgrundlage seiner Berufung und damit seine politische Zukunft aufs Spiel gesetzt. Um die angeblichen Mängel der Verfassung zu beheben, berief Ludwig eine Kommission, in der Senat und corps législatif mit je neun Mitgliedern vertreten

6 Text der Erklärung von Saint-Ouen. In: Bulletin des Lois du Royaume de France, 5.e série, t. 1, no. 8/89 (1814), S. 75 f. 7 Ebd., S. 75.

310 | III Monarchie, Nation, Nationalismus waren. Durch die Arbeit dieser Kommission entstand aus der Senatsverfassung die charte constitutionnelle. Zahlreiche Artikel der Senatsverfassung wurden ohne substantielle Änderungen in die charte übernommen. Dazu gehörten die Bestätigung des code civil, die Anerkennung des Verkaufs der Nationalgüter, die Übernahme der Staatsschuld und der Verzicht auf politische Säuberungen. Zu den wichtigsten Neuerungen zählten die Stärkung der Exekutivgewalt und die Beschränkung der Gesetzesinitiative auf den König. Geradezu revolutionär dagegen war die Umwandlung der Senatsverfassung, die auf der Volkssouveränität beruhte, in eine Verfassung nach dem monarchischen Prinzip. Diese Umwandlung fand ihren Niederschlag in der ersatzlosen Streichung von drei zentralen Artikeln: von Artikel 1, der die erbliche Monarchie zur Staatsform und damit zu einer Schöpfung der Verfassung erklärte; von Artikel 2, der Louis-Stanislas-Xavier auf den französischen Thron berief und damit zu einem bloßen Funktionsträger des Staates machte; und von Artikel 29, der vor der Übertragung der königlichen Würde den Eid auf die Verfassung verlangte.⁸ Dass das von Ludwig gewünschte Ergebnis in der Kommission tatsächlich erzielt wurde, erklärt sich zunächst aus deren Zusammensetzung – die je neun Mitglieder aus den beiden Häusern des Parlaments waren nicht von diesen entsandt, sondern vom König ausgewählt worden, – sodann aus der geschickten Regie, mit der die Beauftragten des Königs die Beratungen lenkten. Nur ein einziges Mal – in der zweiten Sitzung – wurde der gesamte Verfassungsentwurf im Zusammenhang vorgelesen. Später wurde jeweils nur derjenige Artikel verlesen, der gerade zur Beratung stand. Trotz wiederholter Mahnung erhielten die Mitglieder den Entwurf niemals als ganzen schriftlich vorgelegt. Außerdem wurde die Kommission unter großen Zeitdruck gesetzt: Die Sitzungen begannen am 22. und endeten am 28. Mai. Als die Revisionsberatungen abgeschlossen waren, vereinbarten die Vertreter des Königs in der Kommission, dass einer von ihnen, Jacques-Claude Beugnot, unter Napoleon zuletzt kaiserlicher Kommissar im Großherzogtum Berg und inzwischen Generaldirektor der Polizei, die Schlussredaktion des Textes übernehmen solle.⁹ Dazu gehörte neben der Bestimmung des Namens der Verfassung und der Datierung der Regierungsjahre des Königs die Abfassung einer Präambel. Die Präambel der Senatsverfassung hatte lediglich einen knappen Hinweis auf die Entstehungsgeschichte des Textes enthalten. Als Urheber der Verfassung war darin der sénat conservateur bezeichnet worden. Seitdem die französische Nationalversammlung am 17. Juni 1789 der Nation die verfas-

8 Constitution française (6. 4. 1814). In: Bulletin des Lois du Royaume de France, 5.e série, no. 1/13 (1814), S. 14–18. 9 Jacques-Claude Beugnot: Mémoires. Bd. 2. Paris 1866, S. 218.

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sunggebende Gewalt zugesprochen und damit das Prinzip des demokratischen Konstitutionalismus begründet hatte, war es zur Selbstverständlichkeit geworden und bedurfte keiner näheren Erläuterung, dass Verfassungen von Vertretungskörperschaften verabschiedet werden. Dass aber ein Monarch Verfassungen erließ, dafür hatte in Frankreich allein Napoleon Vorbilder geliefert; allerdings waren dessen Verfassungsgesetze anschließend durch Plebiszite bestätigt worden. Auch die Verfassung des Senats hatte in Artikel 29 ein Referendum vorgesehen. Da sich jedoch weder die Verabschiedung einer Verfassung durch eine Versammlung noch die anschließende demokratische Bestätigung mit Ludwigs monarchischem Konstitutionalismus hätten vereinbaren lassen, bedurfte es einer besonderen Rechtfertigung für die in der Tat neuartige Form der Verfassungsstiftung. Diese Rechtfertigung musste die Präambel leisten. Beugnot bat zunächst Louis de Fontanes, die Präambel an seiner Stelle zu entwerfen. Fontanes, ein Dichter, war im Kaiserreich Mitglied des Senats gewesen und hatte unter dem Titel eines grand maître zuletzt an der Spitze des französischen Universitätssystems gestanden. Erst gegen zehn Uhr am Abend vor Verkündung der charte will Beugnot den Text von Fontanes erhalten haben. Er las ihn durch und fand ihn ungeeignet: Das Stück enthalte „sur le sujet de hautes pensées revêtues de formes éloquentes; mais ces pensées étaient trop générales, ces formes avaient trop d’éclat. C’était une belle page, mais ce n’était pas un préambule“.¹⁰ Daher blieb Beugnot nichts anderes übrig, als die Präambel selbst zu schreiben. Wie er in seinen Memoiren berichtet, war sein Text nach weniger als zwei Stunden fertig.¹¹ Beugnots Präambel ist erheblich länger als der Entwurf Fontanes’, und sie stellt sich weit stärker als dieser der delikaten politischen Aufgabe, nach einem Vierteljahrhundert, in dem unangefochten das Prinzip des demokratischen Konstitutionalismus gegolten hatte, die Wahrnehmung der verfassunggebenden Gewalt durch den König zu rechtfertigen. Beugnot hat einzelne Sätze von Fontanes übernommen, sie jedoch in einen kohärenten Argumentationsgang eingefügt, der bei diesem fehlt. Obwohl die Senatsverfassung und die Rückberufung Ludwigs XVIII. aus dem Exil mit keinem Wort erwähnt werden, hat Beugnot gleichwohl den Versuch unternommen, die sogenannte Restauration – ein Wort, das nur bei Fontanes einmal vorkommt – historisch zu rechtfertigen. Die größte Herausforderung bei diesem Unterfangen war naturgemäß die Einordnung der Revolution und des Kaiserreichs. Sie werden zusammengefasst in die Ausdrücke

10 Ebd., S. 224; der Entwurf Fontanes’ in: Archives nationales Paris, 40 AP 7, fol. 108 r –109v . 11 Beugnot: Mémoires, Bd. 2 (wie Anm. 9), S. 225.

312 | III Monarchie, Nation, Nationalismus „funestes écarts“ und „maux“ (V), während derer Ludwig XVIII. selbst „une longue absence“ auferlegt gewesen sei (II). „Abwesenheit“ bedeutet hier so viel wie „bloße“ Abwesenheit und nicht etwa die Nichtexistenz seiner monarchischen Würde. Daher wurde die Publikation der charte auch in das neunzehnte Jahr der Regierung des Königs datiert, gerade als ob er seit 1795 ununterbrochen regiert hätte.¹² Die Deutung der Revolution in der Konstruktion des aus der Sicht Beugnots politisch korrekten Geschichtsbilds erschöpft sich nicht in ihrer Kennzeichnung als eine Folge von „unheilvollen Verirrungen“ und „Übeln“. Die Forderungen, die zur Revolution geführt hatten, werden zumindest teilweise als berechtigt anerkannt. Sie werden zurückgeführt auf „les effets des progrès toujours croissans des lumières, les rapports nouveaux que ces progrès ont introduits dans la société, la direction imprimée aux esprits depuis un demi-siècle, et les graves altérations, qui en sont résultées“ (III). Wenn die Forderungen jedoch berechtigt waren, dann konnte die Monarchie ihre Legitimität nur bewahren, wenn sie sich als fähig erwies, ihnen angemessen nachzukommen. Zu eben diesem Zweck stifte er die charte constitutionnelle, lässt Beugnot den König erklären. Damit dieser Schritt nun aber nicht als eine durch die Revolution erzwungene Konzession erscheine, stellt Beugnot ausführlich dar, dass die Könige Frankreichs schon immer von sich aus auf die Bedürfnisse reagiert hätten, die sich von Mal zu Mal entwickelt hätten. Im zweiten Absatz nennt er zur Erläuterung eine Reihe von Königen aus der französischen Geschichte, die sich durch ihre Reformen ausgezeichnet hätten. Dabei wählt er die Beispiele geschickt aus solchen Materien, die auch in einer modernen Verfassung im Vordergrund stehen: die Gewährung politischer Mitwirkungsrechte, wenn nicht an einzelne Untertanen, so doch an Städte und Gemeinden; die Schaffung einer Gerichtsorganisation; und die Einrichtung einer öffentlichen Verwaltung (II). Die in der charte vorgesehene Deputiertenkammer wird in die Tradition des März- und Maifelds und der Versammlungen des Dritten Stands gestellt (V). Im Lichte dieser historischen Rekonstruktion erscheint die Revolution nicht nur als unheilvolle, sondern auch als unnötige Verirrung. Die Geschichte wird zum Beweis dessen bemüht, dass die Monarchie stets am besten in der Lage gewesen sei, die Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen. Voraussetzung sei allerdings, dass „la sagesse des rois s’accorde librement avec le voeu des peuples“; nur dann könne auch eine charte constitutionnelle von langer Dauer sein (IV).

12 Die charte constitutionnelle trug das Datum: Donné à Paris, l’an de grâce 1814, et de notre règne le dix-neuvième; nach: Bulletin des Lois du Royaume de France (wie Anm. 1), S. 207.

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Wenn aber einer schwachen Regierung Konzessionen mit Gewalt entrissen würden, dann gerate nicht nur der Thron, sondern auch die „liberté publique“ in Gefahr. Die Rede von der schwachen Regierung ist eine kaum verhüllte Kritik an Ludwig XVI., die Rede von der gewaltsamen Erzwingung von Konzessionen eine entschiedene Verurteilung des demokratischen Konstitutionalismus. Im Gegenzug wird der monarchische Konstitutionalismus nicht nur praktiziert, sondern an einer entscheidenden Stelle auch gerechtfertigt. Die Erfahrung habe gelehrt, heißt es dort, dass nur die oberste Gewalt, also der Monarch, den Institutionen, die sie schaffe, „la force, la permanence et la majesté“ verleihen könne, die sie selbst besitze (IV). Offenbar sollte man glauben, dass die charte aus dem freien Zusammenspiel der Weisheit des Königs mit dem Wunsche des Volkes hervorgegangen, mithin auf dem Wege der Vereinbarung zustande gekommen sei. Zum Beleg lässt Beugnot den König auf die Arbeit der Verfassungskommission verweisen. Um sicherzustellen, dass die charte sowohl des Königs als auch des Volkes würdig sei, hätten sich „des hommes sages, pris dans les premiers corps de l’État“ mit „commissaires de notre Conseil“ zusammengetan, um gemeinsam an diesem „important ouvrage“ zu arbeiten (III). Dass der König und seine Beauftragten die Verfassungskommission massiv manipuliert und unter Druck gesetzt hatten, um das gewünschte Ziel zu erreichen, erwähnt Beugnot natürlich nicht. Als nach Abschluss der Beratungen der Verfassungskommission im corps législatif die Forderung nach Ratifizierung der charte durch die Kammern oder das Volk und damit nach einer demokratischen Legitimation des Verfassungswerks erhoben wurde, zweifelte der König für einen Augenblick an der Durchführbarkeit seines strikt dynastischen Kurses. Da stärkte Beugnot ihm mit einem Brief vom 2. Juni 1814 den Rücken und setzte ihm auseinander, worin der wesentliche Unterschied zwischen einer Monarchie nach demokratischem und einer Monarchie nach monarchischem Konstitutionalismus bestehe. Nach den Grundsätzen des monarchischen Konstitutionalismus, auf denen die charte constitutionnelle beruhe, werde die Revolution in der Monarchie, nach den Grundsätzen des demokratischen Konstitutionalismus aber, wie sie der Verfassung des Senats zugrunde gelegen hätten, würde die Monarchie in der Revolution aufgehen.¹³ Da es dazu nicht kommen dürfe, müsse ungeachtet der revolutionären Veränderungen seit 1789 das historische Recht der Monarchie die ausschließliche Quelle aller politischen Legitimität bleiben.

13 Jacques-Claude Beugnot: Rapport au Roi, le 2 juin 1814. Archives nationales Paris 40 AP 7, fol. 114r–v ; vgl. dazu Volker Sellin: Restauration et légitimité en 1814. In: Francia 26 (1999), S. 124 f.

314 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Dieser Legitimitätsanspruch duldete keine Unterbrechung der monarchischen Herrschaft und schloss daher die Anerkennung des Sturzes der Monarchie in der Revolution aus. Wäre die monarchische Herrschaft mit der Absetzung Ludwigs XVI. beseitigt worden, hätte sie nur eine über der Monarchie stehende Instanz wieder ins Leben rufen können. Das aber wäre mit dem monarchischen Legitimitätsanspruch nicht vereinbar gewesen. Aus der Sicht des Königs war seine Rückkehr auf den Thron daher auch keine Restauration: Von Restauration hätte man sprechen können, wenn er die Senatsverfassung beschworen hätte, nur dass diese Form der Wiedereinsetzung nichts Restauratives an sich gehabt hätte. Aus der Sicht des Senats dagegen und des von ihm verkörperten Grundsatzes der Nationalsouveränität waren die Inanspruchnahme der königlichen Gewalt durch Ludwig XVIII. und ihre Ableitung aus dem dynastischen Eigenrecht seines Hauses ein Staatsstreich, eine Usurpation.¹⁴ Beugnots Präambel suchte dem Vorwurf der Usurpation dadurch die Spitze abzubrechen, dass sie bei aller Betonung des Vorrangs der Monarchie auch der Revolution ihr Recht einräumte und sie, weit entfernt, ihre Forderungen pauschal zurückzuweisen, vielmehr, wie Beugnot formulierte, in der Monarchie aufhob. Eben diese Aufhebung aber bildet den Kern des monarchischen Prinzips. Das monarchische Prinzip war der Vorbehalt der Monarchie in der Entwicklung des Konstitutionalismus und eine Formel, die es ermöglichte, die Monarchie durch Anerkennung revolutionärer Grundsätze zu stärken, ohne sie der Revolution auszuliefern. Sowohl die Wahrung des monarchischen Vorbehalts als auch die Stärkung der Monarchie durch den Oktroi einer Verfassung hat Ludwig XVIII. im Jahre 1814 historisch vorgelebt. Das ist der Grund dafür, dass die charte im Laufe des Jahrhunderts zum Muster einer großen Zahl von Verfassungen und das in der Präambel entwickelte monarchische Prinzip zur Grundlage des monarchischen Konstitutionalismus in Europa werden konnte. Wesentlich für die Glaubwürdigkeit des monarchischen Prinzips war die Fiktion der Freiwilligkeit des Oktroi, da nur unter dieser Voraussetzung der Anspruch der vollen und uneingeschränkten Souveränität des Königs aufrechterhalten werden konnte. Nicht zufällig endet Beugnots Präambel mit der Versicherung, dass diese Verfassung „volontairement, et par le libre exercice de notre autorité royale“ gewährt werde (VII). Als Beugnot dem König am Morgen des 4. Juni den Entwurf der Präambel zur Zustimmung vorlegte, befand der sich schon im Aufbruch zur séance royale, auf der die charte verkündet werden sollte, und konnte sie nicht mehr prüfen. „Nous

14 Vgl. Sellin: Die geraubte Revolution (wie Anm. 3), S. 269; ders.: La restauration de Louis XVIII en 1814 et l’Europe. In: Lucien Bély (Hrsg.): La présence des Bourbons en Europe, XVIe –XXIe siècle. Paris 2003, S. 266 f.

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avons confiance en vous“, meinte er zu Beugnot, „et je sais que vous êtes passé maître en ce point“.¹⁵ So hat Ludwig XVIII. den Text vor der öffentlichen Verlesung nicht mehr gesehen. Im Zuge der Revision der charte in der Julirevolution wurde Beugnots Präambel gestrichen. Das entsprach der Umwandlung der charte in eine Verfassung nach demokratischem Prinzip.

15 Beugnot: Mémoires, Bd. 2 (wie Anm. 9), S. 229.

„Heute ist die Revolution monarchisch“. Legitimität und Legitimierungspolitik im Zeitalter des Wiener Kongresses Am* 26. Juni 1813 empfing Kaiser Napoleon den österreichischen Staatskanzler Metternich im Marcolinischen Palais in Dresden zu einer Unterredung. Metternich bemühte sich damals, zwischen der russisch-preußischen Koalition und Napoleon einen Frieden zu vermitteln. Dazu hätte es des freiwilligen Verzichts des französischen Kaisers auf einen erheblichen Teil seiner Eroberungen bedurft.¹ Nach einem Bericht, den Metternich viele Jahre später über dieses Gespräch niedergeschrieben hat, soll Napoleon auf die Vorschläge des Staatskanzlers mit folgenden Worten reagiert haben: Nun gut, was will man denn von mir? [. . . ] daß ich mich entehre? Nimmermehr! Ich werde zu sterben wissen, aber ich trete keine Hand breit Bodens ab. Eure Herrscher, geboren auf dem Throne, können sich zwanzig Mal schlagen lassen, und doch immer wieder in ihre Residenzen zurückkehren; das kann ich nicht, ich, der Sohn des Glückes. Meine Herrschaft überdauert den Tag nicht, an dem ich aufgehört habe, stark und folglich gefürchtet zu sein.²

Wenn Napoleon diese Worte wirklich gesprochen haben sollte, so hat Metternich sie jedenfalls nicht ernst genommen, denn der Staatskanzler hielt auch nach der Begegnung in Dresden und selbst nach der Niederlage Napoleons in der Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober desselben Jahres an der Hoffnung fest, den Kaiser unter dem Zugeständnis der Rheingrenze für einen Verständigungsfrieden gewinnen und seine Herrschaft über Frankreich aufrechterhalten zu können.³ Es gibt allerdings gute Gründe für die Annahme, dass Napoleon die ihm von Metternich zugeschriebene Äußerung niemals getan hat. Zunächst entspricht die Gegenüberstellung des Herrschers, der auf dem Thron geboren wurde, und dem „Sohn des Glückes“ bis in die Wortwahl hin-

* Erweiterter und mit Nachweisen versehener Text eines öffentlichen Vortrags im Deutschen Historischen Institut in Rom am 19. Juni 1995; Erstdruck in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 76 (1996), S. 335–361. 1 Vgl. dazu Enno E. Kraehe: Metternich’s German Policy. Volume 1: The Contest with Napoleon, 1799–1814. Princeton 1963, S. 179 f.; Heinrich Ritter von Srbik: Metternich. Der Staatsmann und der Mensch. Bd. 1, München 1927, S. 159 f. 2 Richard Metternich-Winneburg (Hrsg.): Aus Metternich’s nachgelassenen Papieren. Bd. 1, Wien 1880, S. 151. 3 Vgl. Kraehe: Metternich’s German Policy (wie Anm. 1), S. 223; von Srbik: Metternich (wie Anm. 1), S. 166.

318 | III Monarchie, Nation, Nationalismus ein allzu genau einer altüberlieferten Denkfigur der europäischen politischen Theorie, um als authentisch gelten zu können. Mit dieser Denkfigur wurde der Gegensatz zwischen dem legitimen Herrscher und dem Usurpator zum Ausdruck gebracht. Machiavelli hatte in seiner Fürstenlehre geschrieben, vom angestammten Fürsten (principe naturale) werde nur eine durchschnittliche Geschicklichkeit verlangt, damit er seine Herrschaft bewahre; dagegen müsse ein neuer Fürst (principe nuovo) und Usurpator (innovatore) außergewöhnliche Fähigkeiten entwickeln, um seine Macht zu behaupten, und wenn er nicht schon zugleich geliebt und gefürchtet sein könne, so sei es weit sicherer, Furcht zu erregen.⁴ Der zweite Grund, warum die Äußerung kaum echt sein kann, ist die Tatsache, dass sie genau der Legitimitätsideologie entspricht, mit der verschiedene Gegner Napoleons seit 1813 dem alten Europa seine Selbstsicherheit zurückzugeben suchten. Im Kern besagte diese Ideologie, nur das monarchische Erbrecht vermöge Legitimität zu verleihen und damit Frieden und politische Stabilität zu sichern, während Napoleon sich nur durch fortgesetzte militärische Erfolge an der Macht halten könne. Mit Argumenten dieser Art warb Chateaubriand Anfang 1814 für die Wiedereinsetzung der Bourbonen in Frankreich: „Der Tyrann macht alles, was er will; man gehorcht ihm; er kann ein ganzes Volk in den Krieg hineinziehen, es unterdrücken, alles von ihm fordern, ohne daß es ihm verweigert würde. Mit einem legitimen Fürsten ist das unmöglich [. . . ]“.⁵ Um dieselbe Zeit führte Benjamin Constant den „Esprit de Conquête“ auf die Usurpation zurück: „Ein Monarch braucht seinen Ruf nicht erst zu schaffen [. . . ] Ein Usurpator dagegen ist gezwungen, seine Erhebung zu rechtfertigen [. . . ] Die vernünftigste und bestbegründete Untätigkeit wird für ihn zur Gefahr“.⁶

4 Nicolò Machiavelli: Il Principe. Hrsg. von Luigi Russo, Firenze 1931, Cap. II, 2, S. 26, Z. 15: „el principe naturale“; Cap. II, 1, S. 25, Z. 8 f.: „se tale principe è di ordinaria industria, sempre si manterrà nel suo stato“; Cap. XX, 2, S. 153, Z. 11 und passim: „uno principe nuovo“; Cap. VI, 6, S. 58, Z. 65: „questi innovatori“; Cap. VI, 2, S. 54 f., Z. 16 ff.: „E perchè questo evento, di diventare di privato principe, presuppone o virtù o fortuna, pare che l’una o l’altra di queste dua cose mitighi in parte di molte difficoltà“; Cap. XVII, 2, S. 126, Z. 25 f.: „è molto più sicuro essere temuto che amato, quando si abbia a mancare dell’uno de’ dua“. 5 François René de Chateaubriand: De Buonaparte, des Bourbons, et de la nécessité de se rallier à nos princes légitimes, pour le bonheur de la France et celui de l’Europe. Zuric 1814, S. 53: „le tyran fait tout ce qui lui plaît; il est obéi; il peut traîner tout un peuple à la guerre, l’opprimer, lui demander tout sans être refusé. Avec un prince légitime cela est impossible: tout le monde, sous un sceptre légal, est en jouissance de ses droits naturels et en exercice de ses vertus“. 6 Benjamin Constant: De l’esprit de conquête et de l’usurpation dans leurs rapports avec la civilisation européenne (1814). In: Ders.: Oeuvres. Hrsg. von Alfred Roulin, Paris 1957, S. 1030: „Un monarque [. . . ] n’a point sa réputation à faire [. . . ] Un usurpateur [. . . ] est obligé de justifier son élévation [. . . ] L’inaction la plus raisonnable, la mieux motivée lui devient un danger“.

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Man mag es für Raffinesse oder für Plumpheit halten, wenn Metternich ausgerechnet Napoleon selbst zum Zeugen der Restaurationsideologie macht. Jedenfalls gibt es Belege genug, die zeigen, dass Napoleon seine Legitimation beileibe nicht nur auf das Glück der Waffen zu gründen strebte. Daraus folgt das dritte Argument gegen die Echtheit der ihm von Metternich zugeschriebenen Äußerung. Napoleon hat sich nicht nur als militärischen Eroberer, sondern auch als politischen Reformer, als Boten der bürgerlichen Freiheit und Gleichheit, als Instaurator des Rechtsstaats, als Garanten einer effizienten und unparteiischen öffentlichen Verwaltung und als Vollstrecker der Revolution und Überwinder der von ihr hervorgerufenen Spaltungen gesehen. Die Plebiszite verliehen ihm als Träger dieser Politik eine Art demokratischer Legitimation. Als er seinem Bruder Jérôme im November 1807 die Verfassung für das Königreich Westfalen übermittelte, schärfte er ihm zugleich ein: „Soyez roi constitutionnel!“ Und er fügte hinzu, die napoleonischen Institutionen würden ihm „das Vertrauen und die Liebe der Bevölkerung“, eine „force d’opinion“ und damit eine Machtstellung sichern, die ein stärkeres Bollwerk gegen Preußen zu bilden vermöchten als die Elbe, die Grenzfestungen und der Schutz Frankreichs zusammengenommen.⁷ Ein weiteres Indiz für diese Form der Legitimation bildet der Eid, den Artikel 53 der Verfassung von 1804 dem Kaiser der Franzosen bei seinem Regierungsantritt vorschrieb, nämlich, „die Gesetze des Konkordats und die Freiheit des Gottesdienstes, die Gleichheit der Rechte, die politische und bürgerliche Freiheit und die Unwiderruflichkeit der Verkäufe der Nationalgüter zu respektieren und respektieren zu lassen.“⁸ Mit dem Konkordat von 1801 war es Napoleon gelungen, das Schisma, das die Revolution in der französischen Kirche aufgerissen hatte, zu überwinden, sich bei der Ernennung der Bischöfe dieselben Rechte zu sichern, welche die französischen Könige seit dem Konkordat von 1516 besessen hatten, und die Zusage der Kurie zu erwirken, dass der Papst die Erwerbung von entfremdetem Kirchengut durch Privatpersonen nicht anfechten werde.⁹ Auf diese Weise hatte Napoleon sowohl die romtreuen Katholiken als auch die Nutznießer der Säkularisationen zu Stützen seiner Herrschaft gemacht, und der Eintritt in die Rechte der alten Monarchie mochte ihn gar mit einem Stück traditionaler Legitimität umkleidet haben.

7 A Jérome Napoléon, Roi de Westphalie, 15 novembre 1807. In: Correspondance de Napoléon Ier. Bd. 16, Paris 1864, S. 166. 8 Sénatus-consulte organique vom 18. Mai 1804, Art. 53. In: Wilhelm Altmann (Hrsg.): Ausgewählte Urkunden zur außerdeutschen Verfassungsgeschichte seit 1776. Berlin 1897, S. 146. 9 Concordato fra Pio VII e la Repubblica Francese vom 15. Juli 1801, Art. 4–6, Art. 13. In: Angelo Mercati (Hrsg.): Raccolta di Concordati su materie ecclesiastiche tra la Santa Sede e le autorità civili. Bd. 1: 1098–1914, Roma 1954, S. 562 ff .

320 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Das vierte Argument gegen die Authentizität der Napoleon zugeschriebenen Äußerung gründet sich auf den Zweifel, dass der Kaiser der Franzosen ein Vierteljahrhundert nach Ausbruch der Revolution noch geglaubt haben soll, die Erbmonarchie als solche und für sich allein vermöchte Legitimität zu garantieren. Auch Ludwig XVI. war „auf dem Thron geboren“ worden, und trotzdem wurde er 1792 abgesetzt. Außerdem war es schwierig geworden, angestammte Herrscher und Usurpatoren noch eindeutig voneinander zu unterscheiden, nachdem Napoleon fast alle gekrönten Häupter des Kontinents durch zahlreiche Verträge zu Komplizen und Nutznießern seiner tiefen Eingriffe in das überlieferte Recht gemacht hatte. Eine Herrschaft erweist sich dadurch als legitim, dass sie von den Beherrschten als rechtsgültig anerkannt wird; sie beruht, wie Max Weber sich ausdrückte, auf einem „Legitimitätsglauben“.¹⁰ Es ist schwer vorstellbar, dass der traditionelle Glaube an die Rechtmäßigkeit der überlieferten monarchischen Ordnung die anderthalb Jahrzehnte andauernde, immer wieder neue Verschiebung von Ländern und Landesteilen und die förmliche Versetzung von Herrschern auf Throne, mit denen sie keinerlei dynastische Beziehung oder historische Erinnerung verband, ohne Schaden überstanden haben sollte. Mochten diese Verschiebungen auch durch Verträge und Reichsgesetze sanktioniert worden sein: Legitimität ist eine Geltungsüberzeugung, die über die formale Legalität hinausgreift. Gewiss hatte es auch im Ancien Régime Herrschaftswechsel gegeben, wenn auch niemals in solch erdrutschgleichen Dimensionen. Die typische Veranlassung oder zumindest Rechtfertigung war damals allerdings eine natürliche Konsequenz des erbmonarchischen Prinzips gewesen: dynastische Heirat und Erbfolge. Außerdem hatten neue Herrscher die ihnen zufallenden Länder in der Regel unter Zusicherung der überlieferten Privilegien und Gewohnheiten übernommen, während die Nutznießer der napoleonischen Länderverschiebungen die neuformierten politischen Agglomerationen administrativ und rechtlich zu modernen und effizient arbeitenden Staaten zu integrieren suchten. Ihrer korporativen oder landschaftlichen Eigenständigkeit beraubt, mussten sich die betroffenen Untertanen je länger je mehr als rechtlose Objekte der internationalen Politik empfinden, zumal die einmal verfügte politische Zuordnung häufig nur wenige Jahre in Geltung blieb. So erlebten zum Beispiel die ehemaligen Untertanen des Erzbischofs von Salzburg zwischen 1802 und 1816 nicht weniger als vier Herrschaftswechsel.¹¹

10 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. 5. Aufl., Tübingen 1972, S. 122. 11 Der Reichsdeputationshauptschluss vom 25. Februar 1803, § 1, sprach das Erzbistum Salzburg als Entschädigung dem Großherzog Ferdinand III. von Toskana zu. Der Friede von Pressburg vom 26. Dezember 1805, Art. X, verfügte die Einverleibung in das Kaisertum Österreich. Aufgrund des

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Die Zweifel an der Authentizität der Napoleon zugeschriebenen Äußerung lassen erkennen, dass der von Metternich propagierte Legitimitätsbegriff ideologisch war. Legitimität war zum Parteibegriff geworden, der nicht die tatsächlichen, sondern nur die in einem bestimmten politischen Lager erwünschten Geltungsgründe von Herrschaft bezeichnen sollte. Angesichts dieser Zweideutigkeit des Legitimitätsbegriffs stellt sich die Frage, wie die in den Geschichtsbüchern verbreitete Aussage verstanden werden kann, die Sieger über Napoleon hätten sich bei der Neuordnung Europas das Prinzip der Legitimität zur Richtschnur genommen. Dass dies keine einfache Frage ist, zeigt sich schon an den komplexen Wendungen, mit denen die Rolle der Legitimitätsidee auf dem Wiener Kongress umschrieben zu werden pflegt. Reinhart Koselleck befand den „Begriff der Legitimität“ für „elastisch genug, sowohl revolutionäre Veränderungen wie restaurative Interessen sicherzustellen“; das heißt: „Der Legitimitätsbegriff konnte funktional zu den Machtlagen gedehnt werden.“¹² Ganz ähnlich bezeichnete Dieter Langewiesche den „Legitimitätsbegriff, auf dem das nachrevolutionäre Europa ruhen sollte“, als „formbar“: „Als legitim galt, was sich durchgesetzt hatte und von den Siegern im Vertragswerk von 1815 völkerrechtlich anerkannt wurde.“¹³ Diesen scheinbar paradoxen Formulierungen liegt die Feststellung zugrunde, dass die Sieger auf der einen Seite wesentliche Stücke der von Napoleon geschaffenen politischen Realität anerkannten – zum Beispiel die durch den Frieden von Lunéville von 1801 begründeten und im Reichsdeputationshauptschluss von 1803 beschlossenen Säkularisationen und Mediatisierungen, während sie auf der anderen Seite entthronte Monarchen auf ihre Throne zurückführten: die Könige von Frankreich, Sardinien und Neapel, den Kurfürsten von Hannover, den Großherzog von Toskana, den Beherrscher des Kirchenstaats usw. Fragt man nach dem Stellenwert des Legitimitätsarguments auf dem Wiener Kongress, so stellt man alsbald fest, dass kein anderer als Talleyrand den Gedanken der Wiedereinsetzung entthronter Herrscher in die Verhandlungen eingebracht hatte, und zwar aus rein taktischen Gründen. Talleyrand gab die Wiedereinsetzung der angestammten Dynastien nur deshalb als das eigentliche

Friedens von Schönbrunn vom 14. Oktober 1809, Art. III, trat der Kaiser von Österreich Salzburg an Napoleon ab, der es daraufhin an den König von Bayern weiterreichte. 1816 fiel es aufgrund des bayerisch-österreichischen Vertrags vom 14. April an Österreich zurück. 12 Reinhart Koselleck: Die Restauration und ihre Zusammenhänge 1815–1830. In: Ders./Louis Bergeron/François Furet: Das Zeitalter der europäischen Revolution 1780–1848. Frankfurt 1969, S. 208. 13 Dieter Langewiesche: Europa zwischen Restauration und Revolution 1815–1849. 3. überarb. u. erw. Aufl., München 1993, S. 9.

322 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Prinzip der Neuordnung aus, um auf diese Weise drei politische Ziele Frankreichs zu erreichen. Die Absetzung König Murats und die Rückführung des Bourbonen Ferdinand IV. sollten den französischen Einfluss auf das Königreich Neapel und damit in Italien wiederherstellen. Die Wiedereinsetzung des Königs von Sachsen sollte einen unerwünschten Machtzuwachs Preußens in Deutschland verhindern. Schließlich sollte die Restauration der Bourbonen in Frankreich anzeigen, dass auch dieses Land durch die Alliierten von der „Unterdrückung“ durch den Despoten „befreit“ worden und daher weniger deren „Werkzeug“ als vielmehr selbst ihr „Opfer“ gewesen sei.¹⁴ Aus dieser Deutung sollte gefolgert werden, dass dem restaurierten Ludwig XVIII. die gleichberechtigte Aufnahme in das Europäische Konzert nicht wohl verwehrt werden könne. Selbst wenn die Zukunft Frankreichs, Sachsens und Neapels die einzigen Gegenstände der europäischen Neuordnung gewesen wären, könnte aus den für diese drei Staaten erzielten Ergebnissen kaum auf den Vorrang eines dynastischen Legitimitätsprinzips geschlossen werden. Die Wiedereinsetzung der Bourbonen in Frankreich war nur eine unter mehreren ins Auge gefassten Lösungen gewesen und wurde schließlich in erster Linie aus pragmatischen Gründen und wegen der Uneinigkeit der Verbündeten akzeptiert. Der König von Sachsen wurde zwar restituiert, aber sein Land wurde geteilt. Ferdinand von Neapel schließlich verdankte die Chance zur Rückkehr auf seinen Thron lediglich der Unbesonnenheit des Königs Murat, der sich dem von der Insel Elba zurückkehrenden Napoleon anschloss und dabei scheiterte. Talleyrands Spiel mit dem Legitimitätsbegriff kann daher die Tatsache nicht verdecken, dass die Verbündeten das Werk der Neuordnung nicht auf eine historisch-dynastische Legitimität, sondern zunächst einmal auf das geltende Völkerrecht gründeten. Dem entsprach der Grundsatz, dass die mit Napoleon seit 1796 geschlossenen Verträge in Geltung blieben, solange sie nicht ausdrücklich aufgehoben wurden. Dass der Vertragspartner aus der Revolution hervorgegangen war, beeinträchtigte deren Gültigkeit nicht. Auch dass den im Kampf gegen Napoleon Unterlegenen in der Regel keine andere Wahl geblieben war, als dessen Bedingungen zu akzeptieren, konnte vor dem Völkerrecht nicht als Einrede gelten. Diesen Grundsätzen zufolge besaßen Fürsten, die ihre Staaten oder Teile davon vertraglich an Napoleon abgetreten hatten, keinen Anspruch auf automatische Wiedereinsetzung in ihre früheren Rechte, nachdem diese Gebiete

14 Lettre du prince de Talleyrand au prince de Metternich, 19 décembre 1814. In: Comte d’Angeberg (Hrsg.): Le Congrès de Vienne et les traités de 1815. Teil 1, Paris 1863, S. 540: „Délivrée de cette oppression, dont elle avait été moins l’instrument que la victime, heureuse d’avoir recouvré ses princes légitimes [. . . ]“

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kraft Eroberungsrechts im Befreiungskrieg oder infolge erneuter Abtretung durch das besiegte Frankreich den Verbündeten in die Hände gefallen waren.¹⁵ Dem geltenden Völkerrecht folgten die Verbündeten andererseits auch darin, dass sie Annexionen oder Herrschaftswechsel von der Anerkennung ausschlossen, die ohne förmliche Abtretung durch den vorherigen Inhaber der Herrschaft durchgeführt worden waren, so die Inbesitznahme Hannovers 1803 und die Annexion der verbliebenen Teile des Kirchenstaats 1809. In diesen Fällen anerkannten die Alliierten einen unmittelbaren Anspruch auf Restitution.¹⁶ Die von Napoleon aufgrund vertraglicher Abtretung einst rechtsgültig erworbenen und nunmehr nicht den ehemaligen Eigentümern, sondern den Verbündeten zu gesamter Hand zufallenden Gebiete bildeten die Verfügungsmasse, mit der das europäische Gleichgewicht neu austariert wurde. Zu dieser Verfügungsmasse zählten zum Beispiel das Großherzogtum Warschau, das Königreich Sachsen, das linke Rheinufer, die ehemaligen österreichischen Niederlande, die ehemalige Republik Genua und das Herzogtum Mailand. Dass die süddeutschen Rheinbundstaaten nicht besetzt und aufgelöst wurden, verdankten sie dem rechtzeitigen Koalitionswechsel, durch den sie ihren Bestand sicherten – allen voran Bayern durch den mit Österreich am 8. Oktober 1813 geschlossenen Vertrag von Ried.¹⁷ Wenn die Verbündeten überhaupt ein überliefertes Legitimitätsprinzip achteten, so war es also die Legitimität des geltenden Völkerrechts. Von der Konsequenz in der Anwendung dieses Prinzips waren selbst Staatsmänner überrascht, die an den Verhandlungen des Wiener Kongresses persönlich teilnahmen. Das gilt zum Beispiel für den päpstlichen Kardinalstaatssekretär Ercole Consalvi, der in Wien um die Rückgabe der Legationen – also Bologna, Ferrara und die Romagna – an den Kirchenstaat kämpfte. Pius VI. hatte dieses Gebiet im Frieden von Tolentino 1797 an Napoleon abgetreten. Napoleon hatte es der Cisalpinischen Republik

15 Vgl. Koselleck: Die Restauration (wie Anm. 12); vgl. im übrigen den Bericht des päpstlichen Kardinalstaatssekretärs Ercole Consalvi über ein Gespräch mit Metternich: Consalvi an Pacca, Wien, 18.–20. November 1814. In: Alessandro Roveri (Hrsg.): La missione Consalvi e il Congresso di Vienna. Bd. 2, Roma 1971, Nr. 152, S. 236: Metternich habe gesagt, „che il trattato di Tolentino, e gli altri trattati di cessioni tutti sussistevano, ed i paesi ceduti alla Francia entravano nella massa delle conquiste fatte dalli Alleati sopra di essa; che appunto da questo dritto di conquista proveniva in loro la necessità di non ammettere il principio della nullità dei trattati fatti coi francesi“. 16 Vgl. ebd.: Metternich habe erklärt, „che i principi proclamati, di rendere a ciascuno il suo, si intendono del non ceduto, giacchè il ceduto non è più suo; che così si era fatto col papa, rendendogli subito il non ceduto [. . . ]: ma il ceduto, cioè le Legazioni, non è più del papa“. 17 Traité préliminaire d’alliance entre l’Autriche e la Bavière, signé à Ried, le 8 Octobre 1813. In: F. W. Ghillany (Hrsg.): Diplomatisches Handbuch. Sammlung der wichtigsten europäischen Friedensschlüsse, Congressacten und sonstigen Staatsurkunden. Teil 2, Nördlingen 1855, Art. IV, Separat- und Geheimartikel I–IV, S. 27 f.

324 | III Monarchie, Nation, Nationalismus eingefügt; seit 1805 gehörte es zum Regno Italico. Im Befreiungskrieg war dieses Königreich von österreichischen Truppen eingenommen worden. In Übereinstimmung mit Talleyrand und Castlereagh erklärte Metternich nunmehr Consalvi zu dessen Bestürzung, es könne sich für die Verbündeten allenfalls darum handeln, dem Papst die Legationen ohne Anerkennung einer Rechtspflicht „zu übertragen“ (donner), nicht aber darum, sie ihm im Interesse der Wiederherstellung verletzten Rechts „zurückzugeben“ (rendre).¹⁸ Pius VI. habe sie im Vertrag von Tolentino ebenso rechtsgültig abgetreten, wie Österreich das Herzogtum Mailand im Vertrag von Campo Formio 1797 und der König von Sardinien Savoyen im Vertrag von Cherasco bzw. Paris 1796. Die Legationen seien kraft Eroberungsrechts in die Hände der Alliierten gefallen, und es sei deren Absicht, nach Gesichtspunkten politischer Zweckmäßigkeit gemeinsam darüber zu verfügen.¹⁹ Wenn Österreich im Rahmen der Neuordnung Italiens das Herzogtum Mailand erneut in Besitz nehme, so geschehe dies auch nicht aufgrund des alten Besitzrechts, sondern auf der Basis des neuen Rechts der Eroberung. Für die tatsächliche Übertragung der Legationen an den Papst könnten indes politische Gründe sprechen, genauso wie Österreich Mailand entgegen seiner ursprünglichen Absicht gezwungenermaßen in Besitz nehmen werde, „aus dem einzigen Grund, um ,in Mailand den italienischen Jakobinismus und den Gedanken eines einzigen Königreichs Italien abzutöten‘, nachdem diese Stadt den Mittelpunkt der beiden Bestrebungen bilde, die darauf abzielten, aus Italien einen einzigen Staat und eine Nation zu machen.“²⁰ Unter den Argumenten, die in Wien gegen eine Wiederherstellung des Kirchenstaats im alten Umfang vorgebracht wurden, findet sich auch der Hinweis auf das Bekenntnis des Papstes zu strikter politischer Neutralität. Sofern der Kirchenstaat an dieser Zielsetzung festhalte, sei er als eine „potenza di niuna utilità nella bilancia“ zu betrachten. Einer solchen Macht dürfe man im Interesse des Gleich-

18 Consalvi an Pacca, Wien, 18.–20. November 1814 (wie Anm. 15), S. 235: „che le Legazioni erano à donner au pape, et non pas à rendre“; vgl. ebd., S. 227, die Aussage Talleyrands; bezüglich der Auffassung Castlereaghs vgl. Consalvi an Pacca, Wien, 3. Dezember 1814, ebd., Nr. 168, S. 318. Vgl. auch Consalvi an Pacca, Wien, 15. Mai 1815. In: Alessandro Roveri et al. (Hrsg.): La missione Consalvi e il Congresso di Vienna. Bd. 3, Roma 1973, Nr. 332, S. 562: „Si parte decisamente dal principio che tutto quello ch’è conquistato sopra i Francesi appartiene agli Alleati, i quali donano e non rendono tutto quello che dànno“. 19 Consalvi an Pacca, Wien, 18.–20. November 1814 (wie Anm. 15), S. 236. 20 Consalvi an Pacca, Wien, 8. September 1814. In: Roveri: La missione Consalvi (wie Anm. 15), Bd. 1, Roma 1970, Nr. 80, S. 422: „per la sola ragione [. . . ] di ,tuer à Milan le jacobinisme italien et le royaume unique d’Italie‘, essendo quella città il centro di questi due grandi piani, tendenti a fare della Italia uno solo Stato, e richiamarla alla qualità di nazione“.

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gewichts jedoch nicht mehr Gebietsmasse zugestehen, als worauf sie unstreitigen Anspruch habe.²¹ Eine Bestätigung für die allgemeine Geltung der am Beispiel des Kirchenstaats ermittelten Rechtsgrundsätze findet sich im russisch-preußischen Friedens- und Allianzvertrag von Kalisch und Breslau vom 16. bzw. 27. Februar 1813. Der König von Preußen schloss diesen Vertrag auf der Grundlage des Territorialbestands, der im Frieden von Tilsit am 9. Juli 1807 mit Napoleon festgelegt worden war. Damals hatte Preußen sämtliche westlich der Elbe gelegenen Gebiete sowie den größten Teil der Erwerbungen aus den drei Teilungen Polens, einschließlich Danzigs, abgetreten.²² In Übereinstimmung mit dieser Rechtslage wird im Vertrag von Kalisch und Breslau an keiner Stelle ein Anspruch des Königs von Preußen auf Rückübertragung der 1807 abgetretenen Gebiete festgestellt. Wenn als unmittelbares Ziel der „Offensiv- und Defensivallianz“ zwischen Russland und Preußen die Wiederherstellung Preußens – „dans les proportions qui doivent assurer la tranquillité des deux états et en établir la garantie“²³ – bezeichnet wird, so lässt gerade das zitierte Kriterium für den Umfang der angestrebten Vergrößerung erkennen, dass diese nicht mit rechtlichen, sondern mit politischen Gesichtspunkten begründet werden sollte. Dementsprechend wurde das gemeinsame Kriegsziel im ersten Geheim- und Separatartikel des Vertrags dahingehend präzisiert, dass Preußen „la force réelle“ zurückgegeben werden solle, die es vor dem Krieg von 1806 besessen habe, weil nur auf diese Weise seine Sicherheit und Unabhängigkeit auf eine tragfähige Grundlage gestellt werden könnten.²⁴ Nun hatten russische Truppen auf dem Weg nach Westen das Großherzogtum Warschau und damit den größten Teil der preußischen Erwerbungen ehemals polnischen Gebiets besetzt. Bekanntlich wollte Zar Alexander I. das Großherzogtum Warschau behalten. Wenn Friedrich Wilhelm III. auf dieses Gebiet, dessen Hauptteil er 1807 an Napoleon abgetreten hatte, mit der geringsten Aussicht auf Erfolg noch einen Rechtsanspruch hätte erheben können, hätte Zar Alexander ihn im Vertrag von

21 Consalvi an Pacca, Wien, 15. Mai 1815 (wie Anm. 18), S. 562; vgl. ebd.: „Si parte ancora da un altro principio, ed è che il Papa, volendo conservare il suo stato di neutralità, [. . . ] è il principe il più inutile al sistema di difesa dell’Italia, e che perciò non sarebbe dell’interesse né dell’Austria, né delle altre potenze interessate anche esse ad escludere dall’Italia i Francesi, d’ingrandirlo“. 22 Traité de paix entre la France et la Prusse, conclu à Tilsit le 9 juillet 1807, Art. VII, X, XIII, XIV. In: Heinrich Wolfensberger (Bearb.): Napoleonische Friedensverträge. Bern 1946, S. 53 f. 23 Traité de paix, d’amitié et d’alliance conclu entre la Russie et la Prusse, à Kalisch, le 16/28 Février et à Breslau le 27 Février 1813, Art. II. In: Georg Friedrich von Martens: Nouveau recueil de traités d’alliance, de paix, de trêve, de neutralité, de commerce, de limites, d’échange . . . . Bd. 3 (1808–1818), Göttingen 1818, S. 235. 24 Ebd., S. 237 f.: Art. I et secret.

326 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Kalisch zum ausdrücklichen Verzicht darauf bewegen müssen. In Wirklichkeit wird das Großherzogtum Warschau in dem Vertrag noch nicht einmal erwähnt. Da es 1806 jedoch zum größten Teil zu Preußen gehört hatte, und da nunmehr aus rein politischen Gründen vereinbart wurde, dass Preußens „force réelle“ von 1806 wiederhergestellt werden solle, wurden Preußen in Norddeutschland Gebiete zugesichert, die notwendig über das hinausgehen mussten, was es früher dort besessen hatte. Die einzigen näheren Bestimmungen, die sich dazu in dem Vertrag finden, besagen, dass Preußen „in seinen statistischen, geographischen und finanziellen Proportionen“ wiederhergestellt werden solle, dass der Zugriff auf die ehemaligen Besitzungen des Hauses Hannover ausgeschlossen bleibe und dass der Zar einen Gebietsstreifen abtreten werde, der das alte Preußen und Schlesien miteinander verbinde.²⁵ Schließlich wurde vereinbart, dass die preußischen Erwerbungen nach Möglichkeit einen zusammenhängenden Territorialkomplex bilden sollten.²⁶ Für die Ausnahmestellung des Kurfürstentums Hannover sprachen sowohl rechtliche als auch politische Gründe: Der Kurfürst von Hannover und König von England hatte das Gebiet niemals abgetreten; zum andern hätte eine Verfügung Russlands und Preußens über Hannover England zu ihrem Gegner gemacht, während sie doch danach streben mussten, die Briten als Bündnispartner zu gewinnen. Der Vertrag von Kalisch und Breslau bildet also einen weiteren Beleg dafür, dass die Sieger über Napoleon von der Rechtsgültigkeit der mit dem Kaiser der Franzosen geschlossenen Verträge ausgingen. Dementsprechend wurde die geplante Vergrößerung Preußens politisch und nicht staats- oder völkerrechtlich begründet. Der Zar betrachtete das Großherzogtum Warschau als ein Gebiet, das ihm kraft Eroberungsrechts zugefallen war. Da Preußen bereits 1807 darauf verzichtet hatte, brauchte es im Vertrag von Kalisch und Breslau noch nicht einmal erwähnt zu werden. Umgekehrt erzwang die politische Absicht, Preußens Machtpotential im alten Umfang wiederherzustellen, angesichts des Zugriffs Russlands auf das Großherzogtum Warschau notwendig die Erwerbung ehemals nichtpreußischer Gebiete in Norddeutschland und schloss damit auch hier die Wiederherstellung der alten Herrschaftsverhältnisse aus. So bestätigt der Vertrag zwischen Russland und Preußen gleich mehrfach, dass die Verbündeten sich für berechtigt hielten, die ihnen kraft Eroberung zugefallenen Gebiete nach freiem Ermessen zu verteilen. Mochten sie sich damit auch auf dem sicheren Boden des geltenden Völkerrechts bewegen, so stellte

25 Ebd., Separatartikel I, II. 26 Ebd., Separatartikel II.

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sich gleichwohl die Frage, ob die am Verhandlungstisch gefundenen Lösungen auch bei den Betroffenen, den Untertanen der alten und der neuen Herren, Anerkennung finden würden. Nach den zum Teil mehrfachen territorialen Umgruppierungen der napoleonischen Epoche verfügten die Sieger nunmehr noch einmal eine umfangreiche territoriale Neuordnung.²⁷ Die Zusammenlegung, Zerteilung oder Verschiebung von Staaten warf ein neues Problem der Legitimität auf: nicht in erster Linie, ob diese Veränderungen durch eine historische Legitimität zu begründen seien, sondern vielmehr, wie für die beschlossene Neuordnung Legitimität gefunden werden könne. Friedrich Christoph Dahlmann stellte im Hinblick auf den Streit um Sachsen später die Frage, ob es „nicht überhaupt gedeihlicher“ gewesen wäre, „wenn damals der Legitimität des sächsischen Volks gedacht“ worden wäre, „das doch auch von Gott eingesetzt ist, was aus der denn würde?“²⁸ Welchen Grad an Legitimitätsverlust allein die Unsicherheit über die künftige politische Zuordnung hervorrufen konnte, lässt ein Brief des ehemaligen Jakobiners und späteren Richters im französischen Justizdienst auf dem linken Rheinufer Johann Andreas Georg Friedrich Rebmann vom 4. September 1815 erahnen, als die Zukunft des nachmaligen bayerischen Rheinkreises noch offen war: „Übrigens wissen die Götter, wenn und wann unsre Seelen hier zu Lande gebadet, gedarmt, gepreußt oder geösterreichert werden. Wenn wir nur beisammen bleiben und keinem Oktav- oder Duodezherrscher zufallen, so mag es noch gehen, aber leider scheint es nur zu wahrscheinlich, daß auf dem Donnersberge nicht Adler, sondern Krähen und Elstern nisten und unsre Seelen als Jetons zum Ausgleichen und Ausfüllen verwandt werden möchten.“²⁹ Aus den Worten Dahlmanns wie Rebmanns spricht ein Verlangen nach Legitimation von Herrschaft: von Herrschaft überhaupt wie auch im besonderen von der jeweiligen neuen oder neu-alten Herrschaft. Selbst Staaten, die kaum von der Revolution berührt worden waren wie Russland, konnten sich der Unerschütterlichkeit ihrer Herrschaftsverhältnisse nicht mehr sicher sein. Besonders akut

27 Vgl. hierzu Heiner Haan: Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Hauptstaat – Nebenstaat. Briefe und Akten zum Anschluß der Pfalz an Bayern 1815/17. Koblenz 1977, S. 14 f.; sowie Willy Andreas: Geschichte der badischen Verwaltungsorganisation und Verfassung in den Jahren 1802–1818. Bd. 1, Leipzig 1913, S. 359, wo es heißt, der Wiener Kongress sei „durch seine Länderteilungspolitik nur der Nachfolger der vorausgegangenen Epoche“ gewesen. 28 Friedrich Christoph Dahlmann: Von politischen Drangsalen (1820). In: Ders.: Kleine Schriften und Reden. Stuttgart 1886, S. 150. 29 Rebmann an Hermes, Kaiserslautern, 4. September 1815. In: Günther Volz: Briefe Andreas Georg Friedrich Rebmanns an Johann Peter Job Hermes aus den Jahren 1815 und 1816. In: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 57 (1959), S. 178.

328 | III Monarchie, Nation, Nationalismus war das Problem freilich 1814 in Frankreich. Als Ludwig XVIII. in Paris einzog, lag die Absetzung Ludwigs XVI. fast 22 Jahre zurück. Das Land war in der Zwischenzeit tiefgreifend umgestaltet worden. An das Ancien Régime und das Haus Bourbon bestanden nur noch schwache Erinnerungen. Ludwig XVIII. konnte daher nicht hoffen, sein Name allein werde ihm die erforderliche Legitimität verbürgen. Vielmehr musste er durch institutionelle Garantien versuchen, die Zustimmung der Nation zur Restauration der Monarchie zu erlangen. Diese Garantien bot die Charte constitutionnelle mit ihren Grundrechten und ihren politischen Mitwirkungsmöglichkeiten, ganz wesentlich aber auch mit ihrem Artikel 68, der die gesamte durch Napoleon geschaffene Rechts- und Sozialordnung übernahm und dadurch die Ergebnisse der Revolution förmlich legalisierte.³⁰Im Hinblick auf diesen Vorgang konnte der Gesandte Sardiniens Joseph de Maistre im Juli 1814 aus St. Petersburg schreiben: „Man würde sich unendlich täuschen, wenn man glaubte, Ludwig XVIII. sei auf den Thron seiner Vorfahren zurückgekehrt. Er hat sich nur auf den Thron Bonapartes gesetzt, und das ist schon ein großes Glück für die Menschheit: Aber wir sind noch sehr weit von der Ruhe entfernt. Die Revolution war zuerst demokratisch, dann oligarchisch, dann tyrannisch: Heute ist die Revolution monarchisch, aber noch immer geht sie ihren Gang. Die Kunst des Fürsten besteht darin, auf ihrem Boden zu herrschen und sie durch Umarmung vorsichtig zu ersticken“.³¹ Die Geschichte sollte zeigen, dass die Revolution sich nicht ersticken ließ, und doch bleibt bemerkenswert, dass de Maistre dem Restaurationsregime empfahl, seine Legitimität auf die Anerkennung der Revolution zu gründen. Er hätte sich insoweit auf Hardenberg berufen können, der schon 1807 über die Revolution geschrieben hatte: „Die Gewalt dieser Grundsätze ist so groß, sie sind so allgemein anerkannt und verbreitet, daß der Staat, der sie nicht annimmt, entweder seinem Untergange oder der erzwungenen Annahme derselben entgegensehen muß.“³² So kann es kaum verwundern, dass die Sieger über Napoleon Wert

30 Charte constitutionnelle française vom 14. Juni 1814. In: Altmann: Ausgewählte Urkunden (wie Anm. 8). Art. 68 lautet: „Le code civil et les lois actuellement existantes, qui ne sont pas contraires à la présente charte, restent en vigueur jusqu’à ce, qu’il y soit légalement dérogé“. 31 Joseph de Maistre, Saint-Pétersbourg, 6/18 juillet 1814. In: Ders.: Correspondance diplomatique 1811–1817. Hrsg. von Albert Blanc, Bd. 1, Paris 1860, S. 378: „La révolution fut d’abord démocratique, puis oligarchique, puis tyrannique: aujourd’hui, elle est royale, mais toujours elle va son train. L’art du prince est de régner sur elle et de l’étouffer doucement en l’embrassant; la contredire de front ou l’insulter serait s’exposer à la ranimer et à se perdre du même coup“. 32 Des Ministers Freiherr von Hardenberg Denkschrift „Über die Reorganisation des Preußischen Staats, verfaßt auf höchsten Befehl Sr. Majestät des Königs“, Riga, 12. September 1807. In: Georg Winter (Hrsg.): Die Reorganisation des Preußischen Staates unter Stein und Hardenberg.

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darauf legten, dass die restaurierte Bourbonenmonarchie in Frankreich ein Verfassungsstaat bleibe. Sie hielten dieses Ziel für ein so wichtiges Anliegen der Staatengemeinschaft, dass sie es sogar in völkerrechtlichen Verträgen verankerten. Nach der Präambel zum Zweiten Pariser Frieden vom 20. November 1815 teilten sie mit dem französischen König den Wunsch, „mittels der Unverletzlichkeit der Autorität des Königs und der Wiederinkraftsetzung der Charte constitutionnelle die glücklich wiederhergestellte Ordnung der Dinge in Frankreich zu befestigen“, und im Protokoll über den Beitritt zum Viererbund im Jahre 1818 wird Frankreich den anderen Mächten ausdrücklich aufgrund der „restauration du pouvoir monarchique, légitime et constitutionnel“ assoziiert.³³ Gerade die Formulierung von 1818 verrät, dass auch nach Auffassung der Alliierten die historische Legitimität der Dynastie allein eine wirkliche, lebendige Legitimität, die zu tatsächlicher und stabiler Herrschaft befähigte, nicht zu begründen vermochte. Die monarchische Gewalt musste vielmehr zugleich „verfassungsmäßig“ sein. Legitimierungspolitik durch Verfassungsschöpfung wurde auch außerhalb Frankreichs verfolgt. Die Rheinbundstaaten hatten durch die Reformen der napoleonischen Epoche wesentliche Errungenschaften der Revolution übernommen. Diese Reformen hatten die Rheinbundfürsten wegen der Abschaffung der Zwischengewalten in den Augen des alten Europa jedoch zugleich zu Despoten gemacht. So waren sie beides – Vertreter angestammter Dynastien und Nutznießer der Usurpation, mithin Bourbon und Bonaparte in einem. Um die halben „Bonapartes“ in ganze „Bourbonen“ zurückzuverwandeln, bedurfte es einmal der Aufrichtung von Rechtsgarantien gegen die unumschränkte Gewalt der Fürsten: Aus dieser Zielsetzung erklärt sich die Einfügung des Artikels 13 in die Deutsche Bundesakte, wonach in allen Bundesstaaten „landständische Verfassungen“ „stattfinden“ sollten.³⁴ Zum anderen strebten die ehemaligen Rheinbundfürsten danach, über die administrative Integration ihrer bunt zusammengewürfelten

Erster Teil. Bd. 1, Leipzig 1931, S. 305. Vgl. auch Consalvi an Pacca, Wien, 18. Februar 1815. In: Roveri: La missione Consalvi (wie Anm. 18), Nr. 260, S. 135: „i tempi sono difficilissimi, e la Rivoluzione è tutta in piedi, né si è fatto un solo passo indietro; anzi la cessazione del dispotismo che comprimeva le idee di libertà, le ha risvegliate con pericolo forse eguale al precedente“. 33 Zweiter Pariser Friede vom 20. November 1815. In: Karl Strupp (Hrsg.): Urkunden zur Geschichte des Völkerrechts. Bd. 1, Gotha 1911, S. 167; Aachener Protokoll vom 15. November 1818, Art. 3, ebd., S. 165. 34 Vgl. Bernd Wunder: Landstände und Rechtsstaat. Zur Entstehung und Verwirklichung des Art. 13 DBA. In: Zeitschrift für Historische Forschung 5 (1978) S. 141, 144 ff., 150, 161. Wunders Interpretation wurde vor allem in Auseinandersetzung mit der abweichenden Deutung von Wolfgang Mager entwickelt; vgl. ebd., S. 139 ff., und Wolfgang Mager: Das Problem der landständischen Verfassungen auf dem Wiener Kongreß 1814/15. In: HZ 217 (1974) S. 296–346.

330 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Territorien hinaus ein partikulares Staats- oder Nationalbewusstsein in der Bevölkerung zu entwickeln, um auf diese Weise die neuen politischen Schöpfungen auf einen breiten Konsensus zu gründen und damit zu legitimieren. Hierzu erschien ebenfalls die Gewährung einer Verfassung als das sicherste Mittel.³⁵ Welche Integrationskraft von den frühkonstitutionellen Verfassungen in Deutschland ausging, bezeugte der Kriminalist Anselm von Feuerbach im März 1819, zehn Monate nach der Proklamation der bayerischen Verfassung, in einem Brief aus dem ehemals preußischen Ansbach, wo er die Stelle des Ersten Präsidenten des Appellationsgerichts innehatte: „Es ist in sehr vieler Beziehung jetzt eine große Freude Bayern anzugehören; [.]. Kein Land ist wohl jetzt in Europa (England allein ausgenommen), wo freier gesprochen, freier geschrieben, offener gehandelt würde, als hier in Bayern. Man sollte nicht glauben, was Ein großes Königswort, wie unsere Verfassung, in kurzer Zeit für Dinge tun kann. Erst mit dieser Verfassung hat sich unser König Ansbach und Bayreuth, Würzburg, Bamberg und so weiter erobert. Jetzt sollte man einmal kommen und uns zumuten, eine andere Farbe als blau und weiß zu tragen! Die Freiheit macht groß und stark!“³⁶ Kardinal Consalvi schrieb am 18. Februar 1815 aus Wien, die allgemeine Tendenz aller Nationen ziele jetzt auf eine Verfassung, und man sehe voraus, dass eine solche früher oder später von der „forza della opinione“ überall gefordert würde.³⁷ Sechs Wochen später berichtete er darüber hinaus, dass auch die auf dem Kongress versammelten Mächte auf Konstitutionalisierung drängten. Inzwischen wolle man dem Papst die Legationen unter Bedingungen übertragen – „dare (non rendere)“ –, die „in der Substanz, wenn auch nicht nach den Worten“, auf eine „verfassungsmäßige Regierung“ hinausliefen.³⁸ So wolle man nicht nur sämtliche Erwerbungen von säkularisiertem Kirchengut sanktionieren – „cosa inevitabile in qualunque ipotesi“ –, sondern auch die

35 Vgl. Volker Sellin: Nationalbewußtsein und Partikularismus in Deutschland im 19. Jahrhundert. In: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt 1988, S. 241–256, in diesem Band S. 287–304. Dort auch Näheres zur legitimitätsstiftenden Funktion der bayerischen Verfassung von 1818. 36 Anselm Ritter von Feuerbach an Tiedge und Elise von der Recke, Ansbach, 27. März 1819. In: Ludwig Feuerbach (Hrsg.): Anselm Ritter von Feuerbach’s Leben und Wirken aus seinen ungedruckten Briefen und Tagebüchern, Vorträgen und Denkschriften. Bd. 2, Leipzig 1852, S. 112 f. 37 Consalvi an Pacca, Wien, 18. Februar 1815. In: Roveri: La missione Consalvi (wie Anm. 18), Nr. 260, S. 135. 38 Consalvi an Pacca, Wien, 1. April 1815, ebd., Nr. 304, S. 360 f.: Consalvi schreibt von „il pendìo purtroppo generale dello spirito del tempo“, woraus folge, dass die Legationen dem Papst zurückgegeben würden „sotto delle condizioni che, nella sostanza se non nelle parole, importano un governo costituzionale“.

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persönliche Freiheit sichern und das Recht zur Steuerbewilligung verleihen. Consalvi erkannte sofort, dass es schwierig sein würde, dergleichen in den Legationen zuzugestehen, in den übrigen Teilen des Kirchenstaats jedoch zu verweigern.³⁹ Auch diese von Consalvi berichteten Überlegungen auf dem Kongress zeigen, dass die Verbündeten die Legitimität der Herrschaftsordnungen in den einzelnen Staaten als ein gemeineuropäisches Interesse betrachteten. Dabei scheuten sie sich nicht, nach Bedarf auch bis in Einzelheiten hinein eine bestimmte Legitimierungspolitik vorzuschreiben. Neben Artikel 13 der Deutschen Bundesakte ist ein bezeichnendes Beispiel für diese Politik der Vertrag zwischen dem Kaiser von Österreich und Ferdinand IV. von Neapel vom 29. April 1815, mit dem die Bevölkerung des Landes vor einer politischen Reaktion nach der geplanten Restauration Ferdinands geschützt werden sollte. Metternich machte die Wiedereinsetzung Ferdinands von sechs Bedingungen abhängig: Niemand durfte wegen seiner Meinungen oder wegen seines Verhaltens während des Franzosenjahrzehnts zur Rechenschaft gezogen werden, das heißt, eine politische Säuberung wurde ausgeschlossen; der Verkauf der Nationalgüter sollte unwiderruflich anerkannt werden; die Staatsschuld musste garantiert werden; jedem Bürger stand der Zugang zu allen zivilen und militärischen Ämtern offen; der alte wie der neue Adel wurden aufrechterhalten; jeder Soldat, der Ferdinand den Treueid leistete, behielt seinen Rang und seine Rechte.⁴⁰ Da Österreich mit dem Blick auf seine eigenen Interessen andererseits die Einführung einer Verfassung in irgendeinem italienischen Staat fürchtete, verpflichtete Metternich König Ferdinand in einem weiteren Vertrag vom 12. Juni 1815 allerdings auch dazu, keine politischen Reformen im Königreich beider Sizilien einzuführen, die über die Grundsätze hinausgingen, nach denen Österreich seine eigenen Provinzen in Italien regiere.⁴¹ Dieser Vertrag sollte wenige Jahre später die Handhabe für die österreichische Intervention gegen die Revolution in Neapel bieten. Das neapolitanische Beispiel zeigt, dass es verschiedene Grade der Konzessionsbereitschaft gegenüber den Grundsätzen der Revolution gab. Zugleich verweist es auf ein konkurrierendes Legitimationsprinzip, das bereits in Metternichs Bericht über seine Begegnung mit Napoleon in Dresden impliziert gewesen war.

39 Ebd., S. 361. 40 Alliance entre l’empereur d’Autriche et Ferdinand IV roi des Deux-Siciles, 29. April 1815, Art. II. In: Recueil des traités, conventions et actes diplomatiques concernant l’Autriche et l’Italie. Paris 1859, S. 173. Vgl. dazu Rosario Romeo: Momenti e problemi della Restaurazione nel Regno delle Due Sicilie (1815–1820). In: Riv. Storica Italiana 67 (1955) S. 367 f. 41 Traité d’Autriche et le roi des Deux-Siciles, 12. Juni 1815, Articles séparés et secrets II, ebd., S. 203.

332 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Gemäß alteuropäischer Tradition konnte ein Tyrann von zweierlei Art sein: ex parte exercitii und ex defectu tituli.⁴² Vom rechtmäßigen Herrscher, der gegen das Gesetz regierte, wurde also der Usurpator unterschieden, der die Herrschaft unrechtmäßig erworben hatte. Im Sinne dieser Unterscheidung lief die Napoleon von Metternich in den Mund gelegte Erklärung auf das Bekenntnis hinaus, da er Usurpator sei und keine Legitimation zur Herrschaft besitze, könne er auch nicht zum Wohle seiner Untertanen – und das hieß im gegebenen Zusammenhang vor allen Dingen: im Dienste des Friedens – regieren. Durch seine Konzessionsbereitschaft gegenüber Napoleon auch nach dem Zusammentreffen in Dresden bewies Metternich, dass er in Wirklichkeit auch den Usurpator für fähig hielt, sich in eine europäische Friedensordnung einbinden zu lassen. Wenn aber die Unrechtmäßigkeit des Erwerbs der Herrschaft die Erlangung von Legitimität aufgrund guter Regierung nicht ausschloss, dann genügte auch umgekehrt die zweifelsfreie Herrschaftsberechtigung allein noch nicht zur Legitimierung eines Herrschers, wenn es an der Ausübung mangelte. Aufgrund der Bewusstseinsveränderungen, welche die Revolution in Europa hervorgerufen hatte, war im Grunde jede Herrschaftsberechtigung fragwürdig geworden, die sich nicht durch Leistungen immer wieder neu zu begründen vermochte, ganz gleich, ob es sich um Herrschaft über seit alters innegehabte oder um Herrschaft über neuerdings erworbene Gebiete handelte. Eine der wichtigsten Leistungen, die nach dem Zusammenbruch des napoleonischen Reiches von den Regierungen erwartet wurde, war die Herstellung einer dauerhaften Friedensordnung. Dafür sprechen nicht nur die zitierten Schriften von Chateaubriand und Constant, sondern auch der Bericht von Metternich selbst über seine Gespräche mit Napoleon.⁴³ Dieser Bericht ist als eine Rechtfertigung der Rückkehr zum dynastischen Prinzip zu lesen, wobei jedoch deutlich wird, dass die dynastische Legitimität nicht schon durch sich selbst legitimiert ist, sondern dass sie sich durch eine Politik der Friedenserhaltung, die angeblich nur ihr möglich war, ständig neu legitimieren musste. Die Staatsmänner des Wiener Kongresses, allen voran Metternich und Castlereagh, haben als Hauptinstrumente der Friedenssicherung die Herstellung eines europäischen Gleichgewichts und die Formierung eines Konzerts der vier Siegermächte angesehen, in das im Jahre 1818 auch Frankreich aufgenommen wurde. Wesentliche Elemente des Gleichgewichtskonzepts waren der Deutsche Bund als mitteleuropäischer Sicherheitsverein und die österreichische Vormachtstellung

42 Hella Mandt: Tyrannis, Despotie. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 663. 43 Vgl. oben.

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in Italien. Diese Vormachtstellung wäre nach der Überzeugung Metternichs in Gefahr geraten, wenn die Reformen Murats in Neapel nach 1815 in derselben Weise durch eine Verfassung gekrönt worden wären wie die rheinbündischen Reformen in Bayern, Baden und Württemberg in den Jahren 1818 und 1819. Die erwähnten Verträge zwischen Österreich und Neapel vom 29. April und vom 12. Juni 1815 sind insofern Ausdruck eines Konflikts zwischen zwei unterschiedlichen Legitimierungskonzepten: dem rechtsstaatlich-konstitutionellen und dem friedenspolitischen. Eine ganze Reihe der durch den April-Vertrag erzwungenen Zugeständnisse an den Muratismus bildeten in Frankreich Verfassungsartikel der Charte constitutionnelle. Dagegen sollte der Juni-Vertrag einen Beitrag zur Stabilisierung des Mächtegleichgewichts leisten.⁴⁴ Wenn aber die Gleichgewichtspolitik eine Legitimierungsfunktion besaß, dann bedeutete auch die Anwendung des Eroberungsrechts auf Gebiete, die Napoleon einst vertraglich abgetreten worden waren, nicht nur die Inanspruchnahme völkerrechtlicher Legalität, sondern stand darüber hinaus zugleich im Dienste herrschaftsstabilisierender Legitimität; denn wie gezeigt, war zur Herstellung des Gleichgewichts die Disposition über einen gewissen Bestand an frei verschiebbaren Territorien erforderlich. Nur weil das Gleichgewicht auf diese Weise Quelle der Legitimität wurde, konnte die Neutralitätserklärung des Papstes einen Einfluss auf die Entscheidung über die Zukunft der Legationen gewinnen.⁴⁵ Die legitimierende Kraft der Friedenserhaltung durch das Gleichgewicht der Macht und vor allem durch die „balance of rights, satisfactions, and responsibilities“, wie Paul W. Schroeder unlängst treffend formulierte,⁴⁶ bildete auch das Hauptargument von Friedrich Gentz in seiner publizistischen Auseinandersetzung mit Joseph Görres über den Zweiten Pariser Frieden vom November 1815. Den Verzicht der Sieger auf eine Rückführung von Elsass und Lothringen verteidigte Gentz zum einen mit dem Argument, die Erwerbung dieser Gebiete durch Frankreich im 17. Jahrhundert habe „das Gleichgewicht der Kräfte nicht in dem Grade gestört, daß es jedem unternehmenden Monarchen gelungen wäre, auch nur einen seiner Hauptplane durchzusetzen“,⁴⁷ zum andern mit der Erwägung, dass „die erste Hauptbedingung eines dauerhaften Friedens“ mit Frankreich, nämlich „die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung einer festen Ordnung der Dinge im Inneren des Landes“, nicht hätte erfüllt werden können, wenn Frankreich

44 Vgl. oben. 45 Vgl. oben. 46 Paul W. Schroeder: The Transformation of European Politics 1763–1848. Oxford 1994, S. 582. 47 Friedrich Gentz: Gegen Görres (1815). In: Friedrich von Gentz und die deutsche Freiheit. Schriften und Briefe aus den Jahren 1815–1832. Bd. 2, München 1921, S. 19.

334 | III Monarchie, Nation, Nationalismus diese Gebiete abgenötigt worden wären. Die Stellung Ludwigs XVIII., zumal nach seiner zweiten Restauration, sei ohnehin prekär genug; „nie aber wäre dem Hause Bourbon die Losreißung beträchtlicher Provinzen von französischem Gebiet verziehen worden. Es hätte sich zwischen der regierenden Familie und der Nation ein unheilbarer Bruch ergeben.“⁴⁸ Wenn man das europäische Gleichgewicht als eine Quelle politischer Legitimität anerkennt, dann finden die oben zitierten Urteile von Koselleck und Langewiesche eine unerwartete Bestätigung. Das in Wien faktisch Erreichte gewann seine Legitimität in dem Maße, in dem die vereinbarte Ordnung den Frieden sicherte. Das heißt aber, dass diese Legitimität nicht die Richtschnur, sondern das Ziel der Verhandlungen gebildet hatte: „Als legitim galt“ – am Ende, in der Folgezeit, so könnte man ergänzen –, „was sich durchgesetzt hatte und von den Siegern im Vertragswerk von 1815 völkerrechtlich anerkannt wurde“, weil es innere und äußere Stabilität verbürgte.⁴⁹ Ob es tatsächlich das Gleichgewicht der Macht war, das in den folgenden Jahren und Jahrzehnten den Frieden zwischen den Großmächten aufrechterhielt, ja, ob ein solches Gleichgewicht überhaupt erreicht wurde oder erreichbar gewesen wäre, ist für die legitimierende Kraft des Gleichgewichtsgedankens ohne Belang.⁵⁰ Es genügte, dass die internationale Stabilität darauf zurückgeführt wurde und dass somit der Gleichgewichtsordnung im Verhältnis der Großmächte untereinander die friedensstiftende Wirkung zugeschrieben wurde. Die subjektiven Faktoren bestimmen ohnehin den Erfolg jeder Gleichgewichtspolitik, denn solange die wirklichen Stärkeverhältnisse nicht unter dem Einsatz der Waffen getestet werden, hängt die friedenserhaltende Kraft des Gleichgewichts wesentlich von der wechselseitigen Selbst- und Fremdperzeption ab. Das Gleichgewicht – sei es der Macht, sei es der „Rechte, Befriedigungen und Verantwortlichkeiten“⁵¹ – war jedenfalls ein Ergebnis der Kabinettspolitik der Großmächte und begründete in ihrem Verhältnis untereinander eine Identität der Interessen, die ihren Ausdruck im Europäischen Konzert finden sollte. Ein wesentliches Ziel des Konzerts, das die Mächte zur diplomatischen Verständigung zwang, war folgerichtig die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts selbst – einerseits zwischen den vier Siegermächten und Frankreich, andererseits zwischen den Siegermächten – in deren Kreis 1818 auch Frankreich aufgenommen

48 Ebd., S. 22 f. 49 Langewiesche: Europa zwischen Restauration und Revolution (wie Anm. 13). 50 Vgl. Paul W. Schroeder: Did the Vienna Settlement Rest on a Balance of Power? In: The American Historical Review 97 (1992), S. 683–706. 51 Wie Anm. 46.

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wurde – untereinander. Dem ersten Anliegen wurde im Allianzvertrag der Vier vom 20. November 1815 Rechnung getragen.⁵² Dem zweiten Anliegen entsprach die eifersüchtige Wahrung der österreichischen Hegemonialstellung in Deutschland und Italien durch Metternich. Die Existenz des Konzerts blieb an die Bedingung gebunden, dass die Regierungen an den Grundsätzen der Kabinettspolitik nach Staatsräson festhielten. Revolutionäre Bewegungen konnten die Übereinstimmung in den Maßstäben der Politik jederzeit aufheben, wie das Auftreten Napoleons gezeigt hatte, und nicht zufällig wurden gerade von den Anhängern der nationalen Bewegung die Kabinettspolitik des Wiener Kongresses und die Verfahrensgrundsätze des Europäischen Konzerts als Einengung und Beschränkung empfunden. Auf diesem Gegensatz beruhte sowohl die Kritik Ernst Moritz Arndts an Metternichs Rheinpolitik im Jahre 1813 als auch die Kritik von Joseph Görres an dem Verzicht auf die Rückgewinnung des Elsass und Lothringens im Jahre 1815.⁵³ Johann Gustav Droysen schließlich verurteilte das Konzert im Jahre 1845 als „pentarchistische Oligarchie“.⁵⁴ Im Namen eines nationalen Rechts der Deutschen bestritten diese Autoren mithin dem Europäischen Konzert und dem ihm zugrundeliegenden Gleichgewichtsgedanken die politische Legitimität. Die Vertreter der 1815 geschaffenen und bestätigten Ordnung bekämpften derartige Ansprüche, indem sie ihrerseits den Kräften der Revolution und der Demokratie, mit denen der Nationalismus verknüpft war, jegliche Legitimität absprachen. Dementsprechend entwickelten sie eine Legitimitätsideologie, die allein der Erbmonarchie von Gottes Gnaden Legitimität zuerkannte, wobei die Frage nach der Legitimierung dieser Legitimität durch politische Leistungen immer weniger gestellt wurde. Diese offizielle Legitimitätsideologie der Restaurationszeit erlangte binnen kurzer Zeit eine solche Durchschlagskraft, dass der Begriff Legitimität alsbald nur noch diesen spezifischen Legitimitätsanspruch bezeichnete. Legitimitätsbegriff und Legitimitätspolitik fielen infolgedessen überall dort auseinander, wo jenseits der erbmonarchischen Ideologie durch Reformen und

52 Bund der Vier Großmächte vom 20. November 1815. In: Strupp: Urkunden (wie Anm. 33), S. 163 ff. 53 Ernst Moritz Arndt: Der Rhein. Deutschlands Strom, aber nicht Deutschlands Grenze (1813). In: Ders.: Kleine Schriften, mit einer Einleitung. Hrsg. von Robert Geerds, 1. Teil, Leipzig 1908 (Ernst Moritz Arndts ausgewählte Werke in 16 Bänden, Bd. 13), S. 188: „Wenn nun das Unglück bleibt, daß die Franzosen den Rheinstrom behalten, so wird das Deutsche in seinen Keimen vergiftet und erstickt“; Joseph Görres: Nach Wien hinüber! In: Rheinischer Merkur, Nr. 345, 16. Dezember 1815. 54 Johann Gustav Droysen: Die politische Stellung Preußens (1845). In: Ders.: Politische Schriften. München, Berlin 1933, S. 58.

336 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Verfassungen praktische Legitimierungspolitik betrieben wurde. In Verfassungsstaaten fand die daraus resultierende Doppelgleisigkeit der Legitimierungspolitik ihren Ausdruck im sog. monarchischen Prinzip. Das monarchische Prinzip besagte im wesentlichen, dass die ihrer Wurzel nach revolutionäre Legitimation, welche die Fürsten durch die Gewährung von Verfassungen zu gewinnen strebten, in Wahrheit der allein „legitimen“ erbmonarchischen Legitimität zuzurechnen sei. Oder anders ausgedrückt: Die Verfassungen waren nicht als Konzessionen an die Demokratie, sondern als Variationen monarchischer Herrschaftsausübung zu verstehen. Die Herrschaft blieb nach dieser Sprachregelung trotz der Verfassung im Prinzip monarchisch, und die Demokratie beschränkte sich auf die Formen.⁵⁵ Am monarchischen Prinzip als solchem hätte die Neuordnung von 1815 nicht zu scheitern brauchen. Robert von Mohl erkannte um die Mitte des Jahrhunderts, dass die Zukunft des Verfassungsstaats davon abhing, auf welche Weise die für die Gesetzgebung und den Haushalt vorgeschriebene Übereinstimmung zwischen Krone und Volksvertretung zustandekam, und er sah voraus, dass nur die parlamentarische Regierung den konstitutionellen Regimen auf Dauer die erforderliche Legitimität zu sichern vermochte. Die Einführung der parlamentarischen Regierung jedoch setzte nach Mohl keine Änderung der Verfassung voraus: Es genügte, dass der Monarch die Minister entsprechend dem Mehrheitswillen der Kammern berief.⁵⁶ Der Übergang zur Repressionspolitik und zum Interventionismus nur wenige Jahre nach dem Wiener Kongress verdüsterte die Aussichten auf eine evolutionäre demokratische Transformation der Herrschaftsstrukturen in Europa. Die Einsicht Hardenbergs, dass man die Revolution gerade „durch strenge Verfolgung“ der durch sie „geltend gemachten Grundsätze“ am wirksamsten fördere, sollte sich vor allem an der Entwicklung der nationalen Bewegungen bestätigen. Am süd-

55 Einen exemplarischen Ausdruck hat das monarchische Prinzip in der Präambel zur Charte constitutionnelle von 1814 (wie Anm. 30) gefunden: „Nous avons considéré, que, bien que l’autorité tout entière résidât en France dans la personne du roi, nos prédécesseurs n’avaient point hésité à en modifier l’exercice, suivant la différence des temps“. Für die Staaten des Deutschen Bundes wurde die Wiener Schlussakte vom 15. Mai 1820, Art. 57. In: Ernst Rudolf Huber (Hrsg.): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Bd. 1, Stuttgart 1961, S. 88, verbindlich. Danach musste dem „Grundbegriffe“ der Souveränität der Fürsten entsprechend „die gesamte Staatsgewalt in dem Oberhaupte des Staats vereinigt bleiben“, und der Souverän konnte „durch eine landständische Verfassung nur in der Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung der Stände gebunden werden“. Vgl. dazu Hans Boldt: Monarchie (V). In: Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 200 ff. 56 Robert von Mohl: Das Repräsentativsystem, seine Mängel und die Heilmittel (1852). In: Ders.: Politische Schriften. Hrsg. von Klaus von Beyme, Köln und Opladen 1966, S. 157; ebd., S. 158: Die parlamentarische Regierung sei „kein Verfassungsparagraph, sondern ein Regierungssystem“.

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deutschen, vor allem am bayerischen Partikularismus des Vormärz lässt sich die Hypothese entwickeln, dass das Streben nach nationalpolitischer Legitimation von Herrschaft in Deutschland und Italien wesentlich auch eine Folge des Mangels an demokratischer Legitimation in den durch die Sieger über Napoleon geschaffenen oder bestätigten Einzelstaaten gewesen ist.⁵⁷ Als Ergebnis der vorstehenden Überlegungen bleibt festzuhalten: Die Neuordnung Europas durch die Sieger von 1814 war zunächst durch das geltende Völkerrecht legitimiert. Nach Völkerrecht fielen die im Befreiungskrieg durch Eroberung und durch förmliche Abtretung erworbenen Gebiete nicht den einstigen Besitzern, sondern den Siegern zu, sofern Napoleon und seine Verbündeten diese Gebiete einst selbst rechtsgültig erworben hatten. Nur durch Inanspruchnahme der rechtlichen Ermächtigung, nach Belieben über diese Gebiete zu verfügen, gewannen die Sieger über Napoleon die Möglichkeit, die politischen Gewichte auf der europäischen Landkarte ohne abermalige Rechtsbrüche neu zu verteilen. Bei dieser Verteilung war die Erlangung internationaler Stabilität das bestimmende, die Beachtung historisch oder dynastisch begründeter Ansprüche dagegen ein nachrangiges Kriterium. Äußere Stabilität war jedoch nicht zu gewährleisten ohne gleichzeitige innenpolitische Stabilisierung. Daher wurde die Neuordnung des internationalen Systems in vielen Staaten ergänzt durch eine Politik der Legitimierung der neugestalteten oder auch nur bestätigten Herrschaftsverhältnisse gegenüber den Beherrschten. Diese Politik besaß eine ideologische Komponente – die Doktrin von der ausschließlichen Legitimität der Erbmonarchie – und eine pragmatische Komponente, deren Manifestationen von der Anerkennung der in der Epoche der Revolution und Napoleons erworbenen Ansprüche bis zur Gewährung von Rechtsstaatsgarantien und politischen Mitwirkungsrechten durch Verfassungen reichten. Die damit verknüpften Chancen für eine evolutionäre Transformation der europäischen Herrschaftsstrukturen zur Demokratie – entsprechend der fortschreitenden gesellschaftlichen Modernisierung – wurden allerdings durch die Unvollständigkeit, die Halbherzigkeit, die Inkonsequenz und die mangelnde Entwicklungsfähigkeit dieser Legitimierungspolitik alsbald verspielt.

57 Vgl. Volker Sellin: Demokratie und Nationalismus. In: Heidelberger Jahrbücher 32 (1988), S. 5 (in diesem Band S. 277–286); ders.: Nationalbewußtsein und Partikularismus (wie Anm. 35), S. 250 ff., in diesem Band S. 287–304.

Nationalism and Conflict in 19th Century Europe You* have come together in order to discuss ‘Enemies and Feindbilder’ in history. The distinction appears important, but neither the two terms nor the distinction are easy to define. I suppose that everyone of you has a fairly clear notion of what an enemy is. Yet even this term may be understood in different ways, as I shall try to show presently. But what do we mean by the term Feindbild, the idea of an enemy? And how does the idea of an enemy relate to the real enemy? Do we have to suppose that in history ideas of enemies have always corresponded to real enemies? Or have there been cases where ideas of enemies developed or were deliberately invented, even though there did not exist anything similar to what was commonly imagined? And how about the opposite: Have there been situations in history, where there were very real enemies, but no corresponding idea of an enemy? I shall try to give answers to these questions by discussing a certain number of incidents and constellations in the history of 19th century Europe. I suppose that enemies develop where conflicts arise, and therefore I have decided to speak to you about the relationship of nationalism and conflict in the period under review. Thus, I shall not discuss other types of conflicts – such as social conflicts, religious conflicts, or racial conflicts. Historians as a rule shrink from giving exact definitions of the terms they use. The reason for this is easy to understand: Both the phenomena and the terms to denote them, are historical facts, and as such they change over time. Nevertheless, it may be useful, if I try to state at least, what I do not mean by the terms nation and nationalism. The term nation, to begin with, is equivocal. It may denote a social group with a common language, a common history, a common identity, such as the German, the Polish or the Czech nation, no matter whether there existed also a German, a Polish or a Czech state, or it may be used as an equivalent of state, be it a nation state, a multi-ethnic state or other. For the purposes of this lecture I prefer to use the term in the first of these two meanings, because the formation of nations in this sense and the growth of national consciousness was a new phenomenon which tended to upset traditional political structures. By nationalism I do not mean a particularly aggressive attitude on the part of a nation, but a principle of social organization, the desire to preserve and to develop it, and on the part of

* Lecture at ‘Enemies and Feindbilder. Concepts and Realities of Enemies in History – 10th Annual Conference of the International Students of History Association’, Heidelberg 1999. First published in this volumne.

340 | III Monarchie, Nation, Nationalismus those who had not managed to live in accordance with this principle, the endeavor to make it a reality. In this sense, Polish nationalism during the 19th century was nothing but the desire of the Poles to create a Polish nation state, and if we look at France after the Franco-Prussian War of 1870/71, we may say that the desire to regain the two lost provinces, Alsace and Lorraine, was a natural consequence of the national cohesion which had developed since the French Revolution and as such entirely legitimate. National conflicts, finally, may have been international or internal or both. The various insurrections of the Poles during the 19th century were certainly internal upheavals against the legal authority, mainly the czarist government, whereas the war of Sardinia against Austria in 1859 was an international conflict in the first place, but it was at the same time part of a national upheaval, because its purposes were to break Austria’s hold on the Italian states, to liberate Lombardy and Venetia from Austrian domination and thus to overcome Austrian opposition to the national unification of Italy. Now, how and where do Feindbilder come into the picture? We shall not be able to answer this question, unless we have previously decided what is to be understood by this term. I think that there are two kinds of Feindbilder: They either belong to the category of collective attitudes or mentalities or to the category of ideologies. Let us begin with the collective mentalities! It is important to remember that mentalities are social facts, not just individual phenomena. A collective mentality may be defined as a set of attitudes which is shared by a collectivity, be it a social or religious group or a nation. Further it should be pointed out that a collective mentality is not the same as a mere opinion which may be common to the group. Opinions may be held on all sorts of subjects, on politics, on family life, on Shakespeare and the like. Most of these opinions are more or less irrelevant to everyday life. It doesn’t make any difference for practical life, whether or not someone enjoys reading ‘Romeo and Juliet’. Collective mentalities, on the other hand, have to do with the perceptions of that world in which man has to struggle in order to accomplish what is essential for his practical existence, and these perceptions determine everyday human action and behaviour. I wish to underline this crucial difference between mentalities and opinions: Mentalities determine actions and behaviour, whereas mere opinions remain more often than not irrevelant for what one really does. Social psychologists have been able to show that very often there exist striking contrasts between opinions and beliefs on the one hand and practical behaviour on the other. Returning to the Feindbilder and to nationalism we may thus draw the following conclusion: If it is part of our mentality and not just a momentary opinion or impression that we look upon another nation as being our enemy, we will certainly act and behave in a characteristic way: We do not trust those who belong to that

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nation, we may avoid intercourse with them, we may disregard and disparage their culture, and so forth. In that sense, collective mentalities are collective dispositions of a group to act and to behave in a certain way, whenever the subject towards which the attitude is directed, will show up or come otherwise into play. In a sense, mentalities may also be called collective prejudices. We should, however, be aware of the fact, that these types of prejudices are no isolated phenomena in an otherwise rational and unprejudiced way to act. Quite the contrary: Social action of any kind, as a rule, is determined by collective mentalities. To a very large degree, our behaviour under given circumstances is an expression of our particular cultural traditions and of accumulated past experiences and perceptions and not the result of rational choice. One is free to call these determining conditions prejudices, but it should be clear that prejudices in this sense are not the exception, but the rule, and a necessary prerequisite of human action in general. All our actions are based on prejudices in this sense. Now let us once more go back to the Feindbilder. A related term in German is Weltbild, image or conception of the world. In keeping with his cultural predetermination and the values of the group, man in a given society develops a certain Weltbild, which alone enables him to act in society. By means of this Weltbild alone he is able to make the necessary distinctions between useful and useless, between helpful and injurious, and also between friend and foe. These distinctions, of course, are not based on scientific reasoning; scientific reasoning only takes place, when the distinctions have already been made, and its function may be to examine those distinctions and to try to correct them. In this sense we are here trying to examine the origins and the foundations of various Feindbilder in the history of nationalism, which, alas, may to a large extent still exist today. If the distinction of friend and foe is part of the task of ordering the world, necessary for survival, just as we must learn to distinguish between that which is eatable and that which is not, then to have Feindbilder, appears to be a natural condition of human existence, and the legitimate effort to prove some of the Feindbilder wrong by refuting the images of supposed enemies, and others by turning into friends the real enemies, is perhaps a never ending process of enlightening and educating ourselves and society, only to find out that new Feindbilder may meanwhile have developed. Since Weltbilder and Feindbilder alike are culturally determined and not just simple opinions, it is not easy to disprove them. Opinions are easily changed, adopted or discarded, mentalities, however, grow over time and change only slowly. They may be handed down from one generation to the other. But nevertheless, they are subject to change; and the history of nationalism and of national Feindbilder is sufficient proof of this fact, because nationalism did not exist before the French Revolution. This leads us to the question, how mentalities are formed, and

342 | III Monarchie, Nation, Nationalismus at this point we have to discuss the second category of Feindbilder, namely the category of ideologies. As a matter of principle, man needs to explain his actions and behaviour to others and to himself. Even if he acts unconsciously in the sense that in a typical situation he behaves as he has always behaved and as everybody around him behaves, he may by some accident get confronted with the challenge to give reasons for his behaviour. It may also happen that an entirely new situation arises to which no culturally transmitted rules of behaviour seem to apply. In such a situation, new rules have to be invented. And finally, it may happen that someone tries to bring about changes, be it in social relations, in the political structures, in education, or what not. In order to win adherents, he must try to give reasons for his endeavors. Now, this is exactly, what happened, when in many European countries during the 19th century national movements came into being. In the beginning, there was always only a handful of people, mostly intellectuals, who had the idea of giving a nation a separate political existence. In order to put this idea into practice, a broad following had to be organized, that is, a national movement. In order to convince others to join the movement and in order to convince those who had already joined it that it was essential to strengthen it further, a national ideology had to be invented. Now it was only natural that part of these national ideologies that originated during the 19th century were Feindbilder. The national movements strove to change the existing order of things. A good example of this is Austria. The aspirations of a great number of European nations was incompatible with the existence of Austria which contained at least eleven different nations or nationalities. These peoples had been assembled under Habsburg rule at a time, when national feelings and differences were of no significance. With the development of national movements, this multi-ethnic power was sooner or later doomed to destruction. Now, it seems natural that as long as Austria existed, most of the various nations and nationalities living under her rule came to regard her as inimical. In some of these nations the national idea and the national consciousness contained from the very beginning a strong anti-Austrian element, the Italian national movement being a case in point. Italian national aspirations developed during the Napoleonic period. When Napoleon abdicated, the Italians hoped to attain national independence. Instead, the Austrian hold on the peninsula was renewed and even increased. Lombardy and Venetia ware incorporated into the Austrian empire, and most of the other Italian states were brought under Austrian control, the Kingdom of Sardinia being the most notable exception. This political situation explains, why the Italian national movement was anti-Austrian from the start, and it explains also, why a national ideology developed which showed that Austria had to be fought in order

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to obtain independence and unity. In the end, Italian national unity no less than German national unity was achieved only as a result of three wars, two of them, in 1859 and in 1866, directed against Austria and one of them, in 1870, directed against France, the latter without actual Italian participation. Clearly the antiAustrian ideology with the image of Austria as the enemy had paved the way for these national wars. Now, how do ideologies of this kind relate to mentalities? I think it is safe to say that over time ideologies generate mentalities. If a nation gets used to looking upon a neighbouring country as being the arch-enemy, if this is reiterated in speeches, in literature, on the stage, on the newspapers over and over again, this particular perception of that country becomes a habit, a way of thinking, an unquestioned attitude, that is, a mentality. In other words, mentalities quite frequently originate from ideologies, and ideologies are formed with a view to fulfil specific social functions. That’s why in modern wars propaganda plays such an important part. Denigrating the enemy nation or its leaders is a means to motivate one’s countrymen to still greater efforts. In that sense Feindbilder are often created deliberately for certain political or social purposes. Lateron they may be transformed into mentalities and thus become part of the semi-conscious ingrained habits and convictions which are extremely difficult to change or to eradicate. One of the important changes in international relations brought about by the French Revolution and its consequences was the nationalization of wars. Whereas during the 17th and 18th centuries most wars had been dynastic, brought about and ended by the princes and their chief ministers in the solitude of their cabinets, the wars of the 19th and 20th centuries were to become national wars. The Revolution, of course, had introduced the levée en masse, the nation in arms, and thus, from then on, soldiers were no longer mercenaries who fought for pay and might belong to different nationalities, but citizens of their respective countries who fought in the interest and for the defence of their families and their nations. Now, one of the consequences of this development was that propaganda became increasingly important in order to point out to the public who was the enemy and why. The propaganda could originate from a national movement, such as we have noted in Italy, but it could just as well be organized by the government. During the oriental crisis of 1840 the French prime minister Adolphe Thiers had a large hand in directing the frustration of the French towards the Rhine and Germany. The outbreak of a European war at this particular moment was only avoided, because the European powers were united in their determination to counter any French aggression. The crisis led to a wave of anti-French feeling in Germany, and the problem on both sides of the Rhine was, of course, that one could not tell the public that the propaganda made during the crisis was no longer valid. In other words, in this as in many other cases, the bad feelings towards the neighbours

344 | III Monarchie, Nation, Nationalismus persisted long after the crisis was over. Whereas in the 18th century wars could be fought between enemies, who possessed this quality just as long as the war was under way, in the 19th century wars tended increasingly to create lasting images of enemies which in turn contributed to the outbreak of new wars. There was no such thing as a lasting or natural enemy during the 17th and 18th centuries. It is true that there was the long enduring antagonism between the Habsburgs in Spain and in Austria on the one hand and Bourbon France on the other, and there was also the recurring conflict between Britain and France over colonial questions. But these antagonisms were clearly defined by very real and concrete political interests and in no way based on a basic mentality or an ideology by which the opponents coined each other as enemies in principle. During the war of the Austrian succession 1740–1748 Great Britain faught against Prussia and supported Austria. During the Seven Years’ War 1756–1763 Great Britain was an ally of Prussia and faught against Austria. These decisions were taken in accordance with the rules of the balance of power and the reason of state. No Feindbilder were needed; quite to the contrary, they would have been injurious to the free play of cabinet politics, and, as a consequence, they did not exist. In the 19th century, however, wars tended to arise from conflicts between nations, not just between dynasties. And these new conflicts tended to become enduring antagonisms. A very significant incident within this process is the Treaty of Chaumont, concluded between the four allied powers who faught Napoleon in the spring of 1814. On March lst of this year the four powers by this treaty established an alliance which was to last no less than twenty years, and it was renewed in november 1815, even though in the meantime Napoleon had been beaten and exiled two times and there was no danger of his coming back once more. The conclusion of such a treaty was a novelty which can only be explained by the experiences that Europe had made with the unprecedented forces which had been unleashed by the French Revolution. The Treaty of Chaumont implied that France remained the potential enemy of the rest of Europe, no matter how peacefully the restored Bourbon King Louis XVIII might behave. It should be noted that the Treaty was by no means declared obsolete when in 1818 France was admitted to the European Concert. Even now, she was not trusted. Mutual distrust was to characterize the relationship between the French and the German nation during most of the 19th century. Ever since the end of the Napoleonic period the French felt threatened by the two German powers Austria and Prussia, who were their immediate and the only powerful of their neighbours on the continent, and the Germans, on the other hand, came to regard the French as a power which had since the reign of Louis XIV in the 17th century tried to rob part of their territory and to deny them an independent national existence. The oppression which Napoleon had administered on the Germans, was one of the

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main incentives towards the development of a German national consciousness, and in this sense one could say that part of the image which the Germans created of themselves as a nation, was from the beginning anti-French, just as the Italian national consciousness was anti-Austrian. When, during the second half of the century, a debate took place over the question, whether Heidelberg castle, which had been destroyed by French troops at the time of Louis XIV, should be reconstructed, there were some who maintained in earnest that the castle was a national monument and that it could remain so only as long as it was in ruins, because the ruins alone were able to remind the Germans at all times of the dangers that were threatening from the other bank of the Rhine. The image of the ruins was thus in a very literal sense the image of the enemy. It should be noted, however, that during the first half of the century there existed for a certain period of time a kind of international solidarity of nations. The national movements in different countries developed an ideology, according to which wars and international conflicts in general had so far been caused by the princely rulers of states. What was needed was the democratization of governments. Under the conditions of democracy and national self-determination the peoples of Europe would, it was believed, want to live in peace and friendship with each other, because every nation would respect the rights of all the other nations, no single nation wishing to govern or to oppress other nations. This was a way to look at history from the vantage point of declining absolutism, which was both antidemocratic and antinational. Following the rules of reason of state and balance of power the absolutist monarchs had waged war against each other with a view to acquire a province at the border or some other strip of territory or just a few fortresses, no matter to which ethnic group or nationality the population belonged. The annexed provinces were then used to increase the income and the power of the victorious states, because additional income permitted the hiring of additional mercenaries who in turn helped to occupy additional provinces. In a community of states, however, where nations governed themselves without wishing to rule over other nations, conflicts of this kind, so it was hoped, would no longer arise. So it was hoped, for some time, at least. The French Revolution at first was hailed by German poets and intellectuals as the beginning of a new era in the history of mankind, since the declaration of the universal principles of human rights, of liberty and of equality seemed to pave the way for a cosmopolitan society. But after the outbreak of the revolutionary wars in 1792 it soon became clear that the sovereign French nation was just as eager to annex foreign territory as Richelieu and Louis XIV had been, only that the French nation was much more successful in these efforts. And here, for the first time in history, we observe a new political technique by which it could be avoided that one nation dominated another na-

346 | III Monarchie, Nation, Nationalismus tion. One simply managed to turn the German or the Italian nationals into French nationals, a method that has since been practised in many parts of Europe up to the present. It should not be overlooked that after the end of the Napoleonic period there developed a real feeling of solidarity among different European nations, all of them having the same object: to be free from foreign domination and to be united under a democratic government. This solidarity of nations manifested itself most conspicuously during the 20’s and 30’s of the 19th century, first when the Greeks revolted against the Turks and many volunteers from all parts of Europe came to their help, and second, after the Polish revolution of 1830/31, when tens of thousands of Poles fled from the Russian armies and emigrated through Germany, mostly to France, and when the Germans founded societies to lend support to the refugees. Evidently there was, at this juncture, a Feindbild common to the national and democratic movements, namely the Old Order, the Ancien Régime, and absolute government, and it was certainly hoped that, as soon as the Old Order would have been overthrown, an era of peace and welfare would begin. It is clear that this Feindbild no less than all the others was based on an ideology, the ideology of the essentially despotic nature of feudalism, and the belief in the peaceful nature of democratic nation states which was soon to be refuted by experience. This belief certainly disregarded essential aspects of reality. Especially in the Eastern parts of Central Europe the various nationalities lived to a great extent in mixed communities. No clear border line could be drawn to separate them from each other. In Bohemia a greater part of the German population settled in fact along the mountain range that separated the province from Silesia, Saxony and Bavaria, but in Prague which is located in the middle of the Bohemian plain, Germans and Czechs lived side by side. When in 1938, by means of the Convention of Munich, the bordering areas, settled by a majority of Germans, were cut off from the Czechoslovakian state and connected with the German Reich, it became evident that a frontier had been created that was impossible to fortify and to defend. This shows clearly enough that the ideology of the natural solidarity of national movements was nothing but a castle built in the air. It was relatively easy to favour the independence of the Greeks, because they were far away, but as far as, say, the Poles are concerned, the German nationalists did certainly not wish to cut off those parts of the Prussian territory where the Poles constituted the majority of the population. The situation was no less complicated in Alsace-Lorraine. The province had not only for centuries belonged to the old German Reich, the population was German as well. None the less the French Revolution had created among the majority of the Alsatian population a French national consciousness, the wish to belong to the French nation. It must not be overlooked that the French had another idea

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than the Germans of what a nation really was. To the French a nation was a community of the will. Not given ethnic or historical factors constituted a nation, but the decision to belong to it. The consequence of this was, that German nationalists claimed the province both on ethnic and on historical grounds; whereas the Alsatians and the French, using a different concept of nationality, saw no reason why the provinces should be returned to Germany. Here again we recognize, how difficult it would have been to find a common ground, if the European national movements should have tried in earnest to create a new international order, based on the sovereignty of nations. When Bismarck, after the Franco-German War of 1870/71, annexed Alsace-Lorraine, his chief motive had nothing to do with national claims and aspirations. Instead, he was convinced that, no matter what kind of peace treaty he would conclude with them, the French would sooner or later seek revenge for the defeat the Germans had administerd on them, and in the expectation of this event, Bismarck was bent to improve the strategic frontiers of the new German Reich. From this it becomes clear that nation states were not only nations, but also states, and that states were in need of a certain amount of power potentials, all the more so, since the European nations had failed to develop the solidarity of which so many had dreamed. It must be added that one important precondition of the fulfillment of this dream had not been attained, neither in Germany, nor in Austria-Hungary, and much less so in Russia: the creation of truly democratic governments. Instead, especially in Germany, the supposed threat from France and later on from Russia and even Great Britain was used to defend the authoritarian constitutional structure of the new German Reich, the supporting ideology being that only the monarchical rule with at best limited parliamentary participation would be able to guarantee a strong military establishment which in times of crisis would be able to defend the German nation against its enemies. This example shows how Feindbilder could under certain circumstances be created or perpetuated just in order to protect power-political interests. The image of the French nation as being a constant threat to German independence and unity was deliberately upheld after 1871 in order to justify the existing authoritarian structures. Speaking to an audience of historians, I should like to add, that history was often used as a means to support these ideological convictions. To give an example, during the 19th century the fact that Heidelberg castle had been in part reconstructed after the burning of 1693 at the hands of the French, only to be destroyed once more by a flash of lightning in 1764, was entirely forgotten by German historians, and as late as 1930 one historian contended that French destructions along the Rhine during the War of the Palatine succession could only be explained by assuming that the French were possessed by a spirit of destruction as such, allegedly inherent in the French national character.

348 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Another method, common to all countries by which history and memory were used to keep the lessons of experience in mind, were ceremonies, commemorations and monuments. In a very real sense, the German national state of 1871 was based on the defeat of the French. The opposition of Napoleon III to German unification was overcome on the battlefield. The proclamation of the new German Emperor took place on the 18th of January 1871, with the war still going on, in the hall of mirrors in Versailles castle, a move which was meant to avenge the injuries to Germany committed by Louis XIV 200 years earlier. And this act could not be forgotten, because the 18th of January was afterwards made a national holiday in the new Germany. Another national holiday was to become the 2nd of September, the day when in 1870 the German army had won the decisive battle of the war and taken the French emperor prisoner. By the commemorations and festivities on these memorial days it was made clear, several times a year, to school children and adults alike in the whole of Germany, that France was – if not an actual, at least the historic and the potential – enemy. In 1913 near Leipzig a huge monument was completed commemorating the decisive victory of the armies of the coalition against Napoleon in October 1813. In the tense atmosphere shortly before the outbreak of the First World War, this event again added to the same conviction. To be sure, these ceremonies and these monuments most probably were not actually meant to teach generations what sort of image they were supposed to have of neighbouring France. Much rather, this imagery was only a collateral effect of the intention to celebrate German military achievements. This attitude has been common to all nations. The British put Lord Nelson on the column of Trafalgar Square, and Napoleon had erected a column of more than 40 meters height on place Vendôme in Paris, on the example of Trajan’s column in Rome, and with a statue of himself on the top. The Bronze used for the bands around the column, showing scenes of the campaign of 1805 which culminated in the sweeping victory at Austerlitz, was taken from cannons captured from the Austrians and Russians. After 1830, when the bourgeois king Louis-Philippe took over, the column came to be regarded as a national monument, preserving the memory of the glory of French arms, but not being specifically directed against any foreign nation. Significantly enough, however, the Council of the Paris Commune, during the brief insurrection in 1871, decided to destroy the whole column, a decree which was effectively carried out on the 16th of May. The decree was worded as follows: The Paris Commune, Whereas the imperial column of Vendôme Square is a monument of barbarism, a symbol of brutal force and false glory, an affirmation of militarism, a negation of international law, a permanent insult of the vanquished by the victors, a perpetual attack against one of the three great principles of the republic, fraternity; Decrees: [. . . ] The column of Vendôme Square will be demolished.

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By the end of May, the insurrection of the Commune had been crushed by the regular French army. It should be noted, however, that the decree regarding the monument on Vendôme Square shows, how the representatives of the Commune felt that the common practice of commemorating military heroes and victories on the battlefield was an impediment to the development of a different social and international order, which was to be determined by the rule of law and fraternity among nations. The great French writer, opponent, and critic of Napoleon III and a staunch republican, Victor Hugo, called the destruction of Vendôme column an insult to the French nation. This shows that he had not in the least let himself be persuaded by the pacifist arguments of the Commune. The national assembly of the third Republic decided to reconstruct the whole column and to put the statue of Napoleon I as a Roman emperor back on top of it. One reason for this decision was no doubt that after the catastrophe of 1870/71 the French republic simply could not afford to give to the world the appearance of a defeatist attitude. The nation was one of the highest social and political values in 19th century Europe. National glory was a goal in itself. To minimize a national achievement or to question the priority of national aspirations was an extremely self-denying venture. Bismarck fought against the catholic center-party, believing that it was anti-national, and he subjected the Social Democrats to exceptional law, suspecting them of being Vaterlandslose Gesellen, a bunch of people who did not adhere to their country. This type of internal conflict and the ensuing category of Feindbilder should not be overlooked, as one studies nationalism and enemies. To what degree in reality the socialist parties in Europe had been integrated into their respective nations, became surprisingly clear in August 1914, when nearly all of them decided to support the war efforts of their countries, setting aside the internationalist tenets of the Marxist tradition. I am approaching the end of my lecture. During this congress you will study all sorts of conflicts and images of enemies. National Feindbilder therefore constitute only a small part of what you will be discussing. In that sense my lecture could not have been an introduction to your debates, but at best a beginning. Still I am convinced that national movements and the attitude of nations towards each other may serve as a laboratory in which not only specific questions, but also questions of a more general kind can sucessfully be studied.

Die Restauration in Italien Die* folgenden Überlegungen beschränken sich auf diejenigen Aspekte der Restauration in Italien, aus denen ein Beitrag zum Thema der Tagung zu erwarten ist. Zu Leitfragen für den angestrebten historischen Vergleich sind Vergeben und Vergessen im Vergangenheitsdiskurs nach Konflikten bestimmt worden. Unter der Bereitschaft zu Vergebung und Vergessen ist eine Einstellung zu verstehen, die sich auf wirkliches oder vermeintliches Unrecht bezieht, das seiner Natur nach nicht rückgängig gemacht werden kann. Nach der Konzeption der Tagung kommen dabei nur schmerzhafte Verletzungen in Betracht, die ein erheblicher Teil einer Gesellschaft erlitten hat. Unrechts- und Gewalterfahrungen von Einzelnen müssen ebenso ausgeklammert bleiben wie die bloße Enttäuschung über die Nichterfüllung von Erwartungen. Handlungen oder Prozesse, die Gegenstand von Vergebung und Vergessen sein können, müssen abgeschlossen sein. Eine fortdauernde Kränkung oder Verfolgung kann man ihrer Natur nach nicht vergessen. Dass ein Opfer seinem Peiniger im Augenblick der Tat vergibt, ist zwar grundsätzlich vorstellbar, liegt jedoch schon deshalb außerhalb des Tagungsthemas, weil nach Vergangenheitsdiskursen gefragt wird. Restaurationen hat es in der Geschichte mehrfach gegeben. Wenn keine Zeitbestimmung hinzugefügt wird, ist in der Regel die Restauration nach dem Zusammenbruch der Herrschaft Napoleons gemeint. Restauration ist allerdings ein unscharfer und mehrdeutiger Begriff. Zunächst kann er sowohl einen Vorgang als auch die Epoche bezeichnen, die durch den Vorgang geprägt wurde. Als Vorgang verstanden, kann das Wort die getreue Wiederherstellung von Zerstörtem, aber auch eine zeitgemäße Erneuerung und Stärkung bedeuten, die mit Anpassung und Neugestaltung verbunden ist. Nur in diesem Sinne konnte die französische Nationalversammlung Ludwig XVI. in der Nachtsitzung des 4. August 1789 als „restaurateur de la liberté française“ feiern,¹ denn die Beschlüsse dieser Nacht legten den Grund für eine ganz neue Rechts- und Sozialordnung, die in dieser Form zuvor in keiner Epoche der Geschichte Frankreichs existiert hatte. Auch im Hinblick auf das Zeitalter des Wiener Kongresses steht der Begriff Restauration für die Wiedergewinnung einer europäischen Gesamtordnung, die das Ancien Régime in vieler Hinsicht weit hinter sich ließ. Wichtiger als die Wiederherstellung vergangener Wirklichkeit im Einzelnen war die dauerhafte Stabili-

* Erstdruck in: Reiner Marcowitz/Werner Paravicini (Hrsg.): Vergeben und Vergessen? Vergangenheitsdiskurse nach Besatzung, Bürgerkrieg und Revolution. München 2009, S. 125–140. 1 Dekret der Nationalversammlung vom 11. August 1789, Art. 17. In: J. M. Roberts (Hrsg.): French Revolution Documents. Bd. 1. Oxford 1966, S. 153.

352 | III Monarchie, Nation, Nationalismus sierung des europäischen Staatensystems im Ganzen. Aus diesem Grunde wurde die im Zeichen der Restauration geschaffene Ordnung auch nicht als etwas Statisches oder als ein einmaliger Wurf verstanden. So legten die Bundesakte von 1815 und die Wiener Schlussakte von 1820 für die künftige Entwicklung des Konstitutionalismus im Bereich des Deutschen Bundes bestimmte Grundsätze fest, und zur Sicherung des inneren und äußeren Friedens in Europa vereinbarten die Großmächte Verfahren, die in Krisenfällen ein gemeinsames Vorgehen ermöglichen sollten. Dieses dynamische Verständnis von Restauration ist nicht nur der eigentliche Grund dafür, dass wir von einem ganzen Zeitalter der Restauration sprechen, sondern erklärt auch, warum der Begriff auf die unterschiedlichsten staatsrechtlichen Gegebenheiten in Europa angewandt werden kann. Frankreich, die Vereinigten Niederlande, das Königreich Polen und von 1818 an auch eine wachsende Zahl von deutschen Mittelstaaten führten im Zeitalter der Restauration Verfassungen ein; dagegen herrschte in Preußen, in Österreich, in Spanien und in den italienischen Staaten überwiegend bürokratischer Absolutismus. Trotz dieser Unterschiede gilt in der nationalen Erinnerung all dieser Länder das Zeitalter, das mit dem Sturz Napoleons einsetzte, als Epoche der Restauration. Restauration konnte offensichtlich beides sein: die Gewährung und die Aufhebung von Verfassungen, Modernität und Reaktion, Reformpolitik und Reformfeindschaft. Italien zerfiel am Vorabend der Abdankung Napoleons in vier Herrschaftszonen.² Ein breiter Gebietsstreifen entlang der Westküste der Apenninenhalbinsel von Piemont bis Latium war seit 1802 schrittweise in das französische Kaiserreich inkorporiert worden. Das im Jahre 1805 durch Umwandlung der bisherigen Repubblica Italiana gegründete Königreich Italien (Regno d’Italia) mit der Hauptstadt Mailand, das sich zuletzt aus der Lombardei, Venetien, Istrien und Dalmatien sowie den Marken zusammensetzte, war eine selbständige staatsrechtliche Einheit, jedoch in Personalunion mit Frankreich verbunden. Das 1806 von französischen Truppen besetzte Königreich Neapel wurde seit 1808 von Napoleons Schwager Murat regiert. Die vierte Zone bildeten die Inseln Sizilien und Sardinien, die Napoleon nicht unter seine Herrschaft hatte bringen können. In Palermo hatte der Bourbone Ferdinand IV. von Neapel, in Cagliari König Viktor Emanuel I. von Sardinien Zuflucht gefunden. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wurde 1814 und 1815 die vormalige Staatenvielfalt wiederhergestellt. Dementsprechend hat Italien nach dem Sturz Napoleons nicht eine, sondern viele Restaurationen erlebt. Am Anfang stand die Rückkehr der vormaligen Fürsten. Von der Rückkehr der Bourbonen nach Frankreich unterschied sich die der italienischen Herrscher

2 Vgl. Alfonso Scirocco: L’Italia del Risorgimento 1800–1871. Bologna 2 1993, S. 14.

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vor allem in zweifacher Hinsicht. Zum einen waren die italienischen Monarchien nicht wie die französische dereinst von einer frei gewählten Nationalvertretung wie dem Konvent gestürzt, sondern durch Eingriff von außen beseitigt worden. Zum andern wurde keiner der italienischen Herrscher wie Ludwig XVIII. auf Beschluss eines nationalen Verfassungsorgans wie dem napoleonischen Senat zurückgerufen; vielmehr kamen sie aus eigenem Antrieb, nachdem die Großmächte ihnen mit dem Sieg über das französische Kaiserreich den Weg freigemacht hatten. Man könnte daher behaupten, dass die Restauration 1814 über das Land hereinbrach, wie achtzehn Jahre zuvor General Bonaparte darüber hereingebrochen war. Aus der Mitte der italienischen Gesellschaft ging keine Bewegung mit dem Ziel einer alternativen und selbstbestimmten Neuordnung des Landes hervor. Das bestätigt die Folgenlosigkeit des Mailänder Aufstands vom 20. April 1814, dem der napoleonische Finanzminister Giuseppe Prina zum Opfer fiel, ebenso wie die vergeblichen Versuche Federico Confalonieris, das Regno d’Italia oder wenigstens die Lombardei mit britischer Unterstützung in eine unabhängige konstitutionelle Monarchie zu verwandeln. Zuvor hatten sich die Pläne von Eugène Beauharnais zerschlagen, die ihm als Vizekönig des Regno von Napoleon übertragene Herrschaft in die neue Zeit hinüberzuretten, und ein Jahr später scheiterte auch der König von Neapel, Joachim Murat, bei dem Versuch, Italien unter seiner Regierung zu einigen. Weder Beauharnais noch Murat hatten es vermocht, die erforderliche Unterstützung im Lande zu mobilisieren. Weder auf gesamtitalienischer noch auf partikularstaatlicher Ebene – bezogen auf die napoleonischen Staatsschöpfungen – kann daher davon die Rede sein, dass die Restauration eine manifeste und von einer nennenswerten Fraktion der Gesellschaft getragene Kundgebung eines auf alternative politische Lösungen gerichteten Nationalwillens überrollt hätte. Italien hatte bereits 1799 im Zuge des zweiten Koalitionskriegs gegen Frankreich eine Restauration erlebt, als die russisch-österreichische Armee unter Führung des Generals Suvorov die seit Bonapartes Eingreifen in Italien entstandenen Jakobinerrepubliken zerstörte. Zum traumatischen Erlebnis wurde insbesondere das Strafgericht, das Ferdinand IV. von Neapel mit Unterstützung des britischen Admirals Nelson und unter Bruch einer Kapitulationsvereinbarung damals über die Träger der Parthenopäischen Republik verhängte. 119 Patrioten, mit einem weit überproportionalen Anteil der Elite des Landes, wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet.³ In der nationalen Erinnerung der Italiener lebt dieses Ereignis bis heute fort. Mit der französischen Republik von 1792 lassen sich die italienischen Jakobinerrepubliken allerdings nicht vergleichen. Sie verdankten ihre Ent-

3 Giuseppe Galasso: Storia del Regno di Napoli. Bd. 4: Il Mezzogiorno borbonico e napoleonico (1734–1815). Turin 2007, S. 923–932.

354 | III Monarchie, Nation, Nationalismus stehung allein dem Schutz der französischen Armeen und wurden lediglich von einer kleinen, vor allem bürgerlichen und intellektuellen Oberschicht getragen. Da die italienischen Restaurationen von 1814 und 1815 weder wie 1799 Republiken beseitigten noch wie die französische Restauration von 1814 mit der Gewährung von Verfassungen verbunden waren, handelte es sich im Kern um die Ersetzung der napoleonischen Militärdiktatur durch den Absolutismus der vormaligen Herren. Der neue Absolutismus war jedoch nicht mehr der alte. Wie der piemontesische Staatsmann und Schriftsteller Massimo d’Azeglio in seinen Memoiren berichtet, verstanden das am Anfang nur die wenigsten. Auf die Nachricht vom Sturz Napoleons habe sich unter den Menschen in seiner piemontesischen Heimat zunächst große Erleichterung darüber breit gemacht, dass Napoleon nicht länger ihr „Herr“ sei und dass sie „wieder frei und unabhängig würden“; d’Azeglio fuhr fort: „Wer Turin an diesem Tag nicht erlebt hat, der weiß nicht, was bei einem Volke Freude heißt, die sich bis zum Delirium steigert“.⁴ Für die Mehrheit der Bürger seien „die Restaurationen [. . . ] eine Rückkehr zum Leben, eine Zeit zum Ausruhen, ein Grund des Glücksgefühls und die Befreiung von einer drückenden und verhassten Tyrannis“ gewesen.⁵ Im Überschwang ihrer Freude hätten sie zunächst nicht durchschaut, dass in Wirklichkeit die Kontinuität der Unfreiheit das Hauptkennzeichen der Restauration gewesen sei. Napoleon habe den zurückkehrenden Fürsten nämlich ein Instrumentarium effektiver Machtausübung hinterlassen, das dem Absolutismus des 18. Jahrhunderts in vergleichbarer Perfektion nicht entfernt zur Verfügung gestanden habe, nämlich „Polizei und Bürokratie“ und damit „die einfallsreichsten Maschinen und Instrumente, die der Despotismus jemals ersonnen habe, seit er die Menschheit beherrsche“.⁶ Auf die damit gegebenen Möglichkeiten hätten die restaurierten Herren nicht verzichten wollen und daher den napoleonischen Despotismus aufrechterhalten. Vervielfacht und „im Gewande eines Jesuiten“ habe Napoleon in Italien weiterregiert.⁷

4 Massimo d’Azeglio: I mei ricordi. Hrsg. von Arturo Pompeati. Turin 1958 (Nachdruck 1979), S. 181: „Ma finalmente venne pure quel giorno benedetto della gran nuova, che Napoleone non era più nostro padrone, e che eravamo o stavamo per tornar liberi ed indipendenti! Chi non ha veduto Torino in quel giorno, non sa che cosa sia l’allegrezza d’un popolo portata al delirio“. 5 Ebd., S. 278: „nell’opinione della maggiorità, che per legge di natura sono composte sempre de’ meno avveduti, le restaurazioni erano state un ritorno alla vita, un riposo, una felicità, una liberazione d’una tirannia grave ed odiata“. 6 Ebd., S. 190: „[Napoleone] lasciava all’Europa in regalo, per sua memoria, le macchine e gl’istrumenti più ingegnosi che abbia mai saputo trovare il despotismo, da quando cominciò ad infierire sulla specie umana: Polizia e Burocrazia“. 7 Ebd.: „I Principi, come i ministri reduci dagli esigli, trovarono comodo di accettare l’eredità di Napoleone con benefizio d’inventario: tenersi la polizia, la burocrazia, più, le imposte, gli eserciti fuor di proporzione, e via via; ma il buon ordine giudiciario ed amministrativo, l’impulso alle sci-

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Das kann nicht überraschen, wenn man bedenkt, dass viele europäische Staaten im Laufe des 18. Jahrhunderts in einen dynamischen Prozess der Erneuerung eingetreten waren, lange bevor sie von der Revolution und den napoleonischen Reformen erfasst wurden. Als die österreichischen Truppen im Frühjahr 1814 in die Lombardei einzogen, mussten sie feststellen, dass Napoleon mit seinem Zentralismus und der Beseitigung adliger Sonderrechte in dieser alten habsburgischen Provinz nur vollendet hatte, was Maria Theresia und besonders Joseph II. einst begonnen hatten.⁸ Insofern hatte Napoleon dem Land keine prinzipiell fremdartigen und schon gar keine revolutionären Institutionen aufgezwungen, sondern lediglich die von der Donaumonarchie im ureigensten Interesse seit langem angebahnte Modernisierung des Staates vorangetrieben. Dass Restauration im Sinne der Rückkehr zu den Verhältnissen, die vor dem Eingreifen Napoleons in Italien im Jahre 1796 geherrscht hatten, unter diesen Umständen keine ernsthafte Option sein konnte, liegt auf der Hand. Dementsprechend machte die anfängliche Euphorie, die d’Azeglio schilderte, später der Ernüchterung Platz. Doch nicht nur die innenpolitische Neuordnung in den einzelnen Staaten gab alsbald vielfältigen Anlass zur Unzufriedenheit. Auch die äußere Neuordnung Italiens durch die Großmächte stieß ausgerechnet an denjenigen drei Stellen auf Kritik, an denen die Restaurationspolitik von der Wiederherstellung der traditionellen Staatengliederung abgesehen hatte: in Venedig, in Genua und auf Sizilien. Weder Venedig noch Genua erlangten ihre Unabhängigkeit und schon gar nicht ihren Status als Republiken wieder. Aufgrund des Friedens von Campo Formio von 1797 war Venedig bereits acht Jahre lang Bestandteil der Habsburgermonarchie gewesen, bis es nach dem dritten Koalitionskrieg 1805 mit dem Regno d’Italia vereinigt wurde. Jetzt wurde es erneut dem Kaisertum Österreich zugeschlagen und mit der Lombardei zu einem historisch neuen Gebilde, dem Lombardo-Venezianischen Königreich (Regno Lombardo-Veneto) zusammengefügt, das die österreichische Hegemonie über die Halbinsel sichern sollte.

enze ed al merito, l’uguaglianza delle classi, il miglioramento e l’aumento delle comunicazioni, la libertà di coscienza e tant’altre ottime parti del governo del gran guerriero se le gettarono dietro le spalle. In Italia, in ispecie, lo stato politico, il despotismo nuovo, poté definirsi: Napoleone vestito da gesuita“. 8 Vgl. hierzu Marco Meriggi: Amministrazione e classi sociali nel Lombardo-Veneto (1814–1848). Bologna 1983, S. 31, wo die Eindrücke des provisorischen Gouverneurs von Mailand, des Grafen Bellegarde, von der josephinisch-napoleonischen Kontinuität in der Verwaltung mit den Worten umschrieben werden: „la rivoluzione amministrativa di Napoleone [. . . ] non è che il naturale proseguimento delle tendenze giuseppine“.

356 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Genua war nach der Eroberung der ligurischen Küste durch britische Truppen im Frühjahr 1814 zunächst durch den britischen General Lord William Cavendish Bentinck vorläufig wieder als unabhängige Republik konstituiert worden. Trotz der diplomatischen Bemühungen des Marchese Agostino Pareto bei den in Paris versammelten Monarchen im Mai 1814 und des Marchese Antonio Brignole Sale auf dem Wiener Kongress wurde Genua am 12. November 1814 dem Königreich Sardinien inkorporiert. Den Einwand der beiden Diplomaten, dass zwischen der piemontesischen Militärmonarchie auf aristokratisch-bäuerlicher Grundlage, einem reinen „Stato continentale“, und der handeltreibenden Republik an der Küste, einem „Stato puramente marittimo“, in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht der größte denkbare Gegensatz bestehe, ließen die Großmächte nicht gelten.⁹ Zweck des Zusammenschlusses war wie bei der Gründung des Königreichs der Vereinigten Niederlande und der Verlegung Preußens und Bayerns an den Rhein im Zuge der territorialen Neuordnung Deutschlands die Aufrichtung einer territorialen Barriere gegenüber dem auch nach der Verbannung Napoleons weiterhin als gefährlich eingestuften Frankreich. Als Agostino Pareto vom britischen Außenminister Castlereagh und Kaiser Franz I. von Österreich vorgehalten wurde, dass die Staatsform der Republik überholt sei, schlug der Genuese vergeblich die Umwandlung seiner Republik in ein Fürstentum oder ersatzweise die Eingliederung in die Lombardei vor, sofern diese die Unabhängigkeit erlange.¹⁰ Sizilien schließlich war mit Neapel in Personalunion verbunden gewesen. Das Königspaar, Ferdinand IV. von Bourbon und Maria Carolina von Habsburg, hatte sich nach der Besetzung des Königreichs Neapel durch französische Truppen im Jahre 1806 unter britischem Schutz auf der Insel halten können. Nachdem Ferdinand IV. 1815 jedoch nach Neapel zurückgekehrt war, verwandelte er die Personalunion unter dem Namen eines Königreichs beider Sizilien (Regno delle due Sicilie) in eine Realunion. Sizilien wurde fortan von Neapel aus regiert, und da Ferdinand die von den Franzosen dort geschaffenen Institutionen im Wesentlichen aufrechterhielt, wurden im Interesse der Vereinheitlichung der Verwaltung und des Rechts die napoleonischen Reformen einschließlich des Code Napoléon in den folgenden Jahren zum großen Teil nachträglich auf Sizilien eingeführt. Die unter dem Patronat von Lord Bentinck im Jahre 1812 in Sizilien

9 Agostino Pareto ai membri del Governo provvisorio. Paris, 12. 5. 1814. In: Nicomede Bianchi: Storia documentata della diplomazia europea in Italia dall’anno 1814 all’anno 1861. Bd. 1. Turin 1865, S. 345. 10 Agostino Pareto ai membri del Governo provvisorio. Paris, 20. 5. 1814. In: ebd., S. 350–352. Kaiser Franz soll erklärt haben: „Vous voyez que les républiques ne sont plus d’usage“; vgl. Agostino Pareto ai membri del Governo provvisorio. Paris, 28. 5. 1814. In: ebd., S. 353.

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geschaffene Verfassung nach britischem Vorbild wurde außer Kraft gesetzte.¹¹ Das war das genaue Gegenteil von Restauration im Sinne der Wiederherstellung verletzten Rechts. Die Wiedererlangung der Unabhängigkeit von Neapel blieb von nun an bis zur Zerstörung der Bourbonenmonarchie durch Garibaldi und seine Freischärler im Jahre 1860 das vorrangige Ziel der Sizilianer. Aus Sicht der Betroffenen handelte es sich in allen drei Fällen – in Venedig, in Genua und auf Sizilien – um ein Unrecht. Die Neuordnung rief daher an allen drei Stellen das Verlangen nach Revision hervor. Die Regierung in Turin behielt in den Revolutionen von 1821 und 1848 das Verhalten der Genuesen stets sorgfältig im Auge, um Separationsbestrebungen rechtzeitig entgegenwirken zu können. Sizilien versuchte sowohl in der Revolution von 1820 als auch durch eine Erhebung von 1837 sowie schließlich in der Revolution von 1848, die Unabhängigkeit von Neapel wiederzugewinnen. Höhepunkte erreichten diese Bestrebungen am 13. April 1848, als das sizilianische Parlament König Ferdinand II. von Bourbon und seine Dynastie absetzte, und am 11. Juni desselben Jahres, als es stattdessen den Prinzen Ferdinand von Savoyen unter dem Namen Karl Amadeus auf den Thron von Palermo berief. Während der Verlust der Selbständigkeit Genuas und Siziliens über den Kreis der Bewohner dieser Provinzen hinaus nur wenig beklagt wurde, berührte die erneute Eingliederung Venedigs in die Habsburgermonarchie in den Jahrzehnten nach dem Wiener Kongress den Prozess der italienischen Nationsbildung und wurde daher alsbald zu einer Frage von gesamtitalienischer Bedeutung. Das primäre Ziel der Venezianer selbst blieb allerdings noch lange die Wiedererlangung der partikularstaatlichen Unabhängigkeit, und zwar nicht nur im Verhältnis zu Österreich, sondern auch im Verhältnis zur Lombardei. Entgegen der Absicht Karl Alberts von Sardinien, als ersten Schritt zur Schaffung eines italienischen Nationalstaats ganz Norditalien unter seinem Szepter zu einigen, rief im März 1848 nach der Vertreibung der österreichischen Truppen Daniele Manin in Venedig zunächst die Republik aus. Noch in der Revolution von 1848 kämpften die italienischen Gegner Österreichs also für entgegengesetzte Ziele: nationale Einheit auf der einen, partikularstaatliche Unabhängigkeit auf der anderen Seite.¹² Vergeben und Vergessen wären im Hinblick auf die österreichische Herrschaft

11 Rosario Romeo: Il Risorgimento in Sicilia. Bari 1970, S. 152. 12 Zum Gegensatz von nationalen und partikularstaatlichen Zielsetzungen in Deutschland vgl. Volker Sellin: Nationalbewusstsein und Partikularismus in Deutschland im 19. Jahrhundert. In: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1988, S. 241–264 (in diesem Band S. 287–304); italienische Fassung: Coscienza nazionale e particolarismo nella Germania nel XIX secolo. In: Rivista Storica Italiana 113 (2001), S. 497–518.

358 | III Monarchie, Nation, Nationalismus über die Lombardei und Venetien nur unter der Bedingung denkbar gewesen, dass die Venezianer ihren Anspruch auf Unabhängigkeit und die Italiener insgesamt ihre Hoffnungen auf nationale Einheit begraben hätten. Im Unterschied zum Jahre 1848 hatte die Nationalbewegung in Italien – nicht anders als in Deutschland – beim Sturz Napoleons noch ganz in den Anfängen gestanden. Es wäre daher ein Anachronismus, wollte man behaupten, dass die Restauration die nationalen Bestrebungen der Italiener durchkreuzt habe. Dass die Restauration jedoch den damaligen Status quo zementierte und Italien sowohl innerstaatlich als auch national zum politischen Immobilismus verdammte, wurde erst im Laufe der Zeit erkennbar. Im Übrigen muss – wie schon in den Fällen Genua, Sizilien und Venedig – die Frage, wodurch und in welchem Maße die Restauration in Italien Gräben aufriss oder gewachsene Ansprüche verletzte, von Staat zu Staat unterschiedlich beantwortet werden. Ausgerechnet Metternich machte die Wiedereinsetzung Ferdinands IV. von Neapel davon abhängig, dass dieser eine Reaktion nach Art der blutigen Restauration von 1799 vertraglich ausschloss. So sollte der Verkauf der Nationalgüter anerkannt, die Staatsschuld garantiert und niemand wegen seines Verhaltens während des Franzosenjahrzehnts zur Rechenschaft gezogen werden; jedem Bürger sollte der Zugang zu allen zivilen und militärischen Ämtern offenstehen.¹³ Die in vielen italienischen Staaten von den zurückkehrenden Fürsten unternommenen Versuche, im Zuge einer Art von feudalständischer Reaktion die ehemaligen, zumeist aus dem Adel stammenden Beamten wieder einzusetzen, besonders ausgeprägt in Piemont nach der Rückkehr Viktor Emanuels I., scheiterten bereits nach wenigen Jahren, weil man die effiziente napoleonische Verwaltungsorganisation schon aus fiskalischen Gründen nicht wieder aufheben konnte, die vornapoleonischen Beamten den damit verbundenen Anforderungen jedoch nicht gewachsen waren. Ein bezeichnendes Beispiel für diese Entwicklung ist die massive Wiedereinsetzung vieler zunächst entlassener Beamter im ehemaligen Regno d’Italia. Nach Berechnungen von Marco Meriggi sank der Anteil der Adelspersonen in den staatlichen Spitzenpositionen der Lombardei von 81 % im Jahre 1816 auf 67 % im Jahre 1822 und auf 28 % im Jahre 1838. Umgekehrt stieg der Anteil der unter Napoleon geschulten Beamten von 32 % im Jahre 1816 auf 61 % im Jahre 1822 und auf 64 % im Jahre 1838.¹⁴ Dasselbe Bild bietet das Königreich Sardinien.

13 Vgl. Alliance entre l’empereur d’Autriche et Ferdinand IV roi des Deux-Siciles, 29. 4. 1815, Art. II. In: Recueil des traités, conventions et actes diplomatiques concernant l’Autriche et l’Italie. Paris 1859, S. 173. Vgl. dazu: Walter Maturi: Il congresso di Vienna e la restaurazione dei Borboni a Napoli. Teil 2. In: Rivista Storica Italiana. Serie V. Bd. 3. Heft 4 (1939), S. 52–54. 14 Marco Meriggi: Il Regno Lombardo-Veneto. Turin 1987, S. 83.

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In der Diplomatie wurden die Interessen dieses Staates nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit sogar von Anfang an von Persönlichkeiten wahrgenommen, die während der Zugehörigkeit Piemonts zum französischen Kaiserreich bereits hohe Ämter bekleidet hatten. Auf ihre Kenntnisse und ihre Erfahrung konnte der König nicht verzichten. So wurde Sardinien auf dem Wiener Kongress durch den Marchese Asinari di San Marzano vertreten, der unter Napoleon Mitglied des Senats und französischer Gesandter in Berlin gewesen war. Noch im Jahre 1814 wurde San Marzano zum Kriegsminister und 1817 zum Außenminister berufen, während Prospero Balbo, der im Kaiserreich Rektor der Universität Turin gewesen war, im September 1819 das Amt des Innenministers übernahm.¹⁵ Im Kirchenstaat wurden die oberen Chargen der Verwaltung allerdings sogleich in die Hände von Geistlichen zurückgelegt. Kontinuitäten gegenüber der napoleonischen Herrschaft zeigen sich auch auf dem Gebiet der Militärpolitik: Die verhasste Konskription wurde in der Lombardei und in Venetien 1819, in Piemont 1816 und in Neapel 1818 wieder eingeführt.¹⁶ Bei allen Unterschieden im Detail halten die Erinnerungen Massimo d’Azeglios also der Überprüfung stand. Vor allem wegen der Konskription und des rigorosen Fiskalismus war das napoleonische Regime als drückend empfunden worden. Die anfängliche Hoffnung auf Verringerung der Belastungen zerschlug sich jedoch nicht nur im Bereich der Fiskal- und Militärpolitik, sondern auch im Hinblick auf die wirtschaftlichen Spielräume der Untertanen. Die Ursachen reichten vom Einströmen englischer Waren nach Wegfall der Kontinentalsperre über die europäische Wirtschaftskrise von 1816 und 1817, den Verfall der Agrarpreise nach 1818 und die Verlegung der Handelswege in den von Österreich beherrschten Gebieten bis zu den Kosten der österreichischen Okkupationsarmee in Neapel. Infolgedessen wuchs schon bald die Unzufriedenheit mit dem politischen Kurs der durch die Restauration geschaffenen Regime. Im Kirchenstaat wurde bereits 1817 ein Aufstandsversuch im letzten Augenblick vereitelt; 1820 brachen in Neapel und Sizilien und 1821 in Piemont Revolutionen aus, während eine Verschwörung der Federati lombardi von der österreichischen Polizei ebenfalls vorzeitig aufgedeckt wurde. In diesen wesentlich von der Carboneria und anderen Geheimgesellschaften geschürten Revolutionen kam die Enttäuschung darüber zum Ausbruch, dass auf die Zwangsherrschaft Napoleons nicht, wie erhofft, ein Zeitalter der Liberalität, der politischen Partizipation und der Prosperität gefolgt war. Die Revolutionen

15 Scirocco: Italia (wie Anm. 2), S. 65; Rosario Romeo: Dal Piemonte sabaudo all’Italia liberale. Turin 2 1964, S. 12; Paola Notario/Narciso Nada: Il Piemonte sabaudo. Dal periodo napoleonico al Risorgimento. Turin 1993, S. 125, 137, 131. 16 Meriggi: Regno (wie Anm. 14), S. 205; Scirocco: Italia (wie Anm. 2), S. 61.

360 | III Monarchie, Nation, Nationalismus stellten jedoch nicht die sechs Jahre zuvor erfolgte Restauration der Monarchien als solche, sondern deren seither verfolgte Politik in Frage. Fragt man nach Behandlung und Stellenwert der Restauration in der politischen Debatte der Epoche nach 1814, so stößt man dementsprechend weit weniger auf einen Vergangenheits- als vielmehr auf einen Gegenwarts-, ja Zukunftsdiskurs. In der Entwicklung dieses Diskurses bildeten die Revolutionen von 1820 und 1821 in Neapel und Piemont einen scharfen Einschnitt. Erst die Niederschlagung dieser Revolutionen durch österreichische Truppen machte offenbar, dass der für die künftige nationale und demokratische Entwicklung Italiens folgenreichste Aspekt der auf dem Wiener Kongress geschaffenen Neuordnung nicht so sehr die Rückkehr der traditionellen Monarchien und die durch die Instrumentalisierung der bürokratischen Reformen Napoleons bewirkte Verschärfung des Absolutismus waren, sondern vielmehr die Errichtung der österreichischen Hegemonie über die Halbinsel. Die österreichische Intervention des Jahres 1821 wurde deshalb zu einem Schlüsselerlebnis der italienischen Freiheitsbewegung. Sowohl der König von Neapel als auch der König von Sardinien waren zunächst vor der Revolution zurückgewichen und hatten Verfassungen – in beiden Fällen die spanische Verfassung von 1812 – konzediert, und in Neapel hatte das Parlament seine Arbeit bereits aufgenommen. Österreich erzwang hier wie dort die Aufhebung der Verfassung und die Wiederherstellung des Absolutismus. Österreichische Truppen blieben in der Folgezeit auf Jahre im Land, um ein erneutes Aufflammen der Revolution zu verhindern. Erst die Erfahrungen des Jahres 1821 machten jedermann klar, dass die Restaurationen, die nach dem Zusammenbruch Napoleons über Italien hinweggegangen waren, einen Teil der europäischen Neuordnung bildeten, die gegen den Willen der Großmächte nicht verändert werden konnte. Die Frage nach der Restauration in Italien muss daher doppelt gestellt werden: auf italienischer und auf europäischer Ebene. Alles bisher Gesagte bezog sich auf die Vorgänge in Italien, und das heißt: auf Kontinuität und Veränderung in den einzelnen italienischen Staaten. In übergeordneter Perspektive dagegen gehören zur Restauration in Italien nicht nur die vielfältigen italienischen Restaurationen, sondern in erweiterter Dimension auch die europäische Restauration in ihren Rückwirkungen auf Italien. Im Rahmen der europäischen Neuordnung war der italienischen Staatenwelt eine ganz bestimmte Funktion zugewiesen worden: Italien sollte von Süden her die österreichische Hegemonialstellung in Mitteleuropa sichern, die im Zusammenspiel mit der Seemacht Großbritannien ihrerseits dazu dienen sollte, die kontinentalen Flügelmächte Russland und Frankreich in Schach zu halten. Nach Überzeugung des österreichischen Staatskanzlers Metternich konnte Italien diese Funktion allerdings nur so lange erfüllen, wie es gegen die Einflüsse der Revolution immun blieb. Das aber konnte auf Dauer nur gelingen, wenn Öster-

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reich seine Kontrolle über die Halbinsel behauptete. Bereits am 7. September 1814 hatte Metternich dem päpstlichen Kardinalstaatssekretär Ercole Consalvi erklärt, Österreich sehe sich gegen seinen Willen zum Wiedererwerb der Lombardei gezwungen, weil es im Interesse der Ruhe Europas unumgänglich sei, in Mailand „le jacobinisme italien et le royaume unique d’Italie“ auszurotten. Diese Stadt sei nämlich „der Mittelpunkt der bekannten beiden großen Projekte [. . . ], die darauf abzielten, aus Italien einen einzigen Staat zu machen und es dabei zur Nation zu erheben“.¹⁷ Noch vor dem Zusammentritt des Wiener Kongresses hatte Metternich somit klar gemacht, dass Österreich seine künftige Stellung in Italien in erster Linie dazu nutzen wolle, um dort jegliche auf Verfassung und nationale Einheit gerichtete politische Bewegung zu unterdrücken. Aus der Erkenntnis, dass der Schlüssel zur demokratischen Entwicklung Italiens bei der Großmacht Österreich liege, zog eine wachsende Zahl von politischen Akteuren den Schluss, dass die nach dem Sturz Napoleons entstandene und durch den Wiener Kongress sanktionierte politische Ordnung Italiens nur im Rahmen eines gesamteuropäischen Revirements verändert werden könne. Wenn das Revirement auf revolutionärem Weg versucht werden sollte, dann durfte es nicht wie 1820 und 1821 bei isolierten Erhebungen in einzelnen Staaten bleiben. Wenigstens musste ganz Italien sich erheben; aussichtsreicher noch erschienen Revolutionen, die ganz Europa erfassten. In diese Richtung bewegten sich die Gedanken des Genuesen Giuseppe Mazzini, der mit der Gründung des Giovine Italia 1831 und des Giovine Europa 1834 genau diese beiden Perspektiven verfolgte. In einem offenen Brief forderte er König Karl Albert von Sardinien bei dessen Thronbesteigung im Jahre 1831 auf, seinen Hals nicht länger unter den „deutschen Knüppel“ (bastone tedesco) zu beugen und Österreich stattdessen im Namen Italiens den Handschuh hinzuwerfen.¹⁸ Einem solchen Akt würden sich alle freiheitsliebenden Italiener in solcher Zahl spontan anschließen, dass Österreich gezwungen wäre, sich aus Italien zurückzuziehen. Das verfassungspolitische Ziel Mazzinis war allerdings die unitarische Republik und nicht eine Form der Monarchie. Die Verschwörergruppe unter Führung von Ciro Menotti suchte im Februar 1831 die durch die Julirevolution in Frankreich und die gleichzeitigen Revolutio-

17 Consalvi an Pacca. Wien, 8. 9. 1814. In: Alessandro Roveri (Hrsg.): La missione Consalvi e il congresso di Vienna. Bd. 1. Rom 1970, S. 422: „essendo quella città il centro di questi due grandi piani, tendenti a fare della Italia un solo Stato, e richiamarla alla qualità di nazione“. 18 Giuseppe Mazzini: A Carlo Alberto di Savoia. Un Italiano (1831). In: Ders.: Opere. Hrsg. von Luigi Salvatorelli. Bd. 2: Scritti. Mailand/Rom 1939, S. 139, S. 141: „Cacciate il guanto all’Austriaco, e il nome d’Italia sul campo: quel vecchio nome d’Italia farà prodigi. Fate un appello a quanto di generoso, e di grande nella nostra contrada“.

362 | III Monarchie, Nation, Nationalismus nen in Belgien und Polen entstandene europäische Konjunktur zu nutzen. Der von ihr in den Herzogtümern Mittelitaliens, Modena, Reggio und Parma, und in weiten Teilen des Kirchenstaats angezettelte Aufstand wurde allerdings schon nach wenigen Wochen wiederum durch österreichische Truppen niedergeschlagen. Die europäische Revolution von 1848 und die Krise, in die sie den Vielvölkerstaat stürzte, bot Anlass für einen weiteren Versuch, die europäische Ordnung von 1815 zu überwinden. Erreicht wurde das Ziel Ende der fünfziger Jahre schließlich in einer Kombination von diplomatischer Aktion, Staatenkrieg und revolutionärem Volkskrieg, die durch die Namen Cavour und Garibaldi gekennzeichnet ist. Bis dahin hatten die oppositionellen Bewegungen in Italien eine tiefgreifende Entwicklung durchgemacht. Aus den wiederholten österreichischen Interventionen war, wie dargelegt, zunächst die Lehre gezogen worden, dass grundlegende Reformen in den einzelnen Staaten nicht durchgesetzt werden könnten, wenn Italien als Ganzes nicht zuvor die äußere Unabhängigkeit erlangt hätte. Auf die Entmachtung Österreichs zielte dementsprechend von nun an die Stoßrichtung der sich entfaltenden Freiheitsbewegung, und weil dieses Ziel von keinem einzelnen Staat im Alleingang erreicht werden konnte, wurde aus der Freiheitsbewegung alsbald eine Bewegung, die neben der Freiheit zugleich die nationale Einheit Italiens auf ihre Fahnen schrieb. Nationale Einheit und äußere Unabhängigkeit erschienen als Vorbedingung verfassungspolitischer Freiheit. Da Österreich ein multinationaler Staat war, strebte es um seiner Selbsterhaltung und um Erhaltung der europäischen Ordnung willen, die es mittrug und von der es getragen wurde, danach, nicht nur in Italien, sondern in seinem gesamten Einflussbereich alle nationalen und demokratischen Bestrebungen zu unterdrücken. In Deutschland bildeten in der Epoche zwischen dem Wiener Kongress und der Revolution von 1848 der Deutsche Bund und die Heilige Allianz die wesentlichen Instrumente der österreichischen Hegemonie. Da in Italien keine dem Deutschen Bund vergleichbare Institution geschaffen worden war, bestanden die Instrumente der österreichischen Hegemonie dort vor allem in der Herrschaft über die großen und wirtschaftlich fortgeschrittenen Provinzen Lombardei und Venetien. Viktor Emanuel I. von Sardinien beklagte sich schon im Jahre 1814 über die Vormachtstellung, die Österreich dadurch innerhalb der italienischen Staatenwelt gewann, eine Vormachtstellung, die umso gefährlicher erschien, als Österreich die beiden Provinzen straff von Wien aus regierte, während die Lombardei im 18. Jahrhundert ein hohes Maß an Autonomie besessen hatte.¹⁹ Weitere Trümpfe in der Hand Österreichs waren der Einfluss, den es als katholische Macht auf

19 Nicomede Bianchi: Storia della politica austriaca rispetto ai Sovrani ed ai governi italiani dall’anno 1791 al maggio del 1857. Savona 1857, S. 26 f.

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den Kirchenstaat ausübte, die dynastische Verbindung des Hauses Habsburg mit Modena, Parma und der Toskana sowie die Vereinbarungen, durch die der österreichische Staatskanzler Metternich den König beider Sizilien, Ferdinand I., am 12. Juni 1815 verpflichtet hatte, keine institutionelle Veränderung in seinen Staaten zuzugestehen, „qui ne pourrait se concilier, soit avec les anciennes institutions monarchiques, soit avec les principes adoptés par S. M. Impériale et Royale Apostolique pour le régime intérieur de ses provinces italiennes“.²⁰ Da nicht zu erwarten war, dass Österreich sich in absehbarer Zeit zur Umwandlung seiner italienischen Provinzen in Verfassungsstaaten entschließen würde, hatte Metternich damit de facto auch den Verzicht Ferdinands auf das Zugeständnis einer Verfassung erwirkt. Bekanntlich bot der Vertrag vom Juni 1815 jenseits aller Vereinbarungen des Europäischen Konzerts auf den Kongressen in Troppau und Laibach die rechtliche Handhabe für die österreichische Intervention in Neapel im Jahre 1821. Vorrangige Ziele der sich entfaltenden Freiheits- und Einheitsbewegung (Risorgimento) waren dementsprechend die Beseitigung der österreichischen Herrschaft über die Lombardei und Venetien und die Brechung des bestimmenden Einflusses Österreichs auf die innenpolitische Entwicklung im übrigen Italien. Als Vincenzo Gioberti im Jahre 1843 in dem Buch „Del primato morale e civile degli italiani“ zur Herstellung der nationalen Einheit Italiens einen Bund der bestehenden Staaten unter Vorsitz des Papstes vorschlug, entgegnete Cesare Balbo 1844 in seiner Schrift „Delle speranze d’Italia“, die Gründung eines Staatenbunds sei unmöglich, „solange ein großer Teil Italiens zu einer auswärtigen Macht gehöre“.²¹ Dementsprechend stellte er Überlegungen darüber an, wie Österreich zur Preisgabe der beiden Provinzen veranlasst werden könne. Militärische Mittel schloss er angesichts der bestehenden Machtverhältnisse aus. Stattdessen schlug er einen Gebietstausch vor. Wenn demnächst das Osmanische Reich zusammenbreche, werde Großbritannien darauf dringen, dass Österreich einen Teil des Balkans in Besitz nehme, damit nicht allein Russland sich dort festsetze. Dem Gedanken des europäischen Gleichgewichts würde es allerdings widersprechen, wenn Österreich auf dem Balkan expandierte, ohne an anderer Stelle auf einen Teil seines Staatsgebiets zu verzichten. Im Zuge der erforderlichen territorialen Umschichtungen bestehe daher in einer solchen Konstellation die

20 Traité d’alliance défensive entre l’empereur d’Autriche et le roi des Deux-Siciles, signé à Vienne, 12. 6. 1815, article secret et séparé II. In: Recueil (wie Anm. 13), S. 203. Vgl. dazu Maturi: Congresso (wie Anm. 13), S. 58–60. 21 Cesare Balbo: Delle speranze d’Italia. Paris 1844, S. 38: „La confederazione è impossibile finchè una gran parte d’Italia è provincia straniera“.

364 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Chance, Österreich mit Hilfe der Großmächte einvernehmlich zur Preisgabe der Lombardei und Venetiens zu bewegen. Balbo betrachtete die italienischen Probleme von vornherein im Horizont der europäischen Gesamtordnung und suchte nach Möglichkeiten, sie im Einklang mit dieser Ordnung zu lösen. Dass eine Liberalisierung der politischen Verhältnisse in den italienischen Staaten nicht zu erhoffen sei, solange Österreich die Hegemonie über die Halbinsel ausübe, war zur allgemeinen Überzeugung geworden. Zu den Schriften, die diese Überzeugung in den vierziger Jahren zum Ausdruck brachten, gehört die Abhandlung von Massimo d’Azeglio über die jüngsten Vorfälle in der Romagna „Degli ultimi casi di Romagna“ von 1846. Im September 1845 hatte sich in Rimini, das zum Kirchenstaat gehörte, ein Aufstand ereignet, der von päpstlichen Truppen niedergeschlagen wurde. D’Azeglio stellte den Vorgang gleich zu Beginn seiner Ausführungen in den Zusammenhang des Problems der italienischen Unabhängigkeit. Auch wenn der Aufstand selbst keine größere Wirkung erlangt habe, so hätten die Vorfälle doch die ungelöste Frage der italienischen Unabhängigkeit erneut ins Bewusstsein gerufen, weil er zum wiederholten Mal gezeigt habe, dass sich die freiheitsfeindlichen Regime nur halten könnten, solange Österreich Italien beherrsche.²² In einem Rückblick auf das italienische Risorgimento beschrieb Vincenzo Gioberti im Jahre 1851 die Lage am Vorabend der Revolution von 1848 mit den Worten: „Europa war ruhig; niemand achtete auf uns, außer dem Barbaren, der uns unterdrückt“ (damit ist Österreich gemeint); „niemand kümmerte sich um unser Elend und um unsere Schmerzen. Österreich hatte die ganze Halbinsel in seiner Hand, teils in unmittelbarer Herrschaft, teils durch den Arm unserer Fürsten, welche wieder die alte Funktion von Reichsvasallen und Reichsvikaren angenommen hatten.“²³ Die Schrift „Del rinnovamento civile d’Italia“, aus der das Zitat stammt, ist der Frage gewidmet, welche Aussichten und Strategien der Freiheits- und Einheitsbewegung nach dem Scheitern der Revolution geblieben seien. Auch Gioberti erhoffte sich die Lösung von einer Erneuerung im europäischen Maßstab. Er setzte auf das Wirken der „modernen Revolution“ in Europa, die sich früher oder später überall durchsetzen müsse. Von ihrer Durchsetzung erwartete er die Erfüllung von drei zentralen Bedürfnissen der gegenwärtigen europäischen Gesellschaften: „der Herrschaft der Vernunft“ durch politische Partizipation, „der nationalen Selbstbestimmung und der Emanzipation der

22 Massimo d’Azeglio: Degli ultimi casi di Romagna. Lugano 1846, S. 4. 23 Vincenzo Gioberti: Del rinnovamento civile d’Italia. Hrsg. von Fausto Nicolini. Bd. 1. Bari 1911, S. 25.

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Massen“.²⁴ Jetzt, nach der gescheiterten Revolution von 1848, sprach Gioberti offen aus, dass die italienische Frage eine europäische Frage sei. So machte er für die gegenwärtige Zerrüttung der politischen Verhältnisse in Italien den Wiener Kongress und die durch ihn bewirkte Neuordnung Europas verantwortlich. Der Kongress habe versucht, dem säkularen und unaufhaltsamen Voranschreiten der modernen Revolution künstlich Einhalt zu gebieten. In dieser Absicht habe er die Herrschaft der Vernunft (la maggioranza del pensiero) beseitigt und stattdessen „das Monopol der öffentlichen Angelegenheiten den Unfähigen und Mittelmäßigen“ übertragen, weil er das Nationalprinzip missachtet und die Staaten nach Grundsätzen gegliedert habe, die dem nationalen Gedanken schadeten, und weil er, statt die Massen zu emanzipieren, deren Lage noch verschlimmert habe.²⁵ Trotz dieser Kritik am Wiener Kongress handelt es sich bei Giobertis Schrift nicht um einen Vergangenheitsdiskurs. Der historische Rückblick diente dem Autor vielmehr dazu, seine politischen Empfehlungen in eine geschichtsphilosophische Perspektive zu rücken und ihnen dadurch ideologische Stoßkraft zu verleihen. Die Feindschaft gegen Österreich wurde zum Signum der italienischen Nationalbewegung. Camillo di Cavour sprach in einem Artikel der Zeitschrift „Il Risorgimento“ am 28. März 1848 vom „verhassten österreichischen Joch“ (l’odiato giogo dell’Austria), dem Italien unterworfen sei.²⁶ Verstärkt wurde die Empörung gegen die Fremdherrschaft durch die wachsende Zahl von politischen Märtyrern. 1842 war der Bericht Silvio Pellicos über seine zehnjährige Kerkerhaft auf der Festung Spielberg bei Brünn in Mähren erschienen, „Delle mie prigioni“. Die Fokussierung der Nationalbewegung auf Österreich erklärt die überwältigende Zustimmung, die Cavour nach den geheimen Vereinbarungen mit Napoleon III. in Plombières 1858 im ganzen Land erhielt. Als Viktor Emanuel II. am 10. Januar 1859 bei der Eröffnung der neuen Sitzungsperiode des Parlaments in Turin erklärte, bei aller Vertragstreue sei er „nicht unempfänglich gegenüber dem Schmerzensschrei (grido di dolore), der aus so vielen Teilen Italiens zu ihm gelange“, erhob sich auf der gesamten Halbinsel eine Welle der Begeisterung, und Tausende von

24 Ebd., Bd. 2. Bari 1911, S. 178: „la maggioranza del pensiero, la costituzione delle nazionalità e la redenzione delle plebi“. 25 Ebd., S. 179. 26 Camillo di Cavour: La Germania, la Prussia e l’Inghilterra e la rivoluzione italiana del 1848. Teil 1 (aus: Il Risorgimento, 28. 3. 1848). In: Domenico Zanichelli (Hrsg.): Gli scritti del Conte di Cavour, nuovamente raccolti e pubblicati. Bd. 1. Bologna 1892, S. 246: „L’Inghilterra non vuole che la Francia estenda le sue frontiere oltre le Alpi? Ora l’Italia libera e forte non formerà essa un più valido propugnacolo a queste frontiere contro qualsiasi ambizione che un’Italia scontenta, rotta, fremente e pronta ognora ad invocare un aiuto straniero per scuotere l’odiato giogo dell’Austria?“

366 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Freiwilligen strömten nach Piemont, um an dem bevorstehenden Kampf zur Befreiung Italiens teilzunehmen.²⁷ Durch die Kriege von 1859 und 1866 wurde die Herrschaft Österreichs über Italien gebrochen. Damit war eine Situation erreicht, die erneut Anlass bieten könnte zu der Frage, ob und gegebenenfalls wann sich eine Bereitschaft zum Vergeben und Vergessen entwickelt habe. Der Abschluss des Dreibunds 1882 könnte als Zeichen für diese Bereitschaft gedeutet werden. Sie wurde allerdings je länger je mehr überlagert durch die Entfaltung des italienischen Irredentismus, der im Mai 1915 zum Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg auf Seiten der Entente führte. Die Entwicklung des österreichisch-italienischen Verhältnisses nach 1918 kann im Rahmen einer Reflexion auf die Folgen der Restauration außer Betracht bleiben. Abschließend bleibt festzuhalten, dass man die Restauration von 1814 und 1815 in Italien – im Unterschied zu anderen Ereignissen, die im Programm der Tagung berücksichtigt sind, und auch im Gegensatz zu den Restaurationen von 1799 – schwerlich als traumatisches Erlebnis bezeichnen kann. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, verlief der Übergang zur Neuordnung unblutig. Ein Strafgericht über diejenigen, die mit Napoleon oder mit den von Napoleon eingesetzten Regierungen zusammengearbeitet hatten, fand nicht statt. Fast überall wurde – hier und da nach einer kurzen Übergangszeit – ein großer Teil der geschulten Beamten der napoleonischen Verwaltung übernommen. Die Verkäufe der Kirchengüter wurden nicht rückgängig gemacht. Die politische Unzufriedenheit, die in den Folgejahren zur Ausbreitung der Geheimgesellschaften und 1820 und 1821 zu den Revolutionen im Königreich beider Sizilien und in Piemont führte, bezog sich nicht unmittelbar auf die Umwälzung von 1814 und 1815, sondern auf den politischen Kurs, den die damals wiedereingesetzten Regierungen eingeschlagen hatten. Die Unterdrückung der beiden Revolutionen durch österreichische Truppen wurde zum Schlüsselerlebnis, weil sie die Ohnmacht der partikularstaatlichen Freiheitsbewegungen offenbarte. Eine Folge war die Einsicht, dass verfassungspolitische Freiheit nur auf der Grundlage nationaler Einheit und Unabhängigkeit und diese selbst nur im Rahmen einer Revision der auf dem Wiener Kongress geschaffenen europäischen Neuordnung erreicht werden könnten. Wenn schon nicht den Umbruch von 1814, so könnte man

27 Die entscheidenden Sätze der Thronrede bei Scirocco: Italia (wie Anm. 2), S. 384: „Il nostro paese, piccolo per territorio, acquistò credito nei consigli dell’Europa, perché grande per le idee che rappresenta, per le simpatie che esso ispira. Questa condizione non è scevra di pericoli, giacché, nel mentre rispettiamo i trattati, non siamo insensibili al grido di dolore che da tante parti d’Italia si leva verso di noi“.

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die gescheiterten Revolutionen von 1820 und 1821 wie auch die ungezählten weiteren Aufstandsversuche bis hin zu Carlo Pisacanes Landung bei Sarpi in der Nähe von Salerno im Sommer 1857 unter der Fragestellung erörtern, ob im Hinblick auf die politischen und strafrechtlichen Folgen eine Bereitschaft zur Vergebung und zum Vergessen erkennbar gewesen sei. Die Akteure und Opfer der revolutionären Aktionen haben sich als Helden und Märtyrer des Risorgimento in das nationale Gedächtnis der Italiener eingeprägt und sind als solche bis heute unvergessen. Als Opfer der Restauration lassen sie sich jedoch nicht bezeichnen. Der politische Diskurs des italienischen Vormärz und der fünfziger Jahre richtete sich auf ein politisches Ziel: die Schaffung eines nationalen Staates. Die Frage, wann und durch wen der Zustand einmal geschaffen worden sei, den man zu überwinden hoffte, war demgegenüber zweitrangig. Zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs des napoleonischen Kaiserreiches und seiner italienischen Satellitenstaaten selbst hatten die Ideen der Freiheit und Einheit nur wenige Anhänger gezählt. Erst im Zuge der Entfaltung der italienischen Nationalbewegung und angesichts der Erfahrung des durch Österreich erzwungenen politischen Immobilismus keimte der Widerstand gegen die 1814 und 1815 geschaffene Neuordnung. Unter diesen Voraussetzungen stellte sich nicht die Frage nach Vergeben und Vergessen vergangener Kränkungen, sondern nach Überwindung eines Zustands, der dem stetig wachsenden Bedürfnis der Nation nach Freiheit und Selbstbestimmung widersprach. Die Restauration wurde nicht zum Gegenstand eines Vergangenheitsdiskurses. Vielmehr wurden die durch die Restauration geschaffenen Verhältnisse zum Gegenstand eines sich im Laufe der Jahrzehnte bis 1860 immer stärker verdichtenden Gegenwarts- und Zukunftsdiskurses.

Judenemanzipation und Antisemitismus in Italien im 19. Jahrhundert Die* Rechtsstellung und die soziale Lage der Juden Italiens waren im 18. Jahrhundert von Staat zu Staat verschieden.¹ Grundsätzlich waren sie überall verpflichtet, im Ghetto zu wohnen und das Judenabzeichen zu tragen. Der Erwerb von Grundbesitz war ihnen nicht gestattet. Von zahlreichen Berufen blieben sie ausgeschlossen. In der Praxis wurden diese Bestimmungen freilich häufig nicht beachtet; das gilt besonders für die Republik Venedig, wo Juden in der Reederei, im Seehandel mit der Levante, im Getreidehandel sowie in der Druck-, Seidenund Wollindustrie eine führende Stellung einnahmen, allerdings auch scharf besteuert wurden.² Großzügig gehandhabt wurden die Restriktionen auch in der Toskana. In Livorno genossen die Juden schon seit 1593 besondere Privilegien. Spätestens im 18. Jahrhundert herrschte auch in Pisa und Florenz ein so mildes Regime, dass viele Juden aus anderen italienischen Staaten in die Toskana auswanderten.³ In den Königreichen Neapel und Sizilien lebten keine Juden. Sie waren im 16. Jahrhundert aus diesen durch Personalunion mit dem Königreich Spanien verbundenen Staaten vertrieben und seither nicht wieder zugelassen worden. Infolge der Vertreibung von 1596 war auch im Herzogtum Mailand, das damals ebenso zur Krone Spanien gehörte, die Zahl der Juden gering.⁴ Die italienische Aufklärung hat sich der Judenfrage so gut wie gar nicht angenommen.⁵ Fortschritte in der Rechtsstellung der Juden im Geiste der Aufklärung gab es dagegen in den unter habsburgischem Szepter oder Einfluss stehenden

* Erstdruck in: Christof Dipper, Rainer Hudemann, Jens Petersen (Hrsg.): Faschismus und Faschismen im Vergleich. Wolfgang Schieder zum 60. Geburtstag. Köln 1997, S. 107–124. 1 Renzo De Felice: Per una storia del problema ebraico in Italia alla fine del XVIII secolo e all’inizio del XIX. La prima emancipazione (1792–1814). In: Movimento operaio 5 (1955), S. 681–727, hier S. 695. Zur Geschichte der Juden in Italien insgesamt vgl. Cecil Roth: The History of the Jews of Italy. Philadelphia 1946, sowie Attilio Milano: Storia degli ebrei in Italia. Torino 1992 (Erste Ausgabe Torino 1963). 2 De Felice: Per una storia (wie Anm. 1), S. 699 f.; Nino Samaja: La situazione degli ebrei nel periodo del Risorgimento. In: Rivista mensile di Israel 23 (1957), S. 298–309, 359–371, 412–421, hier S. 302; vgl. auch Milano: Storia (wie Anm. 1), S. 309. 3 De Felice: Per una storia (wie Anm. 1), S. 702 ff. 4 Guido Fubini: La condizione giuridica dell’ebraismo italiano. Dal periodo napoleonico alla Repubblica. Firenze 1974, S. 2. 5 De Felice: Per una storia (wie Anm. 1), S. 689; Vittore Colorni: Gli ebrei nel sistema del diritto comune fino alla prima emancipazione. Milano 1956, S. 66 ff.

370 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Staaten. Durch Patent vom 27. September 1781 befreite Kaiser Joseph II. die Juden im Herzogtum Mantua von zahlreichen Einschränkungen: Sie durften fortan alle öffentlichen Schulen und Universitäten besuchen (mit Ausnahme der Theologischen Fakultät); Ackerland durften sie pachten und selbst bearbeiten; sämtliche Gewerbe sollten ihnen offenstehen; das Judenzeichen wurde abgeschafft.⁶ Die aufgeklärte Politik von Josephs Bruder, Großherzog Peter Leopold von Toskana, zeigt sich besonders eindrucksvoll an der Entscheidung von 1780, die Vertreter der jüdischen Gemeinde von Livorno mit vollen Rechten in den Rat der Stadt zu berufen.⁷ Mit der schrittweisen Eroberung ganz Italiens (außer den Inseln Sardinien und Sizilien) durch Napoleon seit 1796 wurden die von der Französischen Revolution durchgesetzten Grundsätze der bürgerlichen Gleichheit überall im Lande eingeführt – sei es auf dem Wege der zwangsläufigen Ausdehnung der französischen Gesetzgebung auf die nach und nach annektierten Gebiete, sei es durch Übertragung des neuen Rechts zuerst auf die verschiedenen Schwesterrepubliken und später auf die Vasallenkönigreiche Italien und Neapel. Die nach dem Sturz Napoleons mit Ausnahme der alten Republiken Venedig und Genua wiederhergestellten Staaten knüpften weitgehend an den Zustand der Epoche vor 1796 an. Das bedeutete, dass in einigen von ihnen – namentlich im Kirchenstaat, in Modena und in Piemont – die Emanzipation der Franzosenzeit ohne Abstriche wieder rückgängig gemacht wurde. Die Juden wurden wieder ins Ghetto verbannt; sie mussten das Judenzeichen wieder anlegen und den erworbenen Grundbesitz in einer gesetzten Frist wieder verkaufen. In der Toskana und in Parma dagegen blieb es bei der nahezu völligen Gleichberechtigung der Israeliten. In Parma bestand die einzige Einschränkung darin, dass sie nicht in der Hauptstadt wohnen durften. In der Toskana blieben sie von der Armee und von den forensischen Berufen und in Livorno darüber hinaus bis 1845 vom Richteramt ausgeschlossen. Ebenfalls nur geringen Beschränkungen unterlagen die Juden nach 1815 im neu geschaffenen Vizekönigreich Lombardo-Venetien.⁸

6 Ebd., S. 69 f.; Fubini: La condizione giuridica (wie Anm. 4), S. 1 f. 7 De Felice: Per una storia (wie Anm. 1), S. 703. 8 Franco Della Peruta: Le ,Interdizioni‘ israelitiche e l’emancipazione degli ebrei nel Risorgimento. In: Società e storia 6 (1983), S. 77–107, hier S. 77 ff.; Salvatore Foà: Gli ebrei nel Risorgimento italiano. Assisi/Roma 1978, S. 29 f.; speziell zur Toskana vgl. I. E. Rignano: Sulla attuale posizione giuridica degli Israeliti in Toscana. Brevi cenni. Firenze 1847, wo es über die privatrechtliche Stellung der Juden nach 1814 heißt (S. 17): „[. . . ] essi vennero interamente parificati, e non godevano altrimenti i diritti privati in forza di alcun privilegio o legge speciale, ma sibbene per giustizia e legge generale.“

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In der Folgezeit wurde die Emanzipation der Juden zu einem Bestandteil des Programms der italienischen Freiheits- und Einheitsbewegung. Ihre Befürworter betonten den Zusammenhang zwischen Emanzipation und Risorgimento. So schrieb Massimo D’Azeglio am Vorabend der Revolution von 1848: „Die jüdische Wiedergeburt (rigenerazione Israelitica) ist eng verknüpft mit der italienischen Wiedergeburt (rigenerazione Italiana), denn die Gerechtigkeit ist eine und dieselbe für alle.“⁹ Im Jahre 1835 hatte Giuseppe Mazzini „im Namen des Fortschritts und unserer heiligen menschheitlichen Glaubensartikel“ gegen „jegliches Ausnahmerecht, das den erhabenen Grundsatz der Toleranz verletzt,“ protestiert: „Unsere Epoche ist die Epoche der Emanzipation, der umfassenden Rehabilitierung.“¹⁰ Die Mahnung D’Azeglios, dass Freiheit und Gerechtigkeit unteilbar seien, ist als Hinweis darauf zu verstehen, dass die Emanzipation der Juden im Interesse der ganzen Gesellschaft liege, und knüpfte insofern an die Prinzipien von 1789 an. Carlo Cattaneo hat darüber hinaus im Jahre 1835 in einer ausführlichen Abhandlung über die Judenverbote dargelegt, dass die Diskriminierung der Juden der Gesellschaft auch großen wirtschaftlichen Schaden zufüge. Daher sei die Gleichstellung nicht nur im Namen der Freiheit und der Gerechtigkeit, sondern auch im Interesse des allgemeinen Wohlstands und seines Wachstums dringend geboten. Eines der wichtigsten Argumente Cattaneos besagte, dass der Ausschluss vom Landerwerb und vom Universitätsstudium die Juden einseitig auf Handel und Kreditwesen festgelegt habe. Dort hätten sie immense Kapitalien angesammelt, die zum Wohl der ganzen Gesellschaft, vor allem in der Landwirtschaft, investiert werden müssten, denn, so Cattaneo, „die Landwirtschaft ist die Mutter der anderen Gewerbezweige und die erste Ernährerin der Nationen.“¹¹ Investitionen im erforderlichen Umfang seien jedoch nur vom Eigentümer zu erwarten, nicht von einem Geldleiher; Eigentümer aber dürften die Juden nach den geltenden gesetzlichen Normen gerade nicht werden. Alle drei Autoren sahen den Grund für die Ausnahmegesetze und zugleich das unterscheidende Merkmal der Juden in bezug auf die Gesellschaft, in der sie lebten, im mosaischen Glauben. Was immer an Lebensart und Verhaltensweisen der Juden kritisiert wurde, führten sie jedoch einhellig auf die Wirkung eben je-

9 Massimo D’Azeglio: Dell’emancipazione civile degl’israeliti. Firenze 1848 (geschrieben Ende 1847). In: Ders.: Scritti e discorsi politici. Hrsg. von Marcus de Rubris. Bd. 1. Firenze 1931, S. 343–402, hier S. 400. 10 Giuseppe Mazzini: Différend entre Bâle-campagne et la France. Zuerst erschienen in: La Jeune Suisse, 4. und 11. November 1835. In: Ders.: Scritti editi ed inediti. Bd. 6. Imola 1949, S. 415. 11 Carlo Cattaneo: Interdizioni israelitiche (1835). Hrsg. von Luigi Ambrosoli. Torino 1987, S. 54.

372 | III Monarchie, Nation, Nationalismus ner Gesetze zurück. Von ihrer Aufhebung erwarteten sie dementsprechend ein allmähliches Verschwinden dieser Unterschiede im Sinne einer mehr oder weniger vollständigen Assimilation, an deren Ende das Verschwinden des Judentums als eigenständiger Gemeinschaft stehen könnte. Dieser Prozess werde wenigstens eine Generation in Anspruch nehmen, meinte Cattaneo, und lasse sich nicht forcieren: „Das Judentum zu zerstören liegt weder in unserer Macht noch in unserer Zuständigkeit.“¹² Bei D’Azeglio findet sich der Gedanke des Verschwindens der mosaischen Religion wenigstens in dem Argument, dass die Bekehrung der Juden zum Christentum gerade nicht von der Anwendung von Zwangsmitteln, sondern nur von ihrer uneingeschränkten rechtlichen Gleichstellung und von ihrer vorbehaltlosen Anerkennung als Brüder erwartet werden könne.¹³ Die Revolution von 1848 verhalf den Idealen der Freiheitsbewegung und damit auch dem Gedanken der Emanzipation zum Durchbruch. Von Dauer erwies sich zunächst freilich nur die Umwälzung im Königreich Sardinien. Die dort im März 1848 verkündete Verfassung – der Statuto albertino – und die daran anschließenden Gesetze überdauerten die Revolution und wurden im Zuge des nationalen Einigungsprozesses zwischen 1859 und 1870 schrittweise auf ganz Italien ausgedehnt. Mit Bezug auf den durch die Revolution von 1848 eingeleiteten Prozess der Gleichstellung der Juden sprechen die italienischen Historiker vielfach von der zweiten Emanzipation – eine Begriffsbildung, die den Vorgang in ein leicht fassliches Verlaufsschema der gesamten Geschichte Italiens im 19. Jahrhundert (Franzosenzeit – Restauration – Revolution – Einheit) übersetzt, dabei aber der weitgehenden Kontinuität der modernen Institutionen in der Toskana, in Parma und in Lombardo-Venetien nicht voll gerecht wird. Die Rechtsgleichheit aller Bürger, unabhängig von ihrer Religion, entsprach den Grundsätzen des Statuto albertino vom 4. März 1848. Freilich hatte die Verfassung die Gleichberechtigung des mosaischen Glaubens insofern noch nicht voll verwirklicht, als sie die katholische Religion zur Staatsreligion erklärt und den anderen Glaubensgemeinschaften damit die Stellung bloß geduldeter Konfessionen gegeben hatte. Die Gesetzgebung der Folgezeit sowie die liberale Staatsrechtslehre höhlten das formale Privileg des katholischen Glaubens jedoch zunehmend im Sinne des konsequent liberalen Grundsatzes der völligen Indifferenz des Staates gegenüber den religiösen Überzeugungen seiner Bürger aus. Ergänzend zu den Bestimmungen der Verfassung sprach das königliche Edikt vom 29. März 1848 den Juden in Piemont und Sardinien ausdrücklich den vollen

12 Ebd., S. 169. 13 D’Azeglio: Dell’emancipazione civile (wie Anm. 9), S. 372 ff.

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Genuss der bürgerlichen Rechte bis hin zur Erwerbung akademischer Grade zu, und das Gesetz vom 19. Juni 1848 verfügte, dass der Unterschied des Glaubens „für den Genuß der bürgerlichen und politischen Rechte und für den Zugang zu den zivilen und militärischen Funktionen keine Ausnahme begründet.“¹⁴ Die Gesetzgebung der Folgezeit bestätigte das Rechtsprinzip der uneingeschränkten Gleichstellung aller Religionsgemeinschaften. Auf diesem Wege wurde die Gleichberechtigung der Bürger Schritt für Schritt durch die Gleichberechtigung der Konfessionen ergänzt.¹⁵ In den Standardwerken zur Geschichte des europäischen Judentums im Zeitalter der Emanzipation werden die Juden Italiens kaum berücksichtigt. In der umfangreichen „Geschichte des Antisemitismus“ von Léon Poliakov kommt Italien nicht vor.¹⁶ In dem Buch „Out of the Ghetto“ von Jacob Katz von 1973 wird Italien nur zweimal flüchtig erwähnt, obwohl das erste Ghetto in Europa 1516 in Venedig eingerichtet und das letzte 1870 in Rom aufgehoben wurde und obwohl schon das Wort ghetto aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem Italienischen stammt.¹⁷ In dem 1970 erschienenen Buch von Katz „Jews and Freemasons in Europe 1723–1939“ wird Italien ebenfalls ausgespart, obwohl zwischen 1885 und 1903 mit Adrian Lemmi und Ernesto Nathan nacheinander zwei Juden sogar das Amt des Großmeisters der Freimaurer in Italien bekleideten.¹⁸ Dabei bildet Italien ein Beispiel für ein Land, in dem die Gleichstellung der Juden nach der Emanzipation keinerlei Einschränkungen unterworfen war. Keine

14 Zit. nach Carlo Ghisalberti: Sulla condizione giuridica degli ebrei in Italia dall’emancipazione alla persecuzione: spunti per una riconsiderazione. In: Italia Judaica. Gli ebrei nell’Italia unita 1870–1945. Atti del IVo convegno internazionale, Siena 12–16 giugno 1989. Roma 1993 (= Pubblicazióni degli Archivi di Stato. Saggi 26), S. 19–31, hier S. 24. 15 Ebd., S. 27. 16 Léon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus. 8 Bde. Worms 1978–1988. 17 Jacob Katz: Out of the Ghetto. The Social Background of Jewish Emancipation. 1770–1870. Cambridge, Mass. 1973, S. 22, 44. Zur Herkunft des Worts ghetto und zur Einrichtung des Ghettos in Venedig 1516 vgl. Vittore Colorni: Gli ebrei nel sistema del diritto comune fino alla prima emancipazione. Milano 1956, S. 56; Milano: Storia (wie Anm. 1), S. 525. 18 Jacob Katz: Jews and Freemasons in Europe 1723–1939. Cambridge, Mass. 1970; Ferdinando Cordova: Massoneria e politica in Italia 1892–1908. Roma/Bari 1985, S. 2, 62, 216; vgl. auch Aldo Alessandro Mola: Storia della massoneria italiana dall’unità alla Repubblica. Milano 1976; ders.: Ebraismo italiano e massoneria. In: Rivista mensile di Israel 47 (1981), S. 120–128, hier S. 121, 124 f.; auch in Aufsatzsammlungen zur Geschichte der Judenemanzipation in Europa findet sich nur selten ein eigener Beitrag über Italien; vgl. dagegen Dan V. Segre: The Emancipation of Jews in Italy. In: Pierre Birnbaum/Ira Katznelson (Hrsg.): Paths of Emancipation. Jews, States, and Citizenship. Princeton 1995, S. 206–237; Segre konzentriert sich allerdings weitgehend auf die Entwicklung in Piemont.

374 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Laufbahn im öffentlichen Dienst oder in der Armee war ihnen verschlossen, kein politisches Amt war ihnen vorenthalten.¹⁹ Isacco Artom war Cavours Privatsekretär. Mit Luigi Luzzatti wurde im Jahre 1910 ein Jude aus Padova Präsident des Ministerrats. Nach dem Erscheinen der richtungweisenden Untersuchungen von Renzo De Felice über die sogenannte erste Emanzipation der Juden Italiens im Zeitalter Napoleons von 1955 und über die Geschichte der italienischen Juden unter dem Faschismus von 1961 sowie Attilio Milanos Gesamtdarstellung der Geschichte der Juden in Italien von 1963 hat in der italienischen Geschichtswissenschaft erst in den letzten 15 Jahren wieder eine lebhafte Diskussion über die Sozialgeschichte der Juden Italiens seit Beginn der Emanzipationsepoche begonnen.²⁰ Fragt man nach den Ursachen für das vergleichsweise geringe Interesse der italienischen Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg an der Geschichte der italienischen Juden seit der Emanzipation, so drängen sich zwei Hypothesen auf. Einmal erschienen die Rassengesetze Mussolinis von 1938 und die Verfolgung der italienischen Juden in den Jahren danach im wesentlichen als eine durch die Allianz mit Hitlerdeutschland nahegelegte, seit 1943 dann auch unmittelbar von den Nationalsozialisten durchgeführte Politik, so dass sich die Frage nach einer italienischen Vorgeschichte dieser Erscheinungsform des Faschismus offenbar erübrigte.²¹ Zum andern bestand in Italien traditionell ein breiter Konsens darüber,

19 Vgl. Vittore Colorni: Israeliti. In: Novissimo Digesto Italiano. Bd. 9 (1963), S. 203–219, S. 211; Dan V. Segre: Emancipation (wie Anm. 18), S. 226 f.; Meir Michaelis: Mussolini and the Jews. German-Italian Relations and the Jewish Question in Italy 1922–1945. Oxford 1978, S. 3: „All students of Italian Jewry, whether Jewish or Gentile, Fascist or anti-Fascist, are agreed that there was virtually no Jewish problem in modern Italy.“ 20 De Felice: Per una storia (wie Anm. 1); ders.: Storia degli ebrei italiani sotto il fascismo. Erw. Neuaufl. Torino 1993 (Erste Ausgabe Torino 1961); Milano: Storia (wie Anm. 1). Eine repräsentative Dokumentation des wiederbelebten Interesses am Gegenstand bilden zwei aus Tagungen hervorgegangene Sammelbände: Italia Judaica IV (wie Anm. 14), und Francesca Sofia/Mario Toscano (Hrsg.): Stato nazionale ed emancipazione ebraica. Atti del convegno „Stato nazionale, società civile e minoranze religiose. L’emancipazione degli ebrei in Francia, Germania e Italia tra rigenerazione morale e intolleranza“. Roma 23–25 ottobre 1991. Roma 1992. Vgl. auch Mario Toscano: Gli ebrei in Italia dall’emancipazione alle persecuzioni. In: Storia contemporanea 17 (1986), S. 905–954, sowie Ders.: L’uguaglianza senza diversità: stato, società e questione ebraica nell’Italia liberale. In: ebd. 25 (1994), S. 685–712. 21 De Felice: Storia (wie Anm. 20), S. IX, bezeugt die Einschätzung durch die große Mehrheit der italienischen Zeitgenossen, auch der Faschisten, wonach in der Rassengesetzgebung von 1938 „un decisivo passo sulla china dell’allineamento dell’Italia sulle posizioni della Germania e della guerra“ zu sehen sei; vgl. auch Michaelis, Mussolini (wie Anm. 19), S. 9, wonach es im Juli 1938 allen Italienern klar gewesen sei, „that their master had stooped to copy the German racial doctrines which he had hitherto rejected with scorn“; vgl. auch Susan Zuccotti: The Ita-

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dass es dort keinen oder allenfalls nur einen unbedeutenden Antisemitismus gegeben habe. Dafür seien vier Zeugen ganz unterschiedlicher Herkunft genannt. Auf dem zweiten Zionistenkongress in Basel 1898 stellte sich der Rabbiner Giuseppe Sonino aus Neapel als „einen freien Bürger eines freien Landes“ vor, in dem „die Worte Intoleranz und Antisemitismus nahezu unbekannt“ seien.²² Chaim Weizmann, im Jahre 1949 erster Staatspräsident Israels, rühmte in seinen Memoiren anlässlich eines Besuchs in Italien im Herbst 1921 den Erfolg der Judenemanzipation in diesem Land: Keiner der Gründe, die in andern Ländern für den Zionismus ausschlaggebend waren, lag in Italien vor. Die Gleichberechtigung der Juden in Italien bestand seit Generationen. Die jüdische Gemeinschaft war klein und nahm tätigen Anteil am politischen, wirtschaftlichen, künstlerischen und wissenschaftlichen Leben Italiens. Die Juden unterschieden sich in nichts von ihren Mitbürgern, nur daß sie zur Synagoge statt zur Messe gingen.²³

lians and the Holocaust. Persecution, Rescue, and Survival. New York 1987, S. 33: „Mussolini introduced the racial laws, in part, as a token of the sincerity of his bid for an alliance“ (scil. mit Hitlerdeutschland). Dagegen folgert Lynn M. Gunzberg: Strangers at Home. Jews in the Italian Literary Imagination. Berkeley/Los Angeles/Oxford 1992, S. 6, gerade aus der Verabschiedung der Rassengesetze, dass es zwischen Emanzipation und Faschismus zumindest einen latenten Antisemitismus gegeben haben müsse; damit unterstellt sie von vornherein, dass die Verfolgung durch Mussolini wesentlich auf gewachsene Einstellungen in der italienischen Gesellschaft zurückzuführen sei. Vorsichtiger urteilt H. Stuart Hughes: Prisoners of Hope. The Silver Age of the Italian Jews 1924–1974. Cambridge, Mass./London 1983, S. 20: „At the very least one can say that whatever hostility to the Jews remained was almost entirely religiously based; the ,racial’ anti-Semitism which had begun to appear in late-nineteenth-century Germany had no Italian counterpart.“ 22 Zit. nach Meir Michaelis: L’ebraismo italiano dallo Statuto albertino alla legislazione razziale. In: Francesco Del Canuto (Hrsg.): Israel. „Un decennio“ 1974–1984. Numero unico dell’„Israel“. Saggi sull’ebraismo italiano. Roma 1984, S. 251–273, hier S. 268; vgl. für die Anfänge des Zionismus in Italien auch Dante Lattes: Le prime albe del sionismo italiano. In: Daniel Carpi/Attilio Milano/Alexander Rofé (Hrsg.): Scritti in memoria di Leone Carpi. Saggi sull’ebraismo italiano. Jerusalem 1967, S. 208–218; über das Auftreten Soninos ebd., S. 213 f.; Dante Lattes: Il sionismo. Bd. 1. Roma 1928; David Bidussa: Tra avanguardia e rivolta. Il sionismo in Italia nel primo quarto del Novecento. In: Ders./Amos Luzzatto/Gadi Luzzatto Voghera: Oltre il ghetto. Momenti e figure della cultura ebraica in Italia tra l’unità e il fascismo. Brescia 1992, S. 155–279. Für das äußerst geringe Interesse der Juden Italiens an der zionistischen Bewegung vgl. auch Andrew M. Canepa: Reflections on Antisemitism in Liberal Italy. In: The Wiener Library Bulletin 31 (1978), S. 104–110, hier S. 105. 23 Chaim Weizmann: Memoiren. Das Werden des Staates Israel. Zürich 1953, S. 423.

376 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Wie Emil Ludwig berichtete, soll Mussolini im Frühjahr 1932 zu ihm gesagt haben: „Antisemitismus existiert nicht in Italien.“²⁴ Und mit den gleichen Worten schrieb Antonio Gramsci: „In Italien gibt es keinen Antisemitismus.“²⁵ Dementsprechend urteilten späterhin die Historiker. Renzo De Felice behauptete die „praktische Nichtexistenz“ des Antisemitismus in Italien im 19. Jahrhundert, und Mario Toscano sprach von der „generellen Schwäche des Antisemitismus im liberalen Italien“.²⁶ Die Konkretisierung der Aussage auf das liberale Italien ist wichtig, denn wenn dort antisemitische Strömungen und Ressentiments in der Tat nach allem, was man weiß, nur gering entwickelt waren, entlud sich ein zum Teil äußerst heftiger Antisemitismus in der Publizistik der katholischen Kirche, die den liberalen Staat bekämpfte. Führend war hierbei die 1850 von Jesuiten gegründete Zeitschrift „La Civiltà Cattolica“.²⁷ Dieser klerikale Antisemitismus stand einerseits in der Tradition der christlichen Judenfeindschaft; andererseits erklärt er sich aus einer Identifikationskette, in der die Emanzipation zum Symbol des Liberalismus, der Freimaurerei, der allgemeinen Entchristlichung, des Nationalstaats und des Kapitalismus – das heißt zum Kürzel für die Modernisierung insgesamt gemacht wurde.²⁸ Die antijüdische Kampagne der kirchlichen Blätter ordnet sich dementsprechend sowohl in die Verdammung der Moderne nach Art des Syllabus errorum Pius’ IX. von 1864 als auch in den Kampf der intransigenten Kräfte in der katholischen Kirche gegen den italienischen Nationalstaat ein. Ziel der Kampagne war es

24 Emil Ludwig: Mussolinis Gespräche mit Emil Ludwig. Berlin/Wien/Leipzig 1932, S. 76. 25 Antonio Gramsci: Il Risorgimento. Torino 1949, S. 167: „In Italia non esiste antisemitismo.“ 26 De Felice: Storia (wie Anm. 20), S. 21; Toscano: L’uguaglianza senza diversità (wie Anm. 20), S. 686. 27 Vgl. Andrew M. Canepa: Cattolici ed ebrei nell’Italia liberale (1870–1915). In: Comunità 32 (1978), S. 43–109, hier S. 61; ebd., Anm. 69, eine Aufzählung anderer klerikaler Presseorgane, die zwischen 1870 und 1915 judenfeindliche Artikel veröffentlichten. Zum Antiklerikalismus in Italien in dieser Epoche vgl. auch S. William Halperin: Italian Anticlericalism. 1871–1914. In: Journal of Modern History 19 (1947), S. 18–34. 28 Vgl. Raffaele Ballerini: Della questione giudaica in Europa. In: La Civiltà Cattolica. Serie XIV, Bd. VIII, fasc. 967, 22. September 1890, S. 5–20, u. fasc. 970, 4. November 1890, S. 385–407; fasc. 972, 9. Dezember 1890, S. 641–655; S. 19: „La rivoluzione che in quest’ultimo secolo ha soqquadrato l’intero ordinamento cristiano di quasi tutti gli Stati [. . . ] si è fatta a pro unicamente del giudaismo, il quale, in virtù de’menzogneri principii di libertà, di fraternità e di eguaglianza, ha potuto colorire a man salva il suo cupo disegno di predominio [. . . ]. E in effetto i principii moderni, ossia i così nominati diritti dell’uomo, furono inventati da’giudei, per fare che i popoli e i Governi si disarmassero, nella difesa contro il giudaismo [. . . ]“; vgl. auch Giovanni Cornoldi: La Massoneria, ecco il nemico, cioè l’Enciclica Humanum Genus. In: ebd., Serie XII. Bd. VI, fasc. 814, 1. Mai 1884, S. 385–405.

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offensichtlich, die Massen durch den Appell an das antijüdische Vorurteil, das den Gläubigen jahrhundertelang von der Kanzel herunter eingepflanzt worden war, gegen den neuen Staat zu mobilisieren.²⁹ Bei dieser Art der Instrumentalisierung der traditionellen Judenfeindschaft für politische Ziele liegt der Zusammenhang von Emanzipation und Antisemitismus auf der Hand. Das haben unter anderem Andrew M. Canepa und Renato Moro im einzelnen herausgearbeitet.³⁰ Die Kampagne brachte der Kirche jedoch keine Erfolge, sondern verschärfte nur ihre Isolierung. Als der Vatikan sich nach der Jahrhundertwende langsam auf das politische Italien zubewegte, beendete er zugleich die antisemitische Polemik.³¹ Andrew M. Canepa hat in mehreren sorgfältig dokumentierten Studien versucht, antisemitische Einstellungen in der politischen Kultur auch des liberalen Italien aufzuspüren. Dabei bestimmte ihn die Überzeugung von der „zweideutigen, vertragsförmigen Natur der Emanzipation überall auf dem Kontinent“ und also auch in Italien.³² Die Zweideutigkeit der Emanzipation soll darin bestanden haben, dass fast alle Liberalen von den Juden erwartet hätten, dass sie mit der Emanzipation aufhörten, Juden zu sein.³³ Die „Gleichheit der Rechte“ habe, wie Guido Fubini 1974 formulierte, nicht auch ein „Recht auf Ungleichheit“ oder, wie Roberto Finzi 1978 lieber sagte, ein „Recht auf Verschiedenheit“ (diritto alla diversità) eingeschlossen.³⁴ Zum Nachweis eines Antisemitismus, der sich aus der

29 Vgl. Ders.: L’avvenire. In: ebd., Serie XIII. Bd. XII, fasc. 921, 22. Oktober 1888, S. 257–271, u. fasc. 923, 19. November 1888, S. 513–532; S. 263: „L’avvenire della razza giudaica non è un mistero per noi. Saranno bersaglio dell’ira divina fino agli ultimi tempi, nei quali [. . . ] si pentiranno del commesso deicidio e riconosceranno in Gesù Cristo, crocifisso dai loro padri, quel vero Messia [. . . ]“; ebd., S. 267, heißt es dann, das Hauptziel der „giudaica massoneria“ sei die „distruzione della cristiana religione“; zu den nachgeordneten Zielen habe dagegen gehört „la indipendenza d’Italia, quindi la così detta unità d’Italia“. 30 Canepa: Cattolici ed ebrei (wie Anm. 27), S. 43–109; Renato Moro: L’atteggiamento dei cattolici tra teologia e politica. In: Sofia/Toscano (Hrsg.): Stato nazionale (wie Anm. 20), S. 305–349. 31 Canepa: Cattolici ed ebrei (wie Anm. 27), S. 106 ff.; vgl. besonders S. 108: „La collaborazione politica tra ebrei e cattolici rientrava nella generale coalizione delle forze dell’ordine contro la minaccia del socialismo, in una linea evolutiva che si riflette sia nel declino dell’anticlericalismo liberale sia nella fine dell’antisemitismo clericale.“ 32 Ders.: Emancipation and Jewish Response in Mid-Nineteenth-Century Italy. In: European History Quarterly 16 (1986), S. 403–439, hier S. 431: „the equivocal, contractual nature of emancipation“; ders.: Considerazioni sulla seconda emancipazione e le sue conseguenze. In: Rassegna mensile di Israel 46 (1981), S. 45–89, hier S. 87. 33 Ders.: Emancipation (wie Anm. 32), S. 403; Ders.: Considerazioni (wie Anm. 32), S. 45. 34 Fubini: La condizione giuridica (wie Anm. 4), S. 120; Roberto Finzi: Gli ebrei nella società italiana dall’unità al fascismo. In: Il Ponte 34 (1978), S. 1372–1411, hier S. 1373; vgl. auch Toscano: L’uguaglianza senza diversità (wie Anm. 20), S. 691 ff.

378 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Wahrnehmung jüdischer „Verschiedenheit“ ergeben haben soll, hat Canepa eine Reihe von Konflikten herausgearbeitet, die sich ähnlich wie in Deutschland aus der spezifischen Berufsstruktur der Juden und ihrer relativen Konzentration in bestimmten Bereichen wie Versicherungswesen, Banken, Handel und Publizistik oder aber aus dem Verdacht geteilter Loyalität gegenüber dem Nationalstaat ergeben hätten.³⁵ Der spektakulärste Fall, den Canepa beschrieben hat, war der Appell eines „obskuren“ Abgeordneten aus dem Veneto, Francesco Pasqualigo, vom Sommer 1873 an König Viktor Emanuel II., von der bevorstehenden Ernennung des venezianischen Juden Isacco Pesaro Maurogonato zum Finanzminister abzusehen.³⁶ Maurogonato verzichtete von sich aus; trotzdem führte die Angelegenheit zu einer monatelangen Diskussion in der Presse, in deren Verlauf Pasqualigo als Motiv seiner Intervention beim König die Überlegung bezeichnete, dass die Juden einen eigenen „politisch-religiösen Verband“ bildeten und deshalb die „behauptete vollständige Identifizierung ihrer Interessen mit den Interessen der italienischen Nation noch nicht erreicht“ sei.³⁷ Es steht außer Zweifel, dass dieser Fall ein Grundproblem der Emanzipation sichtbar macht, dass er aber in der Perspektive der Gesamtentwicklung eine Episode von untergeordneter Bedeutung geblieben ist, ohne exemplarischen Charakter für die politische Kultur des liberalen Italien, und so räumt auch Canepa ein, dass der Antisemitismus in Italien im Vergleich zu West- und Mitteleuropa in der Epoche zwischen 1870 und 1914 nur schwach entwickelt gewesen sei.³⁸ Daher erscheint es zweckmäßig, Emanzipation und Antisemitismus in diesem knappen Überblick in der Weise miteinander zu verknüpfen, dass versucht wird, aus dem spezifischen Ablauf und den besonderen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen der Judenemanzipation in Italien nicht den Antisemitismus, sondern die Schwäche des Antisemitismus zu erklären.³⁹ Schwäche des Antisemitismus soll dabei, genau gesagt, heißen: Der Antisemitismus hat als Instrument politischer Mobilisierung und Integration in der politischen Kultur Italiens zwischen Eman-

35 Canepa: Cattolici ed ebrei (wie Anm. 27), S. 45 ff. 36 Ders.: Emancipazione, integrazione e antisemitismo liberale in Italia. Il caso Pasqualigo. In: Comunità 29 (1975), S. 166–203, hier S. 166. 37 Zit. nach ebd., S. 168; zum Problem der „double allegiance“ vgl. auch Corrado Vivanti: The History of the Jews in Italy and the History of Italy. In: Journal of Modern History 67 (1995), S. 309–357, hier S. 312 ff. 38 Canepa: Cattolici ed ebrei (wie Anm. 27), S. 43. 39 Demselben Vorsatz folgt Canepa ebd. sowie in: Ders.: Reflections on Antisemitism (wie Anm. 22), S. 104 ff.; vgl. auch die Zusammenfassung des Forschungsstands zu der Frage nach den Ursachen für den Erfolg der Judenemanzipation bei Francesca Sofia: Su assimilazione e autocoscienza ebraica nell’Italia liberale. In: Italia Judaica IV (wie Anm. 14), S. 32–47, hier S. 32 f.

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zipation und Faschismus praktisch keine Rolle gespielt. Es gab keine antisemitischen Parteien und keine Verbände nach Art des Bunds der Landwirte in Deutschland, die den Antisemitismus zur Verknüpfung gegensätzlicher Interessen oder zur nationalpolitischen Mobilisierung eingesetzt hätten. Selbst in den Reihen der Associazione Nazionalista waren antisemitische Untertöne erst und nur für einen Augenblick im spezifischen Zusammenhang des Libyenkriegs von 1911 zu hören, als die italienischen Juden von Francesco Coppola wegen des zionistischen Interesses an Palästina der stillschweigenden Parteinahme für den Kriegsgegner Türkei verdächtigt wurden.⁴⁰ Antonio Gramsci hat das Fehlen des Antisemitismus in Italien in Anlehnung an Arnaldo Momigliano mit der These von der „Gleichzeitigkeit der nationalen Integration“ (nazionalizzazione parallela) erklärt. Die nationale Integration der Juden sei nicht erst nach der Konstituierung einer italienischen Nation, sondern gleichzeitig mit der Integration aller anderen italienischen Stämme erfolgt. Bei den italienischen Christen habe diese Nationsbildung in der Überwindung von gegensätzlichen vornationalen Identifikationsmustern bestanden: dem „munizipalen Partikularismus“ und dem „katholischen Kosmopolitismus“. Gramsci hob besonders auf die Distanzierung des italienischen Nationalstaats von der katholischen Kirche ab. Die offensive Behauptung seines laikalen Charakters habe die Loslösung aus der Tradition christlich-theologischer Judenfeindschaft eingeschlossen und damit, so offensichtlich die These, spiegelbildlich auch den Juden ein Heraustreten aus ihrem Judentum in dem Sinne ermöglicht, dass die religiösen Bindungen nicht länger ein Motiv auch der sozialen und kulturellen, wenn nicht gar der politischen Absonderung gebildet hätten.⁴¹ Gegen diesen Erklärungsversuch hat Canepa eingewandt, er laufe darauf hinaus, das Ausbleiben des Antisemitismus mit dem schon von vielen Zeitgenossen bemerkten besonders hohen Grad der Assimilationsbereitschaft der Juden Italiens zu erklären. Assimilation und Antisemitismus seien jedoch voneinander weithin unabhängige Phänomene, wie Frankreich und Deutschland zeigten.⁴² Dieser Einwand berücksichtigt jedoch nicht hinreichend, dass der betont säkulare Charakter des italienischen Nationalstaats, der gegen die Papstkirche

40 Vgl. Michaelis, L’ebraismo italiano (wie Anm. 22), S. 262 ff.; Franco Gaeta: Il nazionalismo italiano. Bari 1981, S. 139, bes. Anm. 105 (S. 275 f.); De Felice: Storia (wie Anm. 20), S. 55 f. 41 Gramsci: Il Risorgimento (wie Anm. 25), S. 166–168. Arnaldo Momigliano hatte 1933 in einer Rezension von Cecil Roth: Gli ebrei in Venezia (1933) geschrieben: „La formazione della coscienza nazionale italiana negli Ebrei è parallela alla formazione della coscienza nazionale nei Piemontesi o nei Napoletani o nei Siciliani: è un momento dello stesso processo e vale a caratterizzarlo.“ In: Arnaldo Momigliano: Pagine ebraiche. Hrsg. von Silvia Berti. Torino 1987, S. 237–239, hier S. 237. 42 Canepa: Cattolici ed ebrei (wie Anm. 27), S. 44 f.

380 | III Monarchie, Nation, Nationalismus vollendet worden war und jahrzehntelang in Konfrontation zu ihr verharrte, in der Tat nur mit der strikten Anerkennung der Gleichberechtigung aller Glaubensgemeinschaften zu vereinbaren war. Ein weiterer Einwand Canepas gegen die Erklärung Gramscis lautet, eine „Gleichzeitigkeit der nationalen Integration“ habe allenfalls eine kleine Elite des Landes erlebt, während die Masse der Landbevölkerung und die orthodoxen Katholiken erst viele Jahre nach dem Risorgimento in den Nationsbildungsprozess einbezogen worden seien.⁴³ Dieser Einwand könnte jedoch geradezu in ein Argument für die These Gramscis umformuliert werden, da die Masse der Bauern im Verlauf ihrer schrittweisen Integration in die italienische Nation erst recht keine andere Wahrnehmung machen konnte, als dass die Juden ebenso wie die Venezianer, die Toskaner und die Neapolitaner selbstverständlich dazugehörten. Dagegen lassen sich zwei andere Einwände gegen die These formulieren. Einmal ist die Parallelisierung von Judentum und Katholizismus nur stichhaltig, wenn und solange die Differenz des Juden vom Christen von der Gesellschaft ausschließlich in der jeweiligen Glaubenszugehörigkeit gesehen wurde. Zum andern hat eine „Gleichzeitigkeit der nationalen Integration“ auch in Deutschland stattgefunden, und doch hat sich dort ein ausgeprägter Antisemitismus entwickelt. Eine zweite Erklärung für das weitgehende Ausbleiben des Antisemitismus in Italien stützt sich auf das geringe numerische Gewicht des jüdischen Elements in der Gesellschaft. Der These von De Felice, die Konzentration der emanzipierten Juden in bestimmten Berufsbereichen sei nicht erheblich genug gewesen, um besondere Aufmerksamkeit oder gar Abwehr hervorzurufen, hat Canepa zwar widersprochen, aber beide stimmen doch darin überein, dass die Zahl der Juden in der Gesamtbevölkerung vergleichsweise so niedrig gewesen sei, dass antijüdische Ressentiments kaum Ansatzpunkte hätten finden können.⁴⁴ Um 1800 lebten in Italien 34 000 Angehörige des mosaischen Glaubens bei einer Gesamtbevölkerung von 18 Millionen. Bis 1900 wuchs die jüdische Bevölkerung Italiens um 25 Prozent auf 43 000 Personen, während die Gesamtbevölkerung des Landes um fast 90 Prozent auf rund 34 Millionen anstieg.⁴⁵ Die Ursache für die geringe Wachstumsrate der jüdischen Bevölkerung Italiens liegt in deren abweichendem generativen Verhalten. Die Geburtenrate des jüdischen Bevölkerungsteils betrug zwischen 1750 und 1875 etwa 28,3 lebend Ge-

43 Ebd., S. 45. 44 De Felice: Storia (wie Anm. 20), S. 11 ff.; Canepa: Cattolici ed ebrei (wie Anm. 27), S. 45 ff., 49. 45 Roberto Bachi/Sergio Della Pergola: Gli ebrei italiani nel quadro della demografia della diaspora. In: Quaderni storici 55 (1984), S. 155–191, hier S. 158 (Tabella 1).

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borene je 1 000 Einwohner; zwischen 1876 und 1900 lag sie bei 19,0, in der Gesamtbevölkerung des Landes dagegen bei 36,5; für die Periode zwischen 1901 und 1915 lauten die entsprechenden Ziffern 16,1 und 32,2. Die Geburtenrate der jüdischen Bevölkerung war somit im liberalen Italien nur halb so hoch wie die Geburtenrate der Bevölkerung insgesamt. Eine Ausnahme bildete lediglich die jüdische Gemeinde der Hauptstadt Rom; dort lag die Geburtenziffer in den beiden Zeitabschnitten bei 29,3 bzw. 26,6 und näherte sich somit der Geburtlichkeit der umgebenden Bevölkerung an.⁴⁶ Die Sterberate der italienischen Juden lag zwischen 1751 und 1875 mit 28,2 Sterbefällen je 1 000 Einwohnern nur um 0,1 Punkte niedriger als die Geburtenrate; folglich gab es nur ein äußerst geringes natürliches Bevölkerungswachstum. Zwischen 1876 und 1900 betrug die Sterberate der Juden 20,2, zwischen 1901 und 1915 15,2, während sie in der Gesamtbevölkerung Italiens 26,5 bzw. 21,0 erreichte.⁴⁷ Während also in den vier Jahrzehnten zwischen 1875 und 1915 in der Gesamtbevölkerung des Landes die Geburtenziffern die Sterbeziffern weit überragten, hielten sich die beiden Größen in der jüdischen Bevölkerung die Waage. Setzt man diese Differenz in eine langfristige Perspektive, so zeigt sich, dass sich Italien insgesamt damals noch in voller demographischer Transition befand, während der jüdische Bevölkerungsteil längst darüber hinausgelangt war. So erreichten die Juden Italiens eine Lebenserwartung von 45 Jahren bereits um 1820, die italienische Bevölkerung insgesamt jedoch erst um 1900.⁴⁸ Diese Vorreiterrolle der Juden gegenüber der umgebenden Bevölkerung ist auf eine ganze Reihe von Faktoren zurückzuführen. Von besonderem Gewicht erscheinen die geographische Verteilung und die soziale Struktur der jüdischen Bevölkerung. Aufgrund der Ausweisung aus Neapel und Sizilien im 16. Jahrhundert gab es in Süditalien praktisch keine Juden; doch auch in Mittel- und Norditalien fehlten sie fast vollständig in der Landwirtschaft und bei den unteren Schichten der städtischen Bevölkerung.⁴⁹ Die Vorwegnahme der demographischen Transition lässt sich auch bei der jüdischen Bevölkerung in anderen Staaten Mittel- und Westeuropas beobachten. Allerdings lag Italien, wahrscheinlich zusammen mit Frankreich, bei dieser Entwicklung an der Spitze.⁵⁰ Im Unterschied zu Italien nahm die jüdische Bevölkerung in den meisten anderen Staaten Mittel- und Westeuropas in der

46 Ebd., S. 167 f.; vgl. bes. Tabella 4 (S. 167). 47 Ebd., S. 170 f.; vgl. bes. Tabella 6 (S. 171). 48 Sergio Della Pergola: Precursori, convergenti, emarginati. Trasformazioni demografiche degli ebrei in Italia. 1870–1945. In: Italia Judaica IV (wie Anm. 14), S. 48–81, hier S. 59. 49 Bachi/Della Pergola: Gli ebrei italiani (wie Anm. 45), S. 183. 50 Ebd., S. 184.

382 | III Monarchie, Nation, Nationalismus zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch über das natürliche Wachstum hinaus aufgrund der massiven Zuwanderung aus Osteuropa zum Teil beträchtlich zu. Zwischen 1860 und 1900 betrug die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate der jüdischen Bevölkerung in Deutschland 7,0, in Frankreich 12,2, in Großbritannien und Irland 49,1 und in Österreich, bezogen auf den heutigen Gebietsumfang, sogar 78,1; in Italien dagegen lag sie bei ganzen 2,4 Einwohnern je Tausend.⁵¹ Die jüdische Bevölkerung des russisch-polnischen Raums zeigte ein völlig anderes generatives Verhalten als das Judentum in Mittel- und Westeuropa. Zwischen 1650 und 1765 betrug die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate dort 7,4 und zwischen 1765 und 1900 sogar 16,6 Einwohner je Tausend.⁵² Die Wanderungen der osteuropäischen Juden in den Westen lassen sich zum großen Teil aus diesem starken Bevölkerungswachstum erklären. Italien freilich blieb bis nach dem Ersten Weltkrieg von jüdischer Zuwanderung aus Osteuropa fast vollständig ausgespart.⁵³ Das Land war gegenüber Mittel- und Westeuropa in seiner wirtschaftlichen Entwicklung zurückgeblieben, war seinerseits übervölkert und erlebte namentlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine massive Auswanderungsbewegung. So wirkten in Italien der niedrige Ausgangswert, das geringe natürliche Wachstum und das Ausbleiben einer nennenswerten Zuwanderung dahin zusammen, dass der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung um 1900 unter 1,3 je Tausend blieb. Der Vergleichswert für Deutschland lag bei einem Prozent.⁵⁴ Dies ist gewiss ein beträchtlicher Unterschied, und doch fällt es schwer, daraus eine Erklärung für die Schwäche des Antisemitismus abzuleiten. Zum einen muss man berücksichtigen, dass sich die jüdische Bevölkerung Italiens schon vor der Emanzipation im Norden und in der Mitte des Landes konzentriert hatte und dass nach der Emanzipation eine weitere Binnenwanderung aus den kleineren Land- und Provinzstädten, wo die Juden bisher überwiegend gelebt hatten, in die wenigen großen Zentren von nationaler Bedeutung wie Turin, Florenz, Mailand, Genua und Rom stattfand. Die Erlangung der Freizügigkeit erlaubte es ihnen, sich dort niederzulassen, wo sie im Prozess der politischen und wirtschaftlichen Modernisierung des Landes die aussichtsreichsten Betätigungsmöglichkeiten erwar-

51 Della Pergola: Precursori (wie Anm. 48), S. 54, 70 (Tabella 1). 52 Bachi/Della Pergola: Gli ebrei italiani (wie Anm. 45), S. 172. 53 Canepa, Cattolici ed ebrei (wie Anm. 27), S. 49. 54 Werner Conze: Sozialgeschichte 1850–1918. In: Hermann Aubin/Wolfgang Zorn (Hrsg.): Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Bd. 2. Stuttgart 1976, S. 602–684, hier S. 607.

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ten durften.⁵⁵ Mailand, wo um 1800 so gut wie keine Juden gelebt hatten, besaß im Jahre 1901 eine jüdische Gemeinde von 3 173 Personen; in Genua wuchs die jüdische Bevölkerung im selben Zeitraum von 84 auf 1 415, in Rom von 4 700 auf 7 838, in Florenz von 1 500 auf 3 013 Personen. Dagegen sank die jüdische Bevölkerung in Ancona von 2 850 auf 1 671, in Ferrara von 2 250 auf 1 467 und in Mantua von 2 700 auf 1 348 Personen.⁵⁶ Die Wanderungsbewegungen spiegeln die beruflichen Orientierungen der Juden nach der Emanzipation wider. Für städtisch-bürgerliche Berufe waren die Juden schon durch ihren Bildungsstand prädestiniert. Nach der italienischen Volkszählung von 1901 betrug der allgemeine Alphabetisierungsgrad unter den Erwachsenen um 50 Prozent, unter den Juden für sich genommen 95 Prozent; bei den Kindern im Schulalter lauten die Ziffern knapp 60 Prozent für die Gesamtbevölkerung und 98 Prozent für die Juden.⁵⁷ Die Berufsstruktur der jüdischen Bevölkerung Italiens, wie sie sich nach der Emanzipation entwickelte, gleicht in ihren allgemeinen Tendenzen dem Bild, das auch für andere Staaten, etwa Deutschland, ermittelt wurde: eine vergleichsweise geringe Präsenz unter den Bauern, den Arbeitern und Handwerkern sowie unter den Dienstboten; dagegen eine überproportionale Präsenz unter den freien Berufen, in der Unternehmerschaft, im Handel, im Bank- und im Versicherungswesen. In Italien war ihr Anteil auch in der Wissenschaft und in der öffentlichen Verwaltung besonders hoch. Für die italienischen Verhältnisse ist allerdings bezeichnend, dass die Juden selbst in denjenigen Berufssparten, in denen sie – gemessen an ihrem Anteil an der berufstätigen Bevölkerung überhaupt – am stärksten vertreten waren, nur einen verschwindend geringen Prozentsatz aller dort Tätigen ausmachten. So waren die Juden im Jahre 1901 unter den Universitätslehrern rund 40 mal und 1938 rund 90 mal so stark vertreten, als ihrem Anteil an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen entsprochen hätte; aber diese überdurchschnittliche Präsenz in der Professorenschaft entsprach doch nur einem Prozentsatz von knapp vier beziehungsweise neun.⁵⁸ In anderen Sektoren war der Anteil der Juden erheblich geringer und blieb, vom Handel abgesehen, überall unter zwei Prozent. Unter den Advokaten waren 1901 1,08 Prozent, unter den Ingenieuren und Architekten 1,17 Prozent jüdischen

55 Eitan F. Sabatello: Trasformazioni economiche e sociali degli ebrei in Italia nel periodo dell’emancipazione. In: Italia Judaica IV (wie Anm. 14), S. 114–124, hier S. 118 f.; Della Pergola: Precursori (wie Anm. 48), S. 61 ff. 56 Ebd., S. 71 (Tabella 2). 57 Sabatello: Trasformazioni (wie Anm. 55), S. 117. 58 Ebd., S. 122 f.

384 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Glaubens.⁵⁹ Die ungleichmäßige Verteilung der jüdischen Bevölkerung auf das Land brachte es freilich mit sich, dass die jüdischen Mitglieder einer Berufsgruppe in den großen Zentren weit stärker ins Auge fielen, aber selbst hier blieben sie überall eine kleine Minderheit. Nach einer zeitgenössischen Berechnung sollen in Turin im Jahre 1938 203 Ärzte von 1 463 zum Judentum gehört haben, 79 Ingenieure von 960, neun von 108 Notaren und 124 von 962 Advokaten, wobei als Kriterium für die Zugehörigkeit zur Gruppe der Juden der Anschein des Namens genommen wurde, was mit Sicherheit zu einer Aufblähung der Ziffern für den jüdischen Anteil an den einzelnen Berufsgruppen geführt hat.⁶⁰ Doch selbst eine solchermaßen differenzierte Erhebung der numerischen Proportionen würde noch nicht das Grundproblem lösen, wie man aus dem Zahlenvergleich unterschiedliches gesellschaftliches Verhalten erklären soll. Auch ein jüdischer Bevölkerungsanteil von einem Prozent, wie ihn das Deutsche Reich aufwies, ist schließlich äußerst gering und liefert, für sich genommen, keinen Schlüssel zum Verständnis von Abwehrreaktionen in der nichtjüdischen Bevölkerung. Eine dritte Erklärung für die Schwäche des Antisemitismus in Italien ist in der verzögerten Industrialisierung des Landes zu suchen. Der industrielle takeoff, um einen Ausdruck von Walt Rostow zu gebrauchen, fand dort in der Tat erst in der Ära Giolitti um die Jahrhundertwende und damit rund fünfzig Jahre später als in Deutschland statt. Diese Verzögerung brachte es mit sich, dass es in der Phase zwischen der Gründung des italienischen Nationalstaats und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs noch keine konsistente Gruppierung von Verlierern im Industrialisierungsprozess geben konnte, die sich anderswo für antisemitische Ressentiments besonders anfällig zeigten. Für die deutsche Gründerkrise von 1873 gab es in Italien keine Parallele, und die allgemeine Depression bis 1896 traf auf ein Land, das noch damit beschäftigt war, erst einmal die Voraussetzungen für den Durchbruch der industriellen Revolution zu schaffen.⁶¹ Als vierter Grund für die Schwäche des Antisemitismus bietet sich die Beschränktheit der politischen Partizipation an. Zwar brachte die Wahlreform von 1881 praktisch allen, die lesen und schreiben konnten, das Wahlrecht, aber noch um 1900 lag der Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung, wie erwähnt, erst bei 52 Prozent, in den ländlichen Gegenden und vor allem im Süden noch weit dar-

59 Ebd. 60 De Felice: Storia (wie Anm. 20), S. 13. 61 Rosario Romeo: Risorgimento e capitalismo. Bari 1963, S. 148; ders.: Breve storia della grande industria in Italia 1861–1961. Bologna 1972, S. 65 ff.

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unter, am niedrigsten in Kalabrien mit 21 Prozent.⁶² Das allgemeine Wahlrecht wurde erst am Vorabend des Ersten Weltkriegs eingeführt. Die bis dahin wirksamen Beschränkungen des Wahlrechts hatten zur Folge gehabt, dass die Versuchung, Wählermassen mit antisemitischen Parolen zu mobilisieren, sich von vornherein in Grenzen halten musste. Das führt auf einen fünften Grund für die Schwäche des Antisemitismus in Italien. Die Massen der analphabetischen bäuerlichen Bevölkerung hätten am ehesten mit den traditionellen christlich-antijudaistischen Argumenten angesprochen werden können. Vor allem mit solchen Argumenten bekämpfte die Kirche damals den italienischen Nationalstaat als solchen. Eben deshalb aber – darauf hat vor allem Roberto Finzi hingewiesen – verbot es sich für jede politische Gruppierung innerhalb der liberalen Führungsschicht des Landes, ihrerseits auf unterschwellige antijüdische Gesinnungen zu setzen, um entweder nationalistische oder aber modernisierungsfeindliche Ziele zu verfolgen.⁶³ Die Fundamentalopposition der katholischen Kirche und die antimodernistische und sozialromantische klerikale Publizistik haben zur entschiedenen Ausprägung des liberalen, laikalen und religiös indifferenten Staates beigetragen. Die Emanzipation der Juden erhielt auf diese Weise einen Symbolwert für die Ziele des Risorgimento insgesamt. In der Tat hatte jeder Schritt zur politischen Modernisierung des Landes von den Reformen Josephs II. und Peter Leopolds, von der Einführung der französischen Institutionen im Zeitalter Napoleons bis zur endgültigen Durchsetzung des Verfassungsstaats und der nationalen Einigung seit 1848 immer auch die Emanzipation der Juden einbezogen.⁶⁴ Führende Persönlichkeiten der Freiheits- und Einheitsbewegung wie Giuseppe Mazzini, Carlo Cattaneo, Massimo d’Azeglio und Niccolò Tommaseo hatten sich schon vor der Revolution von 1848 mit Leidenschaft für die Emanzipation der Juden eingesetzt.⁶⁵ Zahlreiche Juden hatten selbst in der nationalrevolutionären Bewegung mitgewirkt: An Garibaldis Zug der Tausend von 1860 zur Revolutionierung des Königreichs beider Sizilien beteiligten sich acht Juden, drei von ihnen als Offiziere.⁶⁶

62 Maurice F. Neufeld: Italy: School for Awakening Countries. The Italian Labor Movement in Its Political, Social, and Economic Setting from 1800 to 1960. Ithaca, N. Y. 1961, S. 523 (Table 7). 63 Finzi: Gli ebrei (wie Anm. 34), S. 1392. 64 Vgl. Michaelis: L’ebraismo italiano (wie Anm. 22), S. 253. 65 Vgl. ebd., S. 3 ff.; vgl. im übrigen Achille Norsa: Carlo Cattaneo e le ,Interdizioni Israelitiche’. In: Rivista mensile di Israel 35 (1969), S. 552–561; Alberto M. Ghisalberti: Massimo e Roberto d’Azeglio per l’emancipazione degli Israeliti in Piemonte. In: ebd. 45 (1979), S. 289–327; Bruno di Porto: Niccolò Tommaseo e gli ebrei: una meditata simpatia. In: ebd. 35 (1969), S. 505–514. 66 Finzi: Gli ebrei (wie Anm. 34), S. 1388; Dan V. Segre: Emancipation (wie Anm. 18), S. 226 f.

386 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Bekanntlich finden sich auch in Deutschland Juden an führender Stelle in der Einheits- und Freiheitsbewegung: Man denke an die Paulskirchenabgeordneten Eduard Simson und Gabriel Riesser. Der Unterschied zwischen den beiden Ländern liegt nur darin, dass im italienischen Nationalstaat der Liberalismus wirklich an die Macht gelangte und diese über ein halbes Jahrhundert hinweg auch alleine ausübte. Die liberale politische Kultur dieses Staates verknüpfte das Bekenntnis zur Emanzipation, das heißt zu den Idealen von Freiheit und Gleichheit, mit dem Nationalgedanken und dem Ziel der sozialen und politischen Modernisierung. Shulamit Volkov hat mit dem Blick auf Deutschland Antisemitismus und Emanzipation als zwei entgegengesetzte kulturelle Codes im Kaiserreich unterschieden. Wie sie zeigen konnte, wurde in Deutschland mehr und mehr der Antisemitismus zur Erkennungsmarke für die nationale Gesinnung.⁶⁷ Überträgt man dieses Modell auf Italien, so springt der Unterschied sofort in die Augen. Auch im geeinten Italien war die Nation ein dominierender politischer Wert; aber im Gegensatz zum wilhelminischen Deutschland verband sich der Nationalismus in Fortsetzung der risorgimentalen Traditionen hier nach wie vor mit den Idealen des Liberalismus. So blieb in Italien selbst im Zeitalter des Imperialismus die Emanzipation der kulturelle Code, die Erkennungsmarke für die nationale Gesinnung. Das Interesse der Nation konnte nicht gegen die Gleichberechtigung der Juden ins Feld geführt werden.

67 Shulamit Volkov: Antisemitismus als kultureller Code. In: Dies.: Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. München 1990, S. 13–36.

Die Juden Italiens zwischen Emanzipation und Holocaust (1796–1945) Die* beiden im Titel genannten Ereignisse – Emanzipation und Holocaust – begrenzen nicht nur den Zeitraum, auf den sich die folgenden Ausführungen beziehen, sondern sie zeigen auch die Problemstellung an, die in ihrem Mittelpunkt stehen soll. Der Völkermord an den Juden durch den Nationalsozialismus war die extremste Ausformung des modernen Rassenantisemitismus; dieser selbst aber wird traditionell als eine Folgeerscheinung der Emanzipation begriffen in dem Sinne, dass der Eintritt der Juden in die bürgerliche Gesellschaft im Zuge des durch Industrialisierung und Demokratisierung erzeugten sozialen Wandels Ressentiments und Abwehrreaktionen bei der nichtjüdischen Bevölkerung hervorgerufen habe. Ist diese Hypothese für Deutschland in den letzten Jahrzehnten durch zahlreiche Untersuchungen bestätigt worden, so verlangt ihr allgemeiner Geltungsanspruch zugleich zwingend nach vergleichenden Analysen, die auch andere europäische Gesellschaften mit einbeziehen. Dies gilt erst recht, wenn solche Staaten in den dreißiger oder vierziger Jahren dieses Jahrhunderts ebenfalls eine judenfeindliche Politik betrieben oder mit der deutschen Besatzungsmacht kollaboriert und die Deportationen von Juden in die Vernichtungslager unterstützt haben. In Italien wurde die Emanzipation der Juden im Herbst des Jahres 1938 durch die faschistischen „Rassengesetze“ wieder rückgängig gemacht. Die Juden wurden aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen. Ehen zwischen Juden und Christen wurden verboten. Juden durften keine staatlichen Schulen und Universitäten mehr besuchen. Jüdische Lehrer und Professoren wurden entlassen. Aus der öffentlichen Verwaltung und der Armee wurden die Juden ausgeschlossen. Die Ausübung der wichtigsten freien Berufe wurde ihnen untersagt. Große Betriebe durften nicht mehr von Juden geleitet werden. Juden mussten ihre Radios abgeben. Aus den Telefonbüchern wurden ihre Namen getilgt. Bücher jüdischer Autoren wurden aus den Schulen verbannt; aus dem Kulturleben wurden jüdische Künstler, Musiker, Maler und Schauspieler ausgeschlossen.

* Der Aufsatz bildet den erweiterten Text eines Vortrags, den der Autor auf Einladung der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg am 14. Januar 1998 im Gebäude der Neuen Universität in Heidelberg gehalten hat. Erstdruck in: Trumah. Zeitschrift der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, Band 8 (1999): Wissenschaftliche Eliten und die nationalsozialistische Judenverfolgung, S. 73–95.

388 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Am 25. Juli 1943, nachdem britische und amerikanische Truppen in Sizilien gelandet waren, entließ König Viktor Emanuel III. Mussolini und ernannte Marschall Badoglio zu seinem Nachfolger. Die neue Regierung schloss am 8. September 1943 einen Waffenstillstand mit den bisherigen Kriegsgegnern. Damit scherte Italien aus dem Kriegsbündnis mit Hitlerdeutschland aus. Hitler wollte das Land jedoch nicht aus seinem Einflussbereich entlassen. Daher ließ er Mussolini in Salò am Gardasee als Regierungschef einer neu gegründeten Repubblica sociale italiana wieder ins Amt einsetzen. Der Duce der Republik von Salò glich freilich mehr einer Marionette als einem Verbündeten, und Hitler selbst behandelte Italien von nun an weitgehend wie ein Besatzungsgebiet.¹ In den verbleibenden anderthalb Jahren bis Kriegsende erleichterte die Kollaborationsbereitschaft italienischer Stellen die Durchführung umfangreicher Deportationen von Juden durch die Beauftragten Adolf Eichmanns. Nun ist der Weg von der Emanzipation über die Rassengesetze von 1938 bis zu den Deportationen seit dem Herbst 1943 alles andere als geradlinig verlaufen. Zunächst unterscheidet sich Italien von vielen anderen europäischen Ländern dadurch, dass die Emanzipation der Juden und ihre Integration in die bürgerliche Gesellschaft dort so vollständig wie kaum irgendwo sonst gelungen sind.² Die Bürger mosaischen Glaubens genossen uneingeschränkte Rechtsgleichheit. Kein öffentliches Amt, keine Laufbahn in der Armee war ihnen verschlossen. Im Jahre 1907 wurde Ernesto Nathan zum Oberbürgermeister von Rom gewählt. Drei Jahre später wurde Luigi Luzzatti zum italienischen Ministerpräsidenten ernannt. Chaim Weizmann, der spätere erste Staatspräsident Israels, schrieb in seinen Memoiren über seine Eindrücke während eines Besuchs in Italien im Herbst 1921: „Die Juden unterschieden sich in nichts von ihren Mitbürgern, nur daß sie zur Synagoge statt zur Messe gingen“,³ und in Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem ist zu lesen:

1 Vgl. den treffenden Titel der wichtigsten Untersuchung der letzten Jahre über das Verhältnis zwischen den beiden Regimen in ihren letzten 20 Monaten: Lutz Klinkhammer: Zwischen Bündnis und Besatzung. Das nationalsozialistische Deutschland und die Republik von Salò 1943–1945. Tübingen 1993. 2 Vgl. dazu Volker Sellin: Judenemanzipation und Antisemitismus in Italien im 19. Jahrhundert. In: Christof Dipper/Rainer Hudemann/Jens Petersen (Hrsg.): Faschismus und Faschismen im Vergleich. Wolfgang Schieder zum 60. Geburtstag. Köln 1998, S. 107–124, und die dort genannte Literatur (in diesem Band S. 369). Wo spezielle Nachweise fehlen, wird auf diese Arbeit Bezug genommen. Auf drei wichtige Publikationen der letzten Jahre sei gleichwohl eigens hingewiesen: Francesca Sofia/Mario Toscano (Hrsg.): Stato nazionale ed emancipazione ebraica. Roma 1992; Italia judaica. Bd. 4: Gli ebrei nell’Italia unita 1870–1945. Roma 1993; Corrado Vivanti (Hrsg.): Gli ebrei in Italia. Bd. 2: Dall’emancipazione a oggi (Storia d’Italia, Annali 11/2). Torino 1997. 3 Chaim Weizmann: Memoiren. Das Werden des Staates Israel. Zürich 1953, S. 423.

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Assimilation, dieses oft mißbrauchte, ideologisch so belastete Wort, war einfach eine Tatsache in Italien. [. . . ] In Italien war Assimilation keine Form der Lebenslüge, keine Sache, an die man zu glauben oder für die man sich einzusetzen hatte, wie in allen deutschsprachigen Ländern, noch war sie ein Mythos und offenkundiger Selbstbetrug wie vornehmlich in Frankreich.⁴

In Übereinstimmung mit diesen Urteilen haben ganz unterschiedliche Beobachter immer wieder das Fehlen von jeglichem Antisemitismus in Italien behauptet.⁵ Die erste Frage, die vor diesem Hintergrund gestellt werden muss, zielt dementsprechend auf die Faktoren, die einen so erfolgreichen Verlauf des Integrationsprozesses in Italien ermöglicht haben. Daran muss sich zweitens die Frage anschließen, wie es zu erklären ist, dass ein Land ohne nennenswerte antisemitische Traditionen sich gleichwohl 1938 einer radikalen antijüdischen Politik verschreiben konnte. Mit den Rassengesetzen dieses Jahres passte sich das faschistische Italien dem verbündeten Nazideutschland an, dem es wenig später in den Zweiten Weltkrieg folgen sollte. Umso erstaunlicher erscheint es, dass Italien bis zum Waffenstillstand vom 8. September 1943 mit Ausnahme von Einzelfällen keine Juden an den Verbündeten auslieferte – weder aus Italien noch aus den von italienischen Truppen besetzten Gebieten in Südfrankreich, Jugoslawien und Griechenland; weder Juden italienischer Staatsangehörigkeit noch ausländische, darunter zahlreiche deutsche Juden, die vor dem Zugriff der SS nach Italien geflohen waren.⁶ Auf eine Erklärung für diese überraschende Tatsache zielt die dritte Frage, während die vierte Frage darauf gerichtet werden soll, warum das faschistische Regime der Republik von Salò nicht an der begrenzten Judenpolitik festhielt und statt dessen mit der Besatzungsmacht bei deren Vorbereitungen für den Völkermord offensichtlich kollaborierte. Zuletzt soll gefragt werden, warum trotz dieser Kollaboration nur etwa 18 Prozent der im September 1943 auf der italienischen Halbinsel lebenden Juden der Deportation in die Vernichtungslager anheimfielen. Die erste Frage soll also lauten: Welche Faktoren haben dahin zusammengewirkt, dass die Integration der Juden in die italienische Gesellschaft in solchem

4 Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Erweiterte Taschenbuchausgabe. München 1986, S. 282 f. 5 Vgl. die Belege bei Sellin: Judenemanzipation und Antisemitismus (wie Anm. 3), S. 112–114; vgl. oben S. 369–386. 6 Im Jahre 1943 trafen deutsche und italienische Stellen in Frankreich Absprachen über gegenseitige Auslieferungen. Aufgrund dessen wurde z. B. am 19. 5. 1943 Theodor Wolff, ehemaliger Chefredakteur des Berliner Tagblatts, der seit 1934 in Nizza im Exil lebte, von der italienischen Polizei verhaftet und der Gestapo übergeben. Klaus Voigt: Zuflucht auf Widerruf. Exil in Italien 1933–1945. Bd. 2, Stuttgart 1993, S. 246 f.

390 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Maße gelungen ist, dass in ihrem Verlauf kein nennenswerter Antisemitismus entstanden ist? Zunächst ist festzuhalten, dass die rechtliche Gestaltung der Emanzipation dem französischen Muster der vollständigen und bedingungslosen Gleichstellung in einem Zuge folgte. Vom Jahre 1796 an, als die französische Italienarmee unter Führung von Napoleon Bonaparte mit der Eroberung Italiens begann, wurde nach und nach überall das französische Recht eingeführt. Auf dem Höhepunkt der französischen Machtentfaltung um 1810 stand ganz Italien außer den Inseln Sardinien und Sizilien unter französischer Herrschaft: Piemont, Genua, die Toskana, Parma, Piacenza und der westliche Teil des Kirchenstaats mit Rom waren von Frankreich annektiert worden; das Königreich Neapel wurde von Napoleons Schwager Murat regiert; der Nordosten – Venetien, die Lombardei und die nördlichen Teile des Kirchenstaats – bildeten das Königreich Italien: König war Napoleon selbst, Vizekönig sein Stiefsohn Eugène Beauharnais. In all diese Gebiete fanden die Reformen der Französischen Revolution und Napoleons Eingang und also auch die Gleichstellung der Juden. Die Restauration hob die Errungenschaften der Franzosenzeit zum Teil wieder auf; im Kirchenstaat und in Piemont wurden die Juden wieder ins Ghetto verbannt. Die endgültige Gleichstellung erfolgte dann seit der Revolution von 1848 im Zuge der schrittweisen Ausdehnung des Geltungsbereichs des Statuto albertino vom 4. März 1848 – der Verfassung des Königreichs Sardinien – auf ganz Italien.⁷ Die Forderung der Judenemanzipation bildete von Anfang an einen integralen Bestandteil des politischen Gesamtprogramms des italienischen Risorgimento, der Errichtung eines Nationalstaats mit einer liberalen Repräsentativverfassung unter Garantie der bürgerlichen und politischen Freiheitsrechte. Wie in Deutschland haben in der italienischen Einheits- und Freiheitsbewegung Juden an vorderster Stelle mitgewirkt, aber anders als in Deutschland hat der politische Liberalismus den 1860 gegründeten und mit der Einnahme Roms 1870 vollendeten Nationalstaat wirklich beherrscht. Die konsequente Verwirklichung des im Liberalismus angelegten Prinzips des religiös indifferenten, laikalen Staates wurde in Italien durch einen Umstand erleichtert, der in dieser Form in keinem anderen Land gegeben war. Die italienische Einheitsbewegung hatte den Kirchenstaat zerstört und damit die weltliche Herrschaft des Papstes beendet. Die Folge war, dass die Kirche den neuen Staat jahrzehntelang bekämpfte. Eine Waffe in diesem Kampf des Vatikans bildete der Appell an das antijüdische Vorurteil in der Gesellschaft. Vor allem die 1850 von

7 Vgl. hierzu Carlo Ghisalberti: Sulla condizione giuridica degli ebrei in Italia dall’emancipazione alla persecuzione: spunti per una riconsiderazione. In: Italia Judaica (wie Anm. 3), S. 19–31.

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Jesuiten gegründete Zeitschrift La Civiltà cattolica war voll von Ausfällen gegen das Judentum. Die klerikale Judenfeindschaft stand dabei einerseits in der Tradition des christlichen Antijudaismus; andererseits beruhte sie auf einer Identifikationskette, in der die Emanzipation der Juden zum Symbol des Liberalismus, der Freimaurerei, der allgemeinen Entchristlichung, des Nationalstaats und des Kapitalismus und damit zum Kürzel für die Modernisierung insgesamt gemacht wurde.⁸ Der Zusammenhang mit dem Syllabus errorum Pius’ IX. von 1864 und seiner Verdammung der Moderne liegt auf der Hand. Gegenüber einem Gegner, der die Menschenrechte, den Verfassungsgedanken und die nationale Einheit als eine Erfindung des Judentums zu diffamieren suchte, blieb dem liberalen Staat und seiner politischen Klasse gar keine andere Wahl, als sich umso entschiedener zu seinen Grundlagen zu bekennen, und zu diesen Grundlagen gehörte in erster Linie die Gleichheit der Bürger ohne Ansehen des Glaubens. Dementsprechend hat die antijüdische Propaganda der Kirche die Integration der Juden im Ergebnis mehr gefördert als behindert. Die klerikale Kampagne hätte am ehesten die kirchlich gebundene Landbevölkerung beeindrucken können, doch blieb ihre politische Wirkung bis zum Ersten Weltkrieg hier aus zwei Gründen begrenzt. Zum einen lebten die Juden überwiegend in den Städten, nach der Emanzipation vor allem in den großen Zentren wie Rom, Florenz, Mailand, Turin und Genua, und in den Gebieten des ehemaligen Königreichs Neapel und in Sizilien gab es so gut wie keine Juden, da sie im 16. Jahrhundert nach spanischem Vorbild von dort vertrieben worden waren. Die Juden spielten daher im Alltag der Landbevölkerung kaum eine Rolle. Zum andern blieben die Landbewohner bis 1913 de facto weitgehend vom Wahlrecht ausgeschlossen, da zur Wahl nur zugelassen wurde, wer lesen und schreiben konnte. Insofern bestand kein Anreiz für irgendeine politische Gruppierung, durch den Appell an mögliche antijüdische Vorurteile bäuerliche Wähler zu mobilisieren. Ein weiterer Grund für die geringe Anfälligkeit der italienischen Gesellschaft der Epoche bis zum Ersten Weltkrieg für den Antisemitismus dürfte in der Verspätung des Industrialisierungsprozesses zu suchen sein. Der Durchbruch der industriellen Revolution erfolgte in Italien erst kurz vor der Jahrhundertwende in einer Phase hoher Konjunktur. So verbreitet die Armut wegen der traditionellen Übervölkerung, der rückständigen Technologie und seit den siebziger Jahren auf dem Lande zusätzlich infolge der Agrarkrise bis dahin auch gewesen war, das Elend konnte nicht als Folge des Kapitalismus und der Industrialisierung wahrgenommen werden – Phänomene, für die anderswo häufig die Juden verantwortlich gemacht wurden.

8 Vgl. hierzu Sellin: Judenemanzipation und Antisemitismus (wie Anm. 3), S. 114 f.

392 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Eine weitere Erklärung für die hohe Akzeptanz der Juden durch die umgebende Gesellschaft in Italien wird vielfach in ihrer vergleichsweise geringen Zahl gesehen. Um 1900 lebten in Italien 43 000 Juden. Die Gesamtbevölkerung betrug 34 Millionen. Der Anteil der Juden lag somit unter 1,3 Promille, während er zum Beispiel in Deutschland ein Prozent ausmachte. Bei der Beurteilung dieses Erklärungsvorschlags ist allerdings zu bedenken, dass sich die jüdische Bevölkerung in den großen Städten und in bestimmten charakteristischen Berufsbereichen konzentrierte. So waren die Juden im Jahre 1901 unter den Universitätslehrern in Italien rund vierzigmal und 1938 rund 90 mal so stark vertreten, als ihrem Anteil an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen entsprochen hätte. Größere Bedeutung für die Akzeptanz der Juden in den verschiedenen europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts hatte vielleicht ein demographischer Faktor: das Wachstum des jüdischen Bevölkerungsteils. In Fallzahlen je 1 000 betrug die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate der jüdischen Bevölkerung zwischen 1860 und 1900 in Deutschland 7,0, in Frankreich 12,2, in Großbritannien und Irland 49,1 und in Österreich, bezogen auf den heutigen Gebietsumfang, sogar 78,1 Promille; in Italien dagegen lag sie bei ganzen 2,4 Einwohnern je 1 000. Die hohen Zuwachsraten in Mittel- und Westeuropa sind nicht allein auf das natürliche Bevölkerungswachstum, sondern vor allem auf die massive Zuwanderung aus Osteuropa zurückzuführen. Von dieser Wanderungsbewegung blieb Italien ausgespart. Italien war wirtschaftlich zurückgeblieben und selbst ein klassisches Auswanderungsland. Wie lässt sich nun aber die These vom Gelingen der Integration mit der Einführung der Rassengesetze von 1938 vereinbaren? Das war die zweite Frage, die nach dem eingangs entwickelten Programm gestellt werden sollte. Die nächstliegende Antwort wäre die Annahme, die Rassengesetze seien nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf Druck des deutschen Verbündeten verabschiedet worden. Für eine solche Annahme fehlt freilich jeder Beweis. Immerhin ist zu bedenken, dass im Programm des italienischen Faschismus im Unterschied zum Nationalsozialismus Rassismus und Antisemitismus fehlten. Als die Rassengesetze eingeführt wurden, war Mussolini bereits sechzehn Jahre an der Macht, ohne dass seine Politik in dieser Zeit antisemitische Tendenzen hätte erkennen lassen. Die faschistische Partei verzeichnete zahlreiche jüdische Mitglieder, darunter auch einige prominente.⁹

9 Renzo De Felice: Storia degli ebrei italiani sotto il fascismo. Nuova edizione ampliata. Torino 1993 (Erste Auflage 1961), S. 67; Michele Sarfatti: Gli ebrei negli anni del fascismo: vicende, identità, persecuzione. In: Corrado Vivanti (Hrsg.): Gli ebrei in Italia. Bd. 2, S. 1632 f.; vgl. auch ders.: Der Novemberpogrom 1938 in Deutschland und die antijüdische Politik des italienischen Achsenpartners. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 46 (1998), S. 1007–1013.

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Insofern bedeuteten die Rassengesetze in der Tat einen radikalen Bruch nicht nur mit der liberalen italienischen, sondern ebenso speziell mit der faschistischen politischen Tradition. Bei der Wendung zur antijüdischen Politik wirkten mehrere Faktoren zusammen. Die hauptsächlichen Beweggründe Mussolinis waren außenpolitischer Natur, und hierbei spielte in der Tat das Verhältnis zum Achsenpartner Deutschland die wichtigste Rolle. Aber diese Politik wurde Mussolini vom Verbündeten nicht aufgenötigt, sie erscheint vielmehr als ein Akt freiwilliger Solidarisierung Italiens mit dem Deutschen Reich. Bekanntlich war die Allianz zwischen den beiden Mächten im Jahre 1936 im Zusammenhang mit dem Abessinienkrieg entstanden. Durch seinen Angriff auf Äthiopien hatte sich Italien gegenüber den demokratischen Mächten Westeuropas isoliert. Dadurch wurde der Weg frei für die Bildung der Achse Berlin–Rom: ein Bündnis neoimperialistischer Mächte, die sich von den politischen Idealen des Westens distanzierten. Diese antiliberale Gemeinsamkeit bewährte sich im gleichen Jahr 1936 in der Intervention beider Staaten in den Spanischen Bürgerkrieg. Dagegen bildete die Diskriminierung und Verfolgung der Juden in Deutschland je länger je mehr eine Belastung für die „Achse“ Berlin–Rom. Die Juden Italiens verurteilten nicht nur die judenfeindliche Politik Hitlers; sie gründeten auch Hilfsorganisationen, um die zahlreichen Flüchtlinge aus Deutschland zu unterstützen; vor allem aber lehnten sie die Allianzpolitik ihrer Regierung notwendigerweise auf das entschiedenste ab. Für Mussolini war es später ein leichtes, die Opposition der Juden gegen diese Seite seiner Außenpolitik als prinzipiell antifaschistisch oder gar antiitalienisch auszugeben.¹⁰ Die Kategorie der Rasse war um dieselbe Zeit im Zusammenhang mit der Eroberung Äthiopiens in der italienischen Politik in den Vordergrund getreten. Zum einen wurde die gewaltsame Inbesitznahme dieses Landes wesentlich mit der zivilisatorischen Mission der italienischen Rasse gerechtfertigt; zum anderen suchte Mussolini durch Propaganda deren Selbstbewusstsein zu stärken, um der Vermischung von Italienern und Afrikanern entgegenzuwirken.¹¹ Diese Entwicklungen erleichterten Mussolini den Entschluss zur judenfeindlichen Wendung seiner Politik. Angesichts des hohen Stellenwerts des Antisemitismus in Programm und Praxis des Nationalsozialismus musste die Diskriminierung auch der Juden Italiens besonders geeignet erscheinen, um die Solidarität mit Hitlerdeutschland zu unterstreichen und sich umgekehrt der Solidarität Hitlers zu versichern. Hinzu kam, dass Mussolini gerade mit dieser Politik entschie-

10 Sarfatti: Gli ebrei negli anni del fascismo (wie Anm. 10), S. 1667. 11 De Felice: Storia degli ebrei italiani (wie Anm. 10), S. 237 ff.

394 | III Monarchie, Nation, Nationalismus den Position beziehen konnte gegen die liberalen Traditionen des Westens; sie trug gewissermaßen Bekenntnischarakter und diente der Festigung der faschistischen Internationale zwischen den demokratischen Westmächten und der kommunistischen Sowjetunion. Mussolinis Solidarität mit der nationalsozialistischen Judenpolitik reichte jedoch nicht bis zur kritiklosen Nachahmung des deutschen Beispiels. Vielmehr folgte der italienische Faschismus seinen eigenen Zielen. Die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 und die systematische und umfassende Zerstörung der Synagogen beispielsweise hatten in Italien keine Parallele, auch wenn zu unterschiedlichen Zeiten einzelne Synagogen von faschistischen Milizen geplündert oder zerstört wurden. Damit wird bereits die dritte der eingangs gestellten Fragen berührt: Wie ist es zu erklären, dass Mussolini ungeachtet der Allianz mit Hitlerdeutschland bis zu seiner Absetzung am 25. Juli 1943 keine Juden an den Verbündeten auslieferte? Die Antwort liegt, wie schon angedeutet, eben darin, dass Mussolini seine Judenpolitik eigenständig und unabhängig vom nationalsozialistischen Partner konzipiert hatte. Ganz abgesehen von der Frage, wann die nationalsozialistische Führung die physische Vernichtung der in ihrem Machtbereich lebenden Juden ins Auge fasste, steht fest, dass zumindest bis zum Sommer 1943 weder der Genozid noch auch nur die Beihilfe dazu Ziele der Judenpolitik des faschistischen Italien bildeten. Wann Mussolini von der systematischen Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten Kenntnis erhielt, ist nicht genau bekannt. Wahrscheinlich war er sich spätestens im Herbst 1942 über die Vorgänge im klaren. Einen sicheren Beleg bildet der Bericht des italienischen Botschafters in Berlin, Dino Alfieri, vom 3. Februar 1943, in dem von Massenexekutionen die Rede ist.¹²

12 Rapporto segreto di Dino Alfieri a Galeazzo Ciano, Berlino, 3. 2. 1943, abgedruckt als Dokument Nr. 32 im Anhang bei De Felice: Storia degli ebrei italiani (wie Anm. 10), S. 602–605, sowie in: I Documenti Diplomatici Italiani. Serie 9, Bd. 9, Nr. 578, S. 580–583; vgl. z. B. ebd., S. 583: „Sulle esecuzioni in massa raccontano gli stessi SS: e persino una ‚Wochenschau‘, un anno fa circa, conteneva riprese di ebrei russi buttati vivi nelle fiamme. [. . . ] e persona che vi ha assistito ricordava con raccapriccio alcune scene riproducenti esecuzioni con la mitragliatrice di donne e bambini ignudi allineati sull’orlo della fossa comune.“ Möglicherweise hat dieser Bericht dazu beigetragen, dass Mussolini sich im März 1943 dazu bestimmen ließ, an der Weigerung festzuhalten, der französischen Polizei im italienisch besetzten Gebiet Frankreichs freie Hand gegenüber den dorthin geflohenen Juden zu lassen: so Voigt: Zuflucht auf Widerruf (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 253 f. Einen noch früheren Beleg bildet ein Vermerk des italienischen Außenministeriums vom 21. 8. 1942 in: I Documenti Diplomatici Italiani. Serie 9, Bd. 9. Nr. 52, S. 61, in dem Mussolini aufgrund einer gezielten Indiskretion aus der deutschen Botschaft in Rom darauf hingewiesen wurde, dass die vom deutschen Außenminister erbetene Erlaubnis, Tausende von kroatischen Juden aus der italienischen Besatzungszone zur Deportation nach dem Osten freizugeben, für die

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Die Rassenpolitik Mussolinis zwischen 1938 und 1943 diente demgegenüber dem Ziel, die in Italien lebenden Juden zur Auswanderung zu drängen. Dabei wurden zwei Kategorien unterschieden: die alteingesessenen Juden mit italienischer Staatsbürgerschaft einerseits und die ausländischen oder staatenlosen Juden andererseits. Nach der statistischen Erhebung der jüdischen Bevölkerung vom 22. August 1938 bekannten sich 46 656 Personen zum Judentum; 9 415 von ihnen waren Ausländer.¹³ Die Gruppe der ausländischen Juden wurde per Gesetzesdekret vom 7. September 1938 dadurch willkürlich vergrößert, dass zum Ausländer erklärt wurde, wer seinen Aufenthalt in Italien nach dem 1. Januar 1919 begonnen hatte, auch wenn er zwischenzeitlich die italienische Staatsbürgerschaft erworben hatte. Den so definierten ausländischen Juden wurde eine Frist von sechs Monaten, das heißt bis zum 12. März 1939, gesetzt, um das Land zu verlassen.¹⁴ Von den verbleibenden rund 37 000 italienischen Juden wurde ebenfalls erwartet, dass sie so bald wie möglich emigrierten. Diese Erwartung wurde zunächst jedoch nicht öffentlich ausgesprochen, und auch ein Termin wurde nicht genannt.¹⁵ Obwohl in der Folge etwa 3 000 italienische und auch viele ausländische Juden das Land verließen, ging die Gesamtzahl der Juden in Italien bis 1943 wegen erneuten Zustroms aus nationalsozialistisch beherrschten Gebieten nur unwesentlich zurück.¹⁶ Unter den Bedingungen des Krieges wurde die Emigration von Jahr zu Jahr schwieriger und kam schließlich fast vollständig zum Erliegen, ganz abgesehen davon, dass es vielen italienischen Juden trotz der diskriminierenden Gesetzgebung schwerfiel, sich zur Preisgabe ihrer Heimat zu entschließen. Umgekehrt verfügte die italienische Regierung Ende 1942 zum Schutz vor der drohenden Deportation die Rückführung von rund 1 800 Juden italienischer

Betroffenen den sicheren Tod bedeuten würde („tali provvedimenti tenderebbero, in pratica, alla loro dispersione ed eliminazione“). Mussolini überschrieb den Vermerk mit den Worten „nulla osta“ („keine Einwände“), was jedoch keine förmliche Anordnung an die örtlichen Militärbehörden war, dem Wunsch der deutschen Seite nachzukommen, wie Sarfatti, Gli ebrei negli anni del fascismo (wie Anm. 11), S. 1719, betont. Ein Faksimile des Aktenstücks findet sich in: Jonathan Steinberg: All or Nothing. The Axis and the Holocaust 1941–1943. London 1990, S. 2, sowie in der deutschen Ausgabe dieses Buches: Ders.: Deutsche, Italiener und Juden. Der italienische Widerstand gegen den Holocaust. Göttingen 1992, S. 17. 13 Michele Sarfatti: Mussolini contro gli ebrei. Cronaca dell’elaborazione delle leggi del 1938. Torino 1994, S. 138, 164. 14 Regio decreto-legge 7 settembre 1938-XVI, n. 1381, Provvedimenti nei confronti degli ebrei stranieri, ebd., Appendice. Vgl. dazu auch Klaus Voigt: Zuflucht auf Widerruf. Exil in Italien 1933–1945. Bd. 1, Stuttgart 1989, S. 275 ff. 15 Sarfatti: Gli ebrei negli anni del fascismo (wie Anm. 11), S. 1700–1703, 1718. 16 Ebd., S. 1702.

396 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Staatsangehörigkeit, die in anderen Teilen Europas unter deutscher Herrschaft lebten, aber bis dahin von der Verfolgung ausgenommen worden waren.¹⁷ Nach dem Eintritt Italiens in den Zweiten Weltkrieg am 10. Juni 1940 wurden die in Italien lebenden Bürger von Feindstaaten generell interniert. Von den ausländischen Juden wurden auch diejenigen in die Internierung einbezogen, die aus verbündeten Staaten stammten, in denen die Juden verfolgt wurden. Diesen – also vor allem den deutschen Juden, die nach Italien geflohen waren – wurde unterstellt, dass sie von Hass gegen die „totalitären Regime“ erfüllt seien und daher in Zeiten des Krieges nicht anders als die Bürger von Feindstaaten ein Sicherheitsrisiko bildeten.¹⁸ Von den italienischen Juden wurden nur diejenigen interniert, die sich der Opposition gegen das Regime verdächtig gemacht hatten und daher als gefährlich eingestuft wurden. Die Internierung erfolgte teils in eigens angelegten Konzentrationslagern, teils wurden bestehende Gebäude wie Schulen, Schlösser, Fabrikhallen, ehemalige Klöster oder Kinos für diesen Zweck herangezogen. Vor allem für Frauen und Kinder konnte die Internierung auch in der Verbannung in eine bestimmte Gemeinde bestehen. So lebten Leone und Natalia Ginzburg von 1940 bis 1943 mit ihren beiden Kindern zwangsweise in Pizzoli in den Abruzzen.¹⁹ Die Internierungsorte lagen vor allem in den ersten Jahren in Mittel- und Süditalien, so auch das größte und bekannteste Konzentrationslager Ferramonti-Tarsia bei Cosenza in Kalabrien.²⁰ Dieses Lager zählte 92 Baracken und beherbergte im Sommer 1943 über 2 000 Insassen.²¹ Das Lager war ursprünglich nur für Juden vorgesehen; von 1941 an wurde auch eine begrenzte Zahl nicht-jüdischer Internierter dort untergebracht. In der ersten Hälfte des Jahres 1941 waren 38 Prozent der Lagerinsassen Deutsche und Österreicher, 30 Prozent Polen und 22 Prozent Staatenlose.²² Die Zusammensetzung der Bewohnerschaft änderte sich jedoch ständig wegen häufiger Zuzüge und Abgänge. So wurde z. B. im Juli 1941 275 jüdischen Insassen gestattet, das Lager zu verlassen und in bestimmte vorbezeichnete Gemeinden Mittel- und Norditaliens in die sogenannte freie Internierung überzuwechseln.²³

17 Ebd., S. 1703 f. 18 Voigt: Zuflucht auf Widerruf (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 15 ff., bes. S. 21. 19 Maja Pflug: Natalia Ginzburg. Eine Biographie. Berlin 1995, S. 54–63. 20 Carlo Spartaco Capogreco: L’internamento degli ebrei stranieri ed apolidi dal 1940 al 1943: il caso di Ferramonti-Tarsia. In: Italia Judaica (wie Anm. 3), S. 541, 543. 21 Ebd., S. 544 und Anm. 44. 22 Ebd., S. 550; Voigt: Zuflucht auf Widerruf (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 169. 23 Capogreco: L’internamento (wie Anm. 21), S. 550, Anm. 69.

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Am 14. September 1943 erreichten britische Truppen das Lager und hoben die Internierung auf.²⁴ Für die italienischen Juden, wie auch für andere Personen, die vom Militärdienst befreit waren, wurde am 6. Mai 1942 die Arbeitspflicht eingeführt.²⁵ Der Gedanke der Ausschöpfung aller Arbeitsreserven unter den Bedingungen des totalen Krieges verband sich dabei offensichtlich mit dem Bestreben, den Druck auf die Juden weiter zu verstärken. Insgesamt scheint das Programm jedoch nur in Ansätzen verwirklicht worden zu sein. Kranke wurden dispensiert, ebenso Ehepartner von Nichtjuden. Susan Zuccotti berichtet von Marcello Morpurgo aus Görtz, der im Herbst 1942 einer Ziegelei zur Arbeit zugewiesen worden war. Vormittags erledigte er leichtere Arbeiten und Botengänge; nachmittags gab er den Kindern des Unternehmers Unterricht.²⁶ Trotz wachsenden deutschen Drucks weigerten sich die italienischen Behörden bis zum Abschluss des Waffenstillstands am 8. September 1943, auch nur ausländische Juden an die SS auszuliefern. Zu den unter italienischer Herrschaft befindlichen ausländischen Juden zählten zum einen diejenigen, die auf italienischem Hoheitsgebiet lebten oder seit dem Kriegseintritt Italiens dort interniert waren, zum anderen die jüdischen Einwohner und die zahlreichen jüdischen Flüchtlinge aus Drittstaaten in den von italienischen Truppen besetzten Gebieten in Südostfrankreich, Jugoslawien, Griechenland und Tunesien.²⁷ Die Zahl der in den besetzten Gebieten lebenden Juden, Italiener und Nichtitaliener zusammengenommen, übertraf bei weitem die jüdische Bevölkerung Italiens selbst. Im Juli 1943 hielten sich in den acht französischen Departements unter italienischer Besatzung etwa 50 000 Juden auf; die Hälfte davon waren Nichtfranzosen, vor allem Deutsche. Im italienisch besetzten Kroatien befanden sich 1942 3 000 bis 5 000 Juden. Im italienisch besetzten Griechenland lebten 13 000 Juden und in Tunesien rund 60 000, darunter 5 000 bis 5 500 Juden italienischer Herkunft oder Staatsangehörigkeit.²⁸

24 Ebd., S. 556 f.; Voigt: Zuflucht auf Widerruf (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 173 f. 25 Sarfatti: Gli ebrei negli anni del fascismo (wie Anm. 11), S. 1705 f. 26 Susan Zuccotti: The Italians and the Holocaust. Persecution, Rescue, and Survival. New York 1987, S. 63. 27 Dieses Thema ist Gegenstand der Arbeit von Steinberg: All or Nothing (wie Anm. 13). Zur Politik Italiens gegenüber den Juden im italienisch besetzten Frankreich und gegenüber den italienischen Juden Tunesiens vgl. auch Daniel Carpi: Between Mussolini and Hitler. The Jews and the Italian Authorities in France and Tunisia. Hanover/London 1994. 28 Zuccotti: The Italians and the Holocaust (wie Anm. 27), S. 77, 81, 84; Carpi: Between Mussolini and Hitler (wie Anm. 28), S. 198 f.

398 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Der Schutz, den Italien sämtlichen Juden in seinem Herrschaftsbereich bis zum Abschluss des Waffenstillstands am 8. September 1943 gewährte, zeigt, dass die Politik der Entrechtung, die das faschistische Regime mit den Rassengesetzen von 1938 eingeleitet hatte, weder als erster Schritt zur physischen Vernichtung der Juden konzipiert war, noch zwingend dahin führen musste.²⁹ Eine offene Frage ist freilich, wie lange das monarchisch-faschistische Regime, wäre es im Juli 1943 nicht gestürzt worden, dem Druck des dominanten Verbündeten noch hätte widerstehen können. Schon seit Herbst 1942 wurde die italienische Regierung immer heftiger gedrängt, entweder darin einzuwilligen, dass auch italienische Juden, die in Frankreich oder Griechenland unter deutscher Besatzung lebten, künftig in die Deportationen in den Osten einbezogen würden, oder sie nach Italien zurückzuführen. In diesem Zusammenhang erklärte das italienische Außenministerium noch im Oktober 1942 gegenüber deutschen Diplomaten, nach italienischer Rechtsauffassung seien „auch die italienischen Juden in erster Linie als italienische Staatsangehörige“ zu betrachten, „die Anspruch auf den gleichen Schutz hätten wie die übrigen Italiener; insbesondere einer Abschiebung nach dem Osten würde die Italienische Regierung niemals zustimmen“; ausdrücklich hinzugefügt wurde hierbei, „der Duce sei persönlich mit der Angelegenheit befaßt worden.“³⁰ Dementsprechend blieb Italien schließlich nichts anderes übrig, als die im deutschen Herrschaftsbereich lebenden Juden italienischer Staatsangehörigkeit im Laufe des Frühjahrs und Sommers 1943 zu repatriieren. Was dagegen die unter italienischer Besatzung in Frankreich und auf dem Balkan lebenden ausländischen Juden anbelangt, so muss die Frage offen bleiben, wie lange der Widerstand der italienischen Militärs und die Verschleppungstaktik der italienischen Behörden zu ihrem Schutze noch hätten fortgesetzt werden können.³¹

29 Klinkhammer: Zwischen Bündnis und Besatzung (wie Anm. 2), S. 533, spricht in diesem Zusammenhang vom „anderen Charakter des italienischen Antisemitismus, der zwar diskriminieren, aber nicht in staatliche Verfolgungsmaßnahmen münden sollte“. Die mangelnde Bereitschaft des faschistischen Italien, seine Judenpolitik der deutschen anzupassen, war der deutschen Regierung ein fortwährendes Ärgernis. So schrieb z. B. Unterstaatssekretär Martin Luther am 22. 10. 1942 in einer Vortragsnotiz für den Reichsaußenminister, Pol. Archiv des Ausw. Amts, Inland IIg, Bd. 192, Judenfrage in Italien, f. 34–43, Italien sei „in seiner Judengesetzgebung über schwache Ansätze zu einer Lösung nicht hinausgekommen“; vielmehr scheine „das Bemühen vorzuherrschen, jeder einschneidenden Maßnahme aus dem Wege zu gehen“. Italien sei bisher „als Beschützer der Juden“ aufgetreten. Die „italienischen Juden im Ausland“ betrachte es „nicht als solche, sondern nur als italienische Staatsangehörige“. 30 Der deutsche Botschafter in Rom, Hans Georg von Mackensen, an das Auswärtige Amt, 11. 10. 1942. Pol. Archiv des Ausw. Amts, Inland IIg, Bd. 192, Judenfrage in Italien, f. 57. 31 Vgl. die Hinweise auf ein im Sommer 1943 möglicherweise bevorstehendes Einlenken Mussolinis bei Sarfatti: Gli ebrei negli anni del fascismo (wie Anm. 11), S. 1719 f. Ein markantes Beispiel

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Immerhin zeigt das geschilderte Verhalten der italienischen Stellen, dass bei aller Vergleichbarkeit der judenfeindlichen Gesetzgebung Italiens mit derjenigen Deutschlands die physische Vernichtung der Juden vom italienischen Faschismus abgelehnt wurde. Dieser Feststellung scheint die Tatsache zu widersprechen, dass die faschistische Republik von Salò zwischen November 1943 und April 1945 offensichtlich mit Hitlerdeutschland kollaborierte und insoweit die Mitverantwortung für die Deportation von rund 8 000 Juden auf sich lud, von denen nur 824 überlebten.³² Damit ist die vierte der zu Anfang vorgetragenen Fragen gestellt: Wie ist diese Wendung in der italienischen Judenpolitik zu erklären? Eine naheliegende Antwort gibt der israelische Historiker Meir Michaelis. Er hält die Republik von Salò für ein Marionettenregime und scheint überzeugt, dass Mussolini die italienischen Juden vor der Deportation bewahrt hätte, wenn er „ein gewisses Maß an Unabhängigkeit“ hätte „zurückgewinnen“ können.³³ Dass Mussolini nach seiner Wiedereinsetzung durch Hitler nur noch über eine beschränkte Handlungsfreiheit verfügte, steht außer Zweifel.³⁴ Zunächst fielen den Nationalsozialisten mit den ehemals italienisch besetzten Gebieten in Frankreich und auf dem Balkan sämtliche dort lebenden Juden, die bisher auf den italienischen Schutz vertraut hatten, in die Hände. Was Italien selbst betrifft, so darf man auf der anderen Seite nicht übersehen, dass die deutsche Führung sich aus wohlerwogenen Gründen für die Einsetzung einer neuen faschistischen Regierung im formellen Status eines souveränen Verbündeten und gegen eine unmittelbare Verwaltung des besetzten Italien durch deutsche Behörden entschieden hatte. Die Wiedereinsetzung Mussolinis bedeutete im internen Machtkampf der Führungsgruppen des nationalsozialistischen Regimes einen Triumph des Auswärtigen Amts unter Ribbentrop über konkurrierende Instanzen, da nach den Gepflogenheiten der bei der neuen italienischen Regie-

für Sabotage- und Widerstandshandlungen der italienischen Armee ereignete sich im Februar 1943 in Annecy (Haute-Savoie), als italienisches Militär eine Gendarmeriekaserne umstellte und dadurch die Freilassung von „meist staatenlosen Juden erzwang, die zum Zwecke der Deportation in den Osten dorthin eingeliefert worden waren“; vgl. Telegramm Schleiers an das Auswärtige Amt vom 1. 3. 1943, Pol. Archiv des Ausw. Amts, Inland IIg, Bd. 192, Judenfrage in Italien, f. 219; vgl. dazu auch Voigt: Zuflucht auf Widerruf (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 252. 32 Zu den Zahlen vgl. Sarfatti: Gli ebrei negli anni del fascismo (wie Anm. 11), S. 1757 f. 33 Meir Michaelis: Mussolini and the Jews. German-Italian Relations and the Jewish Question in Italy 1922–1945. Oxford 1978, S. 346, 351, 352: „If the ‚Jew-lovers‘ of Salò had been masters in their own house, no Italian Jew would have perished in the Holocaust.“ 34 Vgl. hierzu das Urteil von Renzo De Felice: Mussolini l’alleato 1940–1945. II. La guerra civile 1943–1945. Torino 1997, S. 343: „al punto al quale erano arrivate le cose, l’autorità e i margini di manovra di Mussolini sarebbero stati cosí scarsi che egli non poteva (e non voleva) contrastare le decisioni, le scelte altrui.“

400 | III Monarchie, Nation, Nationalismus rung akkreditierte diplomatische Vertreter, der seinerseits dem Außenminister unterstand, sämtlichen sonstigen deutschen zivilen oder Parteidienststellen im besetzten Italien übergeordnet wurde.³⁵ So erhielt der am 10. September 1943 zum Bevollmächtigten des Großdeutschen Reiches bei der Italienischen Faschistischen Nationalregierung ernannte Botschafter Rudolf Rahn die Chance, sein spezifisches Kollaborationskonzept zu verwirklichen, das nach Möglichkeit den Konsens an die Stelle der Repression zu setzen strebte.³⁶ War also die deutsche Besatzungsmacht bis zu einem gewissen Grade auf die Zusammenarbeit mit der formell souveränen Republik von Salò angewiesen, so beruhte auf eben dieser Angewiesenheit auch die Chance für Mussolini, sich gewisse Handlungsspielräume zu sichern.³⁷ Dass Himmler und Eichmann mit dem Abschluss des Waffenstillstands zwischen Marschall Badoglio und den Westalliierten am 8. September 1943 die Stunde gekommen sahen, um die nationalsozialistische Vernichtungspolitik auch auf das bisher verschonte Italien auszudehnen, wurde schon bald deutlich. Bereits am 16. September deportierte die SS 25 Juden aus Meran.³⁸ Am 22. September ermordeten Angehörige der Leibstandarte Adolf Hitler 16 griechische Juden aus Saloniki in Meina am Lago Maggiore.³⁹ Am 16. Oktober schließlich führte ein Einsatzkommando der SS eine Razzia in Rom durch: Über 1 000 Juden wurden verhaftet und auf den

35 Klinkhammer: Zwischen Bündnis und Besatzung (wie Anm. 2), S. 68–71. 36 Zum Kollaborationskonzept Rahns vgl. ebd., S. 138 ff., und seine programmatische Aufzeichnung vom 19. 8. 1943. In: Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik. Serie E, Bd. 6, Nr. 235, S. 413–416. Vgl. auch die Bestellung Rahns durch Hitler vom 10. 9. 1943, Bundesarchiv Berlin NS 19/3891. Abgedruckt in: Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik. Serie E, Bd. 6, Nr. 311, S. 533–535. 37 De Felice: Mussolini l’alleato (wie Anm. 35), S. 343, meint, Mussolini habe sich trotz des eingeschränkten Handlungsspielraums nur deshalb dazu bereit erklärt, noch einmal an die Spitze des Staates zu treten, damit er dem von den Deutschen besetzten Italien das Schicksal Polens erspare. Vgl. dazu eine Bemerkung Rahns in seinen Memoiren: Rudolf Rahn: Ruheloses Leben. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Düsseldorf 1949, S. 236: „Daß meine eigene Vollmacht die Einsetzung ziviler Berater in allen italienischen Verwaltungsstellen enthielt, verschwieg ich Mussolini. Ich war entschlossen, davon keinen Gebrauch zu machen. Wenn man schon eine neue Regierung einsetzen wollte, dann mußte man sie auch selbst regieren lassen – soweit sie dazu die innere Kraft und die Autorität beim eigenen Volke besaß.“ Am 26. 9. 1943 hatte Mussolini zu Rahn gesagt, „es sei im deutschen wie im italienischen Interesse sinnlos, eine Regierung zu schaffen, die nicht regiere, ein Ordnungsprinzip aufzustellen, das nicht die Mittel habe, Ordnung zu halten, eine Verwaltung zu reorganisieren, der nichts zu verwalten bleibe.“ Rahn an das Auswärtige Amt, 26. 9. 1943. In: Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik. Serie E, Bd. 6, Nr. 352, S. 593. 38 Zuccotti: The Italians and the Holocaust (wie Anm. 27), S. 9. 39 Ebd., S. 10.

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Weg nach Auschwitz gebracht.⁴⁰ Das Konzept des Reichssicherheitshauptamts, in das die Verhaftungsaktion in Rom eingeordnet werden muss, bestand im Oktober angesichts der begrenzten verfügbaren Polizeikräfte darin, „mit der Aufrollung der Judenfrage unmittelbar hinter der Frontlinie“ zu „beginnen und die Reinigungsaktion schrittweise nach Norden“ weiterzutreiben.⁴¹ Vor diesem Hintergrund verabschiedete der erste Kongress der neuen republikanisch-faschistischen Partei am 14. November 1943 in Verona ein programmatisches Manifest, in dessen Paragraph 7 die „Angehörigen der jüdischen Rasse“ für die Dauer des gegenwärtigen Krieges zu Ausländern und Feinden erklärt wurden.⁴² Dieser Beschluss erscheint keineswegs, wie Renzo De Felice meinte, als bloße Fortsetzung der seit 1938 gegenüber den italienischen Juden geübten Diskriminierungspolitik, die letztlich das Ziel verfolgte, die Betroffenen zur freiwilligen Auswanderung zu bewegen.⁴³ Vielmehr lässt die ausdrückliche Beschränkung der Gültigkeit der Definition auf die Dauer des Krieges erkennen, dass die darin implizierten Maßnahmen nur vorübergehenden und nicht wie die Emigration dauerhaften Charakter tragen sollten. Als Ausländer und Feinde konnten nun auch die italienischen Juden, wie seit 1940 bereits die nichtitalienischen, interniert werden, und tatsächlich ordnete Innenminister Guido Buffarini Guidi am 30. November die Verhaftung und Internierung sämtlicher in seinem Verantwortungsbereich lebenden Juden an. Sie sollten zunächst in Lagern oder Gefängnissen in den einzelnen Provinzen zusammengefasst und später in eigens einzurichtende zentrale Konzentrationslager eingewiesen werden. Am 4. Januar 1944 verkündete der Duce außerdem ein Gesetzesdekret, wonach die Präfekten in den Provinzen unverzüglich das gesamte bewegliche und unbewegliche Vermögen der Juden einzuziehen hatten.⁴⁴ Zum Hauptinternierungslager wurde Fossoli di Carpi bei Modena bestimmt. Ursprünglich für britische Kriegsgefangene geschaffen, erwies es sich später

40 Ebd., S. 101–138. Über die Verhaftungen am 16. Oktober vgl. auch den Bericht des Gestapochefs von Rom, SS-Obersturmbannführer Herbert Kappler, vom 17. 10. 1943, Bundesarchiv Berlin, NS 19/1880. 41 Vortragsnotiz des Vortragenden Legationsrats Horst Wagner über ein Gespräch des Legationsrats Eberhard von Thadden mit SS-Gruppenführer und Gestapochef Heinrich Müller im Reichssicherheitshauptamt am 16. 10. 1943. In: Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik. Serie E, Bd. 7, Nr. 54, S. 103. 42 Sarfatti: Gli ebrei negli anni del fascismo (wie Anm. 11), S. 1743. 43 Vgl. De Felice: Storia degli ebrei italiani (wie Anm. 10), S. 446 f. Der Paragraph lautete: „Gli appartenenti alla razza ebraica sono stranieri. Durante questa guerra appartengono a nazionalità nemica.“ 44 Sarfatti: Gli ebrei negli anni del fascismo (wie Anm. 11), S. 1744 f.

402 | III Monarchie, Nation, Nationalismus wegen seiner Lage an der Brennerstrecke als Sammelpunkt für Deportationen in die Vernichtungslager besonders geeignet. In der Tat riss die SS alsbald die Verfügungsmacht über die Insassen an sich und benützte das Lager in der Folgezeit als Sammel- und Durchgangslager für Deportationen in den Osten. Im Zuge dieser Entwicklung kam es dementsprechend zu einer Zusammenarbeit zwischen den verbündeten Regimen in der Form, dass italienische Milizen und Polizei die Juden zusammenführten, während die SS sie aus den Lagern deportierte. Primo Levi wurde am 13. Dezember 1943 von faschistischen Milizen, nicht von deutscher SS, verhaftet und Ende Januar 1944 nach Fossoli gebracht. Dagegen wurde er am 22. Februar von einer SS-Einheit zusammen mit anderen Juden aus dem Lager nach Auschwitz deportiert.⁴⁵ Allein aus Fossoli wurden zwischen dem 19. Februar und dem 1. August 1944 in sechs Transporten mindestens 2 445 Juden deportiert.⁴⁶ Zuvor schon waren mindestens 3 110 Juden aus Italien nach Auschwitz verbracht worden.⁴⁷ Auch nach der Übernahme des Lagers Fossoli durch die SS wurden vereinzelt an anderen Orten Transporte zusammengestellt, und im italienisch-kroatischen Grenzgebiet ging Odilo Globocnik, höherer SSund Polizeiführer in der Operationszone Adriatisches Küstenland, ausschließlich mit eigenen Kräften zu Werk. Aus dem in der alten Reisfabrik San Sabba in Triest eingerichteten Konzentrationslager wurden zwischen dem 7. Dezember 1943 und dem 24. Februar 1945 ebenfalls mindestens 1 173 Juden deportiert.⁴⁸ Bis heute besteht in der Forschung keine Einigkeit darüber, wie die italienische Kollaboration zu beurteilen ist. Sicher wären die Männer Eichmanns auf eigene Faust vorgegangen, wenn die italienische Regierung nicht selbst die Verhaftung der Juden angeordnet hätte, und vielleicht wäre die Zahl der Opfer dann niedriger geblieben. Über die Motive und Ziele Mussolinis sind mangels dokumentarischer Beweise einstweilen allerdings nur Hypothesen möglich. In einer vor kurzem erschienenen Arbeit erklärt Michele Sarfatti es für wahrscheinlich, dass die Kollaboration der italienischen Behörden unter der Republik von Salò mit dem Reichssicherheitshauptamt auf Vereinbarungen zwischen den beiden Regierungen beruht habe. Dementsprechend nimmt er an, dass Mussolini den Zielen der Deportation und Vernichtung zugestimmt und dass die Internierung der italienischen Juden durch italienische Polizei und Milizen zumindest seit Beginn

45 Primo Levi: Se questo è un uomo. Torino 1976, S. 11–16. 46 Sarfatti: Gli ebrei negli anni del fascismo (wie Anm. 11), S. 1755. 47 Michaelis: Mussolini and the Jews (wie Anm. 34), S. 390. 48 Sarfatti: Gli ebrei negli anni del fascismo (wie Anm. 11), S. 1756. Vgl. auch Zuccotti: The Italians and the Holocaust (wie Anm. 27), S. 184–186.

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des Jahres 1944 dem Vollzug dieser Vereinbarung gedient habe.⁴⁹ Andere Autoren wie Meir Michaelis, Liliana Picciotto Fargion und im Grunde auch Renzo De Felice neigen dagegen zu der Hypothese, dass Mussolini sich zur Verschärfung der judenfeindlichen Gesetzgebung und so auch zur Internierung der Juden entschlossen habe, um in der Judenpolitik gegenüber Hitlerdeutschland seine Eigenständigkeit zu wahren und sich damit vor willkürlichen Eingriffen der SS gerade abzusichern.⁵⁰ In der Tat schärfte Innenminister Buffarini Guidi den Präfekten mehrfach ein, dass die Juden in den italienischen Lagern verbleiben und nicht an die Deutschen ausgeliefert werden sollten.⁵¹ Die Antwort auf die Frage nach den Gründen für die rassenpolitische Wendung der Republik von Salò gegenüber dem vorherigen faschistischen Regime würde dementsprechend lauten: Mussolini verschärfte die Maßnahmen gegen die Juden in der vergeblichen Hoffnung, ihr Schicksal auch unter den Bedingungen der deutschen Besetzung unter der eigenen Kontrolle halten und sie vor der Deportation bewahren zu können. So gesehen könnten die Razzien der SS seit September 1943 und namentlich die Verhaftung und Deportation der über 1 000 römischen Juden am 16. Oktober die Regierung von Salò zu ihrer neuen Politik veranlasst haben, denn durch diese Maßnahmen war offenbar geworden, dass die Republik durch ihre formelle Souveränität nicht davor geschützt war, genauso wie die übrigen Länder Europas unter deutscher Besatzung zum unmittelbaren Aktionsraum für die nationalsozialistische Judenverfolgung zu werden. Unterstellt man, dass auch die neue faschistische Regierung in geradliniger Fortsetzung der italienischen Politik vor dem Waffenstillstand danach strebte, die Juden in ihrem Machtbereich vor der Vernichtung zu bewahren, dann musste sie versuchen, das Gesetz des Handelns wieder in die eigene Hand zu bekommen. Als naheliegender Schachzug auf diesem Weg bot sich der Versuch an, die von den Nationalsozialisten vorgeschobenen Argumente für die Verhaftung und Deportation der Juden beim Wort zu nehmen. Diese Argumente waren bekanntlich sicherheitspolitischer Natur: Die Juden wurden als Saboteure, Spione, Verräter oder Partisanen verdächtigt, und dementsprechend wurde seit September 1943 immer wieder behauptet, die Sicherheit der deutschen Truppen in Italien sei gefährdet, solange den dort leben-

49 Sarfatti: Gli ebrei negli anni del fascismo (wie Anm. 11), S. 1752 f. 50 Michaelis: Mussolini and the Jews (wie Anm. 34), S. 351; Liliana Picciotto Fargion: The AntiJewish Policy of the Italian Social Republic (1943–1945). In: Yad Vashem Studies 17 (1986), S. 45 ff., bes. S. 47: „Thus, the anti-Semitism of the RSI should be considered as an act asserting independence rather than as a surrender to German demands.“ De Felice: Storia degli ebrei italiani (wie Anm. 10), S. 447, betont, dass die neue faschistische Regierung gehofft habe, die internierten Juden bis zum Ende des Kriegs in italienischem Gewahrsam halten zu können. 51 Vgl. De Felice: Storia degli ebrei italiani (wie Anm. 10), S. 451, und unten Anm. 72.

404 | III Monarchie, Nation, Nationalismus den Juden die Möglichkeit nicht genommen werde, ihre angeblichen subversiven Tätigkeiten ungehindert zu entfalten.⁵² Dass den italienischen Behörden diese Art der Argumentation seit langem vertraut war und dass sie sich darauf verstanden, in der Verfolgung ihrer eigenen Absichten geschickt damit zu operieren, hatten sie bereits ein Jahr zuvor im Zusammenhang mit der von Nazideutschland unterstützten Forderung der kroatischen Regierung nach Auslieferung der dort in den von italienischen Truppen besetzten Landesteilen lebenden Juden bewiesen. Der Marchese Blasco Lanza d’Ajeta, Kabinettschef des italienischen Außenministers Graf Galeazzo Ciano, hatte damals erklärt, alle in Frage stehenden Juden seien in Konzentrationslagern interniert worden; daher sei es ausgeschlossen, dass sie „in der Lage seien, in Zukunft eine irgendwie schädliche Tätigkeit auszuüben.“⁵³ Das Auswärtige Amt hatte schon zuvor den Eindruck erweckt, als sei es bereit, notfalls die Internierung als Alternative zur Deportation hinzunehmen. So sollte die deutsche Botschaft in Rom im Oktober 1942 angewiesen werden, der italienischen Regierung nahezulegen, die in den italienisch besetzten Teilen Griechenlands befindlichen Juden „wenigstens [. . . ] in Lagern zusammenzufassen“ und als Arbeitskräfte bei Bauvorhaben einzusetzen.⁵⁴ Auch die Internierung ausländischer Juden in den italienisch besetzten Gebieten Frankreichs im Frühjahr und Sommer 1943 wurde offensichtlich in der Absicht in Angriff genommen, den Betroffenen die Auslieferung an die SS und die Deportation in die Vernichtungslager zu ersparen.⁵⁵ Wenn man sich diese Vorgänge vergegenwärtigt und die Tatsache hinzunimmt, dass der faschistische Parteikongress von Verona Mitte November die italienischen Juden nicht ein für allemal, sondern ausdrücklich nur für die Dauer des Krieges zu „Ausländern“ und „Feinden“ erklärt hatte, dann lässt sich das Internierungsdekret der italienischen Regierung vom 30. November 1943 unschwer

52 Vor allem für den sogenannten Badoglio-Verrat, also das Ausscheren der italienischen Regierung unter Badoglio aus dem Bündnis und den Abschluss des Waffenstillstands mit den Alliierten, wurde das italienische Judentum verantwortlich gemacht. Vgl. hierzu auch den Brief Giovanni Preziosis an Außenminister Ribbentrop vom 23. 9. 1943, Bundesarchiv Berlin NS 19/256. 53 Unterstaatssekretär Martin Luther (Auswärtiges Amt) an die Deutsche Gesandtschaft in Agram, 18. 11. 1942, Pol. Archiv des Ausw. Amts, Inland IIg, Bd. 192, Judenfrage in Italien, f. 70. 54 Aufzeichnung des Legationsrats Eberhard von Thadden für den bevorstehenden Besuch des Reichsführers-SS beim Duce, ebd., f. 289. Der Vermerk ist undatiert. Himmler traf Mussolini in Rom am 11. Oktober 1942; vgl. Steinberg: All or Nothing (wie Anm. 13), S. 69; Richard Breitman: Der Architekt der „Endlösung“: Himmler und die Vernichtung der europäischen Juden. Paderborn 1996, S. 316 f. 55 Vgl. die Darstellung der Zusammenhänge bei Voigt: Zuflucht auf Widerruf (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 243–264, und die bezeichnende Zwischenüberschrift ebd., S. 241: „Internierung statt Deportation“.

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als Versuch verstehen, den von der deutschen Regierung hervorgekehrten sicherheitspolitischen Besorgnissen dadurch Rechnung zu tragen, dass den Juden durch die Verbringung in Konzentrationslager jeglicher Bewegungsspielraum und damit auch jede Möglichkeit zur Konspiration oder Sabotage genommen wurde. Angesichts dessen hätte sich die Deportation eigentlich erübrigen müssen. Die Männer Eichmanns im Reichssicherheitshauptamt, die das Sicherheitsargument selbstverständlich nur als Vorwand gebrauchten, haben aus den Vorgängen in Rom im Oktober und aus dem Verlauf der weiteren im Herbst 1943 durch Danneckers Einsatzkommando durchgeführten Aktionen ganz andere Schlussfolgerungen gezogen. Im Vergleich zu der Gesamtzahl der Juden, die in den von dem Kommando heimgesuchten Städten lebten, war der Erfolg der Maßnahmen bescheiden geblieben.⁵⁶ Damit schien erwiesen, dass das Ziel Himmlers, die Juden Italiens möglichst vollständig zusammenzuführen und in den Osten zu deportieren, mit den geringen zur Verfügung stehenden deutschen Kräften allein nicht zu erreichen war.⁵⁷ Um aber italienische Behörden zur Mitwirkung zu gewinnen, musste das Auswärtige Amt eingeschaltet werden. So kam es Anfang Dezember 1943 dort zu einer Besprechung zwischen dem für Italien zuständigen Mitarbeiter Eichmanns im Reichssicherheitshauptamt, SSSturmbannführer Friedrich Boßhammer, dem Leiter des Einsatzkommandos der SS in Italien, SS-Hauptsturmführer Theodor Dannecker, und Legationsrat Eberhard von Thadden.⁵⁸

56 Vgl. dazu Claudia Steur: Theodor Dannecker. Ein Funktionär der „Endlösung“. Essen 1997, S. 120; vor der Razzia in Rom hatte die deutsche Regierung mit der Verhaftung von etwa 8 000 Juden gerechnet: vgl. Telegramm von Legationsrat Eberhard von Thadden an Konsul Moellhausen, Deutsche Botschaft in Rom, 8. 10. 1943, Pol. Archiv des Ausw. Amts, Inland IIg, Bd. 192, Judenfrage in Italien, f. 323: „Aufgrund Führerweisung sollen die in Rom wohnenden 8 000 Juden als Geiseln nach Mauthausen gebracht werden.“ Wie der Chef der deutschen Sicherheitspolizei in Rom, SSObersturmbannführer Herbert Kappler, am 17. 10. 1943 per Funk mitteilte, konnten tatsächlich nur 1259 Juden festgenommen werden; nach Auschwitz deportiert wurden 1 007: Kappler an SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS Wolff, Bundesarchiv Berlin NS 19, 1880. Zu den Vorgängen in Rom vgl. auch Klinkhammer: Zwischen Bündnis und Besatzung (wie Anm. 2), S. 536–541. Aus den in den folgenden Wochen in mehreren mittel- und norditalienischen Städten, darunter Siena, Florenz, Genua, Bologna, Mailand und Venedig durch Danneckers Männer verhafteten Juden wurden zwei weitere Deportationszüge nach Auschwitz zusammengestellt, am 9. November und am 6. Dezember 1943: Steur: Theodor Dannecker (wie Anm. 57), S. 122 f. 57 SS-Gruppenführer und Gestapochef Heinrich Müller vom Reichssicherheitshauptamt hatte noch Mitte Oktober geglaubt, das Kommando Dannecker werde auf seinem Weg von Rom nach Norden nacheinander zumindest die Mehrzahl der in Italien lebenden Juden festnehmen können: vgl. Anm. 42. 58 Vortragsnotiz des Vortragenden Legationsrats Horst Wagner vom 4. 12. 1943. In: Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik. Serie E, Bd. 7, Nr. 111, S. 218 f.; die Teilnehmer an der Besprechung

406 | III Monarchie, Nation, Nationalismus In der Unterredung setzte sich das Auswärtige Amt mit dem Vorschlag durch, vorerst kein Ersuchen an die italienische Regierung um Mitwirkung an den geplanten Deportationen zu richten, sondern das künftige Vorgehen ganz auf das Internierungsdekret vom 30. November zu stützen. Botschafter Rahn sollte beauftragt werden, der „faschistischen Regierung die Genugtuung der Reichsregierung zu diesem aus abwehrmäßigen Gründen unbedingt notwendigen Gesetz auszudrücken.“ Gleichzeitig sollte Rahn darauf hinweisen, „daß im Interesse einer sofortigen Abschirmung der Operationszonen von unzuverlässigen Elementen eine beschleunigte Durchführung dieses Gesetzes und Anlage der Konzentrationslager in Norditalien erforderlich erscheine, und die Reichsregierung gern bereit sei, zur Durchführung ihrer Maßnahmen erfahrene Berater zur Verfügung zu stellen.“⁵⁹ Hatte die Regierung von Salò die Deutschen beim Wort genommen, indem sie durch Internierung aller Juden selbst für die Sicherheit der deutschen Streitkräfte zu sorgen versuchte, so nahm umgekehrt das Auswärtige Amt wiederum die Italiener beim Wort und bot ihre in solchen Dingen in der Tat einschlägig „erfahrenen Berater“ an. Die Anfang Dezember im Auswärtigen Amt mit den Vertretern der Abteilung IV B 4 des Reichssicherheitshauptamts getroffene Vereinbarung wurde ausdrücklich damit begründet, dass „auf diese Weise“ die Möglichkeit bestünde, „das jetzige Einsatzkommando in Beraterform in die Regierungsorgane einzubauen, die tatsächliche Durchführung“ des von der italienischen Regierung aus eigenem Entschluss verkündeten Gesetzesdekrets „zu überwachen“ und „den Exekutivapparat der faschistischen Regierung voll für die Judenmaßnahmen einzusetzen.“⁶⁰ Ausdrücklich Abstand nahm das Auswärtige Amt von dem Vorschlag Boßhammers, „gleichzeitig die Auslieferung aller in Konzentrationslager zusammengefaßten Juden zur Evakuierung in die Ostgebiete zu verlangen.“ Ein solcher Antrag sollte vielmehr „aus taktischen und politischen Gründen zurückgestellt bleiben, bis die Erfassungsaktion der Juden durch die italienischen Organe abgeschlossen ist.“⁶¹ Die Vertreter des Auswärtigen Amts waren der Meinung, dass die Internierung der Juden erfolgreicher verlaufen werde, wenn sie „zunächst als die Endlösung und nicht als Vorstufe für die Evakuierung in die Ostgebiete erscheint.“⁶²

ergeben sich aus einem Schreiben Wagners an SS-Gruppenführer Heinrich Müller im Reichssicherheitshauptamt vom 14. 12. 1943, Pol. Archiv des Ausw. Amts, Inland IIg, Bd. 192, Judenfrage in Italien, f. 349. 59 Vortragsnotiz Wagner, S. 218. 60 Ebd. 61 Wagner an SS-Gruppenführer Müller (wie Anm. 59). 62 Vortragsnotiz Wagner, S. 219. Vgl. Aktenvermerk von Botschaftsrat Hilger vom 9. 12. 1943, wonach Reichsaußenminister Ribbentrop mit den in der Vortragsnotiz Wagners vom 4. 12. ent-

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Aus dem gesamten Vorgang ergibt sich zunächst, dass vor dem 4. Dezember keine Absprache zwischen den beiden verbündeten Regierungen über eine Zusammenarbeit zum Zwecke der Internierung und Deportation der italienischen Juden stattgefunden hat. Zugleich wird bestätigt, dass das Internierungsdekret vom 30. November nicht auf Verlangen der deutschen Regierung verkündet worden sein kann.⁶³ Der Plan, der italienischen Regierung nunmehr die Zusammenarbeit mit den Mitgliedern des Einsatzkommandos Dannecker anzubieten, erscheint dagegen als Schlussfolgerung aus der in den zurückliegenden Monaten gemachten Erfahrung, dass mit den geringen deutschen Kräften allein das gesteckte Ziel der möglichst vollständigen Erfassung des italienischen Judentums nicht erreicht werden konnte. Nun liegt auf der Hand, dass sich die italienischen Behörden dem Angebot der Mitwirkung deutscher „Berater“ kaum entziehen konnten.⁶⁴ Einmal befand sich die neue faschistische Regierung bei aller formellen Souveränität doch in einem strikten Abhängigkeitsverhältnis gegenüber dem nationalsozialistischen Verbündeten. Zum andern bezog sich das deutsche Angebot, solange es sich auf die Hilfestellung bei der Internierung beschränkte, nach außen hin lediglich auf die rasche und möglichst vollständige Durchführung des von der italienischen Regierung aus eigenem Antrieb geschaffenen Dekrets. Schließlich war das Dekret selbst mit der Notwendigkeit begründet worden, die Feinde des Bündnisses, wozu die Faschistische Republikanische Partei seit ihrem Kongress in Verona Mitte November neuerdings auch die italienischen Juden zählte, für die Dauer des Krieges unter Kontrolle zu bringen. Da aber seit September und nach der Entwaffnung der italienischen Armee die deutsche Wehrmacht die militärischen Anstrengungen des Bündnisses auch in Italien alleine zu tragen hatte, konnte sich die Regierung Mussolini schwerlich offen dagegen stellen, dass deutsche Behörden sich an der Sicherung der inneren Front in Italien beteiligten. Solange sich die deutschen Behörden darauf beschränkten, die Mitwirkung der SS an der Verbringung von Juden in Gefängnisse und Lager in Italien zu verlangen, bedurfte es daher keiner weiteren Absprache im Grundsätzlichen. Wie sich nachweisen lässt, erfolgten die Verhaftungsaktionen in den kommenden

haltenen Vorschlägen voll einverstanden sei. Pol. Archiv des Ausw. Amts, Inland IIg, Bd. 192, Judenfrage in Italien, f. 342. 63 Vgl. Picciotto Fargion: Anti-Jewish Policy of the Italian Social Republic (wie Anm. 51), S. 45: „In the present state of the research, there is no evidence of direct German pressure to have the Jews ‚legally‘ arrested.“ 64 In dem Schreiben Wagners an Müller vom 14. 12. 1943 (wie Anm. 59) wird von den Helfern, die der italienischen Regierung angeboten werden sollten, gesagt, sie sollten – „getarnt als Berater“ – aus dem Einsatzkommando Dannecker genommen werden.

408 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Wochen im Wege der Zusammenarbeit zwischen deutscher SS und italienischen Milizen und Polizeistellen, während die Deportationen selbst, also insbesondere die Transporte aus dem Lager Fossoli di Carpi, ausschließlich von deutscher SS durchgeführt wurden und zwar offensichtlich, ohne dass zuvor das Einverständnis der italienischen Regierung eingeholt worden wäre. Dass die SS die in den Lagern versammelten Juden zu gegebener Zeit deportieren würde, war bereits Teil der Absprache von Anfang Dezember 1943 im Auswärtigen Amt gewesen. Es war nicht zu erwarten, dass die Schergen Eichmanns zu irgendeinem Zeitpunkt daran dachten, diese Deportationen von der Zustimmung der italienischen Regierung abhängig zu machen. Insofern besteht kein Grund, mit Michele Sarfatti anzunehmen, dass es ein „schreckliches Geheimnis“ – un terribile segreto – geben müsse, nämlich eine förmliche Vereinbarung zwischen der deutschen und der italienischen Regierung über „die Auslieferung“ und „die darauffolgende Deportation (und Ermordung) der von den Italienern festgenommenen Juden“, zumal sich mit dieser Hypothese nicht erklären lässt, warum die italienische Regierung im November überhaupt beschlossen hatte, die in Italien lebenden Juden zu internieren, denn die vermutete Vereinbarung könnte erst nach der Besprechung im Auswärtigen Amt getroffen worden sein.⁶⁵ Um die Jahreswende 1943/44 wurde Theodor Dannecker aus Italien abberufen.⁶⁶ Zu seinem Nachfolger ernannte Adolf Eichmann SS-Sturmbannführer Friedrich Boßhammer, der am 4. Dezember ebenfalls an der Besprechung im Auswärtigen Amt teilgenommen hatte, und übertrug ihm die Aufgabe der Judenverfolgung in Italien.⁶⁷ Boßhammer baute aus Mitgliedern des ehemaligen Einsatzkommandos Dannecker beim Befehlshaber der Sicherheitspolizei für Italien in Verona ein Referat für Judenangelegenheiten auf. Aus dieser Stellung heraus konnte er das gesamte Netz der deutschen Sicherheitspolizei mit ihren Außenkommandos nutzen. Die aufgrund zahlreicher Zeugenaussagen von Mitarbeitern und Opfern verfasste Anklageschrift der Staatsanwaltschaft beim Kammergericht Berlin vom 23. April 1971

65 Sarfatti: Gli ebrei negli anni del fascismo (wie Anm. 10), S. 1751–1753. 66 Steur: Theodor Dannecker (wie Anm. 57), S. 126. 67 Friedrich Robert Boßhammer, geb. am 20. 12. 1906 in Opladen, studierte in Köln und Heidelberg Rechtswissenschaft. 1931 legte er die erste, 1935 die zweite Staatsprüfung ab. Zum 1. 5. 1933 trat er in die NSDAP und mit Wirkung vom 1. 10. 1937 in die SS ein. Am 15. 1. 1942 nahm er, inzwischen im Range eines SS-Hauptsturmführers, seine Tätigkeit im Referat IV B 4 des Reichssicherheitshauptamts (Referatsleiter: SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann) auf. Am 15. 3. 1943 wurde er zum Regierungsrat ernannt, am 9. 11. 1943 zum SS-Sturmbannführer befördert. Ein ausführlicher Lebenslauf befindet sich in: Urteil in der Strafsache gegen Friedrich Boßhammer durch das Schwurgericht bei dem Landgericht Berlin vom 11. 4. 1972, (500) 1 Ks 1/71 (RSHA) (26/71), S. 4–8.

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gegen Boßhammer lässt nicht erkennen, dass der oberste Repräsentant Adolf Eichmanns in Italien regelmäßig mit Vertretern der republikanisch-faschistischen Regierung Verbindung gehabt hätte.⁶⁸ Kurz nach seiner Ankunft in Italien scheint er sich allerdings mit Giovanni Preziosi, einem der wenigen überzeugten Antisemiten in den faschistischen Führungskreisen und vom 15. März 1944 an Direktor des Rassenamts der italienischen Regierung, getroffen zu haben.⁶⁹ Das tägliche Verfolgungswerk dagegen führte Boßhammer mit Hilfe von mittelbaren oder unmittelbaren Anordnungen gegenüber den lokalen italienischen Behörden durch. Typisch hierfür war etwa ein Rundschreiben aus den letzten Märztagen 1944 an die verschiedenen dem Befehlshaber der Sicherheitspolizei unterstellten Außenkommandos, durch welches diese verpflichtet wurden, die in ihrem Befehlsbereich befindlichen Quästuren anzuweisen, die bei ihnen jeweils „festgestellten Juden [. . . ] dem Konzentrationslager Fossoli di Carpi zu überstellen.“⁷⁰ Der Vorgang zeigt, dass die Mitarbeiter Eichmanns in Italien keineswegs, wie am 4. Dezember 1943 im Auswärtigen Amt vereinbart worden war, den einheimischen Behörden lediglich als Berater dienten, sondern dass sie die italienischen Beamten vielmehr zu Erfüllungsgehilfen ihres eigenen Vernichtungswerks machten. Vergeblich hatte der Chef der italienischen Polizei, Tamburini, die Präfekten nach zahlreichen Anfragen noch am 22. Januar 1944 telegraphisch angewiesen, den Verbleib der Juden in italienischen Lagern sicherzustellen und sie nicht an die Deutschen auszuliefern.⁷¹ Unter den zahlreichen Behauptungen, die Boßhammer während seines Prozesses zu seiner Entlastung vorbrachte, findet sich nicht ein einziges Mal die Aussage, die ihm zur Last gelegten Taten und insbesondere die von ihm organisierten Deportationen seien mit Zustimmung der italienischen

68 Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht Berlin, Anklageschrift in der Strafsache gegen Friedrich Boßhammer vom 23. 4. 1971, 1 Js 1/65 (RSHA), Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen Ludwigsburg 415 AR 1310/63. 69 Urteil in der Strafsache gegen Friedrich Boßhammer (wie Anm 68), S. 24, 65 f. Vgl. die Charakterisierung Preziosis in: De Felice: Storia degli ebrei italiani (wie Anm. 10), S. 9: „forse l’unico vero e coerente antisemita italiano del XX secolo e certo uno dei pochissimi antisemiti italiani che non ripeteva pappagallescamente le parole e gli slogan altrui.“ Zur Berufung Preziosis „alla direzione dell’ispettorato per la razza“ vgl. ebd., S. 455. 70 Urteil in der Strafsache gegen Friedrich Boßhammer (wie Anm. 68), S. 27–29. 71 Sarfatti: Gli ebrei negli anni del fascismo (wie Anm. 11), S. 1753. Klinkhammer: Zwischen Bündnis und Besatzung (wie Anm. 2), S. 550, scheint an der Aufrichtigkeit Buffarinis zu zweifeln; das Dekret vom 30. 11. 1943 interpretiert er ebd., S. 544, als offizielle Verpflichtung der italienischen Polizei darauf, „bei der Zusammenstellung der Deportationskontingente mitzuwirken“. Davon kann in Wirklichkeit jedoch allenfalls hinsichtlich des faktischen Ergebnisses, nicht aber im Sinne der Intentionen die Rede sein.

410 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Regierung erfolgt.⁷² Auch seine Mitwirkung an der Verhaftung von italienischen Juden versuchte er niemals als Hilfestellung für den Verbündeten zur Erfüllung des Internierungsdekrets vom 30. November 1943 zu rechtfertigen. Noch über ein Vierteljahrhundert später und aus der Perspektive der Anklagebank hegte Boßhammer somit keinen Zweifel daran, dass das Reichssicherheitshauptamt und als dessen Beauftragter er allein das Verfolgungswerk in Italien betrieben hatten. Allerdings fehlt auch jeder Hinweis darauf, dass italienische Stellen sich der Anforderung, in ihrem Gewahrsam befindliche Juden nach Fossoli di Carpi zu überführen oder an Ort und Stelle abholen zu lassen, offen widersetzt hätten. Durch die verschiedenen Zeugenaussagen im Laufe des Verfahrens wird noch einmal die fatale Logik des unbeabsichtigten Zusammenspiels der italienischen Behörden mit den deutschen Verfolgern greifbar. So bestätigte der Zeuge Koch, Judensachbearbeiter beim Außenkommando des Befehlshabers der Sicherheitspolizei Italien in Mailand, den Glauben an die Propagandathese von der Feindseligkeit und Gefährlichkeit der Juden: Mir ist in Erinnerung, daß die Juden im sogenannten rückwärtigen Kriegsgebiet als Sicherheitsrisiko galten und dieses Sicherheitsrisiko durch ihre Inhaftierung „ausgeschaltet werden sollte“, und zwar „ohne Rücksicht auf Geschlecht und Alter“.⁷³

Italienische Stellen konnten dieser Überzeugung kaum widersprechen, stand sie doch in der Hauptsache im Einklang mit den Beschlüssen von Verona vom 14. und mit dem Internierungsdekret der Regierung von Salò vom 30. November 1943. Die scheinbare Übereinstimmung in den Motiven, dazu die Tatsache, dass die ganze Macht nach der Entwaffnung des italienischen Heeres bei den Deutschen lag, machte es möglich, dass Ende Februar 1944 das bis dahin von Italienern geleitete Lager Fossoli di Carpi ohne weitere Umstände in deutsche Verwaltung übernommen wurde. Der Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Verona, SSBrigadeführer und Generalmajor der Polizei Dr. Wilhelm Harster, ernannte seinen Fahrer Karl-Friedrich Titho zum Lagerkommandanten. Dieser bezeugte später das Zusammenwirken zwischen deutschen und italienischen Stellen bei der Einlieferung von Juden in das Lager: „Die Einlieferung der Gefangenen erfolgte durch die Sicherheitspolizei, Gendarmerie und italienische Stellen, insbesondere die Brigata nera.“⁷⁴ Der Zeuge Berkefeld, Mitarbeiter Boßhammers in dessen Dienststelle in Verona, bestätigte, „daß die Tätigkeit des Referats darin bestand, die im oberitalienischen Raum befindlichen Juden, soweit der deutsche Machtbereich

72 Urteil in der Strafsache gegen Friedrich Boßhammer (wie Anm. 68), S. 63–67. 73 Anklageschrift gegen Friedrich Boßhammer (wie Anm. 68), S. 325. 74 Ebd., S. 342.

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noch reichte, aufzuspüren, festzunehmen und sie in das Sammellager Fossoli zu transportieren.“ Weiter erinnerte sich Berkefeld, dass es gelegentlich auch zu seinen Aufgaben gehörte habe, „von italienischen Stellen festgenommene Juden in Sammeltransporten in das Lager Fossoli zu bringen.“ Solche Transporte seien aber auch „direkt durch italienische Behörden und von den Außenkommandos“ gekommen.⁷⁵ Sofern die hier vorgeschlagene Interpretation sich bestätigt, wäre die objektiv unbestreitbare Kollaboration der Republik von Salò bei der Judenverfolgung in Italien seit November 1943 weitgehend in der Absicht erfolgt, die Juden vor der Vernichtung gerade zu bewahren. Während die italienische Regierung gehofft hatte, mit ihrer Internierungspolitik die Verfolgung durch die SS zu unterlaufen, arbeitete sie den Männern Eichmanns im Ergebnis gerade dadurch umso wirksamer in die Hände. Plausibilität gewinnt diese Deutung auch daraus, dass sie nicht zu der Annahme zwingt, Mussolini habe jetzt der Vernichtung der in seinem Machtbereich lebenden Juden zugestimmt, nachdem er sich fünf Jahre lang dagegen gestemmt hatte. Die am 4. Januar 1944 verfügte Einziehung der jüdischen Vermögen könnte dagegen mit der finanziellen Bedrängnis erklärt werden, in der sich die Republik von Salò unter der Last des fortdauernden Krieges und den Anforderungen des deutschen Verbündeten und Besatzers befand.⁷⁶ Dass die italienische Regierung im Herbst 1943 glaubte, die deutsche Regierung werde mit Bezug auf die Behandlung der Juden die bestehenden Vereinbarungen respektieren, ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass die italienische Botschaft in Berlin sich weiterhin um die Freilassung italienischer Juden bemühte, die längst vor der Absetzung Mussolinis im deutsch besetzten Frankreich irrtümlich verhaftet worden waren, weil ihre italienische Staatsbürgerschaft entweder nicht erkannt oder nicht anerkannt worden war. Dass das Reichssicherheitshauptamt inzwischen einer anderen Linie folgte, ergibt sich unmissverständlich aus zwei Bescheiden der zuständigen Abteilung IV B 4. Am 16. September 1943 wurde das Auswärtige Amt bezüglich des Antrags auf „Entlassung des Juden italienischer Staatsangehörigkeit Giuseppe Catarivas aus dem Arbeitslager Birkenau“ mit den Worten beschieden: Im Hinblick auf die inzwischen eingetretenen politischen Ereignisse in Italien sehe ich die Verbalnote der Italienischen Botschaft vom 25. 8. 1943 als überholt an. Ich habe daher in dieser Angelegenheit von Weiterem abgesehen.⁷⁷

75 Ebd., S. 322. 76 Vgl. De Felice: Storia degli ebrei italiani (wie Anm. 10), S. 447 f. 77 Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD (gez. Günther) an das Auswärtige Amt, 16. 9. 1943. Pol. Archiv des Ausw. Amts, Inland II A/B 83–26, Juden in Italien, Bd. 4, R 99421.

412 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Auf die letzte Verbalnote der italienischen Botschaft vom 17. November 1943 wegen eines gewissen Bernardo Taubert antwortete das Reichssicherheitshauptamt unter dem 21. Dezember: Es wird davon Abstand genommen, die von der Italienischen Botschaft erbetenen Nachforschungen nach dem derzeitigen Aufenthaltsort des obengenannten Juden durchzuführen. [. . . ] Es ist bedauerlich, daß auch die Botschaft des Republikanischen Faschistischen Italiens die Interventionen für Juden in der alten Weise fortsetzt.⁷⁸

Diese Vorgänge zeigen zum einen, dass italienische Regierungsstellen noch lange nach der Gründung der Republik von Salò tatsächlich an der Illusion festhielten, Hitlerdeutschland werde Italien gerade in der Judenpolitik auch weiterhin freie Hand lassen und zumindest die Juden italienischer Staatsangehörigkeit wie bisher von der Deportation ausnehmen; zum anderen stützen sie eben deswegen zugleich eine Interpretation des Internierungsdekrets vom 30. November 1943, wonach dieses keineswegs als erster Schritt zur Deportation der italienischen Juden verstanden werden muss. Vielmehr beruhte es offensichtlich auf dem Glauben, die italienischen Behörden würden in der Lage sein, die Internierten bis zum Ende des Krieges in ihrer Obhut zu behalten.⁷⁹ Im Lichte der kollaborationspolitischen Maximen Rahns erscheint die Erwartung nicht unbegründet, die nationalsozialistische Führung werde die Deportation der internierten Juden umso eher bis zum Ende des Krieges aufschieben, als diese sich ihrem Zugriff dank der Sistierung durch die italienischen Behörden nicht mehr würden entziehen können. Ihre Überlebenschance hätte in der deutschen Niederlage bestanden, die mit dem Fortgang des Krieges immer wahrscheinlicher wurde. Im Vergleich zu anderen besetzten Staaten Europas war der Prozentsatz der deportierten Juden Italiens niedrig. Mit knapp 8 000 Personen fiel weniger als ein Fünftel der Juden, die vor Ausbruch des Krieges in Italien gelebt hatten, der Verschleppung zum Opfer. Ein Grund hierfür ist zunächst der vergleichsweise kurze Zeitraum, der dem Besatzungsregime vom September 1943 an noch verblieb. Rom z. B. wurde nur neun Monate, Florenz elf Monate nach der Machtübernahme durch das nationalsozialistische Deutschland von den Alliierten erobert. Ein weiterer Grund waren die vielfach bezeugten Verzögerungsversuche und Sabotageakte italienischer Behörden gegenüber den rassenpolitischen Anordnungen des Innenministers und der deutschen Polizei. Einen wichtigen Faktor

78 Ebd., 21. 12. 1943. 79 Vgl. De Felice: Storia degli ebrei italiani (wie Anm. 10), S. 447: „L’intenzione di Mussolini e dei ‚moderati‘ era senza dubbio di concentrare sino alla fine della guerra tutti gli ebrei [. . . ] e rinviare la soluzione della questione a guerra finita.“

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bildete schließlich die Hilfsbereitschaft der nichtjüdischen Bevölkerung, wobei viele Juden zugleich in Einrichtungen der katholischen Kirche und selbst im Vatikan Unterschlupf fanden. Gemessen daran verblasst die Tatsache, dass nicht wenige Juden auch Opfer von Denunziationen wurden, zum Teil sogar aus den eigenen Reihen. Die Unterstützung der Verfolgten durch die Bevölkerung zeigt, dass selbst fünf oder sechs Jahre kontinuierlicher antisemitischer Propaganda von Staats wegen es nicht vermocht hatten, der italienischen Gesellschaft in größerem Umfang antisemitische Ressentiments einzupflanzen. Die Geschichte der faschistischen Judenverfolgung stellt allen Versuchen der Erklärung kaum geringere Widerstände entgegen als die Geschichte der Judenverfolgung durch das nationalsozialistische Deutschland. Wie sich gezeigt hat, wurde von 1938 an die gesetzliche Diskriminierung der jüdischen Mitbürger vom Staate verfügt und von der Gesellschaft hingenommen, obwohl weder das Land noch auch nur die faschistische Partei zuvor hatten nennenswerte antisemitische Tendenzen erkennen lassen. Diese Diskriminierung erwies sich im weiteren Verlauf als vereinbar mit der konsequenten Ablehnung, ja dem Widerstand gegen alle Anschläge auf das Leben der Diskriminierten. In der letzten Phase hat das faschistische Regime schließlich objektiv massiv zum Erfolg der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik beigetragen, wenngleich vieles dafür spricht, dass die Verschärfung der Verfolgung in der Republik von Salò gerade dem Ziel dienen sollte, das Leben der Juden vor dem Zugriff der Schergen Himmlers zu retten.

Monarchie und Nation in Deutschland 1848–1914 Am* Vorabend der Französischen Revolution war die Staatenwelt des alten Europa monarchisch geordnet. Republikanisch verfasst waren lediglich die Kantone der Schweiz und die deutschen Reichsstädte. Die meisten Monarchien waren erblich. Wahlmonarchien waren das Heilige Römische Reich deutscher Nation, der Kirchenstaat und die geistlichen Reichsstände in Deutschland. Die Legitimität der Erbmonarchie beruhte auf göttlicher Einsetzung und historischem Recht. Dem historischen Recht und dem Gottesgnadentum setzte die Französische Revolution den Anspruch der Nation auf die verfassunggebende Gewalt entgegen. Mit diesem Anspruch war nur eine Monarchie vereinbar, die ihre Herrschaftsberechtigung auf den Willen der Nation gründete. Unter dem Einfluss der Französischen Revolution und Napoleons erwachte auch unter den Deutschen das Bewusstsein, einer Nation anzugehören. Politisch war Deutschland damals im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation organisiert, das aus über 300 größeren und kleineren weltlichen und geistlichen Territorien, dazu zahlreichen Reichsstädten bestand, aber seine Handlungsfähigkeit seit dem Westfälischen Frieden von 1648 weitgehend eingebüßt hatte. Die Erfahrung der napoleonischen Fremdherrschaft gab den Anstoß zur Entstehung einer nationalen Bewegung mit dem Ziel, die deutsche Nation in einen demokratischen Verfassungsstaat zusammenzuführen. Nachdem Napoleon zunächst die territoriale Vielfalt des Reiches reduziert hatte, setzte er ihm im Jahre 1806 ein Ende. Deutschland zerfiel in drei Teile: Die linksrheinischen Gebiete gehörten seit 1801 zu Frankreich, Österreich und Preußen waren formell unabhängig, die übrigen deutschen Staaten wurden im Rheinbund zusammengeschlossen. Nach dem Sturz Napoleons wurde der Rheinbund aufgelöst. Frankreich musste das linke Rheinufer wieder abtreten. Das Reich wurde nicht wiederhergestellt. Statt seiner wurde der Deutsche Bund geschaffen, ein Verein souveräner Staaten, der sich aus 37 Monarchien und den vier freien Städten Frankfurt, Bremen, Hamburg und Lübeck zusammensetzte. Das Kaisertum Österreich, der stärkste Mitgliedsstaat des Bundes, übernahm die Funktion einer Präsidialmacht. Ein neuer Gesamtmonarch in Nachfolge des ehemaligen deutschen Kaisers wurde nicht eingesetzt.

* Deutsche Erstveröffentlichung in diesem Band. In italienischer Übersetzung unter dem Titel „Monarchia e Nazione in Germania dal 1848 al 1914“ erschienen in: Memoria e Ricerca 42/2013, S. 33–50.

416 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Der Deutsche Bund blieb weit hinter den Hoffnungen der deutschen Nationalbewegung zurück. Die Aussicht auf Erlangung der deutschen Einheit bot erst wieder der Ausbruch der Revolution von 1848. Am 18. Mai dieses Jahres trat in der Frankfurter Paulskirche die deutsche Nationalversammlung zusammen. Ihr Auftrag war der Entwurf einer Verfassung für einen demokratischen Nationalstaat. Da die Revolution die Monarchien nicht gestürzt hatte, konnte der deutsche Nationalstaat nur die Form eines monarchischen Bundesstaats erhalten. Die Wahlen zur Nationalversammlung hatte der Bundestag, das oberste Organ des Deutschen Bundes, angeordnet. Sie fanden daher nur in den Mitgliedsstaaten des Bundes statt und auch in diesen nur, soweit das Bundesgebiet sich erstreckte. Vor den Wahlen waren Ost- und Westpreußen, die bisher nicht zum Bund gehört hatten, in das Bundesgebiet aufgenommen worden. In der Donaumonarchie gehörten unter anderem die Länder der Stephanskrone, sowie Galizien, Dalmatien, die Lombardei und Venetien nicht zum Deutschen Bund, wohl aber Böhmen, Trient mit Welschtirol, Friaul, Krain und Triest.¹ Da die Wahlen in bestehenden Provinzen und nicht in Siedlungsgebieten durchgeführt wurden, waren an mehreren Orten Angehörige nichtdeutscher Nationalitäten berechtigt, Vertreter in die deutsche Nationalversammlung zu entsenden: so die Italiener im Trentino, die Slowenen in den Herzogtümern Krain, Kärnten und Steiermark und in der Grafschaft Görz und Gradisca, die Tschechen in Böhmen und die Polen in den preußischen Ostprovinzen. Umgekehrt waren zahlreiche Angehörige der deutschen Sprachgemeinschaft nicht wahlberechtigt, weil sie außerhalb des Bundesgebiets wohnten: die Elsässer, die Deutschen in Südschleswig, die Deutschbalten und die Deutschen in Siebenbürgen. Da sich das Mandat der Nationalversammlung auf die politische Neuordnung Deutschlands in den Grenzen des Bundes beschränkte, stand von vornherein fest, dass der Nationalstaat, den sie schaffen sollte, nicht alle Angehörigen der deutschen Kulturnation einbeziehen würde. Die deutschen Monarchen wirkten bei den Beratungen der Frankfurter Nationalversammlung nicht mit. Da sie jedoch im Amt geblieben waren, konnte der deutsche Nationalstaat nur mit ihrer Zustimmung verwirklicht werden. Eines der schwierigsten Probleme, das sich der Nationalversammlung stellte, ergab sich aus dem übernationalen Charakter der Habsburgermonarchie. Nach langen Beratungen wurde am 27. Oktober 1848 beschlossen, nur diejenigen Gebiete Österreichs in den deutschen Nationalstaat aufzunehmen, die zum Deutschen Bund gehört hatten. Das war insofern konsequent, als auch nur in diesen Gebieten die Wahlen zur Nationalversammlung ausgeschrieben worden waren. Mit den übrigen Teilen der Monarchie sollte das deutsche Österreich lediglich nach den Grundsätzen

1 Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. 1, Stuttgart 1957, S. 586.

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der Personalunion verbunden bleiben. Niemand zweifelte daran, dass zum Oberhaupt dieses großdeutschen Nationalstaats nach der Verabschiedung der Reichsverfassung der österreichische Kaiser gewählt würde. Der österreichische Ministerpräsident Fürst Felix Schwarzenberg wies den Plan der Teilung der Donaumonarchie am 27. November 1848 jedoch kategorisch zurück. Am 9. März 1849 verlangte er stattdessen die Aufnahme der gesamten Donaumonarchie in das neue Reich. Angesichts dessen blieb der Nationalversammlung nichts anderes übrig, als einen Nationalstaat ohne die Deutschen Österreichs und insofern, wie man sagte, eine kleindeutsche Lösung der nationalen Frage anzustreben. Der Verwirklichung des deutschen Nationalstaats im vollen Umfang stand die monarchische Ordnung Europas entgegen. Am 27. März 1849 wurde die Frankfurter Reichsverfassung verabschiedet. Sie sah eine kleindeutsche Erbmonarchie und ein Parlament mit zwei Kammern, dem Staatenhaus und dem Volkshaus, vor. Die Wahlen zum Volkshaus sollten nach dem allgemeinen und gleichen Stimmrecht erfolgen. Zum Staatsoberhaupt mit dem Titel eines Kaisers der Deutschen wurde der König von Preußen gewählt. Friedrich Wilhelm IV. von Preußen lehnte die Wahl zum Kaiser und damit die Reichsverfassung jedoch ab. Dem König widerstrebte die Annahme einer Krone revolutionären Ursprungs. Sie wäre in der Tat schwer vereinbar gewesen mit dem monarchischen Legitimitätsanspruch, den er in Preußen selbst im Jahr zuvor gegen die Revolution hatte behaupten können, als er die preußische Nationalversammlung auflöste und eine Verfassung nach dem monarchischen Prinzip oktroyierte. Insofern war die Ablehnung der Kaiserkrone auch die unmittelbare Folge des Scheiterns der Revolution in Preußen. Die Reichsverfassung von 1849 sah eine parlamentarische Regierung vor.² Während die Minister im konstitutionell regierten Preußen allein dem König verantwortlich waren, wären sie im Reich dem Reichstag verantwortlich gewesen. In Preußen Träger der Souveränität, wäre Friedrich Wilhelm im Reich ein bloßes Organ der Verfassung geworden. Hätte er die Reichsverfassung angenommen, hätte er der Nation im Reich ein Herrschaftsrecht zugestanden, das er ihr in Preußen bestritt. So ist das Werk der deutschen Nationalversammlung letztlich an der Unvereinbarkeit der wechselseitigen Souveränitätsansprüche von Monarchie und Nation gescheitert. Angesichts dessen mag es im Rückblick scheinen, als hätte die Nationalversammlung besser daran getan, für den deutschen Nationalstaat eine republikanische statt einer monarchischen Verfassung zu entwerfen. Die Republik hatte bei

2 Manfred Botzenhart: Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848–1850. Düsseldorf 1977, S. 647; vgl. dagegen Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte (wie Anm. 1), Bd. 2, Stuttgart 1960, S. 829.

418 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Ausbruch der Revolution im deutschen Bürgertum jedoch nur eine geringe Zahl von Anhängern. Ein wesentlicher Grund dafür war die Erfahrung der Französischen Revolution. Aus der im September 1792 proklamierten ersten französischen Republik waren schon nach wenigen Monaten die Jakobinerdiktatur und das Regime des Terrors hervorgegangen. Das nachfolgende Direktorium hatte sich als instabil erwiesen und war vier Jahre nach seiner Einsetzung dem Staatsstreich Napoleons erlegen. Die deutschen Liberalen zogen im Frühjahr 1848 daraus den Schluss, dass ein Sturz der Monarchien unabsehbare Risiken mit sich brächte und daher unbedingt vermieden werden müsse. Erleichtert wurde ihnen dieser Kurs von den deutschen Fürsten selbst. Vor dem Ansturm der Revolution waren sie im März 1848 überall zurückgewichen und hatten damit Grund zu der Hoffnung gegeben, dass sie den Reformforderungen keinen unüberwindlichen Widerstand entgegensetzen würden. Im Unterschied zur französischen Monarchie des ausgehenden Ancien Régime hatten die deutschen Monarchien den Weg der Reform schon lange vor Ausbruch der Revolution beschritten. Bis auf Österreich und Preußen waren sämtliche deutschen Monarchien Verfassungsstaaten geworden, von anderen Reformen ganz zu schweigen. Der Oktroi von Verfassungen in den deutschen Mittelstaaten war ursprünglich von Napoleon angestoßen worden. Muster der napoleonischen Verfassungspolitik in Deutschland war das Königreich Westfalen gewesen. Napoleon hatte es nach dem Sieg über Preußen und dem Friedensschluss von Tilsit aus ehemals preußischen, kurhessischen und anderen Territorien des untergegangenen Reiches zusammengesetzt. Zum König hatte er seinen Bruder Jérôme gemacht, zu dessen Residenz hatte er Kassel bestimmt. Am 15. November 1807 hatte er eine Verfassung für das Königreich oktroyiert. Durch die Einführung der Verfassung und des Code civil hatte er gehofft, die Bevölkerung für den neuen Staat und den fremden König zu gewinnen und sie zu einer Nation mit eigenständigem Staatsbewusstsein zu erziehen. Da die Herrschaft Napoleons in Deutschland jedoch schon sechs Jahre später endete, muss offen bleiben, ob das Experiment hätte gelingen können. Für das Gelingen spricht immerhin der Erfolg der napoleonischen Methode in zahlreichen anderen deutschen Staaten. Bayern, Baden und andere Mittelstaaten waren mit Napoleons Hilfe seit 1803 durch Hinzufügung ehemals selbständiger Territorien erheblich vergrößert worden. Der Wiener Kongress setzte den Prozess der territorialen Neuordnung fort. Die größten Territorialverschiebungen folgten aus der Rückgabe des linken Rheinufers durch Frankreich im ersten Frieden von Paris vom 30. Mai 1814. Das Gebiet wurde im Norden Preußen, im Süden dem Königreich Bayern zugeteilt. In der Epoche nach dem Kongress folgten die deutschen Monarchen nach und nach dem westfälischen Beispiel von 1807 und oktroyierten moderne Repräsentativverfassungen. Die Folge war, dass in diesen Staaten, besonders ausgeprägt in Bayern, ein

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partikulares Staatsbewusstsein entstand. Der einzelstaatliche Partikularismus trat alsbald in Konkurrenz zum deutschen Nationalbewusstsein.³ Er festigte das Zusammengehörigkeitsgefühl der heterogenen Landesteile und stärkte dadurch die Akzeptanz der deutschen Monarchien auch in den neuen, erst durch die Einwirkung Napoleons erworbenen Landesteilen. Über die badische Verfassung urteilte der Freiburger Staatsrechtslehrer Carl von Rotteck im September 1818: Wir haben eine ständische Verfassung erhalten, ein politisches Leben als Volk [. . . ] Wir waren Baden-Badener, Durlacher, Breisgauer, Pfälzer, Nellenburger, Fürstenberger, wir waren Freiburger, Konstanzer, Mannheimer; ein Volk von Baden waren wir nicht. Fortan aber sind wir ein Volk.⁴

Anselm Feuerbach, Erster Präsident des Appellationsgerichts im ehemals preußischen Ansbach, schrieb über die bayerische Verfassung von 1818 ein Jahr nach deren Verkündung: „Man sollte nicht glauben, was Ein großes Königswort, wie unsere Verfassung, in kurzer Zeit für Dinge tun kann. Erst mit dieser Verfassung hat sich unser König Ansbach und Bayreuth, Würzburg, Bamberg und so weiter erobert. Jetzt sollte man einmal kommen und uns zumuten, eine andere Farbe als blau und weiß zu tragen.“⁵ Die beiden Zeitgenossen stimmten offenkundig darin überein, dass die Monarchen es vermocht hatten, durch die Gewährung einer Verfassung aus Untertanen ganz heterogener Herkunft von oben Nationen zu formen. Die Schaffung einer Nation durch den Monarchen erwies sich somit als ein gangbarer Weg, um Monarchie und Nation miteinander zu versöhnen. Auch wenn die Monarchen weiterhin an ihrem dynastischen Recht und am Gottesgnadentum festhielten, wuchs ihnen aus der Stiftung der Verfassung eine zusätzliche Legitimation zu. Der durch die modernen Reformen gestärkte Partikularismus wurde eine wesentliche Ursache dafür, dass das deutsche Bürgertum sich in seiner überwiegenden Mehrheit einen deutschen Nationalstaat nur als Bundesstaat vorstellen konnte. Die Bindung der Deutschen an ihre je angestammten Monarchien kam in der Revolution auch darin zum Ausdruck, dass in Österreich und Preußen, den beiden Staaten, die bis dahin als einzige noch keine Verfassung erhalten hatten,

3 Volker Sellin: Nationalbewußtsein und Partikularismus in Deutschland im 19. Jahrhundert. In: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt 1988, S. 241–264 (in diesem Band S. 287–304). 4 Carl von Rotteck: Ein Wort über Landstände (1818). In: Hermann von Rotteck (Hrsg.): Dr. Carl von Rotteck’s Gesammelte und nachgelassene Schriften mit Biographie und Briefwechsel. Bd. 2, Pforzheim 1841, S. 411 f. 5 Anselm Ritter von Feuerbach an Tiedge und Elise von der Recke, Ansbach, 27. März 1819. In: Ludwig Feuerbach (Hrsg.): Anselm Ritter von Feuerbach’s Leben und Wirken aus seinen ungedruckten Briefen und Tagebüchern, Vorträgen und Denkschriften. Bd. 2, Leipzig 1852, S. 112 f.

420 | III Monarchie, Nation, Nationalismus parallel zur deutschen Nationalversammlung in Frankfurt ebenfalls Nationalversammlungen tagten, um auch sie in Verfassungsstaaten zu verwandeln, der österreichische Reichsrat in Wien und die preußische Nationalversammlung in Berlin. Das Ziel ging dahin, den angestrebten deutschen Nationalstaat als Bund freier monarchischer Verfassungsstaaten ins Leben zu rufen. Die Bürger der deutschen Verfassungsstaaten verstanden sich als ebenso viele partikulare Nationen, im Unterschied zur deutschen Kulturnation allerdings als Staatsnationen. Nach dem Scheitern der Revolution blieb die deutsche Frage zunächst in der Schwebe. In den frühen fünfziger Jahren dominierte die Reaktion. Erst gegen Ende des Jahrzehnts lebte die deutsche Nationalbewegung wieder auf. Äußeres Zeichen dafür war die Gründung des Deutschen Nationalvereins im Jahre 1859 in Frankfurt nach dem Vorbild der Società nazionale italiana. Der Nationalverein warb für die Bildung eines deutschen Nationalstaats unter preußischer Führung. Die Anhänger einer großdeutschen Lösung der nationalen Frage unter Einbeziehung Österreichs reagierten drei Jahre später mit der Gründung des Deutschen Reformvereins, der jedoch keine vergleichbare Resonanz erzielte. In den kommenden Jahren wurde die Nationalbewegung zu einem Faktor von wachsender Bedeutung im Kampf der beiden deutschen Großmächte um die Führungsrolle in Deutschland. Als preußischer Gesandter beim Deutschen Bundestag in Frankfurt hatte Otto von Bismarck beobachtet, wie Österreich seine Stellung als Präsidialmacht des Bundes für die Förderung seiner partikularstaatlichen Interessen nutzte. Er zog daraus den Schluss, dass Preußen in Deutschland einen angemessenen Einfluss nur gewinnen könne, wenn es der Macht Österreichs eine ebenbürtige Macht entgegensetzte. Wilhelm I., seit 1861 König von Preußen, war unabhängig von diesen Überlegungen entschlossen, die Schlagkraft der preußischen Armee durch eine umfassende Heeresreform zu erhöhen. Über diesem Projekt brach zwischen der Krone und der liberalen Mehrheit des preußischen Abgeordnetenhauses ein schwerer Konflikt aus, der sich alsbald auf die Frage zuspitzte, welches Verfassungsorgan in einem konstitutionellen System den Ausschlag geben solle, wenn Krone und Volksvertretung sich nicht einigen konnten. Da Bismarck sich bereit erklärte, den Konflikt im Sinne des Königs durchzufechten, wurde er im September 1862 zum preußischen Ministerpräsidenten berufen. Er sollte dieses Amt 28 Jahre lang bekleiden. Schon wenige Tage nach seiner Ernennung versuchte Bismarck die liberale Opposition mit dem Argument für die Heeresreform zu gewinnen, dass die Liberalen das Ziel verfolgten, Deutschland zu einigen. Die nationale Frage sei jedoch eine Machtfrage, die Preußen nur lösen könne, wenn es stark sei. In seiner Vorliebe für pointierte Formulierungen fasste er diesen Gedanken in der Budgetkommission des Abgeordnetenhauses in die berühmten Worte: „Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden –

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das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen –, sondern durch Eisen und Blut.“⁶ Die Äußerung trug ihm bei der oppositionellen Fortschrittspartei keine Sympathien ein. Bismarck setzte die Heeresreform gegen den Widerstand des Abgeordnetenhauses dennoch durch. Mit der reformierten Armee bestritt Preußen in den folgenden Jahren die drei Einigungskriege: 1864 gegen Dänemark, 1866 gegen Österreich und 1870/71 gegen Frankreich. Am 18. Januar 1871 konnte König Wilhelm I. von Preußen im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles feierlich zum Deutschen Kaiser proklamiert werden. Der lange ersehnte Nationalstaat war Wirklichkeit geworden. Nach dem Sieg über Österreich im Jahre 1866 hatte Preußen unter Berufung auf das Eroberungsrecht mehrere norddeutsche Staaten annektiert, die auf österreichischer Seite an dem Krieg teilgenommen hatten: das Königreich Hannover, das Kurfürstentum Hessen, das Herzogtum Nassau sowie die freie Stadt Frankfurt. Ebenfalls annektiert wurden die seit dem Krieg gegen Dänemark zwischen Österreich und Preußen umkämpften Elbherzogtümer Schleswig und Holstein. Durch die Annexionen erfuhr Preußen eine beträchtliche Machtsteigerung und erhöhte zugleich sein Gewicht im künftigen deutschen Nationalstaat. Die Annexionen wurden dem preußischen Landtag zur Bestätigung vorgelegt. In den betroffenen Provinzen selbst wurde dagegen weder den Kammern noch der Bevölkerung Gelegenheit gegeben, über die Aufhebung ihrer politischen Eigenständigkeit und den Sturz ihrer Monarchien abzustimmen. Die Vergrößerung Preußens auf dem Wege der Annexion erfolgte insoweit nach dem Muster der Staatsbildungen Napoleons und des Wiener Kongresses: Über Länder und Menschen wurde nach Willkür verfügt. Ebenfalls nach dem Krieg von 1866 verabredeten auf preußische Initiative die insgesamt 22 nach den preußischen Annexionen selbständig gebliebenen deutschen Staaten nördlich des Mains die Bildung eines Bundesstaates unter dem Namen eines Norddeutschen Bundes. Die Einbeziehung auch der süddeutschen Staaten verbot sich einstweilen angesichts des Widerstands des französischen Kaiserreichs. Österreich war nach seiner Niederlage aus dem Prozess der deutschen Nationalstaatsbildung ausgeschieden. Die Bildung eines Bundesstaats aus unabhängigen Verfassungsstaaten bedurfte der Zustimmung nicht nur der Regierungen, sondern auch der Parlamente. Vor allem aber erforderte sie die Schaffung einer bundesstaatlichen Verfassung. Zur Erfüllung dieser Aufgabe fanden im Februar 1867 in allen Mitgliedsstaaten nach allgemeinem, gleichem und direktem Stimmrecht Wahlen zu einem verfassunggebenden Reichstag des Norddeutschen Bundes statt.

6 Zit. nach: Lothar Gall: Bismarck. Der weiße Revolutionär. Frankfurt 1980, S. 256 f.

422 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Die Bezeichnung des Gremiums darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die verfassunggebende Gewalt nicht bei der Nation lag und daher auch nicht durch eine von der Nation gewählte Vertretung ausgeübt werden konnte. Das war ein entscheidender Unterschied zur Stellung der Frankfurter Nationalversammlung in der Revolution. Nachdem die preußische Monarchie mit Bismarcks Hilfe während des Verfassungskonflikts den Vorrang der Krone vor dem Parlament behauptet hatte, war nicht zu erwarten, dass sie dafür eintreten würde, den deutschen Nationalstaat auf eine demokratische Grundlage zu stellen. Die Reichsverfassung von 1849 hatte der preußische König wegen ihres revolutionären Ursprungs abgelehnt. Der verfassunggebende Reichstag des Norddeutschen Bundes war jedoch nicht aus einer Revolution hervorgegangen. Seine Aufgabe war auch nicht Ausarbeitung einer Verfassung in Wahrnehmung einer verfassunggebenden Gewalt des Volkes, sondern Mitwirkung an einer Verfassungsschöpfung nach dem monarchischen Prinzip. Das Prinzip, das erstmals Jacques-Claude Beugnot in der Präambel zur Charte constitutionnelle von 1814 formuliert hatte, besagte, dass der Monarch auch im Verfassungsstaat im Vollbesitz der Staatsgewalt bleibe und sich lediglich in deren Ausübung an die Mitwirkung der Nation binden könne.⁷ Den Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes hatte Artikel 57 der Wiener Schlussakte von 1820 das monarchische Prinzip verbindlich vorgeschrieben.⁸ Dementsprechend beanspruchten auch im Norddeutschen Bund die verbündeten Fürsten die Staatsgewalt und das Recht zur Verfassungsschöpfung für sich, suchten jedoch die Nation durch deren gewählte Vertreter an dieser Aufgabe zu beteiligen. Am 18. August 1866 waren sie dementsprechend vertraglich übereingekommen, die Verfassung des Bundes „unter Mitwirkung eines gemeinschaftlich zu berufenden Parlaments“ zu schaffen.⁹ Dieser Beschluss zielte nicht auf die Teilung der Souveränität zwischen Monarchie und Nation. Das ergibt sich schon daraus, dass für den Fall, dass zwischen dem verfassunggebenden Reichstag und den Monarchen keine Einigung erzielt werden sollte, vorgesehen war, die Verfassung des Bundes notfalls durch Oktroi in Kraft zu setzen.¹⁰ Der

7 Volker Sellin: Die Erfindung des monarchischen Prinzips. Jacques-Claude Beugnots Präambel zur Charte constitutionnelle. In: Armin Heinen/Dietmar Hüser (Hrsg.): Tour de France. Eine historische Rundreise. Festschrift für Rainer Hudemann. Stuttgart 2008, S. 490, 497, in diesem Band S. 305–315. 8 Ernst Rudolf Huber (Hrsg.): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Bd. 1, 3. Aufl., Stuttgart 1978, S. 99. 9 Bündnisvertrag Preußens mit den Norddeutschen Staaten, 18. 8. 1866, Art. 2. In: Ernst Rudolf Huber (Hrsg.): Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte. Bd. 2, 3. Aufl., Stuttgart 1961, Nr. 196 (Nr. 185), S. 269. 10 Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte (wie Anm. 1), Bd. 3, Stuttgart 1963, S. 654 f.

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Reichstag wurde am 24. Februar 1867 von König Wilhelm I. von Preußen eröffnet. Die verbündeten Regierungen legten der Versammlung einen gemeinsam erarbeiteten Verfassungsentwurf vor. Im Laufe der Beratungen setzte der Reichstag einschneidende Veränderungen an dem Entwurf durch. Am 16. April wurde die Verfassung verabschiedet. Oberhaupt des neuen Staates wurde der König von Preußen unter der nüchternen Bezeichnung eines Bundespräsidiums.¹¹ Nach den vernichtenden Niederlagen Frankreichs schon in den ersten Wochen des Deutsch-Französischen Kriegs nahm der Norddeutsche Bund im Herbst 1870 mit Bayern, Baden, Württemberg und Hessen-Darmstadt Verhandlungen über einen Zusammenschluss auf. Im Laufe des Monats November schloss er mit jedem dieser Staaten einen gesonderten Bundesvertrag. Anschließend wurden die Verträge durch die Parlamente der vertragschließenden Staaten ratifiziert. Als letztes Parlament nahm am 21. Januar 1871 die bayerische Zweite Kammer die Novemberverträge an. Aus der Verfassung des Norddeutschen Bundes wurde auf diesem Wege mit geringfügigen Modifikationen die Verfassung des Deutschen Reiches.¹² Nachdem die Verfassung des Bundes zunächst im Wege der Vereinbarung zwischen dem Träger der Souveränität, den verbündeten norddeutschen Fürsten, und dem konstituierenden Reichstag zustandegekommen war, erfolgte der Zusammenschluss des Norddeutschen Bundes mit den süddeutschen Staaten und ihre Übernahme der Bundesverfassung nach den Regeln des Völkerrechts. Ein neuer verfassunggebender Reichstag des Gesamtreichs wurde nicht einberufen. Der deutschen Nation, soweit sie nach dem Ausschluss Österreichs 1866 das Staatsvolk des Reiches bildete, wurde nicht die Gelegenheit gegeben, ihren Willen geschlossen zum Ausdruck zu bringen. Mit der Gründung des Kaiserreichs von 1871 war das Ziel, die deutsche Nation in einen Staat zusammenzuführen, erreicht, allerdings mit erheblichen Einschränkungen. Das Kaiserreich war ein Nationalstaat, in dem die Staatsgewalt nicht von der Nation ausging. Die Souveränität lag nach der Reichsverfassung nicht beim Volk, sondern bei den verbündeten Monarchen, institutionell beim Bundesrat, der sich aus den Vertretern der einzelnen Regierungen zusammensetzte. Der Konflikt zwischen Monarchie und Nation um den Ort der Souveränität war zugunsten der Monarchie entschieden worden. Die Ausdehnung des Reiches bestimmte sich nicht nach den Wohngebieten der Deutschen. Das Reichsvolk setzte sich aus den Bevölkerungen der einzelnen Bundesstaaten zusammen und umfasste nicht die gesamte deutsche Kulturnation. 11 Verfassung des Norddeutschen Bundes, 16. 4. 1867, Art. 11. In: Huber: Dokumente (wie Anm. 8), Bd. 2, Nr. 198 (Nr. 187), S. 275. 12 Gesetz betreffend die Verfassung des Deutschen Reiches, 16. 4. 1871. In: Huber: Dokumente (wie Anm. 8), Bd. 2, Nr. 261 (Nr. 218), S. 384–402.

424 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Ohne die preußische Militärmacht hätte das Reich nicht gegründet werden können. Die politische Grundlage der Reichsgründung war jedoch das Bündnis der preußischen Monarchie mit der deutschen Nationalbewegung. Der Reichsgründer Bismarck selbst war kein Anhänger der Nationalidee, aber geleitet vom preußischen Machtinteresse hatte er sich das politische Potential der Nationalbewegung zunutze gemacht. Das Deutsche Reich von 1871 verdankte seine Entstehung der preußischen Staatsräson. Wie schon der nicht verwirklichte Nationalstaat von 1849 war auch Bismarcks Schöpfung ein kleindeutsches Reich. Den Krieg von 1866 weiterzuführen mit dem Ziel, die Habsburgermonarchie zu zerschlagen, um die Deutschen Österreichs einzubeziehen, lag nicht im preußischen Staatsinteresse. Ein solches Ziel hätte den Krieg auf unabsehbare Zeit verlängert. Eine Intervention des von Napoleon III. geführten Frankreich wäre unvermeidlich gewesen und hätte unweigerlich weitere Mächte auf den Plan gerufen. Das im Wege einer nationalen Revolution durch die Monarchien geschaffene Reich unterschied sich zwangsläufig von dem gescheiterten Projekt der Frankfurter Nationalversammlung. Der Nationalstaat als solcher war nicht Ziel der preußischen Politik gewesen, schon gar nicht ein demokratischer. Aber der Wunsch vieler Deutscher nach Nationaleinheit gab der preußischen Monarchie die Gelegenheit zur Expansion und diente ihr zur Rechtfertigung für die beispiellose Machtsteigerung, die sie durch die Annexionen in Norddeutschland und den Zusammenschluss der übrigen deutschen Staaten außerhalb Österreichs unter ihrer Führung erzielte. In der Revolution von 1848 hatten die deutschen Monarchien ihre historische Legitimität von Gottes Gnaden gegenüber der liberalen und demokratischen Bewegung erfolgreich verteidigt. In den sechziger Jahren verstärkte die liberale Opposition jedoch überall den Druck, um die Parlamentarisierung der Regierungen durchzusetzen. In Preußen erwog König Wilhelm I. im Jahre 1862 sogar abzudanken, weil er keine Möglichkeit mehr sah, die Unterwerfung der Krone unter den Willen des Abgeordnetenhauses zu vermeiden. Unter Führung Bismarcks überwand die preußische Monarchie die Krise dadurch, dass sie der liberalen Opposition in der nationalen Frage entgegenkam. Die Monarchie trat in ein neues Verhältnis zur Nation. Sie rettete ihre historische Legitimität, indem sie eine nationale Legitimität hinzuerwarb. Dieser Weg stand nicht allen deutschen Monarchien offen. Die Monarchien der von Preußen im Jahre 1866 annektierten Staaten gingen im Prozess der nationalen Einigung unter. Der österreichischen Monarchie blieb es infolge ihres übernationalen Charakters verwehrt, ihre Legitimität durch Aneignung des nationalen Gedankens zu festigen. Die Monarchien derjenigen kleinen und mittelgroßen Staaten, die sich mit Preußen 1866 zum Norddeutschen Bund und 1870/71 zum Deutschen Reich zusammenschlossen, gewannen in diesem Prozess zwar Anteil an der nationalen Legitimität, auf längere Frist jedoch

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verloren sie zwangsläufig an Bedeutung. Zum Träger und Symbol der nationalen Monarchie wurde allein der preußische König aus dem Hause Hohenzollern. Wie schon nach der Reichsverfassung von 1849 wurde der neue Reichsmonarch mit dem Kaisertitel ausgestattet, allerdings nicht mit dem demokratischen Titel eines „Kaisers der Deutschen“, sondern mit dem politisch unverfänglichen Titel eines „Deutschen Kaisers“. Für die Errichtung eines nationalen Kaisertums statt eines nationaldeutschen Königreichs sprachen nicht nur die Erinnerung an das im Jahre 1806 auf Druck Napoleons untergegangene alte deutsche Reich, sondern auch aktuelle politische Überlegungen. Die verbreitete Aversion gegen Preußen in den süddeutschen Staaten war leichter zu überwinden, wenn der deutsche Kaiser als Nationalmonarch begrifflich vom preußischen König unterschieden wurde. Den Königen von Sachsen, Württemberg und Bayern musste es leichter fallen, sich einem Deutschen Kaiser unterzuordnen als einem im Rang gleichgestellten König von Preußen.¹³ Die Rücksichtnahme auf bundesfürstliche Empfindlichkeiten erklärt auch, warum Bismarck seinem König den Verzicht auf den Titel „Kaiser von Deutschland“ abrang, der eine mit dem bundesstaatlichen Charakter des Reiches unvereinbare „unmittelbare Gebietsherrschaft“ des Staatsoberhaupts vorgespiegelt hätte.¹⁴ In der Verbindung des allgemeinen Wahlrechts zum Reichstag mit dem monarchischen Prinzip erblickten schon Zeitgenossen Parallelen zum Kaisertum Napoleons III. In der Angewiesenheit des deutschen Kaisers auf die Zustimmung der Nation, die ihn nicht eingesetzt hatte, lag in der Tat eine plebiszitäre Versuchung. In seiner Schrift „Demokratie und Kaisertum“ verglich der linksliberale Politiker Friedrich Naumann die wilhelminische Monarchie um die Jahrhundertwende mit dem Zweiten Französischen Kaiserreich. Dort sei die Volkssouveränität „theoretisch anerkannt, aber durch Übertragung auf einen Mann ausgeübt“ worden. Der napoleonische Imperator sei „Verkörperung des nationalen Gesamtwillens“ gewesen. Von diesem Grundsatz sei „der preußisch-monarchische Gedanke“ stark beeinflusst worden. Allerdings verfüge der deutsche Kaiser im Unterschied zu Napoleon III. über eine doppelte Herrschaftsberechtigung. „Als Preußenkönig“ habe er „das Erbe der alten Tradition übernommen“, als Kaiser dagegen sei er „nationaler Imperator, Verkörperung des Gesamtwillens, persön-

13 Elisabeth Fehrenbach: Wandlungen des deutschen Kaisergedankens 1871–1918. München/ Wien 1969, S. 54, 58, 62. 14 Theodor Schieder: Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat. Köln/Opladen 1961, S. 78.

426 | III Monarchie, Nation, Nationalismus licher Führer aus einer alten in eine neue Zeit.“¹⁵ Ist mit dem „Erbe der alten Tradition“ das überlieferte dynastische Herrschaftsrecht gemeint, so verbindet sich mit dem Begriff des „Führers“ eine ganz andere Legitimitätsvorstellung. Der Führer kann die politische Verantwortung nicht wie der konstitutionelle Monarch auf einen Minister abwälzen. Der Führer ist der Nation vielmehr selbst verantwortlich, und das Maß seiner Legitimität liegt im Erfolg seiner Führung.¹⁶ Trotz seines demokratischen Reichstagswahlrechts war das Deutsche Kaiserreich von 1871 kein demokratischer Volksstaat, sondern ein monarchischer Obrigkeitsstaat.¹⁷ Der Reichskanzler wurde vom Kaiser berufen und war nur diesem verantwortlich. Der Reichstag hatte weder auf seine Ernennung noch auf seine Entlassung Einfluss. Gleichwohl erwartete die Nation von der Monarchie, dass sie ihren Interessen und Anliegen diene. Die Monarchie wurde daher zwangsläufig zur Anwältin der nationalen Belange, und der Nationalismus verwandelte sich unter der Hand von einer revolutionären und demokratischen in eine konservative Kraft. Mit der Wiederherstellung des Kaisertums stellte sich das neue Reich in die Tradition des mittelalterlichen deutschen Reiches. Das alte deutsche Kaisertum war jedoch universal und katholisch gewesen, nicht national und protestantisch. Diese Differenz musste ideologisch und nationalpädagogisch überwölbt werden. Das ist am eindrucksvollsten durch die Wiederbelebung der Barbarossa-Sage gelungen. Die Sehnsucht nach Wiederauferstehung des alten deutschen Reiches war seit Jahrhunderten mit der Person des Stauferkaisers Friedrich I. Barbarossa verbunden gewesen. Nach der im späten Mittelalter entstandenen Sage wartete Friedrich in der Tiefe des Berges Kyffhäuser in Thüringen auf den Augenblick, in dem er heraustreten und seinen Thron wieder einnehmen könne. Seit ihren Anfängen begleitete Friedrich Rückerts in der Frühzeit des Deutschen Bundes entstandenes Gedicht „Barbarossa“ die deutsche Nationalbewegung. Die für die Aussage entscheidende dritte Strophe lautet: Er hat hinabgenommen/Des Reiches Herrlichkeit/Und wird einst wiederkommen/Mit ihr, zu seiner Zeit.¹⁸

15 Friedrich Naumann: Demokratie und Kaisertum. In: Ders.: Politische Schriften. Hrsg. von Theodor Schieder, Bd. 2: Schriften zur Verfassungspolitik. Köln/Opladen 1964, S. 265 f. 16 Vgl. Volker Sellin: Gewalt und Legitimität. Die europäische Monarchie im Zeitalter der Revolutionen. München 2011, S. 204. 17 Zu den Begriffen Volksstaat und Obrigkeitsstaat vgl. Volker Sellin: Regierung, Regime, Obrigkeit. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 413–416. 18 Friedrich Rückert: Barbarossa, zit. nach: Monika Arndt: Das Kyffhäuser-Denkmal – Ein Beitrag zur politischen Ikonographie des Zweiten Kaiserreichs. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 40 (1978), S. 76.

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Das vielzitierte Gedicht befestigte die Vorstellung, dass der deutsche Nationalstaat nur monarchisch sein könne und dass an seiner Spitze ein Kaiser stehen müsse. So kann es nicht verwundern, dass der erste Kaiser des neuen Reiches, der Hohenzoller und preußische König Wilhelm I., schon in den Jahren der Reichsgründung als der wiedergekehrte Barbarossa gefeiert wurde. Alsbald wurde diese Identifizierung auch in nationalen Denkmälern festgehalten. Reiterstandbilder der beiden Herrscher wurden nebeneinander vor der restaurierten Goslaer Kaiserpfalz aufgestellt. Im Reichssaal der Pfalz verknüpfte gleichzeitig der Gemäldezyklus des Düsseldorfer Malers Hermann Wislicenus, entstanden zwischen 1878 und 1897, das neue Hohenzollernreich mit dem mittelalterlichen Deutschen Reich. Ein Gemälde zeigt das „Erwachen Barbarossas“: Barbarossa tritt, das Schwert in der Hand, aus seiner Felsenhöhle heraus und blickt nach rechts hinüber auf das triumphale Zentralbild des Zyklus, das von der Gestalt des neuen Kaisers, Wilhelms I., beherrscht wird.¹⁹ Ihre monumentalste Repräsentation hat die Verknüpfung des Barbarossa-Mythos mit dem neuen Kaisertum im Nationaldenkmal auf dem Kyffhäuser gefunden, das nach einem Entwurf des Architekten Bruno Schmitz zwischen 1890 und 1896 in Gestalt eines gewaltigen turmartigen Gebäudes errichtet wurde.²⁰ Im Untergeschoß sitzt der erwachende Barbarossa in einer Felsenlandschaft. Hoch darüber reitet Kaiser Wilhelm, um die Prophezeiung zu erfüllen. Das Denkmal ging auf eine Initiative der Deutschen Kriegervereine zurück. Die ersten Kriegervereine waren in den Befreiungskriegen als Veteranenorganisationen entstanden. Während der drei Einigungskriege von 1864 bis 1871 nahmen die Vereine einen mächtigen Aufschwung und schlossen sich alsbald zu überregionalen Verbänden zusammen. So entstand im Jahre 1873 der Deutsche Kriegerbund. Um die Jahrhundertwende schlossen sich die Vereine schließlich zum Kyffhäuserbund zusammen. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs gehörten dem Bund 32 179 Vereine und rund 2,8 Millionen Mitglieder an. Damit übertraf er die Freien Gewerkschaften, die zur gleichen Zeit 2,5 Millionen Mitglieder zählten.²¹ Die Kriegervereine waren die bei weitem mitgliederstärkste unter den nationalen Agitationsverbänden des Kaiserreichs. Sie standen in schroffem Gegensatz zur Sozialdemokratie und bekämpften sie vor allem wegen ihres auf die Lehren von Karl Marx gegründeten Internationalismus. Die Politik des

19 Monika Arndt: Die Goslarer Kaiserpfalz als Nationaldenkmal. Hildesheim 1976, S. l f., 53–55, 68 f. 20 Gunther Mai: „Für Kaiser und Reich“. Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal auf dem Kyffhäuser. In: Ders. (Hrsg.): Das Kyffhäuser-Denkmal 1896–1996. Ein nationales Monument im europäischen Kontext. Köln 1997, S. 149–177. 21 Thomas Rohkrämer: Der Militarismus der „kleinen Leute“. Die Kriegervereine im Deutschen Kaiserreich 1871–1914. München 1990, S. 27; Mai: Kaiser-Wilhelm-Denkmal (wie Anm. 20), S. 150 f.

428 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Deutschen Kriegerbundes und des späteren Kyffhäuserbundes bestimmte im wesentlichen Alfred Westphal, der geschäftsführende Vorsitzende des Deutschen Kriegerbundes. Er war es auch, der den Bau des Kyffhäuser-Denkmals angeregt hatte. Westphal suchte die Kriegervereine in „Kampfstätten gegen die Sozialdemokratie“ umzuwandeln. Ihre Aufgabe sei, monarchischen und vaterländischen Sinn zu pflegen und damit der revolutionären und vaterlandsfeindlichen Bewegung der Sozialdemokratie eine monarchische und nationale Volksbewegung der ehemaligen Soldaten entgegenzusetzen.²²

Die Feier der nationalen Monarchie im Kyffhäuser-Denkmal diente in diesem Sinne auch der Bekämpfung und Ausgrenzung eines großen Teils der deutschen Nation, der sich, wie es schien, nicht in den Nationalstaat integrieren lassen wollte. Zugleich sollte das Denkmal zusammen mit den zahlreichen anderen Nationaldenkmälern, die im Kaiserreich entstanden sind, den als staatstreu angesehenen Bürgern eine emotionale Identifizierung mit dem monarchischen Nationalstaat ermöglichen. Da die Gründung des Deutschen Reiches in ihrem Ursprung ein Akt preußischer Staatsräson im Stil fürstlicher Kabinettspolitik des 18. Jahrhunderts war, fehlte ihr zunächst das emotionale Element, das im Nationalbewusstsein und in den Symbolen anderer Nationalstaaten vorherrscht. Wie Theodor Schieder hervorgehoben hat, wurden durch die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 „keine Gefühlswerte“ angesprochen. Daher sei sie niemals zum „Symbol der nationalen Einheit“ geworden, wie zum Beispiel die amerikanische Bundesverfassung von 1787.²³ Das hängt ohne Zweifel damit zusammen, dass Reich und Reichsverfassung nicht revolutionär gegen die bestehenden Gewalten hatten erkämpft werden müssen. Ähnlich verhält es sich mit der Nationalhymne. Die französische Nation besitzt in der Marseillaise eine Hymne, die bei Ausbruch der Revolutionskriege im April 1792 entstanden ist und in der die Begeisterung für die neugewonnene Freiheit und die Entschlossenheit, sie gegen jeden Angriff zu verteidigen, bis heute nachklingt. Im Deutschen Kaiserreich dagegen war eine Nationalhymne niemals offiziell eingeführt worden. Bei Reichsgründungsfeiern, bei Nationalfesten oder bei dynastischen Jubiläen des Hauses Hohenzollern wurde die Preußenhymne „Heil Dir im Siegerkranz“, also eine dynastisch auf den König von Preußen und nicht auf die Nation, schon gar nicht auf die deutsche

22 Zit. nach: Klaus Saul: Der „Deutsche Kriegerbund“. Zur innenpolitischen Funktion eines „nationalen“ Verbandes im kaiserlichen Deutschland. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen 6 (1969), S. 105 f. 23 Schieder: Kaiserreich (wie Anm. 14), S. 73.

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Nation gemünzte Hymne, angestimmt.²⁴ Neben der Preußenhymne erfreute sich das von Max Schneckenburger während der Rheinkrise von 1840 geschaffene Lied „Die Wacht am Rhein“ wachsender Beliebtheit. Bezeichnenderweise schmückt der Text den Sockel des 1883 eingeweihten Niederwalddenkmals am Rhein.²⁵ Das Lied spiegelt ein emotionales Element von kaum zu überschätzender Bedeutung für das deutsche Nationalbewusstsein wider: die Entschlossenheit, sich gegen das französische Expansionsstreben zu verteidigen. Dementsprechend spielte der Sieg über Frankreich im Krieg von 1870 im Reichsgründungsmythos eine zentrale Rolle. Die geschichtsbewusste Öffentlichkeit ordnete diesen Sieg in einen weiten historischen Zusammenhang ein und verstand ihn als gerechte Rache für die Raubzüge Ludwigs XIV. im 17. und für die Übergriffe Napoleons zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Das Motiv taucht in den unterschiedlichsten Zusammenhängen auf. Der von verschiedenen Seiten geforderte Wiederaufbau des im Pfälzischen Erbfolgekrieg von den Truppen des Sonnenkönigs zerstörten Heidelberger Schlosses wurde von Anhängern der Nationalidee mit dem Argument abgelehnt, dass die Ruine als „Denkmal französischen Übermuts“ zu den „wirksamsten Anschauungsmitteln der Erziehung zum nationalen Gedanken“ gehöre. In Ruinengestalt sei das Schloss ein „gewaltiges Warnungsund Mahnungszeichen“, ein „gellender Aufruf zur Einigkeit.“²⁶ Die Abtretung des Elsass wurde als überfällige Wiedergutmachung historischen Unrechts, die Kaiserproklamation im Schloss von Versailles am 18. Januar 1871 als ein Symbol nationaler Genugtuung gefeiert. In der Urkunde für die Grundsteinlegung der 1873 eingeweihten Berliner Siegessäule, die an die Siege in den drei Einigungskriegen erinnern sollte, werden Kaiser Wilhelm I. die Worte in den Mund gelegt: „Es war uns vorbehalten, das Werk der Deutschen Wiedergeburt [. . . ] gegen den alten Feind Deutscher Einheit und Macht zu vollenden.“²⁷ Der preußisch-deutschen Monarchie erwuchs aus dem Sieg über Frankreich ein gewaltiges Legitimierungspotential. Das erwies sich unter anderem bei der jährlichen Feier des Sedantages.

24 Dazu: Schieder: Kaiserreich (wie Anm. 14), S. 75. 25 Thomas Nipperdey: Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert. In: Ders.: Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte. Göttingen 1976, S. 158. 26 Zit. nach: Volker Sellin: Heidelberg im Spannungsfeld deutsch-französischer Konflikte. Die Schloßruine und ihre Stilisierung zum nationalen Symbol im Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons. In: Friedrich Strack (Hrsg.): Heidelberg im säkularen Umbruch. Traditionsbewußtsein und Kulturpolitik um 1800. Stuttgart 1987, S. 20, in diesem Band S. 489–504. 27 Zit. nach: Reinhard Alings: Monument und Nation. Das Bild vom Nationalstaat im Medium Denkmal – zum Verhältnis von Nation und Staat im deutschen Kaiserreich 1871–1918. Berlin/New York 1996, S. 159.

430 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Bei Sedan an der Maas hatte am 2. September 1870 eine unter Führung des Marschalls Mac-Mahon stehende französische Armee kapituliert. Kaiser Napoleon III., der sich bei der Armee aufhielt, geriet zusammen mit rund 75 000 Mann in preußische Gefangenschaft. Zwei Tage später wurde in Paris die Republik ausgerufen.²⁸ Die Anregung, den Sieg von Sedan jedes Jahr öffentlich zu feiern, kam nicht von der Regierung, sondern von dem protestantischen Pastor Friedrich von Bodelschwingh.²⁹ Erst nach und nach erhielt der Gedenktag einen offiziellen Charakter. Am Sedantag des Jahres 1883 wurde in Berlin in Anwesenheit des Kaisers und des Generalfeldmarschalls von Moltke das Sedanpanorama eingeweiht, ein 15 Meter hohes und 115 Meter langes Rundbild, auf dem die Schlacht von Sedan dargestellt war. Das Panorama lockte zwei Jahrzehnte lang zahlreiche Besucher an. Dann ließ das Interesse nach, und im Jahre 1904 wurde die Rotunde abgerissen. Schon zuvor hatten sich nicht alle Schichten der Gesellschaft durch das Heldenepos einfangen lassen. Der Mainzer Bischof Emmanuel Ketteler verbot 1874 den Geistlichen seiner Diözese, sich mit Gottesdiensten und Glockengeläut an den Sedanfeiern zu beteiligen, da diese weniger ein Fest der Nation als vielmehr ein Fest derjenigen Partei seien, welche den Kampf Bismarcks gegen die katholische Kirche unterstütze. Die Sozialdemokraten bekämpften die Feiern, weil sie darin eine Verherrlichung des Militarismus erblickten.³⁰ Angesichts dessen verstieg sich Kaiser Wilhelm II. am 25. Jahrestag der Kapitulation von Sedan bei einem Paradediner im Berliner Schloss zu einer Attacke gegen die Sozialdemokratie. Er nannte die Mitglieder dieser Partei „eine Rotte von Menschen, nicht wert, den Namen Deutscher zu tragen.“³¹ Wie die „Wacht am Rhein“ war auch der Sedantag ein Symbol, das die Kampfbereitschaft gegenüber Frankreich zum zentralen Motiv für den Zusammenhalt der Nation erhob. Nicht die Erlangung der Unabhängigkeit wie in den Vereinigten Staaten oder die Befreiung von monarchischer Willkür wie in Frankreich stiftete den Anlass für den Nationalfeiertag, sondern der Sieg über den traditionellen äußeren Feind. Der Erfolg von 1870 war zwar im Zeichen der allgemeinen Wehrpflicht, aber doch unter monarchischer Führung erfolgt. Insofern festigte auch der Sedantag die Allianz zwischen der Nation und der Monarchie von Gottesgnaden. Im Lichte dieser Allianz lief der Ausfall Wilhelms II. gegenüber der Sozialdemokratie wegen deren Ablehnung der Sedanfeiern auf den Vorwurf der Treulosigkeit hinaus. Damit reiht er sich in die verbreitete Verfemung der

28 François Roth: La guerre de 1870. Paris 1990, S. 126–130. 29 Schieder: Kaiserreich (wie Anm. 14), S. 125. 30 Sellin: Gewalt (wie Anm. 16), S. 128 f. 31 Zit. nach: Ebd., S. 129.

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sozialdemokratischen Arbeiterschaft als „vaterlandslose Gesellen“ ein. Die Probe auf deren Gesinnung stellte sich in der Julikrise 1914, als die sozialdemokratische Reichstagsfraktion, die immerhin ein Drittel der Abgeordneten umfasste, vor der Frage stand, ob sie der Bewilligung der von der Regierung beantragten Kriegskredite zustimmen solle. Tatsächlich stellte die Fraktion die nationale über die internationale Solidarität und stimmte am 4. August 1914 für die Kredite.³² Eine emotionale Verbundenheit mit der Monarchie schufen die zahlreichen dynastischen Jubiläen. Der Geburtstag des Kaisers wurde in Städten und Gemeinden des ganzen Reichs öffentlich gefeiert. Im Mittelpunkt der Feiern standen Umzüge und Paraden sowie Festbankette für geladene Gäste. Die Organisation lag häufig in der Hand privater Vereine, vor allem von Kriegervereinen und Schützenvereinen. In den nichtpreußischen Bundesstaaten mussten jedes Jahr die Geburtstage von zwei Monarchen gefeiert werden, der Geburtstag des Kaisers und der Geburtstag des jeweiligen Landesherrn. Während die badische und die württembergische Regierung die Durchführung des Kaisergeburtstags in ihren Staaten unterstützten, fürchtete die bayerische Regierung, das eigene Königshaus könne durch die Feier des Hohenzollernjubiläums aus dem Bewusstsein der Bürger verdrängt werden.³³ Als am 22. März 1897 mit großem Aufwand der 100. Geburtstag Kaiser Wilhelms I. gefeiert wurde, antwortete ein bayerischer Pfarrer einem Schulkind auf eine entsprechende Frage, Bayern habe keinen Anlass zur Feier des ersten deutschen Kaisers. Daraufhin wurde er seines Amtes enthoben.³⁴ Die Episode verweist auf die Frage, inwieweit es der Reichsmonarchie gelang, sich auch außerhalb Preußens im Bewusstsein der Deutschen zu verankern. In einer Untersuchung über die Beschenkung der Herrscher durch ihre Untertanen mit dynastischen Reliquien und anderen Gegenständen hat Eva Giloi unlängst gezeigt, dass unter den Geschenken an die deutschen Kaiser nur 16 % aus den nichtpreußischen Teilen des Reiches stammten. Allerdings war die Herkunft von Geschenken auch innerhalb Preußens selbst höchst ungleich verteilt. Aus den östlich von Brandenburg gelegenen Gebieten stammten etwa 10 % der Geschenke, aus dem Rheinland kamen so gut wie keine. Das ist ein klares Indiz für erhebliche Unterschiede in der Integrationskraft der Hohenzollernmonarchie schon innerhalb der preußischen und erst recht innerhalb der deutschen Gesellschaft. Sozial gesehen war unter den Stiftern der Adel weit überproportional vertreten,

32 Susanne Miller: Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg. Düsseldorf 1974, S. 66–74. 33 Sellin: Gewalt (wie Anm. 16), S. 64 f. 34 Fritz Schellack: Nationalfeiertage in Deutschland von 1871 bis 1945. Frankfurt 1990, S. 42.

432 | III Monarchie, Nation, Nationalismus gefolgt vom Bildungsbürgertum. Von Arbeitern und Bauern erhielt Wilhelm II. keine Geschenke.³⁵ Nach dem Sieg über Frankreich wurden dem Deutschen Reich das Elsass und Deutsch-Lothringen einverleibt. Es ist bezeichnend, dass Bismarck die Annexion dieser Provinzen weniger aus nationalpolitischen als vielmehr aus sicherheitspolitischen Motiven betrieben hatte. Das Gebiet wurde im Frankfurter Frieden von 1871 an das Deutsche Reich abgetreten, ohne dass seine Bewohner darüber hätten abstimmen können. Die föderale Struktur des Reiches erschwerte allerdings seine angemessene Integration in den deutschen Nationalstaat. Da das Reich ein Bund von Fürsten war, hätte das Elsass systementsprechend entweder in eine eigenständige Monarchie verwandelt oder mit einem bestehenden Bundesstaat, etwa dem benachbarten Großherzogtum Baden, verschmolzen werden müssen. Tatsächlich wurde es in die „Zwitterstellung“ eines „Reichslands“ gebracht und als solches unmittelbar dem Reich unterstellt.³⁶ Obwohl die Elsässer zur deutschen Kulturnation gehörten, fühlten sie sich überwiegend der französischen Staatsnation verbunden. In diesem Sinne bildeten sie im Deutschen Reich eine fremde Nationalität. Angehörige fremder Nationalitäten waren auch die Dänen in Nordschleswig und die Polen in den ostelbischen Provinzen Preußens, namentlich im Großherzogtum Posen. Eine große Zahl von Polen hatte seit den Teilungen des 18. Jahrhunderts zum preußischen Staat gehört. Dieser Staat war kein Nationalstaat gewesen und hatte daher keine ethnische Gruppe vor anderen ausgezeichnet. Die Eingliederung Preußens in das neue Reich machte die polnischen Mitbürger dagegen zu einer nationalen Minderheit.³⁷ Hinter dem ursprünglichen Ziel der deutschen Nationalbewegung, alle Angehörigen der deutschen Kulturnation in einen Staat zusammenzuführen, war das Kaiserreich von 1871 gleich zweifach zurückgeblieben. Mit den Elsässern, den Lothringern, den Dänen und den Polen umschloss es Nationalitäten, die sich der deutschen Nation nicht zugehörig fühlten. Umgekehrt umfasste das Reich zwar die Mehrheit, nicht aber die Gesamtheit der Deutschsprachigen. Das war vor allem die Folge des Ausschlusses Österreichs nach dem Krieg von 1866. Dennoch verstanden sich die Bürger des Kaiserreichs je länger je mehr als die deutsche Nation. Dass der Traum von der Vereinigung der gesamten deutschen Kulturnation in einem Staat gleichwohl fortbestand, zeigte sich nach

35 Eva Giloi: Monarchy, Myth, and Material Culture in Germany 1750–1950. Cambridge 2011, S. 315, 318, 304. 36 Hans-Ulrich Wehler: Das „Reichsland“ Elsaß-Lothringen von 1870 bis 1918. In: Ders.: Krisenherde des Kaiserreichs 1871–1918. 2. Aufl., Göttingen 1979, S. 24, 30 f. 37 Vgl. Schieder: Kaiserreich (wie Anm. 14), S. 18–20.

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dem Untergang der Monarchien in Deutschland und Österreich am Ende des Ersten Weltkriegs, als sowohl die deutsche als auch die provisorische deutschösterreichische Nationalversammlung die Wiedervereinigung der beiden 1866 getrennten Teile in einem einzigen Staat forderten. Die Siegermächte ließen die Vollendung des deutschen Nationalstaats jedoch nicht zu. Deutsch-Österreich wurde ein unabhängiger Staat, und das deutsche Südtirol fiel an Italien. War das Reich auch eine Schöpfung der deutschen Monarchien, so war es doch nicht nur eine monarchische Schöpfung. In allen Gründerstaaten hatten die Kammern an der Reichsbildung mitgewirkt. Ohne parlamentarische Mehrheiten hätte das Reich nicht im Konsens zwischen Regierungen und Regierten entstehen können. In Preußen konnte sich Bismarck vor allem auf die Nationalliberalen stützen. Die Partei war 1866 nach dem Sieg über Österreich als Abspaltung von der linksliberalen Deutschen Fortschrittspartei entstanden. Nachdem die Fortschrittspartei den preußischen Ministerpräsidenten während des Verfassungskonflikts heftig bekämpft hatte, verständigten sich die Nationalliberalen darauf, Bismarck im Prozess der nationalen Einigung zu unterstützen. Dabei wiegten sie sich in der Hoffnung, auf diesem Wege zu gegebener Zeit auch ihre freiheitlicheren Verfassungsvorstellungen verwirklichen zu können. Unterstützung fand Bismarck auch bei der Freikonservativen Partei. Die übrigen konservativen Parteien hielten sich zunächst zurück. Auf Reichsebene verkörperte je länger je mehr der Kaiser die Monarchie. Das war zum Teil eine Wirkung des Symbolgehalts der kaiserlichen Würde, vor allem aber war es eine Folge des machtpolitischen Übergewichts Preußens innerhalb des Reiches. Preußen umfasste zwei Drittel des Reichsgebiets und der reichsdeutschen Bevölkerung. Die wichtigsten Standorte der in stürmischer Entwicklung befindlichen Industrie lagen auf preußischem Territorium – im Ruhrgebiet, in Berlin und in Oberschlesien. Die militärische Kommandogewalt lag allein beim preußischen König und Kaiser. Der Reichstag konnte allenfalls über die Feststellung des Militäretats Einfluss auf die bewaffnete Macht ausüben. Schon vor der Jahrhundertwende beklagten aufmerksame Beobachter, dass Kaiser Wilhelm II. durch sein sprunghaftes und auftrumpfendes Verhalten Gefahr laufe, die Legitimität der Monarchie zu verspielen. Der Legationsrat im Auswärtigen Amt, Friedrich von Holstein, fand im Januar 1895 dafür die vielsagende Formulierung, der Kaiser lebe „vom royalistischen Kapitale“; was „er heute achtlos vergeude“, werde „einstmals seinem Sohne, ja, wahrscheinlich in wenigen Jahren schon ihm selber, empfindlich fehlen.“³⁸ Mit fast denselben

38 Friedrich von Holstein an Philipp Eulenburg, 1. 1. 1895. In: J. C. G. Röhl (Hrsg.): Philipp Eulenburgs Politische Korrespondenz. Bd. 2, Boppard 1979, S. 1440 f.

434 | III Monarchie, Nation, Nationalismus Worten erklärte der Abgeordnete der Freisinnigen Volkspartei Eugen Richter im Mai 1897 im Reichstag, dass „die monarchische Gesinnung“ sich „seit zehn Jahren nicht nur nicht vermehrt“ habe, sondern dass „von dem Kapital dieser Gesinnung gezehrt“ werde. Deutschland sei „ein monarchisch konstitutionelles Land; aber nach dem Programm: sic volo, sic jubeo – regis voluntas suprema lex“ möge man „vielleicht in Rußland noch eine Zeit regieren können, das deutsche Volk“ aber lasse sich „auf die Dauer nicht danach regieren.“³⁹ Die nationale Integrationskraft der Monarchie war im Schwinden. Der Erste Weltkrieg legte ihr eine Prüfung auf, der sich Wilhelm II. nicht gewachsen zeigte. Im August 1917 schrieb der bayerische Kronprinz Rupprecht an Reichskanzler Hertling, der Kaiser sei „um alles Ansehen gekommen“, und fügte hinzu, „ernsthaft denkende Leute“ bezweifelten, „ob die Dynastie der Hohenzollern den Krieg überdauern“ werde.⁴⁰ Im Herbst 1918 verspielte Wilhelm II. die Chance, die Monarchie durch rechtzeitigen Thronverzicht zugunsten seines Enkels zu bewahren.⁴¹ Am 9. November wurde die nationale Monarchie gestürzt, aber der Nationalstaat als solcher, den die deutschen Monarchen zwischen 1866 und 1871 im Bündnis mit der Nationalbewegung geschaffen hatten, überlebte, ungeachtet der territorialen Einbußen, die der Vertrag von Versailles Deutschland auferlegte.

39 Stenographische Berichte des Reichstags, 9. Legislaturperiode, 4. Session 1895–97, Bd. 8, S. 5912; vgl. dazu Volker Sellin: L’unità nazionale, la legittimità imperiale e la caduta di Guglielmo II nel 1918. In: Marina Tesoro (Hrsg.): Monarchia, tradizione, identità nazionale. Germania, Giappone e Italia tra Ottocento e Novecento. Milano 2004, S. 18. 40 Zit. nach: Bernd Sösemann: Der Verfall des Kaisergedankens im Ersten Weltkrieg. In: John C. G. Röhl (Hrsg.): Der Ort Kaiser Wilhelms II. in der deutschen Geschichte. München 1991, S. 159. 41 Zum Sturz Wilhelms II. vgl. Sellin: Gewalt (wie Anm. 16), S. 130–136.

| IV Pfälzische Perspektiven

Kurfürst Karl Ludwig von der Pfalz. Versuch eines historischen Urteils Am¹ 28. August 1980 jährt sich zum 300. Mal der Tag, an dem Kurfürst Karl Ludwig von der Pfalz im 63. Lebensjahr auf dem Wege von Mannheim nach Heidelberg starb. Ein leichtes Leben war es nicht gewesen, das an diesem Tag zu Ende ging, und schon gar kein glanzvolles. Karl Ludwig war noch nicht drei Jahre alt, als er aus der Heimat fliehen musste. Vorausgegangen war Friedrichs V., seines Vaters, Griff nach der böhmischen Königskrone. Die unbedachte Unternehmung hatte in der Schlacht am Weißen Berge bei Prag am 8. November 1620 ein jähes Ende gefunden. Die Sieger teilten die Pfalz unter sich auf. Die pfälzische Kur wurde auf Herzog Maximilian von Bayern übertragen. Bis zum Herbst des Jahres 1649 lebte Karl Ludwig im Exil: vor allen Dingen in Holland, wo er in Leiden auch studierte; seit 1635 aber auch immer wieder für längere Perioden in England, wo er – nach dem Tode des älteren Bruders und des Vaters nunmehr Oberhaupt seines Hauses – die Hilfe des Bruders seiner Mutter, des englischen Königs Karl I., zur Wiedererlangung der Pfalz zu gewinnen suchte. Als Karl Ludwig nach dem Westfälischen Frieden schließlich nach Heidelberg zurückkehren konnte, fand er ein zerstörtes und um wertvolle Gebiete verkleinertes Land vor: die Oberpfalz blieb in bayerischer Hand, und die seit dem 15. Jahrhundert von Mainz gehaltenen Pfandschaften an der Bergstraße mussten zum größten Teil wieder zurückgegeben werden. Die drei Jahrzehnte seines Exils waren reich an Rückschlägen und Demütigungen gewesen; die drei Jahrzehnte seiner Regierung sollten es nicht weniger sein. Wollte man das Leben Karl Ludwigs mit einem Wort charakterisieren, so könnte man es wohl nicht anders als mühevoll nennen. Es entspricht ganz und gar nicht dem Bild, das wir uns landläufig von einem deutschen Barockfürsten machen. Dieses Bild ist freilich ganz überwiegend von Zeugnissen geprägt, die erst aus dem politisch wie wirtschaftlich verhältnismäßig stabilen 18. Jahrhundert stammen. Dagegen wurden bis weit über die Mitte des 17. Jahrhunderts hinaus weite

1 Die folgende Abhandlung gibt den – geringfügig erweiterten – Text eines Vortrags wieder, den der Verfasser am 19. März 1980 vor dem Fördererkreis des Reiß-Museums in Mannheim gehalten hat. Erstdruck: Mannheim 1980 (Gesellschaft der Freunde Mannheims und der ehemaligen Kurpfalz, Mannheimer Altertumsverein von 1859). Auf die nachträgliche Hinzufügung von Nachweisen wurde verzichtet. Stattdessen sei an dieser Stelle auf den Artikel über Karl Ludwig in der Neuen Deutschen Biographie, Band 11 (1977) von Peter Fuchs, und auf die Arbeit des Verfassers – Die Finanzpolitik Karl Ludwigs von der Pfalz. Staatswirtschaft im Wiederaufbau nach dem Dreißigjährigen Krieg. Stuttgart 1978 – verwiesen.

438 | IV Pfälzische Perspektiven Teile Europas von schweren politischen Krisen erschüttert. Das Verhältnis zwischen den europäischen Mächten war vom Kampf um die Vorherrschaft zwischen Frankreich und Schweden auf der einen, Österreich und Spanien auf der anderen Seite bestimmt. Im Innern ihrer Staaten waren die Fürsten bestrebt, die Herrschaftsmittel in ihrer Hand zu konzentrieren und konkurrierende Hoheitsträger zu entmachten. Der Erfolg lag nicht überall auf ihrer Seite. Während sich in Frankreich der Absolutismus durchsetzte, blieben in Holland und Polen die Stände, in England das Parlament siegreich. Im Deutschen Reich sicherte das Eingreifen Richelieus in den deutschen Krieg das ständische Übergewicht in der Reichsverfassung, während die Entwicklung innerhalb der einzelnen Territorien unterschiedlich verlief. Innere wie äußere Frontstellungen wurden überlagert vom Gegensatz der Konfessionen. Die Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges sind bis zum heutigen Tage ein unauslöschlicher Bestandteil des geschichtlichen Selbstverständnisses der Deutschen geblieben. Man darf freilich nicht übersehen, dass nicht alle Gebiete Deutschlands gleich stark in Mitleidenschaft gezogen wurden. Der deutsche Nordwesten blieb weithin verschont. Die Hauptzerstörungsgebiete lagen in Brandenburg, Thüringen, Hessen, der Pfalz und Württemberg. Hier freilich hatte der Krieg tiefe Spuren hinterlassen. In Württemberg hatte die Bevölkerung im Jahre 1622 rund 450 000 Menschen betragen; 1639 lebten dort noch 97 000, am Ende des Krieges wenigstens wieder etwa 130 000 Menschen. Die Bevölkerungsverluste der Pfalz werden für die Kerngebiete auf annähernd 75% geschätzt. Das Ausmaß der Verwüstung und Verwilderung der Äcker und Weinberge wird deutlich, wenn man erfährt, dass in der Gemarkung Nußloch nach dem Kriege nur noch 48 der ehemals 280 Morgen bewirtschaftet wurden, in Leimen nur noch 52 von ehemals 320, in Rohrbach 85 von 310 Morgen. So nimmt es nicht wunder, dass die jährlichen Einkünfte des Kurfürsten an Wein von 1 225 Fuder auf 140 und an Roggen von 24 400 auf 4 600 Malter zurückgegangen waren. Das sind gewiss eindrucksvolle Zahlen, und doch sollte nach dem Gesagten deutlich geworden sein, dass das Schicksal der Pfalz und ihres Fürstenhauses im Kontext der Epoche den Anschein der Einzigartigkeit verliert. Selbst das Elend der Flucht und der Vertreibung teilte die kurfürstliche Familie in ihrem Jahrhundert mit wenigstens einer halben Million Menschen in Europa, die freilich von weniger vornehmem Stande waren. Im Jahre 1609 wies Philipp III. von Spanien die 275 000 Morisken – christianisierte Mauren – aus seinen Reichen aus, und die Verfolgung der französischen Hugenotten durch Ludwig XIV. in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts führte zur – übrigens durchaus unerwünschten und illegalen – Auswanderung von wahrscheinlich ebenfalls über 200 000 Menschen – in die Schweiz, nach Deutschland, nach Holland und nach England.

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Wo religiöse Gegensätze aufbrachen, waren sie fast regelmäßig mit machtpolitischen Gegensätzen verschränkt. Der Aufstand der Niederlande erwuchs in gleicher Weise aus konfessioneller wie aus ständischer Opposition. Die Aufhebung der politischen Sonderexistenz der Hugenotten durch Richelieu sollte die Macht des Königtums stärken. Im englischen Puritanismus verband sich ein kirchlich-religiöser Sonderweg mit verfassungsstaatlichen Zielsetzungen. Auch die Wahl Friedrichs V. von der Pfalz zum König von Böhmen war ein Akt ständischer Rebellion und konfessioneller Opposition zugleich gewesen. Die Folgen seines Misslingens trafen den Winterkönig nicht härter als die böhmischen Anführer des Aufstands. 27 von ihnen wurden hingerichtet; ihre Güter wurden eingezogen; die „verneuerte Landesordnung“ von 1627 beseitigte für immer das Recht der böhmischen Stände zur Wahl des Königs; der Protestantismus wurde verboten, und auch hier suchten 30 000 Familien ihren lutherischen Glauben durch Auswanderung zu retten. Karl Ludwig lebte schon in der Zeit seines Exils nicht abseits der großen Politik. Revolution und Bürgerkrieg in England erlebte er aus nächster Nähe. Mehrfach unternahm er Anläufe, sein Land mit Waffengewalt zurückzugewinnen. Der Versuch, das verwaiste Heer Bernhards von Weimar nach dessen Tod zu übernehmen, trug ihm auf Befehl Richelieus Haft und Zwangsaufenthalt in Frankreich ein. Aber auch wertvolle Kenntnisse und Eindrücke hat er im Ausland gewinnen können. In den Niederlanden beeindruckten ihn die wirtschaftliche Blüte, der Reichtum der Bewohner, die segensreichen Wirkungen der indirekten Besteuerung, die Vorteile einer Beschränkung polizeilicher Reglementierung von Handel und Gewerbe und nicht zuletzt die Tatsache, dass dort verschiedene Glaubensrichtungen in einem und demselben Gemeinwesen zusammenlebten. Daneben hat er sich gründliche Kenntnisse in Jurisprudenz und Theologie aneignen können; er studierte Latein und Griechisch, beherrschte auch das Italienische und sprach fließend Niederländisch, Englisch und Französisch. Für das Theater hatte er eine besondere Leidenschaft entwickelt. So war er sicher einer der gebildetsten Fürsten seiner Zeit. Und doch erinnern wir uns seiner heute nicht wegen seiner Bildung, und auch seine ehelichen Probleme, welche die Zeitgenossen und die Nachlebenden so sehr beschäftigt haben, oder das schwierige Verhältnis zu seiner Mutter und zu einigen seiner Geschwister, sind nicht der Grund für unser Interesse. Karl Ludwig ist als politische Gestalt in die Geschichte eingegangen, und so muss er auch als politische Gestalt gewürdigt werden. Nun waren Abstammung und Verwandtschaft, Heirat und Nachkommenschaft in der fürstenstaatlichen Welt natürlich niemals bloß private Beziehungen, sondern von höchster politischer Bedeutung. Das macht gerade Karl Ludwigs Geschichte deutlich – freilich auch hier in erster Linie durch die Fehlschläge, die er bei den Bemühungen erlitt, dynastische Verbindungen als politische

440 | IV Pfälzische Perspektiven Instrumente einzusetzen. Dass er durch seine Mutter Elisabeth Stuart ein Enkel Jakobs I. und ein Neffe Karls I. von England war, nützte ihm wenig in einer Zeit, in der dieses Land von innerstaatlichen Konflikten erschüttert war, so dass dort schließlich die Monarchie als solche an ihr Ende gekommen zu sein schien. Die Verbindung seiner Tochter Elisabeth Charlotte mit dem Bruder Ludwigs XIV., dem Herzog von Orléans, schützte die Pfalz nicht vor den französischen Truppen. Vielmehr diente die Ehe Frankreich später gerade als Vorwand für territoriale Ansprüche gegen das Land; an die Zerstörungen des pfälzischen Erbfolgekriegs erinnert bis heute die Ruine des Heidelberger Schlosses. Dass dies geschehen konnte, hängt wiederum mit einer dynastischen Tatsache zusammen, nämlich damit, dass die Ehe von Karl Ludwigs Sohn Karl mit einer dänischen Prinzessin kinderlos blieb, so dass die Simmernsche Linie des pfälzischen Hauses schon fünf Jahre nach dem Ableben Karl Ludwigs ausstarb. Soweit sie politischen Zielen dienten oder politische Folgen zeitigten, wird man die familiären und verwandtschaftlichen Dispositionen bei dem Versuch einer Beurteilung des Fürsten Karl Ludwig daher nicht ausklammern dürfen. Sie müssen ihren Stellenwert dann allerdings von einer Gesamtwürdigung seiner Politik her zugewiesen bekommen, und von dieser Warte aus dürften viele Details aus dem persönlichen Leben Karl Ludwigs, welche Anteilnahme und Neugier der Nachlebenden überliefert haben, von selbst in den Hintergrund treten. Dass es tatsächlich einen ganz persönlichen, gleichsam privaten Bereich für den Kurfürsten gab und dass er ihm große Bedeutung zumaß, beleuchtet eine Stelle in einem Brief an seine Schwester Sophie aus dem Jahre 1674. Mitten im Krieg und im Angesicht der Zerstörungen, welche die Truppen Turennes seinem Lande zugefügt hatten, galt seine größte Sorge der Zukunft der Kinder aus seiner zweiten Ehe mit Luise von Degenfeld: Solange man lebt, findet man immer einen Ausweg; aber daß ich, wenn ich sterbe, so viele arme unschuldige Kinder der Gnade ihrer Feinde überlassen muß, das greift mir ans Herz.

Bevor man sich anschickt, über die Handlungen eines Menschen zu urteilen, sollte man erst einmal den Handlungsspielraum ausmessen, der ihm gegeben war. Die Befugnis Karl Ludwigs, überhaupt politisch zu handeln, beruhte auf zwei rechtlichen Tatbeständen: auf seiner Stellung als Kurfürst des Reiches und auf seiner Stellung als Landesherr der Pfalz. Die Kurfürsten waren zwar die vornehmsten Stände des Reiches, aber ihre Gestaltungsmöglichkeiten im Rahmen der Reichsverfassung waren im 17. Jahrhundert schon deshalb äußerst bescheiden geworden, weil das Reich als solches, zumal nach dem Westfälischen Frieden, nach innen wie nach außen nur noch in sehr begrenztem Umfang überhaupt als handlungsfähige Instanz auftreten konnte. Die kurfürstliche Autorität verlieh

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allenfalls dann besonderen Einfluss bei anderen Reichsständen, wenn sie mit entsprechender Hausmacht, dynastischen und konfessionellen Verbindungen und dem Ansehen verknüpft war, das aus ungebrochener Tradition politischer Führerschaft fließen konnte. Nach Lage der Dinge beruhte die Möglichkeit, auf andere Reichsstände einzuwirken, weit mehr auf solchen Machtfaktoren als auf der staatsrechtlichen Stellung, die ein Reichsstand im Reiche besaß. Das heißt aber nichts anderes, als dass sich wenigstens die größeren Reichsstände zueinander de facto weitgehend wie unabhängige Mächte verhielten. Schon deshalb müssen wir Karl Ludwig in erster Linie in seiner Eigenschaft als Landesherr ins Auge fassen. Die Landesherren wachten eifersüchtig über ihre „superioritas territorialis“ – ihre „Landsfürstliche Obrigkeit“ – und die Bündnisfreiheit, die ihnen der Westfälische Friede bestätigt hatte. Man muss sich jedoch davor hüten, diese völkerrechtlich verankerte Selbständigkeit mit tatsächlicher Macht zu verwechseln. Politische Macht war im 17. Jahrhundert vielleicht noch entschiedener als heute eine Funktion militärischer Macht. Im Zeitalter des Soldwesens beruhte wiederum die militärische Macht eines Staates unmittelbar auf seiner finanziellen Leistungsfähigkeit. Mit der Einrichtung stehender Heere, die in vielen Staaten Europas seit der Mitte des Jahrhunderts im Vordringen war, wurden die Einkünfte aus regelmäßigen Steuern schon in Friedenszeiten zu den wichtigsten Staatseinnahmen. Im Kriegsfall traten Sondersteuern oder Anleihen hinzu. Bei der Ausschreibung von Steuern mussten die Fürsten vielfach den Widerstand von zustimmungsberechtigten ständischen Körperschaften überwinden. Dieses rechtliche Hindernis bestand in der Pfalz nicht, da die vor 1618 lediglich zu rudimentärer Ausbildung gelangten Landstände nach 1648 nicht wieder ins Leben traten. Umso deutlicher werden die tatsächlichen Hindernisse erkennbar, die sich einer allein an den Bedürfnissen ausgerichteten Besteuerung entgegenstellten. Das Maß der Besteuerungsfähigkeit hing in erster Linie von der Zahl und dem Wohlstand der Untertanen ab. Welchen Bevölkerungsrückgang die Pfalz während des Dreißigjährigen Krieges erlitten haben muss, habe ich bereits angedeutet. Der Bevölkerungsverlust hatte auch dazu geführt, dass ein großer, vielleicht der größte Teil der ehemals bewirtschafteten Fläche brach lag und verödete. Doch auch die verbliebenen Bauern sahen den Weg zur Wiedererlangung des früheren Wohlstands von verschiedenen Seiten her beschränkt. Zum einen hatte der Menschenmangel zu einer starken Anhebung des Lohnniveaus geführt; Hilfskräfte waren daher teuer. Zum andern hatte der Krieg viele Zollherren am Rhein dazu veranlasst, ihre Zölle eigenmächtig zu erhöhen. Dadurch wurde es den pfälzischen Bauern fast unmöglich gemacht, in guten Erntejahren ihre Überschüsse an Wein und Getreide in entfernteren Gebieten, vor allem im städtereichen und auf Getreideeinfuhr angewiesenen Holland abzusetzen.

442 | IV Pfälzische Perspektiven In einer überwiegend agrarischen Wirtschaft sind die Bauern zugleich die hauptsächlichen Konsumenten. Bleiben ihre Einkünfte gering, so haben auch die Gewerbe und der Handel kaum Entwicklungsmöglichkeiten. Jeder Versuch der Besteuerung, ob er bei den Vermögen, bei den Einkünften oder beim Verbrauch ansetzte, musste daher sehr schnell an seine Grenzen stoßen, wenn die Verhältnisse sich nicht ändern ließen. Nun besaßen viele Staaten neben den Steuern noch umfangreiche Einkünfte aus Kammergütern und Regalien. Die kurfürstlichen Pachtgüter litten in Überschussjahren freilich ebenfalls unter Absatzschwierigkeiten; außerdem war es angesichts des Bevölkerungsmangels nicht leicht, die Höfe mit Pächtern zu besetzen; vielfach musste man ihnen auch Bedingungen einräumen, die den wirtschaftlichen Ertrag des Pachtverhältnisses erheblich beschneiden konnten.

Abb. 12: Gerard Ter Borch (1617–1681): Reiterbildnis des Karl Ludwig von der Pfalz. Öl auf Holz, 39 × 29 cm. Entstanden im ersten Halbjahr 1649 während des Aufenthaltes Karl Ludwigs in Den Haag. Städtisches Reiß-Museum Mannheim, Dauerleihgabe des Landes Baden-Württemberg, Nr. 0 450.

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Abb. 13a: Bronzemedaille des Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz. Bronze, Durchmesser ca. 7,4 cm. Vs.: Brustbild Karl Ludwigs im Harnisch, mit dem Hosenbandorden. Unter dem Armabschnitt das Monogramm I L des Heidelberger Medailleurs Johannes Linck. Umschrift: CAR(olus). LVD(ovicus). D(ei). G(ratia). COM(es). PAL(atinus). RH(eni). S(acri). R(omani). I(mperii). ARCHITH(esaurarius). &. EL(ector). B(avariae). D(ux). Am Ende der Umschrift die Jahreszahl 1676.

Eine bedeutende Einnahmequelle für die Kurfürsten von der Pfalz bildeten dagegen seit jeher die Zölle, vor allem die Rheinzölle in Bacharach und Kaub. Daneben gab es noch sieben weitere Wasserzollstätten an Rhein und Neckar und, nach einer Liste von 1665, 236 Landzollstätten. Die Zolleinnahmen machten ungefähr die Hälfte der Kammereinnahmen netto aus, also derjenigen – nicht aus Steuern stammenden – Einkünfte, die, nach Abzug der in den lokalen Amtsverwaltungen getätigten Ausgaben, für die Bedürfnisse des Hofes und der Zentralregierung zur Verfügung standen. Die Höhe der jährlichen Zolleinnahmen war in erster Linie abhängig vom Umfang der Rheinschifffahrt, in zweiter Linie vom Erfolg bei der Bekämpfung des verbreiteten Schmuggels und der Bestechlichkeit der eigenen Beamten. Der allgemeine Rückgang der Wirtschaftstätigkeit im Deutschen Reich infolge des Dreißigjährigen Krieges wirkte sich in einer Verminderung der Warenbewegungen auf dem Rhein aus. Ein anderes einträgliches Regal wurde Karl Ludwig von den benachbarten Herrschaften bestritten. Die pfälzischen Kurfürsten besaßen seit alters die Leibherrschaft über alle Bastarde und fremd Herzugezogenen in einem Umkreis, der weit über die Grenzen des Territoriums hinausreichte. Sie beanspruchten von diesen sogenannten Wildfängen nicht nur die üblichen leibherrlichen Abgaben, sondern auch die Schatzung, also die Landsteuer. Die Nachbarn betrachteten diese Ansprüche als einen Angriff auf ihre Landeshoheit; das moderne Prinzip

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Abb. 13b: Rs.: Grundriß von Stadt und Festung Mannheim am Zusammenfluss von Rhein und Neckar. Unten, dem Rund der Medaille folgend, die Aufschrift: VTRIVSQ(ue) TVTELAE, die meint, dass die Festung Mannheim dem Schutz der beiden, an Rhein und Neckar grenzenden kurpfälzischen Gebiete dient. Anlass zur Prägung dieser Medaille, die jener von 1665 auf den Wiederaufbau von Mannheim gleicht, war höchstwahrscheinlich die Befreiung Philippsburgs von den Franzosen. Städtisches Reiß-Museum Mannheim, Inv. IIIg. Nr. 2008.

des durchgehenden Flächenstaates trat hier in Gegensatz zum älteren Personenverbandsstaat. Auch in diesem Bereich waren die Einnahmen Karl Ludwigs somit unsicher und gefährdet. Auf Darlehen konnte Karl Ludwig im Krisenfall auch nicht mit Sicherheit hoffen. Seine Untertanen dürften kaum überschüssige Barmittel besessen haben. Außerdem war der Kredit der deutschen Staaten generell zusammengebrochen. Daher war auch kaum zu erwarten, dass bei Bedarf auswärtige Geldgeber gefunden werden könnten. Als Karl Ludwig die Regierung antrat, war das Land mit mehreren Millionen Gulden verschuldet. Dabei erreichte die Gesamteinnahme des pfälzischen Staates in den besten Jahren Karl Ludwigs gerade eine halbe Million. Trotzdem konnte er verschiedentlich bei den evangelischen Städten der Eidgenossenschaft eine Anleihe aufnehmen. Sie wurde ihm indes weniger wegen seiner – nicht vorhandenen – wirtschaftlichen Kreditwürdigkeit als vielmehr aus konfessioneller Solidarität und überdies gegen Verpfändung von Juwelen aus der kurfürstlichen Schatzkammer im doppelten Wert gewährt. Das Bild der finanziellen Ausgangslage Karl Ludwigs bliebe unvollständig, wenn den Verhältnissen auf der Seite der Einkünfte nicht auch die aus der besonderen Situation folgenden Verpflichtungen auf der Ausgabenseite gegenübergestellt würden. Die Schuldenlast musste verzinst und getilgt werden. Ein vom Reichstag 1654 beschlossenes Moratorium gewährte zwar zunächst

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Abb. 14: Pieter II. de Jode (1606–1674): Brustbild des Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz im Harnisch, mit dem Hosenbandorden. Das Bildnis in ovalem Rahmen mit der Devise „Dominus providebit“; oben von zwei Löwen gehalten das pfalzbayerische Wappen ohne Regalien, umgeben vom Hosenband mit der Ordensdevise „honi soit qui mal y pense“. Zu Seiten des Rahmens hängen reiche Fruchtgirlanden herab, dahinter offene Nischenarchitektur mit zwei Karyatiden. Unten auf einem Sockel, an den Schlangenstab und Fackel gelehnt sind und auf dem eine Krone liegt, die Aufschrift, die Namen und Titel des Dargestellten nennt. Kupferstich, datiert 1654, nach einem Gemälde von Anselm van Hulle, 34,7 × 25,4 cm. Städtisches ReißMuseum Mannheim, Kat. Nr. C 20.

Aufschub, aber eben nur für eine begrenzte Frist. Darüber hinaus mussten die Kriegsfolgen beseitigt werden, die zerstörten Amtshäuser und Kirchen wieder aufgebaut, Äcker und Weinberge wieder angelegt, Burgen und Festungswerke instandgesetzt werden.

446 | IV Pfälzische Perspektiven Die finanziellen Ausgangsbedingungen für die Bildung militärischer und damit auch politischer Macht waren nach dem Gesagten daher durchaus beschränkt. Hinzu kommt, dass die Pfalz sich geopolitisch in höchst ungünstiger Lage befand. Das Territorium fiel in die Berührungszone der beiden hauptsächlichen und miteinander rivalisierenden Mächte des Kontinents: es lag zwischen Frankreich, das unter seinem jungen König Ludwig XIV. soeben in eine der aggressivsten Perioden seiner neueren Geschichte eintrat, und dem Kaiser oder vielmehr Österreich, dessen Schwergewicht sich in den neuerdings wieder aufflammenden Türkenkämpfen mehr und mehr aus dem Reiche hinaus nach Ungarn hinein verlagerte. Die westlichen Gebiete des Reiches waren umso mehr dem eigenen diplomatischen Geschick oder den eigenen militärischen Anstrengungen der dortigen Reichsstände überlassen. Der politische Handlungsspielraum Karl Ludwigs bemisst sich nach dieser Sachlage. Die Pfalz war nicht viel mehr als ein Steinchen in dem großen Mosaik europäischer Machtpolitik. Mehr als die Rolle eines Statisten schien nicht für sie bestimmt. Der Wirkungskreis der kurfürstlichen Politik im Innern war begrenzt durch die geographische Enge des Territoriums und die beschränkte Zahl seiner Bewohner. Innerhalb dieses Rahmens regierte der Kurfürst absolut. Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung lagen in seiner Hand. Die Beamtenschaft blieb überschaubar und kontrollierbar. Ständische Mitwirkungsrechte standen dem Willen des Landesherrn nicht im Wege. Doch wieviel wiegt diese rechtliche Unbeschränktheit vor der materiellen Beschränktheit, der Enge und Not, in der sich der Kurfürst befand? Schon nach den Maßstäben seiner eigenen Epoche war es ein kleines und politisch wie militärisch unbedeutendes Land, dessen Regierung er im Jahre 1649 antrat, mit bescheidenen wirtschaftlichen Hilfsquellen, zerstörten Dörfern und Städten, verwüsteten Feldern, geringer Volkszahl und einer erdrückenden Schuldenlast. Mit einer Entschlossenheit und Konsequenz wie nur wenige Fürsten seiner Zeit machte sich Karl Ludwig an den Wiederaufbau seines Landes. Im Dezember 1651 gab er bei der Rechenkammer, seiner Finanzbehörde, ein Gutachten in Auftrag über die Frage, wie [. . . ] die Kosten und Ausgaben, bei so wenig einkommenden Gefällen, möchten eingezogen, und hingegen die Gefälle wiederum in Aufnehmen gebracht und vermehrt werden.

Um nichts anderes ging es bei der Politik des Wiederaufbaus: zunächst mussten die Ausgaben durch eisernes Sparen auf das Niveau der Einkünfte zurückgeschraubt werden; gleichzeitig musste versucht werden, die Einnahmen so zu steigern, dass immer größere und auf Dauer gesicherte Überschüsse erzielt werden konnten.

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Karl Ludwigs Aufgabe war dem Regiment eines tüchtigen Hausvaters oder auch der Führung eines kapitalistischen Unternehmens vergleichbar. Wie ein hausväterlicher Fürst zu handeln habe, lehrten die kameralistischen Schriftsteller seiner Zeit. So schrieb zum Beispiel Wilhelm von Schröder, ein Hausvater müsse seinen Acker düngen und pflügen, will er davon etwas ernten. Die Teiche muß er mit guter Brut besetzen, will er denselben zu seiner Zeit fischen. Das Vieh muß er mästen, will er es schlachten, und die Kühe muß er wohl füttern, wann er will, daß sie sollten viel Milch geben. Also muß ein Fürst seinen Untertanen erst zu einer guten Nahrung helfen, wann er von ihnen etwas nehmen will.

Den Untertanen zu einer guten Nahrung verhelfen – das bedeutete in der Situation, in der die Pfalz sich befand: erst einmal wieder Menschen ins Land holen, den Neuankömmlingen und auch den noch vorhandenen Untertanen durch steuerliche Entlastung und durch andere Hilfen den Neubeginn erleichtern; durch entsprechende Handelspolitik für den Absatz der Produkte, durch eine geeignete Gewerbepolitik für ein ausreichendes Angebot an handwerklichen Erzeugnissen sorgen usw. All dies war gemeint mit dem Düngen und Pflügen des Ackers, von dem man dereinst ernten wollte. Der Zwang zum Sparen ergab sich gleichzeitig daraus, dass man selbstverständlich nicht ernten konnte, solange man noch mit dem Düngen und Pflügen beschäftigt war. Karl Ludwig hat sich diese Grundsätze zu eigen gemacht. Bekannt sind seine wiederholt verkündeten Patente, mit denen ehemalige pfälzische Untertanen oder ganz fremde Personen durch Gewährung von steuerlichen Freijahren dazu ermuntert werden sollten, in die Pfalz einzuwandern, brachliegende Äcker und Weinberge wieder anzurichten, zerfallene Häuser aufzubauen oder ganz neue Häuser zu erstellen. Weniger bekannt dürfte sein, dass in nahezu allen Bereichen der inneren Politik und Verwaltung vor der Anordnung einer Maßnahme fast regelmäßig geprüft wurde, ob sie einen Anreiz zur Zuwanderung oder eher eine Abschreckung – oder gar ein Motiv zu erneuter Abwanderung – bilden könnte; denn natürlich entschlossen sich die Zuwanderer aus der Schweiz, aus Tirol, aus den Niederlanden, aus Frankreich oder woher immer sie gekommen sein mochten, sehr viel leichter dazu, ihre Zelte wieder abzubrechen, wenn die Bedingungen sich plötzlich verschlechterten, als alteingesessene Einwohner. So war vor allen Dingen Karl Ludwigs Politik religiöser Toleranz zweifellos in hohem Maße bevölkerungspolitisch begründet. Er förderte die Ansiedlung von Mennoniten, obwohl die Duldung von Wiedertäufern sowohl gegen geltendes Landesrecht als auch gegen Reichsrecht verstieß. Im August 1664 ließ er seine Amtleute wissen, dass er es nicht für „ratsam“ halte, sich nach den „Sonderbarkeiten“ dieser Leute allzu genau zu erkundigen, „zuvörderst weil wir Menschen und Untertanen, die das Land wiederum bauen und in Stand bringen,

448 | IV Pfälzische Perspektiven höchst bedürfen“. Er machte die Juden in der Pfalz heimisch. Seine viel erörterten Bemühungen um eine konfessionelle Union von Reformierten und Lutheranern gehören wenigstens partiell ebenfalls in diesen Zusammenhang. Dem Katholizismus war er weniger freundlich gesonnen. Und doch erzwang er 1658 gegen den Willen des örtlichen Magistrats und gegen das Votum seiner Regierungs-Räte die Aufnahme eines katholischen Seilermeisters in das Bürgerrecht der Stadt Frankenthal, weil „dieser Seiler [. . . ] zu Frankenthal wohl nötig.“ Auch auf die Handhabung der Strafjustiz wirkte sich der Mangel an Menschen aus. Als der Hohe Rat sich 1661 in einem Rechtsfall dafür aussprach, die beschuldigte Person des Landes zu verweisen, entschied der Kurfürst: „In dergleichen Sachen hat man anstatt zum Landausschaffen auf andere Straf zu gedenken, weil man an Leuten im Land keinen Überfluß“. Klagen der Zünfte über fremde unzünftige Handwerksleute, die billiger arbeiteten, wies Karl Ludwig stets zurück; und die berühmten Privilegien für Mannheim von 1652 sahen im 12. Artikel vor, dass in dieser Stadt „kein Handwerk oder Handwerksleut [. . . ] unter Zünften stehen soll“. Beraten von dem Mannheimer Stadtdirektor Clignet bemühte sich Karl Ludwig während seiner gesamten Regierungszeit, in Verhandlungen mit den anderen Zollherren eine allgemeine Verminderung der Zollsätze am Rhein zu erzielen, um den Fernabsatz der pfälzischen Agrarproduktion auf dem niederländischen Markt zu ermöglichen. Die Einbußen an Zolleinkünften pro verzollte Wareneinheit würden, so glaubte Karl Ludwig, durch die erwartete Erhöhung des Transportvolumens im ganzen bei weitem wettgemacht. Durch die zahlreichen Zölle in Verbindung mit den hohen Frachtkosten wurde nach wiederholten Berechnungen der Rechenkammer das pfälzische Getreide derart verteuert, dass es schon in Köln auch bei knappster Kalkulation nur zu einem Preis angeboten werden konnte, der über den Amsterdamer Notierungen für Getreide aus dem Ostseeraum lag. Ein Haupthindernis für die rentable Verschiffung pfälzischer Waren bildete darüber hinaus der Stapel zu Mainz, ein altes Privileg des Mainzer Kurfürsten, das aber vor dem Kriege kaum genutzt worden war. Clignet schilderte die Folgen dieser Handelsbeschränkungen im Jahre 1668 mit bewegenden Worten: „Alle Accólae Rheni, die ihre Nahrung auf diesem Strom pflegten zu finden“, verharren in Armut, da das Gewächs der anliegenden Länder nicht kann herunter geführt noch zu Geld gemacht werden, noch die zerfallenen Familien und durch den Krieg ruinierten Wohnungen wieder aufgerichtet werden; welches die Leute, bei der harten Arbeit, schlechter Kost und Kleidung, so disperat macht, daß ein jeder um ein gut Hinkommen gedenkt, insonderheit die jungen Leute, wodurch das Land verödet werden muß, so die Beschwerungen nicht moderiert werden.

Dies ist einer der zahlreichen Hinweise darauf, dass auch nach dem Westfälischen Frieden noch viele Menschen das Land verlassen haben, weil die Lebensmöglich-

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keiten zu beschränkt waren. Derselbe Clignet hatte bereits 1658 berichtet, „daß aus dem ganzen Land annoch viel Leut continuiren wegzuziehen, weil sie sich nicht wohl ernähren können.“ So erscheint es durchaus begründet, dass Karl Ludwig und seine Räte sich bei jeder Ausschreibung oder erstmaligen Einführung einer Steuer, ja schon bei einer bloßen Erneuerung der Steuerregister darum sorgten, ob die Untertanen dadurch nicht zur Abwanderung gedrängt werden könnten. Die Akten sind voll von derartigen Warnungen, und es steht ganz außer Zweifel, dass Karl Ludwig sie sehr ernst nahm. Daher ließ er die Einführung neuer oder die Erhöhung bereits bestehender Steuern jedesmal sorgfältig öffentlich begründen und rechtfertigen. Die Reformen der Schatzung, die er in Angriff nahm, sollten in erster Linie der steuerlichen Entlastung und der größeren Steuergerechtigkeit dienen. Denn die angebliche „Inesgalität“ der Besteuerung war neben der Belastung als solcher eine der Hauptbeschwerden der Untertanen. Die Reform von 1661 sah daher vor, dass unabhängige Ausschüsse von gewählten Deputierten aus den Magistraten bzw. Gerichten und der Bürgerschaft die Steuererklärungen der Untertanen – die sogenannten Nahrungszettel – überprüften und die Veranlagung der Steuerpflichtigen vornähmen. Karl Ludwig hat damit ein Stück Selbstverwaltung in seinem Lande neu eingeführt zu einer Zeit, wo überall sonst fürstlicher Absolutismus und bürokratische Selbstherrlichkeit im Vordringen waren. Kennzeichnend für den Geist der Liberalität der Reform ist die Vorschrift, dass jeder Steuerpflichtige vor der Veranlagung gehört werde. Die Steuerpolitik ist besonders bezeichnend für das Dilemma, in dem Karl Ludwig sich befand. Einerseits suchte er die Einkünfte des Staates zu steigern; dieses Interesse sprach für eine Erhöhung der Steuern. Auf der anderen Seite musste er das Leben unter seiner Herrschaft materiell erleichtern, um seine Untertanen zu behalten und um weitere Untertanen zu gewinnen. Für den Erfolg des wirtschaftlichen Wiederaufbaus der Pfalz war daher die Frage entscheidend, inwieweit es gelang, diese konkurrierenden Ziele miteinander zu vereinbaren. Die Lösung der Aufgabe wurde in jedem Fall vorangetrieben, wenn – soweit irgend möglich – an den Ausgaben gespart wurde. Der Kurfürst ist daher streng gegen Unterschlagung und alle Arten von Nachlässigkeiten seiner Beamten vorgegangen. Persönlich ließ er sich wöchentlich von den wichtigen Vorgängen im Finanzbereich berichten. Vierteljährlich war eine Übersicht über alle Einnahmen und Ausgaben anzufertigen. Die Amtsführung der Rechenkammer und aller untergeordneten Stellen unterwarf er einer peinlichen Aufsicht. Versäumnisse wurden unnachsichtig geahndet. Vor allem aber sorgte der Kurfürst in allen Bereichen für sparsamsten Umgang mit den Geldern des Staates. Im Sommer 1657 bat Ludwig Öch, Keller zu Schriesheim, um die Genehmigung, das im Dreißigjährigen Krieg beschädigte Gebäude der Kellerei endlich reparieren und sich auch wieder eine Wohnung darin einrichten zu lassen, „weil der Keller darunter und

450 | IV Pfälzische Perspektiven die darin liegenden schönen Fässer verderben und er sich öfters, weil er so fern davon wohnt, eines Einbruchs besorgen müsse.“ Karl Ludwig lehnte ab mit dem Vermerk: „Wie haben sie sich die sieben Jahr her beholfen? Sind unnötige Unkosten.“ Bezeichnend ist auch sein Bescheid auf den Antrag der Stadt Hilsbach, die im Jahre 1658 ihr zerstörtes Rathaus wieder aufbauen wollte: die Leute „täten besser, ihre eigenen Häuser, Scheunen, Ställe etc. aufzubauen oder zu reparieren als das Rathaus, ohne welchen Bau das gemeine Wesen wohl bestehen kann.“ Reichlichen Grund zur Klage über die haushälterische Sparsamkeit seines Herrn hatte auch der kurpfälzische Gesandte beim Reichstag in Regensburg, Kaspar von Borck. Der Kurfürst ließ ihn oft monatelang ohne Mittel und auch ohne Besoldung für sich und seine Hilfskräfte. Als Borck endlich durchgesetzt hatte, dass er zwei neue Pferde kaufen durfte, empfahl Karl Ludwig, die alten in Zahlung zu geben oder sonst günstig zu veräußern. Borck musste jedoch nach einiger Zeit mitteilen, die alten Pferde wolle „kein Mensch haben“: das eine stehet immer im Stall und schwitzet und stinket als ein Aaß, daß ich in Sorgen stehen muß, daß es mir auf der Gaß umfallt.

Karl Ludwig machte mit dem Sparen keineswegs vor sich selber und seinem Hofe halt. Auch hier unterwarf er jedes Detail der peinlichsten Kontrolle, kümmerte sich um die Zahl der Gänge bei den Speisen, um die Zahl der Kostgänger bei Hofe, um die Bezugsquellen für Wildpret, Fische, Gemüse und Gewürze, um die günstigsten Einkaufsmöglichkeiten für Tuche, Hausgeräte usw. Bei der Beurteilung der geschilderten Bemühungen Karl Ludwigs muss man sich darüber im klaren sein, dass er den Wiederaufbau seines Landes nicht um seiner selbst willen, aus landesväterlicher Sorge um die Wohlfahrt seiner Untertanen oder dergleichen, sondern letzten Endes um staatswirtschaftlicher Ziele willen anstrebte. In der Sprache der Zeit gesprochen ging es darum, die Landesökonomie in Aufschwung zu bringen, damit die Kameralökonomie – der Staatshaushalt des Fürsten – jederzeit den seinen Bedürfnissen entsprechenden Nutzen daraus ziehen konnte. Fragt man, welchen Bedürfnissen Karl Ludwig den Vorrang einräumte, so zeigt sich ein weiteres Mal, was für ein perfekter Hausvater er sein wollte. Die Priorität galt der Sicherung des Bestehenden: der Unversehrtheit des Landes und der Behauptung von Rechten, aber auch der Wiedererlangung von bestrittenen oder entfremdeten Rechten. Der größte Einzeletat auf der Ausgabenseite war der Militäretat. Zu Beginn der siebziger Jahre – noch vor Ausbruch des französischholländischen Krieges – betrug er – Naturalleistungen nicht gerechnet – etwa 200 000 Gulden. Das entspricht einem Anteil von etwa 45 % an der gesamten Staatseinnahme. Um die Bedeutung dieser Ziffer zu ermessen, möge man beden-

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ken, dass der Anteil des Militäretats des Großen Kurfürsten von Brandenburg in dessen Todesjahr 1688 auch nicht höher lag als bei 52,7 %. Karl Ludwig hat für die Pfalz ein stehendes Heer geschaffen, und er hat dafür Opfer gebracht und Anstrengungen unternommen, die der viel berühmteren Leistung seines brandenburgischen Vetters nicht nachstehen. Der Unterschied lag freilich darin, dass dieser sich mit seinen viel größeren Mitteln selbständig behaupten konnte, während das Dreitausend-Mann-Heer Karl Ludwigs kaum hinreichte, um ihn vor den benachbarten Reichsständen zu sichern, geschweige denn, um mit den Heeren Frankreichs fertig zu werden. Von dort her kam jedoch auf die Dauer die ernsteste Bedrohung für die Integrität seines Landes. Karl Ludwig hat dies auch erkannt, sonst hätte er nicht immer wieder versucht, freundschaftliche Beziehungen zum französischen König anzuknüpfen. Diese Versuche sind zu verstehen vor dem Hintergrund des Machtverfalls des Deutschen Reiches, das seinen Gliedern kaum noch Schutz gewährte, der expansiven Außenpolitik Ludwigs XIV. nach Norden und Osten und der Tatsache, dass Karl Ludwig wegen des Mainzer Stapels, der Wildfänge und anderer Streitfragen mit seinen deutschen Nachbarn die meiste Zeit überworfen war, so dass die Möglichkeit gemeinsamer Sicherheits- und Verteidigungsanstrengungen der rheinischen Reichsstände von vornherein ausschied. Der größte Trumpf, den Karl Ludwig im Rahmen seiner profranzösischen Politik auszuspielen meinte, war die Verheiratung seiner Tochter Elisabeth Charlotte an den Bruder Ludwigs XIV. im Jahre 1671. Dass diese Rechnung nicht aufging, erfuhr er bereits ein Jahr später, als seine Bitte um Subsidien, mit deren Hilfe er sich im erneut aufziehenden europäischen Krieg in eine Art bewaffneter Neutralität begeben wollte, von Versailles abgeschlagen wurde. Vielmehr begannen französische Truppen alsbald, sein Land heimzusuchen und zu verbrennen, um ihn zum offenen Anschluss an Frankreich zu zwingen. Dadurch wurde er erst recht auf die Seite des Kaisers, des Reiches und Hollands getrieben; doch bevor ihm von diesen Verbündeten wirksamer Schutz gewährt werden konnte, erlitt die Pfalz beispiellose Zerstörungen und Verwüstungen durch die französischen Truppen unter Marschall Turenne und anderen Generälen des Sonnenkönigs. Die Pfalz erduldete hierbei die Folgen von Entwicklungen – vor allem die Folgen des politischen Zerfalls des Deutschen Reiches –, die Karl Ludwig nicht beeinflussen konnte. Und doch verkörperte gerade er wie nur wenige seiner Zeitgenossen den eifrig auf seine Vor- und Sonderrechte bedachten, nicht selten geradezu kleinlichen Partikularfürsten, der mit seinen Nachbarn fast ständig im Streit lebte und dadurch in seinem Umkreis der Zersplitterung der Kräfte Deutschlands nur weiteren Vorschub leistete. In dieser Hinsicht ragte er nicht über die Grenzen seiner Zeit hinaus und könnte unser Interesse allenfalls als ein besonders eindrucksvolles Beispiel für einen verbreiteten Typus erwecken.

452 | IV Pfälzische Perspektiven Seiner Zeit voraus war er jedoch in seiner inneren Verwaltung und Staatsführung, in seiner Finanz-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Die fast ununterbrochene Kette von Kriegen seit der Mitte der sechziger Jahre verhinderte freilich, dass seinen Bemühungen auf diesem Gebiet ein Erfolg von Dauer beschieden war. Gewiss: die Staatseinnahmen stiegen erheblich. Für viele Teile des Landes ist der Zuzug von Neusiedlern bezeugt. Die Neugründung Mannheims und ihre in wenig mehr als einem Jahrzehnt auf über 3 000 Menschen angewachsene Bevölkerung, welche die verschiedensten Nationalitäten und Glaubensrichtungen in sich vereinigte, ist dafür allein schon ein gewichtiges – aber bei weitem nicht das einzige – Zeichen. Es gibt freilich auch Anzeichen dafür, dass ein großer Teil der Pläne Karl Ludwigs schon vor den Einbrüchen der Franzosen unerfüllt geblieben war. Eine Absprache über die Senkung der Rheinzölle kam nicht zustande. Der Kurfürst von Mainz bestand auf seinem Stapel. Noch zwei Jahrzehnte nach dem Westfälischen Frieden lagen viele Tausend Morgen an Ackerland und Weinbergen wüst. Die Einrichtung der Schatzungsausschüsse nach der Reform von 1661 kam nur langsam voran. Die mit der Reform beabsichtigte Senkung der Steuerlast wurde nach wenigen Jahren aufgewogen durch die Einführung anderer Steuern. Mit der Tilgung der öffentlichen Schulden machte Karl Ludwig lediglich einen Anfang. Eine finanzielle Reserve für Notfälle hat er nicht anlegen können, da alle erwirtschafteten Überschüsse in die Kriegskasse flossen. Im Grunde hat er sein Land mit der Belastung durch das stehende Heer bei weitem überfordert. Doch dies sind Grenzen der Verwirklichung, nicht Grenzen der Konzeption, des Willens und der Tatkraft. Die Fehlschläge seiner Politik vermögen die Tatsache nicht zu verdecken, dass Karl Ludwig als einer der ersten und ein Jahrhundert voraus den Typus eines Herrschers darstellte, den die Tradition der Geschichtsschreibung mit dem Begriff des aufgeklärten Absolutismus zu umschreiben pflegt. Unter aufgeklärtem Absolutismus verstehe ich dabei nicht so sehr ein Regierungssystem, das sich auf politische Ideen der Aufklärungsphilosophie zu gründen sucht, als vielmehr eine Regierungsweise, bei der aus beschränkten Mitteln durch rationellste Wirtschaftsführung und durch Anspannung aller Kräfte dennoch politische Macht von unverhältnismäßigem Gewicht gebildet wird, wobei zugleich eine große Zahl überlieferter Vorstellungen, selbst Rechtsgrundsätze, die diesem Ziel widerstrebten, über Bord geworfen werden. Von daher bei Karl Ludwig der Zug zur religiösen Toleranz, zur Handels- und Gewerbefreiheit, zur Verbesserung des Steuersystems. Mit den sogenannten aufgeklärten Herrschern des achtzehnten Jahrhunderts teilt Karl Ludwig auch die persönliche Anspruchslosigkeit, den Verzicht auf höfischen Luxus, auf große Repräsentation und glanzvolles Auftreten nach außen. In dieser Hinsicht war

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dieser pfälzische Kurfürst um wenigstens zwei Generationen moderner als der um 21 Jahre jüngere Sonnenkönig, der dem kleinen Land so großen Schaden zufügte. Ich meine, dass diese erstaunliche Modernität Grund genug wäre, Karl Ludwigs in diesem Jahr auch über die Grenzen des ehemaligen Kurfürstentums hinaus zu gedenken.

Der benutzte Vermittler. Innozenz XI. und der pfälzische Erbstreit Wenn* Hermann Jakobs auf seinem allmorgendlichen Weg in das Heidelberger Historische Seminar um die Südostecke der Universitätsbibliothek herum von der Plöck in die Grabengasse einbiegt, zeigt sich ihm durch die Seminarstraße hindurch für einen Augenblick die Nordseite des kurfürstlichen Schlosses über der Stadt: im Vordergrund der gesprengte Dicke Turm, dahinter der restaurierte Friedrichsbau, überragt vom ausgebrannten Glockenturm. Der Anblick vergegenwärtigt Glanz und Krise des in napoleonischer Zeit untergegangenen Kurfürstentums Pfalz. Als Ruine zeugt das Schloss von den Zerstörungen, die Ludwig XIV. in Heidelberg und in weiten Teilen des umliegenden Landes hat anrichten lassen. Ziel der französischen Aggression wurden Heidelberg und die Kurpfalz im Zusammenhang mit unerfüllten Erbansprüchen. Mit dem Tode des Kurfürsten Karl am 26. Mai 1685 war die Simmernsche Linie der pfälzischen Wittelsbacher im Mannesstamm erloschen. Einziger überlebender Spross der Familie war Karls Schwester Elisabeth Charlotte. Diese war seit 1671 mit dem Herzog von Orléans, dem Bruder Ludwigs XIV., verheiratet. Zugunsten seiner Schwägerin erhob Ludwig XIV. Anspruch auf den Allodialbesitz ihrer Familie. Außer dem beweglichen Vermögen des Hauses Simmern zählte er hierzu auch Teile der pfälzischen Lande, namentlich die Herzogtümer Simmern und Lautern und die pfälzischen Anteile an der Grafschaft Sponheim.¹ Im alten Europa bildete die Erbfolge eines der wichtigsten Instrumente legitimer Machterweiterung. Da die Staaten durch die Dynastien zusammengehalten wurden, erschien es geboten, durch geschickte Heiratspolitik Anwartschaften auf Länder zu begründen, die einstweilen unter fremdem Zepter standen. Trat der Erbfall tatsächlich ein, so mussten die eigenen Ansprüche nicht selten gegenüber konkurrierenden Ansprüchen durchgesetzt werden. Aus Konflikten dieser Art sind große europäische Kriege erwachsen. So war die Außenpolitik Ludwigs XIV. durch Jahrzehnte hindurch von der Erwartung auf das Aussterben der spanischen Habsburger bestimmt und mündete schließlich in das fast fünfzehnjährige Ringen des Spanischen Erbfolgekriegs.

* Erstdruck in: Joachim Dahlhaus und Armin Kohnle (Hrsg.): Papstgeschichte und Landesgeschichte. Festschrift für Hermann Jakobs zum 65. Geburtstag. Köln/Weimar/Wien 1995, S. 603– 618. 1 Charles Boutant: L’Europe au grand tournant des années 1680. La Succession palatine. Paris 1985, S. 316.

456 | IV Pfälzische Perspektiven Erbfolgestreitigkeiten gab es jedoch nicht nur auf europäischer Bühne. Auch innerhalb des Heiligen Römischen Reiches führten Sukzessionsfragen zu Konflikten. Zu diesen ist auch der pfälzische Erbstreit zu rechnen, selbst wenn die eine Partei eine auswärtige Großmacht war. Hätte Frankreich seine Ansprüche durchgesetzt, dann wäre Philipp von Orléans für die übernommenen Territorien zunächst einmal Reichsfürst geworden. Etwas anderes als diese Stellung konnte er auf dem Wege der Sukzession rechtlich nicht erwerben, auch wenn die französische Politik es längerfristig auf eine völlige Lostrennung dieser Gebiete vom Reich abgesehen haben sollte.² Sukzessionsfragen bilden insoweit klassische Themen der deutschen Landesgeschichte. Die Besonderheit des pfälzischen Erbstreits liegt jedoch gerade darin, dass er aufs engste in die Zusammenhänge der großen Politik des damaligen Europa verwoben war. Einer dieser Zusammenhänge ist mit dem Namen des Papstes Innozenz XI. verknüpft. Der Anblick der Heidelberger Schlossruine provoziert nicht nur die Frage nach den Urhebern der Zerstörung, sondern auch die Frage, ob der Erbstreit nicht mit anderen als kriegerischen Mitteln hätte entschieden werden können. In der Tat haben in den über drei Jahren zwischen dem Ableben Karls im Mai 1685 und dem Ausbruch des Krieges im September 1688 auf mehreren Ebenen Verhandlungen über die Orléansschen Ansprüche stattgefunden. Eine herausragende Rolle bei diesen Verhandlungen spielte Papst Innozenz XI., den Ludwig XIV. im Oktober 1685 als Schiedsrichter vorgeschlagen hatte.³ Der aufgrund von Hausverträgen, die im Westfälischen Frieden bestätigt worden waren, 1685 zur Regierung der Pfalz gelangte Kurfürst Philipp Wilhelm aus dem Hause PfalzNeuburg lehnte ein päpstliches Schiedsgericht jedoch ab. Nicht nur hielt er die Ansprüche von Elisabeth Charlotte – abgesehen von den Mobiliargegenständen des Hauses Simmern – für vollkommen unbegründet, sondern er stellte sich auch auf den Standpunkt, dass ein etwaiger Rechtsstreit vor Kaiser und Reich gehöre; schließlich erklärte er sich für nicht befugt, ohne Zustimmung der Agnaten seines Hauses in ein Schiedsverfahren durch einen Reichsfremden – und sei es auch

2 Josef Wysocki: Frankreich und die Kurpfalz von 1680 bis 1688. In: Geschichtliche Landeskunde 2 (1965), S. 73, neigt zu der Auffassung, die aus der pfälzischen Erbschaft beanspruchten Gebiete hätten von vornherein wie die Reunionen behandelt werden sollen. Vgl. dagegen Volker Press: Zwischen Versailles und Wien. Die Pfälzer Kurfürsten in der deutschen Geschichte der Barockzeit. In: Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins 130 (1982), S. 235. 3 Max Immich (Bearb.): Zur Vorgeschichte des Orléans’schen Krieges. Nuntiaturberichte aus Wien und Paris 1685–1688 nebst ergänzenden Aktenstücken. Heidelberg 1898, S. 20 ff. (Nr. 22, 23, 26). Vgl. auch Boutant: L’Europe au grand tournant des années 1680 (wie Anm. 1), S. 299.

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der Papst – einzuwilligen.⁴ Auch Kaiser Leopold I., zugleich Philipp Wilhelms Schwiegersohn, reagierte zunächst hinhaltend.⁵ Dagegen erklärte sich der Kaiser im Januar 1686 bereit, Papst Innozenz statt um eine Entscheidung um seine Vermittlung zu ersuchen, während der Kurfürst sich weiterhin auf Ausflüchte verlegte.⁶ Am 7. September 1686 stimmte auch Philipp Wilhelm dem Vorschlag der päpstlichen Vermittlung zu, allerdings nur für die nach der Übergabe einer großen Zahl von Gegenständen an den französischen Beauftragten Morovas etwa noch zu gewärtigenden weiteren Ansprüche auf beweglichen Allodialbesitz, nicht für die beanspruchten Territorien.⁷ Auf das bewegliche Vermögen wollte der Papst seine Vermittlung jedoch gar nicht erstrecken.⁸ Am 6. Dezember 1686 schrieb Philipp Wilhelm an Leopold, was er von „dieser sehr schwähren und gefährlichen mediationszumutung“ halte und dass ihm vor allem „zwei sonderbare haubtdifficulteten, die sich nicht lassen nach Rom schreiben, stark zu gemüth“ gingen. Einmal kenne der Papst das Reichsrecht zu wenig. Daher sei zu befürchten, dass er einen Vermittlungsvorschlag mache, der die vollkommen zweifelsfreien Ansprüche des Kurhauses verletze, dies jedoch mit der nahezu unangreifbaren Autorität seines Amtes. Die Sorge sei umso größer, als jede gütliche Vermittlung mit Notwendigkeit „eine transaction in ventre“ führe, bei der es heiße, „dato et retento“. Wie könte dan ich und mein Churhaus ohne nachteil und schaden, zumalen in einer so richtigen und gerechten succession davon kommen!

Zum anderen hege er die Befürchtung, dass die Zustimmung zur päpstlichen Vermittlung im vorliegenden Konflikt sich für das Reich zu einem gefährlichen Präzedenzfall auswachsen könnte.⁹ Zuletzt jedoch überwand Philipp Wilhelm seine Bedenken: Mit Schreiben vom 12. Januar 1687 an Innozenz nahm er die päpstliche Vermittlung ohne Einschränkung an.¹⁰

4 Immich: Vorgeschichte des Orléans’schen Krieges (wie Anm. 3), S. 30 f. (Nr. 34). 5 Ebd. S. 27 f. (Nr. 31), S. 339 ff. (Anlage I). 6 Ebd. S. 45 f. (Nr. 41), S. 50 f. (Nr. 46), S. 53 (Nr. 49). 7 Ebd. S. 100 ff. (Nr. 105). 8 Ebd. S. 125 (Nr. 119). 9 Ebd. S. 150 ff. (Nr. 133). 10 Ebd. S. 184 f. (Nr. 158). Vgl. Wysocki: Frankreich und die Kurpfalz (wie Anm. 2), S. 84. Abweichend Meinrad Schaab: Geschichte der Kurpfalz. Bd. 2: Neuzeit. Stuttgart/Berlin/Köln 1992, S. 148.

458 | IV Pfälzische Perspektiven Max Immich hat im Jahre 1898 eine Aktenpublikation vorgelegt, in der die Bemühungen Innozenz’ XI. um eine friedliche Beilegung des Konflikts um das pfälzische Erbe zwischen dem Tod des Kurfürsten Karl und dem Ausbruch des Krieges im Frühherbst 1688 dokumentiert sind.¹¹ Die Masse der veröffentlichten Stücke besteht aus Berichten der päpstlichen Nuntien in Wien und Paris, Kardinal Buonvisi und Monsignor (später gleichfalls Kardinal) Ranuzzi, sowie aus Schreiben der Kurie, zumeist von Staatssekretär Cybo, an die beiden Nuntien. Die Edition lässt erkennen, mit welcher Hartnäckigkeit Innozenz XI. um eine Lösung rang, und erscheint somit als ein geeigneter Ausgangspunkt für eine Betrachtung über die Verschränkung von Papstgeschichte und Landesgeschichte in einem für Heidelberg und die Kurpfalz besonders kritischen Augenblick. Der tatsächliche Ausbruch des Krieges und die Zerstörung der Pfalz durch die Truppen des Sonnenkönigs könnten zunächst den Eindruck erwecken, als seien die Bemühungen des Papstes gescheitert. Von einem Scheitern sollte man in Wahrheit jedoch nur sprechen, wenn der Papst wenigstens eine noch so geringe Chance gehabt hätte, zwischen den Gegnern zu vermitteln. Es gibt jedoch gute Gründe für die Vermutung, dass Ludwig gar nicht ernsthaft auf Territorialerwerbungen aus der pfälzischen Erbschaft reflektierte und dass der Krieg im Jahre 1688 auch nicht ihretwegen ausgebrochen ist.¹² Offensichtlich hatte Ludwig dem Papst nur vordergründig die Rolle des Vermittlers im pfälzischen Erbstreit zugedacht. In Wirklichkeit benutzte er den gutgläubigen Vermittler, um mit seiner Hilfe ganz andere politische Ziele durchzusetzen.¹³ Als Ludwig XIV. im Frühherbst 1688 seine Truppen über den Rhein schickte, legte er in einem Manifest vom 24. September die Gründe für diese Entscheidung dar.¹⁴ Zugleich nannte er die Bedingungen, unter denen er bereit sei, den Krieg sofort wieder zu beenden. Ludwig forderte die Umwandlung des 1684 in Regensburg vereinbarten Waffenstillstands in einen definitiven Friedensvertrag, die Bestätigung seines Kandidaten Wilhelm Egon von Fürstenberg auf dem Kölner Erzstuhl durch den Papst und die Belassung der widerrechtlich errichteten Befestigungen bei Hüningen und in Fort Louis. Auf die Territorialforderungen und andere unerledigte Ansprüche aus der Simmernschen Erbschaft jedoch wollte er gegen eine

11 Immich: Vorgeschichte des Orléans’schen Krieges (wie Anm. 3). 12 Dies ist die These von Wysocki: Frankreich und die Kurpfalz (wie Anm. 2), S. 87 ff., bes. S. 93 f. 13 Vgl. ebd. S. 90. 14 Memoire des Raisons, qui ont obligé le Roy de France Louis XIV. à reprendre les Armes et qui doivent persuader toute la Chrétienté des sinceres Intentions de Sa Majesté, pour l’affermissement de la tranquillité publique, à Versailles le 24. Septembre 1688. In: Jean Dumont: Corps universel diplomatique du droit des gens. Bd. 7/1. Amsterdam 1731, S. 170–173.

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Geldentschädigung verzichten. An dieses Angebot wollte er sich bis Januar 1689 gebunden halten.¹⁵ Der Regensburger Stillstand war 1684 zwischen dem Reich und Frankreich auf zwanzig Jahre geschlossen worden. Für Frankreich erbrachte er die vorläufige Anerkennung der bis 1681 vollzogenen Reunionen; der Kaiser dagegen erlangte Rückenfreiheit für die Fortsetzung des Kampfes gegen die Türken, die ein Jahr zuvor die Stadt Wien belagert hatten.¹⁶ Das Septembermanifest Ludwigs war natürlich in erster Linie eine Propagandaschrift. Die Hauptabsicht bestand darin, Kaiser Leopold und den Kurfürsten von der Pfalz als die eigentlichen Kriegstreiber, den französischen König jedoch als Anwalt des Friedens hinzustellen, dem der Entschluss zum Präventivkrieg geradezu aufgezwungen worden sei. Insofern ist die Darstellung des Manifests zur Vorgeschichte des Krieges mit der gebotenen Vorsicht zu lesen. In der Formulierung seiner Friedensbedingungen hingegen musste Ludwig Farbe bekennen und seine Prioritäten benennen, denn er musste darauf gefasst sein, dass der Kaiser auf die französischen Forderungen einging. Für eine solche Erwartung sprach das Interesse Leopolds, den Krieg gegen die Türken fortzusetzen, ohne einen Zweifrontenkrieg führen zu müssen. Insofern waren die Forderungen Ludwigs durchaus realistisch kalkuliert. Diese Deutung des Manifests lässt sich durch zwei Überlegungen erhärten. Die eine stützt sich auf die Logik der Situation, die andere auf Zeugnisse zur Entwicklung der französischen Position seit 1684. Im Regensburger Stillstand waren die französischen Territorialerwerbungen nach dem Frieden von Nymwegen nur vorläufig anerkannt worden. Die endgültige Anerkennung musste von den Kräfteverhältnissen zwischen den Kontrahenten bei Auslaufen des Vertrags oder auch früher abhängen. Die unerwarteten Erfolge des Kaisers und seiner Verbündeten über die Türken seit 1683 führten jedoch zu einer kontinuierlichen Verschiebung des Mächtegleichgewichts zum Nachteil Frankreichs. Dieser Effekt wurde durch den Umstand noch verstärkt, dass Ludwig unter den Reichsständen keine Verbündeten mehr gewinnen konnte. Der bayerische Kurfürst Max Emanuel stand unverbrüchlich auf Leopolds Seite. Der neue pfälzische Kurfürst Philipp Wilhelm war des Kaisers Schwiegervater, und Friedrich Wilhelm von Brandenburg hatte sich nach der Aufhebung des Edikts von Nantes von Frankreich abgewandt. Das Scheitern Ludwigs bei dem Versuch, einen Kandidaten seiner Wahl zum Kurfürsten von Köln erheben zu lassen, erscheint so-

15 Ebd. S. 172 f. 16 Zum Regensburger Stillstand vgl. Josef Wysocki: Kurmainz und die Reunionen. Die Beziehungen zwischen Frankreich und Kurmainz von 1679 bis 1688. Phil. Diss. Mainz 1961, S. 105 ff.

460 | IV Pfälzische Perspektiven mit zugleich als Symptom und Bestätigung für Frankreichs Verlust an politischem Einfluss im Reich. Auch wenn der Kaiser im Jahre 1688 nicht, wie Ludwig im Septembermanifest behauptete, an Plänen arbeitete, nach Abschluss des Türkenkriegs gegen Frankreich zu ziehen, so lag doch auf der Hand, dass die Entwicklung der politischen Gewichte es immer unwahrscheinlicher machte, dass Kaiser und Reich ihre 1684 vorläufig ausgesprochene Anerkennung der französischen Reunionen jemals in eine endgültige umwandeln würden. In der Logik der durch den Stillstand von 1684 geschaffenen Situation lag es daher, dass Ludwig in erster Linie nach völkerrechtlicher Absicherung des nur vorläufig Erreichten trachtete, bevor er nach weiteren Erwerbungen Ausschau hielt. So spricht alles dafür, dass er jedes unvorhergesehene Ereignis geschickt zu nutzen suchte, um sein Hauptanliegen voranzutreiben. Ein solches Ereignis war im Mai 1685 der unerwartete Tod des pfälzischen Kurfürsten Karl. Die politische Behandlung der Erbschaftsfrage durch den französischen König scheint denn auch zu bestätigen, dass Ludwig sie von vornherein in Funktion des übergeordneten Zieles betrachtete. Ludwig musste die Anerkennung seiner pfälzischen Ansprüche erreichen, um sie als Pfand für die Umwandlung des Regensburger Stillstands in einen dauerhaften Frieden einsetzen zu können. Drei naheliegende Optionen schloss er aus. Zweiseitige Verhandlungen allein mit dem Kurfürsten ohne flankierende Verhandlungen mit einflussreichen Dritten erschienen schon deshalb wenig erfolgversprechend, weil auf dieser Ebene das eigentliche Ziel Ludwigs gar nicht ins Spiel gebracht werden konnte. Im übrigen würde sich der Kurfürst hinter seinem Schwiegersohn, dem Kaiser, verstecken, und der französischen Politik würden binnen kurzer Frist nur Drohungen übrigbleiben. Krieg jedoch wollte Ludwig damals nicht führen.¹⁷ Der Ausgang war in jedem Fall ungewiss. Vielleicht fürchtete Ludwig auch den Aufschrei Europas, wenn er so kurz nach der Türkenbedrohung von 1683 den Türkensiegern in den Rücken fiel. Die Gefahr war zudem groß, dass Leopold mit den Türken Frieden schließen und seine und die ganze Macht des Reiches an den Rhein werfen würde. In diesem Falle hätte Ludwig unter Umständen weder das Unterpfand erwerben noch die Reunionen halten können. Da es sich um einen Sukzessionsstreit innerhalb des Reiches handelte, hätte Ludwig sich an die Reichsgerichte wenden können. Doch dagegen sprachen die bekannte Langwierigkeit des Verfahrens, die Besorgnis der Parteilichkeit

17 Vgl. Wysocki: Frankreich und die Kurpfalz (wie Anm. 2), S. 71 f., 86.

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zum Nachteil Frankreichs und schließlich wohl auch die Überlegung, dass die Frage sich nur schwer würde politisch verwerten lassen, solange sie vor Gericht anhängig war. In dieser Situation erschien der Appell an den Papst als genialer Ausweg. Das Verhältnis Ludwigs XIV. zur Kurie war zwar von dem Konflikt um das vom König beanspruchte Regal bei bischöflichen Sedisvakanzen in sämtlichen Diözesen Frankreichs überschattet¹⁸; auf der anderen Seite durfte Ludwig jedoch damit rechnen, dass Innozenz alles daransetzen würde, um den Fortgang des Türkenkriegs sicherzustellen, denn der aus Como gebürtige Benedetto Odescalchi, seit 1676 auf dem Stuhl Petri, focht seit vielen Jahren mit Leidenschaft für den Kreuzzug gegen die Türken.¹⁹ Schon als Kardinal hatte er aus seinem Privatvermögen große Summen für die Bekämpfung der Ungläubigen gespendet. Bis zum Ende seines dreizehnjährigen Pontifikats im Jahre 1689 sollte die Kirche auf seine Veranlassung weitere fünf Millionen Gulden beisteuern.²⁰ Innozenz wurde zum Architekten des Bündnisses zwischen dem König von Polen, Jan Sobieski, und Kaiser Leopold I. vom 31. März 1683. Auch der Beitritt der Republik Venedig zur Allianz gegen die Türken im folgenden Jahr war wesentlich das Werk der päpstlichen Diplomatie.²¹ Die Sorge des Papstes, dass ein Konflikt um das pfälzische Erbe die Fortsetzung des Kreuzzugs gegen die Türken in Frage stellen könnte, war so groß, dass er den französischen König schon drei Wochen nach dem Tod des Kurfürsten Karl ermahnen ließ, seine Ansprüche aus der Erbschaft nicht mit Waffengewalt vorzutragen, weil er damit nur dem „gemeinsamen Feind“ in die Hände arbeiten würde.²² Innozenz befürchtete, dass die Bereitschaft der in Reichweite der französischen Heere gelegenen Reichsstände, ihre Truppen nach Ungarn zu schicken, sofort in Frage gestellt würde, wenn Ludwig mit Krieg drohte oder in das Reich einrückte.²³ Die leitende Maxime der päpstlichen Vermittlungsbemühungen der folgenden Jahre lautete dementsprechend, es müsse peinlich vermieden werden, dem

18 Vgl. Jean Baptiste Wolf : Louis XIV. New York 1968, S. 389 ff.; Giorgio Papasogli: Il Beato Innocenzo XI (1611–1689). Como 1957, S. 142 ff., 177 ff., 185 ff. 19 Zu Innozenz XI. vgl. Papasogli: Il Beato Innocenzo XI (wie Anm. 18); Ludwig Freiherr von Pastor: Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters. Bd. 14/2. Freiburg 1930; Max Immich: Papst Innozenz XI. 1676–1689. Beiträge zur Geschichte seiner Politik und zur Charakteristik seiner Persönlichkeit. Berlin 1900. 20 Papasogli: Il Beato Innocenzo XI (wie Anm. 18), S. 137 f., 159. 21 Ebd. S. 156, 212 f. 22 Immich: Vorgeschichte des Orléans’schen Krieges (wie Anm. 3), S. 8 (Nr. 7). 23 Ebd. S. 130 (Nr. 121), S. 134 f. (Nr. 124), S. 179 (Nr. 154).

462 | IV Pfälzische Perspektiven französischen König einen Vorwand zu liefern, die Waffenruhe zu brechen. Daher drängte Innozenz den Kurfürsten in der Erbschaftsfrage zur Nachgiebigkeit. Da Philipp Wilhelm jedoch wenig Entgegenkommen zeigte, sparte die päpstliche Diplomatie nicht mit herber Kritik an seiner Hartnäckigkeit. Wenn man die Fortsetzung des Türkenkriegs nicht gefährden wolle, dürfe man „la renitenza del sr Palatino“ gegenüber den Forderungen des Herzogs von Orléans nicht unterstützen.²⁴ Um eines geringfügigen Interesses willen, das sich nicht einmal auf das Recht stützen könne, dürfe man keine „pretesti“ liefern „di turbare la Germania“, und wenn der Kurfürst sich einbilde, er könne den Kaiser dazu bewegen, unter Preisgabe der „causa di Dio, di se stesso e del proprio figliuolo“ mit den Türken einen ungünstigen Frieden zu schließen und seine Truppen an den Rhein zu werfen, so möge er bedenken, dass sein Land in diesem Fall unausweichlich zum „teatro della guerra“ gemacht würde, ja dass Ludwig die Pfalz bei der ersten Nachricht vom bevorstehenden Friedensschluss in Ungarn besetzen würde, längst bevor der Kaiser Zeit gefunden hätte, zur Hilfe herbeizueilen.²⁵ In dieser Beurteilung hätte sich der Papst sogar auf den Kaiser selbst berufen können. Am 5. Dezember 1686 schrieb Leopold in vorwurfsvollem Ton an seinen Schwiegervater in Heidelberg, dass er ihn „dermalen bei obhabenden schweren türkenkrieg [. . . ] mit nachtruck bei einbrechender feintsgewalt nit zu retten wuste.“²⁶ Die Warnungen vor einer Zerstörung der Pfalz bildeten geradezu ein Leitmotiv in der Argumentation der päpstlichen Diplomaten.²⁷ Wie berechtigt sie waren, sollte sich nach wenigen Jahren grausam bestätigen. Innozenz besaß offensichtlich einen klaren Blick für die politische Wirklichkeit. Wo die Mittel fehlten, um ein vermeintliches Recht auch wirksam zu behaupten, beschwor Unnachgiebigkeit nur allzu leicht den eigenen Untergang herauf. Insofern war umgekehrt die Sorge des Kurfürsten durchaus begründet, dass ein Vermittlungsvorschlag des Papstes sich nicht in erster Linie an der gegebenen Rechtslage orientieren würde. Da der Kurfürst sich im Hinblick auf die französischen Gebietsforderungen darauf berief, dass er ohne die Zustimmung von Kaiser und Reich gar nicht handeln könne, setzte die päpstliche Politik vor allem in Wien an, zumal Innozenz

24 Ebd. S. 159 (Nr. 140). 25 Ebd. S. 118 (Nr. 113), S. 160 (Nr. 140). 26 Ebd. S. 148 (Nr. 132). 27 Eine besonders drastische Formulierung findet sich in einem Brief Buonvisis an Cybo vom 15. Dez. 1686, ebd. S. 159 (Nr. 140): Sobald Frankreich von Friedensverhandlungen mit den Türken und von Kriegsabsichten des Kaisers am Rhein höre, „haverebbe senza dilazione invaso il Palatinato et occupatolo in pochi giorni, havendo io veduto con gl’occhij proprij la debolezza delle fortezze che v’erano.“

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und Leopold das gemeinsame Interesse am Türkenkreuzzug verband und der Papst darauf hoffte, dass die Personaleinheit von Reichsoberhaupt und Schwiegersohn in Heidelberg über wirksamen Einfluss verfüge. Auch dem Kaiser gegenüber warnte der Papst davor, dem französischen König einen Vorwand zu geben, den Regensburger Stillstand aufzukündigen. Zwar gelangte die päpstliche Diplomatie schließlich zu der Überzeugung, dass ein Waffengang im pfälzischen Erbstreit keinen Bruch des Stillstands darstellen würde, aber die politische Wirkung wäre dieselbe gewesen.²⁸ Im übrigen dehnten sich die Verhandlungen der Diplomaten des Papstes schon bald auf weitere Gravamina in den Beziehungen zwischen dem Reich und Frankreich aus. Der Kaiser beschwerte sich vor allem über den vertragswidrigen Bau von Festungen durch Frankreich auf Reichsboden – gegenüber Hüningen nördlich von Basel, auf der Rheininsel Giesenheim unweit von Rastatt (Fort Louis) und bei Traben-Trarbach an der Mosel (Fort Montroyal)²⁹ –, während der französische König nicht davon abzubringen war, den Abschluss der Augsburger Liga von 1686 als eine gegen Frankreich gerichtete Bedrohung auszugeben.³⁰ Es ist bemerkenswert, in welche konkreten Empfehlungen die Maxime des Papstes, Ludwig vor allen Dingen keine Vorwände zum Bruch des Stillstands zu liefern, jeweils mündete. Den Bau französischer Festungswerke auf Reichsboden solle der Kaiser verschmerzen, nachdem er im Begriff sei, in Ungarn weit größere Erwerbungen zu machen.³¹ Mit Bezug auf die Augsburger Liga riet Innozenz dem Kaiser, die Ratifikation des Vertrags zu verweigern, obwohl er seinen rein defensiven Charakter nicht in Frage stellte und ihm auch der Zweck der Liga bekannt war, den beteiligten Reichsständen eine zusätzliche Sicherheit gegen mögliche französische Angriffe in einer Zeit zu geben, in der ihre Truppen im Türkenkrieg gebunden waren.³² Im Rahmen der über die päpstlichen Diplomaten geführten Verhandlungen schlug die französische Regierung schließlich ganz offen vor, den Stillstand von 1684 in einen beständigen Frieden umzuwandeln. Zum ersten Mal kam dieser Vorschlag in einer Unterredung zwischen dem französischen Außenminister Colbert de Croissy und Nuntius Ranuzzi im Dezember 1686 zur Sprache. Angesichts der

28 Ebd. S. 258 (Nr. 209), S. 263 (Nr. 213), S. 269 (Nr. 217). 29 Ebd. S. 118 (Nr. 113), S. 135 ff. (Nr. 125), S. 263 (Nr. 214). Vgl. Georg Hüpper: Von der Vierstromgrenze zur Rheingrenze. Der Ausbau des französischen Festungssystems im 17. Jahrhundert vornehmlich unter Ludwig XIV. und die Gegenmaßnahmen der europäischen Mächte. Phil. Diss. Berlin 1936, S. 98, 119 f., 122 ff. 30 Immich: Vorgeschichte des Orléans’schen Krieges (wie Anm. 3), S. 119 f. (Nr. 114). 31 Ebd. S. 118 f. (Nr. 113), S. 127 (Nr. 120). 32 Ebd. S. 153 (Nr. 135).

464 | IV Pfälzische Perspektiven wiederholten Beschwerden Croissys über die Liga von Augsburg erklärte Ranuzzi, dass diese Allianz keinesfalls einen Krieg gegen Frankreich plane; der Wunsch des Kaisers gehe vielmehr dahin, „di convertire la presente tregua“ – den Regensburger Stillstand – „in una pace perpetua.“³³ Der Außenminister griff diese „proposizione venuta dal cielo“³⁴ sofort auf und meinte, genau dies wünsche auch Frankreich, und sich für dieses Ziel einzusetzen, wäre des Eifers Seiner Heiligkeit wahrhaft würdig.³⁵ Am 7. Januar 1687 berichtete Kardinalstaatssekretär Cybo dem Pariser Nuntius, dass Kardinal d’Estrées, Sonderbeauftragter des französischen Königs bei der Kurie, ihm ebenfalls dessen Wunsch vorgetragen habe, den Stillstand in einen dauerhaften Frieden umzuwandeln. Aus diesem Anlass fragte Cybo nach, ob Ranuzzi bei seinem Gespräch mit Croissy habe sagen wollen, der Kaiser wünsche sich die Herstellung eines wirklichen Friedens statt eines bloßen Waffenstillstands – wobei die Konditionen ganz offen wären –, oder ob er die Meinung des Kaisers so dargestellt habe, als strebe dieser einen Friedensvertrag zu den Bedingungen des Stillstands an, so dass die vorläufige Anerkennung der Reunionen ohne Einschränkung in eine endgültige umgewandelt würde.³⁶ Dies war offenkundig das Ziel der französischen Politik, und Colbert de Croissy hatte deutlich gemacht, dass er den Papst gegenüber dem Kaiser zum Überbringer und Befürworter genau dieser Botschaft machen wollte. Damit war die Vermittlungstätigkeit des Papstes im pfälzischen Erbstreit, vordergründig einem Konflikt zwischen dem Herzog von Orléans und dem Kurfürsten Philipp Wilhelm, endgültig auf die Kernfrage in den Beziehungen zwischen Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich seit 1684 ausgedehnt worden. Statt um die Vermittlung in einem konkreten und begrenzten Streitfall ging es nunmehr um den Ausgleich des Machtverhältnisses zwischen den beiden größten politischen Potenzen der Epoche. Ludwig benutzte den Papst jetzt als Überbringer der Botschaft, dass das eigentliche Ziel der französischen Politik in der Festschreibung des Stillstands liege. Dabei rechnete er wiederum mit dem Wunsch des Papstes, dass der Türkenkreuzzug unter allen Umständen fortgesetzt werden möge. Der Anspruch auf die Simmernsche Allodialhinterlassenschaft erwies sich als bloßes Unterpfand für viel weiter gesteckte Ziele. Insofern ist zu bezweifeln, dass eine effektive Vermittlung und rasche Erledigung der Erbschaftsangelegenheit in Versailles überhaupt erwünscht gewesen wäre.

33 Ebd. S. 162 (Nr. 141). Zur Liga von Augsburg vgl. Richard Fester: Die Augsburger Allianz von 1686. München 1893. 34 Immich: Vorgeschichte des Orléans’schen Krieges (wie Anm. 3), S. 233 (Nr. 190). 35 Ebd. S. 162 (Nr. 141). 36 Ebd. S. 177 (Nr. 153).

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Das Manifest Ludwigs vom 24. September 1688 fügte sich nahtlos in dieses Konzept. Um eines Friedensvertrags auf der Basis des Stillstands willen erklärte sich der französische König bereit, auf die pfälzischen Ansprüche weitgehend zu verzichten. Die Forderung nach einer Geldentschädigung diente im gegebenen Zusammenhang sicher mindestens ebenso sehr der Wahrung des Gesichts wie dem Wunsch nach einem materiellen Ausgleich. Im Lichte des französischen Vorgehens vom Herbst 1688 stellt sich allerdings die Frage, warum Ludwig den Druck auf Kaiser und Reich jetzt militärisch untermauerte, nachdem er einen solchen Schritt 1685 aus wohlerwogenen Gründen vermieden hatte. Zunächst ist sich die Politik Ludwigs zwischen 1685 und 1688 darin gleich geblieben, dass er zur Befriedigung der Erbansprüche von Bruder und Schwägerin allein keine militärischen Maßnahmen ergreifen wollte. Vorrangiges Ziel blieb die Umwandlung des Regensburger Stillstands in einen dauerhaften Frieden. Nur im Lichte dieses identischen Ziels lassen sich die politischen Direktiven des Königs 1685 und 1688 sinnvoll miteinander vergleichen. Ein entscheidendes Motiv für die Verschärfung des Drucks auf die Westgrenze des Reiches dürfte in der Erfolglosigkeit aller diplomatischen Initiativen Ludwigs seit 1685 zu sehen sein. Die Unnachgiebigkeit des Kaisers ihrerseits erscheint als unmittelbare Folge seiner Türkensiege. Sie hoben sein politisches Selbstbewusstsein, und vor allem machten sie ihn von jeder Form von französischer Unterstützung unabhängig. Sollte Ludwig auf eine Situation gewartet haben, in der er sich einen Beitrag zum Türkenkrieg mit Zugeständnissen im Reich hätte honorieren lassen können, so entzogen die Erfolge Leopolds solchen Hoffnungen jede Grundlage. Umgekehrt wurde das Haus Habsburg von Jahr zu Jahr mächtiger, so dass auch aus diesem Grunde mit einem Entgegenkommen immer weniger gerechnet werden konnte. Die Zeit arbeitete gegen den Sonnenkönig.³⁷ Am 3. Juni 1688 starb Maximilian Heinrich von Wittelsbach, Kurfürst von Köln. Maximilian Heinrich hatte stets eine frankreichfreundliche Politik betrieben. In dieser Politik war er vor allem dem Rat seines Vertrauten und Ersten Ministers Kardinal Wilhelm Egon von Fürstenberg, Fürstbischof von Straßburg und notorischer Parteigänger Frankreichs, gefolgt.³⁸ Angesichts seines schwin-

37 Eine vorzügliche Analyse der Verschlechterung von Frankreichs internationaler Stellung in diesen Jahren findet sich bei Geoffrey Symcox: Louis XIV and the Outbreak of the Nine Years War. In: R. Ragnhild Hatton (Hrsg.): Louis XIV and Europe. London 1976, S. 179–212. Im übrigen vgl. Wolf : Louis XIV (wie Anm. 18). 38 John T. O’Connor: Negotiator out of Season. The Career of Wilhelm Egon von Fürstenberg 1629 to 1704. Athens 1978; Max Braubach: Wilhelm von Fürstenberg (1629–1704) und die französische Politik im Zeitalter Ludwigs XIV. Bonn 1972.

466 | IV Pfälzische Perspektiven denden politischen Einflusses im Reich musste Ludwig XIV. das größte Interesse daran haben, dass die Nachfolge in Köln einem Manne übertragen würde, der die bisherige Politik des Erzstuhls fortsetzte. Nun war das Kurfürstentum seit 1583 ununterbrochen in der Hand der Wittelsbacher gewesen, und auch jetzt stand mit Joseph Clemens, dem knapp siebzehnjährigen Bruder des bayerischen Kurfürsten Max Emanuel, ein Kandidat aus diesem Hause zur Verfügung. Nach der politischen Schwenkung Bayerns auf die Seite des Kaisers konnte sich Ludwig von diesem Kandidaten allerdings keine Fortsetzung der bisherigen Politik des Kurfürstentums versprechen. Daher betrieb er schon seit längerem die Kandidatur Fürstenbergs selbst. Im Januar 1688 hatte das Domkapitel seinen Dechanten Fürstenberg aufgrund eines abgesprochenen französischen Vorstoßes mit 19 von 23 Stimmen zum Koadjutor gewählt und hätte damit eine gute Ausgangsposition für dessen Nachfolge in der Kur geschaffen, wenn Innozenz XI. die Koadjutorwahl bestätigt hätte.³⁹ Doch mittlerweile hatten sich die Beziehungen zwischen der Kurie und der französischen Krone weiter verschlechtert. Anlass war ein Konflikt um Ausdehnung und Handhabung der Immunität im Bezirk der französischen Botschaft in Rom gewesen, der immer mehr zum Zufluchtsort für gemeine Verbrecher geworden war. Im Zuge der Auseinandersetzungen exkommunizierte der Papst im November 1687 den neuen französischen Botschafter Lavardin und im Januar 1688 sogar den französischen König selbst.⁴⁰ Am 19. Juli 1688 wählte das Kölner Domkapitel einen neuen Erzbischof. Fürstenberg erhielt 13, Joseph Clemens 9 der 24 Stimmen. Damit war keiner von beiden gewählt: Da Fürstenberg bereits ein Bistum versah, hätte er mit Zweidrittelmehrheit postuliert werden müssen; Joseph Clemens dagegen verfehlte die einfache Mehrheit.⁴¹ Unterdessen hatte Ludwig XIV. den Marquis de Chamlay nach Rom gesandt, um gegen Zugeständnisse in der Botschaftsfrage die Bestätigung Fürstenbergs einzuhandeln. Der jahrelangen Befürchtungen des Papstes eingedenk hatte der Kriegsminister Louvois dem Sondergesandten eingeschärft, er solle klar zu erkennen geben, dass die Bestätigung des Wittelsbachers Joseph Clemens durch Innozenz zum Krieg zwischen Frankreich und dem Reich führen könne.⁴²

39 Symcox: Louis XIV (wie Anm. 37), S. 188 f., 192 ff.; Braubach: Wilhelm von Fürstenberg (wie Anm. 38), S. 421 ff. 40 Papasogli: Il Beato Innocenzo XI (wie Anm. 18), S. 234 ff.; Wolf : Louis XIV. New York (wie Anm. 18), S. 435 f. 41 Braubach: Wilhelm von Fürstenberg (wie Anm. 38), S. 443 ff. 42 O’Connor: Negotiator out of Season (wie Anm. 38), S. 169 ff.

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Chamlay traf am 3. August in Rom ein. Seinen Instruktionen entsprechend bestand er auf einer persönlichen Audienz, doch der Papst weigerte sich, ihn zu empfangen. Daraufhin berief Ludwig ihn am 18. August zurück.⁴³ Wochen später sollte Innozenz den Wittelsbacher Prinzen als Erzbischof von Köln bestätigen. Der Papst hätte kaum anders handeln können. Die Entscheidung war konsequent im Sinne seiner Türkenpolitik: Er konnte die traditionelle Anwartschaft der Wittelsbacher auf den Erzstuhl nicht gut im selben Augenblick hintanstellen, in dem der bayerische Kurfürst Max Emanuel sich anschickte, Belgrad zu erobern.⁴⁴ Joseph Clemens war zugleich der Kandidat des Kaisers, von dessen gutem Willen die Fortführung des Kampfes gegen die Ungläubigen abhing. Willfährigkeit gegenüber dem französischen König hätte Innozenz jedoch auch in seinem geistlichen Amt unglaubwürdig gemacht, da Ludwig durch seine Kirchenpolitik und durch sein Verhalten in der Botschaftsaffäre die Autorität des Papstes nachhaltig in Frage gestellt hatte. Die Möglichkeit zu einer Überprüfung seiner Haltung nahm der König dem Papst zuletzt selbst, indem er die Forderung nach der Bestätigung Fürstenbergs mit massiven Drohungen verband: Avignon sollte besetzt werden, ebenso die Herzogtümer Castro und Ronciglione.⁴⁵ Das Scheitern der Mission Chamlay und der drohende Verlust des französischen Einflusses in Kurköln trieben den Sonnenkönig in den Krieg, nicht der noch immer unerledigte pfälzische Erbstreit.⁴⁶ Im Unterschied zu seiner kurpfälzischen Politik wollte Ludwig auf seine Kölner Ziele nicht kampflos verzichten. Dementsprechend zählte er die Bestätigung Fürstenbergs durch den Papst in seinem Manifest vom 24. September 1688 auch zu den wenigen Bedingungen, von deren Erfüllung die Wiederherstellung des Friedens abhängen sollte. Die Sorge, dass der befürchtete Friedensschluss zwischen dem Kaiser und den Türken durch Ludwigs Schritt erst recht herbeigeführt würde, hatte unterdessen an Gewicht verloren. Eines Tages würde der Kaiser ohnehin Frieden schließen, und da er trotz des Türkenkriegs nicht zu Konzessionen im Westen bereit gewesen war, blieb Ludwig nur die Erwägung, ob er den unvermeidlich scheinenden Konflikt jetzt nicht eher bestehen würde als zu einem ungewissen Zeitpunkt in der Zukunft, den sich der Kaiser – inzwischen noch mächtiger geworden nach absehbaren weiteren Erfolgen im Osten – nach eigenem Ermessen würde aussuchen können.

43 Ebd. S. 174 f.; Symcox: Louis XIV (wie Anm. 37), S. 196 f. 44 Ludwig Hüttl: Die Beziehungen zwischen Wien, München und Versailles während des großen Türkenkrieges 1684 bis 1688. In: Mitt. d. Österr. Staatsarchivs 38 (1985), S. 117 ff. 45 von Pastor: Geschichte der Päpste (wie Anm. 19), S. 942 f. 46 Symcox: Louis XIV (wie Anm. 37), S. 197.

468 | IV Pfälzische Perspektiven Nachdem die Türken so weit zurückgedrängt worden waren – am 6. September 1688 fiel Belgrad –, durfte Ludwig sogar erwarten, dass sein Angriff auf das Reich sie geradezu veranlassen würde, ein Friedensangebot des Kaisers abzulehnen, gewährte ihnen die zu erwartende Schwächung seiner Kriegsanstrengungen im Osten doch die Chance, wenigstens einen Teil der verlorenen Gebiete zurückzugewinnen.⁴⁷ Nicht zu übersehen ist ferner, dass Ludwig seine militärische Gesamtlage durch die verschiedenen Festungsbauten an Rhein und Mosel gegenüber 1685 verbessert hatte, und als Angreifer konnte er sich überdies bei Kriegsbeginn eine günstige Ausgangsposition verschaffen und dem Gegner die Abwehr erschweren. So eroberten seine Truppen gleich in den ersten Kriegswochen die Festung Philippsburg, und die Zerstörungen im Oberrheingebiet sind im Sinne der Glacisbildung ebenfalls als Maßnahmen zu deuten, die dem Reich eine Gegenoffensive unmöglich machen sollten.⁴⁸ Günstig erschien die Gelegenheit im Herbst 1688 schließlich auch deshalb, weil das bevorstehende Eingreifen Wilhelms von Oranien in England nach Einschätzung Ludwigs zu einem längeren Bürgerkrieg auf der Insel und damit zu einem vorläufigen Ausscheiden Hollands aus der Front seiner Gegner führen würde.⁴⁹ Der Papst besaß nicht die Möglichkeit, in dem heraufziehenden europäischen Konflikt zu vermitteln, zumal der Regensburger Stillstand den Kaiser nicht verpflichtete, vor Ablauf der dort vereinbarten Frist von zwanzig Jahren über den künftigen Verbleib der von den französischen Reunionen betroffenen Gebiete zu verhandeln. Die Vermittlung im pfälzischen Erbstreit zu einem Erfolg zu führen, war Innozenz schon deshalb verwehrt, weil die französischen Ansprüche, wie sich im Laufe der Zeit immer deutlicher herausstellte, in erster Linie zur Sicherung eines Unterpfands gedacht waren, mit dem eine Revision des Regensburger Stillstands durchgesetzt werden sollte. Man kann in einem Konflikt nicht erfolgreich vermitteln, wenn seine Beilegung von der Lösung eines ganz anderen und weit größeren Konflikts abhängig gemacht wird. Während Innozenz an seine Chance glaubte, durch Bereinigung des pfälzischen Erbstreits die Gefahr eines Krieges zwischen den Großmächten zu bannen und damit den Fortgang des Türkenkreuz-

47 Ebd. S. 198; Wolf : Louis XIV (wie Anm. 18), S. 443 f. 48 Zum Glacisplan vgl. Kurt von Raumer: Die Zerstörung der Pfalz von 1689 im Zusammenhang der französischen Rheinpolitik. München/Berlin 1930, S. 98 ff.; kritisch zu Teilen von Raumers Analyse: Volker Sellin: Heidelberg im Spannungsfeld deutsch-französischer Konflikte. Die Schloßruine und ihre Stilisierung zum nationalen Symbol im Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons. In: Friedrich Strack (Hrsg.): Heidelberg im säkularen Umbruch. Traditionsbewußtsein und Kulturpolitik um 1800. Stuttgart 1987, S. 25 f., in diesem Band S. 489–504. 49 Wolf : Louis XIV (wie Anm. 18), S. 440 f.

Innozenz XI. und der pfälzische Erbstreit

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zugs sicherzustellen, wurde er von der französischen Politik in Wahrheit nur als Werkzeug benutzt. Als leidenschaftlicher Verfechter des Kampfes gegen die Ungläubigen schien er der geeignete Mann zu sein, um dem Kaiser die Umwandlung des Regensburger Stillstands in einen dauerhaften Frieden als ein dringendes Anliegen der Christenheit vor Augen zu stellen. Innozenz XI. hatte vorausgesehen, dass ein Krieg, dem unter anderem die Erbansprüche aus der Orléansschen Eheverbindung als Anlass oder Vorwand dienten, zum Ruin der Kurpfalz führen würde. Vor der Zerstörung hätte er das Land wahrscheinlich selbst dann nicht bewahren können, wenn Kurfürst Philipp Wilhelm entgegenkommender gewesen wäre. Die Verknüpfung des pfälzischen Erbstreits mit dem Regensburger Stillstand in Ludwigs Manifest vom 24. September 1688 legt den Schluss nahe, dass Frankreich die Frage so lange offengehalten hätte, bis ein vorteilhafter Friede mit Kaiser und Reich zustandegekommen wäre. Dass die Verwüstungen im Rheingebiet im übrigen nicht einfach ein Ausdruck des Zorns oder der Rache für die Weigerung des Kurfürsten gewesen sein können, die Territorialansprüche des Herzogs von Orléans zu befriedigen, zeigt sich schon daran, dass auch Städte und Landstriche heimgesucht wurden, die gar nicht zur Pfalz gehörten. Sollten die Zerstörungen in erster Linie ein Glacis schaffen, das den Truppen von Kaiser und Reich einen Angriff auf Frankreich für geraume Zeit unmöglich machen würde, so zielte dieses militärstrategische Motiv auf den Hegemonialkonflikt mit dem Haus Österreich und nicht auf den dahinschwelenden Streit mit dem Kurfürsten von der Pfalz. Daher lässt sich auch die Ruine des Heidelberger Schlosses zwar als Dokument des Ringens der europäischen Großmächte am Ende des 17. Jahrhunderts, nicht aber zugleich als Ausdruck des Scheiterns der päpstlichen Vermittlungsbemühungen im Streit um das Simmernsche Erbe deuten. Am Ende sparte die Geschichte nicht mit Ironie. Nach jahrelangen Bemühungen um die Erhaltung des Friedens zwischen Deutschland und Frankreich gab Papst Innozenz mit seiner Kölner Personalentscheidung zuletzt selber den entscheidenden Anstoß zum Kriegsentschluss König Ludwigs. Als der Krieg am Rhein jedoch ausgebrochen war, trat nicht ein, was der Papst befürchtet und woran er seine gesamte Politik seit 1685 orientiert hatte: Kaiser Leopold schloss keinen Frieden mit den Türken und nahm den Zweifrontenkrieg in Kauf.⁵⁰

50 Vgl. hierzu Lothar Höbelt: Die Sackgasse aus dem Zweifrontenkrieg: Die Friedensverhandlungen mit den Osmanen 1689. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 97 (1989), S. 329–380.

| V Heidelberg: Stadt und Universität

Heidelberg und sein Schloss Das* gestellte Thema erlaubt unterschiedliche Ausdeutungen. Mit Sicherheit zeigt das Possessivpronomen „sein“ kein Besitzrecht an; denn das Schloss gehört nicht der Stadt Heidelberg, sondern dem Land Baden-Württemberg. Nicht immer war die Stadt Heidelberg damit zufrieden, dass das Schloss nicht ihr gehörte. Am 25. März 1975 veröffentlichte die Rhein-Neckar-Zeitung eine Meldung mit der lapidaren Überschrift: „Stadt will Schloß“.¹ Am folgenden Tag wurden die Leser der Zeitung über die Hintergründe aufgeklärt. Danach hatte Oberbürgermeister Reinhold Zundel im Stuttgarter Finanzministerium sondiert, ob das Land BadenWürttemberg das Schloss nicht der Stadt Heidelberg schenken könne. Das Land erziele aus den Schlossführungen und den Eintrittsgeldern für das Große Fass gewaltige Überschüsse. Diese Überschüsse aber könne die Stadt Heidelberg selber gut gebrauchen: „zum Ausgleich der sonstigen Belastungen, die sie z. B. durch die Universität habe.“² Gegen das Ansinnen von Oberbürgermeister Zundel setzten sich die Landesbehörden energisch zur Wehr. Regierungsbaudirektor Hermann Baier soll erklärt haben, man habe in den letzten 25 Jahren nicht Unsummen für das Schloss aufgewendet, damit es jetzt von der Stadt „gefressen“ werde. Auch bezweifle er, „daß die Stadt Heidelberg in der Lage“ sei, „das Schloß zu führen und zu halten.“ Im übrigen bestritten die staatlichen Stellen die Entstehung von Überschüssen. Das Heidelberger Schloss sei keineswegs eine „touristische Melkkuh des Landes Baden-Württemberg.“³ Wie von Herrn Dr. Reinhard Jussli, dem Leiter des Staatlichen Liegenschaftsamts Heidelberg, zu erfahren ist, übersteigen auch heute, trotz der Erhebung von Eintrittsgeldern für den Besuch des Schlosshofs seit April 1993, die Kosten von Unterhalt und Personal bei weitem die Einkünfte: Jahresausgaben von durchschnittlich 5 Millionen DM stünden Einnahmen von lediglich 3,5 bis 4 Millionen DM gegenüber.⁴ Das Schloss ist also ein Geschäft, wenngleich ein Verlustgeschäft, jedenfalls für das Land, während die Stadt Heidelberg und ihre Bürger aus dem Strom der Fremden, die Jahr für Jahr das Schloss besuchen, vielfältige Vorteile ziehen dürften. Gegenwärtig werden rund 1,5 Millionen Besucher jährlich gezählt, mehr als zehnmal soviel,

* Erstdruck in: Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (Hrsg.): Heidelberg – Stadt und Universität. Heidelberg 1997, S. 157–171. 1 Rhein-Neckar-Zeitung, 25. 3. 1975. 2 Heftig diskutiert: Schloß im Eigentum der Stadt. In: Ebd., 26. 3. 1975. 3 Ebd. 4 Telefonische Auskunft von Herrn Dr. Reinhard Jussli vom 12. 6. 1996. Vgl. im übrigen: Seit im Schloßhof die Kasse klingelt. In: Rhein-Neckar-Zeitung, 26. 5. 1994.

474 | V Heidelberg: Stadt und Universität wie die Stadt Einwohner hat.⁵ Man kann sich die Umsätze ausmalen, die allein der Heidelberger Gastronomie dadurch entstehen, von den Parkgebühren ganz zu schweigen. Man kann sich vorstellen, wieviel Schlossquell an heißen Tagen getrunken wird und wie oft das Schloss auf Bierkrügen, T-Shirts, Zinntellern oder bestickten Kissen in den zahlreichen Giftshops täglich über den Ladentisch wandert. Im Sommer locken die Schlossfestspiele und der „Student Prince“, und dreimal im Jahr veranstaltet die Stadt eine Schlossbeleuchtung, verbunden mit einem Feuerwerk auf der Alten Brücke. Kein Zweifel, die Stadt Heidelberg besitzt in dem ehemaligen kurfürstlichen Schloss, das ihr nicht gehört, ein Kapital, das heute vielleicht größeren Gewinn abwirft als jemals zuvor in der Geschichte. Es scheint, als ob die Ruine den Bürgern Heidelbergs in Zins und Zinseszins zurückgibt, was die Erbauer und Herren des Schlosses ihnen im 17. und 18. Jahrhundert einst abverlangt hatten. Geht man zu den Ursprüngen zurück, so erscheint es richtiger, statt von Heidelberg und seinem Schloss vom Schloss und seinem Heidelberg zu sprechen, denn das Schloss war zuerst da – als einer von mehreren befestigten Sitzen zuerst des Hochstifts Worms, dann des Pfalzgrafen bei Rhein. Dass es zuvor schon eine ältere Burg auf dem Kleinen Gaisberg gegeben hat, sei nur beiläufig erwähnt. Erst allmählich hat sich Heidelberg dann zur alleinigen Residenz der Kurfürsten von der Pfalz entwickelt. Untrügliche Anzeichen hierfür sind die Bestimmung der nach 1399 entstehenden Heiliggeistkirche zur Grablege der Kurfürsten und die Wahl Heidelbergs als Sitz der 1386 gegründeten Universität, wobei an der Tatsache, dass der Universitätsgründer Ruprecht I. selbst nicht in Heidelberg, sondern in Neustadt an der Weinstraße begraben liegt, erkennbar wird, wie langsam sich die Zentralität Heidelbergs im Kurfürstentum durchsetzte. Heidelbergs Existenz war also von Anfang an eng mit dem Schloss verbunden. Nur weil es Residenzstadt war, wurde es auch Sitz der Universität, denn die Gründung der Universität war ein politischer Akt, der das Ansehen des Hauses Wittelsbach steigern und dem Hofe kompetente theologische und juristische Berater aus dem Lehrkörper zur Verfügung stellen sollte.⁶ Es liegt auf der Hand, dass beide – Hof und Universität – für die Bürgerschaft Heidelbergs Wirtschaftsfaktoren von Gewicht darstellten. Sie bildeten ein beträchtliches Nachfragepotential und setzten ein breites Spektrum von Gewerben ins Brot. Außerdem zogen sie zahlreiche Fremde in die Stadt.

5 Telefonische Auskunft von Herrn Dr. Reinhard Jussli vom 12. 6. 1996. 6 Jürgen Miethke: Universitätsgründung an der Wende zum 15. Jahrhundert. Heidelberg im Zeitalter des Schismas und des Konziliarismus. In: Die Geschichte der Universität Heidelberg. Vorträge im Wintersemester 1985/86. Heidelberg 1986, S. 14 ff., 25 f.

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Heute ist es nicht mehr der Hof, der die Nachfrage aufrechterhält, sondern es sind die Schlosstouristen aus aller Welt, während die Universität inzwischen fast 30 000 Studenten und rund 500 Gastprofessoren an den Neckar zieht und zugleich der größte Arbeitgeber in der Stadt geworden ist. All dies sind Fernwirkungen der Entscheidung der Pfalzgrafen, das Schloss auf dem Jettenbühl am Austritt des Neckars aus dem Odenwald und damit am Schnittpunkt strategischer Verkehrswege zu ihrer Residenz auszubauen. Heidelberg und seine Bürger haben jedoch nicht nur Vorteile von der Residenz gehabt. Gleichwie sie bis 1620 am Glanz des kurfürstlichen Hofes teilnehmen konnten, so mussten sie in den folgenden 80 Jahren auch die Wirkungen des Scheiterns tragen, in das der maßlose Ehrgeiz Friedrichs V., die Misserfolge Karl Ludwigs und die Starrköpfigkeit Philipp Wilhelms das Land führten. Mehrfach wurden Stadt und Schloss belagert und eingenommen, und als die französischen Truppen während des Pfälzischen Erbfolgekriegs im Mai 1693 zum zweiten Mal vor die Stadt rückten, wurde das Schloss, in das sich viele Bürger geflüchtet hatten, noch nicht einmal verteidigt, sondern von seinem offensichtlich völlig überforderten Kommandanten Georg Eberhard von Heydersdorff kampflos übergeben. Zwei Jahre später beklagte der Dichter Georg Philipp Böheim dieses Unglück: Die Zuflucht Heidelbergs, die Hoffnung, das Vertrauen, Der Ort, auf welchem wir in Nöten wollten bauen, Wird dem Barbarenvolk mit allem eingeräumt, Ach warum hat die Rach des Himmels sich gesäumt!⁷

Nach dem Ende des Pfälzischen Erbfolgekriegs ließ Kurfürst Johann Wilhelm die Paläste in der Nordostecke der Schlossanlage wiederherstellen. Sein Nachfolger Karl Philipp nahm 1718 dort Wohnung. Er plante den Wiederaufbau auch der übrigen Teile des Schlosses. Bekannt ist das Projekt des Architekten Matteo Alberti, im heutigen Bergheimer Viertel und damit in der Ebene vor Heidelberg ein riesiges, nach damaligen Begriffen modernes Schloss zu errichten und es über eine breite Rampe von der Märzgasse an aufsteigend mit einem ebenfalls im Zeitstil geplanten neuen Westpalast auf dem Bergschloss zu verbinden.⁸ Die Pläne blie-

7 Georg Philipp Böheim: Der Heydelbergische Melibeus. Das ist: Die Beschreibung dessen, so sich in diesem Frantzösischen Kriege in der Churfürstlichen Residentz Heydelberg mit den Frantzosen von 1688 an, biß auf die Zerstörung, die in dem Majo des 1693. Jahrs geschehen, zugetragen; In einem Hirten-Gespräche fürgestellet. Heylbronn 1695, S. 48. 8 Jörg Gamer: Matteo Alberti. Oberbaudirektor des Kurfürsten Johann Wilhelm von der Pfalz, Herzog von Jülich und Berg etc. Düsseldorf 1978, S. 115 ff.; hinsichtlich der Zuschreibung des Projekts der Rampe vgl. ebd., S. 130 ff.; für die Zuschreibung der Rampe an Domenico Martinelli vgl. zuletzt Sigrid Gensichen: Das Heidelberger Schloß. Fürstliche Repräsentation in Architektur

476 | V Heidelberg: Stadt und Universität ben unausgeführt, weil Karl Philipp im Jahre 1720 beschloss, die Residenz von Heidelberg nach Mannheim zu verlegen. Grund für diesen Entschluss war der Streit mit dem Reformierten Kirchenrat über die Nutzung der Heiliggeistkirche. Die seit 1685 regierende Linie Pfalz-Neuburg war katholisch, die überwältigende Mehrheit der pfälzischen Untertanen dagegen reformiert. Der Westfälische Friede hatte das Reformationsrecht des Landesherrn abgeschafft, so dass die Neuburger Kurfürsten gezwungen waren, die abweichende Konfession ihrer Untertanen zu respektieren. Da die Kurfürsten jedoch die besondere Verbindung mit der Heiliggeistkirche nicht lösen konnten, wurde im Jahre 1706 zwischen Schiff und Chor eine Mauer errichtet und der Chor dem katholischen Gottesdienst für den Hof geweiht. Als Karl Philipp die ganze Kirche für den Hof in Anspruch nehmen wollte, lehnte der Reformierte Kirchenrat ab, obwohl der Kurfürst den Bau einer neuen Kirche für die Reformierten angeboten hatte. Der Wegzug des Hofes bedeutete einen schweren Schlag für die Heidelberger Wirtschaft. Vergeblich suchte die Bürgerschaft den Kurfürsten zur Revision seines Entschlusses zu bewegen. Schließlich bat sie ihn, „zur Abwendung ihres völligen Untergangs“ wenigstens „etwelche corpora“ – das heißt Behörden – wieder „dorthin zu versetzen.“ Daraufhin beschloss der Kurfürst im Jahre 1729, den Reformierten Kirchenrat, die Geistliche Güterverwaltung und das Ehegericht nach Heidelberg zurückzuverlegen. Prompt beschwerte sich die Bürgerschaft Mannheims in Sorge um ihre „Nahrung“.⁹ Vier Jahre später erbat die Bürgerschaft Heidelbergs auch die Verlegung des Hofgerichts in ihre Stadt: „zu conservation dortiger unterthanen und umb die angesetzten praestanda praestieren zu können“, das heißt damit die Stadt sich in Ermangelung von Arbeit nicht entvölkere und damit die Gemeinde ihre Steuerschulden begleichen könne.¹⁰ Unter der Entfernung des Hofes von Heidelberg litt auch die Universität. Die Förderung von Wissenschaft und Kunst durch den Kurfürsten Karl Theodor kam ausschließlich Mannheim zugute. 1758 gründete Karl Theodor dort eine Kunstakademie und 1763 mit Hilfe Johann Daniel Schöpflins eine Akademie der Wissenschaften. Die Hofoper stand dem städtischen Publikum offen.¹¹ Doch wenig mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Verlegung der Residenz von Heidelberg nach Mannheim zog der

und Ausstattung. In: Elmar Mittler (Hrsg.): Heidelberg. Geschichte und Gestalt. Heidelberg 1996, S. 153. 9 Generallandesarchiv Karlsruhe (im folgenden: GLA) 204/589. 10 Ebd. 11 Vgl. Volker Sellin: Süddeutschland in der Musikkultur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Musikzentren Mannheim, Stuttgart und München. In: Ulrich Prinz (Hrsg.): Zwischen Bach und Mozart. Vorträge des Europäischen Musikfestes Stuttgart 1988. Kassel 1994, S. 252, und die dort angegebene Literatur.

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Hof Karl Theodors nach München, nachdem die bayerische Kurlinie des Hauses Wittelsbach im Jahre 1777 ausgestorben war. Jetzt war es Mannheim, das in eine wirtschaftliche Krise gestürzt wurde. Ein weiteres Vierteljahrhundert später, im Herbst 1802, gab der letzte Kurfürst von der Pfalz, der ebenfalls von München aus regierende Nachfolger Karl Theodors, Maximilian Joseph, die Kernlande der Pfalzgrafschaft mit Heidelberg und Mannheim vollends auf. Im Vorgriff auf den Reichsdeputationshauptschluss von 1803 trat er die rechtsrheinische Pfalz an den Markgrafen von Baden ab, nicht ohne zuvor die von Karl Theodor in Mannheim angelegten Sammlungen nach München abtransportieren zu lassen.¹² Hatte die Residenzstadt Heidelberg also im 17. Jahrhundert die Folgen des politischen Niedergangs der Kurpfalz bis hin zu ihrer völligen Zerstörung im Jahre 1693 durch die Soldaten Ludwigs XIV. erdulden müssen, so litt sie im 18. Jahrhundert an der Vernachlässigung durch ihre eigenen Herrscher. Der Bedeutungsverlust Heidelbergs im 17., ihr Status- und Funktionsverlust im 18. Jahrhundert sind bis heute an den Überresten des Schlosses abzulesen. Selbst das ungeübte Auge erkennt sofort, dass die Schlossanlage nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt nach einem einzigen Entwurf gestaltet wurde, sondern dass sie einen Komplex von Bauten bildet, die zu ganz verschiedenen Zeiten je für sich errichtet wurden. In der Tat haben vor allem im 16. und frühen 17. Jahrhundert mehrere Kurfürsten versucht, ihrem Geltungsanspruch dadurch sichtbaren Ausdruck zu verleihen, dass sie ihre Vorgänger mit neuen und immer noch prächtigeren Palästen übertrafen. Der östlich gelegene Ludwigsbau mit seiner nüchternen und geradlinigen Architektur geht auf Ludwig V. (1508–1544) zurück, den rührigsten Bauherrn unter allen Kurfürsten, die je in Heidelberg residiert haben. Ihm verdankt das Schloss auch den Bibliotheksbau über dem westlichen Zwinger und den Frauenzimmerbau, Wohnstatt der Hofdamen, sowie die Wirtschaftsgebäude und den Soldatenbau im Südostteil. Ludwig V. verstärkte auch die Befestigungswerke der Anlage. Er baute den Nordwall und setzte den Dicken Turm davor, und zur Sicherung der Westflanke legte er den Stückgarten an, eine mächtige von zwei hohen Mauern eingefasste Bastion, auf der Geschütze (Stücke) zur Abwehr von Belagerern aufgestellt wurden. Friedrich II. ließ den Gläsernen Saalbau in der Nordostecke des Schlosses errichten. Auf Ottheinrich (1556–1559) geht der nach ihm benannte Palast zurück. Der Friedrichsbau verewigt das Gedächtnis Friedrichs IV., während Friedrich V., der im Jahre 1613 Elisabeth Stuart, die Tochter Jakobs I. von England und Schottland, geheiratet hatte, den Englischen Bau errichten ließ. Der älteste der mit seinen Mauern bis

12 Vgl. Heinrich Schlick: Die rechtsrheinische Pfalz beim Anfall an Baden. Phil. Diss. Heidelberg 1930, S. 10 ff.

478 | V Heidelberg: Stadt und Universität heute stehenden Paläste ist der Ruprechtsbau: Das Untergeschoß stammt von Ruprecht III., der als Ruprecht I. von 1400 bis 1410 zugleich deutscher König war.¹³ Die heute vorhandenen Bauten des Schlosses sind somit über einen Zeitraum von rund 220 Jahren hinweg entstanden. Heidelberg ordnet sich damit dem Typus eines Schlosses im Werden zu, wie er sich auch anderswo in Europa findet, z. B. in Blois im Tal der Loire oder in Fontainebleau. Der beschränkte Raum, der auf dem Burgberg zur Verfügung stand, zwang baulustige Herrscher von einem bestimmten Zeitpunkt an freilich dazu, ältere Bauwerke ganz oder teilweise wieder abzutragen, um für ihre neuen Paläste Platz zu schaffen. Schon der Ruprechtsbau war an der Stelle älterer, kleinerer Gebäude errichtet worden. Dasselbe gilt für den Frauenzimmerbau und den Ludwigsbau. Nur drei Jahrzehnte nach der Fertigstellung wurde der Nordflügel des Ludwigsbaus bis zum Treppenturm wieder abgerissen, um dem Ottheinrichsbau Platz zu machen, und der Gläserne Saalbau Friedrichs II. behielt seine ursprüngliche Ausdehnung und Gestalt sogar nur sieben Jahre, bis er ebenfalls zugunsten des Ottheinrichsbaus verkürzt wurde. Auch die Baulücken für den Friedrichsbau mussten erst durch Abtragung eines bestehenden Gebäudes geschaffen werden, während Friedrich V. den Englischen Bau kurzerhand vor den Nordwall Ludwigs V. setzte. Auf diese Weise vermied er die Abtragung bestehender Gebäude, nahm jedoch eine Einbuße an Sicherheit vor Beschießung für das Gebäude in Kauf.¹⁴ In der Blütezeit der Pfalz wirkten die Kurfürsten auf dem Schloss auf solche Weise gleichzeitig als Erbauer und als Zerstörer. Das Schloss stand in lebendiger Entwicklung. Diese lebendige Entwicklung endete mit dem Griff Friedrichs V. nach der böhmischen Königskrone. Nach dem Englischen Bau sind keine neuen Paläste mehr errichtet worden. Die Umbauten des nach dem Westfälischen Frieden aus dem Exil zurückkehrenden Kurfürsten Karl Ludwig blieben bescheiden. Die Macht war zerronnen, es fehlte an Geld, und so verkörperte das Schloss in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht mehr die Kraft und den Ehrgeiz der

13 Vgl. Volker Sellin: Das Heidelberger Schloß und seine Geschichte. In: Heidelberg. Das Schloß. Heidelberg 1995, S. 11 ff.; zur baulichen Entwicklung des Schlosses noch immer grundlegend: Adolf von Oechelhaeuser: Das Heidelberger Schloß. 8. Aufl., besorgt von Joachim Göricke, Heidelberg 1987; vgl. im übrigen neuerdings Sigrid Gensichen: Das Heidelberger Schloß (wie Anm. 8). 14 Vgl. Volker Sellin: Das Heidelberger Schloß und seine Geschichte (wie Anm. 13), S. 13; ders.: Heidelberg im Spannungsfeld deutsch-französischer Konflikte. Die Schloßruine und ihre Stilisierung zum nationalen Symbol im Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons. In: Friedrich Strack (Hrsg.): Heidelberg im säkularen Umbruch. Traditionsbewußtsein und Kulturpolitik um 1800. Stuttgart 1987, S. 26 f., in diesem Band, S. 489–504.

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jetzt regierenden Herrscher, sondern nur noch den Abglanz der großen Zeit ihrer Vorfahren. Doch auch das in seiner Entwicklung seit 1620 stehengebliebene Schloss brachte den Anspruch der pfälzischen Kurfürsten auf politische Eigenständigkeit sichtbar zum Ausdruck, als Symbol ihrer Machtstellung nach außen und ihrer Hoheit im Verhältnis zu ihren Untertanen. Träger dieses Anspruchs war nämlich nicht so sehr der einzelne Kurfürst, auch nicht ein unabhängig vom Herrscher zu denkender pfälzischer Staat, sondern das kurfürstliche Haus, die Dynastie. Der Pfälzische Erbfolgekrieg brach 1688 über einem Streit um dynastische Beziehungen aus, die 1671 durch die Heirat zwischen der berühmten Liselotte und dem Bruder Ludwigs XIV. geknüpft worden waren.¹⁵ Wenn Ludwig XIV. das Schloss der Kurfürsten und die zugehörige Residenzstadt in zwei Anläufen 1689 und 1693 zerstören ließ, so lag dies ganz in der Logik des dynastischen Konflikts: Der französische König suchte das Herrschaftssymbol des Feindes zu treffen. Die Zerstörung des Schlosses in Heidelberg war die symbolische Vernichtung des dynastischen Gegners, die Demonstration der Nichtigkeit des Kurfürsten vor dem Glanz des Sonnenkönigs.¹⁶ Einer solchen Demonstration konnte man nur durch eine Gegendemonstration begegnen: durch den raschen und möglichst noch prächtigeren Wiederaufbau oder aber durch die Errichtung eines ganz neuen Schlosses an anderer Stelle. Für einen Neubau in der Ebene nach dem Vorbild von Versailles sprach eine ganze Reihe von Gesichtspunkten. Dem Fortschritt der Kriegstechnik waren die Befestigungsanlagen von Burgen nicht länger gewachsen. In der Ebene aber stieß der bauliche Gestaltungswille des Fürsten nicht so schnell an räumliche Grenzen. Im Neubau konnte der Herrscher seine zeitgemäßen Vorstellungen von Pracht und Repräsentation verwirklichen, ohne in die vorhandene Bausubstanz einzugreifen. Die geschilderten Pläne des Venezianers Matteo Alberti aus den Jahren 1699 bis 1701 sahen eine Verknüpfung von Wiederherstellung des alten und Errichtung eines neuen Schlosses vor. Mit der Restauration der drei Renaissance-Paläste in der Nordostecke der Anlage – Gläserner Saalbau, Ottheinrichsbau und Friedrichsbau – wurde damals der Anfang gemacht. Der Ausbruch des Spanischen Erbfolgekriegs verzögerte die weitere Verwirklichung der Pläne, zumal Kurfürst Johann Wilhelm in Düsseldorf über eine weitere Residenz verfügte, so dass er sich Zeit

15 Vgl. Volker Sellin: Der benutzte Vermittler. Innozenz XI. und der pfälzische Erbstreit. In: Joachim Dahlhaus/Armin Kohnle (Hrsg.): Papstgeschichte und Landesgeschichte. Festschrift für Hermann Jakobs zum 65. Geburtstag. Köln 1995, S. 603, in diesem Band, S. 455–469. 16 Vgl. ders.: Heidelberg im Spannungsfeld deutsch-französischer Konflikte (wie Anm. 14), S. 27.

480 | V Heidelberg: Stadt und Universität lassen konnte. Der Streit seines Nachfolgers Karl Philipp mit dem Reformierten Kirchenrat um die Heiliggeistkirche führte dann 1720 zur Preisgabe des Projekts. Während in Mannheim eine ausgedehnte moderne Schlossanlage ohne Verbindung zu der bisherigen Residenz entstand, blieb auf dem Jettenbühl ein zur Hälfte wiederaufgebautes Schloss zurück. Durch den Wegzug des Hofes waren die wiederhergestellten Gebäude jedoch funktionslos geworden, und es gab keinen Grund mehr, auch die noch in Trümmern liegenden Teile wiederaufzubauen. Das Schloss blieb seinem Schicksal überlassen, und das Schicksal brach am 24. Juni 1764 in Gestalt eines Blitzschlags über die Burg herein: Die um 1700 wiederhergestellten Gebäude brannten aus. Jetzt dachte niemand mehr an einen Wiederaufbau, nachdem schon seit fast einem halben Jahrhundert kein Kurfürst mehr dort Wohnung genommen hatte. Der Blitzschlag von 1764 hatte lediglich besiegelt, was längst beschlossen und umgesetzt war: das Ende des Heidelberger Schlosses in seiner Funktion als Herrschaftssitz, das Ende Heidelbergs als Residenzstadt und den wirtschaftlichen und kulturellen Niedergang dieser Stadt, der durch die Einführung der Gegenreformation in der Universität seit Anfang des Jahrhunderts nur noch verstärkt wurde. Dynastischer Ehrgeiz und dynastischer Erfolg der Pfalzgrafen und Kurfürsten hatten Heidelberg im 15. und 16. Jahrhundert groß gemacht. Dynastischer Übermut, politische Erfolglosigkeit und zuletzt konfessionelle Engherzigkeit ihrer Herrscher haben Heidelberg im 17. Jahrhundert zugrundegerichtet und im 18. zur wirtschaftlichen und kulturellen Bedeutungslosigkeit verdammt. Die Heidelberger scheinen wenig darüber nachgedacht zu haben, welchen Anteil die Kurfürsten am Niedergang ihrer Stadt gehabt haben. Zwei Erklärungen bieten sich dafür an: die Ruinenromantik und die Entwicklung eines in starkem Maße antifranzösisch bestimmten Nationalgefühls der Deutschen im 19. Jahrhundert. Beide Phänomene werden gegen Ende des 18. Jahrhunderts zum ersten Mal greifbar. Der Dichter Wilhelm Heinse beschrieb am 14. Juli 1780 in einem Brief die „rührenden Trümmer des Schlosses, wie alte deutsche Größe und Herrlichkeit verwüstet daliegt“;¹⁷ und der Philologe Friedrich Creuzer berichtete am 8. April 1804 kurz nach seiner Ankunft in Heidelberg an den Juristen Friedrich Carl von Savigny: So habe ich vorgestern Abend unter einem schönen Regenbogen ganz allein vom hiesigen Schloß Besitz genommen. Bescheidentlich wie sich so etwas geziemt, denn hier fand ich das alte große Teutschland in Trümmern. Wer da nicht ergriffen wird, der muß so flach sein wie die neue Aufklärung.¹⁸ 17 Wilhelm Heinse an Betty Jacobi, Heidelberg, 14. 7. 1780. In: Ders.: Sämtliche Schriften. Hrsg. von Heinrich Laube, Bd. 9, Leipzig 1838, S. 5. 18 Friedrich Creuzer an Friedrich Carl von Savigny, Heidelberg, 8. 4. 1804. In: Hellfried Dahlmann (Hrsg.): Briefe Friedrich Creuzers an Savigny (1799–1850). Berlin 1972, S. 100.

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Für den französischen Emigranten Charles de Graimberg bezeugte die Ruine „die Größe und die Nichtigkeit der menschlichen Dinge.“¹⁹ Ganz in diesem Sinne hatte Friedrich Matthisson schon 1786 gedichtet: So vergehn des Lebens Herrlichkeiten, So entfleucht das Traumbild eitler Macht! So versinkt im schnellen Lauf der Zeiten, Was die Erde trägt, in öde Nacht!²⁰

Die Trümmer gewannen somit eine eigene Bedeutung, die das Schloss in seiner Funktion als Residenz nicht hatte haben können. Der Verlust der Residenz wurde gleichsam wettgemacht durch den Gewinn der Ruine. Ja, es fehlte im 19. Jahrhundert nicht an Stimmen, welche die Ruine für weit schöner erklärten als das Schloss es je gewesen, bis hin zu dem Urteil eines Baron von Geymüller, Architekt und Ingenieur, der im Jahre 1906 die damals diskutierte Wiederherstellung des Ottheinrichsbaus, dem Geist und der Sprache der Epoche gemäß, mit der Zurückversetzung eines Feldmarschalls auf die Rangstufe eines Leutnants verglich.²¹ Gleichzeitig mit dem Aufblühen der Ruinenseligkeit wurden die Trümmer auf dem Jettenbühl zum Angriffspunkt für Aufwallungen des nationalen Zorns gegen Frankreich. Schon um 1778, also kaum eineinhalb Jahrzehnte nach dem Brand von 1764, schrieb der Dichter Christian Friedrich Daniel Schubart: Wer von hier aus nicht einen Fluch nach Frankreich hineinschleudert, – denn Franzosen haben das Schloß verwüstet, – der kann unmöglich ein biederer Deutscher sein.²²

Wenn die Franzosen das Schloss verwüstet hatten, dann waren die Kurfürsten und auch der Himmel natürlich von aller Mitverantwortung freigesprochen. Dem Banne dieser Auffassung konnte sich nicht einmal der Franzose und Historiker Jules Michelet entziehen:

19 Charles de Graimberg: Le Guide des Voyageurs dans la Ruine de Heidelberg. Nouvelle édition. Heidelberg 1856, S. 43: „la grandeur et le néant des choses humaines“. 20 Friedrich Matthisson: Elegie, in den Ruinen eines alten Bergschlosses geschrieben. In: Michael Buselmeier (Hrsg.): Heidelberg-Lesebuch. Stadt-Bilder von 1800 bis heute. Frankfurt 1986, S. 13. 21 Heinrich Baron von Geymüller: Das Problem des Heidelberger Schlosses und seine Gefahren. Baden-Baden 1906, S. 28. 22 Christian Friedrich Daniel Schubart: Leben und Gesinnungen. Von ihm selbst im Kerker aufgesetzt. 1. Teil, Stuttgart 1791, S. 193. Die Autobiographie ist zwischen 1777 und 1779 entstanden. In Heidelberg war Schubart um 1773 gewesen.

482 | V Heidelberg: Stadt und Universität Als ich im Sommer 1828 zum ersten Mal dieses romantische Schloß von Heidelberg erblickte, ein hinreißendes Werk der Renaissance, noch immer verwüstet und zerstört, fühlte ich mich als Deutscher, und ich seufzte für mein Vaterland.²³

Der deutsche Historiker Heinrich von Treitschke, der von 1867 bis 1874 in Heidelberg lehrte, kritisierte die Schlossbeleuchtung zu Ehren des badischen Großherzogs Leopold im Jahre 1830, durch die „den Beschauern alle Schrecken der Tage Melacs leibhaftig vor die Augen“ getreten seien. Es war, als ob die Preußen eine theatralische Aufführung der Schlacht von Jena veranstalteten; in diesem staatlosen Geschlechte fand es niemand anstößig, die Erinnerung an die Schmach des Vaterlandes also zu erneuern.²⁴

Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde gegen einen Wiederaufbau des Heidelberger Schlosses unter anderem das Argument angeführt, es müsse schon deshalb im Zustand der Ruine verbleiben, weil es in dieser Gestalt als „Denkmal französischen Übermuts“ zu den „wirksamsten Anschauungsmitteln der Erziehung zum nationalen Gedanken“ gehöre.²⁵ In der Tat: Der Reiz der Ruine, die unvergleichliche Einbettung des verfallenen Gemäuers in Natur und Landschaft, wie Hölderlin und andere sie besungen haben, schließlich die Erinnerung an Deutschlands Größe und Frankreichs Wut, die das Schloss vermittelte, all dies zusammengenommen machte Heidelberg im 19. Jahrhundert zu einer der berühmtesten touristischen Sehenswürdigkeiten Deutschlands. Dabei ist es bis heute geblieben. Der Schlosstourismus ist ein wichtiger Industriezweig Heidelbergs geworden. Im Zusammenwirken der genannten Elemente hat sich die Ruine seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zu einem Bestandteil der deutschen Nationalkultur mit einem spezifischen Bedeutungsgehalt entwickelt. Die Ruine ist nicht einfach ein funktionsloser Überrest. Vielmehr ist ihr ein eigener kultureller Sinn zugewachsen. Insofern war die Zerstörung des Schlosses zugleich eine Metamorphose, eine Verwandlung in eine neue Sinngestalt. Es scheint allerdings, als ob die Bürger Heidelbergs erst von den Fremden gelernt hätten, in der Ruine etwas anderes zu erblicken als einen Trümmerhau-

23 Jules Michelet: Louis XIV. et la révocation de l’Édit de Nantes. Histoire de France, tome XIII. Paris 1863, S. 211: „lorsque, dans l’été de 1828, je vis pour la première fois ce romantique palais d’Heidelberg, oeuvre ravissante de la Renaissance, encore dévasté, ruiné, je me sentis Allemand, et je gémis pour ma patrie“. 24 Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. 4. Teil, 7. Aufl., Leipzig 1919, S. 224. 25 Anonymus in der Vossischen Zeitung, 23. 12. 1901, zit. nach D. Joseph: Der Kampf um die Heidelberger Schloßruine. Berlin 1902, S. 25 f.

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fen. Tatsächlich nutzten sie die Überreste des Schlosses in den Jahrzehnten nach dem Brand von 1764 als Steinbruch, um damit ihre Häuser und wahrscheinlich auch die Alte Brücke zu erbauen.²⁶ Die Schönheit der Ruine aber rühmten Fremde. Schubart und Hölderlin waren Schwaben, Heinse stammte aus Thüringen und Graimberg aus Frankreich. Gerade Graimberg gebührt das größte Verdienst daran, dass die Ausschlachtungen und der Vandalismus in der seit 1764 schutzlos daliegenden Ruine unterbunden wurden. Nach dem Urteil des ehemaligen Direktors des Kurpfälzischen Museums, Georg Poensgen, hatten die Zerstörungen durch die Franzosen und durch den Brand von 1764 dem Schloss „nicht entfernt so unersetzliche Verluste“ zugefügt „wie die Roheit, Habgier und Achtungslosigkeit der damaligen Eindringlinge.“²⁷ Im Jahre 1810 war Graimberg nach Heidelberg gekommen und hatte seinen Kampf um die Erhaltung der Schlossruine aufgenommen. Ein halbes Jahrhundert später, am 9. Dezember 1866, gründeten Bürger der Stadt den Heidelberger Schlossverein. Zweck des Vereins war, „die Erhaltung des Heidelberger Schlosses und die Pflege seiner landschaftlichen Umgebung zu fördern.“²⁸ Schon unter den Gründungsmitgliedern befanden sich, wie der Ausschuss des Vereins im Februar 1867 selbst an die Großherzogliche Domänendirektion berichtete, „die Spitzen der Staats- und Gemeindebehörden wie die angesehensten Mitglieder der Universität und der Bürgerschaft.“²⁹ Der Gedanke der Erhaltungswürdigkeit der Ruine hatte sich in Heidelberg durchgesetzt. Nach der Jahrhundertwende zählte der Verein weit über 500 Mitglieder, von denen etwas weniger als die Hälfte nicht zugleich Bürger Heidelbergs waren, sondern deren Wohnsitze z. T. so weit entfernt lagen wie Aachen, Berlin, Königsberg, Innsbruck, Zürich und Neapel.³⁰ Die plötzliche Wertschätzung der Überlieferung war eine Folge der Entwicklung des historischen Sinns im Zeitalter der Romantik, und die Deutung des Schlosses als Denkmal „alter deutscher Größe und Herrlichkeit“ durch Wilhelm Heinse stand am Beginn der Besinnung der deutschen Intelligenz auf die Geschichte und den Wert ihrer Nation.³¹ Der Wert der Nation wurde dabei vor allem als ein geistiger und moralischer Wert verstanden, und eben deshalb konnte

26 Marc Rosenberg (Hrsg.): Vorrede. In: Ders. (Hrsg.): Quellen zur Geschichte des Heidelberger Schlosses. Heidelberg 1882, S. 5. 27 Georg Poensgen: Das Heidelberger Schloß. Bau – Geschichte – Schicksal. In: Heidelberger Jahrbücher 18 (1974), S. 157. 28 § 1 der Satzung in der Fassung vom 18. 7. 1892: GLA 391/47685. 29 § 1 der Satzung in der Fassung vom 18. 7. 1892: Mitteilungen des Heidelberger Schloßvereins. 1. Reihe. 1866–1868. Heidelberg 1868, S. 1. 30 GLA 391/47686. 31 Wie Anm. 17.

484 | V Heidelberg: Stadt und Universität der Topos von den „barbarischen Franzosen“, wie als einer der ersten Wilhelm Heinse 1780 formulierte, so leicht Wurzeln fassen.³² Das zerstörte Schloss konnte in diesem Sinne als Symbol der kulturellen Überlegenheit der deutschen Nation über die Nachbarnation angesehen werden. Es versteht sich, dass die Ruine in dieser Umdeutung zugleich einem Prozess der Ästhetisierung unterlag. Dass das Schloss als Residenz einst vor allem eine politische Bedeutung gehabt hatte und als ein Herrschaftsinstrument errichtet worden war, blieb dagegen weithin ausgeblendet. Offenbar wurde im Zeitalter des Nationalismus die kulturelle Barbarei des Gegners als ein besonders wirkungsvolles Argument für die Gerechtigkeit der eigenen Sache angesehen. Heidelberg bildet in dieser Hinsicht keinen Einzelfall. Im Jahre 1927 erschien in Paris eine Sammlung von großformatigen Fotografien, auf denen die Beschädigungen der Kathedrale von Reims während des Ersten Weltkriegs festgehalten waren. In der Einleitung ist von der Notwendigkeit die Rede, „den künftigen Generationen eine Dokumentation dessen zu übermitteln, wozu die deutsche Barbarei sich fähig gezeigt hatte.“³³ Nach der Vernichtung der Bibliothek von Löwen durch deutsche Truppen am 25. August 1914 schrieb Romain Rolland einen offenen Brief an Gerhart Hauptmann, der am 12. September 1914 in der Frankfurter Zeitung veröffentlicht wurde. Hauptmann wurde aufgefordert, sich von diesem barbarischen und verbrecherischen Akt öffentlich zu distanzieren. Studiert man Rollands Brief genauer, so wird die geistige Tradition erkennbar, deretwegen die Zerstörung auch des Heidelberger Schlosses den Nachlebenden bei weitem schlimmer erschienen ist als die Kriege Ludwigs XIV. selbst und die unübersehbare Zahl an Opfern, die sie gefordert hatten.³⁴ Rolland schreibt: Ihr Deutschen begnügt Euch [. . . ] nicht damit, Euch an dem lebenden Belgien zu vergreifen. Ihr bekriegt auch die Toten und ihren Jahrhunderte alten Ruhm. Ihr bombardiert Mecheln, Ihr steckt Rubens in Brand! Löwen mit seinen künstlerischen und wissenschaftlichen Schätzen, das heilige Löwen ist nur noch ein Aschenhaufen!

32 Ebd. 33 Georges Charbonneaux: Introduction. In: Reims au lendemain de la guerre. Paris 1927: „Il a semblé à l’auteur de ces lignes qu’il était nécessaire de transmettre aux générations à venir un témoignage de ce que la barbarie allemande avait pu faire d’une grande cité pacifique [. . . ].“ Das preußische Kriegsministerium hielt es immerhin für notwendig, eine eigene Darstellung der Beschießung der Kathedrale durch deutsche Truppen im September 1914 zu veröffentlichen: Kriegsministerium: Die Beschießung der Kathedrale von Reims. Berlin 1915. 34 Romain Rolland: Gerhart Hauptmann und unser Krieg. In: Frankfurter Zeitung, 12. 9. 1914, Nr. 253, Erstes Morgenblatt. Vgl. zu dem Gesamtkomplex Wolfgang Schivelbusch: Die Bibliothek von Löwen. Eine Episode aus der Zeit der Weltkriege. München 1988.

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Dann fragt Rolland: „Führen Sie Krieg gegen Armeen oder gegen den menschlichen Geist?“ Die Antwort gibt er selbst mit dem Appell: „Töten Sie die Menschen, aber haben Sie Achtung vor ihren Werken!“³⁵ Die Bibliothek von Löwen war natürlich nicht die erste – und nicht die letzte –, die einem Krieg zum Opfer fiel. 44 Jahre zuvor war die Universitätsbibliothek von Straßburg, eine der wertvollsten Europas, von deutschen Granaten getroffen worden und vollständig verbrannt.³⁶ Wenige Wochen später war in der „Revue des deux mondes“ zu lesen: Die Barbarei kehrt unter uns zurück, und es ist das Volk mit den besten Schulen und der höchsten Bildung in Europa, das sie uns zurückbringt.³⁷

Der Krieg, dem die Straßburger Bibliothek zum Opfer fiel, brachte das Elsass für ein halbes Jahrhundert an Deutschland zurück, ein Ergebnis, das von der französischen Nation als tiefe Demütigung empfunden wurde. Es war dieselbe Epoche, in welcher der Kunsthistoriker Adolf von Oechelhaeuser die Ruine des Heidelberger Schlosses zum „Nationalheiligtum“ erklärte: Als Heiligtum sollte die Ruine unangetastet und in dem Zustand verbleiben, in dem sie sich befand, nicht zuletzt als „Mahnung“ und „Erinnerung an die schmachvollsten Zeiten deutscher Ohnmacht und Zerrissenheit.“³⁸ Oechelhaeusers Votum war ein Plädoyer gegen die Fortsetzung des Wiederaufbaus des Schlosses, nachdem die höchst umstrittene Restauration des Friedrichsbaus gerade abgeschlossen und nachdem andere mittelalterliche Burgen in Deutschland wiederaufgebaut worden waren – so die Marienburg in Westpreußen und die Burg Hohenzollern bei Hechingen. Mag uns das Nationalheiligtum heute auch eine fremdartige Vorstellung geworden sein: Wenn sie dazu beigetragen hat, den Verzicht auf die Fortsetzung der Restauration durchzusetzen, dann sind jedenfalls Historiker und Kunsthistoriker Oechelhaeuser zu Dank verpflichtet. Wäre das Schloss wiederaufgebaut worden, wäre unweigerlich ein Hauch von Neuschwanstein ins Neckartal eingezogen.

35 Romain Rolland: Gerhart Hauptmann und unser Krieg (wie Anm. 34). 36 Vgl. Wolfgang Schivelbusch: Die Bibliothek von Löwen (wie Anm. 34), S. 31 ff. 37 A. Mézières: L’Invasion en Alsace. In: Revue des deux mondes. Bd. 89, Paris 1870, S. 617: „La barbarie revient parmi nous, et c’est le peuple le plus instruit, le plus cultivé de l’Europe qui nous la ramène.“ Vgl. Wolfgang Schivelbusch: Die Bibliothek von Löwen (wie Anm. 34), S. 33: „die Straßburger Bibliotheksruine [. . . ] wurde für Frankreich, was die Ruine des Heidelberger Schlosses für Deutschland gewesen war: Mahnmal der Barbarei des Erbfeindes.“ 38 Adolf von Oechelhaeuser: Über die Erhaltung des Heidelberger Schlosses. In: Sechster Tag für Denkmalpflege. Bamberg, 22. und 23. 9. 1905, Sonderabdruck aus den Verhandlungen am 23. September. Karlsruhe 1905, S. 17.

486 | V Heidelberg: Stadt und Universität Im übrigen hätte mit dem nationalen Argument im Prinzip natürlich auch das Gegenteil, nämlich die Wiederherstellung des Schlosses, begründet werden können. Man erinnere sich nur der zum großen Teil nationalpolitischen Motive, welche seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts zur Vollendung des Kölner Doms geführt hatten. An der Differenz der Argumentation lässt sich ablesen, was das Spezifische in der Heidelberger Situation geworden war: Die Schlossruine Heidelberg, malerisch eingebettet in den Schoß der grünenden Berge, umwuchert vom Efeu, eingewoben in historische Erinnerungen, in die Geschichten von der treuherzigen Liselotte und dem barbarischen Melac, im kulturellen Bewusstsein der Gebildeten verankert durch die Verse Matthissons, Hölderlins und vieler anderer Dichter – sie hatte längst aufgehört, bloßes Bruchstück zu sein; vielmehr war sie in ihrer Art eine neue Vollendung geworden. Vielleicht verdankt die Stadt dem Weltruf dieser Vollendung, dass sie im letzten Krieg nicht erneut zerstört wurde – im Unterschied zu den Residenzen Mannheim und München, zu deren Gunsten sie im 18. Jahrhundert auf die Gegenwart des kurfürstlichen Hofs hatte verzichten müssen. So scheint sich am Ende für Heidelberg alles aufs beste gefügt zu haben, so dass man sich fast zu der Frage genötigt sieht, was wohl geschehen wäre, wenn die Franzosen Stadt und Schloss im Pfälzischen Erbfolgekrieg nicht zerstört hätten. Dann hätte Karl Philipp 1720 ein intaktes Schloss verlassen, und im 19. Jahrhundert hätten die von der Naturkatastrophe von 1764 zurückgelassenen Ruinen nicht zum nationalen Mahnmal gegen Frankreich erhoben werden können. So sollte man jedenfalls meinen. Aber sicher ist es nicht, denn der Heidelberger Archäologe Karl Bernhard Stark schrieb 1861 in der Historischen Zeitschrift, nicht allein jene brutale Gewalt mit ihren Pulverminen, mit ihren Brecheisen und zerstörenden Fäusten habe das Heidelberger Schloß zur Ruine gemacht, sondern in noch höherem Grade die Herrschaft der von Paris ausgehenden Anschauungsweise und Cultur des modernen Despotismus.

Dass Frankreich mit dem Schlossbau zu Versailles das Beispiel gegeben habe für Mannheim und Schwetzingen und damit für den Wegzug des Hofes in die neumodische Maßlosigkeit, begründete für Stark eine noch größere Schuld der Franzosen am Funktionsverlust Heidelbergs als ihr Zerstörungswerk von 1689 und 1693.³⁹ Und noch ein anderes Gedankenspiel sei erlaubt. Am 11. Januar 1693, also nur wenige Monate vor der Verbrennung von Stadt und Schloss Heidelberg durch

39 Karl Bernhard Stark: Das Heidelberger Schloß in seiner kunst- und culturgeschichtlichen Bedeutung. In: HZ 6 (1861), S. 93 f.

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die Franzosen, erschütterte ein gewaltiges Erdbeben den Südosten Siziliens und zerstörte zahlreiche Städte und Dörfer, darunter auch Catania und Noto. Während Catania wie Heidelberg an derselben Stelle wiederaufgebaut wurde, ordnete der Herzog von Camastra an, dass Noto verlassen und 16 km entfernt ganz neu errichtet würde. Das neue Noto wurde eine prachtvolle Barockstadt, ähnlich einheitlich in der Architektur wie das alte Heidelberg, nur üppiger und vornehmer, und nirgendwo erinnert eine Ruine an das Unglück von 1693. Ob es wohl eine Heidelberger Romantik und ein Heidelberger Nationaldenkmal gegeben hätte, wenn auch diese Stadt nicht an derselben Stelle, sondern neckarabwärts, vielleicht zwischen Ladenburg und Mannheim, ganz neu erbaut worden wäre? Die Frage zu stellen, hilft das Geheimnis der einzigartigen Wirkung Heidelbergs im Verhältnis zwischen Stadt und Schloss zu entschlüsseln: Offenbar beruht diese Wirkung gerade auf der Spannung zwischen der lebendigen Stadt und den mächtigen Trümmern, die aus ihrer Mitte heraus den Berg entlang nach oben ragen. Die Paläste des barocken Noto zerfallen heute. Im März ist die Kuppel des Doms eingestürzt. Heidelberg dagegen ist voller Leben, nicht zuletzt dank der Ruine über seinen Dächern.

Heidelberg im Spannungsfeld deutschfranzösischer Konflikte. Die Schlossruine und ihre Stilisierung zum nationalen Symbol im Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons In* den Abschnitten über seine Jugendjahre schrieb Otto von Bismarck am Ende seines Lebens in den „Gedanken und Erinnerungen“: Beim Blick auf die Landkarte ärgerte mich der französische Besitz von Straßburg, und der Besuch von Heidelberg, Speyer und der Pfalz stimmte mich rachsüchtig und kriegslustig.¹

In dieser Äußerung tritt eine Einstellung zutage, die im deutschen nationalistischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts weit verbreitet war: die Erinnerung an die Gewaltpolitik Ludwigs XIV. gegenüber dem Reich belebte die nationalen Empfindungen in antifranzösischer Richtung. Diese Einstellung findet sich auch bei Historikern. So gedachte Ludwig Häusser gleich in der Vorrede zu seiner „Geschichte der Rheinischen Pfalz“ von 1845 der „fremden Zerstörungswut, deren Werk noch jetzt mit glühendem Brandmal auf die deutsche Ehre drückt.“² Heinrich von Treitschke kritisierte die Schlossbeleuchtung zu Ehren des badischen Großherzogs Leopold im Jahre 1830, durch die „den Beschauern [. . . ] alle Schrecken der Tage Melacs leibhaftig vor die Augen“ traten. Es war, als ob die Preußen eine theatralische Aufführung der Schlacht von Jena veranstalteten; in diesem staatlosen Geschlechte fand es niemand anstößig, die Erinnerung an die Schmach des Vaterlandes also zu erneuern.³

* Erstdruck in: Friedrich Strack (Hrsg.): Heidelberg im säkularen Umbruch. Traditionsbewußtsein und Kulturpolitik um 1800, Stuttgart 1987, S. 19–34. 1 Otto von Bismarck: Die gesammelten Werke. Bd. 15, Berlin 1932, S. 6. 2 Ludwig Häusser: Geschichte der Rheinischen Pfalz nach ihren politischen, kirchlichen und literarischen Verhältnissen. Unveränderter Neudruck der Erstausgabe von 1845. Bd. 1, Heidelberg 1924, S. VII. 3 Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. 4. Teil. 7. Aufl., Leipzig 1919, S. 224. Schon die vermutlich erste Heidelberger Schlossbeleuchtung von 1807 wurde von Beobachtern als Erinnerung an Mélac empfunden; vgl. dazu Albert Becker: Die ersten Heidelberger Schloßbeleuchtungen 1807–1815–1830. In: Zs. für die Gesch. des Oberrheins 89, 1937, S. 138.

490 | V Heidelberg: Stadt und Universität Auf die Zerstörungen im Rheingebiet, speziell in der Pfalz, durch die Truppen Ludwig XIV., hob 1924 auch Hermann Oncken ab: die Pfalz habe damit „den schwersten Anteil“ daran „zu tragen gehabt“, dass seit dem 17. Jahrhundert „der französische Erbfeind überhaupt zum deutschen Schicksal geworden“ sei.⁴ Durch das Bemühen um historische Gerechtigkeit gebändigt, kommt die fortbestehende Überzeugung vom exzeptionellen Charakter der französischen Barbarei sechs Jahre später in Kurt von Raumers klassischer Untersuchung über „Die Zerstörung der Pfalz von 1689“ darin zum Ausdruck, dass das Verwüstungswerk im sogenannten Orléansschen Krieg, bzw. Pfälzischen Erbfolgekrieg, über alle rationalen Erklärungen hinaus letztlich auf die besondere „politische Mentalität der Franzosen“ zurückgeführt wird: Blutiger und grausamer ist schwerlich die Geschichte eines anderen europäischen Volkes.⁵

Im Verlaufe der ausgedehnten publizistischen Diskussion um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert über die Frage, ob das Schloss um seiner Erhaltung willen ganz oder in Teilen wieder aufgebaut werden solle, spielte der Gedanke eine wichtige Rolle, dass es schon deshalb im Zustand der Ruine belassen werden müsse, weil es in dieser Gestalt als „Denkmal französischen Übermuts“ zu den „wirksamsten Anschauungsmitteln der Erziehung zum nationalen Gedanken“ gehöre und insofern als ein „gewaltiges Warnungs- und Mahnungszeichen“⁶, „als gellender Aufruf zur Einigkeit“⁷ besonderen Schutz verdiene. Der Kunsthistoriker

4 Hermann Oncken: Verteidigung der Pfalz. Eine Rede zum Pfalztage 1924. In: Ders.: Nation und Geschichte. Reden und Aufsätze 1919–1935. Berlin 1935, S. 187. 5 Kurt von Raumer: Die Zerstörung der Pfalz von 1689 im Zusammenhang der französischen Rheinpolitik. München/Berlin 1930, S. 29. 6 Anonymus in der Vossischen Zeitung Nr. 600, 23. 12. 1901, zit. nach D. Joseph: Der Kampf um die Heidelberger Schloßruine. Berlin 1902, S. 25 f. 7 Cornelius Gurlitt: Vom Heidelberger Schloß. In: Heidelberger Tageblatt Nr. 272, 19. 11. 1901, S. 2: „Wenn erst die Restaurierung fertig ist, dann wird es Jedem, Deutschen wie Fremden, klar sein, daß all das Gerede von den Verwüstungen der Heere Ludwigs XIV. eitel Schwindel ist: Was wollt Ihr denn? Dem Schloß ist ja kein Unthätchen begegnet, kein Steinchen fehlt! Es steht ja noch da in vollendeter Erhaltung! Die Sache ist so schlimm wohl nicht gewesen: Mannheim und Heidelberg sind ja blühende Städte; nirgends eine Spur, daß es nicht gut war, das alte Deutsche Reich verfallen zu lassen! Denn nicht den Franzosen, sondern uns zur Mahnung soll die Ruine wirken, als gellender Aufruf zur Einigkeit!“ Gegen den Wiederaufbau des Schlosses wurden jedoch auch ästhetische Argumente ins Feld geführt; vgl. z. B. Heinrich Baron von Geymüller: Das Problem des Heidelberger Schlosses und seine Gefahren. Baden-Baden 1906, S. 27 f.: „Der jetzige Wunderbau ist mindestens 20 Mal schöner, als das Schloß vor seinen Zerstörungen [. . . ]. Das Resultat der Operationen, die man für das Heidelberger Schloß vorschlägt, kann mit der Zurückversetzung eines Feldmarschalls auf die Rangstufe eines Leutnants verglichen werden.“

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Adolf von Oechelhaeuser erhob die Ruine zum „Nationalheiligtum“ und meinte, es sei wahrlich kein trauriges Zeichen deutschen Micheltums [. . . ], daß wir die Spuren des orleans’schen Krieges nicht längst verwischt und die zerstörten Bauten nicht längst wiederhergestellt haben, vielmehr ein Zeichen tiefen patriotischen Verständnisses für die eindrucksvolle Sprache dieser Ruinen, für die Mahnung, die sie uns in Erinnerung an die schmachvollsten Zeiten deutscher Ohnmacht und Zerrissenheit heute noch mit flammenden Worten zurufen.⁸

Die Zeitgebundenheit solcher Urteile ist so offenkundig, dass eine Rekonstruktion ihrer Genese und eine Überprüfung ihres Wahrheitsgehalts dringend geboten erscheinen. Entsprach es der historischen Gerechtigkeit, wenn die Schlossruine zum Denkmal französischer Gewalttätigkeit und zugleich zum Warnungszeichen auch vor künftigem Machtstreben der Nachbarnation erklärt wurde? – Beginnen wir mit der Frage, wann und auf welche Weise die Verbindung zwischen den Zerstörungen durch Ludwig XIV. und dem antifranzösischen Nationalismus zuerst geknüpft wurde. Auf der Suche nach dem Zeitpunkt gelangt man unschwer in die Epoche der Französischen Revolution und Napoleons. Bekanntlich ist in dieser Zeit das moderne deutsche Nationalgefühl erwacht, und zwar wesentlich aus dem Erlebnis enttäuschter Erwartungen gegenüber den Verheißungen der Revolution und unter dem Eindruck der napoleonischen Fremdherrschaft.⁹ Die Erinnerung an frühere Aggressionen durch die benachbarte Nation lag unter diesen Umständen besonders nahe. Weniger selbstverständlich erscheint, dass Heidelberg bei dieser Verknüpfung von historischer Erinnerung und aufsteigender Nationalbewegung eine besondere Rolle spielen konnte. Die Erklärung liegt darin, dass mit der Ruine des Heidelberger Schlosses ein sichtbares Zeugnis französischer Feindseligkeit vorzuliegen schien, das in einer Epoche wachsender Sensibilität für die Geschichte des eigenen Volkes und seiner angeblichen Demütigungen nunmehr zum Symbol eines ganz neuen nationalen Selbstbehauptungswillens werden konnte.

8 Adolf von Oechelhaeuser: Über die Erhaltung des Heidelberger Schlosses. In: Sechster Tag für Denkmalpflege. Bamberg, 22. und 23. 9. 1905, Sonderabdruck aus den Verhandlungen am 23. September. Karlsruhe 1905, S. 17. Gegen diese Art der Argumentation waren längst Einwände erhoben worden; vgl. z. B. Albrecht Haupt: Zur Baugeschichte des Heidelberger Schlosses. Neue Forschungsergebnisse über die Heidelberger Renaissancebauten. Frankfurt 1902, S. 23. 9 Ein klassisches Zeugnis dieser Entwicklung bildet Joseph Görres: Resultate meiner Sendung nach Paris (1800). In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 1, Köln 1928, S. 549–608; vgl. bes. S. 588 ff.

492 | V Heidelberg: Stadt und Universität Belege für die Entstehung einer derartigen Symbolfunktion der Heidelberger Schlossruine sind schon von anderen zusammengetragen worden¹⁰. Dabei fällt auf, dass es offensichtlich in der Tat die Zerstörung des Schlosses war und nicht die Zerstörung der Stadt – oder anderer Städte wie Mannheim, Speyer oder Worms, – worüber die Gemüter sich erregten. So rühmte Schubart um 1778 an derselben Stelle das „antike Ansehen der Stadt“, an der er sich kurz darauf bezüglich der Schlossruine zu dem Ausruf verstieg: Wer von hier aus nicht einen Fluch nach Frankreich hineinschleudert, – denn Franzosen haben das Schloß verwüstet, – der kann unmöglich ein biederer Deutscher sein.¹¹

Die Entstehungszeit dieses Ausrufs erinnert daran, dass es längst vor der Französischen Revolution unter den Gebildeten Deutschlands ein Gefühl gemeinsamer nationaler Betroffenheit durch die französische Politik gab, von den kulturellen Ansprüchen des französischen Geistes ganz zu schweigen. Ein bekanntes Zeugnis für dieses Gefühl war etwa der Widerhall, den der preußische Sieg über die Franzosen bei Roßbach am 7. November 1757 im zweiten Jahr des Siebenjährigen Krieges fand.¹² So kann es auch nicht verwundern, dass der Dichter Wilhelm Heinse nur wenige Jahre nach Schubart im Gedanken an das Heidelberger Schloss die „barbarischen Franzosen“ verdammte.¹³ Den reinsten Ausdruck als nationales Symbol hat die Schlossruine vielleicht in Max von Schenkendorfs Gedicht „Auf dem Schloß zu Heidelberg“ vom Juli 1814 gefunden. Hier wird die aus „des Welschen Neid“ erklärte Zerstörung der Pfalz mit dem Gedanken der Rache und der Erneuerung Deutschlands in Verbindung gebracht:

10 Fritz Sauer: Das Heidelberger Schloß im Spiegel der Literatur. Eine Studie über die entwicklungsgeschichtlichen Phasen seiner Betrachtungsweise. Heidelberg 1910, S. 27 ff. Albert Mays (Hrsg.): Heidelberg, gefeiert von Dichtern und Denkern seit fünf Jahrhunderten. Festgabe zum Jubiläum der Universität. Heidelberg 1886. Philipp Witkop: Heidelberg und die deutsche Dichtung. Leipzig/Berlin 1916. 11 Christian Friedrich Daniel Schubart: Leben und Gesinnungen. Von ihm selbst, im Kerker aufgesetzt. 1. Teil, Stuttgart 1791, S. 193. Die Autobiographie ist zwischen 1777 und 1779 entstanden. In Heidelberg war Schubart um 1773 gewesen. 12 Theodor Schieder: Friedrich der Große. Ein Königtum der Widersprüche. Frankfurt/Berlin/ Wien 1983, S. 221. 13 Wilhelm Heinse an Betty Jacobi, Heidelberg, 14. 7. 1780. In: Ders.: Sämtliche Schriften. Hrsg. von Heinrich Laube, Bd. 9. Leipzig 1838, S. 22.

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Lange hielten drum die Wache Jene Ritter an dem Turm, Ob nicht käme Tag der Rache, Ob nicht wehte Gottes Sturm. [. . . ] Nimm denn auch auf deinem Throne, Teurer, höchster Heldenschatz, Angetan mit goldner Krone, Deutschland, wieder deinen Platz.¹⁴

Im Gedanken der Rache wird häufig die Figur der Gerechtigkeit beschworen, welche die Fassaden sowohl des Ottheinrichsbaus als auch des Friedrichsbaus ziert. „Sie ist gekommen, wenngleich spät, als Rachegöttin“, schrieb Kiesewetter 1816¹⁵, und der Heidelberger Pfarrer Dittenberger ließ 1815 die kurz vor Waterloo in Heidelberg weilenden Kaiser Alexander von Russland und Franz von Österreich durch das Schloss als ein „Denkmal alter Greueltat an die nahe Ausführung des ernsten Urteils gemahnt“ sein.¹⁶ Man sollte in diesem Zusammenhang vielleicht hervorheben, dass der Anlass für solche Aufwallungen des Nationalgefühls die gesamtdeutschen Erfahrungen des Zeitalters, nicht besondere Leiden der Stadt Heidelberg und seiner Bevölkerung in den Revolutionskriegen waren. Heidelberg wurde davon vergleichsweise wenig berührt. Die Auflösung des kurpfälzischen Territoriums nach dem Frieden von Lunéville 1801 und in Ausführung des darauf folgenden Reichsdeputationshauptschlusses 1803 war zwar ein tiefer, durch Napoleon bewirkter Eingriff in das staatliche Gefüge der Region und des ganzen Reiches; aber wie gezeigt zielten die politischen Hoffnungen, die sich im Anblick der Schlossruine regten, auf eine nationale und nicht auf eine territorialstaatliche Erneuerung. Schubart hatte längst vor diesen Ereignissen geschrieben, und er war kein Pfälzer. Schenkendorf stammte aus Tilsit. Genaugenommen liegt in der Wendung ins Nationale jedoch ein peinlicher Widerspruch. Die Burganlage zeugte nämlich von der vergangenen Größe nicht des Reiches, sondern eines Territorialfürsten und damit von der politischen Zerrissenheit und Ohnmacht des alten Deutschland. Der Nationalismus musste jedoch gerade die Beschränkung der Partikulargewalt fordern. Nicht erst die Ruine, so möchte man Oechelhaeuser entgegenhalten, bezeugt die politische Zersplitterung und Schwäche des Reiches, sondern schon die Tatsache, dass ein

14 Max von Schenkendorf : Auf dem Schloß zu Heidelberg. In: Philipp Witkop: Heidelberg (wie Anm. 10), S. 164. 15 J. G. C. Kiesewetter: Reise durch einen Theil Deutschlands, der Schweiz, Italiens und des südlichen Frankreichs nach Paris. Erinnerungen aus den denkwürdigen Jahren 1813, 1814 und 1815. Erster Theil. Berlin 1816, S. 70. 16 Fr. Dittenberger: Die Kaiser in Heidelberg. Heidelberg 1815, S. 119 f.

494 | V Heidelberg: Stadt und Universität Komplex dieses Umfangs von einem, der nicht der deutsche König war, überhaupt hatte gebaut werden können. Die bisher angeführten Zeugnisse dokumentieren die Setzung eines Symbols. Ihre Autoren haben es vermocht, dem Heidelberger Schloss und der Erinnerung an die Zerstörungen im Zuge des Pfälzischen Erbfolgekriegs (1688–1697) eine nationale Bedeutung und zwar speziell mit Bezug auf das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich zu verleihen. Dem Banne dieser Auffassungsweise konnte sich selbst der Franzose Jules Michelet nicht entziehen, als er 1828 an den Neckar kam: lorsque, dans l’été de 1828, je vis pour la première fois ce romantique palais d’Heidelberg, oeuvre ravissante de la Renaissance, encore dévasté, ruiné, je me sentis Allemand, et je gémis pour ma patrie.¹⁷

Symbole haben bestimmte Funktionen. Dass politische Bewegungen der Symbolik bedürfen, ist gerade für das Phänomen des Nationalismus evident. Nun gehört es zu den Aufgaben des Historikers, aus der Befangenheit in den Symbolen auszubrechen und ihren Mythen auf den Grund zu gehen. Im folgenden soll daher nach den Voraussetzungen für die Entstehung der nationalen und zugleich antifranzösischen Symbolik der Heidelberger Schlossruine gefragt werden. Es wird sich zeigen, dass dieser Prozess wesentlich auf einer Ausblendung bestimmter historischer Tatsachen beruhte. Voraussetzung für die Bildung des Rachemotivs war zunächst ohne Zweifel die Vorstellung, Deutschland habe in der Vergangenheit und speziell durch Ludwig XIV. schwere nationale Demütigungen erfahren. In Wirklichkeit waren die Kriege dieser Epoche jedoch nicht nationale, sondern im wesentlichen dynastische Kriege gewesen. Das kommt schon in dem traditionellen Namen des hier besonders interessierenden dieser Kriege, des „Pfälzischen Erbfolgekriegs“, zum Ausdruck. Insofern lag eine Demütigung der deutschen Nation keinesfalls in der Absicht der französischen Politik. Kontrahenten waren nicht die Nationen, sondern primär die europäischen Dynastien, allen voran Bourbon und Habsburg. Suchte man nach Einmischungen ideologischer Natur in diesem Krieg, so würde man sie am ehesten im Bereich der konfessionellen Gegensätze und der Unterschiede in den politischen Verfassungen, weit weniger dagegen im Bewusstsein nationaler Differenzen sehen können. In den Kriegen des Zeitalters ging es primär um Machterwerb, Machterhalt und Mächtegleichgewicht zwischen Staaten, die sich überwiegend aus der Klien-

17 Jules Michelet: Louis XIV. et la Révocation de l’Édit de Nantes. Histoire de France, tome XIII. Paris 1860, S. 211.

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tel und den Herrschaftsmitteln ihrer Fürsten entwickelt hatten. Einzig Holland und England folgten in Grenzen aristokratisch-oligarchischen Verfassungsprinzipien, doch kann auch hier von einer Teilhabe der Nationen selbstverständlich keine Rede sein. Dass Ludwig XIV. im Herbst 1688 den Krieg gegen das Reich eröffnete, lässt sich politisch damit erklären, dass die Türkensiege Leopolds I. und seiner Verbündeten seit 1683 eine deutliche Verschiebung des europäischen Gleichgewichts zugunsten Österreichs und zum Nachteil Frankreichs zu bewirken drohten. Kurzfristig verband Ludwig mit seinem Einmarsch außerdem die Hoffnung, dass die Türken sich trotz des Falls von Belgrad am 6. September 1688 durch diese Aktion von einem Friedensschluss mit dem Kaiser abhalten ließen.¹⁸ Schon diese Überlegung verdeutlicht, dass Ludwig hinsichtlich der Logik von Kriegführung und Diplomatie nach Maximen handelte, die sehr wahrscheinlich zum selbstverständlichen Arsenal der Politik seiner Zeit gehörten. Dass seine Aktionen gerade dem Westen des Reiches so großen Schaden zufügten, hing nun freilich ganz wesentlich auch damit zusammen, dass hier ein zentralisierter Großstaat auf ein Gebiet hochgradiger politischer Zersplitterung traf. Die Schwäche und Handlungsunfähigkeit des Reiches bildeten eine wesentliche Voraussetzung für die Erfolge der französischen Gewaltpolitik, und sie gründeten – auf anderer Ebene – letztlich in derselben Art von dynastischem Egoismus wie diese. Von daher wäre es um 1800 historisch mindestens ebenso naheliegend und vielleicht weit gerechter gewesen, die Ruine des Heidelberger Schlosses im Zeitalter der Französischen Revolution, was den Pfälzischen Erbfolgekrieg angeht, als ein Symbol für eine bestimmte Art von Politik überhaupt zu begreifen, deren Überwindung die Aufgabe der Zeit sein müsse – etwa im Sinne von Georg Forsters Kennzeichnung der Regierungsmaximen des Ancien Régime aus dem Jahre 1794: Das Geheimnis aller Staatsklugheit ist Vergrößerung; das Geheimnis aller Politik, List und Menschenverachtung.¹⁹

Die planmäßigen Zerstörungen weiter Teile der Pfalz und des Rheingebiets im Verlauf des Pfälzischen Erbfolgekriegs waren freilich selbst nach den Begriffen der Zeit ein unerhörter Vorgang, und die Forschung hat sich mit Deutungsversuchen schwergetan. Der bereits genannte Kurt von Raumer glaubte mit Erwägungen militärstrategischen und politischen Kalküls nicht auszukommen und griff daher wenigstens hilfsweise zusätzlich nicht nur auf den angeblichen französischen Na-

18 John B. Wolf : Louis XIV. New York 1968, S. 443 f. 19 Georg Forster: Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit (1793). In: Ders.: Werke. Hrsg. von Gerhard Steiner, Bd. 3. Frankfurt 1970, S. 717.

496 | V Heidelberg: Stadt und Universität tionalcharakter, sondern auch auf die anthropologische Dimension eines „Zerstörungsgeistes als solchen“ zurück.²⁰ Die von Raumer angeführten konkreten Motive in Verbindung mit der von ihm weniger bedachten Tatsache, dass Ludwig gesamtpolitisch in die Defensive geraten und daher auf langfristige Sicherung seiner Grenzen angewiesen war, bedeuteten in Wahrheit jedoch lediglich eine quantitative Steigerung und Radikalisierung der bisher schon angewandten politischen Grundsätze – ganz im Sinne von Georg Forsters Wort – und verlangen daher nicht nach zusätzlichen Erklärungen aus irrationalen Antrieben. Die Verwüstung weiter Gebiete im Vorfeld des französischen Festungsgürtels sollte dort die Möglichkeiten der Subsistenz für Armeen auf lange Zeit hinaus so einschränken, dass Angriffsoperationen gegen Frankreich nachhaltig erschwert würden. Das ist in der Tat ein Werk der „Menschenverachtung“, aber bleibt zugleich eine Aktion aus politischem Kalkül.²¹ Angesichts der Tatsache, dass sich die nationale Empörung des 19. Jahrhunderts, wie gezeigt, auf die Ruinen des Schlosses konzentrierte, wäre schließlich zu überlegen, ob die Zerstörung gerade des Herrschaftssitzes des Gegners als eine symbolische Handlung nicht in der Konsequenz eines dynastischen Krieges lag. Die Baugeschichte des Heidelberger Schlosses, vor allem im 16. und frühen 17. Jahrhundert, zeigt, dass damals nahezu jeder Kurfürst seinen Geltungsanspruch dadurch zu unterstreichen suchte, dass er Umbauten vornehmen, wenn nicht gar einen neuen Palast aufrichten ließ, nicht selten unter Niederreißung

20 Raumer: Die Zerstörung der Pfalz (wie Anm. 5), S. 29, 104. 21 Kurt von Raumer: Die Zerstörung der Pfalz (wie Anm. 5), S. 80 ff., unterscheidet in der älteren Forschung vier Versuche zur Erklärung der Zerstörung, die sich nicht ausschließen, sondern wechselseitig ergänzen: die Bereicherungstheorie, die Ausbeutungstheorie, die Einschüchterungstheorie und die Glacis-Theorie. Ausdruck des Glacis-Plans ist ein Schreiben von Louvois an La Grange vom 17. 11. 1688, in dem er von der Absicht berichtet, Mannheim zu zerstören. In: Henri Griffet (Hrsg): Recueil de Lettres pour servir d’éclaircissement à l’Histoire militaire du Règne de Louis XIV, tome V, La Haye 1763, S. 161 f.: „Je vois le Roi assez disposé à faire raser entiérement la ville et la citadelle de Manheim, et en ce cas, d’en faire détruire entierement les habitations, de maniere qu’il n’y reste pas pierre sur pierre, qui puisse tenter un Electeur, auquel on pourroit rendre ce terrein pendant une paix, d’y faire un nouvel établissement.“ Das Einschüchterungsmotiv und sein politischer Zweck sprechen aus einem Schreiben Ludwigs XIV. an den Marschall de Lorge vom 29. 5. 1693, ebd., tome VIII, 1764, S. 213, 218 f. Der König meint zunächst, die überraschende Einnahme Heidelbergs werde nicht verfehlt haben „de porter la terreur dans tout le pays du voisinage [. . . ] et peut-être même jusques dans l’armée ennemie“. Später heißt es dann, wenn auch Heilbronn wie zuvor Heidelberg eingenommen sei, könnte es sehr wohl dahin kommen, dass der Schwäbische Kreis und besonders die Stände des Herzogtums Württemberg, „pour se délivrer de l’oppression et de la ruine entiere dont il seroient sur le point d’être accablés, songeroient à s’accomoder avec moi, en demandant la neutralité“.

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bereits bestehender Bauten. Dem Ottheinrichsbau zum Beispiel mussten ein erheblicher Teil des erst sieben Jahre zuvor fertiggestellten sogenannten Gläsernen Saalbaus Friedrichs II. sowie die Nordhälfte des Ludwigsbaus von 1524 wieder weichen.²² Die Baulücke für den Friedrichsbau musste erst durch Abtragung eines bestehenden Gebäudes geschaffen werden, das möglicherweise selbst erst kurz zuvor an die Stelle eines älteren Baus getreten war.²³ Daran zeigt sich, dass das Schloss gerade in der Blütezeit des pfälzischen Territorialstaats keineswegs bloß als Wohnung der Kurfürsten diente; vielmehr bildete es zugleich und vor allem ein in steter Entwicklung befindliches Symbol für ihren politischen Willen und für die Selbsteinschätzung ihres politischen Gewichts im Reich und in Europa. Dass die französischen Truppen diesem dynastischen Anspruch durch die Verwüstung Heidelbergs und seines Schlosses sichtbare Grenzen gesetzt hatten, war ohne Zweifel der eigentliche Grund für das Gefühl des Triumphes, in dem sich Ludwig XIV. nach vollbrachter Tat erging, und nicht etwa eine triebhafte Zerstörungslust oder Schadenfreude.²⁴ Eine weitere wesentliche Voraussetzung dafür, dass das Schloss zum nationalen Symbol werden konnte, lag selbstverständlich darin, dass die Dichter des Sturm und Drang und der Romantik es als Ruine vorfanden. Wie gezeigt, haben weder Schubart noch Schenkendorf einen Gedanken darauf verschwendet, dass auch Heidelberg mit seinem „modernen“ Erscheinungsbild für denjenigen, der zu sehen verstand, ein klares Zeugnis der ehemaligen Zerstörung darbot. Auf die Anziehungskraft der Ruine als solcher für die Dichtung der Zeit sei nur im Vorübergehen hingewiesen. Die Hymne in Prosa des Malers Friedrich Müller von 1776 wäre hier zu nennen²⁵; aber auch Wilhelm Heinse zeigte sich 1780 von dem Gedanken der Vergänglichkeit überhaupt ergriffen, und so überließ er sich dem Anblick der grün überwachsenen Gemäuer, „wo die lebendige Natur [. . . ] von der Kunst

22 Adolf von Oechelhaeuser: Das Heidelberger Schloß. 7. Aufl., neubearbeitet und ergänzt von Emil Hartmann und Aloys Wannemacher. Heidelberg 1955, S. 54. Georg Poensgen: Das Heidelberger Schloß. Bau – Geschichte – Schicksal. In: Heidelberger Jahrbücher 18, 1974, S. 143 f. 23 Adolf von Oechelhaeuser: Das Heidelberger Schloß (wie Anm. 22), S. 63. 24 Ludwig XIV. an Marschall de Lorge, 29. 5. 1693 (wie Anm. 21), S. 212: „Je vous assure que ce premier succès de mes armes dans l’Empire, au commencement d’une campagne aussi importante que celle-ci, m’a fait un fort grand plaisir, et je ne sçaurois assez vous témoigner le gré et la satisfaction que j’ai de la bonne conduite que vous avez tenue en cette occasion.“ Ludwigs häufig abgebildete Gedenkmünze auf die Zerstörung Heidelbergs mit der von Boileau vorgeschlagenen Aufschrift „Heidelberga deleta“ ist beschrieben bei Karl Zangemeister: Ansichten des Heidelberger Schlosses bis 1764. In: Mitteilungen zur Geschichte des Heidelberger Schlosses 1. 1886, Nr. 149, S. 136 f. 25 Maler Müller: Das Heidelberger Schloß. In: Philipp Witkop: Heidelberg (wie Anm.10), S. 41 ff.

498 | V Heidelberg: Stadt und Universität wieder Besitz genommen hat.“²⁶ Vermutlich war es gerade der Kontrast zwischen der Größe und Pracht des Schlosses und seinem Verfall, der überhaupt erst zum Nachdenken anregte. Heinse betrachtete „die rührenden Trümmer des Schlosses; wie alte Deutsche Größe und Herrlichkeit verwüstet daliegt“²⁷; und Friedrich Creuzer berichtete kurz nach seiner Ankunft in Heidelberg an Savigny: So habe ich vorgestern Abend unter einem schönen Regenbogen ganz allein vom hiesigen Schloß Besitz genommen. Bescheidentlich, wie sich so etwas geziemt, denn hier fand ich das alte große Teutschland in Trümmern. Wer da nicht ergriffen wird, der muß so flach sein wie die neue Aufklärung.²⁸

Da das Schloss seine Symbolfunktion nur als Ruine erfüllen konnte, stellt sich die Frage, warum es nach den Zerstörungen von 1689 und 1693 nicht wie Heidelberg, Mannheim und andere Städte längst wieder aufgebaut worden war. Bei näherem Zusehen zeigt sich sehr bald, dass es in Abweichung von den eingangs zitierten Vorstellungen auch nach dem Orléansschen Krieg sowohl eine Baugeschichte als auch eine Zerstörungsgeschichte aufweist. Da die Kurpfalz als Territorium den Frieden von Rijswijk von 1697 überdauerte, stellte sich naturgemäß auch sofort die Frage, wo ihre Beherrscher residieren sollten. Da die Pfalz seit dem Übergang an die neuburgische Linie 1685 in Personalunion mit der Pfalzgrafschaft Neuburg und den Herzogtümern Berg und Jülich verbunden war, hätte der Regierungssitz unschwer an einen anderen Ort verlegt werden können. Johann Wilhelm (1690–1716) regierte bis zu seinem Ende in der Tat überwiegend von Düsseldorf aus, aber er hatte durchaus geplant, seine Residenz in Heidelberg zu nehmen. In dieser Absicht erwog er im Jahre 1697 zunächst den Neubau eines Schlosses außerhalb der Vorstadt nach Plänen des venezianischen Architekten Graf Matteo Alberti. Dabei sollte das alte Schloss nicht wieder aufgebaut werden. Der Kurfürst ließ sogar prüfen, ob Fenstergestelle und Quadersteine aus den Ruinen ausgebrochen und für den Neubau verwendet werden könnten²⁹. Eine Schlossanlage in der Ebene entsprach nicht nur dem Geschmack und den Anschauungen einer neuen Zeit, sondern die Verwendung von Bauteilen oder wenigstens Einzelstücken eines bestehenden Gebäudes ist wiederum auch als ein Beispiel für die bereits geschil-

26 Wilhelm Heinse an Jacobi, Heidelberg, 14. 7. 1780 (wie Anm. 13), S. 5. 27 Ebd. 28 Friedrich Creuzer an Friedrich Carl von Savigny, Heidelberg, 8. 4. 1804. In: Hellfried Dahlmann (Hrsg.): Briefe Friedrich Creuzers an Savigny (1799–1850). Berlin 1972, S. 100. 29 Jörg Gamer: Matteo Alberti. Oberbaudirektor des Kurfürsten Johann Wilhelm von der Pfalz, Herzogs von Jülich und Berg etc. Düsseldorf 1978, S. 125; zur Datierung vgl. ebd., S. 138. Den Hinweis auf Gamer, auf den ich mich auch für die weitere Darstellung der Baupläne Johann Wilhelms stütze, verdanke ich Peter Anselm Riedl, Heidelberg.

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derte Praxis mancher Fürsten zu begreifen, im Interesse der politischen Selbstdarstellung das Erbe der Väter, falls nötig, ohne Bedenken beiseite zu schieben und durch eigene Bauten zu ersetzen. Aussichten auf die armenische Königswürde ließen Johann Wilhelm den ersten Plan Albertis indessen schon nach zwei Jahren zu bescheiden erscheinen. So entwarf der Venezianer zwischen 1699 und 1701 eine zweite, weit größere Schlossanlage im Bereich der heutigen Weststadt Heidelbergs. Zugleich entschloss sich der Kurfürst nun doch zum Wiederaufbau des Schlosses auf dem Jettenbühl: bis 1701 wurde die Nordostecke mit Friedrichsbau, Gläsernem Saalbau und Ottheinrichsbau wiederhergestellt. Dahinter stand vielleicht die Überlegung, dass die Errichtung der gewaltigen Schlossanlage westlich der Stadt einen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen würde, so dass eine Zwischenlösung am alten Standort für die Aufenthalte des Kurfürsten in der rheinischen Pfalz zweckmäßig erschienen sein mag. Die weitere Planung sah den Abriss der im Westen gelegenen Ruinen des Ruprechts- und Frauenzimmerbaus und die Auffüllung des dortigen Burggrabens vor. Auf dem so gewonnenen Terrain unter Einschluss des Stückgartens sollte sodann ein neuer Palast im barocken Stil errichtet und durch eine breite künstliche Fahrstraße von der Gegend um die Märzgasse her nach dem Geschmack der Zeit in prachtvoller Manier über eine Rampe bequem zugänglich gemacht und mit dem neuen Schloss in der Ebene verbunden werden³⁰. Wären diese Pläne damals verwirklicht worden, so hätte man nur wenige Jahre nach dem Ende des Orléansschen Krieges auf dem Jettenbühl keine zerstörten Paläste mehr gesehen. Das Schloss hätte in Verbindung von Wiederherstellung und aus den jeweiligen Zeitbedürfnissen herrührender Neubildung den Prozess des dynamischen Wandels wieder aufgenommen, wie er bis zum Dreißigjährigen Kriege, ja in geringerem Maße auch noch unter Karl Ludwig und Karl, mit dem die Linie Pfalz-Simmern 1685 im Mannesstamm erlosch, zur selbstverständlichen Bau- und Machtgeschichte dieses Herrschaftsmittels gehört hatte. Als im Jahre 1701 mit dem Spanischen Erbfolgekrieg ein neuer europäischer Konflikt ausbrach, musste Johann Wilhelm die Pläne für die Neubauten jedoch zurückstellen.³¹ Er konnte sich mit dieser Verschiebung allerdings umso leichter abfinden, als er in den anderen Territorien des pfalz-neuburgischen Hauses über Ausweichmöglichkeiten gebot, die der Simmerschen Linie nicht zur Verfügung gestanden hatten. Die Erneuerung des Westteils des Schlosses und erst recht der Bau der neuen Anlage in der Ebene waren daher durchaus nicht eilbedürftig, und eben dies war ein Faktor, der sich auf längere Sicht zum Nachteil Heidelbergs

30 Ebd., S. 122 f., 125 f., 127 ff., 138. 31 Ebd., S. 128, 138.

500 | V Heidelberg: Stadt und Universität auswirken sollte. Jetzt waren es die Erfolge der dynastischen Politik der Vergangenheit – in diesem Falle der Heiratspolitik, – welche die vollständige Beseitigung der Kriegsschäden auf dem Schloss zu verzögern halfen. Der Nachfolger Johann Wilhelms, Karl Philipp (1716–1742), nahm 1718 in den wiederhergestellten Gebäuden im nördlichen und östlichen Flügel des Schlosses Wohnung. Die Gründe dafür, dass jedoch auch er die Pläne seines Vorgängers nicht wenigstens für das Bergschloss verwirklichte, sind bekannt. Im Jahre 1720 verlegte er die Residenz vor allem wegen der konfessionspolitischen Auseinandersetzungen nach Mannheim. Angesichts des Widerstands des reformierten Kirchenrats und des Einschreitens des Corpus Evangelicorum und der protestantischen Mächte hatte der katholische Kurfürst sein Ziel aufgeben müssen, für die Katholiken über den Chor hinaus unter Niederlegung der zu Zeiten seines Vorgängers errichteten Trennmauer auch das Schiff der Heiliggeistkirche zu gewinnen.³² Dass der Bau einer ausgedehnten Schlossanlage in der Ebene, wie er nun in Mannheim in Angriff genommen wurde, im übrigen weit mehr dem fürstlichen Selbstverständnis und Repräsentationsbedürfnis der Zeit entsprach, ist bei der Schilderung der Pläne Johann Wilhelms bereits betont worden. Im übrigen waren die Gesichtspunkte der Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit, die ursprünglich zur Wahl des Standorts der Burg auf dem Jettenbühl geführt hatten, durch die Fortschritte der Militärtechnik längst überholt; das hatte gerade die Geschichte der Zerstörung des Schlosses gezeigt. Während also Karl Philipp über Schwetzingen nach Mannheim übersiedelte, wo gleichzeitig eine großartige neue Schlossanlage entstand, blieb in Heidelberg ein Komplex von nutzbaren Gebäuden und Palästen auf der einen, von Ruinen auf der anderen Seite zurück. Dieser Zustand war wenigstens ebensosehr ein Zeugnis steckengebliebener Planungen wie französischer „Zerstörungswut“. Als dann im Jahre 1742 Karl Theodor die Regierung antrat, sah auch er offensichtlich keinen Grund, aus der modernen und damals noch nicht einmal fertiggestellten Residenz in Mannheim nach Heidelberg zurückzukehren. Erst als er bei einem Besuch im Frühjahr 1764 die Schönheiten des Heidelberger Schlosses entdeckte, fasste er den Gedanken, es als eine Art Sommerresidenz für seine Bedürfnisse einrichten zu lassen. Diese Absicht wurde am 24. Juni desselben Jahres durch ein Naturereignis zunichtegemacht: ein Blitz schlug in den Neuen Hof (Gläserner Saalbau) und setzte die Bauten in der Nordostecke in Brand. Friedrichsbau, Gläserner Saalbau, Glockenturm, Ottheinrichsbau, Ludwigsbau und Bibliotheksturm

32 Hans Schmidt: Kurfürst Karl Philipp von der Pfalz als Reichsfürst. Mannheim 1963, S. 125 ff.

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(Apothekerturm) brannten aus³³. „Jetzt erst war das Schloß zur völligen Ruine geworden.“³⁴ Eine Wiederherstellung nach dieser Zerstörung durch die Natur aber lag weit weniger nahe als nach der Zerstörung durch die Franzosen siebzig Jahre zuvor, weil eine neue Residenz in der Pfalz nicht benötigt wurde und ein Wiederaufbau zum Zwecke des bloßen Sommeraufenthalts des Kurfürsten sich nicht lohnte. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatte es zunächst so ausgesehen, als könne die Verwüstung des Schlosses durch die Franzosen gleichsam in den Prozess der „schöpferischen Zerstörung“ einbezogen werden, der seine Baugeschichte in früheren Epochen charakterisiert hatte.³⁵ Dass dies nicht gelang, hat seine Ursache letztlich darin, dass das Schloss seine Funktion an die Residenz in Mannheim verloren hatte. An diesem Funktionsverlust tragen jedoch nicht auch die Franzosen die Schuld, obgleich es im 19. Jahrhundert Versuche gegeben hat, diese Nation ausdrücklich nicht nur wegen des buchstäblichen Vernichtungswerks im Orléansschen Krieg, sondern darüberhinaus auch noch als Urheber der neuen Schlossbauideen für die Zerstörung der alten kurpfälzischen Residenz verantwortlich zu machen.³⁶ Ein Blick auf die Baugeschichten anderer Staaten und Territorien des Barockzeitalters lässt es denkbar erscheinen, dass die Pfälzer Kurfürsten ihre Residenz auch verlegt hätten, wenn das Heidelberger Schloss nicht zerstört worden wäre. Statt einer Ruine hätte die Generation um 1800 dann ein intaktes, aber funktionslos gewordenes Gehäuse vergangener Herrlichkeit vor sich gesehen. Kaum fünfzehn Jahre nach dem Brand von 1764 schleuderte Schubart seinen Fluch nach Frankreich hinein und offenbarte damit einen erstaunlichen Mangel an Erinnerungsvermögen. Zugleich schien er zu übersehen, dass die Zerstörung des Schlosses unterdessen weiter voranschritt. Abgesehen vom Friedrichsbau, der wegen der darunterliegenden Kapelle, und vom ehemaligen Frauenzimmerbau (jetzt Bandhaus), der wegen der darunter liegenden Weinkeller alsbald wieder ein

33 Eine nach Einzelgebäuden gegliederte Bau- und Zerstörungsgeschichte des Schlosses findet sich in Johann Metzger: Beschreibung des Heidelberger Schlosses und Gartens. Heidelberg 1829. 34 Karl Lohmeyer: Geplante Umbauten und Verlegungen des Heidelberger Schlosses in der Barockzeit. In: Mitteilungen zur Geschichte des Heidelberger Schlosses 6, 1912, S. 19. 35 Den Ausdruck prägte in ganz anderem Zusammenhang Joseph A. Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. 3. Aufl. München 1972, S. 134. 36 Karl Bernhard Stark: Das Heidelberger Schloß in seiner kunst- und culturgeschichtlichen Bedeutung. In: HZ 6, 1861, S. 93 f. Wiederabgedruckt als Einleitung zu Marc Rosenberg (Hrsg.): Quellen zur Geschichte des Heidelberger Schlosses. Heidelberg 1882.

502 | V Heidelberg: Stadt und Universität Dach erhielt, blieben die Ruinen schutzlos der Witterung ausgeliefert.³⁷ Außerdem aber standen die Gemäuer von nun an den willkürlichen Beschädigungen durch das Publikum offen. Teils wurden sie als bequeme Fundgrube für Baumaterial ausgeschlachtet, teils tobte sich sinnlose Zerstörungslust an Plastiken und anderen Gebäudeteilen aus. Nach dem Urteil Georg Poensgens hatten die Zerstörungen durch die Franzosen und durch die Naturkatastrophe von 1764 dem Schloss „nicht entfernt so unersetzliche Verluste“ zugefügt „wie die Roheit, Habgier und Achtungslosigkeit der damaligen Eindringlinge.“³⁸ Der jahrelange Kampf des Grafen Graimberg mit den badischen Behörden um den Schutz der Ruine vor weiteren Beschädigungen, den er seit seiner Ankunft in Heidelberg 1810 führte, ist ein Symptom dafür, wie lange es dauerte, bis sich der Sinn für ihre Erhaltungswürdigkeit entwickelte.³⁹ Nun brauchten die Deutung der Ruine als nationales Mahnmal und das Bestreben, sie zu bewahren, keineswegs Hand in Hand zu gehen. Umgekehrt konnte das Interesse an ihrer Unterhaltung andere als nationalpolitische Motive haben, und gerade der französische Emigrant Graimberg verfolgte mit Sicherheit nicht die Absicht, den Zorn der Deutschen auf das Land seiner Herkunft anzufachen. Für ihn hatte sich das Schloss – seit der Übersiedelung Karl Theodors nach München 1778 vollends sich selbst überlassen – allmählich in „une espèce de rocher immense“ verwandelt, „qui n’atteste plus que la grandeur et le néant des choses humaines“; er trat dafür ein, dass es ein „asile de méditations, de pensées, de souvenirs, ainsi qu’un sanctuaire inépuisable d’inspirations pour les yeux et pour l’imagination“ werde.⁴⁰ Unter den Äußerungen von Angehörigen der Generation um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert über die Ruine des Heidelberger Schlosses verrät nur eine Minderheit nationalpolitisches Engagement. Gerade die berühmtesten Dichtungen, die ihr gewidmet sind, angefangen von Matthissons „Elegie, in den Ruinen eines alten Bergschlosses geschrieben“ über Hölderlins „Heidelberg“ bis hin zu

37 Johann Metzger: Beschreibung des Heidelberger Schlosses (wie Anm. 33), S. 23. Adolf von Oechelhaeuser: Das Heidelberger Schloß (wie Anm. 22.), S. 43, 64. 38 Georg Poensgen: Das Heidelberger Schloß (wie Anm. 22), S. 157. 39 Zu Graimberg vgl. Emil J. Vierneisel: Charles de Graimberg und das Heidelberger Schloß. Zum 100. Todestag des Grafen Karl von Graimberg. In: Ruperto Carola. Jg. 16, Bd. 36, Dez. 1964, S. 65–78. An älterer Literatur sind zu nennen: Alfred Starck: Graf Charles de Graimberg. Sein Leben und Wirken in Heidelberg. In: Mitteilungen zur Geschichte des Heidelberger Schlosses 4, 1899, S. 1–32; Karl Lohmeyer: Heidelberger Maler der Romantik. Heidelberg 1935, S. 311–318. 40 Charles de Graimberg: Le Guide des Voyageurs dans la Ruine de Heidelberg. Nouvelle édition. Heidelberg 1856, S. 43 f.

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Eichendorffs Versen in „Robert und Guiskard“, sind ganz frei davon.⁴¹ Selbst der wiederholt ausgesprochene Gedanke, dass die Ruinen den Verlust alter deutscher Größe ins Gedächtnis rufe, trägt jedenfalls keinen antifranzösischen Akzent; und die Betrachtung eines Sulpiz Boisserée, dass die Zerstörung durch die Franzosen „an das Los aller“ erinnere, „die in Übermut und Üppigkeit sich und den Herren verwahrlost“, folgt zwar der historisch verkürzenden Schuldzuweisung an die Nachbarnation, aber sie zieht aus dem Vorgang eine allgemein menschliche Moral⁴². Dass der Symbolcharakter der Schlossruine letztlich vieldeutig blieb, lag schon deshalb nahe, weil es entscheidend vom Wandel der geistigen wie der politischen Entwicklungen abhing, in welchem Lichte sie gesehen wurde. In der Epoche Napoleons stand die deutsche Nationalbewegung noch in den Anfängen. Das Erlebnis der napoleonischen Fremdherrschaft trieb ihre Entwicklung ebensosehr voran, wie es zugleich ihre antifranzösischen Elemente verstärkte. Abgesehen von der Orientkrise von 1840 sollten im weiteren Verlauf des Jahrhunderts erst wieder der Krieg von 1870/71 und die Umstände der Reichsgründung zu einer verbreiteten Aufwallung von frankreichfeindlichen Gefühlen in Deutschland führen. Sie beeinflussten die zitierten Beiträge in der Diskussion um den Plan eines Wiederaufbaus des Schlosses seit den achtziger Jahren.⁴³ Nach den beiden Weltkriegen und den Zerstörungen, die sie angerichtet haben, mag die Neigung gering geworden sein, andere Nationen für Taten anzuklagen, die ihre Repräsentanten in der Vergangenheit vollbracht haben. So scheinen die Voraussetzungen günstig, am Beispiel der Geschichte des Heidelberger Schlosses ein Doppeltes zu studieren: die Komplexität des historischen Geschehens auf der einen Seite und die menschliche Neigung zu seiner Vereinfachung aus Interesse oder aus ideologischem Bedürfnis auf der anderen Seite. Wie sich gezeigt hat, gehört die zweimalige Einäscherung des Schlosses 1689 und 1693 durch französische Truppen zunächst in einen bestimmten wechselseitigen Zusammenhang von Politik, Krieg und Zerstörung in einem ganzen Zeitalter. Die planmäßige Verwüstung weiter Landstriche im Rheingebiet durch die Soldaten des Sonnenkönigs bleibt ein denkwürdiger Gipfel einer Rationalität der Vernichtung. Die Zer-

41 Die Texte sind gesammelt bei Mays: Heidelberg (wie Anm. 10), S. 27–31, 50–53; und bei Witkop: Heidelberg (wie Anm. 10), S. 46–48, 82 f., 134. 42 Sulpiz Boisserée: Tagebücher. Bd. 1 (1808–1823). Darmstadt 1978, S. 50. 43 Ein Beispiel für die Verknüpfung des Kriegserlebnisses von 1870 mit dem Gedanken an die Heidelberger Schlossruine bildet der Artikel von Gurlitt: Vom Heidelberger Schloß (wie Anm. 7): „Mächtig wirken die geschichtlichen Erinnerungen. Da lag das Schloß, das der Feind dort drüben zerstört hatte, der Feind, dessen Kanonen die Brücke von Kehl bestrichen, der im Elsaß herrschte.“

504 | V Heidelberg: Stadt und Universität störung Heidelbergs und seiner Burg war darüber hinaus jedoch womöglich Ausdruck einer ganz anderen Rationalität, und dass das Schloss 100 Jahre später als Ruine über der Stadt emporragte, war das Ergebnis eines ganzen Bündels von Faktoren und nicht die unmittelbare Folge der französischen Brandstiftung. Zwischen dem Pfälzischen Erbfolgekrieg und dem Besuch Schubarts in Heidelberg lagen eine Periode steckengebliebener Erneuerung und vor allem die Entscheidung von 1720 zur Verlegung der Residenz, durch die das Schloss mit einem Schlage seine Funktion und damit zugleich jegliche Aussicht auf einen vollständigen Wiederaufbau verlor. Nur aus diesem Grunde konnte die Naturkatastrophe von 1764 das Schicksal des Schlosses besiegeln. Die Ursache dafür, dass der Komplex sich von nun an als Ruine darbot, erfasst nur unvollständig, wer nur nach menschlichen Urhebern der Zerstörung forscht, ganz abgesehen von der fragwürdigen Identifikation von Entscheidungen fürstlicher Kabinettspolitik am Ausgang des 17. Jahrhunderts mit einem angeblichen, die Zeiten überdauernden Gesamtwillen einer ganzen Nation. Die nationalpolitische Symbolik ist eine Erfindung der Zeitgenossen Napoleons. Die anschauliche Gegenwart des Gemäuers und die historische Erinnerung an die Kriege Ludwigs XIV. sicherten ihr den notwendigen Bezug zur Wirklichkeit, ohne den sie keine Überzeugungskraft hätte gewinnen können. Es bleibt dennoch rätselhaft, dass schon wenige Jahre nach dem Brand von 1764 und lange vor der Auflösung des kurpfälzischen Staatswesens, das sich seinen glanzvollen Mittelpunkt nach dem Muster anderer Staaten der Epoche gewiss nicht aus Verlegenheit in einer Residenz wie Mannheim geschaffen hatte, diese anderen Elemente der Wirklichkeit so weitgehend ausgeblendet werden konnten. Dass sich unter den verschiedenen denkbaren politischen Symbolgehalten der mächtigen Ruine allein der antifranzösische entwickelte, liegt schließlich in größeren historischen Zusammenhängen beschlossen.

The History of Heidelberg University The* University of Heidelberg is the oldest university in present day Germany and the third university which came into being within the Holy Roman Empire of the German Nation. It was founded in 1386, only 38 years after Prague and 21 years after Vienna. These first German universities are considerably younger than the oldest universities of southern and western Europe, such as Bologna, Paris, Oxford, Montpellier and Salerno. They also differ from these in that they owe their existence to a deliberate act of founding, whereas the older universities had evolved gradually, taking on their full function as universities in a long, drawn-out process. If an act of founding marks the beginning of an institution we are invited to ask who was the founder and which were his purposes. In most cases the founders of universities were rulers. In the case of Heidelberg it was the count Palatine whose residence was Heidelberg castle. This explains why the city of Heidelberg was chosen to become the site of the new university. The count Palatine was one of the foremost Princes of the Empire which is shown by the fact that he possessed the dignity of an Elector of the German king, the Holy Roman Empire being an elective, not a hereditary monarchy. It appears natural that in an elective monarchy the leading aristocratic families or dynasties would compete for the royal dignity and would therefore try to demonstrate their aptitude for the task. Now, in late medieval Germany founding a university was considered as one of several elements by which a Prince could qualify for kingship. Writing a century earlier, the cleric Alexander von Roes had called learning (studium) one of the three functions of society, along with priesthood (sacerdotium) and secular rule (imperium), and thus it was only obvious for a ruler to try to prove his qualification for election to the German kingship by combining his duties as a ruler and protector of the Church with the patronage of learning. In fact, during the later fourteenth century three princely dynasties were vying for the royal dignity in Germany: the Hapsburgs, the Luxemburgs, and the Wittelsbachs. Now, the university of Prague was founded by a Luxemburg, the university of Vienna by a Habsburg and the university of Heidelberg by a Wittelsbach, the Elector Ruprecht I. Practical considerations may also have played their part. A university provided a ruler with experts, particularly legal experts schooled in Roman law, who could assist him in consolidating his power and attaining his political goals. To be sure, before the middle of the fourteenth century students from Germany had gone to Bologna and Paris and other universities to study theology, medicine or Roman

* First publication in this volume.

506 | V Heidelberg: Stadt und Universität and canon law. In the world of learning there was but one language in use: Latin. On the other hand, anyone who had received a higher degree from any European university was allowed to teach at any other university. There were exceptions to this rule, and one of these exceptions was connected with the Great Schism within the Church in 1378. Whereas the French clergy recognized Clement VII in Avignon as Pope, the church of the Holy Roman Empire declared his allegiance to Urban VI in Rome. As a result, the masters and students from the Empire were banished from the Sorbonne in Paris. In this situation, the Count Palatine Ruprecht I seized upon the opportunity of offering the homeless professors and students a new locale for their studies and teaching. Among those who accepted the offer was Marsilius von Inghen, who hailed from the lower Rhine and whom Ruprecht named the founding rector of his university. If the Schism had not occurred, it is doubtful whether enough professors and students had chosen the modest town of Heidelberg as their new home. Another exception to the rule of unimpeded mobility consisted in the growing tendency of rulers to oblige their subjects to attend the universities of their territories. This obligation has been of particular significance since the Reformation, as it was important for a ruler to have his future civil servants, theologians and school teachers instructed in the right faith. After the breakthrough of the Reformation in Germany the liberty to decide which faith to adhere to was for decades accorded to the Princes and not to the common man. Whenever the Princes changed their religious convictions, the subjects had to follow suit, unless they preferred to emigrate into a neighbouring territory. Thus in the course of the sixteenth century the Palatinate first turned Lutheran and then – with the Elector Friedrich III – Calvinist. From then on, Calvinism was the doctrine of the Theological Faculty. In 1563, Professors Kaspar Olevianus and Zacharias Ursinus drew up the Heidelberg Catechism, which to this day is known throughout the world as a basic text of Calvinism. In the ensuing decades, late humanism flourished in Calvinistic Heidelberg. Thanks to the support of the court, eminent scholars were appointed to the faculty, who were attracted by the intellectual variety and the undogmatic vitality of this university. It was no accident that the flourishing of Heidelberg University during the later sixteenth century occurred at a time when the Electoral Palatinate had itself reached the zenith of its political influence. A sudden change occurred when Elector Friedrich V overreached himself by accepting the Bohemian crown in 1619 after the Habsburg Ferdinand had been deprived of it at the hands of the Bohemian Estates. In the course of the ensuing Thirty Years’ War Friedrich lost his throne, and his lands were ravaged first by Bavarian and Spanish and later on by Swedish troops. The world famous Biblioteca Palatina, an invaluable collection of Codices and manuscripts which the Electors had assembled and placed at the

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disposal of scholars and students in the gallery of the Church of the Holy Spirit, was seized in 1622 by the Catholic military leader Tilly and sent to the Vatican by the Duke of Bavaria where it has remained to this day. The University continued to exist formally for a time inspite of the ongoing war, but instruction was discontinued. After the Peace of Westphalia which ended the Thirty Years’ War in 1648, Elector Karl Ludwig, the son of Friedrich V, tried to rebuild his University along with his devastated and depopulated territory which had been one of the main theatres of warfare. However, the difficult economic situation and in particular further military engagements limited his success. His entire achievement came to ruin at last in the War of the Palatine Succession, which broke out a few years after the death of his childless son and successor, Karl. In 1689, French troops of the Sun King Louis XIV whose brother had married Karl’s sister Elisabeth Charlotte in 1671, destroyed parts of the Castle, and in 1693 the town of Heidelberg and the Castle were burned to the ground. That’s why, despite its medieval origins, the historic centre of Heidelberg today has the appearance of an almost exclusively baroque town of the 18th century. Once again, the misfortune of the land also affected the University. All of its buildings were destroyed just like the rest of the town. The students and faculty dispersed. Only in 1700 did the university resume its functions in Heidelberg. In the 18th century Heidelberg and its University were dominated by the Counter-Reformation. After the Calvinistic dynasty of Palatinate-Simmern had died out in 1685, the land fell to the Catholic branch of Palatinate-Neuburg which also belonged to the Wittelsbach family. Nearly 200 years after the Reformation, the electors from this house had no qualms about attempting to reimpose the old faith on the land, which had been of Calvinistic persuasion. The University was not in a position to oppose these endeavours. Soon the Jesuits gained the decisive influence. The Jesuit Church in the close neighbourhood of the University and the buildings around it, which were constructed for the Jesuits’ use, are to this day testimony of their activity in Heidelberg. With few exceptions, the University never exceeded the level of mediocrity throughout the entire 18th century. Its basic intellectual attitude, as ordained from on high, shielded it in the Age of Enlightenment from those currents in learning in Europe which pointed to the future. Many of the older German universities bear the name of their princely founders. The University of Heidelberg honours in its name – Ruprecht-Karls-Universität – two rulers at once: the memory of its founder of 1386, Elector Ruprecht I of the Palatinate, and that of Margrave Karl Friedrich of Baden, who in 1803 assumed the rule over the Eastern part of the Palatinate on the right bank of the Rhine, which included Mannheim and Heidelberg. In that year, at the hand

508 | V Heidelberg: Stadt und Universität of Napoleon, all the ecclesiastic and the greatest number of the smaller secular German principalities including most of the imperial free cities were melted into larger political units such as Baden which was eventually to become a GrandDuchy in the course of this process. The Palatinate, on the other hand, ceased to exist. During the Revolutionary Wars, French troops had occupied the left bank of the Rhine, and by the Peace of Lunéville of 1801, concluded between Napoleon and the German Reich, these territories were incorporated into the Republic of France. Since before the French Revolution the University had received the greatest part of its revenues from the income of the estates of three secularized monasteries located in that part of the Palatinate, the French occupation since 1794 and the ensuing annexation in 1801 literally deprived it of its means of existence. In this critical period, the University of Heidelberg could very well have been dissolved, as it happened to a great number of other German universities at the time – for example Cologne, Trier, Mainz, Erfurt, Wittenberg, Helmstedt, and Frankfurt on Oder. But the Margrave of Baden, Karl Friedrich, decided to save Heidelberg University from bankruptcy and thus took upon himself the role of its second founder. That this ruler resolved, in spite of the vastness of the task, to preserve the University and place it on solid legal and financial foundations, can be explained in a greater political context. In the course of the territorial reordering of Germany just mentioned, Baden had enlarged its territory by many times the area of the old margravate. The integration of the territories brought together in this way into a coherent state required a thorough new organization of the entire interior administration. Ultimately it amounted to nothing less than creating a new government in the spirit of rationalism, with no consideration for historic precedent. An obvious model was the French state as formed by the Revolution and Napoleon. If the existence of universities within the borders had proven advantageous for the ermerging local rulers in the Late Middle Ages, a domestic university must have been deemed all the more indispensable for the newly created modern medium states which were badly in need of able administrators and civil servants. This was a chance for the down-trodden University of Heidelberg, for the Margravates of Baden had had no university, and in the territories acquired in 1803, Heidelberg was the only university. The solution to the question of endowment is Friedrich Brauer’s achievernent. Brauer, one of the leading government officials of Karl Friedrich, proposed that the expenses of the University be made part of the public budget and thus ensured the existence and development potential of the institution for the future, thanks to the fact that state expenses can on principle be increased. Thanks to an astute and successful appointments policy Heidelberg University was soon to be numbered among the most important universities in 19th century Germany. Among the great

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scholars of this era may be listed the lawyers Thibaut, Mittermaier and Mohl, the historians Häusser and Gervinus and the philosopher Hegel who stayed here, however, only for little more than a year. Among the natural scientists should be remembered the chemist Robert Bunsen and the physicist Gustav Kirchhoff. The two became famous for their invention of spectral analysis. An outstanding member of the Faculty of Medicine was Vinzenz Czerny who had come to Heidelberg in 1877 and was one of the most successful and respected surgeons of his time. In 1906, he founded an Institute for Experimental Cancer Research in Heidelberg. Czerny’s institute turned out to be the precursor of the German Cancer Research Center, established by the surgeon Karl Heinrich Bauer in 1964. A guiding effect also seems to have gone out from the work of Ludolf von Krehl, the builder of the clinic that bears his name and which has just been moved from Bergheim quarter to its new site in the Neuenheimer Feld. Ludolf von Krehl taught internal medicine from 1907 until his retirement in 1931. Krehl founded the Heidelberg school of a personal, integral medicine, whose most important proponents after him were to be Richard Siebeck and Victor von Weizsäcker. After his retirement, Krehl founded the Kaiser Wilhelm (today: Max Planck) Institute of Medical Research, where since then no fewer than four Heidelberg Nobel Prize Winners have worked: Otto Fritz Meyerhof (Nobel Prize for Medicine, 1922), Richard Kuhn (Nobel Prize for Chemistry, 1938), Walther Bothe (Physics, 1954), and Bert Sakmann (Medicine, 1991). The remaining Nobel Prize Winners of Heidelberg University were Philipp Lenard (Physics, 1905), Albrecht Kossel (Biochemistry, 1910), Hans Jensen (Physics, 1963), Georg Wittig (Chemistry, 1979). The liberal spirit of the Grand-Duchy of Baden contributed to the attractiveness of Heidelberg University, and it seems characteristic that during the nineteenth century a considerable number of her scholars were active in the liberal and national movement. At the beginning of the Revolution of 1848, quite a few of them were elected to sit in the German National Assembly at Frankfurt. The reputation of Heidelberg University remained high right into the period of the Weimar Republic which was founded after the First World War. More than any single other scholar, the sociologist Max Weber contributed to her fame at the turn of the century and after. This explains why in the late twenties the United States Ambassador to Germany, Jacob Gould Schurman, succeeded in raising funds in his country in order to have a new central building for the University be erected. Accordingly the Neue Universität was constructed around 1930. In 1933 Hitler and National Socialism came to power in Germany. The University lost her autonomy. Within the University the so-called Führerprinzip was introduced. The republic of scholars was transformed into a quasi-dictatorial regime

510 | V Heidelberg: Stadt und Universität on the model of the Nazi dictatorship: the dean of the faculty became the Führer of the faculty, and the rector became the Führer of the University as a whole. All the Jewish and many otherwise unwelcome colleagues were dismissed between 1933 and 1937. On the whole 56 members of the faculty were discharged, that is 28 %; among those were 21 full professors, that is 35.6 %. The names of the dismissed members of the faculty are engraved on the memorial tablet downstairs in the entrance hall. To most of these scholars was left no choice but emigration. A few of the dismissed scholars stayed in Heidelberg, such as the philosopher Karl Jaspers. Those professors who continued to serve on the faculty sought some form of accomodation with the new regime; a number of them even supported it actively. Active support of the regime was more common among the younger generation of scholars and scientists who had the important steps of their academic career still before themselves. Both the Habilitation and all academic appointments depended on the approval of the affiliated academic organizations of the Nazi party. Since the sixties of the 20th century the history of the German universities under National Socialism has increasingly come under research. The history of Heidelberg University, was widely discussed on the occasion of the sixth centenary of its existence in 1986. Nonetheless, two of my colleagues and myself have felt that a comprehensive study was needed which would include every single discipline, institute, seminary and clinic as well as the policy of the administration, student life, foreign relations and the role of Nazi organizations within the University. In pursuing this idea we have been working during the past five years together with no less than 34 other authors. The book is complete and will come out in a few weeks. It will contain no less than 1 275 pages. When American troops entered Heidelberg in the spring of 1945, the University was closed, and a considerable proportion of the faculty body was dismissed and subjected to denazification measures. In contrast to a widespread prejudice, a great many of the discharged professors never returned to their former positions. Others were accepted by other universities after an interval of up to ten or more years. An important development in West Germany’s history of higher education in the post-war period has been the growth of the student body. Whereas in the fifties only between 5 and 6 % of an age group went to a university, today the percentage is over 30. In 1950 4 000 students were enrolled at the University of Heidelberg. Today the figure is somewhere between 25 and 26 000. This remarkable change is the effect of a process of democratization of West German society and also of the general increase in economic well-being. The composition of the student body, as far as gender is concerned, has also changed markedly during the whole period. In 1950 the percentage of women was just over 21. Today the percentage is close to 50.

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The growth of the student body has necessitated a corresponding growth of the faculty. The corollary of this growth has been an increase in the differentiation of disciplines and in the specialization of scholars. In addition, the growth of the student body and the concomitant increase in the number of assistant professors made it imperative to give these groups a share in the self-government of the university. It is for this reason that in the Land of Baden-Württemberg the University Law of 1968 for the first time introduced the creation of representative bodies within the administrative structure of the universities, which provided for the representation of students and assistant professors side by side with the full professors who up to this time had ruled the university by themselves. Ever since, the faculty councils as well as the Senate of the University have been composed of representatives of the different groups within the university, non-academic employees included. Professors, however, in Heidelberg have always retained the majority. Another consequence of the growth of the student body and the faculty has been the necessity to construct new buildings for the various institutes and the clinics. Whereas before the Second World War, the university buildings in Heidelberg were practically without exception located within the city, since 1950 an entirely new site has evolved west of the city in the so-called Neuenheimer Feld. Today most of the institutes of the natural sciences and the greater number of the clinics – among them Surgery, Internal Medicine, Paediatrics, and Neurology – have moved there, whereas the humanities and the social sciences, with the notable exception of the South Asia Institute, are still located in the historic centre, most of them at a walking distance from each other. Somehow this separation is symptomatic for the difference between the ‘two cultures’ which Charles Percy Snow has so vividly analyzed in his famous book of 1959. On the other hand the University’s spatial allotments have not only had a separating effect. Just as the proximity of the humanities and the social sciences in the old centre has always facilitated interdisciplinary co-operation, the proximity of medicine and natural sciences on the Neuenheim Campus encourages co-operation in these fields, too, a co-operation to which have always contributed the German Cancer Research Centre and the Max Planck Institute of Medical Research as well. The roots of the German University system go back to the early 19th century. The system was based on the ideas of Wilhelm von Humboldt, one of the leading German intellectuals of the period around 1800 and for a time minister of Education in the Prussian government. Humboldt was one of the chief proponents of an intellectual movement called Neo-Humanism, a movement which was closely linked to the classicism of Weimar with Goethe and Schiller as its main representatives, and aimed at the renewal of the spiritual world of classical antiquity. Humboldt’s concepts were first put into practice along with the foundation of the

512 | V Heidelberg: Stadt und Universität University of Berlin in 1810. Berlin became the model for the rest of the universities in Germany. In contrast to the educational principles of the 18th century which were all based on utilitarian concepts and the idea that education should above all serve practical needs, Humboldt maintained that education, both on the level of the gymnasium and on university level, should not in the first place be devoted to the acquisition of specific practical abilities, but much rather to the formation of the personality, in other words, to what in German language is called ‘Bildung’. If Bildung was the primary object of academic studies and not so much the accumulation of knowledge, then the student had to be granted the liberty to choose his subjects and his professors, as he thought fit in order to acquire the comprehensive understanding which was required to make him an educated person and at the same time a historian, a philologist, a lawyer or a philosopher. At present, I am afraid, our universities are about to abolish the last remnants of this concept of university education, but when I was a student, way back in the late fifties and early sixties, it was common to go to classes in a variety of disciplines, depending on the quality of the professors and the needs currently felt. At that time it was not unusual for bright students to enter the university and to pursue one’s studies right through to the acquisition of the PhD without passing a single examination. At present, this is no longer possible. To be sure, in fields such as medicine and the natural sciences, the regulations have always been much stricter and more specific than in the humanities and the social sciences. Another characteristic feature of the German university system is currently being questioned: the principle that to qualify for an academic career, after the acquisition of the PhD a second book has to be written and presented to the faculty in a procedure which is connected with a conference and an ensuing debate. The whole process is called ‘Habilitation’ and amounts to another examination with requirements comparable to the PhD, but, of course, on a decidedly higher level. The advantages of the practice lie in the fact that young scholars are required to qualify themselves in two different fields of their respective disciplines. Experience has shown that during their later career it very often is much more difficult for them to find the time to write books. But there are also disadvantages: As long as the Habilitation has not taken place, the young scholars with a view to all their various duties within the department and under a particular professor often lack the independence which they aspire at. At present the average age of those who pass the Habilitation is between 37 and 40. The Habilitation itself does not entitle to tenure. Much rather it is the prerequisite for a call extended to the young scholar by another university which will then grant tenure to him. The future of the University of Heidelberg is hard to predict. Her history teaches at least one lesson, and that is that she has proved capable at various junctures to overcome difficulties and survive even severe crises. At present the

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German universities are again facing a number of challenges. Since they are government sponsored the actual decline in public revenue cannot but result in declining expenditures in education. These last years university presidents or rectors have tried to oblige their professors to raise funds from outside the university, from foundations, most prominent among them the German Research Foundation (Deutsche Forschungsgemeinschaft) or from private sources. Unfortunately, there has until now not developed a tradition of sponsoring comparable to the United States, and our tax laws do not favour it. Among the characteristic traits of Heidelberg University, I should like to mention international cooperation. Heidelberg has always hosted a great number of foreign students and scholars from all over the world. Twenty years ago, the European Community has introduced a European mobility program called Socrates-Erasmus which encourages and enables students to spend one or two semesters at a foreign university within the European Union. I may say that our students to a very high degree take advantage of this program. Since within Europe the political frontiers have almost everywhere disappeared, it is important at least to lower the linguistic barriers as well as possible. At present the European Union is trying to arrive at a uniform structure of the University system. Instead of the traditional degrees the BA and MA degrees are being introduced. Since, however, the pre-conditions with respect to the different schooling systems are very dissimilar and since a large degree of liberty in defining the requirements within the academic fields is granted, I doubt very much that this reform will bring about the desired results.

Die Universität Heidelberg im Jahre 1945 In* der Formulierung des Themas verbirgt sich ein Paradox: Eine welthistorische Zäsur soll aus der Perspektive einer einzelnen Universität analysiert werden.¹ Wenn das Vorhaben gelingen soll, müssen zumindest zwei Bedingungen erfüllt werden: Erstens darf die Betrachtung nicht auf das Kalenderjahr 1945 beschränkt werden. Die Zäsur des Jahres 1945 soll daher als sachlicher Bezugspunkt, nicht aber als strikter zeitlicher Rahmen der folgenden Analyse verstanden werden. Zweitens darf die Aufgabe nicht erzählend, chronistisch oder alltagsgeschichtlich aufgefasst werden. Vielmehr soll gefragt werden, welchen spezifischen Beitrag die Heidelberger Erfahrung zur Aufklärung der schwierigen politischen und moralischen Probleme leisten kann, welche die Zäsur des Jahres 1945 für die deutsche Gesellschaft insgesamt mit sich brachte. Das Jahr 1945 beendete die nationalsozialistische Gewaltherrschaft, aber es stellte die Deutschen auch vor die Aufgabe, mit der unsäglichen Hinterlassenschaft des Regimes fertigzuwerden und die Fundamente für einen neuen Anfang zu legen. Jede Reflexion auf das Jahr 1945 stößt unwillkürlich auf ein ganzes Bündel von Fragen. Lassen sich Zeichen eines neuen Anfangs bereits unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus erkennen, oder ist das neue Deutschland eher das Ergebnis eines allmählichen Wandlungsprozesses, der sich über viele Jahre erstreckte? Und wenn es schon 1945 Ansätze für einen Neubeginn gab,

* Erstdruck in: Jürgen C. Heß, Hartmut Lehmann und Volker Sellin (Hrsg.): Heidelberg 1945. Stuttgart 1996, S. 91–106. 1 Zur Geschichte der Universität Heidelberg im Jahre 1945 und danach vgl. Eike Wolgast: Das zwanzigste Jahrhundert. In: Wilhelm Doerr (Hrsg.): Semper apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386–1986. Festschrift in sechs Bänden. Bd. 3. Berlin/Heidelberg 1985, S. 1–54; ders.: Die Universität Heidelberg 1386–1986. Berlin/Heidelberg 1986; Volker Sellin: Die Universität Heidelberg in der Geschichte der Gegenwart 1945–1985. In: Jürgen Miethke u.a. (Hrsg.): Die Geschichte der Universität Heidelberg. Studium Generale an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Wintersemester 1985/86. Heidelberg 1986, S. 217–235; Renato de Rosa: Der Neubeginn der Universität 1945. Karl Heinrich Bauer und Karl Jaspers. In: Doerr (Hrsg.): Semper apertus, Bd. 3, S. 544–568; Frank R. Pfetsch: Neugründung der Universität nach 1945? In: Karin Buselmeier u.a. (Hrsg.): Auch eine Geschichte der Universität Heidelberg. Mannheim 1985, S. 365–380; James A. Mumper: The Reopening of Heidelberg University. 1945– 1946. Major Earl L. Crum and the Ambiguities of American Postwar Policy. In: F. X. J. Homer/Larry D. Wilcox (Hrsg.): Germany and Europe in the Era of the Two World Wars: Essays in Honor of Oron James Hale. Charlottesville, VA, 1986, 229–248; Fritz Ernst: Die Wiedereröffnung der Universität Heidelberg 1945–1946. In: Heidelberger Jahrbücher 4 (1960), S. 1–28; wiederabgedr. in: Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Gunther G. Wolf. Heidelberg 1985, S. 375–402.

516 | V Heidelberg: Stadt und Universität worauf waren sie zurückzuführen: auf das Wirken der Besatzungsmacht, auf eigene Anstrengungen der Deutschen oder auf die prägende Kraft der zeitgenössischen Erfahrungen? Will man Leistung und Misslingen angemessen würdigen, so muss man schließlich gerade bei diesem Gegenstand zugleich fragen, unter welchen äußeren Bedingungen alles Handeln nach Kriegsende stand. Wenn man diese Fragen an die Geschichte einer deutschen Universität heranträgt, so geschieht es in der Erwartung, vor allem im Bereich der Wissenschaft Zeugnisse der Besinnung, der Zeitanalyse und der Zukunftsplanung vorzufinden. Eine einzelne Universität steht geistig jedoch nicht abgesondert für sich, sondern im großen Zusammenhang aller Denkenden. Es erscheint wenig sinnvoll, in meinem Zusammenhang zu betonen, was Repräsentanten der Universität Heidelberg zur geistigen Bewältigung der Situation beigetragen haben. Daher sollen die Fragen nach Kontinuität und Neubeginn vorwiegend an der Politik dieser Universität und an ihrer personellen Entwicklung geprüft werden. Heidelberg gehört zu den glücklichen Städten, die den Zweiten Weltkrieg ohne Zerstörung überstanden haben.² Als die amerikanische Siebte Armee Ende März 1945 an den Neckar vorrückte, wurde im letzten Augenblick die kampflose Übergabe der Stadt vereinbart, um eine Beschießung durch Artillerie zu vermeiden. Amerikanische Truppen besetzten die Stadt am 30. März – es war Karfreitag – ohne Verzug, obwohl deutsches Militär am Vorabend die beiden letzten Heidelberger Neckarbrücken, die Friedrichsbrücke und die Alte Brücke, gesprengt hatte.³ Die Verschonung von Bombardierung und Artilleriebeschuss bewahrte die Stadt nicht vor Wohnungsnot und Wohnraumbewirtschaftung in den kommenden Jahren. Schon vor dem Zusammenbruch waren rund 8 000 Personen zugezogen: vor allem anderswo Ausgebombte und solche, die vor den Bomben geflohen waren. Im Frühjahr 1946 setzte dann der Zustrom von Flüchtlingen aus dem Osten ein. Bis 1947 nahm die Stadt etwa 20 000 Flüchtlinge auf. Zu ihrer Unterbringung beschlagnahmte das städtische Wohnungsamt ganze Häuser und Wohnungen oder quartierte Obdachlose in Wohnungen ein. Verschärft wurde die Not durch immer neue Wohnraumbeschlagnahmungen der Besatzungsmacht.⁴

2 Friederike Reutter: Heidelberg 1945–1949. Zur politischen Geschichte einer Stadt in der Nachkriegszeit. Heidelberg 1994. Zur Geschichte Heidelbergs im Jahre 1945 vgl. im übrigen die Quellenzusammenstellung von Werner Pieper (Hrsg.): Heidelberg zur Stunde Null. Dokumente, Fotos, Augenzeugenberichte 1945. Heidelberg 1985. 3 Reutter: Heidelberg (wie Anm. 2), S. 39 ff. 4 Ebd., S. 38, 71 ff.

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Am 31. Juli 1946 richtete der Rektor der Universität dramatische Appelle an Kultusminister Theodor Heuss und an die amerikanische Militärregierung. Unmittelbarer Anlass war die Beschlagnahme der Wohnungen der Chemiker Karl Freudenberg und Richard Kuhn sowie des Physikers Walther Bothe. Kuhn war Nobelpreisträger von 1938; Bothe sollte 1954 den Nobelpreis erhalten. Der Rektor fürchtete, dass so angesehene Wissenschaftler Rufen nach auswärts folgen würden, wenn ihnen in Heidelberg die Wohnung entzogen werde. Neuberufungen seien unter solchen Umständen fast unmöglich. Einigermaßen sicher vor Beschlagnahmung ihrer Wohnungen könnten sich innerhalb der Professorenschaft nur die „vorläufig noch geschützten Senatsmitglieder“ fühlen.⁵ Zu leiden hatten auch die Studenten. Die Frage ihrer Unterbringung führte im Juli 1946 zu einem schweren Konflikt zwischen Universität und Stadt. Der Gemeinderat hatte beschlossen, die Aufenthaltsgenehmigungen für die rund 3 500 Studenten nicht über den 31. Juli – das Ende der Vorlesungszeit – hinaus zu verlängern. Neue Aufenthaltsgenehmigungen für das Wintersemester sollten zum 1. September beantragt werden können. Am 1. August sollten alle Studenten ihre Zimmer räumen und in ihre Heimatorte zurückkehren. Die Stadt wollte die Zimmer mit Flüchtlingen belegen. Für das Wintersemester sollten sich die Studenten neue Zimmer suchen. Die Stadt beabsichtigte, nach jedem Semester so zu verfahren.⁶ Nach energischen Protesten von Rektor und Senat lenkte die Stadt zuletzt ein und schloss mit der Universität eine maßgeblich von der Studentenvertretung angeregte Vereinbarung, wonach künftig kein Student mehr allein in einem Zimmer wohnen dürfe, es sei denn, er sei Schwerkriegsversehrter oder das Zimmer umfasse nicht mehr als acht Quadratmeter Wohnfläche.⁷ Mit der Besetzung Heidelbergs übernahm die amerikanische Militärregierung die uneingeschränkte politische Gewalt – sechs Wochen vor der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches. Gerichte und andere Behörden sowie Schulen, auch die Universität, wurden geschlossen. Die NSDAP und die anderen

5 Rektor Karl Heinrich Bauer an Kultusminister Theodor Heuss, 31. Juli 1946, Universitätsarchiv Heidelberg (UAH), B-5067; vgl. ebd. auch ders. an die Militärregierung, Office Heidelberg University, 31. Juli 1946. 6 Rektor Bauer an die Militärregierung, Office Heidelberg University, 15. Juli 1946, UAH, B-8608/2; Amtsrat Schmiech, Leiter des städtischen Wohnungsamts, über die Beschlüsse des Gemeinderats, 16. Juli 1946, ebd. 7 Protestschreiben des Senats der Universität, 17. Juli 1946; Antwortschreiben des stellvertretenden Oberbürgermeisters Bauer an Rektor und Senat, 23. Juli 1946; Aktennotiz von Rektor Bauer, 23. Juli 1946; cand. med. Wolfgang Jaeger namens der Studentenvertretung (ASTA) an Rektor Bauer, 19. Juli 1946; Rektor Bauer an Kultusminister Heuss, 26. Juli 1946; die Vereinbarung auf einem Zeitungsausschnitt aus dem Heidelberger Amtsanzeiger Nr. 30 vom 27. Juli 1946, ebd.

518 | V Heidelberg: Stadt und Universität nationalsozialistischen Organisationen wurden verboten. Die Bildung neuer politischer Vereinigungen wurde vorerst untersagt. Die Zeitungen mussten ihr Erscheinen einstellen. Auch Banken, Geschäfte und Gaststätten wurden bis auf weiteres geschlossen.⁸ Im Heidelberger Rathaus richtete sich die amerikanische Militärregierung ein.⁹ Die Stadtverwaltung blieb jedoch in Funktion. Allerdings wurden die Spitzen der Stadt kurz nach dem Einmarsch der Amerikaner ihrer Ämter enthoben. Oberbürgermeister Dr. Carl Neinhaus, seit 1. Mai 1933 Mitglied der NSDAP, wurde ebenso entlassen wie Bürgermeister Max Genthe. Zum Nachfolger von Neinhaus ernannte die Militärregierung den städtischen Oberrechtsrat Josef Amberger.¹⁰ Vor allem in den ersten Wochen der Besatzungszeit durfte die Stadtverwaltung nur unter strikter Aufsicht der Militärregierung arbeiten.¹¹ Dagegen wurde der Oberbürgermeister bereits Ende April 1945 ermächtigt, vertrauenswürdige Bürger in einen kommissarischen Stadtrat mit beratenden Funktionen zu berufen. Amberger suchte die verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Gruppen ausgewogen zu beteiligen. Im Ergebnis erhielt die Linke jedoch ein deutliches Übergewicht.¹² Ein Jahr später, am 26. Mai 1946, fanden die ersten Gemeinderatswahlen nach dem Krieg statt. Von den 24 Mandaten errang die CDU 11, die DVP 3, die SPD 8 und die KPD 2. Die bürgerlichen Parteien besaßen somit von nun an die Mehrheit. Zwei Monate später wählte der Gemeinderat eine neue Verwaltungsspitze. Neuer Oberbürgermeister wurde der Kandidat der CDU, Dr. Hugo Swart, der 1933 von den Nationalsozialisten aus dem Staatsdienst entlassen worden war.¹³ Im Februar 1948 sollte Swart in direkter Wahl mit einer Mehrheit von 51,2 Prozent der abgegebenen Stimmen in seinem Amt bestätigt werden.¹⁴ Als Dr. Swart im Juli 1946 vom Gemeinderat zum Oberbürgermeister gewählt wurde, näherte sich die Amtszeit des ersten frei gewählten Rektors der Universität bereits ihrem Ende. Der letzte nationalsozialistische Rektor, Paul Schmitthenner, hatte kurz vor dem Eintreffen der Amerikaner den achtzigjährigen emeritierten Anglisten Johannes Hoops mit der Wahrnehmung der Geschäfte beauftragt. Die Amerikaner beließen Hoops in seiner Funktion, bis am 8. August 1945 der Chirurg

8 Zu den ersten Maßnahmen der amerikanischen Besatzungsmacht in Heidelberg vgl. Reutter: Heidelberg (wie Anm. 2), S. 53 ff., 59 ff. 9 Ebd., S. 47. 10 Ebd., S. 59; über Neinhaus auch ebd., S. 33 f. 11 Ebd., S. 60. 12 Ebd., S. 62 f. 13 Ebd., S. 69. 14 Ebd., S. 75.

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Karl Heinrich Bauer zum Rektor gewählt und am 15. August in sein Amt eingeführt wurde.¹⁵ Die Amerikaner hatten die Universität nach ihrem Einmarsch aus Sicherheitsgründen und in der Absicht geschlossen, das gesamte Personal politisch zu überprüfen, Belastete zu entfernen und auf diese Weise eine Neuorientierung von Lehre und Forschung zu ermöglichen. Die Schließung der Universität war mit der Beschlagnahme eines großen Teils der Universitätsgebäude durch die Besatzungsmacht verbunden. Beschlagnahmt wurden die Neue Universität, das Seminarienhaus, die Universitätsbibliothek, das Marstallgebäude und ein großer Teil der Naturwissenschaftlichen Institute. Zweimal wurde auch die Chirurgische Klinik beschlagnahmt, doch konnte ihr Direktor, Karl Heinrich Bauer, in beiden Fällen die Aufhebung der Verfügung erreichen.¹⁶ Offenbar hatte die Militärregierung ursprünglich eine Wiedereröffnung der Universität nicht vor Herbst 1946 ins Auge gefasst. Demgegenüber sah es die Universität im Sommer 1945 als ihre vordringliche Aufgabe an, die Wiedereröffnung möglichst noch zum Wintersemester 1945/46 zu erreichen. Schon vor seiner Wahl zum Rektor am 8. August hatte Bauer die Genehmigung der Militärregierung erwirkt, die Universität Heidelberg als erste Universität in der amerikanischen Besatzungszone am 1. August zunächst in der Medizinischen Fakultät wiederzueröffnen. Am 15. August begann der Unterricht mit Kursen für kriegsapprobierte Jungärzte. Im November wurde der reguläre Unterricht in der Medizinischen und in der Theologischen Fakultät, Anfang Januar 1946 auch in den übrigen drei Fakultäten wiederaufgenommen.¹⁷ Die Militärregierung betrachtete die Wiedereröffnung der Universität als ein erhebliches Risiko für die Sicherheit der amerikanischen Streitkräfte. Sie befürchtete, dass Studenten sich in größerer Zahl unter akademischem Vorzeichen versammelten, während sie in Wahrheit gegen die Besatzer konspirierten.¹⁸ Schon aus diesem Grunde erließ die Militärregierung detaillierte Bestimmungen darüber, wie viele und welche Studienbewerber Semester für Semester zugelassen werden dürften. Nachdem die Obergrenze der Zulassungen für das Wintersemester 1945/46 zunächst auf 3 000 festgesetzt worden war, teilte Major Earl L.

15 Wolgast: Universität Heidelberg (wie Anm. 1), S. 167 f. 16 Tätigkeitsbericht von Rektor Bauer an das Kultusministerium in Stuttgart vom Einmarsch der amerikanischen Truppen an bis zum 1. August 1946, 7. August 1946, 1, UAH, B-1018/3; auch in Record Group (RG) 260, Office of Military Government, Land Württemberg-Baden (OMGWB) 12/87–1/12, Badisches Generallandesarchiv Karlsruhe (BGLA). 17 Ebd., S. 2–5. 18 Daniel F. Penham, Special Agent, CIC, Report of Progress, 23. Februar 1946, 9, RG 260, OMGWB 12/87–1/17, BGLA.

520 | V Heidelberg: Stadt und Universität Crum, der amerikanische Universitätsoffizier für Heidelberg, Rektor Bauer im Dezember 1945 mit, dass die Ziffer gemäß Anordnung von höherer Stelle aus „militärischen Gründen“ auf 2 500 verringert worden sei.¹⁹ Im Sommersemester 1946 wurde die Grenze dann wieder auf 3 000 angehoben.²⁰ Studienbewerber mussten aufgrund einer Anordnung der Militärregierung einen „Personalfragebogen für Hochschulstudenten“ ausfüllen, eine Lebensbeschreibung unter Berücksichtigung bestimmter vorgegebener Stichworte verfassen und einen Aufsatz über das Thema schreiben: „Welches sind die Hauptziele Ihres Studiums?“.²¹ Über die Bewerbungen entschieden Zulassungskommissionen der einzelnen Fakultäten, in denen auch Studenten mitwirkten. Neben akademischen Kriterien hatten diese Kommissionen bestimmte politische Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Ehemalige Parteimitglieder waren grundsätzlich auszuschließen; wenn sie keine Ämter innegehabt hatten, konnten sie jedoch bis zu einem Anteil von zehn Prozent an der Gesamteinschreibung zugelassen werden, sofern nach Immatrikulation der Unbelasteten noch Plätze frei waren. Ehemalige Berufsoffiziere der Wehrmacht durften nur nach besonderer Einzelfallprüfung zugelassen werden.²² Die Universität ergriff selbst Initiativen, um die Studenten für das Studium und für ein verantwortliches Wirken in einem demokratischen Gemeinwesen vorzubereiten. Angesichts der großen Zahl von Bewerbern, die während des Krieges nur ein Notabitur abgelegt hatten, richtete die Universität Vorsemesterkurse ein, vor allem für Mathematik, Deutsch und Latein, aber auch für Geschichte, um in diesen Fällen nachträglich die Bildungsvoraussetzungen für ein Hochschulstudium zu schaffen.²³ Auf Initiative von Rektor Bauer wurde im Gebäude der heutigen Universitätsverwaltung vom 1. November an das sogenannte „Collegium Academicum“ eingerichtet. In Anlehnung an die Tradition des englischen College

19 Senatsprotokoll, 13. Dezember 1945, UAH, B-1266/4(2); Rektor Bauer an die Dekane der Juristischen, Philosophischen und Naturwissenschaftlich-Mathematischen Fakultäten, 18. Dezember 1945, ebd., B-8011/1. 20 Rektor Bauer an die Dekane, 15. März 1946, UAH, B-8011/1. 21 Major Crum an Rektor Bauer, 14. November 1945, ebd.; Beispiel eines ausgefüllten Personalfragebogens nebst Anlagen, 15. September 1945 (Karl Heinz Bauer), RG 260, OMGWB 17/138–1/1, BGLA. 22 Major Crum an Rektor Bauer, 14. November 1945, UAH, B-8011/1; Senatsprotokoll, 30. November 1945, ebd., B-1266/4(2); Grundsätze der Militärregierung über Non-Admittance of Persons with Former Nazi-Affiliations as Students, 26. Februar 1946, ebd., B-8011/1; Intelligence Report Nr. 220. General Conditions at Heidelberg University and Political Attitude of Students, 14. Mai 1946, RG 260, OMGWB 12/87–1/17, BGLA. 23 Tätigkeitsbericht Bauers, 6, UAH, B-1018/3; Rektor Bauer an die Militärregierung in Heidelberg, 3. November 1945, RG 260, OMGWB 17/138–1/1, BGLA; Dekan Regenbogen an dies., 7. November 1945, ebd.; Liste der vorgesehenen Lehrkräfte, 10. Dezember 1945, ebd.

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sollte hier eine neue Form studentischen Gemeinschaftslebens mit dem Ziel der sozialen und politischen Erziehung zu Selbstverantwortung und Demokratie geschaffen werden.²⁴ In einer Denkschrift für Daniel Penham, den in Heidelberg tätigen Agenten des Counter Intelligence Corps (CIC), vom 5. März 1946 charakterisierte der Leiter des Collegium Academicum, Joachim G. Boeckh, die damalige „seelisch-geistige Lage“ der Heidelberger Studenten.²⁵ Nach Boeckhs Urteil waren die ersten Studenten der Nachkriegszeit einerseits von Wissensdurst und Verlangen nach Wahrheit, andererseits, besonders wenn sie durch Kriegs- oder Arbeitsdienst Jahre verloren hatten, von dem Bestreben geprägt, ihr Studium möglichst schnell zum Abschluss zu bringen. Was die Politik anbelangt, so gebe es keine aktiven Nazis unter den Studenten; zu tief sei die Erschütterung, die der Zusammenbruch des Regimes bewirkt habe. Gleichwohl lebten „sehr viele junge Menschen noch aus Trümmern und Fetzen der ihnen selbst fragwürdig gewordenen Ideologie.“²⁶ Die Erörterung der Schuldfrage rufe eine Abwehrreaktion hervor; die junge Generation fühle sich in Wahrheit von der älteren Generation verführt und missbraucht. Das Wort „Demokratie“ treffe auf Skepsis, nachdem der Begriff zwölf Jahre lang unaufhörlich verhöhnt worden sei.²⁷ Auch könnten die jungen Menschen sich nicht vorstellen, wie „Demokratie verwirklicht werden könne, solange sich ein Land unter der Diktatur einer Besatzungsmacht befindet.“²⁸ In der Studentenschaft des Wintersemesters 1945/46 überwog bei weitem der Anteil der Männer: 1 942 Männern standen nur 779 Frauen gegenüber. Auffällig, wenn auch leicht erklärbar, ist sodann eine gewisse Überalterung, vor allem unter den männlichen Studierenden: Zwei Drittel der Männer, aber nur zwei Fünftel der Frauen zählten bereits 25 Jahre und mehr.²⁹ 24 Tätigkeitsbericht Bauers, 6, UAH, B-1018/3; Bericht des Leiters des Collegium Academicum, Joachim G. Boeckh, 28. Februar 1947, RG 260, OMGWB 17/138–1/11, BGLA; vgl. im übrigen Walter Schmitthenner: Studentenschaft und Studentenvereinigungen nach 1945. In: Doerr (Hrsg.): Semper apertus (wie Anm. 1), Bd. 3, S. 586–589; Gerd Steffens: Collegium Academicum 1945–1978. Zur Lebensgeschichte eines ungeliebten Kindes der Alma mater Heidelbergensis. In: Buselmeier u.a. (Hrsg.): Auch eine Geschichte (wie Anm. 1), S. 381–410; Walther Killy: Studium Generale und studentisches Gemeinschaftsleben. Berlin 1952, S. 56–59; Hans Udo Störzer: Das Collegium Academicum der Universität Heidelberg. Ein Rückblick in Streiflichtern. In: Ruperto Carola 27 (1975), S. 121–134; Ullrich Schneider: Hochschulreform, Studium Generale und das Collegium Academicum Heidelberg 1945–1952. In: Bildung und Erziehung 36 (1983), S. 59–64. 25 Joachim G. Boeckh an die Dienststelle des CIC Heidelberg, „über die seelisch-geistige Lage der Studenten von 1946“, 5. März 1946, RG 260, OMGWB 17/138–1/1, BGLA. 26 Ebd., S. 9. 27 Ebd., S. 12 f. 28 Ebd., S. 13. 29 Intelligence Report Nr. 220, 14. Mai 1946, RG 260, OMGWB 12/87–1/17, BGLA.

522 | V Heidelberg: Stadt und Universität Nach ihrem Einmarsch ließ die Besatzungsmacht an sämtliche Angehörige der Universität Fragebogen verteilen. Darin waren vor allem etwaige Mitgliedschaften in der NSDAP oder in anderen nationalsozialistischen Organisationen sorgfältig aufzuführen. Ämter, Ränge und Auszeichnungen waren anzugeben. Außerdem musste ein Lebenslauf geschrieben werden, und Wissenschaftler hatten eine vollständige Liste ihrer Veröffentlichungen und ihrer Vorträge beizufügen.³⁰ Auf der Grundlage dieser Fragebogen überprüfte die Militärregierung in den folgenden Monaten die Angehörigen der Universität ohne Ausnahme: Professoren, Verwaltungsbeamte und Bibliothekare, Wissenschaftliche und Nichtwissenschaftliche Angestellte, Arbeiter, Pfleger und Schwestern. Ziel der Überprüfung war die Entfernung politisch belasteter Personen aus ihren Funktionen, teils als Akt der Sühne für die Mitverantwortung an der Politik des Nationalsozialismus, vor allem aber, um die Voraussetzungen für einen demokratischen Neubeginn zu schaffen. Was als Belastung anzusehen sei, wurde ganz überwiegend nach rein formalen Kriterien entschieden: Mitgliedschaft in der NSDAP, namentlich vor dem 1. Mai 1937, ganz besonders aber vor der Machtergreifung; Mitgliedschaft in Gliederungen der Partei wie SA und SS; vor allem aber die Bekleidung von Ämtern oder Rängen in der Partei oder in angeschlossenen Organisationen. Einige Mitglieder des Lehrkörpers standen auf Schwarzen Listen, welche die amerikanischen Truppen bei ihrem Einmarsch mitbrachten. Diese Personen wurden noch in den ersten Apriltagen des Jahres 1945 verhaftet und in Internierungslager verbracht. Zu den Verhafteten zählten nicht weniger als elf ordentliche Professoren, darunter zwei der drei Rektoren des Dritten Reichs, Ernst Krieck und Paul Schmitthenner, und der Psychiater Carl Schneider, der die Euthanasiepolitik des Regimes für seine Forschungen genutzt hatte.³¹ Noch im Mai 1945 regten sich in der Universität Initiativen mit dem Ziel, durch den Nationalsozialismus kompromittierte Mitglieder des Lehrkörpers aus eigenem Antrieb aus der Korporation auszuschließen. Eine treibende Kraft war hierbei der Chemiker Karl Freudenberg.³² Am 18. Juli fasste der Senat aufgrund vorausgegangener Fakultätsentscheidungen den Beschluss, die Streichung von insgesamt 13 „Repräsentanten extremen Nazitums“ aus dem Lehrkörper der Universität

30 Sammlung der ausgefüllten Fragebogen in UAH, B-3029/1–11. 31 Rektor Bauer an die Militärregierung in Heidelberg, 13. September 1945, UAH, B-3029/18. Zu Carl Schneider vgl. die Entnazifizierungsakte in BGLA 465a/Zentr. Spruchka./B/Sv/804; und die Akte der Staatsanwaltschaft Heidelberg in BGLA 309/4, Zug. 1992/34. 32 Karl Freudenberg an den amtierenden Rektor Johannes Hoops, 25. Mai 1945 (2 Briefe), UAH, B-3029/18; Freudenberg an Hoops, 10. Juni 1945, ebd.; Auszug aus Senatsprotokoll, 11. Juli 1945: „Herr Freudenberg fragt nach der Ausmerzungsaktion“, ebd.

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zu beantragen. Unter den Genannten befanden sich sechs Ordinarien; sie waren sämtlich bereits im April verhaftet, bisher aber nicht formell aus dem Dienst entlassen worden.³³ Die Begründungen für die Ausschließungsentscheidungen der Universität hoben durchgehend auf das tatsächliche Wirken der Betroffenen im Sinne der Ziele des Nationalsozialismus ab. Die bloße Mitgliedschaft in der Partei oder einer anderen nationalsozialistischen Organisation spielte keine Rolle.³⁴ Es gab einzelne Fälle, in denen auch die Besatzungsmacht selbst bei völligem Fehlen formaler Belastungsmomente auf eine schwere Kompromittierung erkannte, allein aufgrund tatsächlicher Handlungen, etwa aufgrund von Veröffentlichungen. So wurde dem Historiker Willy Andreas unter anderem zum Verhängnis, dass er dem Verlangen der Partei nicht widerstanden hatte, in die von ihm zusammen mit Wilhelm von Scholz besorgte fünfbändige Ausgabe der Großen Deutschen auch den SA-Märtyrer Horst Wessel aufzunehmen. Das Argument, jeder habe erkennen können, dass dieser Artikel aufgezwungen gewesen sei, ließen die Amerikaner nicht gelten.³⁵ Die Sanktionen der Besatzungsmacht waren hart. Im Oktober 1945 begannen die Entlassungen. Nach einer Aufstellung vom 5. Juli 1946 hatte die Universität auf diese Weise bis dahin 138 von 330 Mitgliedern des Lehrkörpers (einschließlich Assistenten) verloren; das entspricht 41,8 Prozent. Im nichtwissenschaftlichen Bereich waren 46 von 216 Personen entlassen worden; das entspricht 21,3 Prozent.³⁶ Von den 14 Beamten der Universitätsverwaltung blieb nur ein einziger, Verwaltungsdirektor Ossfeld, im Amt.³⁷ Rektor Bauer hatte bereits Mitte Mai 1946 geschrieben, die Lage in der Verwaltung sei „unhaltbar“ geworden; die Univer-

33 Rektor Bauer an den Präsidenten des Landesbezirks Mannheim in Heidelberg, 1. Oktober 1945, BGLA 235/29831; Prorektor Ernst an den Oberpräsidenten von Nordbaden, 22. August 1945, ebd. Vgl. auch Senatsprotokoll, 28. September 1945, UAH, B-1266/4(2). Es handelte sich um folgende ordentlichen Professoren: Eugen Fehrle (Volkskunde), Johann Duken (Kinderheilkunde), Ernst Krieck (Philosophie), Paul Schmitthenner (Kriegsgeschichte), Carl Schneider (Psychiatrie) und Ludwig Wesch (Technische Physik). 34 BGLA 235/29831. 35 Penham, Report, 23. Februar 1946, 1, RG 260, OMGWB 12/87–1/17, BGLA; Aufzeichnung Andreas’ für Prof. Bauer privatissime über Berücksichtigung von Horst Wessel, o. D. (wohl Frühjahr 1946), BGLA 69 N/760 (Nachlass Andreas); weitere Aktenstücke, ebd. Vgl. zu Andreas im übrigen Eike Wolgast: Willy Andreas. In: Badische Biographien. Neue Folge. Bd. 3. Stuttgart 1987, S. 4–7. 36 Office of Military Government, Land Württemberg-Baden, Annual Report, Heidelberg University, 5. Juli 1946, RG 260, OMGWB 12/87–1/10, BGLA. 37 Karl Heinrich Bauer, Rechenschaftsbericht über das abgelaufene Amtsjahr, erstattet am 22. November 1946. In: Hans Frhr. von Campenhausen (Hrsg.): Aus der Arbeit der Universität 1946/47. Berlin/Göttingen/Heidelberg 1948, S. 3.

524 | V Heidelberg: Stadt und Universität sität sehe sich „schärfsten Angriffen“ ausgesetzt; ihr Ansehen leide sehr.³⁸ Das Hauptinteresse muss sich jedoch auch hier wiederum auf die Ordinarien richten. Beim Einmarsch der Amerikaner zählte die Universität 56 ordentliche Professoren.³⁹ Von diesen wurden bis zum Frühjahr 1946 37 entlassen. Die Theologische Fakultät verlor einen von fünf Ordinarien, die Juristische Fakultät fünf von sieben, die Medizinische Fakultät neun von 16, die Philosophische Fakultät elf von 15, die Naturwissenschaftlich-Mathematische Fakultät neun von elf und die kleine Staats- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät ihre beiden Ordinarien.⁴⁰ Unter den 19 Professoren, die von der Entlassung verschont blieben, befanden sich fünf ehemalige Parteimitglieder; sechs hatten wenigstens einer Gliederung der Partei angehört; auch formal völlig unbelastet waren nur acht.⁴¹ Den Entlassenen wurde gestattet, Petitionen an die Militärregierung zu richten mit dem Ziel der Wiedereinsetzung. Bevor über die Petitionen entschieden werden konnte, schuf das Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946 eine neue Lage.⁴² Die Entnazifizierung ging nunmehr in deutsche Hände über. Jeder Deutsche, der das 18. Lebensjahr vollendet hatte,

38 Rektor Bauer an den Präsidenten der Landesverwaltung Baden, Abt. Kultus und Unterricht, 13. Mai 1946, UAH, B-3029/20. 39 Die Zahl ergibt sich aus dem Vorlesungsverzeichnis des Wintersemesters 1944/45. Von den dort aufgeführten 57 Ordinarien ist der Öffentlichrechtler Karl Bilfinger in Abzug zu bringen, da er bereits am 1. April 1944 aus dem Lehrkörper der Universität ausgeschieden und zum Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Berlin ernannt worden war: UAH, Personalakte Bilfinger. 40 Verzeichnis der seit Oktober 1945 auf Anordnung der amerikanischen Militärregierung entlassenen Professoren, Beamten und Angestellten, 13. März 1946, UAH, B-3029/14 (auch in BGLA 235/29831). Die Liste umfasst 162 Namen, darunter die Namen von 33 ordentlichen Professoren. Der Physiko-Chemiker Kurt Fischbeck wird irrtümlich zu den außerordentlichen Professoren gezählt. Umgekehrt muss der Anatom Hermann Hoepke außer Betracht bleiben, da er erst am 1. November 1945 ernannt worden war; das Reichserziehungsministerium hatte ihm Ende 1939 die Lehrbefugnis entzogen; jetzt entließen ihn, kaum dass er im Amt war, die Amerikaner: Dorothee Mußgnug: Die vertriebenen Heidelberger Dozenten. Zur Geschichte der Ruprecht-KarlsUniversität nach 1933. Heidelberg 1988, S. 107 f. Nicht aufgeführt in der Liste sind der Sprachwissenschaftler Hermann Güntert, der Öffentlichrechtler Ernst Forsthoff, der Hygieniker Ernst Rodenwaldt und der Gynäkologe Hans Runge; Runge war bereits am 14. Januar 1946 wiedereingesetzt worden: UAH, Personalakte Runge. Für eine vollständige Übersicht über die Namen der 37 entlassenen Ordinarien vgl. die Anm. 57–59 in Verbindung mit Anm. 33. 41 Namensliste der Beamten und Beschäftigten in nicht gewöhnlicher Arbeit, Universität Heidelberg, 30. September 1946, UAH, B-3029/24; auch in RG 260, OMGWB 12/87–1/7, BGLA. 42 Erich Schullze (Hrsg.): Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946 mit den Ausführungsvorschriften, der Anweisung für die Auswerter der Meldebogen und der Rangliste in mehrfarbiger Wiedergabe. 3. Aufl. München 1948.

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musste einen Meldebogen ausfüllen. Aufgrund des Meldebogens wurde er von einem sogenannten „öffentlichen Kläger“ in eine von fünf Kategorien politischer Belastung eingestuft: hauptschuldig, belastet, minderbelastet, Mitläufer und entlastet. Ergaben sich keinerlei Anhaltspunkte für eine politische Kompromittierung, sah das Gesetz die Qualifizierung als „vom Gesetz nicht betroffen“ vor. In einem gerichtsförmigen Verfahren vor sogenannten Spruchkammern wurde sodann über die endgültige Einstufung entschieden. Nach amerikanischer Rechtspraxis musste der Beschuldigte Entlastungsbeweise gegenüber der Einstufung durch den öffentlichen Kläger erbringen. Gemessen an der deutschen Rechtstradition war die Beweislast somit umgekehrt. An diese Spruchkammern also, die im Sommer 1946 ihre Tätigkeit aufnahmen, wurden die um ihre Wiedereinsetzung kämpfenden Professoren verwiesen.⁴³ Vor der Verhandlung erbaten die Spruchkammern in der Regel eine Stellungnahme der Universität. Einige Fakultäten bildeten eigens Ausschüsse, um entsprechende Stellungnahmen zu erarbeiten.⁴⁴ Die Gutachten fielen durchaus unterschiedlich aus.⁴⁵ Der Umstand, dass 37 von 56 ordentlichen Professoren der Universität aufgrund von überwiegend formalen Kriterien entlassen wurden, kann nicht ohne weiteres als Beleg für eine besonders weitreichende Durchsetzung der Universität mit nationalsozialistischem Geist gewertet werden. Gerade aus Kreisen der im Amt bestätigten Professoren, unter Einschluss der selber vom Regime Geschädigten, ist immer wieder gefordert worden, zwischen bloß nominellen und aktiven Nationalsozialisten zu unterscheiden.⁴⁶ Umso wichtiger ist die Frage nach dem Ausgang der Spruchkammerverfahren.

43 Leon P. Irvin an Rektor Bauer, 11. Juli 1946, UAH, B-8011/2; auch in UAH, B-3029/14. 44 Senatsprotokoll, 22. Oktober 1946, TOP 5: Spruchkammerfälle, UAH, B-1266/4(2); 5. November 1946, TOP 5: Spruchkammerverfahren, ebd. 45 Vgl. z. B. das entschiedene Eintreten der von den Nationalsozialisten aus dem Amt verdrängten und eben erst wieder eingesetzten Juristen Gustav Radbruch und Walter Jellinek für ihre Fakultätskollegen Karl Engisch und Eugen Ulmer: Gustav Radbruch, Dekan der Juristischen Fakultät, und Walter Jellinek an die Militärregierung, zu Händen von Herrn Dr. Hartshorne, 18. September 1945. In: BGLA 235/29831; über den Anatomen Kurt Goerttler äußerte sich die Kommission der Medizinischen Fakultät eher zurückhaltend: ebd., 465a/59/7/645; streng urteilte Alfred Weber über die Volkswirte Horst Jecht und Ernst Schuster: ebd., 465a/59/1/11154 (Jecht); ebd., 465a/59/3/2931 (Schuster). 46 Rektor Bauer an Major Crum, 9. Oktober 1945: „the University appeals to higher headquarters for those members of its staff who [. . . ] have never been Nazis in their hearts“, UAH, B-1018/3; vgl. auch Radbruch und Jellinek an Dr. Hartshorne, 18. September 1945, BGLA 235/29831.

526 | V Heidelberg: Stadt und Universität Von den 37 ordentlichen Professoren wurden 24 als Mitläufer, vier als entlastet und sechs als nicht belastet bzw. vom Gesetz nicht betroffen eingestuft.⁴⁷ In zwei Fällen – Carl Schneider und Ernst Krieck – kam der Tod der Betroffenen einem Spruch zuvor; in einem Fall – Paul Schmitthenner – zog sich das Verfahren in die Länge und wurde im März 1951 eingestellt.⁴⁸ Die Einstufung als Mitläufer ergab sich selbst bei formal stark belasteten Professoren fast regelmäßig daraus, dass Entlastungsmomente von Gewicht geltend gemacht werden konnten. Selbst überzeugte Parteimitglieder waren selten so konsequent, dass sie ihren Einfluss nicht bei Gelegenheit auch dazu gebraucht hätten, um bedrohten Menschen zu helfen oder Anordnungen des Regimes zu unterlaufen.⁴⁹ Andere wieder waren in die Mitgliedschaft von SA und NSDAP hineingeraten, ohne jemals die Ziele des Regimes aktiv zu unterstützen.⁵⁰ Nach Abschluss des Verfahrens mussten Landesregierung und Besatzungsmacht das Urteil der Spruchkammer bestätigen. Auf Wiedereinsetzung in seine früheren Rechte hatte der Professor keinen Anspruch. In jedem Fall musste die Universität die Wiedereinsetzung formell beantragen.⁵¹ In vielen Fällen wurden die Lehrstühle neu besetzt, lange bevor die Spruchkammerverfahren abgeschlossen waren, und zwar nicht nur bei solchen Professoren, die die Universität im Juli 1945 auf eigene Initiative aus dem Lehrkörper ausgeschlossen hatte. Als Beispiele seien die Lehrstühle für Astronomie und für

47 Dies ergibt die Auswertung der im BGLA verwahrten Spruchkammerakten, ersatzweise der Personalakten im UAH. Die Zählung beruht auf dem Urteil letzter Instanz. Darin liegt zugleich ihre Problematik. Das lässt sich am Beispiel des Volkskundlers Eugen Fehrle zeigen. Fehrle erhielt nacheinander folgende Bescheide: am 2. März 1948: „belastet“; nach Berufung Fehrles am 2. Oktober 1948: „Mitläufer“; nach Aufhebung dieses Spruchs durch den Minister für politische Befreiung am 11. Juli 1949: „minderbelastet“; in einem Nachverfahren schließlich am 16. Januar 1950: „Mitläufer“; BGLA 465a/59/1/17838. 48 BGLA 465a/Zentr. Spruchka./B/Sv/804 in Verbindung mit BGLA 309/4, Zug. 1992/34 (Carl Schneider, Selbstmord am 11. Dezember 1946 in amerikanischer Haft in Frankfurt); BGLA 465a/59/54/172 (Ernst Krieck, gestorben am 19. März 1947 im Internierungslager Moosburg/Obb.); BGLA 465a/Zentr. Spruchka. /K/B/Sv/1629 (Paul Schmitthenner, Einstellungsbeschluss der Zentralspruch- und Berufungskammer Württemberg-Baden, Außenkammer Karlsruhe, 20. März 1951). 49 Vgl. z. B. diverse Entlastungsschreiben zugunsten Paul Schmitthenners, BGLA 465a/Zentr. Spruchka./K/B/Sv/1629. 50 Vgl. z. B. Schreiben Karl Engischs an die Spruchkammer als Erläuterung zum Meldebogen, 21. August 1946, BGLA 465a/59/5/4312. 51 Leon P. Irvin an Dr. Eugen Thoma, Landesbezirk Baden, Abt. Kultus und Unterricht, 7. Mai 1947, UAH, B-3029/19.

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Zoologie in der Naturwissenschaftlich-Mathematischen Fakultät genannt.⁵² Die Lehrstühle für Geographie und Romanistik in der Philosophischen Fakultät wurden bis zur Vorlage des Spruchkammerbescheids im April 1948 freigehalten; im Juni und Juli 1948 beriet die Fakultät ihrerseits noch einmal in eigener Zuständigkeit über die Schwere der politischen Belastung und beschloss, in beiden Fällen keine Anträge auf Wiedereinsetzung zu stellen.⁵³ Spektakulär wurde der Fall des Historikers Willy Andreas. Der Landesdirektor für Kultus und Unterricht, in Nordbaden, Franz Schnabel, Professor für Neuere Geschichte an der Technischen Hochschule Karlsruhe, der damals die Funktion des für Heidelberg zuständigen Wissenschaftsministers ausübte, suchte die Vakanz des Heidelberger Lehrstuhls aus seiner Position heraus zu nutzen, um sich selbst an Andreas’ Stelle zu setzen.⁵⁴ Die Fakultät ist diesem Ansinnen schon aus Gründen der Wahrung ihrer Autonomie entschieden entgegengetreten, allerdings ohne sich gleichzeitig entschlossen für die Rückkehr von Willy Andreas einzusetzen, der von der Spruchkammer im März 1947 als „nicht belastet“ eingestuft worden war.⁵⁵ Schnabel ging nach München. Andreas wurde im Juli 1949 formell wieder zum ordentlichen Professor an der Universität Heidelberg ernannt und gleich darauf, zum 1. November desselben Jahres, emeritiert.⁵⁶ Gelesen hat er in Heidelberg nicht mehr. Die Entlassungsaktion der Amerikaner im Winter 1945/46 bedeutete personell einen scharfen Bruch der Kontinuität im Lehrkörper der Universität. Von den 37 entlassenen ordentlichen Professoren kehrten nur zehn auf ihre Lehrstühle zurück; von diesen waren durch die Spruchkammer letztinstanzlich drei als Mitläufer, drei als entlastet und vier als nicht belastet bzw. vom Gesetz nicht betroffen eingestuft worden.⁵⁷

52 Spruchkammerbescheid für den Zoologen Paul Krüger, 25. März 1948, BGLA 465a/59/5/ 5528; der Nachfolger Erich von Holst war zum 1. Mai 1946 ernannt worden; Spruchkammerbescheid für den Astronomen Heinrich Vogt, 23. September 1948 (erste Instanz), 11. Januar 1950 (zweite Instanz), BGLA 465a/59/1/8863; der Nachfolger August Kopff war Anfang 1947 ernannt worden. 53 Philosophische Fakultät, Sitzungsprotokoll, 23. Juni 1948 (zu Wolfgang Panzer, Geographie) und 14. Juli 1948 (zu Walter Mönch, Romanistik), UAH, H-IV-201/2. 54 Rektor Hans Frhr. von Campenhausen, Tatsachenbericht, 17. April 1947, S. 3 f., RG 260, OMGWB 12/87–1/17, BGLA; Ministerialrat Dr. Thoma an Oberstleutnant Irvin, 14. Mai 1947, ebd. 55 Spruchkammerbescheid vom 28. März 1947, BGLA 465a/59/5/7298; Andreas an Theodor Heuss, 20. März 1949, BGLA 69 N/763 (Nachlass Andreas). 56 BGLA 69 N/765 (Nachlass Andreas). 57 Es handelt sich um die Professoren Karl Engisch (Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie), Ernst Forsthoff (Öffentliches Recht), Karl Freudenberg (Chemie), Richard Kienast (Germanistik), Walter Paatz (Kunstgeschichte), Ernst Rodenwaldt (Hygiene), Hans Runge (Gynäkologie), Alexander Schmincke (Pathologie), August Seybold (Botanik) und Eugen Ulmer (Deut-

528 | V Heidelberg: Stadt und Universität 27 von 56 Lehrstuhlinhabern des Wintersemesters 1944/45, also knapp die Hälfte, sind auf Dauer aus der Universität Heidelberg entfernt worden. Neun von den 27 ehemaligen Heidelbergern haben – zum Teil nach vielen Jahren – an anderen deutschen Universitäten wieder einen Lehrstuhl erhalten.⁵⁸ Die übrigen 18 – die Hälfte der Entlassenen und ein knappes Drittel des Gesamtbestands – sind nicht mehr auf einen Lehrstuhl zurückgekehrt.⁵⁹ Verstärkt wurde der Charakter der Zäsur durch die Reaktivierung zahlreicher im Dritten Reich verdrängter Professoren und den gleichzeitigen Umstand, dass einige von diesen sofort eine bestimmende Rolle in der Universität übernahmen. Schon wenige Tage nach dem amerikanischen Einmarsch konstituierte sich mit Genehmigung der Besatzungsmacht ein Ausschuss aus Professoren und Dozenten, der über die Neugestaltung der Universität beriet und als informelles Gremium mehrere Jahre lang in Tätigkeit blieb.⁶⁰ Fünf der 13 anfänglichen Mitglieder dieses sogenannten Dreizehnerausschusses waren amtsverdrängte Professoren, die nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus reaktiviert worden waren: der Philosoph Karl Jaspers, die Juristen Gustav Radbruch und Walter Jellinek, der Altphilologe Otto Regenbogen und der Nationalökonom Alfred Weber.⁶¹ Karl Jaspers, der aus gesundheitlichen Gründen kein Amt übernehmen wollte, wurde im August zum Ersten Senator und damit zum Wahlmitglied des Senats gewählt, Radbruch übernahm das Dekanat der Juristischen, Regenbogen das Dekanat der Philosophischen Fakultät.⁶²

sches und ausländisches Privatrecht, Handels-, Wechsel- und Arbeitsrecht). Aus Altersgründen wurde Ernst Rodenwaldt (geb. 1878) im Jahre 1948 lediglich mit der Vertretung seines Lehrstuhls in Form eines Lehrauftrags betraut: UAH, Personalakte Rodenwaldt. 58 Es handelt sich um die Professoren und Universitäten: Kurt Goerttler (Anatomie), Freiburg (1948); Hildebrecht Hommel (Klassische Philologie), Tübingen (1955); Horst Jecht (Volkswirtschaftslehre), Münster (1951); Harro Jensen (Anglistik), Mainz (1954); Hermann Krause (Rechtsgeschichte, Bürgerliches Recht), Mannheim (1950); Walter Mönch (Romanistik), Mannheim (1956); Wolfgang Panzer (Geographie), Mainz (1953); Karl Schmidhuber (Zahnmedizin), Köln (1951); Udo Wegner (Mathematik), Saarbrücken (1956/1961). Die Daten sind nach Kürschners Deutschem Gelehrten-Kalender, 8.–10. Ausgabe, 1954, 1961 und 1966, bzw. anhand der Personalakten im UAH ermittelt. Anschlussberufungen wurden nicht berücksichtigt. 59 Außer den in Anm. 33 Genannten handelt es sich um die Professoren Johann Daniel Achelis (Physiologie), Willy Andreas (Neuere Geschichte), August Becker (Physik), Kurt Fischbeck (Physikalische Chemie), Hermann Güntert (Vergleichende Sprachwissenschaft), Paul Krüger (Zoologie), Theodor Odenwald (Systematische Theologie), Fritz Pietrusky (Gerichtsmedizin), Ernst Schuster (Volkswirtschaftslehre), Walter Thoms (Betriebswirtschaftslehre), Heinrich Vogt (Astronomie) und Julius Wilser (Geologie und Paläontologie). 60 Tätigkeitsbericht Bauer, 7. August 1946, S. 1 f., RG 260, OMGWB 12/87–1/12, BGLA. 61 Vgl. Mußgnug: Vertriebene Dozenten (wie Anm. 40), bes. S. 199 f. 62 Tätigkeitsbericht Bauer, 2, RG 260, OMGWB 12/87–1/12, BGLA.

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Außer Jaspers, Radbruch, Jellinek, Weber und Regenbogen kehrten auch die anderen in Deutschland verbliebenen amtsverdrängten Professoren auf ihre Lehrstühle zurück: so der Kunsthistoriker August Grisebach, der Philosoph Ernst Hoffmann und der Ägyptologe Hermann Ranke, insgesamt also acht ordentliche Professoren. Der ehemalige außerordentliche Professor für Publizistik, Hans von Eckardt, wurde 1946 auf ein Extraordinariat für Soziologie berufen.⁶³ Die Reaktivierung dieser Professoren war ein ebenso klares Bekenntnis zum Neubeginn und zur Distanzierung gegenüber dem nationalsozialistischen Unrecht wie der Senatsbeschluss vom Juli 1945 zur Trennung von belasteten Mitgliedern der Universität. Dass grundsätzlich auch die emigrierten Dozenten rehabilitiert werden sollten, sofern sie erreichbar waren, beschloss der Senat in der Sitzung vom 30. November 1945.⁶⁴ Dennoch kam die Verbindung zu den im Ausland noch lebenden ehemaligen Angehörigen der Universität nur schleppend in Gang, zu einigen überhaupt nicht. Nur wenige sind schließlich nach Heidelberg zurückgekehrt.⁶⁵ Von 1945 an bemühte sich die Universität immer wieder, emigrierte Wissenschaftler nach Heidelberg zu berufen, und zwar auch solche, die vor 1933 nicht an der Ruperto-Carola gelehrt hatten. Zu diesen gehörte der seit 1938 in Basel lebende Pädiater Ernst Freudenberg, der in Chicago wirkende Nobelpreisträger für Physik von 1925, James Franck, und der ebenfalls in Chicago lehrende Historiker Hans Rothfels.⁶⁶ Was die aus Heidelberg vertriebenen Dozenten betrifft, so bemühte sich Gustav Radbruch als Dekan der Juristischen Fakultät seit Dezember 1945, den Römischrechtler Ernst Levy zur Rückkehr aus Seattle zu bewegen, und die Naturwissenschaftlich-Mathematische Fakultät bot im Jahre 1949 dem ehemaligen Heidelberger Kollegen Artur Rosenthal den Lehrstuhl für Mathematik an. Keiner der Genannten konnte jedoch für Heidelberg gewonnen werden.⁶⁷

63 Mußgnug: Vertriebene Dozenten (wie Anm. 40), S. 206 f. (Ernst Hoffmann, „aus Altersund Krankheitsgründen“ nicht mehr formell reaktiviert); S. 214 ff. (August Grisebach); S. 217 f. (Hermann Ranke); S. 219 ff. (Hans von Eckardt). 64 Senatsprotokoll, 30. November 1945, UAH, B-1266/4(2). 65 Im einzelnen vgl. Mußgnug: Vertriebene Dozenten (wie Anm. 40), bes. S. 187 ff., 222 ff., 244 ff. 66 Ernst Freudenberg: Senatsprotokoll, 28. August 1945, UAH, B-1266/4(2); James Franck: Rektor Hans Frhr. von Campenhausen, Tatsachenbericht, 17. April 1947, 3, RG 260, OMGWB 12/87–1/17, BGLA; Hans Rothfels: Philosophische Fakultät, Sitzungsprotokoll, 12. November 1947 und 14. Januar 1948, UAH, H-IV-201/2 und 3. Vgl. auch Mußgnug: Vertriebene Dozenten (wie Anm. 40), S. 266, Anm. 269, über die Berufungsliste von 1947 für den Lehrstuhl für Romanistik mit dem Namen des Emigranten Leo Spitzer. 67 Mußgnug: Vertriebene Dozenten (wie Anm. 40), S. 248 ff., 274 ff.

530 | V Heidelberg: Stadt und Universität Angesichts der zahlreichen Vakanzen infolge der rigorosen Entnazifizierungspolitik der Amerikaner waren auf Seiten der Universität die äußeren Voraussetzungen für eine Rückkehr der Emigranten an und für sich günstig. Ein Problem hätte allenfalls dort entstehen können, wo die Lehrstühle vertriebener Dozenten während des Dritten Reichs mit untadeligen Persönlichkeiten besetzt worden waren. Hier konnte im Prinzip ein Konflikt auftreten zwischen dem älteren Recht der Verdrängten und dem jüngeren Recht der Nachberufenen.⁶⁸ Dass die Universität in der Praxis auch in solchen Fällen Lösungen fand, hatte sie bei der Reaktivierung der in Heidelberg lebenden amtsverdrängten Professoren bewiesen. Der Altphilologe Regenbogen erhielt den Lehrstuhl des Volkskundlers Fehrle, und Gustav Radbruch erhielt den Lehrstuhl des Kriegshistorikers Schmitthenner, da sein eigener Lehrstuhl für Strafrecht mit Karl Engisch besetzt war.⁶⁹ In seiner Korrespondenz mit Ernst Levy betonte Radbruch dementsprechend, die Besetzung von dessen altem Lehrstuhl mit Wolfgang Kunkel bedeute kein Hindernis für eine Rückkehr.⁷⁰ Sucht man nach den Gründen für das Scheitern von so vielen Bemühungen der Universität, emigrierte Wissenschaftler zur Rückkehr zu bewegen, so treten bei aller Variation im einzelnen immer wieder bestimmte charakteristische Schwierigkeiten zutage. Die bürokratischen Hemmnisse, die einem Wechsel nach Deutschland entgegenstanden, waren – vor allem in den ersten Jahren nach Kriegsende – kaum zu überwinden. Ernst Freudenberg begründete die Ablehnung des Rufs auf den Lehrstuhl für Kinderheilkunde mit dem Verhalten der amerikanischen Behörden.⁷¹ Dem nach Frankreich deportierten Honorarprofessor der Juristischen Fakultät, Leopold Perels, gelang es bis zu seinem Tode im Jahre 1954 nicht, die erforderlichen Genehmigungen und behördlichen Zusagen zu erhalten.⁷² Aus der Perspektive eines im Ausland, vor allem in den Vereinigten Staaten Lebenden musste die Lage in Deutschland in höchstem Maße unsicher erscheinen.⁷³ Radbruch bemerkte selbst gegenüber Levy, den er doch gewinnen wollte, 68 Vgl. Philosophische Fakultät, Sitzungsprotokoll, 16. Februar 1946, UAH, H-IV-201/2. Für den Konfliktfall stellte Karl Jaspers den Grundsatz auf: „Das frühere Recht geht vor, jede Besetzung nach 1933 trägt das Risiko minderen Rechts in sich.“ Jaspers stimmte jedoch der Formulierung Friedrich Panzers zu, wonach „nicht die Person“ (des Nachberufenen), „sondern der Staat“ die „Verantwortung für nationalsozialistisches Unrecht“ tragen müsse. 69 Senatsprotokoll, 28. August 1945, UAH, B-1266/4(2). 70 Dekan Radbruch an Ernst Levy, 12. Dezember 1945, UAH, Personalakte Ernst Levy. 71 Mußgnug: Vertriebene Dozenten (wie Anm. 40), S. 245. 72 Ebd., S. 222 ff. 73 Vgl. Karl Jaspers an Hannah Arendt, 19. April 1947. In: Hannah Arendt/Karl Jaspers: Briefwechsel 1926–1969. Hrsg. v. Lotte Köhler und Hans Saner. München/Zürich 1985, S. 118.

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dass der Gedanke einer Rückkehr angesichts der Unvoraussehbarkeit aller Dinge in Deutschland problematisch erscheine.⁷⁴ Umgekehrt hatte eine ganze Reihe von Emigranten inzwischen die amerikanische oder eine andere Staatsbürgerschaft erworben und in der neuen Heimat Arbeitsmöglichkeiten gefunden, wie sie in Deutschland auf absehbare Zeit auch nicht annähernd erwartet werden konnten.⁷⁵ Vielen vertriebenen Professoren erschien es schließlich undenkbar, an einen Ort und in ein Land zurückzukehren, wo ihnen so schweres Unrecht zugefügt worden war. Der Romanist Leonardo Olschki hat nach seiner Amtsenthebung durch die Nationalsozialisten nie mehr in deutscher Sprache publiziert und wollte auch jetzt nicht wieder mit der Universität Heidelberg in Verbindung treten.⁷⁶ Der Mathematiker Artur Rosenthal begründete die Ablehnung des Rufs auf den Mathematischen Lehrstuhl im Jahre 1949 mit dem Hinweis, dass er nicht vergessen könne, was sich während der letzten Zeit seiner Tätigkeit an der Heidelberger Universität und insbesondere danach ereignet habe. Außerdem könne er als Jude sich die Zusammenarbeit mit einer Generation von Studenten nicht vorstellen, die „bis vor vier Jahren im NaziGeist erzogen wurden und unter dem ausschließlichen Einfluß der intensivsten Nazi-Propaganda gestanden haben.“⁷⁷ Solche Bedenken hatten ihr eigenes Gewicht und ließen sich mit dem Hinweis auf die greifbaren Veränderungen seit 1945 nicht einfach entkräften. Die weitgehende Erneuerung des Lehrkörpers, die Wiederherstellung der Autonomie der Universität durch die 1945 vom Dreizehnerausschuss erarbeitete Verfassung, die Entwicklung neuer Formen studentischen Gemeinschaftslebens, die Bemühung um eine Erziehung der Studenten zu Demokratie und sozialer Verantwortung: all dies mochte auch in den Augen eines vom Nationalsozialismus Verfolgten im Jahre 1949 zwar zu Hoffnungen berechtigen; aber dass es schon als hinreichender Beweis für den tatsächlichen Durchbruch einer neuen Zeit gewertet würde, das durfte niemand erwarten. Das Jahr 1945 besiegelte nicht nur die schwerste moralische und politische Krise, die das deutsche Volk in seiner Geschichte erfahren hat, sondern es legte auch den Grund für die Demokratie, in der wir heute sicher leben. Dass die Hinterlassenschaft des Nationalsozialismus in diesem einen Jahr bewältigt werden könne, war von vornherein undenkbar gewesen. Sie ist überhaupt nicht ein für allemal zu bewältigen. Vielmehr muss, wie übrigens alle Geschichte, erst recht diese Erfahrung von jeder Generation neu verarbeitet werden. 74 75 76 77

Radbruch an Levy, 1. Juli 1946, UAH, Personalakte Ernst Levy. Mußgnug: Vertriebene Dozenten (wie Anm. 40), S. 179 ff., 246 f. Ebd., S. 265 ff. Ebd., S. 275.

Auftakt zur permanenten Reform. Die Grundordnung der Universität Heidelberg vom 31. März 1969 Durch* das baden-württembergische Hochschulgesetz vom 19. März 1968 wurden die Universitäten des Landes dazu verpflichtet, sich neue Satzungen, Grundordnungen, zu geben.¹ Die Gestaltungsspielräume waren durch das Gesetz vorgegeben. Ebenfalls im Gesetz geregelt war das Verfahren, nach dem die Universitäten die Grundordnungen erarbeiten sollten. Vorgesehen war an jeder Universität die Wahl einer Grundordnungsversammlung, der die Funktionsträger der akademischen Selbstverwaltung als Amtsmitglieder – der Rektor als Vorsitzender, der Prorektor, die Dekane und die Prodekane – und weitere Personen aufgrund von Wahlen angehören sollten. Die Wahlmitglieder sollten von den Universitätsangehörigen in drei Gruppen gewählt werden. Die erste Wählergruppe bildeten die ordentlichen und außerordentlichen Professoren; die zweite Wählergruppe setzte sich zusammen aus den Dozenten, den Direktoren der zentralen Einrichtungen, den akademischen Räten, den Wissenschaftlichen Assistenten und den wissenschaftlichen Angestellten; die dritte Wählergruppe bestand aus der Studentenschaft. Jede dieser drei Gruppen sollte eine Zahl von Vertretern aus ihren Reihen in die Grundordnungsversammlung entsenden, die der doppelten Zahl der Dekane entsprach.² Durch die genannten Bestimmungen wurde die Größe der Grundordnungsversammlung in einer Universität mit fünf Fakultäten auf 42 Mitglieder festgelegt. Im übrigen traf das Gesetz mit dieser Regelung insofern eine wichtige Vorentscheidung für die künftige Gestalt der Universitätsverfassung, als sie schon für die Grundordnungsversammlung einen Gruppenproporz festschrieb. Die abgestufte Mitwirkung aller Universitätsangehörigen an den Entscheidungen der Universitätsorgane bildete in der Tat eines der Hauptziele des Hochschulgesetzes. Es bestimmte, dass alle Mitglieder der Universität „nach Maßgabe der Grundordnung Pflichten in der Selbstverwaltung“ zu übernehmen und „darauf hinzuwirken“ hätten, dass „die Universität ihre Aufgaben erfüllen kann.“³

* Erstdruck in: Armin Kohnle, Frank Enghausen (Hrsg.): Zwischen Wissenschaft und Politik. Studien zur deutschen Universitätsgeschichte. Festschrift für Eike Wolgast zum 65. Geburtstag. Stuttgart 2001, S. 563–583. 1 § 4 (1) Hochschulgesetz (künftig: HSG) vom 19. 3. 1968. 2 § 66 (1) HSG. 3 § 5 (2) HSG.

534 | V Heidelberg: Stadt und Universität Dementsprechend sah es vor, dass Vertreter aller Gruppen in den Großen Senat und in den Senat zu wählen seien.⁴ Ausdrücklich war die Mitwirkung der Studentenschaft vorgeschrieben im Großen Senat, im Senat und im Verwaltungsrat; in den „ständigen Einheiten für Forschung und Lehre“ war zumindest in denjenigen „Angelegenheiten, die die Studentenschaft unmittelbar betreffen, ein Mitbestimmungsrecht vorzusehen.“⁵ Demokratisierung der Universität und Abschaffung der Ordinarienuniversität erschienen als das Gebot der Stunde, und dies keineswegs nur in studentischen Augen. Selbst in einer Informationsschrift des baden-württembergischen Kultusministeriums vom Juli 1968 wurde von dem neuen Hochschulgesetz gesagt, dass es „bestehende ‚Herrschaftsstrukturen‘ abbauen“ wolle und „auf ein freies partnerschaftliches und demokratisches Zusammenwirken aller Universitätsangehörigen“ hinziele; „die Erbhöfe der Ordinarien“ seien durch das Gesetz „abgeschafft“.⁶ Propagandistische Formeln dieser Art verwischten den Unterschied zwischen zwei prinzipiell verschieden zu beurteilenden Arten von Ansprüchen auf Mitwirkung an der Willensbildung innerhalb der Universität: den Ansprüchen derjenigen Mitglieder des Lehrkörpers, die nicht Ordinarien waren, und den Ansprüchen der Studenten, die naturgemäß in einem ganz anderen Verhältnis zur Universität standen als das wissenschaftliche Personal. Von Erbhöfen und Herrschaftsstrukturen konnte, wenn überhaupt, sinnvoll nur mit Bezug auf das Verhältnis zwischen Ordinarien auf der einen und sonstigen Professoren, Dozenten, Akademischen Räten und Assistenten auf der anderen Seite gesprochen werden. Über deren Ansprüche auf Mitsprache bei der Verteilung der Ressourcen eines Instituts oder auf Gewährung von mehr Freiraum für die Verfolgung eigener Forschungsprojekte ließ sich vernünftig streiten. Das Verhältnis zwischen Lehrkörper und Studentenschaft gehörte dagegen einer anderen Kategorie an. Die Entscheidung für die Gruppenuniversität stellte die Grundordnungsversammlungen der Universitäten vor eine schwierige Aufgabe. Das Hochschulgesetz hatte auf der Ebene der Fakultäten und Institute keine Paritäten festgelegt, nach denen die einzelnen Gruppen künftig in den Gremien der Universität mitwirken sollten. So war es den Grundordnungsversammlungen überlassen, einen Ausgleich zu finden zwischen den Gesichtspunkten der Funktionsgerechtigkeit einerseits und den Ansprüchen der einzelnen Gruppen auf Mitbestimmung andererseits. Die Berücksichtigung namentlich der studentischen Ansprüche

4 § 10 (2); § 11 (2) HSG. 5 § 49 (1) HSG. 6 Kultusministerium Baden-Württemberg (Hrsg.): Bildung für die Welt von morgen. Das Hochschulgesetz, eine Chance für die Hochschulreform. Stuttgart 1968, S. 6 f.

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im Rahmen des Möglichen wurde als notwendig erachtet, um die zwischen Studentenschaft und Lehrkörper im Zuge der Studentenbewegung aufgerissenen Gegensätze zu überwinden. In dem Bestreben, den Auftrag zur Verfassungsschöpfung als Instrument zur Reintegration der aufbegehrenden Studentenschaft zu nutzen, erlebte die Universität Heidelberg einen herben Rückschlag, noch bevor die Grundordnungsversammlung überhaupt gewählt war. Am 9. Juli 1968 beschloss das Studentenparlament mit knapper Mehrheit, die Wahlen zur Grundordnungsversammlung zu boykottieren. Die nachfolgenden Aufrufe des Allgemeinen Studentenausschusses an die Studentenschaft, nicht an die Urnen zu gehen, führten dazu, dass die Wahlbeteiligung der Studenten am Wahltag nur bei fünf Prozent lag. Zur Begründung für den Boykottbeschluss erläuterte der Präsident des Studentenparlaments, Herrmann Scheer, in einem Flugblatt, der Umstand, dass 52 Prozent der Sitze in der Grundordnungsversammlung für die Ordinarien bestimmt seien, reduziere die Mitbestimmung der Studenten „auf bloße Mitsprache“. Diese „Einschränkung“ ihrer Mitwirkungsmöglichkeiten wolle die Studentenschaft nicht „durch Beteiligung an der Grundordnungsversammlung sanktionieren.“ Im übrigen forderten das Studentenparlament und der Allgemeine Studentenausschuss die Professoren auf, sich ihrem Boykott anzuschließen, um auf diese Weise den Gesetzgeber zur Überprüfung des Hochschulgesetzes zu veranlassen.⁷ In Übereinstimmung mit dieser Position diffamierte die offizielle Studentenvertretung die Arbeit der Grundordnungsversammlung in der Folgezeit kontinuierlich als einen völlig unzureichenden Versuch, den Anspruch einer zeitgemäßen Verfassungsreform einzulösen. Dass aber die Studentenschaft insgesamt sich vom Boykottbeschluss des Studentenparlaments tatsächlich zur Wahlenthaltung verleiten ließ, lässt sich nur aus Desinteresse und mangelnder Information erklären. Vergeblich warnte Klaus Vogel, Ordinarius für Öffentliches Recht, in einem Brief an den Vorsitzenden des Allgemeinen Studentenausschusses, Volker Mueller, vor der „gefährlichen Illusion, [. . . ] eine Verweigerung der Mitarbeit durch alle Betroffenen“ werde „den Gesetzgeber zu einer Revision des Hochschulgesetzes veranlassen.“⁸ Auch der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde warnte die Studentenvertretung: „Der Versuch, das Hochschulgesetz durch Boykott und passiven Widerstand zu reformieren, ist unrealistisch und verrät eine falsche Einschätzung der bestehenden Machtverhältnisse. Würden sich die Professoren

7 Information des Parlamentspräsidenten, o. D., gez. Herrmann Scheer, Universitätsarchiv Heidelberg (künftig: UAH), B-II, 1d3; Volker Mueller, Vorsitzender des Allgemeinen Studentenausschusses (künftig: AStA) an alle Mitglieder des Lehrkörpers, 12. 7. 1968, ebd. 8 Klaus Vogel an den AStA-Vorsitzenden Volker Mueller, 15. 7. 1968, UAH, B-II, 1d3.

536 | V Heidelberg: Stadt und Universität und sonstige Mitglieder des Lehrkörpers dem Boykottaufruf anschließen, wäre das für die staatlichen Instanzen ein Anlaß, die Selbstverwaltung der Universitäten, die sich als zur Reform unfähig erwiesen hätten, aufzuheben.“⁹ Was also die Mitwirkungsrechte anbelangt, welche das neue Hochschulgesetz für die Studierenden vorsah und für die Grundordnungsversammlung in der Tat schon im Sinne der Viertelparität auch bindend vorschrieb, so hatte der Gesetzgeber sich offensichtlich eine Wohltat ausgedacht, welche die dafür Ausersehenen in ihrer überwältigenden Mehrheit nicht zu nutzen verstanden. Die am 26. Juli 1968 gewählte Grundordnungsversammlung war nicht das erste Gremium innerhalb der Universität, das sich mit der Frage der Strukturreform aufgrund des neuen Hochschulgesetzes befasste. Seitdem Ministerpräsident Hans Filbinger den Gesetzentwurf am 4. Juli 1967 an den Präsidenten des Landtags gesandt hatte, wussten die baden-württembergischen Universitäten, womit sie zu rechnen hatten, unbeschadet aller Veränderungen, die der Landtag im Zuge der Gesetzesberatungen noch an dem Entwurf vornehmen mochte.¹⁰ Da der Entwurf vorsah, dass die Grundordnungen durch die bisher zuständigen Universitätsorgane zu beschließen seien¹¹, wählte der Engere Senat am 25. Juli 1967 den Strafrechtler Wilhelm Gallas zum Senatsbeauftragten für vorbereitende Arbeiten an einer neu zu erstellenden Universitätssatzung und bat ihn, ein Mitarbeitergremium zu bilden und dem Senat zur Bestätigung vorzuschlagen.¹² Am 7. November setzte der Engere Senat dementsprechend eine Kommission ein mit dem Auftrag, „den Entwurf für eine Grundordnung der Universität vorzubereiten.“¹³ Dem Ausschuss gehörten die Professoren Werner Conze (Historiker), Wilhelm Doerr (Pathologe), Wilhelm Gallas, Privatdozent Waldemar Hecker (Chirurg), Rolf Rendtorff (Theologe), Christoph Schmelzer (Physiker), Hans Schneider (Staatsrechtler) und Carl Christian von Weizsäcker (Volkswirt), der Wissenschaftliche Assistent Reinhard Mußgnug (Öffentlichrechtler) und die Studenten Braunbehrens, Kramer und Stoltefuß an.¹⁴ Einige der genannten Professoren wurden später auch in die Grundordnungsversammlung gewählt, darunter Werner Conze und Rolf Rendtorff. Unter dem Vorsitz von Wilhelm Gallas

9 Ernst-Wolfgang Böckenförde an den AStA-Vorsitzenden Volker Mueller und den Präsidenten des Studentenparlaments, Herrmann Scheer, 20. 7. 1968, UAH, B II-1d5, 1968–28. 11. 68. 10 Entwurf eines Hochschulgesetzes. In: Landtag von Baden-Württemberg. 4. Wahlperiode 1964–1968. Bd. 10, Beilage 4650, S. 7977–8008; das Anschreiben Filbingers auf S. 7977. 11 Ebd., § 62 (1). 12 Senatsprotokoll vom 25. 7. 1967, UAH, B-1266/16. 13 Senatsprotokoll vom 7. 11. 1967, ebd. 14 Ebd.; Wilhelm Gallas: Bericht über die Arbeit des Grundordnungsausschusses, o. D., UAH, H-IV, 060/3, S. 1, Anm.

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tagte der Ausschuss zwischen dem 30. November 1968 und dem 19. Februar 1969 insgesamt siebenmal und beriet dabei über folgende Problemkreise: Rektoratsoder Präsidialverfassung; Demokratisierung der Hochschule; Neugliederung im Bereich der Fakultäten; Institutsverfassung.¹⁵ Die Vorschläge des Ausschusses zu diesen Themen haben zu einem erheblichen Teil ihren Niederschlag in der späteren Grundordnung gefunden. Als die Grundordnungsversammlung am 28. September zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammentrat, zeigte sich bereits in der Debatte über die Geschäftsordnung, mit welcher Hypothek der Boykottbeschluss des Studentenparlaments Arbeit und Erfolgschancen des Gremiums belastete. Mehrere Redner verlangten, die Studentenschaft über die von den genannten fünf Prozent der Wahlberechtigten gewählten zehn Vertreter hinaus dadurch doch noch an der Arbeit der Grundordnungsversammlung zu beteiligen, dass der Öffentlichkeit, wie man sagte, also den jeweils anwesenden Zuhörern, ein möglichst weitgehendes Rederecht, ja Antragsrecht, eingeräumt werde. Am entschiedensten brachte Jürgen Welp, Wissenschaftlicher Assistent am Juristischen Seminar, diesen Standpunkt zum Ausdruck, als er erklärte, die Grundordnung könne „nur dann zu einer neuen Ordnung der Universität führen, wenn sie als Integrationsfaktor“ wirke. Dazu aber sei erforderlich, dass in der Grundordnungsversammlung „alle Vorstellungen zu Wort kommen, die über eine Neuordnung in der Universität bestehen.“ Ausdrücklich fügte er hinzu, es gehe darum, den „Boykott“ durch eine „aktive“, das heißt mitberatende, „Öffentlichkeit auszugleichen“.¹⁶ Auf den Einwand des Physikers Otto Haxel, die Grundordnungsversammlung werde „arbeitsunfähig“, wenn man sämtlichen Mitgliedern der Universität nach Wunsch Rederecht erteile, entgegnete der Wissenschaftliche Assistent am Historischen Seminar, Volker Wieland, die Universität müsse „demokratisch“ sein, „weil Wissenschaft ein demokratischer, ein argumentativer Vorgang“ sei. Die Universität müsse „die Schule der Demokratie“ werden, und daher müsse man „den Argumenten von Herrn Welp doch Rechnung tragen.“¹⁷ Auch Rolf Rendtorff sprach sich dafür aus, „jede Möglichkeit zu nutzen, um das, was in der Gesamtheit der Universität an Argumenten und Information vorhanden ist, wirklich zur Sprache zu bringen.“ Entschieden gegen den Vorschlag votierten vor allem die beiden Öffentlichrechtler Klaus Vogel und Ernst-Wolfgang Böckenförde. Namentlich Böckenförde hob hervor, dass die bereits beschlossenen Regelungen ein Höchst-

15 Ebd., S. 1. 16 Abschrift der Tonbandaufnahme der konstituierenden Sitzung der Grundordnungsversammlung (künftig: GOV) am 28. 9. 1968, UAH, B-II,1d5 Nebenakte, S. 78. 17 Ebd., S. 80 f.

538 | V Heidelberg: Stadt und Universität maß an Offenheit darstellten. Jeder Universitätsangehörige könne Vorschläge an die Grundordnungsversammlung richten. Jedes Mitglied des Gremiums könne sich einen von außen kommenden Vorschlag zu eigen machen und als Antrag in die Beratungen einbringen. Vorgesehen sei ferner, dass bei allen Sitzungen des Plenums und der Ausschüsse Zuhörer zugelassen würden. Außerdem sollten die Ausschüsse öffentliche Anhörungen und Diskussionsveranstaltungen anberaumen, bevor sie über Grundsatzfragen Entscheidungen träfen. Darüber hinaus könne man daran denken, auch vor wichtigen Entscheidungen des Plenums Diskussionsveranstaltungen anzubieten. Zum Boykott durch die Studentenschaft meinte Böckenförde, die Grundordnungsversammlung könne sich nicht zum Ziel setzen, „die Konsequenzen dieser Entscheidung“, welche die Studentenschaft selbst zu verantworten habe, „wieder aufzuheben“. Letztlich müsse „die Versammlung selbst, dafür hat sie die Verantwortung und die Legitimation, die Entscheidung finden und auch dafür geradestehen.“¹⁸ Immerhin bestand Konsens darüber, dass die Grundordnungsversammlung unter den Augen der Öffentlichkeit arbeiten sollte. Dass die Mitglieder der Universität als Zuhörer zu den Beratungen zugelassen seien, wurde einstimmig beschlossen. Außerdem einigte sich die Versammlung darauf, dass jedem Universitätsangehörigen sowohl im Plenum als auch in den Ausschüssen auf Antrag eines einzelnen Mitglieds des jeweiligen Gremiums (also ohne einen vorgängigen Beschluss) das Wort erteilt werden müsse.¹⁹ Zu den Plenarsitzungen war auch die Presse eingeladen. Außerdem setzte der Präsidialrat Anfang November 1968 in Ausführung eines Beschlusses des Plenums vom 4. des Monats eine Arbeitsgruppe für Kommunikation ein, bestehend aus den Herren Klaus Vogel und Jürgen Welp sowie dem studentischen Mitglied Adolf-Dieter Friedrichs. Jeder von den Genannten stand fortan der Presse für Auskünfte zur Verfügung.²⁰ Es war abzusehen, dass die in solchem Maße auf Transparenz gestimmte Versammlung auch für die Arbeit der Gremien nach der zu schaffenden Grundordnung entsprechende Verfahrensgrundsätze beschließen würde. In der Tat sah die Grundordnung vor, dass die Sitzungen des Großen Senats der Öffentlichkeit uneingeschränkt zugänglich seien.²¹ Die Sitzungen der Fakultäts- und Fachgruppenkonferenzen sollten für die Mitglieder der entsprechenden Untergliederungen öffentlich sein, sofern nicht Gegenstände beraten wurden, die durch Gesetz, durch die Grundordnung oder aufgrund eines Beschlusses des betreffenden Kollegialorgans der Geheimhaltung

18 Ebd., S. 83, 90 f. 19 Rektorat an das Kultusministerium, 27. 11. 1968, UAH, B-II, 1d5, 1968–28. 11. 68. 20 Pressemitteilung vom 13. 11. 1968, UAH, ZA-IIa 85.1 GOV 1968/1969. 21 Grundordnung (künftig: GO) der Universität Heidelberg vom 31. 3. 1969, § 22 (2).

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unterworfen waren.²² Für Senat und Verwaltungsrat hatte das Hochschulgesetz die Nichtöffentlichkeit der Sitzungen bestimmt.²³ Die Grundordnungsversammlung sprach sich mehrheitlich dafür aus, gleichwohl auch zu den Sitzungen des Senats Angehörige der Universität als Zuhörer zuzulassen, sofern nicht eine Angelegenheit der Geheimhaltung nach den Bestimmungen der Grundordnung unterlag. Daher wurde beschlossen, über das Kultusministerium einen Antrag auf Novellierung des Hochschulgesetzes und Streichung der entsprechenden Bestimmung zu stellen. Die Begründung formulierte Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Da der Senat in der durch das Hochschulgesetz vorgesehenen Zusammensetzung primär den Charakter eines Legislativorgans hat, ist der Ausschluß jeglicher Öffentlichkeit nicht mehr gerechtfertigt.“²⁴ Einstweilen wurde ersatzweise die Bestimmung in die Grundordnung aufgenommen, dass der Senat „vor der Beratung und Entscheidung grundsätzlicher Angelegenheiten öffentliche Fragestunden und Informationssitzungen abhalten“ solle, zu denen „die Angehörigen der Universität und Vertreter der Presse zugelassen“ seien.²⁵ Begriffe aus der Sphäre der Politik und des Verfassungsrechts wie der Vergleich des Senats mit einem Parlament waren in nahezu allen Lagern bei der Hand, wenn es darum ging, den Auftrag der Grundordnungsversammlung zu definieren oder Vorschläge zur Gestaltung der Grundordnung selbst zu begründen. Die Verwendung solcher Begriffe eignete sich trefflich für jede Art von Polemik, weil die Grenze zwischen ihrer wörtlichen und ihrer metaphorischen Bedeutung beliebig überschritten werden konnte. Schon das Schlagwort von der Demokratisierung der Universität ließ sich allzu leicht gegen die Arbeit der Grundordnungsversammlung kehren, da es den Grundsätzen der politischen Demokratie natürlich nicht entsprach, dass die Repräsentanten der größten Gruppe der Universitätsmitglieder, der Studenten, in dem Gremium an Zahl noch nicht einmal die Hälfte der Professoren ausmachten. Der Historiker Werner Conze gebrauchte den Begriff der Demokratisierung in einem tatsächlich nur auf die Universität anwendbaren Sinne, wenn er erklärte, Prinzip der Demokratisierung müsse die Leistungsauslese sein.²⁶ Jürgen Welp verglich die Grundordnungsversammlung in der konstituierenden Sitzung am 28. September 1968 mit einem Verfassungskonvent und bemängelte, dass im Hochschulgesetz

22 § 50 (1) GO; § 63 (3) GO; § 143 (1) GO. 23 § 11 (3) HSG; § 12 (5) HSG. 24 Rektor Baldinger an das Kultusministerium, 25. 4. 1969, UAH, B-II, 1d5, 17. 3. 69 – Mai 1969. 25 § 30 (5) GO. 26 Rektor oder Präsident?, Rhein-Neckar-Zeitung (künftig: RNZ), 5. 12. 1968, UAH, B-II, 1d5. Sonderakte, GOV, Zeitungsausschnitte 1968–Mai 1969.

540 | V Heidelberg: Stadt und Universität nicht vorgesehen sei, den ausgearbeiteten Entwurf der Grundordnung in der Universität einem Referendum zu unterwerfen: „Mithin sind diese 42 Mitglieder des Ausschusses gewissermaßen die Träger der Universitätssouveränität, mit einem Wort: die Universitätsdiktatoren“, und unterliegen „keiner weiteren Kontrolle [. . . ] 42 Menschen können hier etwas ins Werk setzen, nach dem später zwölfoder dreizehntausend Menschen leben und arbeiten sollen.“²⁷ Als Jurist wusste Welp natürlich genau, dass die Universität nicht souverän war und nicht die verfassunggebende Gewalt für ihren Bereich besaß. Vielmehr verfügte sie über dasjenige Maß an Autonomie, das ihr vom Hochschulgesetz zugestanden worden war. In diesem Rahmen besaß sie Satzungsgewalt, aber diese Satzungsgewalt erstreckte sich noch nicht einmal auf den Gesamtbereich der Universitätsverfassung, denn eine Reihe wichtiger Verfassungsentscheidungen hatte das Hochschulgesetz bereits vorweg getroffen. Insofern ist die im Text der Grundordnung vom 31. März 1969 niedergelegte neue Universitätsverfassung auch nicht in allen Teilen Ausdruck des Gestaltungswillens der Universität, sondern in wichtigen Bereichen Ergebnis der Hochschulpolitik des Landes. Ein vorrangiges Ziel dieser Hochschulpolitik, in der Landesregierung vertreten durch Kultusminister Wilhelm Hahn, als praktischer Theologe selbst Ordinarius der Universität Heidelberg und von 1958 bis 1960 deren Rektor, bestand darin, die Universitäten des Landes in die Lage zu versetzen, mit den rapide steigenden Studentenzahlen fertig zu werden. Die Empfehlungen des Wissenschaftsrats von 1960 hatten bereits zu einer erheblichen Ausweitung des Lehrkörpers geführt. Mit dieser Methode allein jedoch glaubte man den erwarteten weiteren Zuwachs der Nachfrage nach Studienplätzen nicht bewältigen zu können. Vielmehr hielt man es für erforderlich, den gesamten Hochschulbereich des Landes neu zu ordnen. Zu diesem Zweck wurde eine Kommission unter Vorsitz des Soziologen Ralf Dahrendorf mit dem Entwurf eines Hochschulgesamtplans für Baden-Württemberg betraut.²⁸ Das Hochschulgesetz diente in diesem Zusammenhang vor allem dem Zweck, die Universitäten in die Lage zu versetzen, sich selbst entsprechend den durch die Zeitumstände gegebenen Anforderungen zu reformieren. Die neue Universitätsverfassung war somit nicht schon selbst die Reform der Universität, sondern zunächst einmal das Instrument für die Reform. Dabei wurde Reform nicht als ein einmaliges Werk der Erneuerung, sondern, wie das Hochschulgesetz gleich im zweiten Paragraphen bestimmte, als „eine ständige gemeinsame Aufgabe des

27 Abschrift der Tonbandaufnahme der konstituierenden Sitzung der GOV, UAH, B-II, 1d5 Nebenakte, S. 77. 28 Vgl. Kultusministerium Baden-Württemberg (Hrsg.): Hochschulgesamtplan Baden-Württemberg. Villingen 1967.

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Landes und der Universitäten“ aufgefasst.²⁹ Die Grundordnung nahm diese Vorschrift auf, indem sie unter die Aufgaben der Universität neben Forschung, Lehre, Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und Mitwirkung an der wissenschaftlichen Fortbildung auch „die ständige Reform ihrer Funktionen, Methoden und Strukturen in kritischer Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung“ zählte.³⁰ Allein dieser Paragraph verdeutlicht den tiefen Einschnitt, den Hochschulgesetz und Grundordnung von 1968 und 1969 für die Entwicklung der Universität mit sich brachten. Die Bereitschaft zu fortgesetzter Veränderung wurde zu ihrem Funktionsprinzip erklärt und zwar ausdrücklich nicht nur im Hinblick auf Prüfungsordnungen, Studiengänge oder die Organisation der Forschung, sondern auch mit Bezug auf die Universitätsverfassung. Der Grundsatz ermöglichte es in der Folgezeit insbesondere der Hochschulpolitik, die Universitäten unter Berufung auf deren vermeintliche oder wirkliche Reformbedürftigkeit mit immer neuen Vorschriften zu überziehen. Die seither in regelmäßigen Abständen vorgenommenen Novellierungen des Hochschulgesetzes mit anschließender Anpassung der Grundordnung und der Prüfungsordnungen sprechen für sich. Permanente Reform verlangte natürlich permanente Diskussion und permanente Infragestellung eingespielter Verfahrensweisen. Eine wesentliche Funktion der von den einzelnen Gruppen beschickten Gremien nach der von der Grundordnungsversammlung geschaffenen Struktur sollte darin bestehen, innerhalb der Universität auf allen Ebenen ein Forum für diese Diskussion und die entsprechende Willensbildung bereitzustellen. Das studentische Mitglied der Grundordnungsversammlung Adolf-Dieter Friedrichs brachte diesen Gedanken bei der ersten Lesung der Grundordnung am 4. Dezember nach einem Zeitungsbericht auf die Formel, „daß jede Reform der Universität die Möglichkeit ständiger Veränderung geben“ müsse.³¹ Das Prinzip permanenter Veränderung stellte hohe Anforderungen an die Handlungsfähigkeit der Universität und damit vor allem an die institutionelle Ausgestaltung der Universitätsspitze, da die Universität in die Lage versetzt werden musste, für notwendig erachtete Reformen auch zu verwirklichen. Da die beiden wichtigsten Neuerungen nach der Strukturreform von 1969 die Gewährung von Mitwirkungsrechten an die einzelnen Gruppen unter Neugliederung der Fakultäten und zum andern die Stärkung der Leitungsstruktur der Universität bildeten, lässt sich die Grundordnung von 1969 nach dem Gesagten in ihren wesentlichen Zügen unschwer aus dem Gedanken der permanenten Reform interpretieren.

29 § 2 HSG. 30 § 2 (1) GO, Buchstabe e. 31 Rektor oder Präsident?, RNZ, 5. 12. 1968 (wie Anm. 26).

542 | V Heidelberg: Stadt und Universität Bis zur Einführung der neuen Universitätsverfassung war die Universität von einem jährlich wechselnden Rektor geleitet worden, dem nur eine schwach ausgebildete Universitätsverwaltung zur Seite gestanden hatte. Der Senat hatte sich seit der letzten Satzungsänderung von 1965 aus dem Rektor, dem Prorektor, dem designierten Rektor, den Dekanen der fünf Fakultäten, einem Wahlsenator aus dem Kreis der Ordinarien und je einem Wahlsenator aus dem Kreis der Extraordinarien und der außerplanmäßigen Lehrkräfte zusammengesetzt.³² Daneben hatte es einen Großen Senat mit beschränkten Aufgaben gegeben. Diese Struktur war für Modellversuche und permanente Reformen in der Tat nicht geschaffen. Das Hochschulgesetz stellte den Universitäten daher zwei neue Leitungsmodelle zur Wahl. Nach dem ersten Modell würde die Universität künftig von einem Universitätspräsidenten mit einer Amtszeit von acht Jahren geleitet. Wenn sich eine Universität jedoch für die Beibehaltung der Rektoratsverfassung entschied, dann musste die Grundordnung dem Rektor einen Kanzler als Leiter der Wirtschafts- und Personalverwaltung mit einer Amtszeit von acht Jahren an die Seite stellen.³³ Als weiteres Organ zur Stärkung der Handlungsfähigkeit der Universität schuf das Hochschulgesetz den Verwaltungsrat. Ihm sollten unter dem Vorsitz des Rektors beziehungsweise Präsidenten der Kanzler und vier vom Senat auf vier Jahre zu wählende Personen angehören, von denen einer Dozent sein musste. Die Grundordnung bestimmte, dass drei der Wahlmitglieder Universitätslehrer, also habilitierte und beamtete Mitglieder des Lehrkörpers, sein müssten, unter ihnen mindestens ein Lehrstuhlinhaber und ein Dozent. Ferner schrieb das Hochschulgesetz vor, dass der Senat aus seiner Mitte ein Mitglied des Wissenschaftlichen Dienstes und einen Vertreter der Studentenschaft in den Verwaltungsrat entsende, allerdings nur mit beratender Stimme. Die Befugnisse des Verwaltungsrats umfassten im wesentlichen die Verwendung der materiellen Ressourcen der Universität, also die Aufstellung des Haushaltsvoranschlags, die Verteilung der zugewiesenen Mittel und Stellen, die Planung der baulichen Entwicklung, Entscheidungen über Grundstücks- und Raumverteilung und den Erlass von Ordnungen über die Verwaltung und Benutzung von Universitätseinrichtungen.³⁴ Die Einrichtung des Verwaltungsrats führte zur Trennung von akademischer und Wirtschaftsverwaltung. Wenn der Senat dadurch auf die akademischen Angelegenheiten beschränkt wurde, so lag die Rechtfertigung dafür wesentlich darin, dass der Zwang zur Entsendung von Vertretern aller Gruppen

32 Hermann Weisert: Die Verfassung der Universität Heidelberg. Überblick 1386–1952. Heidelberg 1974, S. 140, 146 f. 33 §§ 8, 9, 13 und 14 HSG. 34 § 12 HSG; §§ 32 und 33 GO.

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in den Senat sowie die zu erwartende Vermehrung der Fakultäten und damit der Dekane, die Sitz und Stimme im Senat haben sollten, zu einer solchen Aufblähung dieses Gremiums führen mussten, dass es für die Führung der Wirtschaftsverwaltung ungeeignet erschien. Hinzu kam angesichts der technischen Komplexität der Materien, für die der Verwaltungsrat zuständig war, das Erfordernis einer gewissen Expertise und das Anliegen der Kontinuität. Deswegen sollten die Mitglieder des Verwaltungsrats auf vier Jahre gewählt werden. Wiederwahl wurde ausdrücklich für zulässig erklärt.³⁵ Die Grundordnungsversammlung entschied sich bereits in der ersten Lesung für die Beibehaltung der Rektoratsverfassung. Die Amtszeit des Rektors, der aus dem Kreis der ordentlichen Professoren zu wählen war, wurde auf drei Jahre festgesetzt. Mehrmalige Wiederwahl war zulässig.³⁶ Verschiedene Überlegungen hatten zur Entscheidung für die Rektoratsverfassung geführt. Die Figur des Rektors schien dem Anspruch der Universität auf Autonomie stärker entgegenzukommen. Die Institution des Rektors unterstrich im Einklang mit einer Jahrhunderte zurückreichenden Tradition den korporativen Charakter der Universität. Der Präsident dagegen wurde als verlängerter Arm des Ministeriums empfunden, zumal er wie der Kanzler aufgrund eines gemeinsamen Vorschlags des Kultusministers und der Universität vom Ministerpräsidenten ernannt werden sollte, während für die Bestellung des Rektors die Wahl durch den Großen Senat genügte.³⁷ Auch hielt man die vorgesehene Dotierung des Präsidenten nicht für ausreichend, um eine geeignete Persönlichkeit von außen zu gewinnen, und die Wahl für eine Amtszeit von acht Jahren wurde als ein zu großes Risiko empfunden. In diesem Sinne wurde ein weiteres Argument zugunsten der Rektoratsverfassung darin gesehen, dass die Grundordnung für den Rektor die Abwahl durch den Großen Senat vorsehen konnte.³⁸ Die Bestimmung ist bezeichnend für das Misstrauen gegen Amtsträger, das einen Teil der Mitglieder der Grundordnungsversammlung erfüllte. Auch in der Gallasschen Senatskommission hatte die Überlegung, dass der Präsident nicht abrufbar sein würde, eine Rolle gespielt. Nachdem der gleichzeitig in Heidelberg und in Harvard lehrende Politikwissenschaftler Carl Joachim Friedrich im übrigen vor der Kommission dargelegt hatte, „daß die Stellung des amerikanischen Universitätspräsidenten weder ihrem Inhalt noch ihren Voraussetzungen nach [. . . ] als Vorbild in Be-

35 § 12 (3) und (4) HSG. 36 § 7 (1) und (3) GO. 37 §§ 9 (2), 14 (2) und 13 (2) HSG. 38 Protokoll der ersten Gesamtsitzung des Ausschusses I der GOV am 18. 11. 1968, UAH, B-II, zu 1d5, 1968; § 12 (1)–(3) GO.

544 | V Heidelberg: Stadt und Universität tracht“ komme, gelangte die Mehrheit auch dort zu der Überzeugung, dass die Vereinigung der Funktionen von Rektor und Kanzler zusammen mit dem Vorsitz im Verwaltungsrat in der Person eines Präsidenten „das ‚autoritäre‘ auf Kosten des korporativ-dynamischen Elements in einer Weise verstärken“ würde, „die dem Geist der Universität abträglich wäre“.³⁹ Die Möglichkeit, den Rektor abzuwählen, stand in eigentümlichem Kontrast zu der Entscheidung des Gremiums, seine Amtszeit auf drei Jahre auszudehnen. Diese Regelung entsprang der Einsicht, dass die neuen Aufgaben und die bereits erreichte Größe der Universität ein höheres Maß an Kontinuität an der Spitze erforderten, als bisher üblich gewesen war. Außerdem stand zu erwarten, dass nur ein über mehrere Jahre hinweg amtierender Rektor in der Lage sein würde, ein Gegengewicht gegen den Kanzler zu bilden. Insofern lag die Ausdehnung der Amtszeit des Rektors in der Logik des Hochschulgesetzes, auch wenn dieses selbst für ihn lediglich eine einjährige Amtszeit zwingend vorgeschrieben hatte.⁴⁰ Den Überlegungen, die Amtszeit des Rektors auf vier Jahre auszudehnen, widersprachen vor allem Naturwissenschaftler und Mediziner in der Grundordnungsversammlung. Drei Jahre, so meinte der Chemiker Heinz Staab, seien die äußerste Frist, für die sich ein Chemiker, Physiker oder Mediziner ohne gravierende Nachteile von seiner Forschung verabschieden könne.⁴¹ Neben der Entscheidung über die Leitungsstruktur der Universität war die wichtigste Aufgabe der Grundordnungsversammlung die Neugliederung der Fakultäten. Sie wurde unausweichlich, wenn einerseits der Expansion des Lehrkörpers, andererseits dem Bedürfnis nach Gewährung von Mitwirkungsrechten über den Kreis der Ordinarien hinaus Rechnung getragen werden sollte. Das Hochschulgesetz ließ den Universitäten in dieser Frage verhältnismäßig freie Hand, indem es bestimmte, dass „die Gliederung der Universität in ständige Einheiten für Forschung und Lehre (Fakultäten, Abteilungen, Fachbereiche usw.) und die Vertretung dieser Einheiten [. . . ] durch die Grundordnung“ zu regeln seien.⁴² Schon der von Wilhelm Gallas geleitete Senatsausschuss hatte sich auf der Grundlage eines von Carl Christian von Weizsäcker ausgearbeiteten Vorschlags mit der Frage befasst. Drei Gesichtspunkte waren dem Ausschuss für die Neuordnung im Fakultätsbereich „maßgebend“ erschienen: „die Verbesserung der

39 Gallas: Bericht (wie Anm. 14), S. 4. 40 § 13 (2) HSG; Altrektorin Margot Becke hatte vorgeschlagen, den Rektor für ein und die Prorektoren für drei Jahre wählen zu lassen: Becke, Die Organe der Universität, I. Exekutive (Entwurf), o. D., UAH, B-II, zu 1d5, 1968. 41 Rektor oder Präsident?, RNZ, 5. 12. 1968 (wie Anm. 26). 42 § 6 (1) HSG.

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Verwaltung, insbesondere die der großen Fakultäten; die Verwirklichung des Mitspracherechts der Dozenten, des Mittelbaus und der Studenten; schließlich die Intensivierung, Rationalisierung und Koordinierung der Forschungs- und Lehrtätigkeit durch organisatorischen Zusammenschluß aller durch ihren Anteil an den Aufgaben eines bestimmten Fachbereichs miteinander verbundenen Wissenschaftler.“⁴³ Ungeachtet der Probleme, die sich aus der Vergrößerung des Lehrkörpers und der daraus folgenden Aufblähung der Fakultäten ergaben, war sich die Mehrheit des Ausschusses darin einig, dass „an der Einrichtung des Ordinariats und der damit vorausgesetzten besonderen Qualifikation“ festgehalten werden müsse. Daraus folgte, dass eine Regelung gefunden werden musste, die den Lehrstuhlinhabern auch künftig „die für dieses Amt wesentliche individuelle Mitverantwortung für gewisse grundlegende kollegiale Entscheidungen“ gewährte.⁴⁴ Individuelle Mitverantwortung bedeutete in diesem Zusammenhang, dass die Lehrstuhlinhaber im Unterschied zu anderen Gruppen innerhalb des Lehrkörpers an der Beschlussfassung über grundlegende Fragen, darunter Habilitationen und Berufungen, weiterhin persönlich und nicht bloß durch gewählte Vertreter beteiligt werden sollten. Ein Beschlussgremium auf Fakultätsebene unter dem Namen einer Fakultätskonferenz, in der alle Gruppen und also auch die Lehrstuhlinhaber nur durch Repräsentanten vertreten gewesen wären, hatte Weizsäcker vorgeschlagen. Er wollte die Fakultäten in Fachbereiche gliedern und auf dieser Ebene Fachbereichskonferenzen einrichten. Die Fachbereichskonferenzen sollten aus allen promovierten Wissenschaftlern, die dem entsprechenden Fach angehörten, sowie aus Delegierten der nichtpromovierten Wissenschaftler und der Studenten bestehen. Das Prinzip der persönlichen Mitverantwortung wäre nach diesem Vorschlag somit weit über den Kreis der Ordinarien hinaus ausgedehnt worden, allerdings unterhalb der bisherigen Fakultätsebene.⁴⁵ Die Fakultätskonferenz selbst sollte sich dagegen aus Delegierten der Fachbereiche zusammensetzen. Bei Berufungen sollte dem Ordinariatsprinzip an dieser Stelle lediglich insoweit Rechnung getragen werden, als der Berufungskommission automatisch die Ordinarien desjenigen Fachbereichs angehören sollten, dem der betreffende Lehrstuhl zugeordnet war.⁴⁶ Diese Regelung hätte die Beibehaltung der bisherigen fünf Fakultäten ermöglicht, und selbst nach der ebenfalls im Laufe

43 Gallas: Bericht (wie Anm. 14), S. 10; C. C. von Weizsäcker: Vorschlag zur Strukturierung der Universität Heidelberg, 3. 1. 1968, ebd. 44 Gallas: Bericht (wie Anm. 14), S. 11. 45 C. C. von Weizsäcker: Vorschlag (wie Anm. 43), S. 1. 46 Ebd., S. 5.

546 | V Heidelberg: Stadt und Universität des Wintersemesters 1967/68 vorbereiteten Zweiteilung der mit 64 ordentlichen und außerordentlichen Professoren damals größten, der Philosophischen Fakultät, hätte die Zahl von sechs Fakultäten nicht überschritten zu werden brauchen.⁴⁷ Nahezu einstimmig hatte die Philosophische Fakultät am 31. Januar 1968 befunden, dass die Teilung der Fakultät in zwei, gegebenenfalls auch in drei selbständige Fakultäten „unausweichlich“ sei. Am 21. Februar beschloss die Fakultät ihre Teilung in eine Philosophische Fakultät I und eine Philosophische Fakultät II. Am 10. Juli wurde festgelegt, dass die Philosophische Fakultät I den Namenszusatz „Philologisch-Historische Wissenschaften“, die Philosophische Fakultät II den Namenszusatz „Sozialwissenschaften“ tragen solle. Der Fakultät für Sozialwissenschaften sollten das Alfred-Weber-Institut sowie die Institute für Wirtschafts- und Sozialstatistik, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Soziologie und Ethnologie, Politische Wissenschaft, Psychologie und Geographie zugeordnet werden. Ein Vorschlag von Werner Conze, die beiden Lehrstühle für Neuere Geschichte ebenfalls dieser Fakultät zuzuweisen, obwohl das Historische Seminar der Fakultät für Philologisch-Historische Wissenschaften angehören sollte, hatte in der Strukturkommission der Philosophischen Fakultät am 14. Februar zunächst keine Mehrheit gefunden. Am 10. Juli machte die Fakultät sich eine neue Empfehlung der Strukturkommission zu eigen, nach der die beiden Lehrstühle beiden Fakultäten gleichzeitig angehören sollten. Bereits am 8. Mai hatte die Fakultät die Verselbständigung des Südasieninstituts als ständige Einheit für Forschung und Lehre beschlossen. In derselben Sitzung einigte sich die Fakultät darauf, die Frage einer weiteren Gliederung der Philosophischen Fakultäten I und II diesen selbst zu überlassen.⁴⁸ In einem Rundschreiben an die Fakultätsmitglieder vom 3. April hatte Dekan Ahasver von Brandt (Historiker) unter Hinweis darauf, dass das Hochschulgesetz zum 1. April in Kraft getreten sei, zu einer zügigen Entscheidung ermahnt, sofern die Fakultät Wert darauf lege, die Neugliederung selbst zu bestimmen.⁴⁹ Der Vorgang zeigt, dass die Fakultäten das

47 Ebd., S. 1; vgl. dazu die Anlage zum Brief von Dr. Machleidt an Prof. Gallas, 29. 2. 1968, mit der Übersicht über den Lehrkörper der Universität, UAH, B-II, 1d3; die Fakultät selbst sprach von 64 Lehrstühlen: Dekan Ahasver von Brandt an Rektorin Margot Becke, 20. 5. 1968, UAH, B-II, 1d5, 06.69–10.69. 48 Philosophische Fakultät, Protokolle der Sitzungen vom 31. 1. und 21. 2. 1968 sowie Bericht zum Tagesordnungspunkt 4 (Fakultätsteilung) der Sitzung vom 21. 2. 1968, UAH, H-IV-201/14; Protokolle der Sitzungen vom 8. 5. , 15. 5. und 10. 7. 1968 sowie Aktenvermerk über die Sitzung der Strukturkommission am 14. 6. 1968 (Anlage zur Einladung zur Sitzung vom 10. 7. ), UAH, H-IV-201/15. 49 Dekan Ahasver von Brandt an die Mitglieder der Engeren Fakultät (einschließlich Assistenten- und Studentenvertreter), 3. 4. 1968, UAH, Philosophische Fakultät, Protokollkonzepte der Sitzungen, 1968, H-IV-201/25.

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Hochschulgesetz und die Einberufung der Grundordnungsversammlung als eine Bedrohung ihrer Autonomie empfanden. Am 18. Juli 1968 beschloss auch die Medizinische Fakultät ihre Teilung: Die am Klinikum Mannheim tätigen Professoren und Mitarbeiter sollten zu einer eigenen Fakultät zusammengefasst werden.⁵⁰ Als der Große Senat am 26. Oktober den Anträgen der Fakultäten folgend die Teilung der Philosophischen und der Medizinischen Fakultät beschloss, erhob die Grundordnungsversammlung schärfsten Protest gegen diesen Eingriff in ihre Kompetenz, obwohl der Große Senat seinen Beschluss lediglich als Empfehlung für die Grundordnungsversammlung verstanden hatte.⁵¹ Der Gallassche Senatsausschuss folgte den Vorschlägen Weizsäckers nicht in allen Punkten. So beschloss er, die Fakultät als Beschlussgremium, dem auf jeden Fall alle Lehrstuhlinhaber angehören sollten, beizubehalten, ihre Zuständigkeit jedoch auf wenige zentrale Angelegenheiten wie Berufungen, Habilitationen, Ernennung von Honorarprofessoren und ähnliches zu beschränken. Über die Teilung der Philosophischen Fakultät hinaus empfahl er bereits die Prüfung einer Teilung auch der Medizinischen Fakultät, der damals 58 ordentliche und außerordentliche Professoren angehörten. Im übrigen aber beschloss er im Sinne Weizsäckers die Ergänzung der bisherigen Fakultäten durch einen „gestuften ‚Unterbau‘“. Für die Aufgaben der Verwaltung sollten Sektionen gebildet werden. Im Bereich der Philosophischen Fakultät zum Beispiel sollte jedem Fach eine Sektion entsprechen. Daneben sollten Fachbereichskonferenzen geschaffen werden, denen jeweils die Gesamtheit der in einem bestimmten Fachbereich tätigen Wissenschaftler aller Stufen sowie Vertreter der wissenschaftlichen Hilfskräfte und der studentischen Fachschaften angehören sollten. Das Prinzip der persönlichen Mitwirkung sollte also im Sinne des Weizsäckerschen Papiers auf alle Wissenschaftler ausgedehnt werden, allerdings wie dort auf einer Ebene unterhalb der Fakultäten, wobei der Ausschuss es wegen der Verschiedenartigkeit der Verhältnisse in den einzelnen Fakultäten ausdrücklich offen ließ, ob die Fachbereichskonferenzen auf Sektions-, Instituts- oder Abteilungsebene gebildet werden sollten. Für die Erledigung der laufenden Geschäfte auf Fakultätsebene regte er nach Bedarf die Schaffung von Fakultätsvorständen oder Fakultätsausschüssen an, denen jedenfalls Dekan und Prodekan sowie die Leiter der einzelnen Sektionen angehören könnten.⁵² Offenbar stellte sich der Senatsausschuss im

50 Rektor Kurt Baldinger an den geschäftsführenden Vorsitzenden der GOV, Klaus Vogel, 18. 11. 1968, UAH, B-II, 1d5, 06.69–10.69. 51 Ebd.; Missbilligungsbeschluss der GOV in: Niederschrift über die zweite Sitzung am 4. 11. 1968, UAH, B II-1d5.1. 52 Gallas: Bericht (wie Anm. 14), S. 11 ff.

548 | V Heidelberg: Stadt und Universität übrigen vor, dass angesichts der Empfehlungen zur Mitwirkung aller Gruppen auf der Ebene unterhalb der Fakultäten in dem Beschlussgremium der Fakultät selbst die Mitgliedschaft von Nichtprofessoren und damit zugleich die Größe des Gremiums selbst beschränkt werden könnten. Während er anerkannte, dass den habilitierten Nichtordinarien aufgrund ihrer „Funktion und Sachkenntnis“ ein sehr weitgehendes Mitwirkungsrecht eingeräumt werden müsse, war er in seiner Mehrheit der Auffassung, dass „angesichts des Unterschieds zwischen Lehrenden und Lernenden, zwischen werdenden und fertigen Wissenschaftlern, bei dem den Studenten und Assistenten“ zu „gewährenden Mitspracherecht der Gedanke der Mitbestimmung zurücktrete hinter dem eines Rechts auf Gehör und Kontrolle.“ Zur Wahrnehmung dieses Rechts jedoch genüge es, wenn diese beiden Gruppen in den Beschlussgremien der Fakultäten je nach deren Größe durch jeweils zwei bis höchstens vier gewählte Vertreter repräsentiert würden.⁵³ Der von der Grundordnungsversammlung eingesetzte Unterausschuss Ib (Weitere Gliederung) konnte bei seinen Beratungen an die Tatsache anknüpfen, dass sich innerhalb der Medizinischen und der NaturwissenschaftlichMathematischen Fakultät inzwischen Sektionen gebildet hatten, die bereits eine ganze Reihe von Kompetenzen erhalten hatten, die bisher von den Fakultäten wahrgenommen worden waren. Wie es in der Vorlage des Ausschusses für die erste Lesung der Grundordnung hieß, war die Arbeitsfähigkeit der Fakultäten durch die starke Zunahme ihrer Mitglieder derart beeinträchtigt, dass „sich eine Verlagerung von Entscheidungen in kleinere, überschaubare Gremien als unumgänglich“ erwiesen habe.⁵⁴ Damit erhob sich die Frage, welche Stellung die Sektionen und ihre Gremien im Gesamtaufbau der Universität und vor allem im Verhältnis zu den Fakultäten erhalten sollten. Vor allem musste entschieden werden, welche Ebenen zu ständigen Einheiten von Forschung und Lehre im Sinne des Hochschulgesetzes bestimmt werden sollten: die bisherigen Fakultäten oder die Sektionen, die dann natürlich in der gesamten Universität eingerichtet werden müssten. Die Lösung dieses Problems war auch für die Größe und Gestalt des Senats von Belang, da die Leiter der ständigen Einheiten von Forschung und Lehre nach dem Hochschulgesetz dort Sitz und Stimme haben sollten.⁵⁵ Der Ausschuss empfahl dem Plenum, überall Sektionen zu bilden und sie zu den ständigen Einheiten für Forschung und Lehre zu machen. Er erklärte es für möglich, diesen neugebildeten Einheiten die Bezeichnung Fakultäten zu geben.

53 Ebd., S. 7 f. 54 GOV der Universität Heidelberg, Unterausschuss Ib (Weitere Gliederung), Vorlage für die erste Lesung, Organisation der Universität (§ 6 HSG), UAH, B-II, zu 1d5, 1968, S. 1. 55 § 11 (2) Ziffer 3 HSG in Verbindung mit § 6 (1) HSG.

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Für die Gestaltung der Sektionen beziehungsweise Fakultäten neuer Art machte er verschiedene Vorschläge. Einer der Vorschläge für die Medizin sah etwa die Einrichtung von vier Fakultäten in Heidelberg (Naturwissenschaftlich-Theoretische Medizin, Angewandte und Theoretische Medizin, Klinische Grundlagenfächer und Klinische Spezialfächer) vor. Für die bisherige Philosophische Fakultät wurde eine Gliederung in die Bereiche Philosophie, Psychologie, Pädagogik als erste Sektion; sodann Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, die historischen Fächer, die philologischen Fächer, schließlich Altertumswissenschaften und Orientalistik angeregt. Die Naturwissenschaftlich-Mathematische Fakultät sollte sich in die Sektionen Mathematik, Physik, Chemie, Geowissenschaften und Biologie aufspalten.⁵⁶ Es mag in der Praxis keinen erheblichen Unterschied ausmachen, dass nach dem vorgetragenen Gedankengang die Einrichtung von Fakultäten neuen Typs nicht das Ergebnis einer Aufteilung der bisherigen Fakultäten, sondern Folge der Entscheidung sein würde, dass nicht diese, sondern ihre Untergliederungen die ständigen Einheiten von Forschung und Lehre im Sinne des Hochschulgesetzes bilden sollten. Tatsächlich zeigt dieser Gang des Entscheidungsprozesses jedoch, dass die Grenzen der alten Fakultäten nach wie vor einen spezifischen Zusammenhang zwischen den aus ihnen hervorgegangenen Sektionen konstituierten. Das gilt in besonderem Maße im Bereich der Medizin, aber auch innerhalb der alten Philosophischen Fakultät. Daher waren die Vorschläge zur Neugliederung von vornherein mit Überlegungen verbunden, wie man für die übergreifenden Belange, etwa im Prüfungswesen oder für Planung und Entwicklung, gemeinsame Kommissionen oder andere Gremien schaffen könnte. Den Sektionen oder Fakultäten neuen Typs waren die Institute, Seminare und Kliniken zugeordnet. Auch für diese Ebene wurden Modelle der Willensbildung und Leitung diskutiert, die den verschiedenen Gruppen ein angemessenes Maß an Mitbestimmung einräumen sollten.⁵⁷ Aus den bis zur ersten Lesung der Grundordnung erarbeiteten Vorschlägen lässt sich die endgültige Neugliederung der Universität sowohl im Grundsatz als auch im Detail schon recht genau erkennen. Nach der am 31. März 1969 verabschiedeten Grundordnung gliederte sich die Universität Heidelberg in 16 Fakultäten. Von den alten Fakultäten blieben nur die Theologische und die Juristische Fakultät unangetastet, während die Medizinische Fakultät in fünf, die Philosophische Fakultät in vier und die Naturwissenschaftlich-Mathematische Fakultät in fünf Fakultäten neuen Typs aufgeteilt wurde.⁵⁸ Den Fakultäten wiederum

56 GOV, Unterausschuss Ib (wie Anm. 54), S. 6 f. 57 Ebd., S. 4 f. 58 § 51 (1) GO.

550 | V Heidelberg: Stadt und Universität wurde jeweils eine unterschiedlich große Zahl von Fachgruppen zugeordnet, der Juristischen Fakultät zum Beispiel die Fachgruppen Zivilrecht, Strafrecht und Öffentliches Recht, der Philosophisch-Historischen Fakultät die Fachgruppen Philosophie, Geschichte, Politische Wissenschaft und Kunstwissenschaften.⁵⁹ Den Fachgruppen ihrerseits waren die Institute, Seminare und Kliniken zugeordnet. Organe der Fachgruppen waren der Fachgruppenleiter und die Fachgruppenkonferenz.⁶⁰ Die Fachgruppenkonferenz war viertelparitätisch zusammengesetzt. Die Größe der Konferenz bestimmte sich dabei nach dem Grundsatz, dass alle Lehrstuhlinhaber und Leiter selbständiger Abteilungen ihr angehörten. Zu diesen Konferenzmitgliedern trat eine ebenso große Zahl von Vertretern der übrigen Universitätslehrer, also der sonstigen habilitierten Dozenten und der Honorarprofessoren, hinzu.⁶¹ Mittelbau und Studenten entsandten jeweils halb so viele Vertreter in die Fachgruppenkonferenz, wie ihr Universitätslehrer angehörten.⁶² Nach dem Modell der Fachgruppe wurde auch die Fakultät organisiert, nur dass in der Fakultätskonferenz grundsätzlich für alle Gruppen der Grundsatz der Vertretung galt. Die Hälfte der Sitze war wiederum den Universitätslehrern vorbehalten. Die Viertelparität wurde dadurch hergestellt, dass alle Gruppen, also Universitätslehrer, wissenschaftliche Mitarbeiter und Studenten jeder Fachgruppe je einen Vertreter in die Fakultätskonferenz wählten. Außerdem gehörten ihr die Fachgruppenleiter als Amtsmitglieder an. Da die Fachgruppenleiter aus der Gruppe der hauptberuflich an der Universität tätigen beamteten Universitätslehrer zu wählen waren, entsandte somit jede Fachgruppe zwei Universitätslehrer, einen wissenschaftlichen Mitarbeiter und einen Studenten in die Fakultätskonferenz.⁶³ Einer der beiden Universitätslehrer musste Lehrstuhlinhaber sein.⁶⁴ Trotz der Verkleinerung der ständigen Einheiten für Forschung und Lehre wurde also der Grundsatz, dass alle Lehrstuhlinhaber in der Fakultät Sitz und Stimme haben sollten, aufgegeben. Nur auf der Ebene der Fachgruppen besaßen die Ordinarien – und zwar als einzige Gruppe – künftig noch ein uneingeschränktes persönliches Mitwirkungsrecht. Insofern bedeutete die Verabschiedung der Grundordnung in der Tat das Ende der Ordinarienuniversität. Allerdings sah die Grundordnung vor, dass bei Habilitationen und Berufungen sämtliche den Fachgruppenkonferenzen angehö-

59 GO, Anlage 60 § 42 GO. 61 Zur Definition des Universitätslehrers vgl. § 92 (1) GO. 62 § 46 (1) und (2) GO. 63 § 60 (1) GO; § 44 (2) GO. 64 § 60 (4) GO.

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rigen Universitätslehrer zu der Fakultätskonferenz hinzutraten.⁶⁵ Damit war zwar allen Ordinarien die Mitwirkung an diesen Verfahren ermöglicht; die Mehrheit in der solcherart Erweiterten Fakultätskonferenz war ihnen jedoch nicht sicher. Das nach dem Grundsatz der Viertelparität ausgeklügelte Modell der abgestuften Mitwirkung aller Gruppen auf Fachgruppen- und Fakultätsebene ließ sich nicht auf den Senat ausdehnen. Dort besaßen vielmehr die beamteten Universitätslehrer – nicht notwendig die Ordinarien – ein deutliches Übergewicht. Das Hochschulgesetz hatte festgelegt, dass jede Wahlgruppe, also die ordentlichen und außerordentlichen Professoren, die Dozenten, der Mittelbau und die Studentenschaft, drei Wahlmitglieder in den Senat entsandte. Da kraft Amtes die Dekane dem Senat angehörten, zu Dekanen jedoch nur beamtete Universitätslehrer gewählt werden konnten, verstärkte die Vermehrung der Fakultäten dort das Übergewicht dieser Gruppe.⁶⁶ Die Grundordnungsversammlung suchte dieses Übergewicht dadurch auszugleichen, dass sie die Bildung von insgesamt zehn ständigen Senatsausschüssen vorsah, in denen je nach Aufgabenbereich andere Paritäten galten als im Plenum. So war für den Haushaltsausschuss und den Bauausschuss ein Schlüssel von sechs Universitätslehrern, zwei leitenden und anderen wissenschaftlichen Mitarbeitern und zwei Studenten vorgesehen, für den Ausschuss für studentische Angelegenheiten, insbesondere für Fragen des Hochschulzugangs sowie der Lehr- und Studienplanung, ein Schlüssel von drei Universitätslehrern, drei wissenschaftlichen Mitarbeitern und sechs Studenten. Der Ausschuss für Information und Öffentlichkeitsarbeit war drittelparitätisch zu besetzen. Es lag in der Natur der Sache, dass die starke Repräsentanz der Gruppen in den Ausschüssen es erforderlich machte, bei ihrer Zusammensetzung über den Kreis der Senatsmitglieder hinauszugehen. Die Ausschüsse hatten beschließenden Charakter. Ihre Beschlüsse wurden wirksam, wenn binnen einer Woche nach Bekanntgabe kein Mitglied des Senats Einspruch erhob.⁶⁷ Die Bildung von Senatsausschüssen für den Haushalt und für Bauangelegenheiten sollte dem Übergewicht der Universitätslehrer nicht nur im Senat, sondern auch im Verwaltungsrat entgegenwirken. Nach dem Hochschulgesetz war für Haushalts- und Bauangelegenheiten der Verwaltungsrat zuständig.⁶⁸ Diese völlig eindeutige Bestimmung suchte die Grundordnungsversammlung dadurch zu umgehen, dass sie dem Verwaltungsrat die Befugnis einräumte, Aufgaben, die nach dem Gesetz ausschließlich ihm oblagen, auf einen Senatsausschuss zu übertra-

65 66 67 68

§ 65 GO. § 11 (2) HSG; § 55 (2) GO. § 31 (1) bis (3), (5) GO. § 12 (2) HSG.

552 | V Heidelberg: Stadt und Universität gen, sofern für den entsprechenden Geschäftsbereich ein solcher bestand.⁶⁹ Der Ministerrat verweigerte dieser Regelung am 16. Juni 1969 jedoch seine Zustimmung.⁷⁰ Die Universität erhob dagegen wie auch in einer Reihe weiterer Punkte Klage beim Verwaltungsgerichtshof.⁷¹ Die Heidelberger Grundordnung von 1969 hat auf der Grundlage des Hochschulgesetzes vom Vorjahr trotz späterer Änderungen im einzelnen die grundlegenden Strukturen der Universität bis zum Inkrafttreten des Universitätsgesetzes vom 1. Februar 2000, also für einen Zeitraum von mehr als drei Jahrzehnten, bestimmt. Die wesentlichen Neuerungen gegenüber der vorherigen Universitätsverfassung waren die Einführung des Rektors mit mehrjähriger Amtszeit und eines Kanzlers an der Spitze der Universitätsverwaltung, die Schaffung eines Verwaltungsrats neben dem Senat, die Aufteilung und damit Verkleinerung der Fakultäten und die Einführung der Mitbestimmung der verschiedenen Mitgliedsgruppen in allen Universitätsgremien. Die Grundordnung ist unter einem alle Maße sprengenden Sitzungsaufwand in einem konfliktreichen Prozess aus einer Mischung von Idealismus und Illusionen entstanden. Die in sie gesetzten Erwartungen hat sie nur zum Teil erfüllen können. Schon bald sollte sich zeigen, dass der Übergang zu der neuen Verfassungsstruktur eines schmerzhaften Anpassungsprozesses bedurfte, der die Aufmerksamkeit vieler Mitglieder des Lehrkörpers über Jahre hinweg in der Erfüllung ihrer Aufgaben in Lehre und Forschung behinderte. Die Integration der opponierenden Studentenschaft ist trotz der überaus liberalen Mitbestimmungsregelungen namentlich auf der Ebene der Fachgruppen und Fakultäten nicht gelungen. Lange Zeit nutzten die Studentenfunktionäre die Mitgliedschaft in den Gremien und namentlich die Öffentlichkeit der Sitzungen immer wieder dazu, die Selbstverwaltung der Universität lahmzulegen. Die Folge war die schrittweise Rücknahme der durch die Grundordnung von 1969 geschaffenen Mitwirkungsmöglichkeiten durch den Gesetzgeber. Am 23. April 1974 beschloss der Senat eine Mustergeschäftsordnung für Fakultätskonferenzen, deren § 4 bestimmte, dass die Fakultätssitzungen nicht öffentlich seien.⁷² Damit entsprach der Senat der vom Landtag verabschiedeten Neufassung des Hochschulgesetzes vom 27. Juli 1973. Dieser Neufassung passte der Große Senat am 7. Juli 1975 auch die Grundordnung an und legte seinerseits fest, dass

69 § 34(4) GO. 70 Beschluss des Ministerrats vom 16. 6. 1969 über die Genehmigung der GO der Universität Heidelberg, UAH, B-II, 1d5, 06.69–10.69, S. 5. 71 Rektorat an Kultusministerium, 3. 7. 1969, S. 2, ebd. 72 Mitteilungsblatt des Rektors, Nr. 6, 1973/74, 10. 5. 1974, S. 109.

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Fakultäts- und Fachgruppensitzungen künftig nicht mehr öffentlich seien.⁷³ Dadurch sollte verhindert werden, dass die Sitzungen gestört oder zumindest durch endlose Diskussionen in die Länge gezogen würden. Durch Anpassung der Grundordnung an das Universitätsgesetz vom 22. November 1977 wurden die Fachgruppen abgeschafft.⁷⁴ Damit verschwand durch Entscheidung des Gesetzgebers sang- und klanglos eine Institution, die nach dem Willen der Grundordnungsversammlung keineswegs nur den Studierenden, sondern vor allem den Angehörigen des Lehrkörpers, die nicht zugleich Lehrstuhlinhaber waren, eine Möglichkeit der Mitbestimmung an der Basis hatte sichern wollen. Auf Fakultätsebene trat an die Stelle des Prinzips der Viertelparität wie im Senat einheitlich die Regelung, dass die Wahlgruppen der Studierenden und der Wissenschaftlichen Mitarbeiter jeweils drei Vertreter entsenden. Nimmt man die Wahlbeteiligung in der Wahlgruppe der Studierenden, die bei der ersten Gremienwahl nach der neuen Grundordnung 18 Prozent betrug und in den letzten Jahren kaum je 15 Prozent erreichte, zum Maßstab für die Integrationskraft der Grundordnung, so drängt sich der Schluss auf, dass die Studentenschaft die im Jahre 1968 für so dringlich gehaltene Mitbestimmung niemals wirklich angenommen hat. Lediglich die Sitzungen des Großen Senats, der weiterhin öffentlich tagte und daher über die Universität hinaus eine gewisse Publizität verbürgte, wurde anlässlich der Entgegennahme des Rechenschaftsberichts des Rektors und bei der Wahl von Rektor und Prorektoren von den Studentenvertretern weiterhin dazu genutzt, um ihre Kritik an der jeweiligen Universitätsleitung vorzutragen. Diese Gelegenheit wurde umso lieber wahrgenommen, als der Gesetzgeber im Jahre 1977 die verfasste Studentenschaft abgeschafft hatte. Er hatte damit die Konsequenz aus der Tatsache gezogen, dass der Allgemeine Studentenausschuss seit dem Beginn der Studentenbewegung ein politisches Mandat beansprucht hatte. Das war mit seiner Eigenschaft als Zwangskörperschaft der Gesamtheit der Studierenden nicht vereinbar.⁷⁵ Als durch die Novellierung des Hochschulgesetzes im Jahre 1999 der Große Senat ersatzlos abgeschafft wurde, war von studentischer Seite kaum Widerspruch zu vernehmen. Durch die Novellierung von 1999 beseitigte der Landtag auch den Verwaltungsrat, den er im Jahre 1968 selbst geschaffen hatte. Dabei hatte der Verwal-

73 Mitteilungsblatt des Rektors, Nr. 4, 1976, 21. 5. 1976, S. 71: § 50 GO (Fachgruppensitzungen) wurde gestrichen; § 63, Abs. 3 GO (Sitzungen der Fakultätskonferenz), erhielt die Fassung: „Die Sitzungen sind nichtöffentlich.“ 74 Mitteilungsblatt des Rektors, Nr. 4, 1979, 30. 3. 1979, S. 42–48. 75 Vgl. Volker Sellin: Die Universität Heidelberg in der Geschichte der Gegenwart. In: Die Geschichte der Universität Heidelberg. Studium Generale. Wintersemester 1985/86. Heidelberg 1986, S. 230 f. und Anm. 58.

554 | V Heidelberg: Stadt und Universität tungsrat die in ihn gesetzten Erwartungen in Heidelberg vollauf gerechtfertigt. Die Neugliederung der Fakultäten ist durch die Novellierung insofern in Frage gestellt worden, als eine Mindestgröße von in der Regel 20 Professorenstellen festgesetzt wurde.⁷⁶ Die Aufspaltung der Heidelberger Medizin in vier Fakultäten war vor allem wegen der Nachteile, die sich für Habilitationen und Berufungen aus der Trennung der theoretischen und vorklinischen von den klinischen Fächern ergeben hatten, schon einige Jahre zuvor rückgängig gemacht worden. Die Einrichtung eines Hochschulrats, in dem neben Universitätsangehörigen auch externe Persönlichkeiten Sitz und Stimme haben, sowie die Verlängerung der Amtsperiode des Rektors von zuletzt vier auf künftig sechs Jahre unter gleichzeitiger Erweiterung seines Kompetenzbereichs, schließlich die Verlängerung der Amtszeit der Dekane von zwei auf vier Jahre, setzen die Tendenz zur Professionalisierung der Leitungsfunktionen innerhalb der Universität fort, die mit dem Hochschulgesetz von 1968 und der Grundordnung von 1969 in der Universitätsverfassung erstmals zur Wirkung gekommen war. Dagegen hat der korporative Charakter der Universität, auf deren Erhaltung die Grundordnungsversammlung von 1968 und 1969 ebenfalls großen Wert gelegt hatte, durch das Universitätsgesetz vom 1. Februar 2000 eine deutliche Schwächung erfahren: Die langen Amtszeiten von Rektor und Dekanen, die Möglichkeit, zum Rektor eine Persönlichkeit von außerhalb der Universität zu wählen, und die Übertragung eines Teils der Aufgaben des bisherigen Verwaltungsrats auf das so gebildete Rektorat verstärken zwangsläufig den Abstand zwischen den Amtsträgern und den Universitätslehrern ohne Leitungsfunktionen. Die Übertragung von Kontrollund Entscheidungsbefugnissen an den Hochschulrat, der sich fast zur Hälfte aus universitätsfremden Personen zusammensetzt, schränkt die Autonomie der Universität ebenfalls ein. Die Reform der Universitätsverfassung durch das Hochschulgesetz von 1968 in Verbindung mit der Grundordnung von 1969 markiert eine Epoche in der Geschichte der Universität Heidelberg. Dreißig Jahre nach dieser Reform wird deutlich, dass die damals vorgenommenen Veränderungen eine Periode einleiteten, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Gesetzgeber, nachdem er einmal begonnen hatte, in die Verfassung der Universitäten einzugreifen, zunehmend die Hemmungen dagegen verlor, solche Eingriffe aufgrund wirklicher oder vermeintlicher Bedürfnisse nach gerade gängigen Modellen zu wiederholen. Die Universität ist zum Experimentierfeld geworden.

76 Universitätsgesetz vom 1. 2. 2000, § 21 (2).

Schriftenverzeichnis Volker Sellin Selbständige Veröffentlichungen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Die Anfänge staatlicher Sozialreform im liberalen Italien, Stuttgart 1971 Die Finanzpolitik Karl Ludwigs von der Pfalz. Staatswirtschaft im Wiederaufbau nach dem Dreißigjährigen Krieg, Stuttgart 1978 Dem lebendigen Geist. Die Universität Heidelberg, Heidelberg 1993 Politica, Venezia 1993 (ital. Übersetzung des Lexikonartikels „Politik“, Nr. 11) Einführung in die Geschichtswissenschaft, Göttingen 1995 (2. Auflage 2001, Erweiterte Neuausgabe 2005) Die geraubte Revolution. Der Sturz Napoleons und die Restauration in Europa, Göttingen 2001 Razza. Storia di una parola. Postfazione di Edoardo Tortarolo, Torino 2008 Gewalt und Legitimität. Die europäische Monarchie im Zeitalter der Revolutionen, München 2011 Das Jahrhundert der Restaurationen, 1814–1906, München 2014

Lexikonartikel 10. Liberalismus, in: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Eine vergleichende Enzyklopädie, Band 4, Freiburg 1971, Spalte 51–77 11. Politik, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Band 4, Stuttgart 1978, S. 789–874 12. Regierung, Regime, Obrigkeit, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Band 5, Stuttgart 1984, S. 361–421 13. Sozialgeschichte, in: Evangelisches Kirchenlexikon, Band 4, Göttingen 1995, Spalte 345– 349 14. Heilige Allianz, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage, Band 3, Tübingen 2000, Spalte 1546–1547

Aufsätze 15. Friedrich der Große und der aufgeklärte Absolutismus. Ein Beitrag zur Klärung eines umstrittenen Begriffs, in: Ulrich Engelhardt/Volker Sellin/Horst Stuke (Hg.), Soziale Bewegung und politische Verfassung. Festschrift für Werner Conze, Stuttgart 1976, S. 83–112 16. Von der aufgeklärten Monarchie zum bürokratischen Obrigkeitsstaat. Preußens Weg in die moderne Welt, in: Wolfgang Böhme (Hg.), Preußen, eine Herausforderung. Herrenalber Texte 32, Karlsruhe 1981, S. 42–54. 17. Justus Möser, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, Band 9, Göttingen 1982, S. 23–41 18. Mentalität und Mentalitätsgeschichte, in: Historische Zeitschrift 241 (1985), S. 555–598

556 | Schriftenverzeichnis Volker Sellin 19. Die Universität Heidelberg in der Geschichte der Gegenwart 1945–1985, in: Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg (Hg.), Die Geschichte der Universität Heidelberg. Studium Generale, Wintersemester 1985/86, Heidelberg 1986, S. 217–235 20. Werner Conze als Historiker, in: Ruperto-Carola. Heidelberger Universitätshefte 38. Jahrgang, Band 75, Heidelberg 1986, S. 136–139 21. Mentalitäten in der Sozialgeschichte, in: Wolfgang Schieder/Volker Sellin (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland, Band 3, Göttingen 1987, S. 101–121 22. Heidelberg im Spannungsfeld deutsch-französischer Konflikte. Die Schloßruine und ihre Stilisierung zum nationalen Symbol im Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons, in: Friedrich Strack (Hg.), Heidelberg im säkularen Umbruch. Traditionsbewußtsein und Kulturpolitik um 1800, Stuttgart 1987, S. 19–34 23. Nationalbewußtsein und Partikularismus in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt 1988, S. 241–264. – Italienische Fassung: Coscienza nazionale e particolarismo nella Germania del XIX secolo, in: Rivista Storica Italiana 113 (2001), S. 497–518 24. Demokratie und Nationalismus, in: Heidelberger Jahrbücher 32 (1988), S. 1–10 25. História das mentalidades e história social, in: Revista do Instituto de Filosofia e Ciências Humanas da Universidade Federal do Rio Grande do Sul 14 (1990), S. 39–48 26. Der benutzte Vermittler. Innozenz XI. und der pfälzische Erbstreit, in: Joachim Dahlhaus/Armin Kohnle (Hg.), Papstgeschichte und Landesgeschichte. Festschrift für Hermann Jakobs zum 65. Geburtstag, Köln 1995, S. 603–618 27. Die Universität Heidelberg im Jahre 1945, in: Jürgen Heß/Hartmut Lehmann/Volker Sellin (Hg.), Heidelberg 1945, Stuttgart 1996, S. 91–106 28. Die Bestrafung des Usurpators. Edouard Manets „Erschießung des Kaisers Maximilian von Mexiko“, in: Pantheon LIV, München 1996, S. 108–122 29. „Heute ist die Revolution monarchisch“. Legitimität und Legitimierungspolitik im Zeitalter des Wiener Kongresses, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 76 (1996), S. 335–361 30. Der Streit um die Heiliggeistkirche, in: 800 Jahre Heidelberg. Die Kirchengeschichte, Heidelberg 1996, S. 63–70 31. Heidelberg und sein Schloß, in: Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (Hg.), Heidelberg – Stadt und Universität. Studium Generale, Sommersemester 1996, Heidelberg 1997, S. 157–171 32. Maskierung und Demaskierung. Kriegskarikaturen des Simplicissimus in der Weimarer Republik als Quellen der Mentalitätsgeschichte. In: Konrad Krimm/Herwig John (Hg.), Bild und Geschichte. Studien zur politischen Ikonographie. Festschrift für Hansmartin Schwarzmaier zum 65. Geburtstag, Sigmaringen 1997, S. 301–317 33. Judenemanzipation und Antisemitismus in Italien im 19. Jahrhundert, in: Christof Dipper/ Rainer Hudemann/Jens Petersen (Hg.), Faschismus und Faschismen im Vergleich. Wolfgang Schieder zum 60. Geburtstag, Köln 1997, S. 107–124 34. Die Juden Italiens zwischen Emanzipation und Holocaust (1796–1945), in: Trumah. Zeitschrift der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg 8 (1999), S. 73–95 35. Restauration et légitimité en 1814, in: Francia 26/2 (1999), S. 115–129 36. Napoleon auf der Säule der Großen Armee. Metamorphosen eines Pariser Denkmals, in: Christof Dipper/Lutz Klinkhammer/Alexander Nützenadel (Hg.), Europäische Sozialgeschichte. Festschrift für Wolfgang Schieder, Berlin 2000, S. 377–402

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37. Abdankung der Geister vor der Macht? Das Verhältnis von Kultur und Politik nach 1870, in: Arnold Esch/Jens Petersen (Hg.), Deutsches Ottocento. Die deutsche Wahrnehmung Italiens im Risorgimento, Tübingen 2000, S. 327–342 38. Le Palatinat après les Traités de Westphalie, in: Revue d’Histoire Diplomatique 3 (2000), S. 229–250 39. Auftakt zur permanenten Reform. Die Grundordnung der Universität Heidelberg vom 31. März 1969, in: Armin Kohnle/Frank Engehausen (Hg.), Zwischen Wissenschaft und Politik. Studien zur deutschen Universitätsgeschichte. Festschrift für Eike Wolgast zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2001, S. 563–583 40. Conclusion: France, the Vienna Settlement, and the Balance of Power, in: Peter Krüger/ Paul W. Schroeder (Hg.), „The Transformation of European Politics, 1763–1848“: Episode or Model in Modern History?, Münster 2002, S. 227–234 41. La restauration de Louis XVIII en 1814 et l’Europe, in: Lucien Bély (Hg.), La présence des Bourbons en Europe, XVIe –XXe siècle, Paris 2003, S. 255–268 42. L’unità nazionale, la legittimità imperiale e la caduta di Guglielmo II nel 1918, in: Marina Tesoro (Hg.), Monarchia, tradizione, identità nazionale. Germania, Giappone e Italia tra Ottocento e Novecento, Milano, 2004, S. 9–20 43. The Breakdown of the Rule of Law. A Comparative View of the Depositions of George III, Louis XVI and Napoleon I, in: Robert von Friedeburg (Hg.), Murder and Monarchy. Regicide in European History, 1300–1800, Houndmills, Basingstoke, Hampshire 2004, S. 259–289 44. Dreierlei Zeitgeschichte, in: Jorgen John/Dirk van Laak/Joachim von Puttkamer (Hg.), ZeitGeschichten. Miniaturen in Lutz Niethammers Manier, Essen 2005, S. 259–263 45. Die Universitätsleitung, Teil 1: Die Rektorate Andreas, Groh und Krieck 1933–1938, in: Wolfgang U. Eckart/Volker Sellin/Eike Wolgast (Hg.), Die Universität Heidelberg im Nationalsozialismus, Heidelberg 2006, S. 5–22 46. Romanistik, ebda., S. 435–458 47. Orientalistik, ebda., S. 485–489 48. La déchéance de Napoléon et la restauration de Louis XVIII en 1814, in: Volker Sellin (Hg.), Regards croisés - Blickwechsel, Heidelberg 2007, S. 111–119 49. Le château de Heidelberg: lieu de mémoire franco-allemand, in: Volker Sellin (Hg.), Regards croisés – Blickwechsel, Heidelberg 2007, S. 137–141 50. Gleichgewicht oder Konzert? Der Zusammenbruch Preußens und die Suche nach Wiedergewinnung der äußeren Sicherheit, in: Andreas Klinger/Hans-Werner Hahn/Georg Schmidt (Hg.), Das Jahr 1806 im europäischen Kontext. Balance, Hegemonie und politische Kulturen, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 53–70 51. Die Erfindung des monarchischen Prinzips. Jacques-Claude Beugnots Präambel zur „Charte constitutionnelle“, in: Armin Heinen/Dietmar Hüser (Hg.), Tour de France. Eine historische Rundreise. Festschrift für Rainer Hudemann, Stuttgart 2008, S. 489–497 52. Der Tod Napoleons, in: Francia 35 (2008), S. 273–294 53. Die Restauration in Italien, in: Reiner Marcowitz/Werner Paravicini (Hg.), Vergeben und Vergessen? Vergangenheitsdiskurse nach Besatzung, Bürgerkrieg und Revolution, München 2009, S. 125–140 54. Monarchia e rivoluzione 1789–1815, in: Giulia Guazzaloca (Hg.), Sovrani a metà. Monarchia e legittimazione in Europa tra Otto e Novecento, Soveria Mannelli 2009, S. 23–40. 55. Absetzung, Abdankung und Verbannung. Das politische Ende Napoleons, in: Susan Richter/ Dirk Dirbach (Hg.), Thronverzicht. Die Abdankung in Monarchien vom Mittelalter bis in die Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 228–238

558 | Schriftenverzeichnis Volker Sellin 56. Politische Säuberung des Lehrkörpers 1945, in: Peter Meusburger/Thomas Schuch (Hg.), Wissenschaftsatlas der Universität Heidelberg, Knittlingen 2011, S. 144 f. 57. Ernst Krieck, in: Badische Heimat 92/2 (2012), S. 407–411 58. Der napoleonische Staatskult, in: Guido Braun/Gabriele B. Clemens/Lutz Klinkhammer/Alexander Koller (Hg.), Napoleonische Expansionspolitik. Okkupation oder Integration?, Berlin 2013, S. 138–159 59. Monarchia e nazione in Germania dal 1848 al 1914, in: Catherine Brice/Javier Moreno Luzón (Hg.), Monarchia, nazione e nazionalismo in Europa (1830–1914), in: Memoria e Ricerca. Rivista di storia contemporanea 42 (2013), S. 33–50 60. Restorations and Constitutions, in: Kelly L. Grotke/Markus J. Prutsch (Hg.), Constitutionalism, Legitimacy, and Power. Nineteenth Century Experiences, Oxford 2014, S. 84–103

Herausgeberschaften 61. (Zusammen mit Ulrich Engelhardt und Horst Stuke): Soziale Bewegung und politische Verfassung. Festschrift für Werner Conze, Stuttgart 1976 62. (Zusammen mit Wolfgang Schieder): Sozialgeschichte in Deutschland, 4 Bände, Göttingen 1986/87 63. (Zusammen mit Jürgen Heß und Hartmut Lehmann): Heidelberg 1945, Stuttgart 1996 64. Deutschland fünfzehn Jahre nach der Wiedervereinigung / L’Allemagne quinze ans après la réunification, Heidelberg 2005 65. (Zusammen mit Wolfgang U. Eckart und Eike Wolgast): Die Universität Heidelberg im Nationalsozialismus, Heidelberg 2006 66. Regards croisés – Blickwechsel. Beiträge zur deutsch-französischen Kulturgeschichte. Vierzig Jahre Heidelberg-Haus in Montpellier, Heidelberg 2007 67. (Zusammen mit Eike Wolgast und Sebastian Zwies): Die Forschungsvorhaben der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1909–2009, Heidelberg 2009 68. (Zusammen mit Sebastian Zwies): Die Heidelberger Akademie der Wissenschaften im Spiegel ihrer Antrittsreden 1944–2008, mit einem Verzeichnis ihrer ordentlichen Mitglieder 1909–2008, Heidelberg 2009 69. Das Europa der Akademien, Heidelberg 2010.

Personenregister A Abbt, Thomas 13 f. Ajeta, Blasco Lanza d’ 404 Alberti, Matteo 475, 479, 498 f. Alexander von Roes 505 Alexander I. (Kaiser von Russland) 115, 119, 132, 169 f., 172, 211 f., 307, 325, 493 Aleksejev, Michail 138 Alfieri, Dino 394 Althusius, Johannes 129 f. Amberger, Josef 518 Andreas, Willy 523, 527 Angermann, Erich 99–101, 125, 130 Anjou, François d’ 104, 141 Antommarchi, Francesco 183 Arendt, Hannah 388 Aretin, Johann Christoph Freiherr von 296–298, 300 Aretin, Karl Otmar Freiherr von 63 f. Ariès, Philippe 27–29, 32 Aristoteles 69, 129 Arndt, Ernst Moritz 281, 335 Artom, Isacco 374 Aufseß, Hans Freiherr von 293 Azeglio, Massimo d’ 354 f., 359, 364, 371 f., 385 B Badoglio, Pietro 388, 400 Bätschmann, Oskar 245, 250 Baier, Hermann 374 Bailyn, Bernard 141 Balbo, Cesare 363 f. Balbo, Prospero 359 Barnave, Antoine-Pierre-Joseph-Marie 107–111, 140 Bauer, Karl Heinrich 509, 519 f., 523 Bazaine, François-Achille 253 Beauharnais, Eugène de 353, 390 Beauharna, Joséphin de 188 Becher, Johann Joachim 85 Becker, Carl 101 Bédollière, Emil de la 225

Behr, Christian von 4 Bentinck, William Cavendish 356 Béranger, Pierre Jean de 219, 223, 225 Berger, Peter L. 41 Bertrand, Henri-Gatien 185 Bethmann Hollweg, Theobald von 139 Beugnot, Jacques-Claude 310–315, 422 Bismarck, Otto von 54, 136, 142, 347, 349, 420–422, 424 f., 430, 432 f., 490 Blackstone, William 101, 103, 106 f. Blessing, Werner K. 25 Bloch, Marc 28 Bluche, François 93 Blücher, Gebhard Leberecht von 176, 201, 254 Bodelschwingh, Friedrich von 430 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 534, 537–539 Boeckh, Joachim G. 521 Böheim, Georg Philipp 475 Boime, Albert 248 Boisserée, Sulpiz 293, 503 Borch, Gerard ter 442 Borck, Kaspar von 450 Boßhammer, Friedrich 405 f., 408–410 Bothe, Walther 509, 517 Bouthoul, Gaston 31 f. Brandt, Ahasver von 546 Braudel, Fernand 29, 48 Brauer, Friedrich 508 Brouning, Regina Juliana Elisabeth 3 Brush, Kathryn L. 264 Brutus, Marcus Iunius 121 Büsch, Otto 92 Bullant, Jean 233 Bunsen, Robert Wilhelm 509 Buonvisi, Francesco 458 Burke, Edmund 96, 102 Buzot, François 106 C Cadart, Alfred 246 Caesar, Gaius Iulius 121, 220 Campbell, Neil 174, 182, 193, 200

560 | Personenregister Candé-Montholon, François de 184, 186 Canepa, Andrew M. 377–380 Caprara, Giovanni Battista 156 Carducci, Giosuè 259 Carnot, Lazare Nicolas Marguerite 215 Castlereagh, Robert Stewart 174, 200, 204 f., 324, 332, 356 Catarivas, Giuseppe 411 Cattaneo, Carlo 371 f., 385 Caulaincourt, Armand de 170, 172, 202 Cavour, Camillo Benso di 136, 362, 365, 374 Chamlay, Jules Louis Bolé de 466 f. Champagny, Jean-Baptiste Nompère de 159 Charlotte Augusta (Prinzessin von Wales) 194 Chateaubriand, François-René de 318, 332 Chaudet, Antoine-Denis 209, 211, 215–218, 223, 235 Childerich III. (König der Merowinger) 126 Chruščev, Nikita Sergeevič 146 Ciano, Galeazzo 404 Clemenceau, Georges 234 Clemens VII. 506 Clemenza, Massimo 188 Coke, Edward 97 Colbert de Croissy, Charles 463 f. Coligny, Gaspard de 192 Confalonieri, Federico 353 Consalvi, Ercole 323 f., 330 f., 361 Constant, Benjamin 175, 318, 332 Conze, Werner 536, 539, 546 Coppola, Francesco 379 Corso, Philip f. 187 Cossé-Brissac, Timoléon de 159 Courbet, Gustave 225–230 Creuzer, Friedrich 480, 498 Cromwell, Oliver 141 Crozatier, Charles 222 Cybo, Alderano 458, 464 Czerny, Vincenz 509 D Dahlmann, Friedrich Christoph 327 Dahrendorf, Ralf 540 Damiens, Robert-François 40 Dannecker, Theodor 405, 407 f. Darnton, Robert 23 De Felice, Renzo 374, 376, 380, 401, 403

Degenfeld, Marie Luise von 440 Delorme, Philibert 233 Denon, Dominique-Vivant 210 Diaz, Porfirio 267 Dickinson, James 97 Diderot, Denis 69, 71 Diokletian (römischer Kaiser) 156 Dittenberger, Friedrich 493 Droysen, Johann Gustav 335 Dubrovin, Alexander 284 Duby, Georges 27, 29 Dumont, Auguste 223 f., 231 f. Durkheim, Émile 26 f. Duroselle, Jean-Baptiste 31 E Eckardt, Hans von 529 Eichendorff, Joseph von 503 Eichmann, Adolf 388, 400, 402, 405, 408 f., 411 Elisabeth Charlotte von der Pfalz 440, 451, 455 f., 507 Elisabeth I. (Königin von England) 72, 141 Engisch, Karl 530 Erdmann, Karl Dietrich 22, 56 Erik XIV. (König von Schweden) 183 Eschenburg, Theodor 22 Estrées, César d’ 464 F Favre, Jules 237, 256–258, 266, 273 Febvre, Lucien 27–30, 56 Fehrle, Eugen 530 Ferdinand II. (König beider Sizilien) 357 Ferdinand IV. (König von Neapel, ab 1816 als Ferdinand I. König beider Sizilien) 322, 331, 352 f., 356, 358, 363 Feuerbach, Paul Johann Anselm von 330, 419 Filbinger, Hans 536 Finzi, Roberto 377, 385 Fischer, Johann Georg 258 f. Fogel, Michèle 152 f. Fontanes, Louis de 311 Fornès, Paul 183, 189 Forshufvud, Sten 183–185, 187–192 Forster, Georg 495 f. Fouché, Joseph 176 Franck, James 529

Personenregister

Franz II. (römisch-deutscher Kaiser, ab 1804, als Franz I. Kaiser von Österreich) 181, 210, 356, 493 Freudenberg, Ernst 529 f. Freudenberg, Karl 517, 522 Friedrich, Adolf-Dieter 538, 541 Friedrich, Carl Joachim 543 Friedrich Wilhelm (Kurfürst von Brandenburg) 83, 459 Friedrich I. Barbarossa (römisch-deutscher Kaiser) 426 f. Friedrich I. (König in Preußen) 83 Friedrich II., der Große (König von Preußen) 61 f., 65 f., 72–74, 76–93 Friedrich II. (Kurfürst von der Pfalz) 477 f., 497 Friedrich III. (Kurfürst von der Pfalz) 506 Friedrich IV. (Kurfürst von der Pfalz) 477 Friedrich V. (Kurfürst von der Pfalz und König von Böhmen) 437, 439, 475, 477 f., 506 f. Friedrich Wilhelm I. (König in Preußen) 83 f., 92 Friedrich Wilhelm III. (König von Preußen) 88, 211, 294, 325 Friedrich Wilhelm IV. (König von Preußen) 294, 303, 417 Fürstenberg, Wilhelm Egon von 458, 465–467 G Gallas, Wilhelm 536, 543 f., 547 Gambetta, Léon 247 Garibaldi, Giuseppe 136, 357, 362, 385 Garnier, Charles 234 Gebhardt, Bruno 23 Geertz, Clifford 37 f. Geiger, Theodor 21, 43–45 Genlis, Félicité de 161 Genthe, Max 518 Gentz, Friedrich von 333 Georg III. (König von England) 3 f., 45 f., 96, 98, 102–104, 109, 112 f., 119, 122, 125, 130 f., 170 Germer, Stefan 244 Gérôme, Jean-Léon 241, 262, 272 Gervinus, Georg Gottfried 509 Geymüller, Heinrich Baron von 481 Giles, Frank 189 Giloi, Eva 431

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Ginzburg, Leone 396 Ginzburg, Natalia 396 Gioberti, Vincenzo 363–365 Giolitti, Giovanni 384 Giorgione 261, 264 Girardon, François 209 Globocnik, Odilo 402 Gneisenau, August Neidhardt von 176, 201 Görres, Joseph 290 f., 297, 302, 333, 335 Goethe, Johann Wolfgang von 511 Gondouin, Jacques 208 Gourdan, Charles-Claude-Christophe 110 Gourgaud, Gaspard 185, 192 Goya, Francisco de 241 f., 261–266, 268–270, 272 Graimberg, Charles de 481, 483, 502 Gramsci, Antonio 376, 379 f. Grillparzer, Franz 181 Grisebach, August 529 Guéroult, Adolphe 254 f. Guidi, Guido Buffarini 401, 403 Guizot, François 139 f. Gustav VI. Adolf (König von Schweden) 183 H Häusser, Ludwig 489, 509 Hahn, Wilhelm 540 Haller, Carl Ludwig von 66 Hardenberg, Karl August Freiherr von 328, 336 Hardouin-Mansart, Jules 209 Harster, Wilhelm 410 Hartung, Fritz 61–63, 67 f., 73 Hauptmann, Gerhart 484 Haxel, Otto 537 Hazzi, Joseph von 301 Hecker, Waldemar 536 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 509 Heine, Heinrich 220, 291 f. Heinrich II. (König von Frankreich) 305 Heinrich III. (König von Frankreich) 141 Heinrich IV. (König von Frankreich) 192, 215 f., 308 Heinse, Wilhelm 480, 483 f., 492, 497 f. Hertling, Georg von 443 Heß, Peter von 300 Heuss, Theodor 517

562 | Personenregister Heydersdorff, Georg Eberhard von 475 Himmler, Heinrich 400, 405, 413 Hindmarsh, Thomas J. 187 Hitler, Adolf 21, 48, 56, 388, 393, 399, 509 Hölderlin, Friedrich 482 f., 486, 502 Hörnigk, Philip Wilhelm von 85 Hoffmann, Ernst 529 Holstein, Friedrich von 433 Hoops, Johannes 518 Hugo, Victor 217, 221, 230, 253, 349 Hulle, Anselm van 445 Humboldt, Wilhelm von 91, 289, 294, 511 f. Husserl, Edmund 37 Hutton, Patrick H. 23 I Immich, Max 458 Inghen, Marsilius von 506 Innozenz XI. 456–458, 461–463, 466–469 Ipat’ev, Nikolaj 142 J Jakobs, Hermann 455 Jakob I. (König von England) 440, 477 Jakob II. (König von England) 95 f., 102 f., 109, 127–129, 131 f., 140, 170, 179, 308 Jaspers, Karl 510, 528 f. Jaucourt, Louis de 73 Jefferson, Thomas 97–104, 122, 130 Jellinek, Walter 528 f. Jenkinson, Robert Banks, Earl of Liverpool 204 f. Jensen, Hans 509 Jérôme Bonaparte (König von Westfalen) 137, 319, 418 Jode, Pieter de, der Jüngere 445 Johann Wilhelm (Kurfürst von der Pfalz) 475, 479, 499 f. Johann III. Sobieski (König von Polen) 461 Jones, Pamela M. 251 f., 263 f., 270 Joseph II. (römisch-deutscher Kaiser) 62, 73, 83, 355, 370, 385 Joseph Clemens von Bayern (Kurfürst von Köln) 466 f. Juárez, Benito 253, 255 f. Junghans, Arthur 40 Justi, Johann Heinrich Gottlob von 75

K Kant, Immanuel 89 Kantorowicz, Ernst 126, 140 Karl Albert (König von Sardinien) 357, 361 Karl I., der Große (König der Franken, römisch-deutscher Kaiser) 9, 209–211 Karl I. (König von England) 99, 125, 127 f., 130, 140–142, 437, 440 Karl II. (König von England) 128 Karl V. (römisch-deutscher Kaiser) 259 Karl IX. (König von Frankreich) 157, 305 Karl X. (König von Frankreich) 134 f., 139, 141, 185, 190, 212, 214 Karl Friedrich (Markgraf, ab 1806 Großherzog von Baden) 507 f. Karl I. Ludwig (Kurfürst von der Pfalz) 83, 437–453, 475, 478, 499, 507 Karl II. (Kurfürst von der Pfalz) 440, 455 f., 458, 460 f., 495, 507 Karl III. Philipp (Kurfürst von der Pfalz) 475 f., 480, 486, 500 Karl Theodor (Kurfürst von der Pfalz und von Bayern) 476 f., 500, 502 Katharina II. (Kaiserin von Russland) 71 Katz, Jacob 373 Kern, Fritz 126 Ketteler, Wilhelm Emmanuel Freiherr von 430 Kirchhoff, Gustav Robert 509 Klenze, Leo von 292, 300 Koselleck, Reinhart 321, 334 Koser, Reinhold 72 Kossel, Albrecht 509 Krehl, Ludolf von 509 Krieck, Ernst 522, 526 Krieger, Leonard 73 f. Kuhn, Richard 509, 517 Kunkel, Wolfgang 530 L La Besnardière, Jean-Baptiste de Gouey de 197 La Revellière-Lépeaux, Louis-Marie de 147 f., 150 Lambrechts, Charles-Joseph-Mathieu 113, 131 Lameth, Alexandre de 106 Langewiesche, Dieter 321, 334 Las Cases, Emmanuel 185, 195

Personenregister

Launay, Jean-Baptiste 212–215, 220 Lee, Robert 42, 56 Lefuel, Hector 233 f. Le Goff, Jacques 27, 32 Lehne, Friedrich 196 Lemaire, Jean-François 183, 189 Le Mercier de la Rivière, Pierre-Paul 69 f., 74 f., 86 Lemmi, Adrian 373 Lenard, Philipp 509 Lenin, Vladimir Il’ič 282 Lentz, Thierry 189 Leopold I. (römisch-deutscher Kaiser) 457,459–463, 465, 469, 495 Leopold II. (Großherzog von Toskana, römisch-deutscher Kaiser) 370, 385 Leopold (Großherzog von Baden) 482, 489 Lepère, Jean-Baptiste 208 Le Roy Ladurie, Emmanuel 53 Levi, Primo 402 Levy, Ernst 529 f. Lévy-Bruhl, Lucien 26 Lewinsohn, Richard 21 Linck, Johannes 443 Liselotte von der Pfalz 479 Locke, John 103 Lodtmann, Karl Gerhard Wilhelm 6 f. Louis-Philippe I. (König der Franzosen) 95, 123, 134 f., 139, 141, 216, 219, 221 f., 224, 233, 348 Louvois, François Michel Le Tellier de 466 Lowe, Sir Hudson 186, 195 Luckmann, Thomas 41 Ludwig, Emil 376 Ludwig I. (König von Bayern) 292, 295, 298, 300 f. Ludwig V. (Kurfürst von der Pfalz) 477 f. Ludwig IX. (König von Frankreich) 308 Ludwig XI. (König von Frankreich) 305 Ludwig XIII. (König von Frankreich) 79 Ludwig XIV. (König von Frankreich) 65, 93, 157, 209, 234, 287, 305, 344 f., 348, 429, 438, 440, 446, 451, 455 f., 458–469, 477, 479, 484, 489–491, 494–497, 504, 507 Ludwig XV. (König von Frankreich) 153 Ludwig XVI. (König von Frankreich) 96, 105 f., 108, 110–113, 117–122, 133 f., 140, 142,

| 563

147, 206, 209, 215, 226, 307, 313 f., 320, 328, 351 Ludwig XVIII. (König von Frankreich) 115–118, 122, 160, 175, 177, 179, 185, 196, 198 f., 203 f., 212, 215, 255, 272, 307–312, 314 f., 322, 328, 334, 344, 353 Lugli, Alessandro 188 Lugli, Andrea Kopp 188 Luther, Martin 292 Luzzatti, Luigi 374, 388

M MacDonald, Jacques 172, 215 Macé, Jacques 187, 189 Machiavelli, Niccolò 77, 318 Mac-Mahon, Marie Edme Patrice de 430 Maistre, Joseph Marie de 328 Mandrou, Robert 27, 30 f. Manet, Édouard 237–240, 243–254, 257–273 Manet, Gustave 247 Manin, Daniele 357 Mannheim, Karl 44, 46 Marc Aurel (römischer Kaiser) 72 Marchand, Louis-Joseph 183–185 Maria II. (Königin von England) 96, 115, 129, 140, 308 Maria Theresia (Königin von Böhmen und Ungarn) 127, 355 Marie-Louise von Österreich (Kaiserin der Franzosen) 152, 156, 163, 170 f., 173, 181 f., 200, 211 Marmont, Auguste Frédéric Louis Viesse de 172 Martin, Kurt 267 Marx, Karl 146, 223, 427 Matthisson, Friedrich 481, 486, 502 Mauner, George 270 Maurogonato, Isacco Pesaro 378 Maury, René 184–187, 189–192 Maximilian I. (römisch-deutscher Kaiser) 10 Maximilian I. (Kaiser von Mexiko) 237–240, 243–249, 251–268, 270, 272 f. Maximilian I. (Herzog von Bayern) 437 Maximilian II. Emanuel (Kurfürst von Bayern) 459, 466 f.

564 | Personenregister Maximilian IV. Joseph (Kurfürst von Bayern und der Pfalz, ab 1806 als Maximilian I. Joseph König von Bayern 299, 301, 477 Maximilian II. Joseph (König von Bayern) 299 Mazzini, Giuseppe 361, 371, 385 Meinecke, Friedrich 11, 77, 279 Mejía, Tomás 248, 253, 271 Menotti, Ciro 361 Menou, Jacques-François 159 Meriggi, Marco 358 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von 126 f., 130 f., 133, 137 f., 197, 317, 319, 321, 324, 331–333, 335, 358, 360 f., 363 Meyerhof, Otto Fritz 509 Michaelis, Meir 399, 403 Michelet, Jules 481, 494 Milano, Attilio 374 Mirabeau, Honoré Gabriel de Riqueti de 71 Miramón, Miguel 248, 253, 266 Mittermaier, Carl Joseph Anton 509 Möser, Justus 3–19 Mohl, Robert von 139, 336, 509 Moltke, Helmuth Karl Bernhard von 430 Momigliano, Arnaldo 379 Montalivet, Jean-Pierre Bachasson de 163 Montesquieu, Charles-Louis Baron de La Brède et de 14, 55, 69–71, 106 Montgelas, Maximilian von 296, 298 Montholon, Albine de 185 f., 189–191 Montholon, Charles-Tristan de 184–186, 189–192, 194 Morazé, Charles 93 Morisson, Charles-François-Gabriel 120 Moro, Renato 377 Morpurgo, Marcello 397 Mozart, Wolfgang Amadeus 207 Müffling, Karl von 176, 201 Müller, Maler Friedrich 497 Murat, Joachim (als Joachim I. König von Neapel) 231, 261, 322. 333, 352 f., 390 Mussolini, Benito 374, 376, 388, 392–395, 399 f., 400, 402 f., 407, 411 Mußgnug, Reinhard 536

N Napoleon I. (Kaiser der Franzosen) 96, 113–119, 125–127, 131–133, 136–138, 141, 145–148, 150–156, 158–160, 162–211, 213–226, 228, 231, 233, 235, 255, 265 f., 272, 281, 287 f., 290 f., 307 f., 310 f., 317–329, 331–335, 337, 342, 344, 346, 348 f., 351–356, 358–361, 366, 370, 374, 385, 390, 415, 418 f., 421, 425, 429, 491, 493, 503 f., 508 Napoleon III. (Kaiser der Franzosen) 95, 123, 127, 131, 191 f., 223–225, 231, 233, 235, 243, 246–249, 251, 253, 255–257, 259, 264–266, 273, 279, 285, 348 f., 365, 424 f., 430 Nathan, Ernesto 373, 388 Natzmer, Dubislav Gneomar von 77 Naumann, Friedrich 425 Neinhaus, Carl 518 Nelson, Horatio 219, 348, 353 Neipperg, Adam Adalbert Graf 181 f. Nesselrode, Karl Robert von 173 Ney, Michel 172, 177, 196 f., 204, 241, 262, 272 Nicolai, Friedrich 4 f., 17 Nikolaus II. (Kaiser von Russland) 125, 137 f., 142 Nord, Philip 247 O Öch, Ludwig 449 Oechelhaeuser, Adolf von 485, 491, 493 Olschki, Leonardo 531 Oncken, Hermann 490 Ottheinrich (Kurfürst von der Pfalz) 477 Oudinot, Charles Nicolas 255 P Paine, Thomas 141 Pareto, Agostino 356 Pareto, Vilfredo 45 Pasqualigo, Francesco 378 Pasquier, Étienne-Denis 213 f. Pellico, Silvio 365 Penham, Daniel 521 Perels, Leopold 530 Périer, Casimir 217

Personenregister

Philipp II. (König von Spanien) 65, 99, 104, 126, 129, 141 Philipp III. (König von Spanien) 438 Philipp Wilhelm (Kurfürst von der Pfalz) 456 f., 459, 462, 464, 469, 475 Piazzoli, Adalberto 188 Picciotto Fargion, Liliana 403 Pippin der Jüngere (König der Franken) 126 Pirenne, Henri 61 Pisacane, Carlo 367 Pius VI. 323 f. Pius VII. 158, 160 Pius IX. 255, 376, 391 Poensgen, Georg 483, 502 Poliakov, Léon 373 Polignac, Armand de 139 f., 212 Poyet, Bernard 148 Pradt, Dominique de 114, 308 Preziosi, Giovanni 409 Prina, Giuseppe 353 Protais, Paul Alexandre 242, 267 Proust, Marcel 22 Prutz, Robert 295, 303 Pyat, Félix 228 Q Quesnay, François 69 R Rabaut Saint-Étienne, Jean-Paul 147 Radbruch, Gustav 528–530 Raffael 261, 264 Rahn, Rudolf 400, 406, 412 Raimondi, Marcantonio 261 Randolph, John 97 Ranke, Hermann 529 Rauch, Christian Daniel 300 Raumer, Kurt von 490, 495 f. Rebmann, Johann Andreas Georg Friedrich 327 Regenbogen, Otto 528–530 Reichardt, Rolf 24, 26 Reichensperger, August 292 Reid, John Phillip 100 f. Rémusat, Charles de 222 Rendtorff, Rolf 536 f. Ribbentrop, Joachim von 399

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Richelieu, Armand-Jean du Plessis duc de 79, 345, 438 f. Richelieu, Armand-Emmanuel du Plessis duc de 185, Richter, Eugen 434 Riesser, Gabriel 386 Robespierre, Maximilien de 121 Rochefort, Henri 247 Rochefoucauld, Vicomte Sosthène de la 212 Rodzjanko, Michail 137 Rolland, Romain 484 f. Roscher, Wilhelm 65–68, 72, 76, 79 Rosenthal, Artur 529, 531 Rostow, Walt 384 Rothfels, Hans 529 Rotteck, Carl von 303, 419 Rubens, Peter Paul 484 Rückert, Friedrich 426 Ruggiero, Marianne 263, 265 Rupprecht (Kronprinz von Bayern) 434 Ruprecht I. (Kurfürst von der Pfalz) 474, 505–507 Ruprecht III. (Kurfürst von der Pfalz, als Ruprecht I. römisch-deutscher König) 478 Ryle, Gilbert 49 S Saint-Just, Louis-Antoine-Léon de 120 f. Saint-Simon, Fernand de 208 Sakmann, Bert 509 Salle, Jean-Baptiste 110 Sandblad, Nils Gösta 245 f., 248, 251 f., 269 San Marzano, Asinari di 359 Sarfatti, Michele 402, 408 Savigny, Friedrich Carl von 480, 498 Scheer, Herrmann 535 Schelsky, Helmut 22 Schenkendorf, Max von 492 f., 497 Schieder, Theodor 428 Schiller, Friedrich von 511 Schlözer, August Ludwig 88 f. Schlotterback, Thomas 267 Schmelzer, Christoph 536 Schmitthenner, Paul 518, 522, 526, 530 Schmitz, Bruno 427 Schnabel, Franz 527

566 | Personenregister Schneckenburger, Max 429 Schneider, Carl 522, 526 Schneider, Hans 536 Schöpflin, Johann Daniel 476 Scholz, Wilhelm von 523 Schroeder, Paul W. 333 Schröder, Wilhelm von 85, 447 Schubart, Christian Friedrich Daniel 481, 483, 492 f., 497, 501, 504 Schulin, Ernst 25 Schumpeter, Joseph 21 Schurman, Jacob Gould 509 Schwarzenberg, Felix Fürst zu 417 Schwarzenberg, Karl Philipp zu 211 Semallé, Jean-René-Pierre de 212–214 Semmel, Stuart 189 Seurre, Emile 222–225, 227, 231, 233, 235 Siebeck, Richard 509 Sieyès, Emmanuel-Joseph 105, 118, 120, 147, 308 Simon, Jules 230 f., 235 Simson, Eduard von 386 Smith, Frances Barrymore 57 Snow, Charles Percy 511 Sonino, Giuseppe 375 Souham, Joseph 172 Speitkamp, Winfried 208 Sprandel, Rolf 24 f., 32 Staab, Heinz 544 Stadelmann, Rudolf 87, 90 Stalin, Iosif Vissarionovič 282 Stark, Karl Bernhard 486 Stein, Karl Freiherr von und zum 293, 298 Stüve, Johann Carl Bertram 5 Svarez, Carl Gottlieb 74, 88 f. Swart, Hugo 518 Swift, Jonathan 34 T Talleyrand-Périgord, Charles-Maurice de 113–116, 118, 122, 132, 169 f., 173–175, 185, 197, 199 f., 308, 321 f., 324 Taubert, Bernardo 412 Tellenbach, Gerd 24 f., 32 Texier, Edmond 225 Thadden, Eberhard von 405 Thibaut, Anton Friedrich Justus 509

Thiers, Adolphe 134 f., 142, 222, 224 f., 233 f., 255 f., 343 Tilly, Johann Tserclaes von 507 Tizian 261, 264 Traeger, Jörg 208, 211 Trajan (römischer Kaiser) 208–211, 221, 225, 348 Treitschke, Heinrich von 482, 489 Tocqueville, Alexis de 55 Tommaseo, Niccolò 385 Toscano, Mario 376 Tulard, Jean 188 Turenne, Henri de La Tour d’Auvergne, vicomte de 440, 451 Turgot, Anne Robert Jacques 83 U Urban VI. 506 Ursinus, Zacharias 506 V Vallette, Meynard de la 212 Vergil 165 Viktor Emanuel I. (König von Sardinien) 352, 358, 362 Viktor Emanuel II. (König von Sardinien-Piemont, König von Italien) 365, 378 Viktor Emanuel III. (König von Italien) 388 Villemot, Emile 232 Vogel, Klaus 535, 537 f. Voigts, Jenny von 5 Volkov, Shulamit 386 Vossler, Otto 97, 99–101 Vovelle, Michel 51, 53 W Walder, Ernst 62 Watteau, Antoine 268 Weber, Alfred 528 f. Weber, Max 35, 58, 320, 509 Weider, Ben 184 f., 187, 189–191 Weizmann, Chaim 375, 388 Weizsäcker, Carl Christian von 536, 544 f., 547 Weizsäcker, Viktor von 509

Personenregister

Wellington, Arthur Wellesley, Duke of 176, 201 Welp, Jürgen 537–540 Wessel, Horst 523 Westphal, Alfred 428 Wieland, Volker 537 Wilhelm I. (König von Preußen, deutscher Kaiser) 137, 420 f., 423 f., 427, 429, 431 Wilhelm II. (König von Preußen, deutscher Kaiser) 47, 139, 430, 432–434 Wilhelm III. von Oranien (König von England) 96, 115, 128 f., 132, 140, 170, 308, 468 Willms, Johannes 188 Wills, Garry 100 Winckelmann, Johann Joachim 14 f.

Wislicenus, Hermann 427 Wittig, Georg 509 Wolff, Albert 249 Wolff, Christian 74 Y Yriarte, Charles 261 f. Z Zacharias, Johann 3 Zedlitz, Karl Abraham 91 Ziebura, Gilbert 23 Zola, Emile 231, 246 Zuccotti, Susan 397 Zundel, Reinhold 473

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