Karl Marx - Geschichte, Gesellschaft, Politik: Eine Ein- und Weiterführung 9783110898880, 3110178494, 9783110178494

"Nicht nur der Historische Materialismus ist uns insgeheim in Fleisch und Blut übergegangen, wie ich bereits behaup

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Karl Marx - Geschichte, Gesellschaft, Politik: Eine Ein- und Weiterführung
 9783110898880, 3110178494, 9783110178494

Table of contents :
Einleitung
1. Menschen, Gesellschaft, Geschichte
2. Produktivkräfte: Das Fundament der Theorie
1. Kraft, Vermögen, Eigenschaft
2. Die eklektizistische Sicht
3. Gesellschaftliche und materielle Produktivkräfte
4. Produktivkraft und Produktivität: Eine andere Sicht
5. Von der Produktionskraft zu den Produktivkräften
6. Rückblick
3. Produktionsverhältnisse: Die ökonomische Basis
1. Formen, Weisen, Arten
2. Cohen über Produktionsweisen
3. Verkehr
4. Was sind Produktionsverhältnisse?
5. Charaktermasken: Ökonomische Rolle und Besitz
6. Rückblick
4. Der Überbau: Institutionen und Bewusstseinsformen
1. Bewusstsein und Bewusstseins formen
2. Bewusstsein und Ideologie
3. Die institutionalistische Sicht: Gesetz und Staat
4. Exkurs: Methodologischer und sozialer Individualismus
5. Einstellung, Handlung und Institution
6. Rückblick
5. Entsprechung, Bedingung, Bestimmung: Erklärung
1. Die Problemlage
2. Erklärung und Verursachung
3. Zurück zu Marx
4. Liefert der Historische Materialismus Kausalerklärungen?
5. Erklärung, Verursachung, Zweck und Funktion
6. Rückblick
6. Funktion und Erklärung
1. Cohens Argument
2. Funktionale Eigenschaften und die Träger der Funktion: Einige Klärungen
3. Wrights Analyse
4. Funktionale Erklärungen: Die gängige Sicht
5. Eine Alternative
6. Der Historische Materialismus: Eine Theorie dynamischer Systeme
7. Rückblick
7. Gesellschaft: Systeme und Strukturen
1. Was sind Systeme?
2. Die Gesellschaft als funktionales System
3. Ein zweiter Begriff der Gesellschaft
4. System, Struktur, Handlung
5. Gesellschaftsstruktur und Gesellschaftssystem
6. Rückblick
8. Klassen, Klassenbewusstsein, Klassenkampf
1. Das Problem
2. Klassen: Ökonomisch, sozial und politisch
3. Klassenbewusstsein und Klasseninteresse
4. Wie man zu Bewusstsein kommt
5. Klassenkampf
6. Klassenkampf und Historischer Materialismus
7. Rückblick
9. Revolution: Von der Diktatur des Proletariats zur Demokratie
1. Revolutionäre und nichtrevolutionläre Veränderungen
2. Soziale und politische Revolution
3. Die proletarische Revolution
4. Diktatur oder Demokratie des Proletariats?
5. Von Klassen und Gruppen
6. Demokratie
7. Rückblick
10. Moral, Ideologie, Ideologiekritik
1. Ideologie: Einige Unterscheidungen
2. Die Falle des Konstruktivismus
3. Zukunftsdämmerung: Eine Skizze der marxistischen Epistemologie
4. Moralkritik
5. Marx, die Moral und die (vermeintlich) nicht-moralischen Güter
6. Ideologiekritik und kritische Theorie
7. Rückblick
11. Politik: Staat und Gesellschaft
1. Staat und Gesellschaft beim jungen Marx
2. Staatlichkeit
3. Der Begriff des Politischen
4. Totalitarismus oder das Absterben des Staates
5. Politisches Programm ohne welthistorischen Auftrag
6. Rückblick
Anmerkungen
Literatur
Personenregister
Sachregister

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Marco Iorio Karl Marx — Geschichte, Gesellschaft, Politik

W G DE

Ideen & Argumente Herausgegeben von Wilfried Hinsch und Lutz Wingert

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2003

Marco Iorio

Karl Marx — Geschichte, Gesellschaft, Politik Eine Ein- und Weiterführung

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2003

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN 3-11-017849-4 Bibliografische Information Oer Deutschen

Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Copyright 2003 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: +malsy, kommunikation und gestaltung, Bremen Titelbild: AKG Images Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: WB-Druck, Rieden/Allgäu

Für Natalia, die Großartige, und Dario, den (noch) ganz Kleinen

Vorwort Das Zustandekommen dieses Buches verdanke ich Personen, Institutionen und Umständen. Danken möchte ich an dieser Stelle zuvörderst Natalia Canto Mila, Rüdiger Bittner, Martin Carrier, Wilfried Hinsch und Michael Wolff. All diese Personen haben als Gutachter und/oder als kritische Leser auf eine etwas umfangreichere Fassung dieser Studie reagiert, die von der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld im Frühjahr 2003 als Habilitationsschrift angenommen wurde. Unterstrichen sei der Dank an Rüdiger Bittner, als dessen wissenschaftlicher Assistent ich in den Jahren tätig war, in denen diese Studie entstand. Lieber Rüdiger, zu assistieren hast du mir ja dankenswerterweise nicht viel gegeben. Aber ich hoffe, du hast die Zeit der gemeinsamen Arbeit in Lehre, Forschung und Verwaltung trotzdem so sehr genossen, wie ich es tat. Danken möchte ich an dieser Stelle auch allen Mitgliedern der Abteilung Philosophie der Universität Bielefeld. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es einen zweiten Ort gibt, an dem man als Student, Promovierender und als Mitglied des Mittelbaus auf derart kooperative, faire und unprätentiöse Arbeitsbedingungen stößt. Auch wenn die Reformuniversität Bielefeld viel von ihrem reformerischen Impetus der Gründerjahre einbüßen musste, hat die philosophische Abteilung dieser Universität einige eitle Zöpfe abgeschnitten, die an manch anderer Universität noch immer herumhäng en · Des Weiteren gilt mein Dank den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des de Gruyter Verlags, die mit der Drucklegung dieses Buches unmittelbar oder mittelbar betraut waren. Die unkomplizierte und effektive Zusammenarbeit war mir eine echte Freude. Auch der Westfälich-Lippischen Universitätsgesellschaft sowie der FriedrichEbert-Stiftung bin ich zu Dank verpflichtet, da sich diese beiden Institutionen kurzfristig und unbürokratisch dazu bereit erklärt ha-

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Vorwort

ben, einen beträchtlichen Teil des Druckkostenzuschusses für diese Veröffentlichung zu übernehmen. Nicht versäumen möchte ich an dieser Stelle die Gelegenheit, mich mit einigen Jahren Verspätung bei der Friedrich-Ebert-Stiftung für die großzügige Förderung meines Studiums zu bedanken. Promotionsschriften werden im günstigen Fall von aufmerksamen Doktormüttern und —vätern betreut. Habilitationsschriften leben mehr von der engagierten Mitarbeit guter Studierender. Ich danke daher auch allen Studentinnen und Studenten, die mit mir im Laufe der Jahre im Rahmen meiner Lehrveranstaltungen durch die geistigen Reiche gewandert sind, die den vorliegenden Text inspiriert haben. Einige von ihnen waren mir auch als Hilfskräfte kraftvoll und hilfreich zur Hand. Eine Extraportion Dank daher an Meike Krüger, Benjamin Birkenhake und vor allem an Jens Schnitker, der das gesamte Projekt von der ersten Literaturrecherche bis zur endgültigen Formatierung der Druckfassung gewissenhaft begleitet hat. Zum Schluss zurück zum Anfang. Ein dickes Dankeschön geht an Michael Schefczyk, der mich vor einigen Jahren dazu verführt hat, erneut nach den Marx-Bänden im Regal zu greifen. Wer weiß, wovon dieses Buch sonst gehandelt hätte? Bielefeld,Juli 2003

Inhaltsverzeichnis Einleitung

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1. Menschen, Gesellschaft, Geschichte

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2. Produktivkräfte: Das Fundament der Theorie 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Kraft, Vermögen, Eigenschaft Die eklektizistische Sicht Gesellschaftliche und materielle Produktivkräfte Produktivkraft und Produktivität: Eine andere Sicht... Von der Produktionskraft zu den Produktivkräften.... Rückblick

3. Produktionsverhältnisse: Die ökonomische Basis 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Formen, Weisen, Arten Cohen über Produktionsweisen Verkehr Was sind Produktionsverhältnisse? Charaktermasken: Ökonomische Rolle und Besitz Rückblick

4. Der Überbau: Institutionen und Bewusstseinsformen 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Bewusstsein und Bewusstseinsformen Bewusstsein und Ideologie Die institutionalistische Sicht: Gesetz und Staat Exkurs: Methodologischer und sozialer Individualismus Einstellung, Handlung und Institution Rückblick

25 26 29 34 37 42 48 53 56 58 65 72 76 81 85 89 93 96 100 109 114

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Inhaltsverzeichnis

5. Entsprechung, Bedingung, Bestimmung: Erklärung 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Die Problemlage Erklärung und Verursachung Zurück zu Marx Liefert der Historische Materialismus Kausalerklärungen? Erklärung, Verursachung, Zweck und Funktion Rückblick

6. Funktion und Erklärung 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Cohens Argument Funktionale Eigenschaften und die Träger der Funktion: Einige Klärungen Wrights Analyse Funktionale Erklärungen: Die gängige Sicht Eine Alternative Der Historische Materialismus: Eine Theorie dynamischer Systeme Rückblick

7. Gesellschaft: Systeme und Strukturen 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Was sind Systeme? Die Gesellschaft als funktionales System Ein zweiter Begriff der Gesellschaft System, Struktur, Handlung Gesellschaftsstruktur und Gesellschaftssystem Rückblick

8. Klassen, Klassenbewusstsein, Klassenkampf 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Das Problem Klassen: Ökonomisch, sozial und politisch Klassenbewusstsein und Klasseninteresse Wie man zu Bewusstsein kommt Klassenkampf Klassenkampf und Historischer Materialismus

117 118 121 130 133 139 143 145 146 150 154 158 163 169 173 175 176 180 184 190 196 199 201 202 206 211 220 224 227

Inhaltsverzeichnis

7.

Rückblick

9. Revolution: Von der Diktatur des Proletariats zur Demokratie 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Revolutionäre und nichtrevolutionläre Veränderungen Soziale und politische Revolution Die proletarische Revolution Diktatur oder Demokratie des Proletariats? Von Klassen und Gruppen Demokratie Rückblick

10. Moral, Ideologie, Ideologiekritik 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Ideologie: Einige Unterscheidungen Die Falle des Konstruktivismus Zukunftsdämmerung: Eine Skizze der marxistischen Epistemologie Moralkritik Marx, die Moral und die (vermeintlich) nicht-moralischen Güter Ideologiekritik und kritische Theorie Rückblick

11. Politik: Staat und Gesellschaft 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Staat und Gesellschaft beim jungen Marx Staatlichkeit Der Begriff des Politischen Totalitarismus oder das Absterben des Staates Politisches Programm ohne welthistorischen Auftrag Rückblick

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Inhaltsverzeichnis

Anmerkungen

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Literatur

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Personenregister

357

Sachregister

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Einleitung Ursprünglich hatte ich vor, ein Buch zu schreiben, das den drei folgenden Zwecken dient. Zum einen wollte ich versuchen, die Darstellungen der Gedankenwelt von Karl Marx und Friedrich Engels sowie meine punktuelle Kritik dieser Welt so zu Papier zu bringen, dass beides nicht nur für Fachleute, sondern auch für Leser und Leserinnen verständlich ist, die mit den Schriften dieser beiden Autoren wenig oder gar nicht vertraut sind. In dieser Hinsicht sollte jenes Buch also eine Einführung in die Philosophie, vor allem in die Geschichts- und Gesellschaftsphilosophie sowie die politische Theorie des Marxismus bieten. Zweitens hatte ich den Vorsatz, im Zuge dieser Einführung diejenigen Teile des Denkens von Marx in den Vordergrund zu rücken, die uns heute nicht allein aus philosophiehistorischen Gründen interessieren, sondern nach wie vor beanspruchen können, für das Verständnis unserer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Bedeutung zu sein. Damit war entschieden, dass etwa die ökonomische Theorie von Marx eine nur untergeordnete Rolle spielen konnte. Denn diese Theorie ist wohl im wissenschaftlichen Sinn des Wortes als widerlegt zu erachten. Gleichwohl sollte diese Arbeit durchaus ein Versuch sein, die Gedanken von Marx in den übrigen, also den nicht-ökonomischen Hinsichten möglichst plausibel und stark erscheinen zu lassen, auch wenn dabei aus Gründen, die noch deutlich werden, keine Lesart des Marxismus herauskommen konnte, die allen bekennenden Marxisten und Marxistinnen gefällt. Drittens schließlich sollte der Umstand, dass ich mich in meiner Auseinandersetzung mit den Schriften von Marx und Engels in weiten Teilen auf jüngere Forschungsliteratur aus der angelsächsischen Feder sogenannter analytischer Marxisten beziehe, dem Zweck dienen, diese Literatur auch dem deutschsprachigen Lesepublikum etwas vertrauter zu machen.1 Allein dieses Anliegen wäre schon einige Mühe wert. Denn von den Arbeiten dieser zumeist hervorragenden Autoren liegt leider bis heute nichts in Ubersetzung vor.

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Einleitung

Wie bereits angedeutet, wollte ich mich in der ursprünglich geplanten Arbeit in erster Linie mit einem ganz bestimmten Teil des Denkens von Marx auseinandersetzen. Und dieser Teil ist der prominenteste Pfeiler des Marxismus, dem Engels den Namen Historiseber Materialismus gab. Dieser Historische Materialismus ist eine Theorie, die beansprucht, sowohl gesellschaftliche und historische Gegebenheiten als auch Veränderungen dieser Gegebenheiten zu erklären und ansatzweise sogar zu prognostizieren. Und diese Theorie beeindruckt, weil sie trotz ihrer Schlichtheit einen enorm umfassenden Anspruch erhebt. Schlicht ist sie, insofern diese Theorie im Kern aus nur drei Elementen und einer Behauptung über den Zusammenhang dieser Elemente besteht. Umfassend ist ihr Anspruch, insofern diese Theorie beansprucht, die gesamte Menschheitsgeschichte zu erklären. Nach und nach stolperte ich jedoch, wie schon andere Interpreten vor mir, immer häufiger über den Umstand, dass diese berühmte Kerntheorie des Marxismus mit anderen prominenten Überlegungen von Marx und Engels in einem eigenwilligen Spannungsverhältnis steht. Besagte Überlegungen kreisen um die Konzepte der Klasse, des Klasseninteresses und des Klassenbewusstseins, die zusammengenommen das Fundament der marxistischen Theorie vom Klassenkampf bilden. Mit Blick auf diese Theorie ist nicht recht klar, wie sie in dem Rahmen, den der Historische Materialismus aufspannt, einen ihr gebührenden Platz finden könnte. Und wie wir sehen werden, besteht dieses Problem vor allem darin, dass die Theorie vom Klassenkampf und der Historische Materialismus scheinbar dieselben Phänomene erklären, obzwar sich der Historische Materialismus einer Begrifflichkeit bedient, die sich zu den Begriffen der Klasse und des Klassenkampfs wie Ol zu Wasser verhält. Daher habe ich ein anderes Buch geschrieben — ein Buch, das von Anfang an mit diesem soeben skizzierten Konflikt umzugehen versucht, indem es solche Lesarten des Historischen Materialismus und der Theorie vom Klassenkampf entwickelt, die es erlauben, ein in sich stimmiges Bild von Marxens Denken zu zeichnen. Dieses Bild der Gedankenwelt von Marx beansprucht nicht oder doch nur eingeschränkt, in neuen Worten darzulegen, was Marx bereits im Sinn hatte. Marx scheint sich der Spannung in seiner Gesamtkonzeption schlicht nicht bewusst gewesen zu sein. Diese Nachzeichnung seiner Sicht beansprucht daher darzulegen, was Marx hätte antworten kön-

Umleitung

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nen, wäre er auf dieses Problem seiner Position aufmerksam gemacht worden. Und vor allem in diesem Sinn ist der Untertitel dieser Studie zu verstehen. Dieses Unterfangen ist jedoch weniger anmaßend oder eitel, als es auf Anhieb erscheinen könnte. Ich bin weder Marxist noch AntiMarxist, sondern genieße (das ist wörtlich zu verstehen) das Privileg, mich dem Denken von Marx und Engels unter Zeitumständen zu nähern, die es erlauben, mit ihrem Werk so umzugehen, wie wir es in der Wissenschaft mit den Schriften anderer Denker und Denkerinnen zu tun gewöhnt sind. Man muss nicht Kantianer sein, um sich mit Leidenschaft und Gewinn mit den Schriften des Königsberger Philosophen zu beschäftigen, die ja wahrlich auch nicht frei von Widersprüchen und Spannungen sind. Daher teile ich die Intention der neuen Herausgeber der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGs4), die sich ebenfalls einen wissenschaftlichen, und das heißt nicht zuletzt, einen politisch und ideologisch möglichst neutralen Umgang mit dem Werk dieser beiden Autoren zum Vorsatz gemacht haben.2 Diesen Weg zu verfolgen - das werden vornehmlich die späteren Kapitel dieser Studie belegen — bedeutet jedoch keineswegs, sich der politischen Implikationen des Marxismus oder der politischen Folgen von Marxens Denken zu entziehen. Wer sich mit den Schriften von Marx und Engels beschäftigt, kommt natürlich um Politik nicht herum. Die nachfolgenden Untersuchungen verlaufen von der Geschichts- und Gesellschaftstheorie von Marx hin zu seiner politischen Theorie. In der ersten Hälfte dieser Arbeit möchte ich daher vor dem Hintergrund einiger einleitender Betrachtungen versuchen, den Historischen Materialismus in einer möglichst plausiblen Form vor Augen zu führen. Dazu ist es natürlich angemessen, Klarheit über die drei Kernelemente, d. h. über die Begriffe der Produktivkräfte, der Produktionsverhältnisse sowie des Überbaus zu gewinnen. Im Anschluss daran widmen sich die weiteren Überlegungen der Beziehung, die der Historische Materialismus zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen sowie zwischen den Produktionsverhältnissen und dem Uberbau konstatiert. Ausgehend von der Interpretation Gerald Cohens, dem zufolge der Historische Materialismus als eine funktionalistische Theorie zu deuten ist, werde ich nach einer ausführlichen Erläuterung dieser Sicht eine alternative Auffassung vom Konzept der funktionalen Erklärung entwickeln. Diese Auffassung

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Einleitung

wird im daran anschließenden Kapitel durch eine Klärung des System- und Gesellschaftsbegriffs untermauert. Und die damit gewonnene Sicht auf den Begriff der funktionalen Erklärung wird es schließlich erlauben, das Ausgangsproblem zu lösen, das ich skizziert habe. Denn so aufgefasst, besteht eine reelle Chance, den Historischen Materialismus mit der Theorie vom Klassenkampf zu verbinden. Um diese Verbindung vornehmen zu können, wende ich mich ab dem achten Kapitel der Theorie vom Klassenkampf zu und versuche, ihr vor dem Hintergrund einer Erläuterung der marxistischen Sicht eine zeitgenössische Lesart zu verleihen. Diese Lesart stützt sich auf die Überzeugung, dass es Marx — der von ihm verwendeten Begrifflichkeit zum Trotz — sachlich weniger um blutige Kämpfe zwischen rivalisierenden Klassen als um Auseinandersetzungen jeder Art zwischen politisch organisierten Interessengruppierungen gegangen ist. Auf der Grundlage dieser Lesart möchte ich im neunten Kapitel zeigen, dass Marx für seine Annahme, die historische Entwicklung menschlicher Gesellschaften vollziehe sich notwendigerweise in Form ab und an stattfindender Revolutionen, keine guten Gründe hatte. Marxismus also ohne Revolution. Und hierin sehe ich einen der wichtigsten Gründe für die bereits formulierte Vermutung, dass meine Lesart von Marx nicht bei all seinen Anhängern breite Zustimmung finden dürfte. Das vorletzte Kapitel geht dann der Frage nach, ob und inwiefern es zutrifft, dass die marxistische Gesellschaftskritik eine moralische Kritik ist, also eine Kritik, die sich auf moralphilosophische Normen stützt. Eine Untersuchung des Projekts der Ideologiekritik sowie ein Einblick in die marxistische Theorie der Erkenntnis werden in diesem Zusammenhang am Platz sein. Vor diesem Hintergrund lässt sich nämlich erläutern, inwieweit der Marxismus tatsächlich auf moralischen Prämissen beruht, deren Untersuchung zu den aristotelischen Grundlagen des Menschenbilds von Marx führt. In Anbetracht dieser Grundlagen wird sich schließlich auch zeigen, was es heißt, den Marxismus als eine kritische Theorie zu bezeichnen. Auf der Grundlage der entfalteten Geschichts- und Gesellschaftstheorie von Marx versucht das abschließende Kapitel, die politische Philosophie des Marxismus zu beleuchten. Aus naheliegenden Gründen geht es dabei vornehmlich um die Begriffe des Staates und der

Einleitung

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Gesellschaft. Hier wird uns eine unheilvolle Zweideutigkeit von Marxens Begriffen des Staatlichen und des Politischen begegnen, die sich nicht zuletzt in seinen berühmten Ausführungen über das Absterben politischer Herrschaft unter klassenlosen Gesellschaftsbedingungen niederschlägt. Ausgehend von einigen Betrachtungen über den Zusammenhang zwischen den Begriffen des Politischen und des Krieges wird dieses Buch mit der Frage schließen, was vom Projekt des marxistischen Sozialismus unter heutigen Bedingungen noch zu halten ist. Auch wenn es ein anderes Buch als das ursprünglich geplante geworden ist, hoffe ich, dass es den drei Absichten des nicht geschriebenen Buches trotzdem Rechnung trägt.

1. Menschen, Gesellschaft, Geschichte Es wurde bereits deutlich, dass der Historische Materialismus, der als Kernelement des Marxismus im Mittelpunkt der ersten Kapitel dieser Studie steht, dem Anspruch seiner Begründer nach eine allgemeine Theorie der Gesellschaft und ihrer Geschichte ist. Diese Theorie besteht aus drei Grundelementen und einer Aussage darüber, wie der Zusammenhang zwischen diesen Elementen beschaffen ist. Die drei Konzepte sind die der Produktivkräfte (zuweilen auch Produktionskräfte genannt), der Produktionsverhältnisse (manchmal auch als Produktionsbedingungen bezeichnet) sowie der Bewusstseinsformen (zuweilen ist auch schlicht vom Bewusstsein oder vom Überbau die Rede). Die Aussage über den Zusammenhang zwischen diesen Kernelementen der Theorie lautet, dass der Entwicklungsstufe der Produktivkräfte deren Produktionsverhältnisse entsprechen, wobei diesen Produktionsverhältnissen ihrerseits der Überbau dieser Gesellschaft entspricht. Wir haben es also mit einem doppelten Entsprechungsverhältnis zu tun. Dies ist jedenfalls das Bild, das sich aus dem Vorwort der Arbeit Zur Kritik der politischen Ökonomie aus dem Jahr 1859 ergibt, in dem Marx seinen Standpunkt vor dem Hintergrund einer kurzen Autobiographie zusammenfasst. Diese Zusammenfassung erfolgt anderthalb Jahrzehnte, nachdem Marx die Grundideen des Historischen Materialismus erstmals in der gemeinsam mit Engels verfassten Deutschen Ideologie formulierte. Aus diesem Vorwort spricht also der gereifte Theoretiker, weswegen ich mich in dieser Studie häufiger auf seinen Wortlaut beziehen werde. Dort ist zu lesen: In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt,

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und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. (13, 8 f.)1

Hier ist zum einen zu bemerken, dass Marx von den Produktivkräften nicht ohne nähere Qualifikation, sondern von materiellen Produktivkräften spricht. Dies ist ein Punkt, der im nächsten Kapitel erörtert wird, in dem es ausführlich um das Konzept der Produktivkräfte geht. Zum anderen lässt sich der letzte Satz der zitierten Passage auch dahin gehend deuten, dass sich auf der realen Basis, die aus der Gesamtheit der Produktionsverhältnisse gebildet ist, einerseits ein juristischer und politischer Überbau erhebt, andererseits dieser Basis zugleich auch bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Folglich wären die Bewusstseinsformen vom Uberbau zu unterscheiden. Und in dem Fall müssten wir entgegen meiner Behauptung nicht von nur drei, sondern von vier grundlegenden Konzepten ausgehen, aus denen der Historische Materialismus besteht. Neben den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen wären nämlich sowohl die Bewusstseinsformen als auch der Überbau gesondert zu thematisieren. Diesen Punkt möchte ich jedoch bis ins vierte Kapitel auf sich beruhen lassen. Dort wird indes deutlich werden, inwieweit wir es in der Tat mit nur drei Elementen zu tun haben. Wer jedenfalls wissen will, was der Historische Materialismus besagt, muss wissen, was (a) Produktivkräfte, was (b) Produktionsverhältnisse und was (c) Bewusstseinsformen sind bzw. was man sich unter dem Überbau einer Gesellschaft vorzustellen hat. Und schließlich sollte man (d) auch ein Bild davon haben, was es mit den Entsprechungsverhältnissen auf sich hat, die diese Theorie zwischen den Kernelementen, auf die sie sich stützt, konstatiert. Die ersten drei Fragen bilden in der genannten Reihenfolge die Ausgangspunkte der anschließenden drei Kapitel dieses Buches. Die zuletzt formulierte Frage liefert dann das Hauptthema der sich daran anknüpfenden Überlegungen über die Begriffe der Erklärung, der funktionalen Analyse und des Gesellschaftssystems. Bevor wir uns jedoch den Schwierigkeiten zuwenden, die sich bei dem Unterfangen ergeben, ein klares Bild von den grundlegenden Konzepten des Historischen Materialismus zu entwickeln, erscheint es angebracht, zu Beginn unserer Betrachtungen etwas weiter auszuholen und uns über das Anliegen zu verständigen, das Marx zu dieser

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Theorie gefuhrt hat. Denn dies wird nicht nur helfen, den merkwürdigen und zugleich auch irreführenden Namen dieser Theorie zu klären. Vielmehr wird uns dieses Grundanliegen auch deutlich machen, welche Bedeutung dem Historischen Materialismus mit Blick auf die Gesamttheorie von Marx, also mit Blick auf den Marxismus zukommt. * * *

Was das besagte Anliegen betrifft, ist vor allem die bereits genannte Deutsche Ideologie aufschlussreich, in der Marx von 1845 bis 1846 gemeinsam mit Friedrich Engels erstmals die Grundrisse seiner Gesellschafts- und Geschichtstheorie entwickelt hat.2 Wie schon die Heilige Familie, die erste von Marx und Engels gemeinsam publizierte Schrift, ist auch die zu Lebzeiten der beiden Autoren nie veröffentlichte Deutsche Ideologie eine in weiten Zügen polemisch verfahrende Abrechnung mit vormaligen Weggefährten und intellektuellen Vorbildern aus der Studienzeit von Marx. Die in der Deutschen Ideologie oft hämisch vorgeführten Autoren hatten sich Marxens Ansicht nach offenbar anders als er selbst zu wenig von Hegel und dem idealistischen Denken freigemacht. Die Hauptintention, die in der Deutschen Ideologie weit deutlicher als in den von Marx vor 1845 verfassten Schriften zum Ausdruck kommt, besteht darin, eine Weltanschauung als verkehrt zu erweisen, die dem Denken (bzw. dem Träger des Denkens, also dem Geist, dem Bewusstsein oder der Vernunft) eine ausschlaggebende Rolle in der Erklärung historischer und gesellschaftlicher Ereignisse zuweist.3 Hegel trieb bekanntermaßen, ähnlich wie Fichte und Schelling, den Idealismus von Kant auf die Spitze, indem er die gesamte Weltgeschichte als Selbstentfaltung und Selbstfindung des Geistes interpretierte. Im Rahmen dieser Interpretation scheinen historische, gesellschaftliche und kulturelle Phänomene nichts anderes zu sein, als aufeinanderfolgende Entwicklungsstufen des Geistes bzw. der Entfaltung und Selbstfindung des Geistes. Und der Historische Materialismus ist — zumindest seinem Ursprung nach — vor allem als ein Reflex auf diese Geschichtsauffassung zu verstehen. Dies geht schon in aller Deutlichkeit aus der Vorrede zur Deutschen Ideologie hervor, findet dann aber auf fast jeder Seite dieses Buches seinen Nieder-

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schlag. So heißt es etwa an einer von zahllosen Stellen, die zum Beleg angeführt werden könnten: Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche vom Himmel auf die Erde herabsteigt, wird hier von der Erde zum Himmel gestiegen. D. h., es wird nicht ausgegangen von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen [...] es wird von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt. [...] Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens. Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein. (3, 26f.)

Der letzte Satz der zitierten Passage, in der Marx jedwede Art von Ideengeschichte, geschweige denn eine hegelianische Geschichte des Weltgeistes zur Unmöglichkeit erklärt, bringt das besagte Hauptanliegen auf den Punkt. Wer die Menschen, ihr gesellschaftliches Zusammenleben sowie ihre Geschichte und Kultur verstehen will, darf sich nicht darauf verlassen, was diese Menschen über sich, ihre Geschichte und ihre Kultur denken, schreiben oder sagen. Vielmehr ist dieses Denken, Schreiben und Sagen selbst ein Teil dessen, was durch die Geschichte des konkreten Handelns dieser Menschen zu erklären ist. Und wie wir sehen werden, ist dieses Handeln der Menschen dem Historischen Materialismus zufolge immer und ausschließlich vor dem Hintergrund der bestehenden gesellschaftlichen Situation und dem Entwicklungsstand der den Gesellschaftsmitgliedern zur Verfügung stehenden Produktivkräfte zu deuten. Der eigentliche Urheber der von Marx in den Vordergrund gerückten Ansicht, dass nicht das Leben durch das Bewusstsein, sondern umgekehrt das Bewusstsein durch das Leben zu erklären ist, ist paradoxerweise der in der Deutschen Ideologie ebenfalls kritisierte Ludwig Feuerbach. Feuerbach, dessen Schaffen Marx im Großen und Ganzen durchaus respektierte, hatte schon ein paar Jahre früher in

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seinen Vorläufigen Thesen %ur Reformation der Philosophie geschrieben: „Das Denken ist aus dem Sein, aber das Sein nicht aus dem Denken."4 Marx variiert diese Äußerung dann noch einmal in dem viel zitierten Satz aus dem Vorwort, dem zufolge nicht das Bewusstsein das Sein, sondern umgekehrt das gesellschaftliche Sein der Menschen ihr Bewusstsein bestimmt. Und bis zu einem gewissen Grad sollen die ersten Kapitel dieses Buches nicht viel mehr leisten, als diesen Kerngedanken des Historischen Materialismus verständlich zu machen, damit wir auf dem Fundament dieses Verständnisses die gesellschafts- und politiktheoretischen Überlegungen von Marx erörtern können. In Anbetracht dieser Grundintention von Marx und Engels möchte ich auf vier Punkte zu sprechen kommen, die uns zusammengenommen mit dem Status und dem Selbstverständnis des Historischen Materialismus vertrauter machen. Zum einen wird angesichts dieser Intention eine Tatsache etwas verständlicher, die uns in den nachfolgenden drei Kapiteln einiges Kopfzerbrechen bereiten wird. Gemeint ist der Umstand, dass Marx hinsichtlich der Fragen, was unter den Produktivkräften, den Produktionsverhältnissen und den Bewusstseinsformen im Einzelnen zu verstehen ist, überraschend wenig Aufschluss gibt, obwohl es sich hierbei doch um die zentralen Elemente seiner wichtigsten Theorie handelt.5 Was ihm ursprünglich und in erster Linie am Herzen lag, war offenbar die grundsätzliche Zurückweisung des idealistischen Denkens bzw. der Nachweis, dass „die Hypothese von der sich offenbarenden universellen Vernunft [...] reinste Erfindung" ist. (4, 548) Dabei ging es ihm also zumindest in der frühen Phase seines Philosophierens vornehmlich um die Widerlegung der idealistischen Überzeugung, dass die Welt, die wir sinnlich wahrnehmen und in der wir leben, dem Geist bzw. dem Bewusstsein ontologisch nachgeordnet ist und dass die Geschichte dieser Welt von einer übermenschlichen Vernunft regiert wird. Und dieser Ursprung der Theorie von Marx macht zumindest im Ansatz verständlich, weshalb er derart nachlässig darin war, die Triade Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse und Überbau im Einzelnen zu klären. Zweitens wird durch das erläuterte Grundanliegen erkennbar, dass die Theorie von Marx lediglich in dem Sinn eine Form des Materialismus darstellt, in dem eine mehr polemisch zu verstehende Abgrenzung zum Idealismus markiert werden soll. Diese Beobach-

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tung ist wichtig, weil Marx mit materialistischen Theorien im engeren Sinn des Wortes, wie sie vor ihm in der philosophischen Tradition vertreten wurden, nicht viel, oder gar mit Theorien, die wir heute materialistisch, naturalistisch bzw. physikalistisch nennen, nur so viel am Hut hat, als auch diese Theorien auf der vagen Grundannahme beruhen, dass allen scheinbar nicht-physikalischen bzw. geistigen Phänomenen physikalische, also naturwissenschaftlich beschreibbare Phänomene zugrunde liegen.6 In den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahr 1844, die den Abnabelungsprozess des noch nicht einmal fünfundzwanzig Jahre alten Marx von seinem vormaligen Vorbild Hegel eindringlich vor Augen führen, vermeidet er es an einer zentralen Stelle sogar, seinen neu erworbenen Standpunkt als eine Form des Materialismus zu bezeichnen. Stattdessen zieht er es vor, von einem Naturalismus bzw. Humanismus zu sprechen, um diesen Standpunkt nicht nur vom Idealismus, sondern zugleich auch von materialistischen Anschauungen abzugrenzen. Darüber hinaus gibt er in diesem Zusammenhang einen aufschlussreichen Hinweis darauf, was er vornehmlich im Auge hat: Wenn der wirkliche, leibliche, auf derfesten wohlgerundeten Erde stehende, alle Naturkräfte aus- und einatmende Mensch seine wirklichen, gegenständlichen Wesenskräfte durch seine Entäußerung als fremde Gegenstände setzt, so ist nicht das Setzen Subjekt; es ist die Subjektivität gegenständlicher Wesenskräfte, deren Aktion daher auch eine gegenständliche sein muß. Das gegenständliche Wesen wirkt gegenständlich, und es würde nicht gegenständlich wirken, wenn nicht das Gegenständliche in seiner Wesensbestimmung läge. Es schafft, setyt nur Gegenstände, weil es durch Gegenstände gesetzt ist, weil es von Haus aus Natur ist. [...] Wir sehn hier, wie der durchgeführte Naturalismus oder Humanismus sich sowohl von dem Idealismus, als dem Materialismus unterscheidet und zugleich ihre beide vereinigende Wahrheit ist. Wir sehn zugleich, wie nur der Naturalismus fähig ist, den Akt der Weltgeschichte zu begreifen. (40, 577*)

Marx spricht sich hier für ein Begreifen der Weltgeschichte unter Bezug auf konkrete Menschen aus. Dabei betont er, dass die Menschen als natürliche, gegenständliche, d. h. vor allem als leibliche Wesen unter anderen gegenständlichen Dingen in Raum und Zeit wirken, um sich unter den Bezeichnungen Naturalismus und Huma-

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nismus von einem idealistischen Weltverständnis abzugrenzen.7 Die Weltgeschichte ist nach seinem Dafürhalten also keine Geschichte des Geistes oder der Vernunft, sondern eine Naturgeschichte, weil ihr Hauptakteur, der Mensch, nicht primär geistiges Wesen, sondern „von Haus aus Natur ist." Wenn Marx seine Position sowohl in den Manuskripten als auch in anderen Zusammenhängen gleichwohl als eine materialistische Sichtweise zu bezeichnen bereit ist, dann versucht er damit folglich in erster Linie, eine grundsätzliche Opposition zum Idealismus, primär Hegelianischer Provenienz, zum Ausdruck zu bringen, mit dem er und seine Generation europäischer und außereuropäischer Intellektueller aufgewachsen sind. Dass Engels diesen Materialismus später mit dem Prädikat historisch versah, sollte natürlich kenntlich machen, dass es sich um eine Geschichtstheorie handelt, genauer um eine Theorie, die konkrete Gesellschafts- und Bewusstseinszustände immer in ihrem historischen Zusammenhang und unter Bezug auf den jeweiligen Entwicklungsstand der Produktivkräfte (sowie die sich aus diesem Entwicklungsstand ergebenden Produktionsverhältnissen) zu begreifen versucht. Dies berührt den dritten Punkt, auf den ich aufmerksam machen möchte. Streng genommen, machte sich Engels durch diese Namensgebung nämlich eines grammatischen Vergehens schuldig, das seiner Natur nach weit verbreitet und auf Grund der Struktur unserer Sprache oft auch kaum zu vermeiden ist. Jedenfalls hat nicht dieser Materialismus, nicht also die von Marx und Engels vertretene Theorie der Gesellschaft und ihrer Geschichte, die Eigenschaft, historisch zu sein, sowenig wie eine chemische Fabrik die Eigenschaft hat, chemisch, oder eine kausale Erklärung das Merkmal trägt, kausal zu sein. Vielmehr deuten in solchen Fällen scheinbare Prädikationen nicht auf Attribute des Subjekts, sondern auf spezifische Hinsichten hin, unter denen das betreffende Subjekt zu verstehen ist. Einfacher gesagt, ist eine chemische Fabrik (besser eine Chemiefabrik) ein Industrieunternehmen, das chemische Produkte herstellt. Eine kausale Erklärung (bzw. Kausalerklärung) ist eine Erklärung des zu Erklärenden hinsichtlich dessen kausaler Ursprünge. Und der Historische Materialismus ist eine anti-idealistisch orientierte Theorie, die Historisches bzw. Historie zum Gegenstand hat. Um diesen Punkt zu markieren, ist in diesem Buch nicht vom historischen, sondern durchgängig vom Historischen Materialismus die Rede.

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Es gibt noch einen vierten Grund, aus dem ich die Grundintention von Marx und Engels zur Sprache brachte. Dieser besteht darin, dass in Anbetracht dieser Intention der Ausgangspunkt des Denkens von Marx recht willkürlich erscheinen könnte. Dieser Ausgangspunkt führt vor Augen, dass die Menschen nach Marxens Dafürhalten primär arbeitende bzw. produzierende sowie Produkte tauschende und konsumierende Wesen sind. Insofern kann man also sagen, dass Marx ein in einem sehr weiten Sinn des Wortes, den ich in dieser Arbeit sehr häufig voraussetzen werde, ökonomisch akzentuiertes Menschenbild vertritt, wenn man unter den Begriff der Ökonomie alle drei genannten Aspekte (Produktion, Austausch, Konsumtion) zusammenfasst.8 Und diese Akzentuierung erklärt im Übrigen auch, warum sich Marxens Denken seit den eben zitierten Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von genuin philosophischen Annahmen ausgehend immer mehr in Richtung ökonomischer Kategorien entwickelte — eine Entwicklung, die über diverse Zwischenstufen zum nie zum Abschluss gebrachten Hauptwerk Das Kapital führen sollte. In den genannten Manuskripten - nach ihrem Entstehungsort auch Pariser Manuskripte genannt — formuliert Marx jedenfalls erstmals den Gedanken, dass sich gleichsam Gott und die Welt nicht nach Hegels Vorgaben in den Begriffen der Vernunft und ihrer Selbstfindung, sondern in ökonomischen Konzepten interpretieren lassen. So schreibt er ausdrücklich: „Religion, Familie, Staat, Recht, Moral, Wissenschaft, Kunst etc. sind nur besondre Weisen der Produktion und fallen unter ihr allgemeines Gesetz." (40, 537) Und wenige Seiten später heißt es gar, dass „die gan^e sogenannte Weltgeschichte nichts anders ist als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit, als das Werden der Natur für den Menschen [...]." (40, 546) Die besagte Willkürlichkeit dieser Sichtweise tritt nun vor Augen, wenn man sich an einige Alternativen erinnert, die von anderen Autoren vorgeschlagen wurden. Man denke beispielsweise an Sigmund Freud. Freuds Theorie beruht bekanntermaßen auf einer ganz anderen Grundannahme, nämlich auf einer Wesensbestimmung, der zufolge der Mensch ein triebhaftes Wesen ist. Von dieser Grundlage ausgehend versucht auch Freud, geschichtliche, gesellschaftliche, moralische, ästhetische bzw. allgemein kulturelle Gegebenheiten zu erklären.9 Und dies macht uns darauf aufmerksam, dass es durchaus

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zu erwägende Alternativen zu dem ökonomistischen Ausgangspunkt gibt, den Marx für sein Denken gewählt hat. Die Tragweite dieses Umstands kommt sogar noch deutlicher zum Vorschein, wenn man an einen Zeitgenossen von Marx und Engels denkt, der ihre Grundintention insofern teilte, als auch er den Idealismus als eine verkehrte Weltanschauung bewertete. Doch trotz des geteilten Ausgangspunkts beschritt er einen ganz anderen Weg, auf dem auch ihm viele Autoren folgen sollten — Soren Kierkegaard. Aus der Zurückweisung des Idealismus, der von ihm auch als abstraktes Denken bezeichnet wird, folgert zwar auch Kierkegaard auf die Bedeutsamkeit des konkreten Menschen, also des einzelnen Individuums. Anders als Marx hat er aber keineswegs den konkreten Menschen als ökonomisches Wesen, sondern als existierendes und um seine eigene Existenz besorgtes Wesen vor Augen: In der Sprache der Abstraktion kommt das, was die Schwierigkeit der Existenz und des Existierenden ausmacht, eigentlich nie zum Vorschein [...]. Eben weil das abstrakte Denken vom Standpunkt der Ewigkeit her (sub specie aeterni) betrachtet, sieht es ab von dem Konkreten, von der Zeitlichkeit, vom Werden der Existenz, von der Not des Existierenden [...]. Will man nun annehmen, daß das abstrakte Denken das Höchste ist, so folgt daraus, daß die Wissenschaft und die Denker stolz die Existenz verlassen und es uns anderen Menschen überlassen, das Schlimmste zu erdulden. Ja es folgt daraus zugleich etwas für den abstrakten Denker selbst, daß er nämlich, da er ja doch selbst auch ein Existierender ist, in irgendeiner Weise distrait sein muß.10

Dieser Verweis auf Kierkegaards Existentialismus belegt also, dass die Ablehnung des idealistischen Denkens nicht unumgänglich zu Marxens Charakterisierung des Menschen als eines produzierenden Wesens führt. Dennoch ist es nicht ohne weiteres gerechtfertigt, Marxens ökonomistischen Ansatz als willkürlich zu bezeichnen. Denn aus der folgenden Passage der Deutschen Ideologie geht hervor, dass Marx durchaus eine Begründung dafür zu bieten hat, sein Menschenbild in der Art und Weise zu fundieren, in der er es tut. Diese Begründung besteht darin, dass er auf Grund seiner ausgiebigen historischen Studien die Überzeugung vertritt, dass die so genannte

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Natur bzw. das Wesen des Menschen voll und ganz von ökonomischen Veränderungen abhängig ist: Sie [die materialistische Geschichtsauffassung, sprich der Historische Materialismus] zeigt, daß die Geschichte nicht damit endigt, sich ins „Selbstbewußtsein" als „Geist vom Geist" aufzulösen, sondern daß in ihr auf jeder Stufe ein materielles Resultat, eine Summe von Produktionskräften, ein historisch geschaffnes Verhältnis zur Natur und der Individuen zueinander sich vorfindet, die jeder Generation von ihrer Vorgängerin überliefert wird, eine Masse von Produktivkräften, Kapitalien und Umständen, die zwar einerseits von der neuen Generation modifiziert wird, ihr aber auch andrerseits ihre eignen Lebensbedingungen vorschreibt [...]. Diese Summe von Produktionskräften, Kapitalien und sozialen Verkehrs formen, die jedes Individuum und jede Generation als etwas Gegebenes vorfindet, ist der reale Grund dessen, was sich die Philosophen als „Substanz" und „Wesen des Menschen" vorgestellt, was sie apotheosiert und bekämpft haben [...]. (3, 38)

Weil sich das Wesen bzw. die Substanz der Menschen auf die jeweils nach Maßgabe des Entwicklungsstands der Produktivkräfte gegebenen ökonomischen Bedingungen zurückfuhren lässt, unter denen die betreffenden Menschen leben, ist es korrekt, den Menschen als ein ökonomisches Wesen zu bestimmen.11 Und weil sich die ökonomischen Bedingungen ändern, ändert sich laut Marx eben auch die „Substanz" bzw. das „Wesen des Menschen." Aus dieser Überlegung zieht Marx zuweilen die zusätzliche Folgerung, dass man von der Natur des Menschen bzw. von dem Menschen überhaupt nicht reden kann, weil seine These ja lautet, dass diese Natur eine abhängige Variable der materiellen Umstände und damit grundlegenden Veränderungen unterworfen ist. Die sich aus dieser These ergebende Begründung für Marxens ökonomistischen Ausgangspunkt mag man zwar mit Fug und Recht bezweifeln. Aber die Tatsache, dass er eine derartige Begründung vorzutragen hat, macht deutlich, dass sein Ausgangspunkt nicht willkürlich, also nicht grundlos gewählt ist. * * *

Vor dem Hintergrund dieser vier Klärungen möchte ich jetzt auf die anti-idealistische Grundintention von Marx und Engels zurückkom-

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men, um eine Reihe weiterer Punkte zu beleuchten, die für den Ausgangspunkt des marxistischen Denkens von Belang sind. Diese Intention darf zum Beispiel nicht dahin gehend missverstanden werden, als ob es den beiden Begründern des Historischen Materialismus darum gegangen sei, Hegel und die von ihm angeregte Weltsicht als vollkommen abwegig zu erweisen. Denn auch wenn sie in der inhaltlichen Hinsicht das Verhältnis zwischen dem Sein und dem Bewusstsein vom Kopf auf die Füße stellen, indem sie alle idealistischen Annahmen verwerfen, übernehmen sie in struktureller Hinsicht einen beträchtlichen Teil der Theorie von Hegel.12 Ob diese Übernahme absichtlich oder unabsichtlich, bewusst oder versehentlich geschehen ist, sei dahingestellt, weil diese Frage ohnehin nicht eindeutig zu beantworten wäre. Denn während sich Marx in der zweiten Hälfte der 40er Jahre, in der er die Grundlagen des Historischen Materialismus formuliert, in aller Schärfe von Hegel und seinen Nachfolgern abgrenzt, wird er sich zu einem deutlich späteren Zeitpunkt in seinem Hauptwerk wieder einen „Schüler jenes großen Denkers" nennen. (23, 27) Jedenfalls ruft allein schon das strukturelle Charakteristikum, dass der Historische Materialismus aus genau drei Elementen besteht, Hegels Dialektik fast zwangsläufig in Erinnerung. Marx teilt jedoch noch einen weiteren Gedanken mit Hegel und den Junghegelianern seiner Studienzeit. Dieser Gedanke ist uns mittlerweile sehr fremd geworden, obwohl er die Geistesgeschichte des Abendlandes lange und nachhaltig prägte. Er besagt nicht nur, dass die Weltgeschichte von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende in dem Sinn des Wortes eine Geschichte ist, in dem man sich darunter eine mehr oder weniger geordnete Abfolge von bedeutsamen Geschehnissen vorstellt; er beinhaltet vielmehr auch die Ansicht, dass diese Geschichte eine übersichtliche und in sich stimmige Interpretation erlaubt, die durch ein Studium der historischen Begebenheiten zu erschließen ist. Nichts von dem, was je geschah und noch geschehen wird, ist diesem Gedanken zufolge reiner Zufall und ohne Bedeutung für den großen Zusammenhang, wenn man die richtige Art der Interpretation allen Geschehens erst einmal gefunden hat. Aus einer philosophischen Theorie der Geschichte wird durch diese Überzeugung eine ,Historiosophie'.13 Nun ist es jedoch wichtig, zwei Auslegungen dieser allgemeinen Sichtweise zu unterscheiden, weil dies zu unterschiedlich starken

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Thesen führt. Der stärkeren dieser beiden Auslegungen zufolge, die sicherlich bei Schelling, Fichte, Hegel und dem Großteil der Junghegelianer Zustimmung fand, ist die Weltgeschichte nicht nur einer in sich geschlossenen Interpretation zugänglich, sondern hatte von Anfang an eine mehr oder weniger klar vorgezeichnete Richtung und darüber hinaus auch ein vorbestimmtes Ziel. Das ist Teleologie im eigentlichen Sinn des Wortes, bei dem einem beispielsweise die Religionsphilosophie von Augustinus in den Sinn kommt. Augustinus zufolge steht zu jedem Moment in der Geschichte die gesamte Geschichte gleichsam als fertiges Produkt vor dem Auge Gottes.14 Dieser Lehre gemäß ist also von Anfang an alles und damit auch der Ausgang der geschichtlichen Entwicklung fixiert und entschieden. Und die Geschehnisse brauchen gewissermaßen nur noch ihre Zeit, um sich vor den Augen etwas weniger göttlicher Geschöpfe, wie zum Beispiel uns Menschen, zu ereignen. Die Weltgeschichte kann man sich dieser Konzeption zufolge auch wie eine Filmspule denken, auf der zu jedem Zeitpunkt bereits der gesamte Film - inklusive Abspann — gespeichert ist. Marx und Engels neigen sicherlich ab und an dazu, ein ähnlich teleologisches und damit für heutige Begriffe vollkommen unplausibles Geschichtsbild zu vertreten. So steht etwa in der Heiligen Familie unmissverständlich geschrieben: Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist in seiner eignen Lebenssituation wie in der ganzen Organisation der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig, unwiderruflich vorgezeichnet. (2, 38)

Zwar könnte man in Anbetracht der Rede von einem vorge^eichneten Ziel des Proletariats zur Ehrenrettung darauf verweisen, dass Marx noch recht jung war, als er diese Sätze zu Papier brachte. Darüber hinaus könnte man auch geltend machen, dass im Zusammenhang dieser Äußerung ohnehin eine Reihe von Annahmen zum Ausdruck kommen, die der spätere Marx nicht mehr vertreten, wenn nicht gar ausdrücklich zurückweisen wird. Aber dieser Schachzug wäre insofern fadenscheinig, als auch in den späteren Schriften dieser beiden

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Autoren immer wieder teleologische Aussagen zu finden sind. In dieser Hinsicht sind Marx und Engels einfach nur als Kinder ihrer Zeit zu verstehen — einer Zeit, in der die uns heute so selbstverständliche Uberzeugung von der grundsätzlichen Kontingenz aller Geschichte noch wenig Zulauf hatte. Interessanter ist jedoch, dass sich Marx in vielen Zusammenhängen wesentlich zurückhaltender zeigt, wenn es um die Frage geht, ob er der teleologischen Weltsicht zustimmt oder nicht. Dies ist am klarsten dann der Fall, wenn er die schwächere der beiden angesprochenen Annahmen über die Struktur des Geschichtsverlaufs nahe legt. Dieser Position zufolge ist zwar an den beiden Gedanken einer einheitlichen Interpretation und einer allgemeinen Richtung der geschichtlichen Entwicklung festzuhalten, aber nicht von einem Ziel zu reden, das im strengen Sinn des Wortes festgelegt wäre.15 Deutlich wird dieses Bild etwa dann, wenn Marx auf die Frage, ob eine proletarische Revolution im noch nicht industrialisierten Russland seiner Einschätzung nach möglich ist, nur mit einer konditionalen Prognose aufwartet. In der nur wenige Jahre vor seinem Tod geschriebenen Vorrede zur russischen Ubersetzung des Manifest der kommunistischen Partei aus dem Jahr 1882 ist in diesem Sinn zu lesen: „Wird die russische Revolution das Signal einer proletarischen Revolution im Westen, so daß beide einander ergänzen, so kann das jetzige russische Gemeineigentum am Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen." (19, 296) Es kann eben so kommen, aber auch ganz anders. Und in dieses Bild passt auch die Feststellung am Ende der berühmten Anfangssätze des Manifests, wenn man die dort formulierte Disjunktion dahin gehend deutet, dass dem Lauf der historischen Ereignisse wenigstens zwei Optionen offen stehen: Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen [...] Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen Kampf, [...] der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.

(4, 462*) Einem Klassenkampf stehen dieser Formulierung zufolge wenigstens zwei Ausgänge offen. Marx muss also im strengen Sinn des Wortes,

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mit dem die Annahme einer definitiven Zielvorstellung einhergeht, nicht unbedingt als Teleologe verstanden werden. Und ich werde mich in dieser Studie darum bemühen, sowohl den Historischen Materialismus als auch die Theorie vom Klassenkampf, die im Manifest und in anderen Schriften von Marx in den Vordergrund rückt, so auszulegen, dass der Marxismus von heiklem teleologischen Ballast möglichst frei bleibt. Marx teilt mit seinen Vorgängern und vielen seiner Zeitgenossen jedoch, wie bereits gesagt, die Annahmen, dass die Geschichte eine einheitliche Interpretation erlaubt und eine nachvollziehbare Richtung verfolgt (die, wie gesehen, Weichenstellungen erlaubt). Was die einheitliche Interpretation anbelangt, stoßen wir hier auf das Problem, von dem ich in der Einleitung bereits sagte, dass es zu dem Hauptanliegen dieses Buches fuhrt. Marx scheint nämlich nicht nur eine, sondern zwei Interpretationen der Geschichte zu vertreten. Und dabei ist weder klar, wie diese beiden Auffassungen miteinander zusammenhängen, noch leicht zu entscheiden, ob sie überhaupt miteinander verträglich sind. Diese Doppelung tritt etwa dann zum Vorschein, wenn man die eben zitierten Zeilen aus dem Manifest mit dem Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie vergleicht. Im einen Fall liefert nämlich das Konzept des Klassenkampfs den Schlüssel zur Interpretation der Geschichte, insofern die gesamte bisherige Geschichte der Menschheit als eine Geschichte von Auseinandersetzungen zwischen miteinander rivalisierenden Klassen erachtet wird. Und da solche Klassen aus konkreten Menschen bestehen und sich die Auseinandersetzungen zwischen den Klassen im Tun und Lassen dieser Menschen vollziehen, stimmt diese .handlungstheoretisch' akzentuierte Sicht der Dinge, die uns in dieser Studie noch mehrfach beschäftigen wird, tadellos mit der Versicherung von Marx und Engels überein, dass nicht die Geschichte irgendetwas tut, sondern Menschen die einzig relevanten Akteure der Geschichte sind. In der Heiligen Familie ist in diesem Sinn zu lesen: Die Geschichte tut nichts, [...] sie „kämpft keine Kampfe"! Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche, lebendige Mensch, der das alles tut, besitzt und kämpft; es ist nicht etwa die „Geschichte", die den Menschen zum Mittel braucht, um ihre - als ob sie eine aparte Person wäre — Zwecke durchzu-

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arbeiten, sondern sie ist nichts als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen. (2, 98)

Wer die Geschichte begreifen will, muss diesen Aussagen zufolge die Menschen und ihr Handeln in den Blick nehmen. Ganz anders scheint sich die Sachlage jedoch im Fall des Historischen Materialismus darzustellen. Denn hier liefert nicht das Tun und Lassen miteinander im Konflikt stehender Personen, sondern ein ganz anderer Mechanismus den Schlüssel zur Interpretation der Weltgeschichte. Dieser tritt zutage, wenn es im Vorwort heißt: Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen [...]. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Uberbau langsamer oder rascher um. (13, 9)

Bemerkenswerterweise finden in dieser gereiften Darstellung des Historischen Materialismus die Begriffe der Klasse und des Klassenkampfes nicht einmal Erwähnung. Statt dessen sticht abermals eine Reminiszenz an Hegels Dialektik ins Auge, insofern Marx von einer Entwicklung spricht (die Entwicklung der Produktivkräfte), die zu einem Widerspruch (zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen) führt, wobei die Auflösung dieses Widerspruchs ein neues Stadium eröffnet, in dem eine weitere Entwicklung nach demselben Muster, aber auf einem höheren Niveau, wieder zu einem Widerspruch fuhren wird. Nach diesem Schema nimmt die Geschichte dem Historischen Materialismus gemäß ihren Lauf; und es bleibt völlig unklar, welche Funktion den Klassen, dem Klassenkampf, den konkreten Menschen und ihrem Handeln im Rahmen dieser Theorie zukommen könnte. Die Frage, wie diese Spannung zwischen der Theorie vom Klassenkampf und dem Historischen Materialismus zu bewerten ist, wird uns zwar erst in einigen der späteren Kapiteln beschäftigen. Aber ich hoffe, es ist schon bis hierher deutlich geworden, dass diese Span-

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nung in der Tat eine knifflige Herausforderung für jeden Interpreten der Schriften von Marx darstellt. Zum Verständnis der Gliederung meiner weiteren Überlegungen ist es wichtig zu sehen, welche Funktion den so genannten Produktivkräften im Rahmen des Historischen Materialismus zukommt. Die Produktivkräfte sind es offenbar, die durch ihre ständige Weiterentwicklung in Widerspruch zu den jeweils gegebenen Produktionsverhältnissen treten, wobei die Auflösung dieses Widerspruchs den geschichtlichen und gesellschaftlichen Prozess vorantreibt. Aus Hegels Geschichte der Selbstentfaltung der Vernunft wird somit eine Technikgeschichte bzw. aus einer Ideen- eine Industriegeschichte. Mit dieser Diagnose übereinstimmend schreibt Marx in einem wichtigen und viel zitierten Brief an seinen russischen Bewunderer Pawel Wassiljewitsch Annenkow aus dem Jahr 1846, also kurz nachdem er die Grundlagen des Historischen Materialismus in der Deutschen Ideologie entwickelt hat: „Dank der einfachen Tatsache, daß jede neue Generation die von der alten Generation erworbenen Produktivkräfte vorfindet, die ihr als Rohmaterial für neue Produktion dienen, entsteht ein Zusammenhang in der Geschichte der Menschen, entsteht die Geschichte der Menschheit, die um so mehr Geschichte der Menschheit ist, je mehr die Produktivkräfte der Menschen und infolgedessen ihre gesellschaftlichen Beziehungen wachsen." (27, 452f.) Diese grundlegende, weil den Zusammenhang in der Geschichte zuallererst stiftende Rolle, die die Produktivkräfte im Rahmen der Weltsicht des Historischen Materialismus spielen, wird dann noch einmal unterstrichen, wenn Marx im direkten Anschluss an die zuletzt zitierte Passage aus dem Vorwort das Konzept der Produktivkräfte in einen unmittelbaren Zusammenhang mit seiner Grundintention stellt. Denn dort schreibt er, dass man eine Umwälzungsepoche, also eine Zeit des grundlegenden gesellschaftlichen und historischen Wandels nicht unter Bezug auf das Bewusstsein der involvierten Menschen verstehen kann. Vielmehr ist solch ein Wandel nur unter Bezug auf das gesellschaftliche Sein dieser Menschen, genauer mit Blick auf den Konflikt zwischen den fortgeschrittenen Produktivkräften und den veralteten Produktionsverhältnissen zu erklären, unter denen die Gesellschaftsmitglieder tagein tagaus leben:

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In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den [...] ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären. (13, 9f.)

Die Entwicklung der Produktivkräfte ist also allem Anschein nach der Motor der Weltgeschichte, insofern diese Entwicklung zum antreibenden Konflikt zwischen den Kräften und den Produktionsverhältnissen führt. Dieser Vorstellung werden wir in den folgenden Kapiteln dieser Arbeit nachgehen, bis sich dann im Zuge der funktionalistischen Auslegung dieser Theorie zeigen wird, an welchem Punkt das so aufgefasste Projekt des Historischen Materialismus auf Grund läuft. Genau an diesem Punkt werden wir schließlich dazu übergehen, die Theorie vom Klassenkampf heranzuziehen, tarn die an den Tag getretenen Mängel des Historischen Materialismus zu beheben. Denn erst diese Theorie wird unser Augenmerk auf das Tun und Lassen von Menschen als dem eigentlichen Motor des historischen Prozesses lenken. Und beide Theorien zusammen werden uns dann als Hintergrund dienen, wenn es am Ende dieser Studie gilt, die politiktheoretischen Implikationen des Marxismus zu klären.

2. Produktivkräfte: Das Fundament der Theorie Obwohl der Historische Materialismus den Kernbestand des Denkens von Marx, also des Marxismus bildet, machen es die Texte von Marx seiner Leserschaft nicht leicht, sich ein klares Bild von den drei tragenden Pfeilern zu verschaffen, die ihrerseits den Kern des Historischen Materialismus darstellen. In der Tat wird sich nicht nur in diesem Kapitel, sondern auch in den nachfolgenden Untersuchungen häufig zeigen, dass sich in Marxens Schriften eine Reihe von Zweiund Mehrdeutigkeiten aufweisen lassen. Folglich gibt es für einen Interpreten dieser Schriften einiges zurechtzurücken, weswegen eine kritische Lektüre der Werke von Marx nicht immer eine reine Auslegung sein kann. In vielen Zusammenhängen muss diese Lektüre vielmehr mit dem Bemühen einhergehen, mehr Klarheit zu schaffen, als das Original von sich aus hergibt. In dieser Hinsicht ist das Ergebnis einer Darstellung der Theorie von Marx nicht nur eine Widergabe dessen, was Marx gesagt hat, sondern immer auch eine Theorie darüber, was Marx nach dem Dafürhalten des jeweiligen Interpreten besser hätte sagen sollen. Freilich ist dieser Punkt nicht für das Werk von Marx spezifisch. Vielmehr gelten diese Überlegungen für nahezu jeden Versuch, die Texte eines Autors in einen in sich stimmigen Zusammenhang zu bringen. Mit Blick auf den in diesem Kapitel zu diskutierenden Begriff der Produktivkräfte wird zu sehen sein, dass ein solches Bemühen um mehr Klarheit weniger das Problem betrifft, welche Phänomene unter dieses Konzept im Einzelnen fallen. Vielmehr führt dieses Bemühen schnell zu der Frage, welche Arten von Phänomenen überhaupt in Betracht zu ziehen sind. Wenn man so will, haben wir in diesem Kapitel also einige ontologische Schwierigkeiten zu beheben. Da Marx keine Definition des Konzepts der Produktivkräfte formuliert hat, gehen seine Interpreten in aller Regel dazu über, anhand einer Reihe von Passagen, in denen er die Rede von den Produktiv-

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Produktivkräfte:

Das Fundament

der

Theorie

kräften zwar nicht erläutert, aber gleichwohl verwendet, eine Liste aller Produktivkräfte zu erstellen, um durch eine Untersuchung dieser Liste zu einer Klärung des Begriffs der Produktivkraft zu gelangen. Ich möchte im Folgenden vor dem Hintergrund einiger Vorklärungen zuerst zeigen, dass dieses eklektizistische Unterfangen, wie man es nennen könnte, zwar durchaus einigen Aufschluss verschafft, dann aber nach und nach zu einem immer verworreneren Bild von den Produktivkräften führt. In Anbetracht dieses Ergebnisses werde ich dann in der zweiten Hälfte des Kapitels einen anderen Zugang wählen. Dieses alternative Unterfangen erlaubt es, auf der Grundlage eines einheitlichen Kriteriums einen relativ geschlossenen Begriff der Produktivkräfte zu formulieren. Darüber hinaus macht dieses Kriterium sogar verständlich, weswegen Marxens Rede von den Produktivkräften ein derart schillerndes Gesamtbild ergibt.

1. Kraft, Vermögen, Eigenschaft Was hat man sich also unter den Produktivkräften vorzustellen, deren Entwicklung insofern den theoretischen Unterbau des Historischen Materialismus bildet, als die Produktionsverhältnisse unmittelbar und der Überbau vermittelt auf diese Entwicklung bezogen sind? Dem reinen Wortlaut nach liegt es nahe, unter Produktivkräften vornehmlich physische bzw. physikalische Kräfte zu verstehen, die den Menschen einer Gesellschaft zur Verfügung stehen, um diese oder jene Produkte auf die eine oder andere Weise herzustellen. Die Kraft, die eine Dampfmaschine beispielsweise zur Verfügung stellt, um eine weitere Maschine in Gang zu setzten, die ihrerseits aus Wolle Garn produziert, ist in diesem Sinn des Wortes eine Produktivkraft. Die Kraft, die ein Motor freisetzt, um ein Fahrzeug in Bewegung zu setzen, ist eine Produktivkraft. Oder auch die Muskelkraft, die ein Mensch anwendet, um irgendwelche Dinge vom einen Ort zum anderen zu tragen, käme als eine Produktivkraft in Betracht. Dieser Begriff der Produktivkraft, wenn auch der wörtlichen Bedeutung des Ausdrucks am nächsten liegend, ist für Marxens Unterfangen jedoch viel zu eng gefasst. Denn Marx will in jedem Fall auch solche Dinge unter diesen Begriff fassen, die über keine Kräfte im strengen Sinn des Wortes, d. h. keine physischen Kräfte verfügen.

Kraft,

Vermögen,

Eigenschaft

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Der Computer etwa, an dem ich diesen Text schreibe, stellt im Sinne des Historischen Materialismus mit Sicherheit eine Produktivkraft zur Verfügung. Aber ich mache mir den Computer nicht wie eine Dampfmaschine zunutze, indem ich physische Kräfte, die von ihm ausgehen, in irgendeiner Art und Weise kanalisiere, um irgendwelche Dinge in Bewegung zu setzen. Der Computer stellt gleichwohl eine Produktivkraft zur Verfügung, insofern er mir ermöglicht, Dinge in einer Art und Weise zu realisieren, die ich ohne dieses Gerät entweder gar nicht oder zumindest nicht in dieser Art und Weise realisieren könnte. Und genau diese komparative Herangehensweise wird uns später den Schlüssel zu einer angemessenen Analyse liefern, die sich auf den Gedanken der Entwicklung der Produktivkräfte stützt. Ein ähnlich großzügiges, nicht allzu sehr auf physikalische Kräfte konzentriertes Verständnis ist jedenfalls auch mit Blick auf viele andere Dinge angemessen, die als Werkzeuge, Gerätschaften oder Maschinen (von Marx zusammenfassend auch Produktionsmittel bzw. Produktionsinstrumente genannt) in irgendwelchen Produktionsprozessen Verwendung finden.1 Eine Lupe etwa, die es einer Uhrmacherin erlaubt, diffizilere Uhrwerke herzustellen, als es ohne den Einsatz dieses Instruments menschenmöglich wäre, stellt ebenfalls eine spezifische Produktivkraft zur Verfügung. Und wie im Fall des Computers ist auch hier die Frage uninteressant, ob irgendeine physische Kraft, die von diesem Werkzeug ausgeht, von Belang ist. Mit Blick auf die menschliche Arbeitskraft, hinsichtlich derer sich alle Interpreten einig sind, dass sie in den Augen von Marx neben den eben angesprochenen Produktionsinstrumenten eine paradigmatische Produktivkraft darstellt, lässt sich derselbe Sachverhalt feststellen, der in den beiden zurückliegenden Absätzen zur Sprache kam. Die Erfindung etwa der Technik, durch Verwendung aller zehn Finger mit einer Schreibmaschine schnell und sicher zu schreiben, war im Sinne von Marx sicherlich eine Weiterentwicklung der Produktivkräfte. Und auch in diesem Zusammenhang geht es offensichtlich nicht um irgendwelche Kräfte im eigentlichen Sinn des Wortes. Denn das bisschen Muskelkraft, die man benötigt, um eine Schreibmaschine oder eine Computertastatur zu bedienen, stand der Menschheit ja schon lange vor der Erfindung dieser Schreibtechnik zur Verfügung. Diese Muskelkraft kann also nicht die Produktivkraft sein, um die es in diesem Fall geht.2

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Produktivkräfte:

Das Fundament der Theorie

Produktivkräfte sind dem Bild zufolge, das sich bis hierher ergibt, offensichtlich weniger Kräfte als Fähigkeiten bzw. Vermögen von Menschen, Maschinen, Instrumenten und anderen Gerätschaften, die für die Produktion relevant sind. Und damit haben wir bereits ein erstes Konzept der Produktivkraft vor Augen, das ich attributiv nennen möchte, um kenntlich zu machen, dass wir es mit Eigenschaften bzw. Attributen zu tun haben, die produktiv tätigen Menschen und bestimmten Dingen, mit denen diese Menschen hantieren, zugeschrieben werden können. In seinem Buch Karl Marx's Theory of History, das ohne Zweifel zu den Pionierwerken des analytischen Marxismus zählt, von dem in der Einleitung dieser Arbeit die Rede war, weist Gerald Cohen darauf hin, dass Marx dazu neigt, solche Gegenstände, denen eine Produktivkraft im eben erläuterten attributiven Sinn zukommt, selbst als Produktivkräfte zu bezeichnen.3 Vor diesem Hintergrund sind also nicht die Vermögen, die gewissen Werkzeugen, Maschinen oder Gerätschaften zukommen, als Produktivkräfte zu begreifen. Vielmehr sind es die Werkzeuge, Maschinen und Gerätschaften selbst, die unter den Begriff der Produktivkraft fallen. Und damit sind wir schon bei einem weiteren Konzept der Produktivkraft angelangt, das ich das substantielle nennen möchte. 4 Auch Cohen widmet der Frage, was Marx unter Produktivkräften versteht, ein volles Kapitel. Nicht zuletzt aus diesem Grund möchte ich ihn in den beiden nachfolgenden Abschnitten als einen paradigmatischen Vertreter des eklektizistischen Verfahrens diskutieren. Dabei wird sich zeigen, dass dieses Verfahren trotz aller Einsichten, die es unbestreitbar verschafft, zu einigen Ungereimtheiten führt, die unter anderem in Anbetracht der soeben erläuterten Unterscheidung zwischen dem attributiven und dem substantiellen Begriff der Produktivkräfte an den Tag treten. Und genau diese Ungereimtheiten werden uns schließlich den Anlass dafür liefern, einen anderen Zugang zur Klärung dieses Begriffs zu wählen.

Die eklekti^istiscbe

Sicht

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2. Die eklekti^istische Sicht Cohen zufolge weist alles, was unter den Begriff der Produktivkräfte fällt, die Gemeinsamkeit auf, in einem weiten Sinn des Wortes von produzierenden Menschen verwendet zu werden. Und auf der Grundlage dieser allgemeinen Feststellung gelangt er zu der folgenden Dreiteilung:

{

Produktionsmittel

Produktivkräfte

{

Α Produktionsinstrumente Β Rohmaterialien

C Arbeitskraft

Λ, d. h. Produktionsinstrumente, seien hierbei wie bereits erläutert all diejenigen Dinge, mit denen Menschen arbeiten, also alle Arten von Werkzeugen und Maschinen bzw. Gerätschaften. B, d. h. die Rohstoffe, seien diejenigen Dinge bzw. Materialien, auf deren Grundlage die Mitglieder einer Gesellschaft arbeiten. Und da damit alles gemeint ist, was in einen konkreten Produktionsprozess eingeht, um dort verwertet oder weiterverarbeitet zu werden, ist deutlich, dass es sich um einen sehr umfassenden Begriff handelt. Zu dieser Kategorie gehören nämlich außer den eigentlichen Rohstoffen auch die Menge aller Zwischenprodukte, die aus vorangegangenen Produktionsprozessen herrühren.5 C schließlich, also die Arbeitskraft, sei dasjenige, was die Menschen dazu befähigt, mit Λ auf der Grundlage von Β zu arbeiten. Gemeint ist damit die Menge aller Fähigkeiten, die den Menschen im Produktionsprozess dienlich sind.6 Trotz dieser scheinbar so analytischen Klarheit von Cohens Standpunkt lassen sich nun jedoch einige Fragen aufwerfen, die den angekündigten Makel der eklektizistischen Herangehensweise zu erkennen geben. Was ζ. B. den Punkt C anbelangt, müsste man in Anbetracht der Tatsache, dass sich Cohen hinsichtlich der Kategorien Λ und Β für den substantiellen Begriff der Produktivkräfte entscheidet (da er Produktionsmittel sowie Rohstoffe und nicht etwa Eigenschaften der Produktionsmittel und Rohstoffe als Produktivkräfte

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Produktivkräfte:

Das Fundament

der

Theorie

begreift) aus Gründen der Kohärenz davon ausgehen, dass nicht die Arbeitskraft eines Menschen, sondern der arbeitende Mensch selbst eine Produktivkraft darstellt. Damit wäre es möglich, Marx eine uns heute vertraute Verwendung des Ausdrucks ^Arbeitskraft' zuzuschreiben, in der man etwa von einem Mangel an oder von einem Überschuss von Arbeitskräften spricht und damit einen Mangel bzw. einen Überschuss an Menschen meint, die willens und fähig sind, bestimmten Tätigkeiten nachzugehen. Cohen weist diese Auffassung jedoch aus guten Gründen zurück. Zwar gibt es vereinzelte Passagen in den Schriften von Marx und Engels, in denen tatsächlich Individuen oder sogar ganze Klassen von Individuen als Arbeits- oder Produktivkräfte angesprochen werden.7 Doch Cohen liegt meines Erachtens richtig, wenn er diese Redeweisen als metaphorisch erachtet und darauf beharrt, dass Marx zwischen den Individuen und ihrer Arbeitskraft streng unterscheidet. Marx muss diese Unterscheidung ohnehin treffen, wenn er an seiner berühmten Mehrwertanalyse im Allgemeinen und der Analyse des kapitalistischen Wirtschaftssystems im Besonderen festhalten möchte. Denn diesen Analysen zufolge ist es eine auszeichnende Eigenschaft des kapitalistischen Wirtschaftssystems, dass die Lohnarbeiter, die vom Besitz der Produktionsmittel ausgeschlossen sind, nichts anderes als ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben. 8 Damit möchte Marx jedoch nicht sagen, dass der individuelle Arbeiter sich im wörtlichen Sinn selbst verkauft. Sein Punkt ist vielmehr, dass die Arbeiter bestimmte Fähigkeiten, Tätigkeiten bzw. Fertigkeiten verkaufen, indem sie diese für eine vereinbarte Zeitspanne dem Kapitalisten zur Verfügung stellen, der ihnen dafür im Gegenzug einen Lohn auszahlt. Des Weiteren geht die Unterscheidung zwischen der arbeitenden Person und ihrer Arbeitskraft auch aus der folgenden Bestimmung der Arbeitskraft klar und deutlich hervor, die sich im ersten Band des Kapital findet: „Unter Arbeitskraft oder Arbeitsvermögen verstehen wir den Inbegriff der physischen und geistigen Fähigkeiten, die in der Leiblichkeit, der lebendigen Persönlichkeit eines Menschen existieren und die er in Bewegung setzt, sooft er Gebrauchswerte irgendeiner Art produziert." (23, 181) Marx fasst hier eindeutig nicht Menschen, sondern bestimmte Fähigkeiten bzw. Vermögen von Menschen unter das Konzept der Arbeits- und damit unter den Begriff der Produktivkraft. Und vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass Cohens Analyse

Die eklekti^istische

Sicht

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eine gewisse Spannung in Marxens Verwendung des Ausdrucks ,Produktivkraft' reproduziert, insofern sich diese Analyse bezüglich der Kategorien Λ und Β auf den substantiellen Begriff, aber im Fall von C auf den attributiven Begriff der Produktivkraft stützt. Auf der Grundlage der geschilderten Klärungen seines Standpunkts mit Blick auf die Arbeitskraft geht Cohen dazu über, die Kategorien Λ und Β im Einzelnen zu erläutern. Dies führt zu einer weiteren .Aufweichung' bzw. zu einer ,Verwässerung' seiner Analyse, weil er in diesem Zusammenhang hauptsächlich damit beschäftigt ist, den Umfang der Liste der Produktionsmittel beträchtlich zu erweitern. Nicht nur die bisher angesprochenen Werkzeuge, Maschinen bzw. Gerätschaften sind laut Cohen Produktionsmittel. Auch Gebäude, etwa Fabrikgebäude oder Lagerhallen, ja sogar der für diese Gebäude benötigte Grund bzw. Boden ist dieser Liste zufolge zu den Produktivkräften zu zählen. Dies versucht Cohen durch seine Charakterisierung der Kategorie Α zu begründen, der zufolge sie all diejenigen Dinge umfasst, die von den Menschen im Akt ihres Produzierens verwendet werden. Meines Erachtens ist jedoch nicht ohne weitere Erläuterung nachzuvollziehen, was es genau heißen könnte, dass derartige Dinge wie Fabrikgebäude, Lagerhallen oder gar der Grund und Boden, auf dem diese Einrichtungen stehen, von den Menschen im Akt des Produzierens verwendet werden. Die deutlichste Preisgabe der ursprünglichen Klarheit seiner Begriffsanalyse stellt nach meinem Dafürhalten indes Cohens Antwort auf die Frage dar, ob auch die Wissenschaft zu den Produktionsmitteln und damit zu den Produktivkräften zu zählen ist. Cohens Diskussion dieser Frage besteht vornehmlich in einer Verteidigung seiner Überzeugung, dass zumindest derjenige Teil des wissenschaftlichen Wissens, der in der Produktion zur Anwendung kommt bzw. sich in der Produktion unmittelbar niederschlägt (man denke hier vor allem an die Ingenieurswissenschaften), zu den Produktivkräften gehört, gegen zwei Einwände.9 Der erste Einwand gegen die Ansicht, dass auch bestimmte Teile der Wissenschaft Produktivkräfte darstellen, besagt, dass die Wissenschaft ihrer ganzen Natur nach zum Überbau einer Gesellschaft gehört und daher nicht die fundamentale Bedeutung haben könne, die den Produktivkräften im Rahmen des Historischen Materialismus zukommt. Gegen diesen Einwand macht Cohen geltend, dass der

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Produktivkräfte:

Das Fundament

der

Theorie

Überbau einer Gesellschaft seiner Auffassung zufolge aus nichtökonomischen Institutionen besteht. Zu diesen Institutionen mögen zwar Universitäten und andere Forschungseinrichtungen gehören, an denen Wissen produziert und vermittelt wird, nicht aber das wissenschaftliche Wissen selbst, das hier zur Diskussion steht. Folglich sei es möglich, dieses Wissen (bzw. den für die Produktion relevanten Teil dieses Wissens) unter den Begriff der Produktivkraft zu subsumieren. Und damit ist der Einwand in einer Art und Weise widerlegt, die wir erst im übernächsten Kapitel dieser Arbeit bewerten (und dort auch zurückweisen) können, wenn wir ein geklärtes Bild davon haben, was es mit dem Überbau einer Gesellschaft auf sich hat. Doch schon gegen Ende dieses Kapitels wird in Anbetracht der von mir vertretenen Auslegung des Konzepts der Produktivkraft deutlich werden, weshalb es überhaupt zu dem heiklen Status des von Cohen angesprochenen Wissens kommt. Der zweite Einwand gegen Cohens These, der uns schließlich zum Thema des nachfolgenden Abschnitts führen wird, besagt, dass die Wissenschaft (bzw. das für die Produktion relevante wissenschaftliche Wissen) etwas Mentales bzw. Geistiges sei, was mit Marxens häufig bevorzugter Rede von den Produktivkräften als den materiellen Produktivkräften nicht ohne weiteres zusammenpasst. Folglich könne dieses wissenschaftliche Wissen Cohens Standpunkt entgegen nicht zu den Produktivkräften gezählt werden. Um diesem Einwand zu entgehen, stützt sich Cohen auf eine sehr kurze Passage aus einem zu Lebzeiten von Marx unveröffentlicht gebliebenen Manuskript aus den späten 50er Jahren, das unter dem Titel Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie bekannt geworden ist. Eine gewisse Autorität lässt sich dieser Passage jedoch trotz ihrer Kürze zumindest insofern zuschreiben, als jenes Manuskript heute als eine entscheidende Vorstudie zum Kapital\ also zum Hauptwerk von Marx gilt. Marx spricht an dieser Stelle jedenfalls von der „Entwicklung aller Produktivkräfte, materieller und geistiger [...]."10 Und mit Blick auf diese Äußerung weist Cohen darauf hin, dass es unklar sei, ob Marx die geistigen Produktivkräfte als eine selbständige Menge neben den materiellen Kräften begreift oder ob die geistigen Produktivkräfte nicht vielmehr eine Teilmenge der materiellen Kräfte bilden. In Anbetracht dieser Unterscheidung versucht Cohen zu zeigen, dass seine Position dem vorgebrachten Einwand in beiden Inter-

Die eklektis^istische

Sicht

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pretationen entgeht. Denn wäre die erste Lesart angebracht, der zufolge die geistigen und die materiellen Produktivkräfte voneinander unabhängige Mengen bilden, dann bräche der Einwand gegen seinen Vorschlag zusammen, auch für die Produktion relevantes Wissen unter den Begriff der Produktivkraft zu fassen. Denn dieser Einwand beruhte ja auf der jetzt als falsch zu beurteilenden Annahme, dass es ausschließlich materielle Produktivkräfte gibt. Angesichts dessen könnte man also durchaus behaupten, dass die Wissenschaft zwar nicht zu den materiellen, aber eben doch zu den nicht-materiellen, sprich geistigen Produktivkräften zählt. Interessanter ist indes Cohens Reaktion auf die zweite Lesart der kurzen Äußerung von Marx. Denn diese Reaktion berührt auf der einen Seite einen Punkt, von dem ich bereits einmal sagte, dass er der Klärung bedarf. Gemeint ist das Verhältnis zwischen den materiellen und den gesellschaftlichen Produktivkräften. Und auf der anderen Seite gibt uns Cohens Diskussion die Gelegenheit, noch einmal aus einer anderen Perspektive auf die Frage zurückzukommen, was es mit dem Materialismus von Marx auf sich hat. Der zweiten Lesart zufolge bilden die geistigen Produktivkräfte eine Teilmenge der materiellen Produktivkräfte. Und dies kann natürlich dann nicht der Fall sein, wenn das Antonym von ,materiell' in diesem Zusammenhang .geistig' bzw. ,mental' lautet, da dies direkt zu einem Widerspruch führen würde. Cohen weist angesichts dessen darauf hin, dass Marx nicht selten das Prädikat gesellschaftlich dann verwendet, wenn es ihm um einen Gegensatz zum Materiellen geht. Und in der Tat spricht Marx weit häufiger von den gesellschaftlichen als von irgendwelchen geistigen Produktivkräften. Wie diese Unterscheidung zwischen materiellen und gesellschaftlichen Produktivkräften im Einzelnen zu verstehen ist, wird uns im nachfolgenden Abschnitt noch gesondert beschäftigen. Für den Moment reicht es hin, die Darstellung von Cohens Verteidigung seiner These durch den Hinweis abzuschließen, dass hier offenbar ein Begriff des Materiellen im Spiel ist, der durch die eben hervorgehobene Opposition zum Begriff des Gesellschaftlichen keineswegs ausschließt, auch geistige Produktivkräfte zur Kategorie der materiellen Produktivkräfte zu zählen. Und damit steht es Cohen frei, das für die Produktion relevante Wissen zu den Produktivkräften zu zählen.

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Produktivkräfte:

Das Fundament

der

Theorie

Unter dem Strich sollte in diesem Abschnitt schon erkennbar geworden sein, dass Cohens Herangehensweise zwar einigen systematischen Aufschluss verschafft, aber zumindest insofern ein unklares Bild von den Produktivkräften vermittelt, als sie nicht nur zu einer nicht weiter motivierten Kombination des attributiven und des substantiellen Konzepts führt, sondern auch die Frage offen lässt, wie das eben thematisierte Wissen in eine einheitliche Analyse eingefügt werden könnte. Denn zumindest auf den ersten Blick scheint dieses Wissen weder unter den attributiven noch unter den substantiellen Begriff der Produktivkraft zu fallen. Im nachfolgenden Abschnitt möchte ich eine weitere Unklarheit in der Position von Cohen vor Augen führen, um dann durch die Einführung eines zusätzlichen Begriffs für eine einheitliche Auffassung vom ersten Kernelement des Historischen Materialismus zu werben.

3. Gesellschaftliche und mateHelle Produktivkräfte Merkwürdigerweise geht Cohen auf die Tatsache, dass Marx nicht nur von materiellen und geistigen, sondern auch von gesellschaftlichen Produktivkräften spricht, nicht ausführlich ein. Er widmet jedoch dem allgemeineren Thema materielle und gesellschaftliche Eigenschaften der Gesellschaft ein eigenständiges Kapitel, in dem er einige interessante Beobachtungen formuliert, die wir uns zunutze machen können. Aber am Ende wird auch in diesem Zusammenhang nicht klar sein, inwieweit diese Beobachtungen ein in sich stimmiges Bild ergeben. Um den entscheidenden Punkt vorwegzunehmen: Cohen scheint zwei verschiedene Auffassungen vom Verhältnis zwischen dem Materiellen und dem Gesellschaftlichen zu vertreten. Der ersten Auffassung zufolge sind alle Produktivkräfte sowohl materielle als auch gesellschaftliche Produktivkräfte. Die zweite Auffassung droht hingegen die Existenz gesellschaftlicher Produktivkräfte aus rein begrifflichen Gründen unmöglich zu machen. Cohen weist zum Auftakt seiner Betrachtungen auf Marxens Neigung hin, einerseits den Ausdruck ,ökonomisch' als Synonym für das Prädikat gesellschaftlich' und andererseits die Vokabel,natürlich' als Synonym für das Prädikat .materiell' zu gebrauchen. Vor dem Hintergrund dieser beiden Gleichsetzungen entsteht im ersten Teil

Gesellschaftliche

und materielle

Produktivkräfte

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des besagten Kapitels der Eindruck, der Gegensatz zwischen dem Materiellen — Natürlichen und dem Gesellschaftlichen — Ökonomischen laufe auf zwei verschiedene Beschreibungsweisen hinaus. Um diesen Punkt in einer Begrifflichkeit zu formulieren, die Cohen zwar nicht verwendet, jedoch beispielsweise aus der analytischen Handlungstheorie vertraut ist: Ein und dieselbe Produktivkraft kann dieser Sichtweise zufolge sowohl unter einer materiellen als auch unter einer gesellschaftlichen Beschreibung zur Sprache kommen. Für diese Lesart spricht, dass Cohen ausdrücklich sagt, die Produktivkräfte hätten sowohl materielle als auch gesellschaftliche Eigenschaften, um darauf aufmerksam zu machen, dass die gesellschaftlichen Eigenschaften nicht aus den materiellen Eigenschaften abgeleitet werden können.11 Das Bild, das ihm in diesem Kontext vorschwebt, macht er durch ein einfaches Beispiel deutlich. Und obzwar es in diesem Beispiel nicht um irgendwelche Produktivkräfte, sondern um einen Kooperationsprozess geht, ist diese Analogie nützlich. Wenn zwei Menschen gemeinsam einen Tisch tragen, so das Beispiel, dann ist dies sowohl ein natürlicher, sprich materieller, als auch ein gesellschaftlicher Prozess. Das Materielle an diesem Prozess betrifft Cohen zufolge Fragen der Art, wer dieser beiden Personen wo am Tisch anpackt und physische Kraft wie verwendet, um den Tisch gemeinsam von einem Ort zu einem anderen zu tragen. Die gesellschaftlichen Aspekte dieses Prozesses, die Cohen offenbar vornehmlich in den jeweiligen Autoritäts- bzw. Herrschaftsbeziehungen verankert sieht, können aus Beschreibungen, die die zuerst genannten Fragen beantworten, nicht hergeleitet werden. Einfacher gesagt, geht aus einer Beschreibung der materiellen Verhältnisse nicht ohne zusätzliche Informationen hervor, ob etwa die eine Person der anderen Person untergeordnet ist oder ob es sich um zwei gleichberechtigte Partner handelt - welches Herrschaftsverhältnis also zwischen den beiden Trägern des Tisches besteht. Das Bild, das sich aus dieser Überlegung mit Blick auf die Produktivkräfte ableiten lässt, entspricht der ersten der beiden Auffassungen, von denen ich zu Beginn dieses Abschnitts sprach. Dieser Auffassung zufolge, der ich aus ganz anderen Gründen gegen Ende dieses Kapitels eingeschränkt zustimmen werde, ist ein und dieselbe Produktivkraft immer sowohl materieller als zugleich auch gesellschaftlicher Natur. Denn jetzt hat es den Eindruck, als ob eine Ma-

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Produktivkräfte:

Das Fundament

der

Theorie

schine beispielsweise insofern eine materielle Produktivkraft ist, als sie gewisse natürliche bzw. materielle Eigenschaften hat (so und so groß zu sein; dieses oder jenes Gewicht zu haben usw.), und zugleich insofern eine gesellschaftliche Produktivkraft darstellt, als sie sich beispielsweise im Privatbesitz einer Person befindet, die folglich das alleinige Verfügungsrecht über diese Maschine innehat und damit andere Personen von der Nutzung dieser Maschine abhalten darf. Ein ganz anderes Bild scheint sich jedoch zu ergeben, wenn Cohen im weiteren Verlauf seiner Betrachtungen mehr und mehr dazu übergeht, den Gegensatz von Form und Inhalt in den Vordergrund zu rücken, um Marxens Begriffe des Materiellen und des Gesellschaftlichen zu erläutern. Der sich hierbei ergebenden Sichtweise zufolge bilden die Menschen und die Produktivkräfte einer Gesellschaft gemeinsam den Inhalt und in diesem Sinn des Wortes des Material dieser Gesellschaft. Und dieses Material erhält Cohen zufolge durch die jeweiligen Produktionsverhältnisse eine spezifische Form. So gesehen, erscheinen Produktivkräfte immer und ausschließlich materielle Produktivkräfte zu sein, da sie kraft Definition zum Material der Gesellschaft gehören. Diese Überlegungen zusammenfassend schreibt Cohen: Wir vertreten die These, dass die vertraute Unterscheidung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen für Marx eine aus einer Menge von Kontrastierungen zwischen Natur und Gesellschaft ist. Viele Interpreten haben übersehen, wie oft er ,materiell' als Antonym für .gesellschaftlich' und für .formal' verwendet, und wie .natürlich' zusammen mit .materiell' .gesellschaftlich' entgegengesetzt wird, und wie das, was als materiell beschrieben wird, auch als der .Inhalt' irgendeiner Form zählt.

[...] Der springende Punkt, auf den diese Gegensätze und Gleichsetzungen hinauslaufen, ist, dass die Materie oder der Inhalt der Gesellschaft Natur ist, deren Form die sociale Form ist.n Dies ist sicherlich eine interessante Sichtweise, die ebenfalls einiges Licht auf den mutmaßlichen Materialismus von Marx wirft. Denn auch an diesem Punkt wird deutlich, wie irreführend die Vokabel .Materialismus' für die hier umrissene Auffassung vom Verhältnis zwischen der Natur und deren Form (bzw. Formung) ist, durch die diese Natur zur Gesellschaft wird. Und auch wenn es in Cohens

Produktivkraft

und Produktivität:

Eine andere

Sicht

~bl

Lesart nicht darum geht, durch die Rede von einer materialistischen Auffassung der Gesellschaft einen polemischen Kontrast zu irgendwelchen idealistischen Positionen zu markieren, so wird doch immerhin deutlich, dass Marxens Materialismus auch Cohen zufolge mit physikalistischen oder naturalistischen Theorien, wie wir sie in der gegenwärtigen Philosophie kennen, nicht viel gemein hat. Dies sind jedenfalls die beiden Auffassungen vom Verhältnis zwischen den Begriffen der materiellen und der gesellschaftlichen Produktivkräfte, die uns Cohen anbietet. Und ich räume ein, dass ich nicht sicher bin, ob die zuletzt erläuterte Charakterisierung des Verhältnisses zwischen dem Materiellen bzw. Natürlichen einerseits und dem Gesellschaftlichen andererseits vielleicht nicht doch mit der zuerst erläuterten Konzeption verträglich ist, die zwischen zwei Beschreibungsweisen unterscheidet. Ist es nicht möglich, die Rede von den materiellen Produktivkräften als eine Beschreibung dieser Kräfte hinsichtlich ihrer Materialität und dem gegenüber die Rede von den gesellschaftlichen Produktivkräften als eine Beschreibung derselben Kräfte hinsichtlich ihrer Form aufzufassen, die sie gemeinsam mit den Mitgliedern der Gesellschaft durch die jeweiligen Produktionsverhältnisse erhalten? Irgendwie hat man jedoch auch an diesem Punkt wieder den Eindruck, dass das anfangs noch so klare Bild davon, was Marx Cohen zufolge unter Produktivkräften versteht, mehr und mehr zerrinnt. Daher möchte ich an dieser Stelle Cohens eklektizistische Interpretation, von der zu sehen war, dass sie nicht nur zwischen dem substantiellen und dem attributiven Konzept der Produktivkraft schwankt, sondern durch die Ausweitung des Konzepts der Produktionsmittel beträchtlich an Kontur verliert, auf sich beruhen lassen, um im Rest dieses Kapitels für eine alternative Herangehensweise zu werben.

4. Produktivkraft und Produktivität: Eine andere Sicht Es gibt einen Umstand, der neben der anti-idealistischen Grundintention von Marx ebenfalls einen Erklärungsansatz dafür liefert, dass Marx sich der Mühe enthoben sieht, eine Definition oder doch wenigstens eine Erläuterung des für seine Theorie so wichtigen Konzepts der Produktivkräfte zu liefern. Dieser Umstand besteht darin,

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Produktivkräfte:

Das Fundament

der

Theorie

dass Marx auf diesen, genauer gesagt auf einen mit diesem Konzept eng verwandten Begriff im Zuge seiner frühen ökonomischen Studien gestoßen ist, dass er ihn also schlicht als Fachbegriff aus der Geschichte der Wirtschaftswissenschaften übernehmen konnte.13 Für diesen Befund spricht die Tatsache, dass sich die erste Verwendung des Ausdrucks ,Produktivkraft' in den erhaltenen (bzw. in den bis heute veröffentlichten) Schriften des jungen Marx im Rahmen eines Zitats und zwar eines Zitats aus dem Hauptwerk von Adam Smith findet. In seinen Exzerpten aus Smiths Untersuchungen über das Wesen und die Ursachen des Reichtums der Nationen aus dem Jahr 1776, die Marx lediglich in einer französischen Übersetzung vorlagen, notiert er in den Pariser Manuskripten die folgende Paraphrase: „Die Arten von Verbesserungen in der Produktivkraft der Arbeit, welche direkt darauf zielen, den Realpreis der Manufakturprodukte zu erniedrigen, streben indirekt dahin, die reale Grundrente zu erhöhn. Gegen Manufakturprodukte vertauscht nämlich der Grundeigentümer den Teil seines Rohstoffes, der seine persönliche Konsumtion überschreitet, oder den Preis dieses Teils. Alles, was den Realpreis der ersten Art von Produkt vermindert, vermehrt den Realpreis der 2ten. Dieselbe Quantität von Rohprodukt entspricht von nun an einer größeren Quantität von Manufakturprodukt, und der Grundeigentümer findet sich befähigt, eine größere Quantität von Bequemlichkeits-, Schmuck- und Luxussachen sich zu verschaffen." (40, 502)

Wir müssen nicht versuchen, diesen Lehrsatz aus der ökonomischen Theorie von Smith im Einzelnen zu verstehen. Wichtig sind lediglich die komparative Rede von den „Verbesserungen der Produktivkraft der Arbeit", die auffällige Einbettung dieser Rede in hauptsächlich quantitative Betrachtungen sowie ein zusätzlicher Punkt, der deutlicher wird, wenn wir eine weitere Passage aus den Manuskripten heranziehen. Diese zusätzliche Passage ist in der Tat neben den soeben zitierten Sätzen die einzige weitere Stelle in den erhaltenen Resten dieses Manuskripts, an der Marx überhaupt von der Produktivkraft spricht.14 Dort lässt er einen fiktiven Kapitalisten gegen einen ebenso fiktiven Anhänger der feudalen Ordnung wettern, dass der feudalistische Kornwucherer durch eine Verteuerung der Lebensmittel der arbeitenden Bevölkerung den Kapitalisten dazu gezwungen habe,

Produktiv kr aft und Produktivität:

Eine andere Sicht

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„den Arbeitslohn zu erhöhen, ohne die Produktionskraft erhöhen zu können [ ··] " (40, 528) Wieder ist es nicht sonderlich wichtig, dem Inhalt dieser Äußerung im Einzelnen nachzugehen. Auch der Zusammenhang, in dem dieser Satz steht, muss uns nicht interessieren. Denn wichtig ist lediglich zum einen, dass hier ein Konzept der Produktiv· bzw. der Produktionskraft zum Ausdruck kommt, das keinen Plural zulässt, also nicht ohne weiteres zu der bisher bevorzugten Rede von den Produktivkräften fuhrt.15 Zum anderen macht die komparative Einbettung dieses Konzepts der Produktivkraft der Arbeit, die in beiden Zitaten zum Vorschein tritt, deutlich, dass es quantitativ fundiert ist. Denn in beiden Passagen ist von der Produktiv- bzw. der Produktionskraft der Arbeit im Sinne einer bestimmten Menge bzw. eines bestimmten Quantums von Energie die Rede. Die Produktiv- bzw. Produktionskraft, von der Marx hier spricht, ist genauer gesagt der Aufwand, der erforderlich ist, um eine bestimmte Menge an Produkten ψ erwirtschaften. Smiths Konzept von der Produktivkraft der Arbeit erinnert in diesem quantitativen Sinn an das von Marx in seinen späteren Schriften häufig verwendete Konzept der Produktivität und entspricht dem heutigen Konzept der Arbeitsproduktivität. Der entscheidende Punkt, der sich vor diesem Hintergrund abzeichnet, ist also, dass die Rede von der Produktiv- bzw. Produktionskraft ursprünglich ein rein quantitatives Konzept zum Ausdruck brachte. Die Produktivkraft hat in dieser ursprünglichen Bedeutung eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Konzept der Beschleunigung, wie es beispielsweise im Rahmen der Newton'schen Mechanik verwendet wird. Und dieser Analogie entsprechend lässt sich die Produktivkraft auch durch eine schlichte Gleichung definieren. Denn die Produktionskraft, genauer die Produktivkraft der Arbeit ist nichts anders als der Quotient, der sich ergibt, wenn man die Menge der hergestellten Produkte durch die Menge der zur Herstellung dieser Produkte erforderlichen Arbeitszeit teilt. Dabei ist zu bemerken, dass Marx von solch einem Quotienten je nach Kontext mal mit Blick auf einen, modern gesprochen, betriebswirtschaftlichen, häufig aber auch unter Bezug auf einen gesamt- bzw. volkswirtschaftlichen Zusammenhang spricht. Aus der soeben erläuterten Gleichung

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Produktivkräfte:

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der

Theorie

Menge der Produkte der Arbeit Produktivkraft der Arbeit

— Menge der investierten Arbeitszeit

ergibt sich, dass die Produktivkraft der Arbeit umso höher ist, je größer sich die Menge an Produkten bemisst, die innerhalb eines bestimmten Zeitintervalls hergestellt wird (bzw. je kürzer die Arbeitszeit ist, die zur Herstellung einer bestimmten Menge von Produkten notwendig ist). Und es ist genau diese Art von Zusammenhang zwischen der Arbeitszeit und der Produktionsmenge, über die Marx in den beiden zitierten Passagen spricht, in denen der Aufwand an Arbeit mit der jeweils erzielten Produktionsmenge korreliert wird. In Anbetracht dieser Beobachtungen vermute ich nicht nur, dass Marx ursprünglich diesen rein quantitativen und mathematisch klar definierten Begriff der Produktionskraft aus der ökonomischen Tradition übernommen hat. Vielmehr besteht auch Anlass zu der Vermutung, Marx habe selbst gar nicht gemerkt, dass er dieses Konzept in der Phase der ersten Ausarbeitung des Historischen Materialismus im Sinne seiner anti-idealistischen Grundintention seiner quantitativen Hülle endedigte und damit denjenigen Begriff der Produktivkräfte schuf, den man, wie gesehen, sowohl substantiell als auch attributiv deuten kann. Und es ist sicherlich auch kein Zufall, dass Marx das quantitative Konzept der Produktivkraft in seinen späteren Schriften zuungunsten des im Rahmen des Historischen Materialismus verwendeten Begriffs der Produktivkräfte wieder in den Vordergrund rückt. Denn in diesen Schriften ist er häufig darum bemüht, vor allem seine ökonomische Theorie voranzutreiben. In den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie, in der Studie Z#r Kritik der politischen Ökonomie sowie im Kapital ist Marx nämlich unter anderem damit beschäftigt, seine philosophischen, gesellschaftstheoretischen und geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisse im Rahmen seiner ökonomischen Theorie zumindest ansatzweise zu formalisieren.16 Und zu diesem Zweck taugt der ursprüngliche Begriff der Produktivkraft, wie er etwa bei Adam Smith Verwendung findet, aus nahe liegenden Gründen weit besser als das .materialistische' Konzept der Produktivkräfte. In Übereinstimmung mit dieser Diagnose findet sich etwa im ersten Band des Kapital eine ganze Reihe von Äußerungen, die um den

Produktiv kraft und Produktivität:

Eine andere Sicht

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quantitativen Begriff der Produktivkraft der Arbeit kreisen. In der folgenden Passage stellt Marx dieses Konzept zum Beispiel in einen engen Zusammenhang mit seiner Werttheorie: Je größer die Produktivkraft der Arbeit, desto kleiner die zur Herstellung eines Artikels erheischte Arbeitszeit, desto kleiner die in ihm kristallisierte Arbeitsmasse, desto kleiner sein Wert. Umgekehrt, je kleiner die Produktivkraft der Arbeit, desto größer die zur Herstellung eines Artikels notwendige Arbeitszeit, desto größer sein Wert. Die Wertgröße einer Ware wechselt also direkt wie das Quantum und umgekehrt wie die Produktivkraft der sich in ihr verwirklichenden Arbeit. (23, 55)

Hier kommt die erläuterte Verbindung zwischen der Produktivkraft und der zur Produktion investierten Arbeitszeit deutlich zum Vorschein. Und nur wenige Seiten später findet sich die für unsere Belange besonders aufschlussreiche Feststellung: „Produktivkraft ist natürlich stets Produktivkraft nützlicher, konkreter Arbeit und bestimmt in der Tat nur den Wirkungsgrad zweckmäßiger produktiver Tätigkeit in gegebnem Zeitraum." (23, 60) Denn auch die Rede von einem so genannten Wirkungsgrad produktiver Tätigkeit stützt die Auslegung, der zufolge die Produktivkraft den notwendigen und quantitativ zu bemessenden Aufwand meint, der zu betreiben ist, um eine bestimmte Menge an Gütern zu produzieren. Nicht zuletzt geht auch aus der folgenden Passage aus demselben Band des Kapital noch einmal die quantitative Fundierung des Konzepts der Produktivkraft deutlich hervor: Gehn wir nun näher auf das einzelne ein, so ist zunächst klar, daß ein Arbeiter, der lebenslang eine und dieselbe Operation verrichtet, seinen ganzen Körper in ihr automatisch einseitiges Organ verwandelt und daher weniger Zeit dazu verbraucht als der Handwerker, der eine ganze Reihe von Operationen abwechselnd aus fuhrt. Der kombinierte Gesamtarbeiter, der den lebendigen Mechanismus der Manufaktur bildet, besteht aber aus lauter solchen einseitigen Teilarbeitern. Im Vergleich zum selb-

ständigen Handwerk wird daher mehr in weniger Zeit produziert oder die Produktivkraft der Arbeit gesteigert. (23, 359*) In Anbetracht dieser Zitate können wir also festhalten, dass Marx vornehmlich in seinen späteren Arbeiten zu dem ursprünglich von

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Produktivkräfte:

Das Fundament

der

Theorie

Adam Smith übernommenen Konzept der quantitativ zu verstehenden Produktivkraft der Arbeit zurückkehrt. Und vor dem Hintergrund dieses Ergebnisses möchte ich im nachfolgenden Abschnitt der Frage nachgehen, inwiefern dieser quantitativ verankerte Begriff dazu verwendet werden kann, das für den Historischen Materialismus fundamentale Konzept der Produktivkräfte klarer zu fassen.

5. Von der Produktionskraft

den Produktivkräften

Marx hat also in der hier vorgeschlagenen Lesart mit dem quantitativen Konzept der Produktivkraft der Arbeit begonnen; hat aus diesem Konzept diejenige Rede von den Produktivkräften entwickelt, die er für seinen Historischen Materialismus benötigte; ist jedoch in den späteren, mehr ökonomisch orientierten Schriften zumindest ansatzweise zum ursprünglichen Begriff zurückgekehrt. Diese beiden Begriffsverschiebungen sollten uns helfen, die Frage nach der Natur der gesellschaftlichen und materiellen Produktivkräfte zu beantworten. Denn wenn Marx tatsächlich ursprünglich den wirtschaftswissenschaftlichen Begriff der Produktionskraft im Sinn hatte, dann liegt es nahe, das später hinzugetretene Konzept der Produktivkräfte, auf dem der Historische Materialismus beruht, als eine Ableitung zu definieren. Und mein Definitionsvorschlag lautet schlicht, dass all dasjenige unter dem Begriff der Produktivkräfte zusammenzufassen ist, was zur Eröffnung neuer Produktionsprozesse oder zu einer Verbesserung bereits bestehender Produktionsabläufe führt und damit einen (zumeist positiven) Einfluss auf die (quantitativ definierte) Produktivkraft der Arbeit ausübt. Wenn man so will, ist das Konzept der Produktivkräfte dieser Definition zufolge wie ein Platzhalter zu lesen. Denn zu den Produktivkräften ist hiernach alles zu zählen, was einen Einfluss auf den Aufwand hat, der notwendig ist, um eine bestimmte Menge von Gütern in einem festgehaltenen Zeitraum herzustellen. Vor diesem Hintergrund ist zu sehen, dass einer Weiterentwicklung der quantitativen Produktivkraft der Arbeit in einer bestimmten Gesellschaft verschiedene Wege offen stehen. Zum einen kann die gesamtgesellschaftliche Güterproduktion etwa intensiviert werden, indem mehr Menschen in dieser Produktion tätig werden, so dass in

Von der Produktionskraft

den Produktivkräften

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einem konstant gehaltenen Zeitraum mehr Maschinen 2um Einsatz kommen und mehr Rohstoffe verarbeitet werden. Zum anderen kann die Produktivkraft erhöht werden, indem neue oder bessere Rohstoffquellen erschlossen werden, die die Effektivität der etablierten Produktionsprozesse steigern. Und nicht zuletzt kann die Produktivkraft steigen, indem technologisch weiter entwickelte Produktivkräfte die alten Kräfte ersetzen, so dass bei einer konstant gehaltenen Anzahl von Menschen, die in der Produktion tätig sind, in einem Vergleichszeitraum mehr Güter produziert werden. Dies ist freilich derjenige Fall, den Marx zumeist im Auge hat. Denn es sind vor allem Entwicklungen dieser Art, die für seine historiografischen und gesellschaftstheoretischen Betrachtungen von besonderem Interesse sind. Vor allem der zuletzt genannte Fall macht indes auf ein interessantes Problem aufmerksam, das in solchen Situationen entsteht, in denen eine Gesellschaft dazu übergeht, Produkte zu erwirtschaften, die bisher niemals erwirtschaftet wurden. Und dieses Problem stellt sich in analoger Weise auch dann, wenn wir versuchen, die Produktivkraft verschiedener Gesellschaften miteinander zu vergleichen, die verschiedene Arten von Produkten erwirtschaften. Problematisch sind diese zwei Fälle, weil wir die jeweiligen Mengen der produzierten Güter nicht unmittelbar miteinander vergleichen können, um den quantitativen Fortschritt in der Produktivkraft der Arbeit zu bemessen. Die investierte Arbeitszeit lässt sich zwar nach Maßgabe der in der Produktion verwendeten Arbeitsstunden auf einen einheitlichen Nenner bringen.17 Wie wollen wir jedoch die in einer Gesellschaft hergestellten Produkte mit den Produkten einer anderen Gesellschaft vergleichen, wenn es sich um qualitative, nicht also nur um quantitative Unterschiede handelt? Um dieses Problem zu lösen, müssen wir uns vor Augen führen, dass es in diesem Zusammenhang weniger um die Frage geht, wie viel Arbeit bzw. Arbeitszeit von den Mitgliedern einer Gesellschaft tatsächlich investiert wird, um diese oder jene konkrete Menge an Produkten zu erwirtschaften. Entscheidend ist vielmehr die Frage, wie viel Arbeitszeit von einer Gesellschaft investiert werden müsste, gälte es, diese oder aber jene Menge an Produkten durch die zur Verfügung stehenden Mittel zu erwirtschaften. Vor dem Hintergrund dieser Formulierung ist es ein Leichtes, eine Fortentwicklung der Produktivkraft zwischen dem Zustand Λ und dem Zustand Β (bzw. eine

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Produktivkräfte:

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der

Theorie

Differenz zwischen den beiden zu vergleichenden Gesellschaften) festzustellen, selbst wenn sich die jeweiligen Produktmengen nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ unterscheiden. Denn jetzt könnten wir die Gütermengen fiktiv konstant halten, um in unserem Vergleich danach zu fragen, wie viel Arbeitszeit (bemessen in Arbeitsstunden) die Mitglieder der betreffenden Gesellschaften investieren müssten, wenn sie sich mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln daran machten, genau diesen Korb an Gütern zu produzieren. Nach diesem Muster könnten wir etwa danach fragen, mit welch drastisch verringertem Aufwand es den europäischen Gesellschaften unserer Gegenwart möglich wäre, diejenigen Produkte zu erwirtschaften, die ihre mittelalterlichen Vorgänger erwirtschaftet haben.18 Und umgekehrt könnten wir die zugegebenermaßen etwas abwegig erscheinende Frage stellen, wie viel Zeit die Mitglieder mittelalterlicher Gesellschaften unter Anwendung der ihnen zur Verfügung stehenden Produktivkräfte investieren müssten, um die Güter zu erwirtschaften, die in unserer Gegenwart erwirtschaftet werden. Jedenfalls kann man zumindest in einer prinzipiellen Art und Weise feststellen, dass sich die Produktivkraft der Arbeit im relevanten Zeitraum gesteigert hat. Und der für den Historischen Materialismus relevante Begriff der Produktivkräfte umfasst, wie bereits gesagt, genau diejenigen Gerätschaften, diejenigen technologischen Neuerungen, diejenigen Erfindungen usw., die einen nachvollziehbaren Einfluss auf das quantitative Konzept der Produktivkraft ausüben. Spätestens an diesem Punkt unserer Überlegungen liegt vielleicht der Einwand nahe, dass ich Marx zu Unrecht einer Verwechslung bezichtige, wenn ich behaupte, er habe gar nicht bemerkt, inwiefern er das wirtschaftswissenschaftliche Konzept von Smith zum Fundament des Historischen Materialismus umdeutete. Ist es nicht viel plausibler anzunehmen, dass es sich bei den Begriffen der Produktivkraft der Arbeit und der Produktivkräfte um zwei voneinander unabhängige Konzepte handelt? Könnte man, genauer gesagt, nicht eine Position vertreten, der zufolge der erste, rein formale Begriff lediglich zur ökonomischen Theorie von Marx gehört, während die Produktivkräfte weiterhin eine vom ersten Begriff unabhängige Rolle in der Geschichts- und Gesellschaftstheorie des Marxismus spielen? Marx schreibt im ersten Band des Kapital·. „In der Manufaktur ist die Bereicherung des Gesamtarbeiters und daher des Kapitals an

Von der Produktionskraft

den Produktivkräften

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gesellschaftlicher Produktivkraft bedingt durch die Verarmung des Arbeiters an individuellen Produktivkräften." (23, 383) Dieser Satz, der von der gesellschaftlichen Produktivkraft und den individuellen Produktivkräften handelt, widerspricht zwar dem soeben formulierten Vorschlag, die beiden Begriffe als Bestandteile zweier voneinander unabhängigen Theorien zu erachten. Denn beide Konzepte werden hier unmittelbar miteinander in Beziehung gesetzt. Aber immerhin könnte dieses Zitat als ein Beleg dafür bewertet werden, dass Marx zwischen den beiden Konzepten deutlicher und systematischer unterscheidet, als meine Interpretation voraussetzt. Aber ich denke, dieser Schein trügt. Zum einen zeigt der zitierte Satz meines Erachtens weit eher, wie unbekümmert Marx von der ursprünglichen, d. h. formalen Bedeutung des Begriffs der Produktivkraft auf die abgeleitete Bedeutung überwechselt, die für den Historischen Materialismus einschlägig ist. Und zum anderen ist schon in der Deutschen Ideologie zu beobachten, dass Marx zwischen der Produktivkraft und den Produktiver^» nicht in derjenigen Art und Weise unterscheidet, die zum Beleg der zur Diskussion stehenden These notwendig wäre. Denn dort schreibt er: „Jede neue Produktivkraft, sofern sie nicht eine bloß quantitative Ausdehnung der bisher schon bekannten Produktivkräfte ist (ζ. B. Urbarmachung von Ländereien), hat eine neue Ausbildung der Teilung der Arbeit zur Folge." (3, 22)19 Auch dieser Satz deutet durch den Umstand, dass der Ausdruck ,Produktivkraft' lediglich als Singular der Vokabel Produktivkräfte' auftritt, darauf hin, dass Marx den Unterschied zwischen den beiden Begriffen übersieht oder doch wenigstens außer Acht lässt. Nur schwerlich bestätigt dieser Sprachgebrauch jedenfalls die aufgeworfene These, dass Marx zwischen den beiden Begriffen deutlich unterscheidet. Die Produktivkräfte, von denen im Rahmen des Historischen Materialismus die Rede ist, sind angesichts dessen vielmehr als Ableger des ökonomischen Konzepts der Produktivkraft der Arbeit zu sehen. Und genau aus diesem Grund bietet sich das hier vorgeschlagene Unterfangen an, die Frage danach, was der Historische Materialist unter den Produktivkräften versteht, zu beantworten, indem man die Menge dieser Produktivkräfte durch die Linse des quantitativen Begriffs blickend zusammenstellt. Inwieweit passen also die bisher zur Sprache gekommenen Beispiele mit diesem Lösungsvorschlag zusammen? Gerätschaften, Ma-

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schinen, Werkzeuge, sprich Produktionsmittel stimmen klarerweise mit dieser Auslegung des Konzepts der Produktivkräfte überein. Denn solche Dinge werden ja in aller Regel genau deshalb ersonnen und in den Wirtschaftskreislauf eingeführt, um neue Produktionsprozesse zu eröffnen bzw. herkömmliche Prozesse zu rationalisieren. Folglich können wir davon ausgehen, dass die Produktionsmittel den relevanten Einfluss auf die Produktivkraft der Arbeit ausüben, insofern sie die Gesamtmenge der produzierten Güter erhöhen (bzw. den bisher notwendigen Zeitaufwand minimieren). Rohstoffe sind ihrerseits insofern Produktivkräfte, als allein schon ihr schieres Vorhandensein, aber oft auch eine Änderung der Art ihrer Erschließung oder Verwertung einen Einfluss auf die Produktivkraft der Arbeit, also auf den erläuterten Quotienten hat. Und die menschliche Arbeitskraft gehört freilich auch dieser Lesart zufolge zu den Produktivkräften. Denn Marx hebt selbst den Umstand hervor, dass durch Erfahrung, Übung sowie durch eine kluge Koordination der Arbeitskraft eines oder mehrerer Menschen die Produktionskraft der Arbeit bzw. die Produktivität erhöht, d. h. der notwendige Zeitaufwand herabgesetzt werden kann, der erforderlich ist, um eine konstante Menge bestimmter Güter herzustellen.20 Der von Cohen thematisierte Bereich des wissenschaftlichen Wissens, das für das Produzieren relevant ist, könnte zu guter Letzt insofern als eine Produktivkraft bewertet werden, als dieses Wissen durch Weiterentwicklung und Umsetzung, also unter anderem durch den Prozess, den man heutzutage Technologietransfer nennt, klarerweise einen Einfluss auf die quantitativ zu bestimmende Produktionskraft der Arbeit ausübt. Was nun die Unterscheidung zwischen den materiellen und den gesellschaftlichen Produktivkräften anbelangt, die im Rahmen von Cohens Lesart zur Sprache kam, ergibt sich vor dem Hintergrund der quantitativen Verankerung ein ganz anderes Bild als dasjenige, das uns Cohen angeboten hat. Als materiell weist Marx nämlich alle Produktivkräfte zumeist dann aus, wenn der Historische Materialist seine Grundintention zu unterstreichen sucht, der zufolge die Geschichte nicht von einer übermenschlichen Weltvernunft, sondern von der Entwicklung der konkreten Produktion bzw. der konkret zur Anwendung kommenden Technologie geleitet ist und insofern keine Ideen- oder Geistesgeschichte, sondern vor allem eine Technik- und Industriegeschichte darstellt. Dass er in solchen Zusammenhängen

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die von Cohen angesprochenen geistigen bzw. gesellschaftlichen Produktionsmittel, wie etwa die Wissenschaft nicht eigens in Betracht zieht, lässt sich meines Erachtens am besten auf die polemische Ausrichtung des Anti-Idealisten Marx zurückfuhren. In dieser Rolle sucht er die Falschheit des idealistischen Denkens zu unterstreichen, indem er die Rede von irgendwelchen nicht-materiellen Produktivkräften schlichtweg meidet. Mit der Rede von den gesellschaftlichen Produktivkräften haben Marx und Engels indes einen eigenwilligen Punkt im Auge, der von Cohen und auch von anderen Interpreten häufig übersehen wird. Die Produktivkräfte werden nämlich in der marxistischen Weltsicht im Zuge ihrer historischen bzw. technikgeschichtlichen Entwicklung von anfangs nur rein materiell bestimmten zu später dann zugleich auch gesellschaftlichen Kräften. Und dieser Wandel vollzieht sich genau dann, wenn die Kräfte ein Entwicklungsstadium erreichen, in dem sie - vornehmlich auf Grund gestiegener technologischer Komplexität — nicht mehr von einzelnen Menschen, sprich individuell, sondern nur noch von Gruppen von Menschen, insofern also gesellschaftlich angewendet werden können. So findet sich in der Deutschen Ideologie die Erläuterung: „gesellschaftlich in dem Sinne, als hierunter das Zusammenwirken mehrerer Individuen, gleichviel unter welchen Bedingungen, auf welche Weise und zu welchem Zweck, verstanden wird." (3, 30) Und Engels schreibt dieser Auffassung entsprechend in seiner Spätschrift Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie %ur Wissenschaft „Aber die Bourgeoisie [...] konnte jene beschränkten Produktionsmittel nicht in gewaltige Produktivkräfte verwandeln, ohne sie aus Produktionsmitteln des einzelnen [Individuums], in gesellschaftliche, nur von einer Gesamtheit von Menschen anwendbare Produktionsmittel zu verwandeln." (19, 212) Das ist ein, wie man wohl zugeben sollte, sowohl eigenwilliger als auch irreführender Sprachgebrauch. Dieser Sprachverwendung zufolge wird ein ohnehin materielles, da konkretes Produktionsmittel in demjenigen Moment zum gesellschaftlichen, in dem es mehr als genau einer Person bedarf, um es zu bedienen. Und wieder bin ich geneigt, dem Sprung von der Beobachtung, dass mehr als eine Person nötig ist, um eine Produktivkraft, etwa eine Maschine in Bewegung zu setzen, hin zu der Rede von einer „Gesamtheit von Menschen" bzw. von den gesellschaftlichen Produktionsmitteln eine polemische Ab-

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Theorie

sieht zu unterstellen. Ein falsch verstandener Individualismus, wie wir ihn an einem späteren Punkt unserer Betrachtungen noch zur Sprache bringen werden, mag diesmal das Feindbild liefern.

6. Rückblick In einer bestimmten Hinsicht mögen die zurückliegenden Ausführungen vielleicht den Eindruck vermittelt haben, dass in der Kernfrage dieses Kapitels ein eher mageres Ergebnis erzielt worden ist. Zumindest stand am Ende der Überlegungen keine vollständige Auflistung aller Arten von Produktivkräften, von denen Marx in den verschiedensten Zusammenhängen spricht. Vielmehr stießen wir auf eine abgeleitete Definition des Konzepts der Produktivkräfte, die sich auf den quantitativen Begriff der Produktivkraft der Arbeit stützt. Zu den Produktivkräften, von denen der Historische Materialismus handelt, gehört dieser Definition zufolge schlicht alles, was hinsichtlich der Produktionskraft der Arbeit zu Buche schlägt. Der besagte Eindruck ist also einerseits ein Stück weit gerechtfertigt. Er entspricht aber andererseits dem Befund, auf den man als Leser der Schriften von Marx und Engels stößt. Die Produktivkräfte, von denen die Begründer des Historischen Materialismus sprechen, sind der Sache nach nichts anderes als die ,Materialisierungen', wenn man so will, des quantitativen Konzepts der Produktivkraft der Arbeit, das Marx und Engels aus der Tradition der ökonomischen Wissenschaft übernommen haben. In dieser materialisierten Version sind in jedem Fall Rohstoffe, Produktionsmittel und die menschliche Arbeitskraft als Produktivkräfte zu betrachten. Aber wir haben gesehen, dass Marx von Fall zu Fall auch anderes unter diesen Begriff der Produktivkräfte fasst. In einer anderen Hinsicht hat die quantitative Fundierung dieses grundlegenden Konzepts des Historischen Materialismus jedoch durchaus Vorzüge. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil dieser Sicht besteht etwa darin, dass sie verständlich macht, warum Marx derart disparate Dinge je nach Zusammenhang als Produktivkräfte ansprechen kann. Denn je nachdem, welche Perspektive im jeweiligen Zusammenhang eingenommen wird, wird ja erkennbar, dass tatsächlich ganz unterschiedliche Dinge einen Einfluss auf die Produktivkraft der

Rückblick

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Arbeit, d. h. auf die Frage haben, mit wie viel Aufwand welche Menge an Gütern erwirtschaftet werden kann. Das vielleicht prägnanteste, jedenfalls neben dem bereits diskutierten Fall des Wissens heikelste Beispiel ist die jeweilige Form der Arbeitsteilung, die in einer Gesellschaft praktiziert wird. Denn während wir im nachfolgenden Kapitel sehen werden, dass diese Arbeitsteilung der offiziellen Lesart des Historischen Materialismus zufolge ein entscheidendes Merkmal der Produktionsverhältnisse ist und folglich von den Produktivkräften in aller Deutlichkeit zu unterscheiden sein muss, finden sich immer wieder Passagen, in denen Marx auch die jeweilige Form der Arbeitsteilung zu den Produktivkräften einer Gesellschaft zählt. Dies zeigt sich etwa, wenn er schreibt, dass „die Arbeitsteilung, die Anwendung von Maschinen, die Ausbeutung der Naturkräfte und der technischen Wissenschaften die Produktivkraft der Menschen vermehrt [...]" (4, 121) Dieser Neigung, die Arbeitsteilung zu den Produktivkräften zu schlagen, sollte Marx natürlich aus dem bereits genannten Grund nicht nachgeben. Aber sie ist vor dem erläuterten Hintergrund durchaus verständlich. Denn eine Umstrukturierung eines Produktionsprozesses, die ein griffiges Beispiel für eine Abänderung der Arbeitsteilung darstellt, dient ja im Erfolgsfall tatsächlich dazu, den Gesamtoutput der Produktion zu optimieren, also die quantitativ zu bestimmende Produktivkraft der Arbeit zu erhöhen. Und da die Veränderung der Form der Arbeitsteilung in dieser Perspektive zu einer Steigerung der Produktivkraft beitragen kann, ist es begreiflich, weshalb Marx zuweilen auch die Arbeitsteilung zu den Produktivkräften zählt, obwohl die Arbeitsteilung, wie bereits gesagt, aus einer anderen Perspektive betrachtet ein entscheidendes Merkmal der Produktionsverhältnisse darstellt. In dieses Bild passt es ebenfalls, wenn Marx und Engels im Manifest „Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen" (4, 467) als Produktivkräfte auszeichnen. Denn auch die hier aufgelisteten Beispiele fügen sich meistenteils nicht in die von Cohen und anderen Vertretern des eklektizistischen Vorgehens angebotenen Kategorisierungen der Produktivkräfte ein. Man versteht jedoch, weshalb Marx und Engels in all diesen Fällen von Produktiv-

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der

Theorie

kräften sprechen, wenn man sich wieder den quantitativen Begriff der Produktivkraft der Arbeit vor Augen führt und das komparative Moment bedenkt, auf das die Betonung der Entwicklung dieser Kraft aufmerksam macht. Denn die Anwendung der Chemie, die Schiffbarmachung der Flüsse und die Zunahme der Bevölkerungszahl usw. haben eben in wirtschaftshistorischer Perspektive einen unübersehbaren Einfluss darauf ausgeübt, mit wie viel Aufwand wie viele Güter in den betreffenden Gesellschaften hergestellt werden können, sprich einen entscheidenden Einfluss auf die quantitativ zu bestimmende Produktivkraft der Arbeit. Der meines Erachtens größte Vorteil dieser Sicht der Dinge liegt indes in einem andern Sachverhalt begründet, der uns auch im nachfolgenden Kapitel beschäftigen wird. Denn sie öffnet uns den Blick dafür, dass der Historische Materialismus gar nicht so sehr auf eine schlichte Industrie- und Technikgeschichte zu reduzieren ist, wie es die Rede von der Entwicklung der materiellen Produktivkräfte und andere Stellungnahmen von Marx nahe legen. Denn wenn man als Produktivkräfte tatsächlich alles zulässt, was auf eine nachvollziehbare Art und Weise einen zumeist positiven Einfluss auf die quantitativ bestimmte Produktivkraft der Arbeit nimmt, dann haben wir es im Fall der Theorie von Marx vielmehr mit so etwas wie einer allgemeinen Kulturgeschichte des Wirtschaftens zu tun. Denn der Historische Materialist Karl Marx könnte aus dieser Perspektive betrachtet zuletzt sogar der These von Max Weber zustimmen, der gemäß der Protestantismus eine entscheidende Voraussetzung für die Genese der kapitalistischen Produktionsverhältnisse darstellte.21 Cohens erläuterter Argumentation entsprechend, der zufolge bestimmte Bereiche der Wissenschaft als Produktivkräfte zu erachten sind, könnte man nämlich dafür eintreten, auch die protestantische Ethik zu den Produktivkräften des kapitalistisch organisierten Wirtschaftens zu zählen. Nachdem diese beiden Vorzüge betont wurden, ist zuletzt jedoch auf ein schwerwiegendes Problem hinzuweisen, das sich Marx in der hier vorgeschlagenen Lesart einhandelt. Durch die ebenso vage wie großzügige Definition, der zufolge alles unter den Begriff der Produktivkräfte fällt, was einen nachvollziehbaren Einfluss auf den besagten Quotienten nimmt, muss sich Marx nämlich über kurz oder lang der Frage stellen, wie wörtlich er diese Definition verstanden wissen will. Muss er am Ende eventuell der weit reichenden These

Rückblick

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zustimmen, dass im buchstäblichen Sinn wirklich alles unter diesen Begriff fallen kann, wodurch dieser Begriff freilich jedwede Kontur einbüßen würde? Denn wovon ist schon mit Entschiedenheit auszuschließen, dass es nicht in irgendeiner Art und Weise einen Einfluss auf den Wert des ökonomisch bestimmten Quotienten nimmt? Man stelle sich etwa vor, der Klimawandel trage in einigen Gesellschaften auf unserem Globus irgendwie zur Steigerung der Produktion, also zu einer erhöhten Produktivität bei. Wollten wir in dem Fall ernsthaft behaupten, dass das veränderte Klima eine der Produktivkräfte darstellt, die den Mitgliedern dieser Gesellschaften zur Verfügung stehen?22 Dieses Problem können wir nur lösen, indem wir uns Klarheit über die beiden übrigen Kernelemente des Historischen Materialismus, also über die Produktionsverhältnisse und den Überbau verschaffen. Denn wenn uns klar sein wird, dass und weshalb die jeweils gegebene Form der Arbeitsteilung zu den Produktionsverhältnissen und das für die Produktion relevante Wissen (entgegen der Überzeugung von Cohen) zum gesellschaftlichen Überbau gehören, werden wir einen guten Grund dafür haben, die Auszeichnung der Arbeitsteilung und des Wissens (im Übrigen auch irgendeiner Ethik oder gar des Klimas) als Produktivkräfte zurückzuweisen. Indem wir also zeigen, dass die Arbeitsteilung unbedingt zu den Produktionsverhältnissen und das Wissen zweifelsfrei zum Überbau zu zählen sind, werden wir dafür argumentieren, dass die Arbeitsteilung und das Wissen der offiziellen Version des Historischen Materialismus zufolge nicht zu den Produktivkräften zu rechnen sind. In dieser Hinsicht muss man, anders gesagt, die Theorie von Marx als Ganze kennen, um ihre Teile im Einzelnen zu verstehen. Denn man braucht offenbar die beiden anderen Bestandteile der Theorie, um einer Auswucherung des Begriffs der Produktivkräfte Einhalt zu gebieten. Wenden wir uns daher jetzt den Produktionsverhältnissen zu.

3. Produktionsverhältnisse: Die ökonomische Basis Dem Entwicklungsstand der im zurückliegenden Kapitel erläuterten Produktivkräfte entsprechen dem Vorwort der Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie zufolge die Produktionsverhältnisse dieser Gesellschaft. Das ist gewissermaßen die offizielle Lesart des Historischen Materialismus. Bevor wir uns der Hauptfrage dieses Kapitels zuwenden, was unter diesen Produktionsverhältnissen im Einzelnen zu verstehen ist, erscheint es angemessen, zuerst eine Reihe weiterer Begriffe ins Spiel zu bringen. Denn laut Marx entsprechen dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte nicht immer diese Verhältnisse, sondern in manchen Darstellungen seiner Theorie scheinbar ganz andere Dinge. Um bei der Metapher zu bleiben: es gibt neben der offiziellen auch inoffizielle Lesarten. So heißt es etwa in dem bereits zitierten Brief von Marx an Annenkow aus der Zeit, in der die Kerngedanken des Historischen Materialismus gerade entwickelt worden waren: Was ist die Gesellschaft, welches immer auch ihre Form sei? Das Produkt des wechselseitigen Handelns der Menschen. Steht es den Menschen frei, diese oder jene Gesellschaftsform zu wählen? Keineswegs. Setzen Sie einen bestimmten Entwicklungsstand der Produktivkräfte der Menschen voraus, und Sie erhalten eine bestimmte Form des Verkehrs [commerce] und der Konsumtion. (27, 452)

Zwar taucht hier zu Beginn der zitierten Passage das Motiv der Unfreiheit wieder auf, das uns bereits aus dem Vorwort vertraut ist, in dem Marx schreibt, dass die Menschen von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse eingehen. Dann heißt es im unmittelbaren Anschluss jedoch nicht, dass dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte be-

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stimmte Produktionsverhältnisse entsprechen, wie es gemäß der offiziellen Lesart lauten müsste. Vielmehr ist von Produktionsverhältnissen in diesem Brief, den Marx in französischer Sprache verfasste und den ich in der offiziellen Übersetzung der Herausgeber der MarxEngels-Werke zitiert habe, gar nicht die Rede. Dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte entspricht dieser Fassung zufolge statt dessen eine Form des Verkehrs und der Konsumtion. Der Begriff der Form, genauer der Verkehrs- und Konsumtionsform ist hier also von zentraler Bedeutung. Im selben Brief ist kurz darauf zu lesen: Die ökonomischen Formen, unter denen die Menschen produzieren, konsumieren, austauschen, sind also vorübergehende und historische. Mit der Erwerbung neuer Produktivkräfte ändern die Menschen ihre Produktionsweise, und mit der Produktionsweise ändern sie alle ihre ökonomischen Verhältnisse, die bloß die für diese bestimmte Produktionsweise notwendigen Beziehungen waren. (27, 453)

In dieser Textpassage wird zuerst das Konzept der ökonomischen Form ins Spiel gebracht, das augenscheinlich auf die soeben eingeführte Rede von der Verkehrs- und Konsumtionsform zurückverweist. Diese ökonomische Form wird anschließend in die drei Merkmale Produktion, Konsumtion und Austausch zerlegt. Damit kommt eine Dreiteilung zur Sprache, die uns an die ökonomische Fundierung des Menschbilds von Marx erinnern sollte, von der bereits die Rede war. Von diesen Formen wird darüber hinaus gesagt, dass sie veränderlich, sprich historischen Umwandlungen unterworfen sind. Daraufhin wird von der Erwerbung neuer Produktivkräfte, d. h. von einem neuen Entwicklungsstand der Produktivkräfte ausgesagt, dass er die Menschen dazu veranlasst, ihre bisherige Produktionsweise zu ändern, womit sie auch ihre bisherigen ökonomischen Verhältnisse bzw. Beziehungen ändern. In Anbetracht dieser Überlegungen scheint mir für die Thematik dieses Kapitels vor allem der Begriff der Produktionsweise von besonderem Interesse. Dieser neue Begriff der Produktionsweise sowie das zuerst angesprochene Konzept des Verkehrs gewinnen zusätzlich an Gewicht, wenn Marx im Vorwort zum Kapital feststellt: „Was ich in diesem Werk zu erforschen habe, ist die kapitalistische Produktionsweise und

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die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse." (23, 12) Und im dritten, von Engels redigierten Band des Kapital taucht neben dem Begriff der Produktionsweise schließlich auch das Konzept der Produktionsform in genau solchen Zusammenhängen auf, in denen man dem Vorwort zufolge mit dem Begriff der Produktionsverhältnisse rechnen würde. So heißt es an einer Stelle etwa, dass die Arbeiter einer Kooperative „zeigen, wie, auf einer gewissen Entwicklungsstufe der materiellen Produktivkräfte und der ihr entsprechenden gesellschaftlichen Produktions formen, naturgemäß aus einer Produktionsweise sich eine neue Produktionsweise entwickelt und herausbildet." (25,456) Diese Liste von Zitaten, die ich recht willkürlich zusammengestellt habe, weswegen sie durch zahllose andere Passagen aus dem Werk von Marx und Engels ersetzt werden könnten, in denen die entsprechenden Ausdrücke auftauchen, führt auf den ersten Blick zu keinem sonderlich klaren Bild. Und dieser Sachverhalt gibt Richard Miller Recht, der davor warnt, all zuviel exegetisches Gewicht auf das Vorwort zu legen, weil dies zu einem stark vereinfachten Bild der Theorie von Marx führen könnte.1 Daher sollten wir in diesem Kapitel neben dem Konzept der Produktionsverhältnisse auch die neu hinzugetretenen Begriffe in Augenschein nehmen, um der Gefahr zu entgehen, ein zu schlichtes Bild von der Theorie zu zeichnen, die Marx uns anbietet. Dieses Vorgehen wird uns schließlich jedoch zeigen, inwiefern all diese zusätzlichen Begriffe lediglich dazu dienen, alternative Beschreibungen spezifischer Merkmale der Produktionsverhältnisse zu formulieren. Insofern ist also die beeindruckende Schlichtheit des Historischen Materialismus, von der ich in der Einleitung zu dieser Studie sprach, trotz der jetzt zum Vorschein getretenen begrifflichen Vielfalt nicht ernsthaft bedroht. Was also versteht Marx unter einer Form des Verkehrs? Was muss man sich unter einer Produktionsweise vorstellen? Und was haben Produktions formen sowie Produktionsweisen mit den Produktionsverhältnissen zu tun? Auch in diesem Kapitel möchte ich mich an einigen Stellen auf Cohens detaillierte Untersuchungen stützen, um von diesen ausgehend Antworten auf die soeben aufgeworfenen Fragen zu finden.

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1. Formen, Weisen, Arten Was die beiden neu hinzugekommenen Begriffe der Produktionsform und der Produktionsweise anbelangt, von denen Marx auch sagt, es ginge dabei um die Art der Menschen, „ihren Lebensunterhalt zu gewinnen" (4, 130), sollte man sich noch einmal einen bereits angesprochenen Punkt vor Augen fuhren. Gemeint ist der Umstand, dass sich Marx den historischen Prozess, in dem sich immer wieder Produktivkräfte, die ein neues Entwicklungsniveau erreicht haben, gegen den Widerstand veralteter Produktionsverhältnisse durchsetzen, nicht als kontinuierliche Entwicklung, sondern stufenförmig denkt. Dieses Bild kommt jedenfalls klar in der Darstellung aus dem Vorwort zum Ausdruck, in dem es heißt, dass an einem gewissen Punkt in der Entwicklung der Produktivkräfte die gegebenen Verhältnisse aufhören, Entwicklungsformen dieser Kräfte zu sein, um in diesem Moment dann Fesseln der Kräfte zu werden. Diese Fesseln der Produktivkräfte werden dann irgendwann gesprengt, wodurch sich in einer revolutionären Umwälzung neue Produktionsverhältnisse durchsetzen können, die wieder En twicklungs formen der Kräfte sind, bis es dann irgendwann erneut zu einem Stillstand der Weiterentwicklung kommen wird.2 Die durch den eben geschilderten Mechanismus entstehenden Stufen der historischen Entwicklung erlauben es, verschiedene geschichtliche Epochen mehr oder weniger genau voneinander abzugrenzen.3 Auf jeder Stufe dieses historischen Prozesses wird natürlich produziert, was sich allein schon aus dem Menschenbild von Marx ergibt, dem zufolge die Menschen als ökonomische (d. h. als produzierende, Produkte austauschende sowie konsumierende) Wesen bestimmt sind. Nicht dass produziert wird, unterscheidet die verschiedenen historischen Epochen folglich voneinander. Vielmehr ist einzig und allein von Belang, wie produziert wird, sprich auf welche Art und Weise die Produktion vonstatten geht. In diesem Sinn schreibt Marx im Vorwort. „In groben Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden." (13, 9)

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Arten

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Wie auch im folgenden Kapitel zu sehen sein wird, verwendet Marx den Ausdruck ,Form' häufig nicht in dem Sinn, der im zurückliegenden Kapitel von Belang war, als es mit Blick auf Cohens Analyse der Produktivkräfte um eine Unterscheidung zwischen einer Form und deren Inhalt ging (vgl. etwa Form versus Inhalt eines Gedichts). Vielmehr ist von irgendwelchen Formen bei Marx oft dann die Rede, wenn es um spezifische Ausgestaltungen, Ausformungen oder - wie es in dem letzten Zitat auch heißt - um verschiedene Formationen ein und derselben Art von Dingen geht (vgl. runder versus quadratischer Tisch). Und wenn Marx in diesem Sinn von einer bestimmten Produktionsform spricht, dann meint er damit die spezifische Form, also die jeweilige Variante des Produzierens, die auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung der Produktivkräfte gegeben ist. Wieder haben wir es also mit einer Unterscheidung verschiedener Epochen der Geschichte nach Maßgabe der durch die gegebenen Produktivkräfte bestimmten Art und Weise des Produzierens zu tun. Und daher liegt es nicht zuletzt um der Übersichtlichkeit willen nahe, Produktionsweisen und Produktions formen miteinander zu identifizieren. Für diesen Vorschlag, die Vokabeln ,Produktionsweise' und ,Produktionsform' als gleichbedeutende Ausdrücke zu lesen, spricht über die zuletzt formulierte Beobachtung hinaus mindestens zweierlei. Zum einen geht Marx in dem zu Beginn des Kapitels zitierten Passus aus dem Brief an Annenkow ganz zwanglos von der Rede über ökonomische Formen der Gesellschaft, die er als vorübergehende und in diesem Sinn historische ausweist, auf die Rede von den Produktionsweisen über, die die Menschen mit dem Erwerb neuer Produktivkräfte ändern. Zwar könnte man diese Sätze durchaus dahin gehend deuten, als ob Marx sagen wollte, dass sich mit den neuen Produktivkräften zweierlei verändert, nämlich zum einen die ökonomischen Formen und zum anderen die Produktionsweise. Aber weit plausibler, weil die Zusammenhänge nicht unnötig verkomplizierend, scheint mir die Interpretation, dass er hier lediglich den Kerngedanken des Historischen Materialismus rekapituliert: die Weiterentwicklung der Produktivkräfte treibt die Geschichte voran, indem diese Weiterentwicklung Änderungen der Produktionsweisen nach sich ziehen, die mit den ökonomischen Formen (also den Formen der Produktion, des Austausche und der Konsumtion) identisch sind.

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Das zweite Argument für die vorgeschlagene Gleichsetzung von Produktionsformen und Produktionsweisen beruht auf der folgenden Beobachtung. Eine diesem Vorschlag entsprechende Umformulierung der zuletzt zitierten Passage aus dem Vorwort, der zufolge in groben Umrissen asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktions^rwi» als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden können, hinterlässt sogar einen geschlosseneren Gesamteindruck als das Original, in dem - zumindest stilistisch asymmetrisch wirkend - Produktionsweisen und Gesellschaftsformationen aufeinander bezogen sind. Und in Anbetracht der drei in diesem Abschnitt vorgetragenen Überlegungen gehe ich daher von jetzt an davon aus, dass Produktionsweisen und Produktionsformen ein und dasselbe sind.

2. Cohen über Produktionsweisen Doch was hat man sich unter einer Produktionsweise, sprich unter einer Produktions form vorzustellen? Die Antwort auf diese Frage ist einerseits einfach, andererseits aber auch uninteressant, weil sehr generell und vage. Denn wir wissen ja schon, dass mit dem Begriff der Produktionsform ganz allgemein die Art und Weise gemeint ist, in der die Mitglieder einer Gesellschaft nach Maßgabe der ihnen zur Verfügung stehenden Produktivkräfte den Produktions- und Wirtschaftsprozess organisieren. Doch über diese generelle Auskunft können wir vielleicht hinauskommen, wenn wir danach fragen, durch welche Merkmale bzw. durch welche markanten Züge sich die progressiven Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation voneinander unterscheiden, über die Marx im Vorwort spricht. Bevor wir dieser Spur folgen, sei darauf hingewiesen, dass die Rede von den progressiven Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation auf eine nicht ganz unproblematische Vereinfachung hindeutet, die Marx unterschwellig vornimmt. Denn er geht offenbar von der unausgesprochenen Annahme aus, dass jede Epoche durch genau eine Produktionsform geprägt ist. Dies macht auf der einen Seite deutlich, dass es Marx nicht um die Frage geht, welche Form in

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einer bestimmten Gesellschaft etwa die Lebensmittelproduktion im Unterschied zur Stahlproduktion annimmt. Vielmehr kann es ihm nur um die Frage gehen, wodurch sich die ^Jizw/gesellschaftlichen Produktionsformen unter asiatischen, feudalen, bürgerlichen etc. Bedingungen voneinander unterscheiden. Auf der anderen Seite könnte man natürlich mit Fug und Recht danach fragen, ob es denn klug ist, die Möglichkeit auszuschließen, dass in ein und derselben Gesellschaft bzw. in ein und derselben gesellschaftlichen Epoche unterschiedliche Produktionsformen zu finden sind. Doch wir werden sehen, dass das Konzept der Produktions form eine Vielzahl von ganz unterschiedlichen Merkmalen betrifft. Und so gesehen, ist es für Marx vielleicht ganz sinnvoll, die besagte Vereinfachung vorzunehmen. Cohen zeigt sich jedenfalls davon überzeugt, dass der Ausdruck Produktionsweise' von Marx kontextabhängig in drei verschiedenen Bedeutungen, besser gesagt, mit drei unterschiedlichen Akzentuierungen verwendet wird. Wenn Marx den Ausdruck .Produktionsweise' gebraucht, hat er Cohens Auffassung zufolge nämlich mal die (i) materielle Produktionsweise, (ii) mal die soziale bzw. gesellschaftliche Produktionsweise und (iii) manchmal auch beide Aspekte einer Produktionsweise zugleich im Auge.4 Diese Unterscheidung erlaubt es Cohen, eine Reihe von Merkmalen herauszuarbeiten, die als Kriterien dienen, um verschiedene Produktionsweisen voneinander zu unterscheiden. Meines Erachtens können diese Merkmale aber zugleich auch als Identitätskriterien betrachtet werden, die zusammengenommen - technisch gesprochen - der Individuierung der verschiedenen Produktionsformen dienen. Insofern können wir mit Cohen der Frage, was Produktionsweisen sind, nachgehen, indem wir angeben, wodurch sich verschiedene Produktionsweisen voneinander unterscheiden. Und dies ist ein Verfahren, das uns später auch im Fall des Konzepts der Produktionsverhältnisse nützlich sein wird. Denn auch diese Verhältnisse bekommt man theoretisch am besten in den Griff, indem man danach fragt, durch welche markanten Züge sich verschiedene Produktionsverhältnisse voneinander unterscheiden. In Anbetracht dieser wichtigen Zusammenhänge möchte ich im Folgenden auf die von Cohen genannten Merkmale etwas näher eingehen.

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Unter einer materiellen Produktionsweise ist Cohen zufolge die Art und Weise zu verstehen, in der die Mitglieder einer Gesellschaft mit den ihnen zur Verfügung stehenden Produktivkräften arbeiten. Etwas genauer gesagt, geht es hierbei um die unterschiedlichen Arten von materiellen Prozessen, die die Menschen unter Anwendung der Produktivkräfte im Dienst der Produktion in Gang setzen.5 Dieser für eine Produktionsweise typische Produktionsprozess geht laut Cohen seinerseits mit einer spezifischen Form der Arbeitsteilung und — damit zusammenhängend — mit einer bestimmten Form der Spezialisierung einher. Was zuerst das Konzept der Arbeitsteilung anbelangt, das uns schon vom Ende des zurückliegenden Kapitels vertraut ist, sollte man im Auge haben, dass Marx sowohl die vorgelagerte Frage im Sinn hat, welche Personen in einer bestimmten Gesellschaft überhaupt an der unmittelbaren Produktion beteiligt sind, als auch den nachgeordneten Punkt berührt sehen möchte, wie die Arbeit unter der Menge der arbeitenden Bevölkerung aufgeteilt ist. Dies wird deutlich, wenn er in der Deutschen Ideologie schreibt: „Mit der Teilung der Arbeit [...] ist zur gleichen Zeit auch die Verteilung, und zwar die ungleiche, sowohl quantitative wie qualitative Verteilung der Arbeit und ihrer Produkte gegeben [...]." (3, 32) Was das Konzept der Spezialisierung betrifft, würde ich vorschlagen, sich unter dieser Spezialisierung, modern gesprochen, so etwas wie das Bündel verschiedener Berufsbilder bzw. - wie ich es später auch nennen werde - das Bündel der verschiedenen ökonomischen Rollen vorzustellen, die sich auf der Grundlage der jeweiligen Arbeitsteilung ergeben. Die antike Produktionsform kannte, zynisch gesprochen, den Beruf des Sklaven. Die feudale Produktionsform ging mit Knechten und Mägden, aber auch mit Schneidermeistern und Bäckergesellen etc. einher. Und eine ökonomische Rolle, die für die kapitalistischen Produktionsverhältnisse typisch ist, ist die des Fabrikbzw. des Lohnarbeiters.6 Marx macht den Zusammenhang zwischen den Produktivkräften und den verschiedenen .Berufsbildern' bzw. ökonomischen Rollen, die sich durch die Arbeitsteilung nach Maßgabe des gegebenen Entwicklungsstands der Kräfte ergeben, in der Schrift Das Elend der Philosophie aus dem Jahr 1847 folgendermaßen deutlich:

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Die sozialen Verhältnisse sind eng verknüpft mit den Produktivkräften. Mit der Erwerbung neuer Produktivkräfte verändern die Menschen ihre Produktionsweise, und mit der Veränderung der Produktionsweise, der Art, ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie alle ihre gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten. (4,130) 7

Neue Produktivkräfte legen also eine Neugestaltung der Arbeitsteilung nahe, die zu einer neuen Einteilung der Gesellschaft in verschiedene ökonomische Gruppierungen beiträgt. Dieser Gedanke führt nicht nur zu einer Unterscheidung verschiedener materieller Produktionsweisen, um die es uns im Augenblick vornehmlich geht, sondern verweist bereits auf die Produktionsverhältnisse. Denn wir werden sehen, dass sich diese Verhältnisse ebenfalls markant durch die ökonomischen Rollen unterscheiden lassen, die sie für die Mitglieder einer Gesellschaft bereitstellen. Vor dem Hintergrund dieser Charakterisierung des Konzepts der materiellen Produktionsweise macht Cohen darauf aufmerksam, dass sich trotz aller sonstigen Unterschiede etwa einem sowjetischen und einem US-amerikanischen Großagrarbetrieb dieselbe materielle Produktionsweise zusprechen lasse. Denn in beiden Fällen werden im Großen und Ganzen nicht nur vergleichbare Gerätschaften und Maschinen verwendet, was bedeutet, dass der Entwicklungsstand der Produktivkräfte übereinstimmt. In beiden Fällen ist vor allem auch dieselbe Art der Arbeitsteilung und eine vergleichbare Form der Spezialisierung unter den Menschen zu beobachten. Diese Übereinstimmung zwischen einem kapitalistisch und einem realsozialistisch organisierten Agrarbetrieb hinsichtlich der materiellen Produktionsweise deutet darauf hin, dass es wohl eher die Produktionsweisen in der gesellschaftlichen Hinsicht sind, die im Rahmen der Theorie von Marx verschiedene „Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation" voneinander zu unterscheiden erlauben. Und in der Tat führt Cohens Untersuchung der gesellschaftlichen Produktionsweisen, der ich mich jetzt zuwenden möchte, zu einem weit reichhaltigeren Ergebnis. Hinsichtlich gesellschaftlicher Produktionsweisen sind dieser Untersuchung zufolge drei Dimensionen der Produktion zu unterschei-

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den: nämlich der jeweilige Zweck, die mit der Produktion einhergehende Form der Mehrarbeit und schließlich die Art der Ausbeutung. Weil uns jedoch die Konzepte der Mehrarbeit und der Ausbeutung an dieser Stelle zu weit vom Kurs abbringen würden und Cohen ohnehin den Schwerpunkt auf die Analyse der unterschiedlichen Zwecke legt, möchte ich lediglich diese Dimension als auszeichnendes Merkmal unterschiedlicher Produktionsformen vor Augen fuhren. Wie sich jedoch zeigen wird, ergibt sich selbst unter dieser Einschränkung ein umfang- und facettenreiches Bild. Was die verschiedenen Zwecke der Produktion betrifft, unterscheidet Cohen in einem ersten Schritt zwischen einer Produktion, die dem Gebrauch, und einer Produktion, die dem Tausch dient. Für eine Produktion der ersten Art ist kennzeichnend, dass die Güter unabhängig von der Frage, wer sie letztlich konsumieren wird, auf ihrem Weg zur Konsumtion nicht über einen Markt gehen. Eine Subsistenzwirtschaft betreibende Bauernfamilie etwa, die ihre Produkte nicht verkauft, sondern selbst verzehrt, ist ein Beispiel hierfür. Von einer Produktion, die allein dem Gebrauch dient, könne aber auch in dem Fall gesprochen werden, in dem ein Sklavenhalter die Produkte konsumiert, die seine Sklaven erwirtschaften. Und dass in diesem Zusammenhang ein sehr umfassendes Konzept des Produzierens vorausgesetzt wird, das jede Form der beruflichen bzw. nützlichen Tätigkeit (man denke etwa an Dienstleistungen aller Art) als Akt des Produzierens erfasst, wird deutlich, wenn Cohen als weiteres Beispiel einen Arzt anführt, der seine Leistung nicht an seine Patienten verkauft, sondern seine Kenntnisse und Fertigkeiten kostenlos zur Verfügung stellt.8 Im Fall der Produktion, die nicht dem Gebrauch, sondern dem Tausch dient, werden die Produkte hingegen mit dem Ziel hergestellt, getauscht bzw. verkauft zu werden. Hier ist Cohen zufolge abermals zu unterscheiden zwischen einer Produktion, die dem schlichten Tausch der produzierten Güter dient, und einer Produktion, die zum Ziel hat, mit dem Tauschwert der produzierten Güter zu wirtschaften.9 Eine Produktion der ersten Art sei etwa dann gegeben, wenn zwei Personen solche Güter miteinander tauschen, die sie um ihres spezifischen Gebrauchswerts willen haben möchten, also mit Blick darauf, wozu man das jeweilige Produkt gebrauchen kann. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass der Gedanke eines gleichen Werts der

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getauschten Produkte, sprich der Gedanken einer Gleichheit ihres Tauschwerts, durch den die produzierten Güter aller erst zu einer Ware werden, keine Rolle spielt.10 Wenn eine Person Λ mit einer Person Β ein Paar Schuhe gegen einen Stuhl tauscht, weil sie diesen Stuhl selbst gebrauchen möchte, damit also lediglich den Gebrauchswert dieses Stuhles im Auge hat, und Β die Schuhe ebenfalls nur haben möchte, um sie selbst zu tragen, liegt solch ein schlichtes Tauschverhältnis vor. Im Fall der Produktion, die darauf zielt, durch den Tauschwert der Waren Profit zu erwirtschaften, ist Cohens Analyse zufolge erneut zu unterscheiden. Denn es gibt auf der einen Seite denjenigen Fall, in dem es den Beteiligten darum geht, durch den Tausch ihrer Waren einen maximalen Profit zu erwirtschaften. Und auf der anderen Seite ist der Fall zu nennen, in dem es nicht um eine Gewinnmaximierung, sondern nur darum geht, die eigenen Waren einigermaßen profitabel gegen andere Waren zu tauschen. Zuletzt sei auch mit Blick auf den Maximalfall noch einmal zwischen zwei Varianten zu unterscheiden. Denn auf der einen Seite findet sich der Fall, in dem es um eine Akkumulation von Kapital geht, also darum, einen monetären Profit zu erwirtschaften, der in aller erster Linie dazu dienen soll, erneut in den Produktionsprozess investiert zu werden, um abermals Profit zu erwirtschaften. Und auf der anderen Seite gibt es den Fall, in dem der erwirtschaftete Überschuss für die eigene Konsumtion, etwa für Luxusgüter ausgegeben wird. Als Beispiel für den zuletzt genannten Fall führt Cohen einen selbständigen Warenproduzenten an, der es lediglich darauf absieht, sich selbst möglichst passabel über die Runden zu bringen, insofern also den eigenen Profit zwar maximieren will, aber den erwirtschafteten Überschuss selbst konsumiert. Folglich geht es hier nicht darum, Kapital zu akkumulieren, also einen Überschuss zu erwirtschaften, der vornehmlich dem Zweck dient, in der nachfolgenden Produktions- und Austauschrunde zu weiterem Profit verwandelt zu werden. Um die auf den zurückliegenden Seiten erläuterten Merkmale noch einmal zusammenzufassen: Während unter der materiellen Produktionsweise die Art und Weise zu verstehen ist, in der die Menschen die ihnen zur Verfügung stehenden Produktivkräfte in der Produktion verwenden, wobei sich die Merkmale Arbeitsteilung und Spezialisierung als kennzeichnend erwiesen haben, steht mit Blick auf

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die gesellschaftliche Produktionsweise die Frage im Mittelpunkt, welchem Zweck die Produktion dient. Und Cohen zufolge spricht Marx schließlich von den Produktionsweisen in der dritten Bedeutung schlicht dann, wenn er die materiellen und die gesellschaftlichen Aspekte der Produktionsform zugleich zum Ausdruck bringen möchte. Um zu testen, ob diese Analyse mit dem Anliegen von Marx übereinstimmt, müsste Cohen nun eigentlich danach fragen, ob diese Merkmale tatsächlich dazu dienen, die unterschiedlichen Epochen voneinander abzuheben, von denen Marx im Vorwort und an anderen Stellen spricht. Denn die Auflistung dieser Merkmale diente ja vor allem diesem Zweck. Leider stellt sich Cohen dieser Aufgabe jedoch nicht. Ein Stück weit erscheint mir diese Unterlassung in Anbetracht seiner mehr theoretisch-analytischen Interessen indes verständlich. Und da er sowohl hinsichtlich der materiellen als auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Produktionsweisen nach mehreren Merkmalen klassifiziert hat, ist ohnehin nicht zu erwarten, dass eine eineindeutige Zuordnung etwa zwischen den verschiedenen Zwecken der Produktion und den verschiedenen Epochen der Gesellschaftsformation gegeben ist. Denn vom rein logischen Standpunkt aus betrachtet, könnten mehrere Epochen hinsichtlich des Zwecks der Produktion übereinstimmen, aber gleichwohl bezüglich der materiellen Merkmale voneinander unterschieden sein. An diesem Punkt ist es aufschlussreich, noch einmal Cohens Beispiel von der Übereinstimmung der materiellen Produktionsweise einer US-amerikanischen, also kapitalistischen, und einer sowjetischen Großfarm in Erinnerung zu rufen. Zusätzliche Schwierigkeiten würden im Übrigen auch dadurch entstehen, dass Marx keineswegs in allen Zusammenhängen an denselben Epocheneinteilungen festhält. Einschlägig ist in dieser Hinsicht beispielsweise seine Theorie von den drei Entwicklungsstufen der kapitalistischen Produktion, die ein wichtige Rolle im zweiten Band des Kapital spielt.11 Und auch der Umstand, dass Marx wie etwa in der zuletzt zitierten Passage mal von Handmühlen und Dampfmühlen spricht, um feudale und kapitalistische Produktionsformen zu unterscheiden, dann aber in anderen Schriften zusätzlich auch Wind- und Wassermühlen erwähnt, wodurch er auf eine feingliedrigere Unterscheidung verschiedener Formen der Produktion verweist, deutet in diese Richtung.12 Denn auch dies macht deutlich, dass Marx

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von Fall zu Fall die zurückliegende Menschheitsgeschichte mal gröber und mal feiner in Epochen unterteilt. Gleichwohl glaube ich, dass wir durch die Diskussion der unterschiedlichen Merkmale mitderweile ein relativ klares Bild davon haben, was man sich unter einer Produktionsform bzw. einer Produktionsweise im Sinne von Marx vorzustellen hat. Zum einen wissen wir dank Cohen, wie man unterschiedliche Formen voneinander unterscheiden kann. Und zum anderen zeichnete sich bereits ab, inwiefern neue Produktivkräfte via veränderter Arbeitsteilung und daraus resultierender Spezialisierung zu neuen Produktionsweisen und damit, wie zu sehen sein wird, zugleich auch zu neuen Produktionsverhältnissen fuhren. Um diesen Zusammenhang genauer zu beleuchten, möchte ich mich jetzt dem Verkehr bzw. den Verkehrsformen zuwenden, die uns nicht nur einen entscheidenden Schlüssel zum Verständnis der Produktionsverhältnisse, sondern zugleich auch einen wichtigen Hinweis für die Einschätzung der theoretischen Ausrichtung des Denkens von Marx liefern werden.

3. Verkehr Zu den Begriffen des Verkehrs und der Verkehrs form findet man bei Cohen auffällig wenig, obwohl auch diese beiden Konzepte von Marx häufig verwendet werden, wenn er vom zweiten Kernelement des Historischen Materialismus handelt. Und Marx gibt sogar eine scheinbar ausdrückliche, dann aber ohne nähere Erläuterung doch wenig hilfreiche Auskunft darüber, was er mit dem Begriff des Verkehrs im Auge hat. In dem bereits mehrfach zitierten Brief führt er aus: Ich nehme das Wort commerce hier in dem weitesten Sinn, den es im Deutschen hat: Verkehr. — Zum Beispiel: Das Privileg, die Institution der Zünfte und Korporationen, die ganzen Reglementierungen des Mittelalters waren gesellschaftliche Beziehungen, die allein den erworbenen Produktivkräften und dem vorher bestehenden Gesellschaftszustand entsprachen, aus dem diese Institutionen hervorgegangen waren. (27, 453)

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Produktionsverhältnisse:

Die ökonomische

Basis

Was haben Privilegien, Institutionen, Zünfte oder irgendwelche Reglementierungen mit dem Begriff des Verkehrs zu tun? Wieder müssen wir offenbar eine Reihe von Betrachtungen anstellen, um ein Gespür dafür zu entwickeln, wovon Marx im Einzelnen spricht. Wie sich erst einmal die Konzepte der Verkehrs form und des Verkehrs zueinander verhalten, dürfte vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen leicht zu durchschauen sein. Im Laufe des historischen Prozesses ändert sich nach Maßgabe des Entwicklungsstands der Produktivkräfte der Verkehr, nimmt also verschiedene Formen, eben verschiedene Verkehrs formen oder — wie Marx auch sagen könnte — verschiedene Verkehrs formationen an. Von den Formen ist also wieder genau dann die Rede, wenn es gilt, verschiedene historische Stufen der Entwicklung (hier der Entwicklung des Verkehrs) zu unterscheiden. Und ich glaube, es bedarf kaum einer Erörterung der These, dass Marx auch in diesem Zusammenhang davon ausgeht, dass eine eineindeutige Entsprechung zwischen je einer Verkehrs- und je einer Produktions form besteht. Aber was hat man sich unter dem Verkehr in all seinen unterschiedlichen Formen vorzustellen? Um diese Frage zu beantworten, ist es meiner Einschätzung nach hilfreich, sich einige verwandte Konzepte — wie etwa Umgang und Umgangsform auf der einen Seite und Geschlechts-, Strassen- bzw. Briefverkehr auf der anderen - zu vergegenwärtigen. Dies öffnet nämlich den Blick dafür, dass Marx nicht nur den Güter- bzw. Warenverkehr, sondern nahezu jede Art des Umgangs der Menschen miteinander im Auge haben könnte, wenn er vom Verkehr bzw. der typischen Verkehrs form einer Gesellschaft spricht.13 In einer ersten Annäherung können wir daher festhalten, dass es in diesem Zusammenhang um Menschen geht, die miteinander Umgang haben bzw. miteinander verkehren. Und auf diese Feststellung möchte ich die Folgerung stützen, dass der Begriff des Verkehrs dazu dient, spezifische Verhaltensweisen bzw. konkrete Interaktionsformen zu umfassen.14 Wenn wir uns in Anbetracht dessen noch einmal die Dreiteilung Produktion, Austausch und Konsumtion ins Gedächtnis rufen, über die Marx in einer der zu Beginn des Kapitels zitierten Passagen schreibt, wird deutlich, dass der Verkehr in einer Hinsicht dem Mittelstück, also dem Austausch entspricht und somit solche Verhaltensweisen umfasst, die zwischen den beiden Polen der Produktion und der

Verkehr

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Konsumtion unter den Menschen zu beobachten sind. So gesehen, ist der Begriff des Verkehrs mit dem Konzept der Zirkulation vergleichbar, das Marx später in seiner ökonomischen Analyse des kapitalistischen Gesellschaftssystems entwickeln wird. Denn auch die Zirkulation findet zwischen den Polen der Produktion und der Konsumtion statt.15 Darüber hinaus wird vor diesem Hintergrund erkennbar, dass der Begriff des Verkehrs eine andere Akzentuierung erlaubt, als es die zuvor erläuterten Konzepte der Produktionsweise und Produktionsform ermöglichten. Während diese Konzepte gewissermaßen nominell die Aspekte des Austausche und der Konsumtion auszublenden schienen (wohingegen Cohens Analyse deutlich machte, inwiefern diese beiden Aspekte sehr wohl zu berücksichtigen sind), lässt der Verkehrsbegriff seinerseits die Produktion und Konsumtion in den Hintergrund treten. In einer anderen und — wie ich vermute — zugleich grundlegenderen Verwendung ist der Begriff des Verkehrs jedoch noch umfassender zu verstehen. Denn in dieser umfassenden Verwendung können auch die beiden Pole Produktion und Konsumtion, genauer die der Produktion und Konsumtion entsprechenden Verhaltensweisen der Menschen, unter den Begriff des Verkehrs gefasst werden. Die hierbei zu betrachtenden Aktionen der Gesellschaftsmitglieder sind ja ebenfalls zumeist interaktiver Natur, insofern sie mit einem Umgang verschiedener Menschen miteinander einhergehen.16 In den zurückliegenden Absätzen bin ich dazu übergegangen, mit Blick auf den Begriff des Verkehrs von Verhaltensweisen bzw. von Interaktionen zu sprechen. Dies scheint nun zum einen nicht ohne weiteres in das Bild zu passen, das Marx in der zu Beginn dieses Abschnitts zitierten Passage zeichnet. Denn dort spricht er ja nicht unmittelbar von handelnden Individuen, sondern von Privilegien, Institutionen und Korporationen. Zum anderen weisen genau diese Beispiele auf das Erfordernis einer entscheidenden Zuspitzung unseres bisherigen Standpunkts hin. Was den ersten Punkt, also die Transformation des Verkehrs in Verhaltensweisen anbelangt, finden sich zahllose Belege dafür, dass Marx in einer äußerst wichtigen Hinsicht durch und durch individualistisch und in einem ganz bestimmten Sinn des Wortes handlungstheoretisch denkt. Damit ist der im nachfolgenden Kapitel noch breiter auszuführende Umstand gemeint, dass Marx gesellschaftliche

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Produktionsverhältnisse:

Die ökonomische

Basis

Institutionen als Produkte bzw. Aggregate individueller Handlungen und nicht etwa als von diesen Handlungen unabhängige Phänomene begreift. Marx ist also entgegen einer weit verbreiteten Ansicht keineswegs Holist. Der individualistische Ausgangspunkt von Marxens Denken wird beispielsweise dann deutlich, wenn er schreibt: „Die soziale Geschichte der Menschen ist stets nur die Geschichte ihrer individuellen Entwicklung [...]." (4, 548f.) n Die Geschichte einer Gesellschaft, so kann man daraus folgern, ist also nicht anderes als die Summe der Geschichte ihrer einzelnen Mitglieder. Der handlungstheoretische Akzent in der Weltsicht von Marx wird hingegen deutlich, wenn es in der Deutschen Ideologie etwa heißt: „Da sie [...] als Individuen auf einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer Produktivkräfte und Bedürfnisse in Verkehr traten [...], so war es eben das persönliche, individuelle Verhalten der Individuen, ihr Verhalten als Individuen zueinander, das die bestehenden Verhältnisse schuf und täglich neu schafft." (3, 423) Die Verhältnisse sind Marx zufolge offensichtlich durch das individuelle Verhalten der Menschen geschaffen, die wechselseitig miteinander in Verkehr treten. In diesem speziellen Sinn kann man daher behaupten, dass individuelle Handlungen Marx zufolge die Atome sind, aus denen sich gesellschaftliche Verhältnisse und damit Gesellschaften überhaupt konstituieren. Und über diesen wichtigen Punkt wird in einem späteren Kapitel noch eigens zu reden sein. Doch nicht jedes partikulare Verhalten einer einzelnen Person schafft die von Marx intendierten Verhältnisse. Damit bin ich bei dem zweiten Punkt, der die Zuspitzung der bisherigen Auslegung des Verkehrsbegriffs betrifft. Dass Marx in seinem Brief anders als in der Deutschen Ideologie nicht von handelnden Individuen, sondern von Privilegien, Institutionen, Korporationen und Ähnlichem spricht, deutet nämlich darauf hin, dass er nicht jede Art des Umgangs der Menschen einer Gesellschaft miteinander im Auge hat, wie ich bisher behauptet habe. Vielmehr geht es dem Gesellschaftstheoretiker Marx in erster Linie um solche Verhaltensweisen, die für eine spezifische Gesellschaftsform typisch sind, insofern sie auffällig häufig zu beobachten sind. Metaphorisch gesprochen, geht es ihm also weniger um den konkreten Verkehr, der zwischen den Mitgliedern einer bestimmten Gesellschaft Tag für Tag zu beobachten ist, sondern vielmehr um die etablierten Bahnen, auf denen die Menschen im täglichen

Verkehr

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Umgang verkehren. Selbst wenn es irreführend klingen mag, geht es Marx nicht um den Verkehr schlechthin, insofern man darunter die Gesamtmenge der individuellen Handlungen der Leute verstehen könnte. Vielmehr gilt seine Aufmerksamkeit den Verkehrsregeln, die im Handeln der Menschen einer bestimmten Gesellschaft im Großen und Ganzen zu beobachten sind. Anders gesagt, gilt sein Blick den Regelmäßigkeiten, die die Gesamtheit der Handlungen der miteinander interagierenden Menschen zu erkennen geben und die man auch als die spezifischen Praktiken oder Institutionen einer Gesellschaft bezeichnen könnte. Oder noch einmal anders formuliert: es geht nicht so sehr darum, was die einzelnen Menschen einer Gesellschaft tun, sondern darum, welche Verhaltensweisen ihnen unter den gegebenen Bedingungen offen stehen, was sie in diesem Sinn des Wortes tun können. Auch auf diesen Sachverhalt werden wir an einem späteren Punkt unserer Überlegungen genauer eingehen. Die in den zurückliegenden Absätzen erläuterte Sicht der Dinge kommt vor allem durch solche Äußerungen von Marx zum Ausdruck, aus denen hervorgeht, wie er sich die Neuformation einer Gesellschaft, also die erste Zeit nach einer Phase des historischen Umbruchs vorstellt. In diesem Zusammenhang zeichnet er nämlich zumeist ein Bild, dem zufolge sich neue Verhaltensweisen anfangs erst durch zahlreiche Wiederholungen einpendeln müssen, bevor sich stabile Verhaltensbahnen etablieren können und somit von einer neuen Verkehrsform gesprochen werden kann.18 Und es sind eben weit eher diese sich wiederholenden Verhaltensweisen, die zur Etablierung neuer Regelmäßigkeiten beitragen, die für den Gesellschaftstheoretiker Marx von Belang sind, als solches Handeln, das den neuen Strukturen nicht entspricht. Dieser Sachverhalt zeigt sich etwa dann, wenn Marx im Kapital schreibt: Durch ständige Wiederholung bzw. Reproduktion spezifischer Verhaltensweisen stabilisieren sich also die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse und damit zugleich auch eine neue Form des Verkehrs, sprich eine neue Form des Umgangs der Menschen miteinander.

In Anbetracht dieser Beobachtung mag es vielleicht nahe liegend erscheinen, unter dem Verkehr die Verhaltensnormen bzw. die Konventionen zu verstehen, die dem Handeln der Menschen der betref-

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"Produktionsverhältnisse:

Die ökonomische

Basis

fenden Gesellschaft zugrunde liegen. Dem wäre ich durchaus bereit zuzustimmen, wenn Einigkeit darüber besteht, dass wir in diesem Zusammenhang von einem schwachen bzw. nominalistischen Begriff der Konvention bzw. von Normen in dem Sinn des Wortes reden, wie es etwa in der so genannten Spieltheorie gebräuchlich ist.19 Schwach nenne ich diese Begriffe der Konvention und der Norm, insofern sie nicht mit der metaphysisch heiklen Annahme einhergehen, Konventionen bzw. Normen seien Phänomene, die das Handeln der Menschen irgendwie an ihrem Bewusstsein, genauer an ihren Wünschen und Meinungen vorbei bestimmen oder gar den Handlungen ontologisch vorausgehen. Die beiden schwachen Begriffe sind vielmehr so zu verstehen, dass umgekehrt die Handlungen ontologisch grundlegend sind und die besagten Konventionen oder Normen im Kern nichts anderes sind, als die bereits angesprochenen Regelmäßigkeiten, die im Tun und Lassen der Mitglieder einer Gesellschaft zu beobachten sind. Genau genommen tut eine Person dieser Sicht der Dinge zufolge also nicht, was sie tut, weil sie durch irgendwelche Konventionen bzw. Normen dazu angehalten wird, sich so und nicht anders zu verhalten. Vielmehr ist von einem Bestehen dieser Konventionen und Normen lediglich insofern zu reden, als es hinreichend viele Menschen gibt, die das betreffende Tun auf Grund ihrer individuellen Wünsche und Meinungen an den Tag legen. Und genau darum geht es Marx in der hier vorgeschlagenen Auslegung, wenn er zwischen verschiedenen Formen des Verkehrs unterscheidet - nämlich um die verschiedenen Verhaltensmuster bzw. Praktiken, die für die jeweilige Gesellschaftsformation und damit für die jeweiligen Produktionsverhältnisse typisch sind. Vor diesem Hintergrund zeichnet sich ab, inwiefern der Begriff des Verkehrs dem Zweck dient, die mitderweile vertraute Grundintention von Marx und Engels über den Bereich des rein ökonomischen Aspekts des menschlichen Zusammenlebens hinaus zu verallgemeinern. Dem Stand der Produktivkräfte entspricht dieser Verallgemeinerung gemäß nicht nur die jeweilige materielle Produktionsweise, also die Art, in der die Menschen die ihnen zur Verfügung stehenden Produktivkräfte einsetzen (Arbeitsteilung, Spezialisierung), und die gesellschaftliche Produktionsform (also der Zweck, den die Menschen in ihrer Produktion verfolgen), sondern generell das Verhalten der Menschen untereinander bzw. deren Umgang miteinander.

Verkehr

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Neue Produktivkräfte fuhren in diesem Sinn eben nicht nur zu neuen Formen der Arbeitsteilung und zu veränderten Berufsbildern bzw. ökonomischen Rollen, sondern damit zusammenhängend auch zu neuen Umgangs formen, wenn man so will, zu einem neuen Verhaltensrepertoire bzw. zu einer neuen Kultur der betreffenden Gesellschaft.20 Dieser Gedanke kann als eine Weiterentwicklung der folgenden Überlegung aus der Deutschen Ideologie betrachtet werden. Denn schon dort weisen Marx und Engels auf einen engen Zusammenhang zwischen dem produzierenden Verhalten der Menschen und deren personaler bzw. kultureller Identität hin, die in den spezifischen Verhaltensweisen der Menschen zum Ausdruck kommt: Die Weise, in der die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, [...] ist nicht bloß nach der Seite hin zu betrachten, daß sie die Reproduktion der physischen Existenz der Individuen ist. Sie ist vielmehr schon eine bestimmte Art der Tätigkeit dieser Individuen, eine bestimmte Art, ihr Leben zu äußern, eine bestimmte Lebensweise derselben. Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren, als auch damit, wie sie produzieren. Was die Individuen also sind, das hängt ab von den materiellen Bedingungen ihrer Produktion. (3, 21)

Hier wird von einer Weise des Produzierens (sprich von einer Produktionsform) über das Handeln, zu dem auch die Interaktion der produzierenden Menschen (also ihr wechselseitiger Verkehr) gehört, auf eine spezifische Lebensweise und darüber hinaus sogar auf eine spezifische Identität der betreffenden Menschen geschlossen. Und damit schließt sich zum einen der Kreis, insofern erneut erkennbar wird, warum Marx sein Menschenbild in der Art und Weise ökonomistisch fundiert, wie wir es bereits erläutert haben. Die Menschen sind, was sie unter ihren jeweiligen ökonomischen Bedingungen geworden sind.21 Zum anderen zeigt sich ein weiteres Mal, dass sich Marx, wenn man das so sagen darf, selbst unter Wert verkauft, wenn er seine allgemeine Theorie der Kulturgeschichte gemeinhin in Ausdrücken und Wendungen präsentiert, die ihn lediglich als Vertreter einer bestimmten Technik-, Industrie- und Wirtschaftsgeschichte erscheinen lassen. Denn erneut tritt der Historische Materialismus als

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Produktionsverhältnisse:

Die ökonomische Basis

eine generelle Kulturgeschichte des Wirtschaftens zum Vorschein. Diesen Gedanken möchte ich in den beiden nachfolgenden Abschnitten weiterverfolgen, indem ich zeige, inwiefern das zentrale Konzept der Produktionsverhältnisse dazu dient, sowohl die ökonomischen als auch die übrigen gesellschaftlichen Rollen zu erfassen, die den Umgang bzw. den Verkehr der Menschen und damit nicht zuletzt auch ihre kulturelle Identität prägen.

4. Was sind Produktionsverhältnisse? Marx sagt weder in der Vorrede seiner Arbeit Zur Kritik der politischen Ökonomie noch in den anderen einschlägigen Zusammenhängen, dass dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte schlicht und einfach Produktionsverhältnisse entsprechen. Vielmehr ist seine Behauptung stets, dass diesem Entwicklungsstand die Gesamtheit der Produktionsverhältnisse einer Gesellschaft entspricht. Dabei bezeichnet er diese Gesamtheit zuweilen auch als ökonomische Struktur oder als reale Basis der betreffenden Gesellschaft. Diese Aussagen haben Cohen zu der Annahme gefuhrt, dass die ökonomische Struktur einer Gesellschaft die Gesamtheit, also die Summe der in dieser Gesellschaft zu konstatierenden Produktionsverhältnisse (production relations) ist. Diese Summe ist wiederum als eine Gesamtheit von Relationen im logischen bzw. semantischen Sinn aufgefasst, genauer als die Gesamtheit von Beziehungen zwischen zwei bestimmten Relata. Cohen definiert den Begriff des Produktionsverhältnisses nämlich als eine Besitzrelation, die entweder zwischen einer Person und einer Produktivkraft oder zwischen zwei Personen besteht.22 Was den ersten Punkt betrifft, also die Bündelung der gegebenen Produktionsverhältnisse zu einer Gesamtheit, finden sich in der Tat aussagekräftige Passagen in den Arbeiten von Marx, die dieses Bild stützen. So heißt es nicht nur in der Schrift Das Elend der Philosophie: „Die Produktionsverhältnisse jeder Gesellschaft bilden ein Ganzes." (4, 130). Vielmehr sagt Marx in der Arbeit Lohnarbeit und Kapital ausdrücklich:

Was sind

Produktionsverhältnisse?

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Die gesellschaftlichen Verhältnisse, worin die Individuen produzieren, die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse ändern sich also, verwandeln sich mit der Veränderung und Entwickelung der materiellen Produktionsmittel, der Produktionskräfte. Die Produktionsverhältnisse in ihrer

Gesamtheit bilden das, was man die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Gesellschaft nennt [...]. Die antike Gesellschaft, die feudale Gesellschaft, die bürgerli-

che Gesellschaft sind solche Gesamtheiten von Produktionsverhältnissen [...]. (6, 408*) Zu notieren ist hier schon am Rande, dass die Produktionsverhältnisse in ihrer Gesamtheit nicht wie im Vorwort als Basis einer Gesellschaft angesprochen werden, auf der sich der Überbau der Gesellschaft erhebt. Vielmehr werden die Produktionsverhältnisse mit der Gesellschaft identifiziert. Im einen Fall sind die Produktionsverhältnisse also die Basis und insofern nur ein Teil der Gesellschaft, woraus folgt, dass die Gesellschaft aus mehr als nur den Produktionsverhältnissen besteht. 23 Im anderen Fall erscheint es hingegen wenig sinnvoll, nicht nur von den Produktionsverhältnissen, sondern auch von irgendwelchen weiteren gesellschaftlichen Verhältnissen zu reden, weil die Produktionsverhältnisse schon die gesamte Gesellschaft, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse bilden. Diese Beobachtung verweist auf eine Zweideutigkeit des Gesellschaftsbegriffs von Marx, über die im weiteren Verlauf meiner Überlegungen noch zu sprechen sein wird. Cohen mag jedenfalls richtig damit liegen, dass Marx nicht einzelne Produktionsverhältnisse, sondern die Gesamtheit aller Produktionsverhältnisse einer Gesellschaft im Auge hat. Was jedoch den zweiten Punkt von Cohen anbelangt, also die Definition des Begriffs der Produktionsverhältnisses als einer zweistelligen Relation, denke ich, dass diese Sichtweise auf einem Missverständnis beruht. Dieses Missverständnis ist vermutlich durch die irreführende Übersetzung des Ausdrucks ,Produktionsverhältnis' durch die englische Wendung production relation' zu erklären. Marxens Verwendung des Ausdrucks ,Produktionsverhältnis' muss meiner Einschätzung nach nämlich dahin gehend gedeutet werden, dass er die Verhältnisse meint, unter denen die Menschen produzieren, also die Umstände bzw. Bedingungen, unter denen Menschen die ihnen zur Verfügung stehenden Produktivkräfte einsetzen. Genau in diesem Sinn sprechen Marx und Engels

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Produktionsverhältnisse:

Die ökonomische

Basis

schon in der Deutschen Ideologie zuweilen von den Produktionsverhältnissen einer Gesellschaft auch als deren Produktionsbedingungen — eine Redeweise, die sich durchgängig im Gesamtwerk der beiden Autoren belegen lässt.24 Und dies bringt ein Gebrauch der Vokabel ,Verhältnisse' zum Vorschein, wie er etwa in dem Satz ,Unter diesen Verhältnissen kann ich nicht arbeiten, weil ich mich bei diesem Lärm nicht konzentrieren kann' zum Ausdruck kommt. Hier sind mit den Verhältnissen die Umstände des Arbeitens (der Lärm) gemeint, und es ist kaum sinnvoll, die Verhältnisse in dieser Bedeutung des Wortes als eine zweistellige Relation (zwischen mir und dem Lärm?) zu begreifen.25 Zu einem weiteren Problem der Position von Cohen führt die folgende Beobachtung. Marx spricht im Vorwort von den Produktionsverhältnissen als vom Willen der Menschen unabhängige Verhältnisse, die diese Menschen eingehen, um die Dinge zu produzieren, die sie für die Sicherung ihres Lebensunterhalts brauchen. Und dieser Gedanke findet sich, wie zu Beginn dieses Kapitels gesehen, auch in seinem Brief aus dem Jahr 1846, in dem Marx herausstreicht, dass es den Menschen nicht frei steht, diese oder jene Gesellschaftsform zu wählen. Mit dieser Behauptung passt aber Cohens Liste von Besitzrelationen, die seiner Auffassung nach den Begriff des Produktionsverhältnisses zu definieren erlaubt, nicht bzw. nur teilweise zusammen: 1. . . ist Sklave von ... 2. . . ist der Besitzer des Sklaven ... 3. . . ist der Knecht von ... 4.. . ist der Herr von ... 5. . . ist gemietet von ... 6. . . mietet...

7. .. besitzt... 8. .. besitzt nicht/kein ... 9. .. leiht seine Arbeitskraft an ... 10. . muss arbeiten für ... 26

Zwar kann man durchaus sagen, dass es mir in einer Sklavenhaltergesellschaft nicht freisteht, ob ich der Sklave dieses oder jenes Herrn sein möchte, dass meine Beziehung zu meinem Herrn dem zufolge in der Tat ein von meinem Willen unabhängiges Verhältnis sei. Aber mit Blick auf die meisten anderen Einträge auf dieser Liste erscheint die Rede von einem unabhängig vom Willen der betreffenden Personen bestehenden Verhältnis nicht zutreffend. Ob ein Arbeitgeber diese oder jene Person anstellt oder ob sich ein Sklavenhalter Besitz über

Was sind

Produktionsverhältnisse?

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diesen statt über jenen Sklaven verschafft, hängt — zumindest Vinter günstigen .Marktverhältnissen' - in einem hohen Ausmaß sehr wohl vom Willen der beteiligten Personen ab. Richtiger, wichtiger und vermutlich auch mit Cohens Position verträglich ist hingegen die Beobachtung, dass es den Individuen einer Gesellschaft nicht (oder nur in Ausnahmesituationen) freisteht, solche ökonomischen Rollen einzunehmen, die in der gegebenen Gesellschaft noch nicht oder nicht mehr etabliert sind. Dies fuhrt uns zurück zum Konzept der Arbeitsteilung und den verschiedenen ,Berufsbildern', die mit der Teilung der Arbeit verknüpft sind. Ein Kapitalist kann sich theoretisch zwar zum Arbeiter, aber eben nicht zum Sklaven machen, da die Institution des Sklaventums bzw. die Rolle des Sklaven in einer Gesellschaft, in der es Kapitalisten gibt, nicht mehr zur Verfügung steht. Und das macht darauf aufmerksam, dass Marx gut daran tut, im besagten Brief zu schreiben, dass die Menschen unfrei bezüglich der GesellschaftsjivT« sind, in der sie leben. Gegeben eine bestimmte Form, mag es nämlich durchaus eine ganze Reihe von Freiheiten geben. Aber so gut wie niemandem von uns steht es frei, sich die Epoche, genauer die Struktur der Arbeitsteilung selbst zu wählen, in der er leben und wirtschaften möchte. Auch wenn Cohens relationale Auffassung von den Produktionsverhältnissen also aus den genannten Gründen in die falsche Richtung weist, liegt er meines Erachtens richtig, wenn er zusätzlich auch den Begriff des Besitzes als unterscheidendes Merkmal ins Spiel bringt, um verschiedene Ausformungen der Produktionsverhältnisse voneinander zu unterscheiden. 27 Dabei ist es jedoch zum einen wichtig, deutlicher als Cohen selbst es tut, darauf hinzuweisen, dass Marx ein recht umfassendes Konzept des Besitzes im Sinn hat. Dieser Punkt wird mit Blick auf Cohens Liste verständlich, die ja etwa auch Mietverhältnisse als Besitzverhältnisse ausweist. Und zum anderen geht aus dieser Liste hervor, dass sich verschiedene Ausformungen der Produktionsverhältnisse hinsichtlich des Besitzes nicht nur dadurch unterscheiden, welche Personen irgend etwas bzw. wie viel besitzen. Denn von großer Bedeutung ist auch die Frage, welche Arten von Besitz - wenn man so will - welche Besittformen es in den betreffenden Gesellschaften gibt. Für die antiken Produktionsverhältnisse etwa spielten Mietverhältnisse, wie wir sie heute kennen, kaum eine relevante Rolle. Und die Institution des Privatbesitzes ist

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'Produktionsverhältnisse:

Die ökonomische

Basis

nach Auskunft von Marx und Engels eine relativ junge, nämlich genuin bürgerliche Einrichtung, die erst durch einen bestimmten Entwicklungsstand der Produktivkräfte ermöglicht worden ist.28 Was also mit Blick auf das Konzept der Produktionsweise die Merkmale Spezialisierung Arbeitsteilung und Produktions^weck leisten, leistet im Fall des Begriffs der Produktionsverhältnisse neben dem Konzept der ökonomischen Rolle der Begriff des Besitzes. Antike, feudale oder bürgerliche Produktionsverhältnisse unterscheiden sich voneinander demnach nicht nur dadurch, dass die jeweiligen Gesellschaftsformen nach Maßgabe der sich aus dem Stand der Produktivkräfte ergebenden Formen der Arbeitsteilung und der Spezialisierung verschiedene Rollen beinhalten. Vielmehr sind auch die Fragen von Belang, welche Personenkreise welche Arten von Dingen besitzen und um was für eine Form des Besitzes es sich dabei handelt. In Anbetracht der sich dabei abzeichnenden Zusammenhänge zwischen den Produktionsformen und den Produktionsverhältnissen möchte ich im nachfolgenden Abschnitt auf die beiden neu hinzugetretenen Merkmale etwas genauer eingehen, um das Kapitel schließlich zu beenden, indem ich versuche, die einzelnen Teilergebnisse unserer Untersuchungen in ein zusammenhängendes Bild zu bringen.

5. Charaktermasken: Ökonomische Rolle und Besit^ Das Konzept der ökonomischen Rolle, das ich als einen Ersatz für Marxens metaphorische Rede von den Charaktermasken vorschlagen möchte (vgl. etwa 23, 91), und der Begriff des Besitzes liefern der hier vertretenen Lesart zufolge den Schlüssel für ein Verständnis des zweiten Kernelements des Historischen Materialismus. Denn diese Rollen und der Besitz stellen nicht nur die definierenden Merkmale der jeweiligen Produktionsverhältnisse dar, sondern bilden zugleich auch den harten Kern der Umgangs- und Verkehrs formen, die im dritten Abschnitt dieses Kapitels erläutert wurden. Was beispielsweise die kapitalistischen Produktionsverhältnisse von den vorkapitalistischen unterscheidet, ist vor allem der Umstand, dass es unter kapitalistischen Verhältnissen (und nur unter diesen Verhältnissen) die

Charaktermasken:

Ökonomische Rolle und Besitz

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ökonomischen Rollen des Kapitalisten und des Proletariers sowie die Institution des Privatbesitzes gibt. Und genau aus diesem Umstand leitet sich nicht zuletzt die marxistische Definition des Begriffs des Proletariats ab, der zufolge genau diejenigen Gesellschaftsmitglieder die Klasse des Proletariats bilden, die von jedwedem Besitz an den Produktionsmitteln ausgeschlossen sind, weswegen ihnen nichts anderes übrig bleibt, als ihre Arbeitskraft auf dem freien Warenmarkt zu verkaufen. 29 Die ökonomischen Rollen sowie der Besitz bilden nun insofern den besagten Kern der Verkehrsformen einer Gesellschaft, als sie nicht nur das ökonomische Handeln, sondern nahezu alle Verhaltensweisen begreiflich machen. Proletarier verhalten sich ja in vielerlei Hinsicht anders als Kapitalisten, Sklaven oder Knechte und zwar nicht nur untereinander, sondern auch den Mitgliedern der anderen Klassen ihrer Gesellschaft gegenüber. Und diese Verhaltenseigentümlichkeiten der Mitglieder verschiedener Klassen bzw. der Inhaber gemeinsamer ökonomischer Rollen sind nicht nur in ihren ökonomischen, sondern auch in ihren übrigen Lebensbereichen zu beobachten.30 An diesem Punkt ist noch einmal daran zu erinnern, dass der Gesellschaftstheoretiker Marx weniger einzelne Handlungen als für bestimmte Gesellschaften typische Verhaltensweisen und Verhaltensmuster im Auge hat. Und diese abstrahierende Form der Betrachtung wiederholt sich hier gewissermaßen auf einer höheren Stufe, insofern Marx die typischen Verhaltensweisen solcher Gruppierungen von Menschen innerhalb einer Gesellschaft in den Blick nimmt, die ihrerseits für diese Gesellschaft typisch sind. Welches Gesamtbild ergibt sich schließlich vor dem Hintergrund der Überlegungen dieses Kapitels? Wir starteten mit der Beobachtung, dass Marx dem Stand der Entwicklung der Produktivkräfte manchmal bestimmte Produktionsverhältnisse, manchmal verschiedene Verkehrsformen, zuweilen aber auch bestimmte Produktionsweisen bzw. Produktionsformen entsprechen lässt. Der Kerngedanke all dieser Behauptungen kommt komprimiert in der zitierten Passage aus dem Elend der Philosophie zum Ausdruck, der zufolge Handmühlen zu einer Gesellschaft mit Feudalherren, Dampfmühlen hingegen zu einer Gesellschaft mit Kapitalisten führen. Weniger komprimiert, führt dieser Kemgedanke hingegen zu einem ganzen Stück Geschichte bzw. zur marxistischen Methodologie der Geschichtsschreibung. 31

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Produktionsverhältnisse:

Die ökonomische

Basis

Als die Handmühle durch die Dampfmühle ersetzt wurde, die Produktivkräfte also ein neues Entwicklungsniveau erreicht hatten, zog dies eine neue materielle und soziale Produktionsweise nach sich. Was zum einen die materielle Seite dieser Neuerung anbelangt, legten die neuen Produktivkräfte in erster Linie eine Veränderung des Produktionsablaufs nahe. Dies führte zu einer Umverteilung der Arbeit sowohl im engeren Sinn mit Blick auf die Frage, welche Personen welche Teile des Produktionsablaufs übernehmen; als auch im weiteren Sinn, insofern sich durch die neuen Produktivkräfte eine neue Einteilung der Gesellschaft in solche Menschen entwickelte, die an diesem Produktionsablauf unmittelbar beteiligt sind, und solche, die das nicht bzw. nur indirekt tun. Und mit anderen Worten heißt dies nichts anderes, als dass sich im Zuge neuer Produktivkräfte neue ökonomische Rollen und neue Besitzverhältnisse in der Gesellschaft durchsetzen, was sich auch dahin gehend formulieren lässt, dass sich die Produktionsverhältnisse insgesamt ändern. Was zum anderen den gesellschaftlichen Aspekt dieser Neuerung der Produktionsweise anbelangt, erlaubte es die neue Technologie zugleich auch den Zweck der Produktion zu verändern. Jetzt ging es nicht mehr darum, nur den eigenen Bedarf an Mehl sicherzustellen, sondern mehr und mehr darum, die Produktion zu steigern, um das Mehl möglichst Profit bringend auf einem Warenmarkt zu verkaufen. Aus dem Gebrauchsgut Mehl wurde damit ein Tauschwert, sprich eine Ware, also ein Produkt, das mit dem Ziel hergestellt wurde, auf einem Warenmarkt gewinnbringend verkauft zu werden. Und damit schlägt sich der neue Entwicklungsstand der Produktivkräfte nicht nur in der materiellen und sozialen Produktionsweise, sondern ebenfalls in den neuen Besitz Verhältnis sen nieder. Denn jetzt gibt es keine Feudalherren mehr, die Knechte und Mägde für sich arbeiten lassen, sondern wenige Kapitalisten, die sich nicht nur die teuren Dampfmühlen leisten, sondern auch viele Proletarier bezahlen können, die nun auf einem Arbeitsmarkt miteinander verkehren. Technologische Innovationen haben also weit reichende ökonomische, soziale, aber nicht zuletzt auch kulturelle Veränderungen zufolge. Denn diese Veränderung der Produktionsweise zog natürlich auch Veränderungen der Umgangsformen unter den Menschen nach sich, sowohl im engeren Sinn was ihr ökonomisches Rollenverhalten als auch im umfassenden Sinn was ihr übriges Sozialverhalten anbe-

Charaktermasken:

Ökonomische

Kolle und Besitζ

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langt. Um eine Dampfmühle in Betrieb zu halten, ist es beispielsweise notwendig, die Arbeitskraft vieler Menschen miteinander zu koordinieren, wohingegen die Menschen zuvor ihre Handmühlen mehr oder weniger unabhängig voneinander bedienen konnten. Es ändert sich folglich das Verhaltensrepertoire - und dies nicht nur hinsichtlich der produktiven, austauschenden und konsumierenden Tätigkeiten, sondern in jeder nur erdenklichen Hinsicht. Man denke in diesem Zusammenhang beispielsweise an den Einfluss des Arbeitstages in der Fabrik auf das familiäre und das übrige häusliche Leben. Die Tragweite dieser Verallgemeinerung wird vielleicht noch deutlicher, wenn man den Umstand bedenkt, dass die Koordination, die eine geordnete Produktion unter kapitalistischen Bedingungen erforderlich macht, notwendigerweise mit einem zuvor ungekannten Ausmaß an Disziplinierung der arbeitenden Bevölkerung einhergeht. Und eine derartige Disziplinierung hat freilich ebenfalls einen enormen Einfluss auf weite Teile des Lebens dieser Menschen. Man denke beispielsweise noch einmal an das Familienleben, das ja unmittelbar davon geprägt ist, in welcher Art und Weise die Produktion vonstatten geht. Denn damit geht nicht zuletzt auch die Frage einher, welche Teile der Familie es sind, die an der Produktion auf die eine oder andere Weise beteiligt sind. Aus diesen Gründen änderte sich mit der Dampfmühle eben nicht nur der Bestand an ökonomischen Rollen, die Besitzverhältnisse und damit das ökonomische Verhalten der Menschen, sondern der Umgang der Menschen miteinander generell,\ also die gesamte Verkehrsform und damit über kurz oder lang auch die Identität der involvierten Personen. Nun ist es vielleicht nicht unwichtig, erneut zu betonen, dass man diese Zusammenfassung des erläuterten Transformationsprozesses nicht dahin gehend deuten sollte, als ob es sich hierbei in dem Sinn um sukzessive Veränderungen handelte, dass der neue Entwicklungsstand der Produktivkräfte zuerst die Produktionsform ändert, was eine Änderung der Verkehrsform nach sich zieht, die ihrerseits zu einer Veränderung der Produktionsverhältnisse führt. Marxens Intention zufolge ist hier nicht von einer Reihe mehrerer Veränderungen die Rede, sondern nur von einem einigen gewaltigen Veränderungsprozess, der vielfältige Aspekte hat: Technologischer Wandel der Produktivkräfte führt diesem Standpunkt gemäß zu veränderten gesellschaftlichen Gegebenheiten. Und diese Gegebenheiten werden von

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Marx und Engels mal unter die den Austausch und die Konsumtion abblendenden Begriffe der Produktions form (Produktionsweise), mal unter das mehr den Austausch betonende Konzept des Verkehrs gefasst, aber oft auch durch den offiziellen Terminus Produktionsverhältnisse' bezeichnet. Und dies unterstreicht noch einmal die Behauptung, die ich bereits zu Beginn dieses Kapitels formuliert habe, dass all diese Konzepte zu alternativen Beschreibungen eines und desselben Phänomenbereichs führen. Ein zusätzliches Argument für diese Lesart, die nicht zuletzt die Einheitlichkeit des Historischen Materialismus wahrt, indem sie ein Auseinanderfallen des zweiten Kernelements in verschiedene Dimensionen vermeidet, könnte im Übrigen aus der Tatsache entwickelt werden, dass Marx scheinbar so verschiedene Dinge wie Produktionsweisen, Verkehrs formen oder Produktionsbedingungen eine gemeinsame Eigenschaft zuspricht. Diese gemeinsame Eigenschaft besteht bezeichnenderweise darin, im historischen Prozess mit den Produktivkräften in Konflikt zu geraten bzw. zu Fesseln der Produktivkräfte zu werden, wenn diese Kräfte ein hinlänglich hohes Entwicklungsniveau erreicht haben. 32 In Anbetracht dessen ist es zwar zugegebenermaßen nicht zwingend, aber gleichwohl äußerst nahe liegend, von einer Identität dieser Eigenschaft auf eine Identität der Träger dieser Eigenschaften zu schließen. Und vor diesem Hintergrund ist deutlich, dass das Hinzutreten der Konzepte der Produktions- und der Verkehrs form nicht dazu nötigt, die schlichte Dreigliederung des Historischen Materialismus in Abrede zu stellen. Zuletzt sei kurz darauf hingewiesen, dass Marx wie im Fall der Produktionsformen und der Produktivkräfte auch mit Blick auf die Produktionsverhältnisse sowohl von gesellschaftlichen als auch von materiellen Produktionsverhältnissen spricht. Und im Zurückliegenden war natürlich ausschließlich von den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen die Rede. Was hat es aber mit den materiellen Produktionsverhältnissen auf sich? Hinsichtlich dieser Frage ist Cohens Untersuchung noch einmal aufschlussreich, insofern sie uns an Marxens Neigung erinnert, einerseits die Prädikate ,materielT, und .natürlich' und andererseits die Prädikate .gesellschaftlich' und .ökonomisch' als gleichbedeutende Ausdrücke zu verwenden. Vor diesem Hintergrund erscheinen die materiellen Produktionsverhältnisse, die Marx in aller Regel entweder nur am Rande erwähnt, oft aber auch

Rückblick

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gar nicht eigens thematisiert, als die natürlichen Umstände, unter denen die Menschen auf einer bestimmten historischen Stufe der Entwicklung ihrer Produktivkräfte wirtschaften. Und Umstände dieser Art sind meiner Einschätzung nach etwa die spezifischen geografischen Gegebenheiten oder auch die physikalischen Gesetzmäßigkeiten, die für irgendwelche Produktionsvorgänge relevant sind. Dass Eisenerz etwa auf eine bestimmte Temperatur erhitzt werden muss, um zum Schmelzen gebracht zu werden, ist beispielsweise ein Bestandteil der materiellen Produktionsverhältnisse, also ein Umstand, unter dem etwa die Stahlproduktion vonstatten geht. Und zu den materiellen Verhältnissen gehören neben den physikalischen Gesetzmäßigkeiten und den geografischen Voraussetzungen nicht zuletzt auch die Witterungsverhältnisse und andere natürlichen Bedingungen, die von Gesellschaft zu Gesellschaft und über die Zeit hinweg variieren können. Das Klima, um noch einmal ein Beispiel vom Ende des zurückliegenden Kapitels aufzugreifen, erweist sich vor diesem Hintergrund also als ein Bestandteil der materiellen Produktionsverhältnisse. Daher kann das Klima an diesem Punkt unserer Überlegungen wie schon die Arbeitsteilung an einer früheren Stelle dieses Kapitels schließlich von der Liste eventueller Produktivkräfte gestrichen werden. Und damit zeigt sich, dass eine Untersuchung des Begriffs der Produktionsverhältnisse wie erhofft dabei hilft, den Umfang des Begriffs der Produktivkräfte zu begrenzen.

6. Rückblick Zum Schluss ist es ratsam, noch einmal die im fünften Abschnitt dieses Kapitels berührte Zweideutigkeit des Gesellschaftsbegriffs von Marx in Erinnerung zu rufen. Wir konnten sehen, dass Marx mal einen umfassenden (quasi soziologischen) Begriff der Gesellschaft im Sinn hat, der nicht nur die rein ökonomischen, sondern auch andere soziale Aspekte einer Gesellschaft umfasst. Manchmal verwendet er jedoch einen engeren Begriff, dem zufolge eine Gesellschaft ausschließlich aus ihren ökonomischen Aspekten besteht. Dieser enge Begriff ist zumeist dann im Spiel, wenn er seine Theorie durch das

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Die ökonomische

Basis

Konzept der Produktionsform bzw. Produktionsweise präsentiert. Der umfassendere Gesellschaftsbegriff ist hingegen in aller Regel dann gemeint, wenn Marx seine Theorie durch die Konzepte der Verkehrsform bzw. der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse zum Ausdruck bringt. In solchen Zusammenhängen dehnt er gewissermaßen seine Gesellschaftsanalyse aus, indem er seine Theorie in weitere Einzelheiten entfaltet und damit den Blickwinkel über den rein ökonomischen Bereich des menschlichen Zusammenlebens hinaus erweitert. Und nur aus dieser Perspektive betrachtet ist es richtig, von so etwas wie einer ökonomischen Basis einer Gesellschaft zu sprechen, was ja voraussetzt, dass es neben dieser Basis auch andere wichtige Aspekte der Gesellschaft gibt. Im anderen Sinn ist es indes folgerichtig, die Produktionsverhältnisse als gesellschaftliche Verhältnisse schlechthin zu bezeichnen, die in ihrer Gesamtheit mit der betreffenden Gesellschaft identisch sind. Dass es diese beiden Lesarten bzw. die komprimierte sowie die expandierte Version der Theorie von Marx gibt, sollte meines Erachtens jedoch nicht dahin gehend missverstanden werden, als ob sie zwei gleichwertige Sichtweisen zum Ausdruck bringen. Wenn wir uns noch einmal an die ökonomische Fundierung des Menschenbilds von Marx erinnern, dann wird nämlich erkennbar, inwiefern die komprimierte Form den Kerngedanken seiner Theorie vor Augen führt, wohingegen die expandierte Form eher im Modus einer Erläuterung bzw. einer Demonstration dieser Theorie zu deuten ist. Ökonomische Reaktionen auf technologischen Wandel bestimmen den Lauf der Dinge, sagt uns dieser Kerngedanke. Über die ökonomischen Verhältnisse hinausreichende soziale Phänomene bilden hingegen einen Bereich, der wie eine Aura diese ökonomischen Reaktionen ummantelt. Vor diesem Hintergrund ist noch einmal zu erkennen, was wir gegen Ende des zurückliegenden Kapitels bereits zum ersten Mal sahen. Der Historische Materialismus ist bei näherer Betrachtung eine umfassendere und vielschichtigere Weltsicht, als Marx es sich selbst in seinen mehr programmatischen Äußerungen zuzugestehen scheint. Wie im zurückliegenden Kapitel im Fall des ersten Elements des Historischen Materialismus eine eigentümliche Ambiguität der Rede von den Produktivkräften bzw. der Produktivkraft der Arbeit festzustellen war, insofern Marx zwischen den Produktionsmitteln, den

Rückblick

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Rohstoffen sowie der konkreten Arbeitskraft und dem formellen Kon2ept der Produktivkraft der Arbeit schwankt, ist jedenfalls auch mit Blick auf das zweite Element des Historischen Materialismus eine gewisse Zweideutigkeit zu verzeichnen. Produktionsverhältnisse sind bei Marx mal diejenigen Bedingungen, unter denen die Produktion vonstatten geht. Zuweilen ist mit dem Begriff aber auch all das erfasst, was unter den Bedingungen der ersten Art statthat, also das gesamte gesellschaftliche Leben der Mitglieder einer Gesellschaft. Und wie sich im nachfolgenden Kapitel zeigen wird, ist auch das dritte Element dieser Theorie nicht ganz frei von gewissen Mehrdeutigkeiten.

4. Der Überbau: Institutionen und Β ewus stseins formen Es liegt auf der Hand, welche Frage im Mittelpunkt dieses Kapitels steht. Was hat es mit dem Überbau auf sich, der dem Historischen Materialismus gemäß den jeweils gegebenen Produktionsverhältnissen entspricht, die ihrerseits dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte entsprechen? Bevor ich versuche, diese Frage zu beantworten, möchte ich zum einen vorweg betonen, dass auf den folgenden Seiten eine Lesart vom dritten Element des Historischen Materialismus entwickelt wird, die sich nicht gerade zwingend aus den Schriften von Marx ergibt. Dies ist der Fall, weil der Terminus .Überbau' in der marxistischen Tradition zwar zu einiger Beliebtheit gelangte, aber von Marx und Engels nur äußerst selten gebraucht worden ist. Daher ist man als Interpret von Marx an diesem Punkt der Betrachtungen weit mehr als in den zurückliegenden Zusammenhängen darauf angewiesen, relativ frei über das Material zu verfügen, das Marx anbietet. Etwas genauer gesagt, werde ich im Folgenden zwei verschiedene Auffassungen vom dritten Element der Theorie von Marx vor Augen führen und anschließend einen Vorschlag unterbreiten, wie man sich den Zusammenhang zwischen diesen beiden Auffassungen vorstellen kann. Zum anderen sollten wir uns vorab noch einmal die Grundintention von Marx und Engels vor Augen führen. Denn dieses gegen das idealistische Denken gerichtete Anliegen macht deutlich, inwieweit alle bisherigen Erörterungen bis zu einem bestimmten Grad nur ein Vorspiel waren. Erst mit der Frage dieses Kapitels wenden wir uns nämlich dem zentralen Explanandum des Historischen Materialismus zu, insofern genau hier der Ausgangspunkt des Unterfangens von Marx und Engels liegt: bestimmte Sachverhalte, die die Idealisten und auch noch die Links- bzw. Junghegelianer ideengeschichtlich bzw. ,vernunftmythologisch' erklären wollten, müssen Marx und Engels

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Der Überbau:

Institutionen

und

Bewusstseinsformen

zufolge aus der materiellen Praxis bzw. aus den materiellen Lebensbedingungen oder - wie es an anderer Stelle auch heißt - aus den sozialen Existenzbedingungen der Menschen erklärt werden. Es folgen einige Zitate, die diesen Ausgangspunkt erneut unterstreichen und zugleich das augenscheinlich recht umfangreiche Material zusammentragen, dessen Klärung dieses Kapitel gewidmet ist. Zuerst noch einmal zwei Passagen aus der Deutschen Ideologie·. Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigen Produktion, wie sie in der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion, der Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß. (3, 26*) Nur wenige Seiten später heißt es: Diese Geschichtsauffassung beruht also darauf, den wirklichen Produktionsprozeß, und zwar von der materiellen Produktion des unmittelbaren Lebens ausgehend, zu entwickeln und die mit dieser Produktionsweise zusammenhängende und von ihr erzeugte Verkehrsform, also die bürgerliche Gesellschaft in ihren verschiedenen Stufen, als Grundlage der ganzen Geschichte aufzufassen und sie sowohl in ihrer Aktion als Staat darzustellen, wie die sämtlichen verschiedenen theoretischen Erzeugnisse und Formen des Bewußtseins, Religion, Philosophie, Moral etc. etc., aus ihr zu erklären [...]. (3, 37f.*) Im Manifest der kommunistischen

Partei ist zu lesen:

Aber streitet nicht mit uns [Kommunisten], indem ihr [Bourgeois] an euren bürgerlichen Vorstellungen von Freiheit, Bildung Recht usw. die Abschaffung

Der Überbau:

Institutionen

und Bewusstseinsformen

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des bürgerlichen Eigentums meßt. Eure Ideen selbst sind Erzeugnisse der bürgerlichen Produktions- und Eigentumsverhältnisse, wie euer Recht nur

der %um Geset% erhobene Wille eurer Klasse ist, ein Wille, dessen Inhalt gegeben ist in den materiellen Lebensbedingungen eurer Klasse. (4, 477*)

In einer Verteidigungsrede, die Marx in der Rheinischen Zeitung veröffentlichte, schreibt er: Die Gesellschaft beruht aber nicht auf dem Gesetze. Es ist das eine juristische Einbildung. Das Gesetz muß vielmehr auf der Gesellschaft beruhn, es muß Ausdruck ihrer gemeinschaftlichen, aus der jedesmaligen materiellen Produktionsweise hervorgehenden Interessen und Bedürfnisse gegen die Willkür des einzelnen Individuums sein. (6, 245*)

Und das Vorwort der Studie Zur Kritik der politischen Ökonomie besagt unter anderem: In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den ju-

ristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kur% ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn aus fechten. (13, 9*)

Die Liste dessen, was diesen Passagen zufolge in einer Abhängigkeit von den Produktionsverhältnissen einer Gesellschaft steht und insofern dem dritten Element des Historischen Materialismus zuzuschlagen ist, erscheint ziemlich umfassend und buntscheckig. Dies hat einige Interpreten von Marx und Engels zu der Ansicht geführt, dass mit dem Konzept des Überbaus eine nur negativ zu bestimmende Residualkategorie gedacht sei. Anders formuliert, bildet der so genannte Überbau dieser Sichtweise gemäß eine nicht näher bestimmbare Kategorie, der alle verbleibenden gesellschaftstheoretisch relevanten Phänomene zuzuordnen sind, die weder zu den Produktivkräften noch zu den Produktionsverhältnissen gehören. 1 Diese Sichtweise führt freilich zu einem sehr umfangreichen, aber zugleich extrem konturlosen Begriff des Überbaus. Dem entgegen erweckt die Liste, die aus den angeführten Passagen ermittelt werden kann, aber doch auch den Eindruck, auf eine

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Der Überbau:

Institutionen

und

Bewusstseinsformen

recht schlichte Grundidee zurückführbar zu sein. So ist zwar von Ideen, Vorstellungen und vom Bewusstsein·, vom Vorstellen, Denken und von geistigem Verkehr, des Weiteren von der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral und der Metaphysik, außerdem von Interessen und Bedürfnissen', und nicht zuletzt auch von theoretischen Erzeugnissen und Formen des Bewusstseins die Rede. Doch alle Einträge in dieser Liste bündelt Marx im Vorwort in eine übergeordnete Kategorie, wenn er seine antiidealistische Grundintention auf die fast schon zum Sprichwort gewordene Kurzform bringt: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt." (13, 9) Das Konzept des Bewusstseins rückt hierbei klar und deutlich in den Vordergrund. Wenn Marx schreibt, das Bewusstsein sei durch das gesellschaftliche Sein bestimmt, muss man jedoch unbedingt im Auge behalten, dass er in diesem Zusammenhang mit übergeordneten Kategorien bzw. mit sehr abstrakten Begriffen operiert. Denn es liegt auf der Hand, dass das gesellschaftliche Sein, von dem er spricht, als eine Art Platzhalter für eine ganze Menge von Phänomenen steht, die in den beiden zurückliegenden Kapiteln zur Sprache gekommen sind. Und dass Marx und Engels auch vom Bewusstsein als einer derart übergeordneten bzw. zusammenfassenden Kategorie sprechen, zeigt sich etwa, wenn es im Manifest heißt: „Bedarf es tiefer Einsicht, um zu begreifen, daß mit den Lebensverhältnissen der Menschen, mit ihren gesellschaftlichen Beziehungen, mit ihrem gesellschaftlichen Dasein, auch ihre Vorstellungen, Anschauungen und Begriffe, mit einem Worte auch ihr Bewußtsein sich ändert?" (4,480*) Vorstellungen, Anschauungen und Begriffe werden hier offenbar unter den allgemeineren Begriff des Bewusstseins zusammengefasst. Darüber hinaus verwendet Marx mit Blick auf das dritte Kernelement des Historischen Materialismus jedoch häufig auch Begriffe, von denen nicht ohne weiteres klar ist, inwiefern sie durch das Konzept des Bewusstseins abgedeckt werden können. Das Recht bzw. Gesetz und der Staat, in den Augen vieler Interpreten von Marx die grundlegenden Bestandteile des Überbaus, sind die besten Beispiele hierfür. In Anbetracht dessen möchte ich in diesem Kapitel zwischen einer, wie man sagen könnte, mental-kognitivistischen Auslegung des dritten Kernelements des Historischen Materialismus, die sich auf das Konzept des Bewusstseins stützt, und einer institutionalistischen Ausle-

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Bewusstseinsformen

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gung unterscheiden, die um den Begriff juristischer und politischer Institutionen kreist. Ich beginne in den nachfolgenden beiden Abschnitten mit der ersten Lesart, wende mich daraufhin der institutionalistischen Auslegung zu, um dann durch einen Exkurs in die Philosophie der Sozialwissenschaften zum Abschluss des Kapitels der Frage nachzugehen, inwieweit die zweite auf die erste Lesart zurückgeführt werden kann. Das Ziel ist hierbei natürlich, eine möglichst einheitliche Auslegung des dritten .Bausteins' des Historischen Materialismus zu entwickeln.

/. Bewusstsein und Bewusstseinsformen Wenn Marx nicht pauschalisierend vom Bewusstsein schlechthin spricht, dann redet er mit Blick auf das dritte Element seiner Theorie entweder wie an der Stelle, die zuletzt zitiert wurde, von Vorstellungen, Anschauungen, Begriffen oder aber von Ideen bzw. theoretischen Erzeugnissen. Zumindest im ersten Fall hat er Phänomene im Sinn, die man vielleicht am besten durch die in der analytischen Philosophie heutzutage gebräuchliche Rede von den mentalen (bzw. intentionalen oder auch propositionalen) Einstellungen einfangen kann. Und in einer großzügigen Verwendung des Wortes, wie sie nicht nur in der modernen Erkenntnistheorie und in der Philosophie der Psychologie, sondern auch in der philosophischen Handlungstheorie gebräuchlich geworden ist, kann man all diese Einstellungen auch als Meinungen bzw. Uberzeugungen bezeichnen.2 Denn in all diesen Fällen geht es in der einen oder anderen Weise darum, was die Menschen einer Gesellschaft für wahr bzw. falsch halten. Diese Meinungen (bzw. Überzeugungen oder Ansichten) der Mitglieder einer Gesellschaft gehören also der hier vorgeschlagenen Lesart zufolge zum Bereich des Überbaus. Wenn Marx hingegen von theoretischen Erzeugnissen des Bewusstseins, der Religion, Philosophie, Moral etc. spricht, erweckt er oft den Eindruck, als ob er nicht so sehr einzelne Meinungen, sondern ganze Meinungssysteme, sprich Theorien, also systematisch miteinander in Beziehung stehende Lehrmeinungen im Blick hat. Da aber

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Der Überbau:

Institutionen

und

Bewusstseinsformen

Theorien - zumindest im hier relevanten Sinn des Wortes - als systematische Bündelungen von einzelnen Meinungen zu verstehen sind, werde ich mich in meinen weiteren Überlegungen der Übersichtlichkeit halber auf einzelne Meinungen bzw. Überzeugungen konzentrieren. Besser gesagt, werde ich den Unterschied zwischen Einzelmeinungen und Überzeugungssystemen unter den Tisch fallen lassen. In anderen Zusammenhängen redet Marx, wie die eingangs zitierten Passagen belegen, häufig auch von Bedürfnissen und Interessen bzw. auch vom Willen bestimmter Personen oder Gruppen von Personen, wenn er veranschaulichen möchte, inwiefern das Bewusstsein vom gesellschaftlichen Sein bedingt ist. Hierbei haben wir es mit Begriffen zu tun, die uns auch heute noch sowohl in alltäglichen als auch in philosophischen sowie psychologischen Kontexten geläufig sind. Das durch das Sein bestimmte Bewusstsein umfasst jedenfalls nicht nur kognitive bzw. epistemische Einstellungen, also nicht nur Meinungen bzw. Überzeugungen, sondern auch konative Einstellungen, sprich die Bedürfnisse, die Wünsche und Interessen der betreffenden Gesellschaftsmitglieder. Wichtig ist folglich mit Blick auf das dritte Element des Historischen Materialismus nicht nur, was die Menschen für wahr halten, sondern auch das, was sie wollen. Neben den kognitiven und konativen Einstellungen kommt Marx ab und an auch auf Affekte, Gefühle, Leidenschaften und andere mentale Phänomene zu sprechen, von denen nicht leicht zu sagen ist, ob sie neben den Meinungen und den Wünschen einen unabhängigen Phänomenbereich bilden. Im Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte aus dem Jahr 1852 heißt es beispielsweise, dass sich auf den sozialen Existenzbedingungen einer Gesellschaft ein „ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen" erhebt. (8, 139) Diese zusätzlichen Aspekte des psychischen Lebens der Menschen könnten zum einen vielleicht durch entsprechend weit gefasste Begriffe der Meinung und des Wunsches abgedeckt werden. Zum anderen wird im weiteren Verlauf dieses Kapitels noch deutlich werden, inwiefern die Kategorien der Meinung und des Wunsches (in einer hinlänglich großzügigen Verwendung dieser Begriffe) der von mir vertretenen Auslegung des Überbaus zufolge ausreichen, dem hauptsächlichen Anliegen von Marx gerecht zu werden. Dieses Anliegen besteht der hier vertretenen Auffassung zufolge nämlich darin, durch den Über-

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und

Bewusstseinsformen

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bau, sprich durch die Wünsche und Meinungen der Menschen ihr Tun und Lassen zu erklären. Daher werde ich mich in meinen weiteren Ausführungen mit den zuletzt genannten Phänomenen (Affekte, Gefühle, Leidenschaften etc.) nur am Rande beschäftigen. Neben der Rede vom Bewusstsein kommt bei Marx häufig auch eine andere Wendung ins Spiel, nämlich dann, wenn er nicht vom Bewusstsein der Menschen schlechthin, sondern von Bewusstseinsformen spricht. Dieses Konzept der Bewusstseinsform lädt aus einem uns bereits vertrauten Grund zu einem Missverständnis ein. Denn es könnte die falsche Ansicht vermitteln, ihm läge eine Gegenüberstellung der Form des Bewusstseins und dessen Inhalts zugrunde. Dadurch würde sich die fehlgeleitete Folgerung aufdrängen, dass der Historische Materialismus nicht darauf aus sei, die konkreten Inhalte des Bewusstseins der Menschen zu erklären. Denn wenn diese Theorie nicht die Inhalte, sondern die Formen des Bewusstseins zum Gegenstand hätte, dann könnte mit ihrer Hilfe nicht erklärt werden, was die Menschen für wahr halten und was sie wollen, sondern nur die jeweilige Form, in der das Fürwahrhalten und das Wollen der Menschen statthat. Aber wie bereits zum Ausdruck gekommen ist, entspräche dies einem falschen Bild. Dies wird deutlich, wenn wir uns noch einmal an die Klärung der Konzepte der Produktions- bzw. der Verkehrsform im zurückliegenden Kapitel erinnern. Wenn Marx nämlich von einer bestimmten Bewusstseinsform, etwa der juristischen, spricht, dann liegt deren Bestimmtheit gerade in ihrer inhaltlichen Thematik begründet. Einfacher gesagt, bilden religiöse Ideen, religiöse Vorstellungen, religiöse Überzeugungen und Theorien etc. genau eine Bewusstseinsform, nämlich die religiöse Bewusstseinsform. Moralische Ideen, Überzeugungen, Theorien, Lehrmeinungen, Interessen etc. bilden eine weitere Bewusstseinsform, nämlich die moralische Bewusstseinsform usw. Um es etwas paradox zu formulieren: die verschiedenen Formen des Bewusstseins können durch ihre jeweiligen Inhalte bzw. durch die Thematik dieser Inhalte individuiert werden. Marx spricht jedenfalls von einer Form des Bewusstseins nicht dann, wenn er einen Gegensatz zum Inhalt dieser Bewusstseinsform kenntlich machen möchte. Vielmehr geht es ihm darum, die unterschiedlichen Formen samt deren Inhalten voneinander abzugrenzen.

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Der Überbau: Institutionen und Bewusstseinsformen

Vor diesem Hintergrund könnte man Marx des Weiteren dahin gehend missverstehen, dass der Historische Materialismus lediglich Erklärungen dafür liefern soll, weswegen die Menschen einer gegebenen Gesellschaft beispielsweise in religiösen oder in moralischen Kategorien denken, warum sich also in dieser Gesellschaft religiöse und moralische Bewusstseinsformen aufweisen lassen. Der marxistische Erklärungsanspruch reicht meines Erachtens indes viel weiter. Denn durch diese Theorie soll vor allem erklärt werden, warum bestimmte Menschen gan2 bestimmten Uberzeugungen anhängen, ganz bestimmte Interessen vertreten bzw. spezifische Bedürfnisse haben, und zwar ganz unabhängig von der Frage, zu welchen Bewusstseinsformen diese Überzeugungen, Interessen oder Bedürfnisse gehören. In diesem Zusammenhang ist jedoch zwischen zwei verschieden starken Thesen zu unterscheiden, von denen an dieser Stelle unserer Überlegungen noch nicht zu sagen ist, welcher der beiden Varianten Marx seine Zustimmung schenkt. Die stärkere der beiden Thesen besagt, dass die Entstehung der konkreten Inhalte religiöser, moralischer, philosophischer etc. Überzeugungen durch die sozialen Existenzbedingungen des individuellen Trägers der Überzeugung, also durch die Produktionsverhältnisse erklärt werden können, unter denen dieses Individuum lebt. Die deutlich schwächere These besagt hingegen, dass die sozialen Existenzbedingungen, unter denen eine Person lebt, erklären, warum diese Person bestimmten Überzeugungen zustimmt (bzw. nicht zustimmt) und warum sie bestimmte Interessen teilt (bzw. nicht teilt). Genauer gesagt, geht es im ersten Fall um die Genealogie bzw. Produktion bestimmter Inhalte von Überzeugungen und Bedürfnissen, während im anderen Fall die Frage von Belang ist, warum bestimmte Menschen bestimmten Vorstellungen ihre Zustimmung schenken. Hier geht es also um die Aksgptan^ der betreffenden Vorstellungen.3 Und in diesem zweiten Fall ist es gleichgültig, wie diese Vorstellungen ursprünglich entstanden sind oder wer sie erstmals zur Diskussion gestellt hat. Denn in diesem Fall soll durch die Produktionsbedingungen lediglich erklärt werden, warum sich die betreffenden Überzeugungen unter den Mitgliedern einer Gesellschaft auszubreiten vermochten. Die Relevanz dieser Unterscheidung wird erkennbar werden, wenn es um die Konzepte des Klasseninteresses, des Klassenbewusstseins und um die Grundlage der marxistischen Epistemologie

Bewusstsein

und Ideologie

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gehen wird. Und da dies allesamt Themen sind, die uns in einigen späteren Kapiteln wieder begegnen werden, möchte ich an dieser Stelle noch keine Entscheidung zwischen den beiden Thesen herbeiführen. Dennoch tun wir gut daran, den Unterschied zwischen diesen beiden unterschiedlich weit reichenden Erklärungsansprüchen von nun an im Auge zu behalten.

2. Bewusstsein und Ideologie Neben der Rede vom Bewusstsein und den Bewusstseinsformen findet sich in den Schriften von Marx schließlich ein berühmter Begriff, der für eine Klärung des dritten Kernelements des Historischen Materialismus von Bedeutung ist, nämlich das Konzept der Ideologie. Diesen Ideologiebegriff hat Marx vielen Interpreten zufolge von Ludwig Feuerbach übernommen. Es gibt jedoch durchaus Anlass zu der Vermutung, dass Marx mit den Arbeiten des französischen Historikers Destutt de Tracy vertraut war, in denen der Ausdruck ,Ideologie' (bzw. dessen französische Entsprechung Ideologie*) erstmals verwendet wird. 4 Dieser Begriff ist nicht nur für unsere Ohren, sondern auch schon bei de Tracy klarerweise pejorativ besetzt. Und es ist auch eindeutig der Fall, dass Marx zuweilen mit dem negativen bzw. polemischen Beigeschmack dieses Konzepts spielt. Zum Beleg hierfür sei etwa auf die Vorrede zur Deutschen Ideologie verwiesen, die hinlänglich klar macht, dass Ideologen in den Augen von Marx und Engels philosophisch irregeleitete Spinner oder Apologeten veralteter Ansichten sind. Rein technisch gesehen, ist es jedoch wichtig, sich klarzumachen, dass der Ideologiebegriff in den Schriften von Marx neben dieser abfälligen Verwendung, die uns in einem späteren Kapitel eigens beschäftigen wird, auch eine umfassendere und vor allem wertfreie Bedeutung hat. 5 In dieser weiten Bedeutung dient dieses Konzept nämlich dazu, alle Arten von Bewusstseinsformen in eine einzige Kategorie zusammenzufassen. In diesem Sinn ist beispielsweise im Vorwort von „den juristischen, politischen, religiösen, künsderischen oder philosophischen, kur% ideologischen Formen" des Bewusstseins

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Der Überbau:

Institutionen

und

Bewusstseinsformen

die Rede. (vgl. 13, 9*) Und in dieser umfassenden Bedeutung ist der Ideologiebegriff folglich auf der allgemeinen Ebene angesetzt, auf der Marx in anderen Zusammenhängen auch vom Bewusstsein spricht. Daher kann der Ausdruck .Ideologie' in dieser umfassenden Bedeutung geradezu als ein Synonym für die Vokabel ,Bewusstsein' gedeutet werden. Denn der weite Begriff der Ideologie umfasst wie auch das Konzept des Bewusstseins der hier vertretenen Lesart zufolge ebenfalls die Summe aller Ideen, denen die Menschen einer Gesellschaft anhängen, oder anders gesagt, die Gesamtheit dessen, was die Gesellschaftsmitglieder glauben und wollen. Vielleicht bin ich im zurückliegenden Absatz einen Schritt zu weit gegangen, als ich behauptet habe, dass der umfassende Begriff der Ideologie alle Bewusstseinsformen umfasst. Sicher ist zumindest, dass er all diejenigen Bewusstseinsformen umschließt, die Marx für seine theoretischen Anliegen interessant oder wichtig findet und daher ausdrücklich zur Sprache bringt. Es könnte also durchaus der Fall sein, dass Marx auch die Existenz solcher Bewusstseinsformen einräumt, die nicht-ideologischer Natur sind. Denn wer wie er von den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen Formen des Bewusstseins zusammenfassend als den ideologischen Formen spricht, hält sich ja die Möglichkeit offen, dass es weitere Formen gibt, die nicht ideologischer Natur sind. Ist beispielsweise der Umstand, dass ich Kirschen lieber mag als Erdbeeren, glaubhaft durch die Existenzbedingungen zu erklären, unter denen ich diese Vorliebe ausgeprägt habe? Und geht meine Überzeugung, dass der Mond um die Erde kreist, aus den Produktionsverhältnissen hervor, unter denen ich lebe? Für unsere gegenwärtigen Anliegen sind diese Fragen indes nicht von allzu großer Bedeutung. Denn Marx sagt uns ja klipp und klar, welche Bewusstseinsformen es im Einzelnen sind, die für den Historischen Materialismus von Belang sind. Doch wieder haben wir es mit einer Frage zu tun, die wir mit Blick auf spätere Untersuchungen im Hinterkopf behalten sollten, wenn es um den engeren Begriff der Ideologie und das mit ihm einhergehende Konzept der Ideologiekritik gehen wird. Für den Zweck dieses Kapitels reicht es hin festzuhalten, dass der Ausdruck .Ideologie' in seiner umfassenderen Verwendung als ein Synonym für die Vokabel ,Bewusstsein' verstanden wer-

Bewusstsein

und

Ideologie

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den kann und in dieser Bedeutung von jedweder pejorativen Nebenbedeutung frei ist. Nicht zuletzt ist mit Blick auf die mental-kognitivistische Auslegung des dritten Kernelements des Historischen Materialismus zu bemerken, dass Marx hinsichtlich der Konzepte des Bewusstseins, der Bewusstseinsform und der Ideologie in manchen Kontexten einen umfassenderen, in anderen Zusammenhängen hingegen einen weniger umfassenden Umfang dieser Begriffe im Sinn hat. In der weniger umfassenden Verwendung nimmt er vornehmlich die politischen und die juristischen Bewusstseinsformen in den Blick, von denen es im programmatischen Vorwort der Arbeit Zur Kritik der Politischen Ökonomie heißt, dass sie es sind, die den jeweils gegebenen Produktionsverhältnissen der betreffenden Gesellschaft entsprechen. In der umfassenderen Lesart sind es neben diesen politischen und juristischen Bewusstseinsformen, wie gesehen, zusätzlich auch die theologischen, ästhetischen, philosophischen, kurz alle ideologischen Formen des Bewusstseins, die der ökonomischen Basis einer Gesellschaft entsprechen. Diese beiden Lesarten schließen sich natürlich nicht wechselseitig aus. Dass Marx manchmal die eine und manchmal die andere Lesart anbietet, deutet vielmehr auf die Überzeugung hin, dass die politischen und juristischen Bewusstseinsformen aus Gründen, die im nachfolgenden Abschnitt deutlich werden, wichtiger sind als die übrigen Formen. Und dies erlaubt es uns, jetzt endlich eine Frage zu beantworten, die an einem frühen Punkt unserer Überlegungen bereits aufgeworfen wurde, als es in Anbetracht des Vorworts unklar blieb, ob der Historische Materialismus seiner Struktur nach aus drei oder nicht doch aus vier Grundelementen besteht. Denn während es an jenem frühen Punkt der Untersuchung noch unklar bleiben musste, ob zwischen den Bewusstseinsformen und dem Überbau zu unterscheiden ist, zeichnet sich jetzt die Antwort ab, dass der Historische Materialismus in der Tat aus nur drei Elementen besteht: den Produktivkräften, den Produktionsverhältnissen und schließlich den Bewusstseinsformen, wobei Marx diese Bewusstseinsformen mal in ihrer ganzen Fülle auflistet, mal aber auch auf die juristischen und politischen Formen konzentriert. Diesen Sachverhalt möchte ich näher beleuchten, indem ich mich jetzt der zweiten Auslegung des dritten Kernelementes des Historischen Materialismus zuwende.

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Der Überbau:

Institutionen

und

Bewusstseinsformen

3. Die institutionalisüsche Sicht: Gesetz und Staat Gestützt auf das Vorwort von 1859, in dem Marx schreibt, dass sich auf der realen Basis einer Gesellschaft ihr juristischer und politischer Überbau erhebt, gelangt Cohen zu einer Sichtweise, die ich als Beispiel für die institutionalistische Auffassung erläutern möchte. Cohen eröffnet seine Überlegungen mit der Bemerkung, dass er unter dem Überbau eine Menge nicht-ökonomischer Institutionen versteht, wobei er in Übereinstimmung mit meinen Ausführungen am Ende des zurückliegenden Abschnitts den Schwerpunkt auf die juristischen und politischen Institutionen bzw. auf das Gesetz und den Staat legt.6 In den Texten von Marx finden sich in der Tat hinlänglich viele Belege nicht nur dafür, dass er mit der institutionalistischen Auslegung seiner Theorie liebäugelt, sondern auch für die von Cohen vorgenommene Konzentration auf die juristischen und politischen Institutionen. Anders gesagt, könnte man Marx durchaus dahin gehend verstehen, dass es ihm nicht so sehr darum geht, einzelne Wünsche und Meinungen irgendwelcher Personen zu erklären, sondern vielmehr das Bestehen bestimmter Gesetze und die Existenz bestimmter politischer Einrichtungen. Dies deutet sich mit Blick auf die gesetzlichen Institutionen an, wenn er etwa in der bereit zitierten Verteidigungsrede aus dem Jahr 1849 behauptet: Hier, der Code Napoleon, den ich in der Hand habe, er hat nicht die moderne bürgerliche Gesellschaft erzeugt. Die im 18. Jahrhundert entstandene, im 19. fortentwickelte bürgerliche Gesellschaft findet vielmehr im Code nur einen gesetzlichen Ausdruck. Sobald er den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht mehr entspricht, ist er nur noch ein Ballen Papier. Sie können die alten Gesetze nicht zur Grundlage der neuen gesellschaftlichen Entwicklung machen, so wenig, als diese alten Gesetze die alten gesellschaftlichen Zustände gemacht haben. (6, 245)

Das Gesetzbuch habe nicht die Gesellschaft erzeugt. Vielmehr sei das Gesetzbuch ein Ausdruck der (wie auch immer erzeugten) Gesellschaft. Und von der Rede vom Gesetzbuch als einem Ausdruck der Gesellschaft ist es nicht sonderlich weit bis zu der These, dass sich

Die institutionalistische

Sicht:

Gesetz und Staat

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das Gesetzbuch bzw. der Inhalt der Gesetze durch die Gesellschaft bzw. durch die gesellschaftlichen Verhältnisse erklären lasse. Hinsichtlich der Abhängigkeit der staatlichen Einrichtungen von den Produktionsverhältnissen heißt es schon in der Deutschen Ideologie: Die gesellschaftliche Gliederung und der Staat gehen beständig aus dem Lebensprozeß bestimmter Individuen hervor; aber dieser Individuen, [...] wie sie unter bestimmten materiellen und von ihrer Willkür unabhängigen Schranken, Voraussetzungen und Bedingungen tätig sind. (3, 25)

Vom Staat wird hier gesagt, dass er aus dem Lebensprozess bestimmter Menschen hervorgeht. Wieder ist es von dieser Behauptung nicht weit bis zu der These, dass sich aus diesem Lebensprozess bzw. aus den Produktionsverhältnissen, unter denen dieser Prozess vonstatten geht, die politischen Institutionen eines Staates erklären lassen. Cohen bekommt also durch die Texte von Marx durchaus Rückenwind. Leider lässt er sich jedoch weder auf die Frage ein, warum sich Marx institutionalistisch gewendet auf das Gesetz und den Staat konzentriert. Noch kommt er auf das Problem zu sprechen, was man sich unter Institutionen in diesem Zusammenhang vorzustellen hat. Was zuerst den zweiten dieser beiden Punkte betrifft, scheint er sich auf ein intuitives Verständnis dieses Konzepts zu verlassen. Die Texte von Marx und Engels helfen in dieser Hinsicht auch nicht viel weiter. Denn sie sprechen zwar ebenfalls von verschiedenen Institutionen - etwa den Institutionen des Feudalismus oder der Bourgeoisie oder auch von sozialen Institutionen und der Institution des Eigentums - , erläutern jedoch nirgends, inwiefern es angemessen ist, beispielsweise vom Eigentum als einer Institution zu sprechen. Einen Vorwurf sollten wir ihnen daraus jedoch nicht unbedingt machen. Denn sie folgen offensichtlich nur einem großzügigen (bzw. laxen) Sprachgebrauch, der bis in unsere Tage sowohl in wissenschaftlichen als auch in außerwissenschaftlichen Zusammenhängen gang und gäbe ist. Um an diesem Punkt jedoch ein bisschen mehr Klarheit zu schaffen und zugleich eine wichtige Verbindung zur Thematik des zurückliegenden Kapitels zu klären, sollten wir zumindest zwischen zwei verschiedenen Begriffen der Institution bzw. zwei verschiedenen Arten von Institutionen unterscheiden. Auf der einen Seite gibt es

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Der Überbau:

Institutionen

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Bewusstseinsformen

Institutionen im Sinne von Einrichtungen bzw. Organisationen. Diese werden von irgendwelchen Menschen zu einem mehr oder weniger deutlich bestimmten Zweck gegründet und mit demselben oder einem anderen Zweck vor Augen am Leben erhalten. In diesem Fall können wir folglich von einem intentionalistischen Konzept der Institution sprechen, um auf die Existenz der involvierten Absichten oder Zwecksetzungen aufmerksam zu machen. Auf der anderen Seite finden wir einen nicht-intentionalistischen Begriff der Institution. Institutionen in diesem Sinn des Wortes sind gesellschaftliche Praktiken oder Gepflogenheiten, die sich zumeist traditionell etabliert bzw. unter den Mitgliedern einer Gesellschaft im Laufe der Zeit eingespielt haben. Aus diesem Grund sind sie nicht intentional aufzufassen, sondern mit den Konventionen, Normen und Handlungsregelmäßigkeiten in Verbindung zu bringen, von denen im zurückliegenden Kapitel mit Blick auf die Verkehrsformen einer Gesellschaft die Rede war.7 Die UNO, die Bundesbank oder auch ein politisches Amt, wie etwa das des Ministerpräsidenten, sind Institutionen im ersten Sinn des Wortes. Das Privateigentum, die Ehe oder spezifische Begrüßungsrituale sind hingegen eher Institutionen in der zuletzt genannten Bedeutung des Wortes. Und wie angesichts dieser Unterscheidung leicht zu erkennen ist, sollten wir bei den nicht-ökonomischen Institutionen, von denen Cohen spricht und die für das Verständnis des dritten Kernelements des Historischen Materialismus von Belang sind, an intentional eingerichtete Organisationen, also an Institutionen im ersten Sinn des Wortes denken. Weshalb aber sollten wir mit Marx vornehmlich diejenigen Einrichtungen ins Auge fassen, die politischer und juristischer Natur sind, was ja bedeutet, all diejenigen Bereiche des menschlichen Zusammenlebens auszublenden, die wir im Rahmen den mentalkognitivistischen Sicht zusätzlich in den Blick genommen haben? Nun, Staat und Gesetz sind für die institutionalistische Auslegung des dritten Kernelements jedenfalls aussichtsreiche Kandidaten, insofern sie recht unmittelbar als die institutionellen Äußerungen bzw. Manifestationen der betreffenden Bewusstseinsformen gedeutet werden können. Was das im Einzelnen bedeutet, werden wir später noch genauer untersuchen. Jedenfalls dürfte hier schon deutlich sein, warum etwa die philosophische oder ästhetische Bewusstseinsform in den institutionalistisch gehaltenen Auslassungen von Marx schwerlich

Die institutionalistische

Sicht:

Gesetz

und Staat

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zu Wort kommen können. Welche Organisationen oder Einrichtungen könnten diesen Bewusstseinsformen schon so unmittelbar entsprechen, wie das Gesetzbuch der juristischen Bewusstseinsform entspricht? Die Moral bzw. die moralische Bewusstseinsform fällt in der institutionalistischen Sicht der Dinge vermutlich aus einem Grund unter den Tisch, der uns in einem späteren Kapitel beschäftigen wird: Marxens zwiespältiges Verhältnis zur Moral. Zuletzt kommt einem noch die religiöse Bewusstseinsform in den Sinn, die in den Einrichtungen der Kirchen durchaus eine ähnlich unmittelbare institutionelle ,Umsetzung' findet, wie es die juristischen und politischen Bewusstseinsformen durch das Gesetz und den Staat tun. An diesem Punkt ist es nicht ganz einfach, triftige Gründe für Marxens Konzentration auf die juristischen und politischen Institutionen einer Gesellschaft zu finden. Dass er an den religiösen bzw. kirchlichen Organisationen wenig Interesse findet, kann man vielleicht ein bisschen besser verstehen, wenn man sich an den fanfarengleichen Auftakt der Einleitung seiner Fragment gebliebenen Jugendschrift Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie erinnert. Dort heißt es: „Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik." (1, 378) Wer solche Sätze in jungen Jahren zu Papier bringt, fühlt sich wahrscheinlich als gestandener Theoretiker der Beachtung kirchlicher Institutionen überhoben. Marx ging es jedenfalls in seiner Arbeit fast immer um eine Analyse und eine Kritik der zu seiner Zeit bestehenden Verhältnisse. Und die Religion und ihre Institute gehörten in seinen Augen offensichtlich bereits der Vergangenheit an.8 Dass sich Marx auf der anderen Seite jedoch ausgerechnet auf die juristischen und politischen Institutionen konzentriert, wenn er vom dritten Element seiner Theorie in der institutionalistischen Lesart spricht, könnten wir als böswillige Interpreten darauf zurückführen, dass er zum einen studierter Jurist und zum anderen engagierter Politiker war, also in seiner Theorie diejenigen Dinge für wichtig nahm, denen er persönlich ein besonderes Interesse entgegenbrachte. Als gutwillige Interpreten sollten wir diese Konzentration hingegen als Ausdruck einer theoretisch abgesicherten Überzeugung deuten, dass die juristischen und politischen Institutionen einer Gesellschaft für das Gefüge bzw. für den Aufbau dieser Gesellschaft von besonderer Bedeutung, also wichtiger als die von Marx ignorierten Facetten des

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Institutionen

und

Bewusstseinsformen

Uberbaus sind. Und dass diese wohlmeinende Deutung durchaus gute Gründe auf ihrer Seite hat, wird in späteren Teilen dieser Studie deutlich werden, wenn es darum geht, den Historischen Materialismus funktionalistisch auszulegen. Wie sich nämlich zeigen wird, sind die staatlichen und rechtlichen Institutionen nach dem Dafürhalten von Marx für das Funktionieren einer Gesellschaft in der Tat von übergeordneter Bedeutung. Marx scheint jedenfalls mit seiner Theorie neben den konkreten Bewusstseinsinhalten konkreter Personen (bzw. deren Zustimmung zu bestimmten Ansichten und Vorstellungen) tatsächlich auch juristische und staatliche Einrichtungen erklären zu wollen. Und in einer bestimmten Hinsicht ist dies zumindest intuitiv betrachtet nicht befremdlich. Denn wer hat nicht den Eindruck, dass die juristischen und politischen Verhältnisse einer Gesellschaft mit den Überzeugungen und Interessen der Gesellschaftsmitglieder in einem engen Zusammenhang stehen? Der eigentlich interessante Punkt betrifft indes die Frage, wie dieser Zusammenhang, über den uns Marx nichts Genaues sagt, im Einzelnen zu verstehen ist. Und um diese Frage im übernächsten Abschnitt beantworten zu können, möchte ich jetzt einen Exkurs in eines der bekanntesten Themen der Philosophie der Sozialwissenschaften unternehmen. Die Ergebnisse dieses Exkurses werden uns nicht nur erlauben, der eigenwilligen Doppelnatur des Überbaus bei Marx auf die Spur zu kommen, sondern zugleich auch einen Hinweis in der Frage geben, wie die Verknüpfung der beiden Interpretationen des dritten Kernelements des Historischen Materialismus aussehen kann.

4. Exkurs: Methodologischer und socialer Individualismus In den bisherigen Abschnitten dieses Kapitels wurde deutlich, dass der Historische Materialismus in manchen Fassungen die Überzeugungen und Interessen der Gesellschaftsmitglieder und in anderen Zusammenhängen gesellschaftliche Institutionen, vor allem juristische und politische Einrichtungen wie etwa Ämter, Behörden oder auch Gesetze erklären soll. Da in beiden Fällen dem Erklärungsanlie-

¥Lxkurs: Methodologischer

und socialer

Individualismus

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gen durch einen Verweis auf die Produktionsverhältnisse Rechnung getragen werden soll, gibt es drei Möglichkeiten, wie sich die verschiedenen Bausteine dieser Theorie gewissermaßen architektonisch zueinander verhalten könnten. Die erste Möglichkeit besteht darin, dass sich der Historische Materialismus — nachdem auf der unteren Ebene die Produktionsverhältnisse durch die Produktivkräfte erklärt worden sind - an dieser Stelle in zwei Äste teilt. Dieser Sicht gemäß werden auf der zweiten Ebene auf der einen Seite die Bewusstseinsformen durch die Produktionsverhältnisse erklärt, die auf der anderen Seite dieselbe Erklärungsleistung mit Blick auf die Institutionen erbringen.9 Diese Auffassung habe ich jedoch bereits verworfen, insofern ich mich gegen eine Auslegung des Historischen Materialismus ausgesprochen habe, die aus mehr als drei Elementen besteht. Und unzufriedenstellend wäre diese Sichtweise an diesem Punkt unserer Überlegungen ohnehin, insofern durch die Unabhängigkeit der Erklärungen der Institutionen auf der einen und der Bewusstseinsformen auf der anderen Seite genau diejenige Frage nicht beantwortet wäre, die am Ende des zurückliegenden Abschnitts in den Vordergrund rückte: Wie stehen die Institutionen und die Bewusstseinsformen untereinander im Zusammenhang? Aussichtsreichere Kandidaten liefern hingegen die beiden anderen architektonischen Möglichkeiten. Denn man kann entweder den Weg verfolgen, auf dem man die Institutionen einer Gesellschaft auf die Handlungen der Gesellschaftsmitglieder reduziert. Dabei werden diese Handlungen durch die Interessen und Uberzeugungen der involvierten Personen erklärt, um schließlich nachzuweisen, dass diese Interessen und Überzeugungen den Produktionsverhältnissen entsprechen. Das ist im Kern das individualistische Programm, dem ich mich anschließen werde. Oder man kann umgekehrt das durch ihre Interessen und Überzeugungen zu erklärende Handeln der Menschen auf die in der betreffenden Gesellschaft bestehenden Institutionen zurückfuhren. In diesem Fall geht es dann folglich hauptsächlich um den Nachweis, dass diese Institutionen den Produktionsverhältnissen entsprechen. Das käme seiner grundsätzlichen Ausrichtung nach einem holistischen Unterfangen gleich. In den zurückliegenden Abschnitten dieses Kapitels habe ich die beiden Antworten auf die Frage, was man sich unter dem Überbau einer Gesellschaft vorzustellen hat, nicht zuletzt deshalb nebeneinan-

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Bewusstseinsformen

der gestellt, um an dieser Stelle in der viel diskutierten Streitfrage, ob Marx eine holistische oder eine individualistische Gesellschaftskonzeption vertritt, für die zweite dieser beiden Standpunkte eintreten zu können. Diese Lesart besagt in einer ersten Annäherung, dass Marx juristische und politische Institutionen nicht als selbständige Sachverhalte begreift, die über die Köpfe der Menschen hinweg ein Eigenleben fuhren. Erst recht ist die Ansicht zu verwerfen, dass die Institutionen nach seinem Dafürhalten auf dunklen Kanälen einen Einfluss auf das Denken, Wollen und damit auch auf das Handeln der Gesellschaftsmitglieder ausüben (obwohl es zugegebenermaßen vereinzelte Textpassagen gibt, in denen Marx eine derartige Sicht nahe legt). Der individualistischen Überzeugung zufolge sind die Institutionen, also die relevanten Einrichtungen und Organisationen einer Gesellschaft, auf die Meinungen und Wünsche bzw. auf das aus diesen Meinungen und Wünschen hervorgehende Handeln der Gesellschaftsmitglieder zurückführen. Einfacher und in einer bestimmten Hinsicht zugleich auch grob vereinfacht gesagt, gibt es für Marx dieses oder jenes Gesetz, weil es konkrete Menschen gibt, die ein Interesse daran hatten, dass ein Gesetz mit genau diesem Inhalt verabschiedet und in Geltung gehalten wird, und darüber hinaus in der glücklichen Position waren, dieses Interesse auch durchzusetzen. 10 Und Entsprechendes gilt dieser individualistischen Sicht der Dinge zufolge auch für die politischen Institutionen. Denn es gibt dieser Auffassung gemäß beispielsweise die Institution des demokratisch gewählten Parlaments, weil es konkrete Menschen gibt, die ein Interesse daran haben, diese Institution zu installieren und am Leben zu erhalten, und zugleich einflussreich genug sind, um dieses Interesse auch zu realisieren. An dieser Stelle ist es jedoch angemessen, ein wenig mehr ins Detail zu gehen. Denn der scheinbar so klare, weil prinzipiell erscheinende Gegensatz zwischen einer holistischen (bzw. kollektivistischen) und einer individualistischen Auffassung erweist sich bei näherer Betrachtung als eine ziemlich verworrene Angelegenheit. Dies liegt vor allem daran, dass man auf beiden Seiten verschiedene ,Ismen' voneinander unterscheiden muss, um vernünftig prüfen zu können, welche Spielarten des Individualismus und des Holismus hinsichtlich welcher Fragen miteinander rivalisieren. Im Folgenden möchte ich daher zwischen einigen verschiedenen Bedeutungen des Begriffs des

Exkurs:

Methodologischer

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Individualismus

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Individualismus unterscheiden, wobei natürlich indirekt auch verschiedene Bedeutungen des Konzepts des Holismus zur Sprache kommen. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidungen möchte ich dann deutlich machen, an welchem Punkt der für unsere Zusammenhänge relevante Streit zwischen den Vertretern der beiden Ausrichtungen entbrennt und wo Marx im Spannungsfeld dieser Kontroverse zu verorten ist. Zuerst ist es hilfreich, drei normative Bedeutungen des Ausdrucks .Individualismus' anzusprechen. 11 Diese können nämlich sofort aus der weiteren Untersuchung ausgeklammert werden, da sie für die in diesem Kapitel zu diskutierende Thematik nicht unmittelbar relevant sind. Gleichwohl werde ich die Gelegenheit nutzen, um kurz auch auf die Frage eingehen, ob Marx in diesen Bedeutungen des Ausdrucks individualistisch denkt oder nicht. Individualistisch im ersten normativen Sinn des Wortes ist eine Position, die besagt, dass jedem menschlichen Individuum bestimmte Rechte, etwa die so genannten unveräußerlichen Menschenrechte zukommen, die von allen anderen Individuen respektiert werden müssen. Mit dieser Position geht zumeist die Ansicht einher, dass eine Gesellschaft um so besser ist, je größer die Aussicht der einzelnen Individuen ist, sich in Übereinstimmung mit ihren individuellen Rechten frei zu entfalten. Und zusammengenommen haben wir es hierbei mit der Keimzelle des politischen Liberalismus zu tun, der uns in den späteren Kapiteln dieser Studie noch öfter begegnen wird. Da Marx diesem Ausgangspunkt in vielen Zusammenhängen nämlich durchaus zuzustimmen scheint, insofern auch er ein großes Gewicht auf die Bedeutung individueller Freiheit legt, wird danach zu fragen sein, warum er sich so häufig gegen den Liberalismus als politisches Programm ausspricht. 12 In der zweiten normativen Bedeutung des Wortes besagt der Individualismus, dass menschliche Individuen das Recht haben, ihre Wünsche und Interessen den Wünschen und Interessen irgendwelcher Gruppen überzuordnen, zu denen sie gehören oder auch nicht gehören mögen. Dieser Individualismus folgt aus der Position, die ich an erster Stelle als individualistisch ausgezeichnet habe. Denn weil den Menschen die individuellen Rechte zukommen, die dem politischen Liberalismus als unveräußerlich gelten, dürfen diese Rechte nicht den Interessen irgendwelcher Kollektive, Gruppen, Parteien

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Bewusstseinsformen

oder sonstiger Gruppierungen geopfert werden. In Anbetracht dieses Zusammenhangs stellt sich die Frage, ob Marx konsistent ist, wenn er zwar einerseits den liberalen Ausgangspunkt teilt, insofern auch er die individuellen Freiheiten wertschätzt, andererseits aber zuweilen den Eindruck erweckt, dass die Interessen einer Klasse gegenüber den Interessen einzelner Mitglieder dieser Klasse überzuordnen sind. In der dritten normativen Bedeutung ist ein Standpunkt individualistisch zu bewerten, dem zufolge jedes menschliche Individuum trotz seiner sozialen Verbundenheit mit anderen Menschen danach streben sollte, sowohl seine moralischen Werte als auch seinen Lebensweg selbständig zu bestimmen. Der Individualismus in diesem Sinn des Wortes findet abermals bei Marx sehr wohl Anklang und ist mit den beiden bisher erläuterten Bedeutungen durchaus verträglich.13 In zugespitzter Form führt diese Position, die auf dem Konzept der Autonomie beruht, noch einmal auf das existentialistische Projekt zurück, das bereits an einem früheren Punkt unserer Betrachtungen durch den Verweis auf Kierkegaard zur Sprache gekommen ist. Von diesen drei individualistischen Auffassungen sagte ich bereits, dass sie für die Fragestellung dieses Kapitels, also mit Blick auf den Zusammenhang der beiden miteinander in Einklang zu bringenden Auslegungen des dritten Elements des Historischen Materialismus von untergeordneter Bedeutung sind. Anders verhält es sich schließlich mit dem Standpunkt, den man in der Regel den methodologischen Individualismus nennt. Die Geschichte dieser Position und der Streit um ihre Angemessenheit in der Philosophie der Geschichtsund Sozialwissenschaften ist sehr kompliziert und gäbe hinreichendes Material für eine eigenständige Abhandlung her.14 Besonders wichtig für den weiteren Fortgang meiner Überlegungen ist es jedoch, zwei grundsätzlich verschiedene Auffassungen davon zu unterscheiden, was dieser methodologische Individualismus besagt. Denn während seine zeitgenössischen Vertreter zumeist großen Wert darauf legen, deutlich zu machen, dass sie eine erklärungstheoretische Position vertreten, geht mit dieser Position häufig eine ontologische These einher, die es von der explanatorischen Hauptthese in aller Deutlichkeit zu unterscheiden gilt.15 Besagte Hauptthese lautet, dass alle sozialen Phänomene durch das Handeln von Individuen (bzw. durch deren Wünsche und Meinungen, die zu den betreffenden Handlungen führen)

Exkurs:

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vollständig zu erklären sind. In diesem Sinn schreibt etwa Jon Elster, ein führender Verfechter der individualistischen Sichtweise, dass „alle sozialen Phänomene [...] im Prinzip auf solche Art und Weise zu erklären sind, die nur Individuen einbeziehen."16 Die ontologische These, die von der erklärungstheoretischen Problematik leider oft nicht klar genug getrennt wird, betrifft hingegen die Frage, aus welchen Bausteinen gewissermaßen die Welt des Sozialen besteht. In diesem Fall besagt der Individualismus, den ich in Anlehnung an Richard Schmitt den socialen Individualismus nennen und von jetzt ab vom explanatorisch ausgerichteten methodologischen Individualismus unterscheiden möchte, dass die Welt des Sozialen aus einzelnen Individuen und deren Handlungen aufgebaut ist.17 Hiernach sind soziale Gruppen oder auch ganze Gesellschaften nichts anderes als Aggregate, sprich Zusammensetzungen von Individuen. Und dass Marx genau in diesem Sinn der These des sozialen Individualismus zustimmt, wird deutlich, wenn er Proudhon vorwirft, dass dieser die Gesellschaft personifiziere. Proudhon mache aus der Gesellschaft „eine Person Gesellschaft, eine Gesellschaft die keineswegs die Gesellschaft der Personen ist, da sie ihre besonderen Gesetze hat, die nichts gemein haben mit den Personen, aus denen sie sich zusammensetzt [...]" (4, 115) Aus der Art und Weise, wie Marx diesen Vorwurf formuliert, ergibt sich unmittelbar, dass die Gesellschaft in seinen Augen aus den Gesellschaftsmitgliedern besteht bzw. aus diesen Menschen zusammengesetzt ist.18 Was nun den Gegensatz zwischen den beiden Thesen des sozialen und des methodologischen Individualismus schnell wieder verschleiern könnte, ist der Umstand, dass man in beiden Fällen richtigerweise sagen kann, dass etwas Soziales auf etwas Individuelles zurückgeführt bzw. reduziert wird. Ein entscheidender Unterschied wird jedoch deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass hierbei in zwei vollkommen verschiedenen Bedeutungen von einer Rückführung bzw. einer Reduktion die Rede ist. Dem methodologischen Individualismus zufolge werden soziale Phänomene nämlich insofern auf individuelle Momente zurückgeführt, als das Auftreten bzw. das Zustandekommen des betreffenden Phänomens durch die individuellen Momente (zumeist kausal) erklärt wird. Wirkungen werden also in dieser Hinsicht auf ihre Ursachen zurückgeführt. Das soziale Phänomen Klassenkampf, um bei einem marxistischen Beispiel zu bleiben,

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Bewusstseinsformen

soll dieser Sicht der Dinge zufolge durch einen Rückgang auf das Wollen und Meinen der einzelnen, miteinander rivalisierenden Personen erklärt werden, deren Tun und Lassen zusammengenommen dasjenige Phänomen ergeben, das man Klassenkampf nennt.19 Und wenn es vor diesem Hintergrund etwa heißt, dass die Institution der Ehe individualistisch zu erklären ist, dann besagt dies im Kern, dass alle Handlungen, die für verheiratete Menschen typisch sind, durch die Wünsche und Meinungen der betreffenden Personen zu erklären sind. Dabei geht der methodologische Individualist, der ja kraft Definition eine explanatorische These vertritt, davon aus, dass dasjenige, was zu erklären ist (das soziale Phänomen), und dasjenige, was der Erklärung dient (das Handeln bzw. das Wollen und Meinen von Individuen), jeweils klar zu unterscheidende Entitäten sind. Genaueres über den hiermit angesprochenen Begriff der Erklärung werde ich im nachfolgenden Kapitel darlegen. Eine Rückführung im Sinne des socialen Individualismus sieht hingegen ganz anders aus. Denn in diesem Fall wird das soziale Phänomen gleichsam in seine individuellen Momente aufgelöst, insofern die entscheidende Behauptung lautet, dass das soziale Phänomen aus den individuellen Momenten besteht. Aus dieser Perspektive geht es also nicht um die Frage, welche Wünsche und Meinungen zu dem Phänomen Klassenkampf führen, durch welche Faktoren es also dazu kommt, dass es das soziale Phänomen namens Klassenkampf gibt. Vielmehr geht es darum, das gleichsam makrologische Phänomen Klassenkampf auf einzelne Auseinandersetzungen, also auf konkrete Handlungen bestimmter Personen auf der mikrologisch-individuellen Ebene zurückzuführen. Die Institution der Ehe auf individuelle Momente zurückführen heißt in diesem Zusammenhang nicht, irgendwelche Handlungen durch Wünsche und Meinungen zu erklären, sondern die Reihe der Handlungen (zu denen freilich auch Unterlassungen zu zählen sind) zu benennen, die für verheiratete Menschen typisch sind. In diesem Fall wird also nicht (kausal) erklärt, durch welche Umstände es zur Existenz des betreffenden sozialen Phänomens gekommen ist. Vielmehr wird gesagt, aus welchen Bestandteilen das betreffende Phänomen ,aufgebaut' ist. Eine Rückführung in diesem zweiten Sinn kann man sich durchaus nach dem Muster vorstellen, das die Chemie und die Physik uns liefert. Wer beispielsweise sagt, dass Wasser aus zwei Wasserstoff- und einem Sauerstoffmole-

Exkurs:

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külen besteht, hat das Wasser auf die molekulare Ebene zurückgeführt. Freilich hat er uns dadurch nicht erklärt, wie es ursächlich dazu kam, dass in der Regentonne hinter dem Haus Wasser zu finden ist. Denn in dieses Geschäft der kausalen Genealogie der Geschehnisse mischt sich ein Vertreter des sozialen Individualismus überhaupt nicht ein. Dieser soziale Individualismus kann nun — und das ist ein weiterer wichtiger Unterschied, der in der Literatur häufig übersehen wird — in eine schwächere und eine stärkere Variante unterteilt werden. Nennen wir den schwächeren Standpunkt den reduktionistischen und den stärkeren Standpunkt den eliminativistischen Individualismus. Der entscheidende Unterschied betrifft hierbei die Frage, ob das, was zu reduzieren bzw. in seine Bestandteile aufzulösen ist, am Ende einer gelungenen Reduktion noch als eigenständig existierende Entität anerkannt wird oder nicht. Der stärkeren, also eliminativistischen These zufolge steht am Ende einer gelungenen Rückführung die Erkenntnis, dass es das, was da reduziert wurde, im Grunde genommen bzw. dem ersten (vorwissenschaftlichen) Anschein entgegen gar nicht gegeben hat. Es gibt bei Licht betrachtet eben nur Wasserstoffund Sauerstoffmoleküle. Die davon unabhängige Existenz von Wasser entlarvt sich nach dem Dafürhalten des Eliminativisten gewissermaßen als oberflächlicher Schein. Ein Anhänger der schwächeren, also reduktionistischen These hingegen wird nicht bezweifeln, dass es außer den Molekülen zusätzlich auch das Wasser gibt, das aus den betreffenden Molekülen besteht. In seinen Augen steht am Ende der gelungenen Rückführung eben die Erkenntnis, dass Wasser aus den und den Molekülen besteht, so wie etwa ein Automotor aus diesen und jenen Bestandteilen aufgebaut ist. Wer so denkt, muss nicht glauben, dass das Ganze in einer mysteriösen Art und Weise mehr ist als die Summe seiner Teile. Ein ganzer bzw. vollständiger Automotor ist dem entgegen einfach etwas anderes als die Summe der Einzelteile, aus denen er besteht. Motoren bestehen, etwas genauer gesagt, aus diversen Teilen, die in einer ganz bestimmten Art und Weise organisiert sind. Denn nur durch diese Organisation können die Teile zusammengenommen als Motoren funktionieren. Und auch dieser Sachverhalt wird uns noch eingehend beschäftigen, wenn es später um eine funktionalistische Auslegung des Historischen Materialismus geht.

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Ich vermute, dass der Streitpunkt, der einen Holisten angesichts der individualistischen Haltung auf die Barrikaden treibt und damit erst den eigentlichen Anlass für die Debatte zwischen den Anhängern dieser beiden Positionen liefert, die Unterstellung ist, dass der Individualist sein Ansinnen notwendigerweise eliminativistisch versteht. Diese Vermutung wird jedenfalls durch den Umstand genährt, dass sich der Streit zwischen den Individualisten und den Holisten auffällig häufig hin zu der Frage fortentwickelt, ob es Vinter den individualistischen Vorgaben überhaupt noch einen eigenständigen Phänomenbereich für die Sozialwissenschaften gibt, ob die Existenz bzw. Legitimität derartiger Disziplinen mithin nicht fraglich sei. Nach Maßgabe der von mir reduktionistisch genannten Version des Individualismus stellt sich diese Frage jedoch nicht. Denn es war ja zu sehen, dass das eliminativistische und damit provozierende Verständnis des individualistischen Ansatzes nicht zwingend ist. Ein sozialer Individualist kann, anders gesagt, die sozialen Phänomene auf individuelle Momente zurückführen, ohne die eliminativistische Behauptung zu vertreten, dass es folglich die sozialen Phänomene gar nicht als eigenständig in Betracht zu ziehende Entitäten gibt. Folglich vertritt er auch keineswegs die These, dass jedwede Wissenschaft vom Sozialen einer soliden Grundlage entbehrt. Ein meines Erachtens hilfreiches, weil äußerst anschauliches Beispiel für diesen nicht-eliminativen Individualismus, den ich in den letzten Absätzen in den Vordergrund gerückt habe, stammt von Gilbert Ryle. Im Zuge der Einführung seines berühmten Konzepts des Kategorienfehlers schildert er eine Situation, in der ein Besucher der Universität Oxford, dem gerade auf einem Rundgang alle Einrichtungen der Universität im Einzelnen gezeigt worden sind, mit der verblüffenden Frage aufwartet, wo denn nun eigentlich die Universität zu finden sei.20 Dieser Person sei klarzumachen, so Ryle, dass die Gesamtheit der ihr bereits gezeigten Einrichtungen durch ihre spezifische Organisation die Universität bildet. Dabei hat Ryle keineswegs die These im Sinn, dass es neben den Einrichtungen nichts gibt, was man als Universität bezeichnen könnte. Vielmehr seien die Einrichtungen in der für sie spezifischen Verfasstheit mit der Universität identisch. Und ich möchte vorschlagen, genau nach diesem Muster die Position des sozialen und zwar nicht-eliminativistischen Individu-

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alismus zu verstehen, um den es in meiner weiteren Nachzeichnung der Sicht von Karl Marx ausnahmslos gehen wird. Wie die zuvor besprochenen normativen Auffassungen vom Individualismus hängen freilich auch der methodologische und der soziale Individualismus eng miteinander zusammen. Dies erklärt ein Stück weit, weshalb diese beiden Standpunkte oft nicht klar genug voneinander getrennt bzw. sogar miteinander verwechselt werden. Man sollte sie jedoch klar trennen, weil sie trotz allen Zusammenhangs auch unabhängig voneinander vertreten werden können. Denn man muss nicht zwangsläufig ein methodologischer Individualist sein, um der These zuzustimmen, dass Menschen sowie ihr Tun, Meinen und Wollen gleichsam die Atome sind, aus denen die Welt des Sozialen zusammengesetzt ist. Um in einem bereits verwendeten Bild zu bleiben: Warum sollte es auf molekularer oder noch höherer Ebene nicht Phänomene geben, die nicht ausschließlich durch die Atome und deren Eigenschaften zu erklären sind? Warum sollten wir, anders gefragt, nicht von einer Emergenz auf der gesellschaftlichen Ebene ausgehen? Und umgekehrt kann man dem methodologischen Individualismus zustimmen, ohne die These des sozialen Individualismus zu teilen. Denn man kann aus irgendwelchen genuin methodologischen Gründen Erklärungen sozialer Phänomene durch die Individuen und ihre Eigenschaften bevorzugen, auch wenn man felsenfest davon überzeugt ist, dass diese Individuen und deren Eigenschaften nicht schon alles sind, was den Kosmos des Sozialen bevölkert.

5. Umstellung, Handlung und Institution Welches Bild ergibt sich in Anbetracht der zurückliegenden Überlegungen vom dritten Kernelement des Historischen Materialismus? Für eine einheitliche Auslegung, die eine Brücke von der mentalkognitivistischen hinüber zur institutionalistischen Lesart schlägt, haben uns Marx und Engels im Grunde genommen schon gleich zu Beginn des Kapitels einen Schlüssel an die Hand gegeben. Denn in der eingangs zitierten Passage aus dem Manifest heißt es, dass das Recht nichts anderes sei, als der Gesetz erhobene Wille der gerade herrschen-

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den Klasse (vgl. 4, 477). Und genau derselbe Gedanke kommt zum Ausdruck, wenn Marx an einer anderen Stelle schreibt: „Es ist ferner klar, daß es hier wie immer im Interesse des herrschenden Teils der Gesellschaft ist, das Bestehende als Gesetz zu heiligen und seine durch Gebrauch und Tradition gegebnen Schranken als gesetzliche zu fixieren." (25, 801) Hier zeichnet sich eine unmittelbare Verbindung zwischen der Institution des Rechts und den Interessen, Wünschen, Bedürfnissen konkreter Menschen ab. Und die Unmittelbarkeit dieser Verbindung erklärt vielleicht auch ein Stück weit, weshalb Marx davon ausgehen kann, dass seine beiden Auffassungen vom dritten Element seiner Theorie so problemlos Hand in Hand gehen, dass die Verbindung selbst keiner Erläuterung bedarf. U m das Bindeglied zwischen den beiden Ansätzen genauer zu durchschauen, müssen wir uns jedenfalls das Handeln der Menschen vor Augen führen. Denn das Tun und Lassen, sprich die Handlungen der Mitglieder einer Gesellschaft sind einerseits durch die Elemente des Überbaus in der mental-kognitivistischen Lesart, also durch die Meinungen und Interessen der betreffenden Menschen, kausal zu erklären. Und andererseits haben wir gesehen, wie diese Handlungen zu denjenigen Institutionen und Einrichtungen führen, die die Elemente des Überbaus gemäß der institutionalistischen Lesart bilden. Beide Punkte möchte ich zum Abschluss dieses Kapitels näher erläutern. Schon bei Piaton, aber dann vor allem bei Aristoteles findet sich die zum festen Bestandteil fast jeder philosophischen Theorie des menschlichen Handelns gewordene Lehre, dass die Meinungen und Wünsche der Individuen ihr Handeln erklären. 21 Eine Person tut dieser Sicht der Dinge zufolge das, was sie absichtlich bzw. willentlich tut, weil sie diese oder jene Wünsche und Meinungen hat bzw. weil sie der Meinung ist, durch ihr Tun den ihr vorschwebenden Zweck in die Tat umsetzen zu können. Man muss folglich die Meinungen und Wünsche der Menschen kennen, um ihr Tun und Lassen zu verstehen. Dass Marx in dieser Hinsicht gut aristotelisch denkt, also menschliches Handeln durch die Zwecksetzungen und durch die Wünsche und Interessen der Handelnden erklärt, zeigt sich etwa, wenn er im ersten Band des Kapital schreibt:

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Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachs2ellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht daß er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er venvirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck., den er weiß [..]. (23, 193*) A m Rande sei auf den Umstand hingewiesen, dass uns Marx an dieser Stelle zu sagen scheint, dass das Bewusstsein entgegen seiner offiziellen Lehre wohl doch ein ganzes Stück weit das Sein bestimmt. Denn er zeichnet in dieser Passage das Tun einer Person quasi als Materialisierung eines ideell präexistenten Bauplans, der schon vor der Tat im Geist, sprich im Bewusstsein des Handelnden vorhanden ist. Für unsere gegenwärtigen Belange ist indes wichtiger, dass Marx der aristotelischen Ansicht zustimmt, der zufolge die Wünsche und Meinungen bzw. die Interessen und Zwecksetzungen der Menschen der Erklärung dafür dienen, warum diese Menschen genau so handeln, wie sie tatsächlich handeln. Nun gibt es zugegebenermaßen auch eine Reihe dunkler Äußerungen von Marx, die darauf hinzudeuten scheinen, dass er dieser traditionsreichen Sicht der Dinge, die im Übrigen mit dem methodologischen Individualismus vollkommen übereinstimmt, die Zustimmung verweigert. So liest man etwa an einer Stelle, die den besagten Individualismus geradezu zu verspotten scheint: Das einzelne Individuum, dem [Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen] durch Tradition und Erziehung zufließen, kann sich einbilden, daß sie die eigentlichen Bestimmungsgründe und den Ausgangspunkt seines Handelns bilden. [...]. Und wie man im Privatleben unterscheidet zwischen dem, was ein Mensch von sich meint und sagt, und dem, was er wirklich ist und tut, so muß man noch mehr in geschichtlichen Kämpfen die Phrasen und Einbildungen der Parteien von ihrem wirklichen Organismus und ihren wirklichen Interessen, ihre Vorstellung von ihrer Realität unterscheiden. (8, 139)

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Aber es ist trotzdem äußerst zweifelhaft, dass Marx generell den in dieser Passage zumindest nahegelegten Standpunkt vertreten möchte, dass die Empfindungen, Illusionen und Denkweisen (bzw. die Meinungen und Wünsche) der Menschen nicht zu erklären erlauben, weshalb sie im Einzelnen tun, was sie tun. Dass er Handlungen nämlich sehr wohl durch die Einstellungen wie etwa die Meinungen des Handelnden erklären möchte, wird etwa deutlich, wenn er in einem anderen Zusammenhang schreibt: Der Konsument ist nicht freier als der Produzent. Seine Meinung hängt ab von seinen Mitteln und seinen Bedürfnissen. Beide werden durch seine soziale Lage bestimmt, die wiederum selbst abhängt von der allgemeinen sozialen Organisation. Allerdings, der Arbeiter, der Kartoffeln kauft, und die ausgehaltene Mätresse, die Spitzen kauft, folgen beide nur ihrer respektiven Meinung; aber die Verschiedenheit ihrer Meinungen erklärt sich durch die Verschiedenheit der Stellung, die sie in der Welt einnehmen und die selbst wiederum ein Produkt der sozialen Organisation ist. (4, 75)

Hier wird nicht nur gesagt, dass verschiedene Meinungen zu verschiedenen Handlungen führen. Auch wird betont, dass die Meinungen und Bedürfnisse ihrerseits auf die soziale Lage des Individuums, gemeint ist die Positionierung des Handelnden in der Klassenstruktur der Gesellschaft, zurückzufuhren sind.22 Diese Spur werden wir in einem späteren Kapitel weiterverfolgen, in dem es um den Gesellschaftsbegriff bei Marx gehen wird. Damit komme ich zum abschließenden zweiten Teil der angekündigten Erläuterungen, der die Verbindung zwischen den beiden Interpretationen des Überbaus betrifft. Mit Blick auf diejenigen Institutionen, die für ein Verständnis des dritten Elements des Historischen Materialismus von Bedeutung sind, erwies es sich als ein Kennzeichen, dass derartige Institutionen absichtlich, also intentional installiert und am Leben gehalten werden. Dabei ist es wichtig zu erkennen, dass der Erklärungsbegriff in diesem Fall eine doppelte Rolle spielt. Denn auf der einen Seite gibt es der hier vertretenen Sicht zufolge beispielsweise die Institution des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland in seiner heutigen Form, weil bestimmte Menschen diese Verfassung (absichtlich) ausgearbeitet, andere Menschen diese

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Ausarbeitung (absichtlich) verabschiedet und wieder andere Menschen das Grundgesetz im Laufe der Jahre ab und an (absichtlich) verändert haben. 23 Und auf der anderen Seite sind die einzelnen Handlungen, die zu dem Grundgesetz in der heutigen Form geführt haben, durch die Wünsche und Meinungen der involvierten Personen zu erklären. Weil die Menschen dies und dies dachten und beabsichtigten, haben sie dieses getan und jenes gelassen. Und weil diese oder jene Menschen dieses getan und jenes gelassen haben, gibt es die betreffende Institution in ihrer vorliegenden Verfassung. Damit liegt der Zusammenhang zwischen den Einstellungen der Menschen und ihrem Handeln sowie den Handlungen dieser Menschen und den Institutionen ihrer Gesellschaft hoffentlich klar genug vor Augen. Bestimmte Menschen wollen, so der Grundgedanke, dass beispielsweise die Steuerbelastung der verschiedenen Gesellschaftsmitglieder so und so aussieht, und sind darüber hinaus in der glücklichen Position, diesen Willen in Form eines Gesetzes zu realisieren, indem sie dazu geeignete Maßnahmen ergreifen. Mit der damit angesprochenen Gesetzgebung, also der Ausübung legislativer Gewalt sind wir freilich schon bei den staatlichen Institutionen im Allgemeinen angelangt. Denn unter diesen staatlichen Institutionen dürfen wir uns nicht nur die legislative, also nicht nur die zu den Gesetzen fuhrende Gewalt vorstellen, sondern müssen zumindest auch die Exekutive, die Gerichte, die Polizei, die Armee, den gesamten bürokratischen Verwaltungsapparat etc. im Auge haben. Dem eben skizzierten Bild, dem zufolge das Tun und Lassen der Menschen das Bindeglied zwischen den beiden scheinbar rivalisierenden Auslegungen vom Überbau liefert, schließt sich die berühmte Äußerung von Marx und Engels nahdos an, die die moderne Staatsgewalt als einen „Ausschuß" charakterisiert, „der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisieklasse verwaltet." (4, 464) Und auch wenn hier nicht vom Staat generell, sondern von der modernen Staatsgewalt unter kapitalistischen Vorzeichen im Besonderen die Rede ist, kann man diesen Gedanken durchaus verallgemeinern. Staatliche, sprich politische Einrichtungen sind, wie sie sind, weil gewisse Leute ein Interesse daran haben, dass sie so sind, und sich in der glücklichen Lage befinden, diese Interessen aktiv, also handelnd durchzusetzen. 24 Auf den ersten Blick mag diese Sicht der Dinge vielleicht an diesem Punkt der Überlegungen noch wie eine billige, will sagen un-

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glaubwürdige Verschwörungstheorie klingen. Gesetz und Staat sind nichts anderes als das Resultat bewusster Aktion solcher Leute, deren Interessenlage dieses Resultat entspricht? Das klingt arg naiv gedacht und scheint der Komplexität politischer Einrichtungen nicht einmal im Ansatz gerecht zu werden. Doch dieser Schein trügt, wie wir noch sehen werden. Denn bei genauerer Betrachtung wird sich zeigen, dass wir es hier mit der Keimzelle einer durch und durch demokratischen Konzeption von Staatlichkeit und Rechtlichkeit zu tun haben, die unserem heutigen Verständnis politischer und rechtlicher Phänomene durchaus Rechnung zu tragen vermag. Wichtig im Moment ist jedoch allein, dass jetzt die beiden scheinbar rivalisierenden Vorstellungen davon, was es mit dem dritten Kernelement des Historischen Materialismus auf sich hat, miteinander vermittelt sind. Und die schlichte Natur dieser Vermitdung, die auf dem Handeln von Menschen beruht, macht hoffentlich verständlich, warum Marx den Unterschied zwischen den beiden Lesarten seiner Theorie niemals ausdrücklich zur Sprache bringt.

6. Rückblick In diesem Kapitel habe ich versucht, ein zusammenhängendes Bild davon zu entwickeln, was Marx und vor allem seine Nachfolger gemeinhin den Überbau einer Gesellschaft nennen. Dabei zeigte sich zu Beginn unserer Überlegungen, dass Marx und Engels in aller Regel eine mental-kognitivistische Konzeption des dritten Elements des Historischen Materialismus zum Ausdruck bringen, zuweilen aber auch die Auffassung nahe legen, dass Institutionen des Rechts bzw. des Gesetzes und des Staates den Überbau einer Gesellschaft bilden. Vor dem Hintergrund einer Unterscheidung zweier Arten von Institutionen — von Praktiken, die man sich auf der Ebene der Produktionsverhältnisse vorstellen muss, und von Einrichtungen bzw. Organisationen, die zum institutionalistisch ausgelegten Begriff des Überbaus führen - öffnete ein Exkurs in die Philosophie der Sozialwissenschaften, der zwischen verschiedenen Bedeutungen des Ausdrucks Individualismus' sowie zwischen den Begriffen der Erklärung, der

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Reduktion und der Eliminierung unterschied, dann jedoch den Weg, diesen scheinbaren Dualismus zweier Formen des Uberbaus zu überwinden. Das Tun und Lassen der Mitglieder einer Gesellschaft lieferte hierzu gleichsam den Klebstoff. Und damit haben wir alle drei Bausteine des Historischen Materialismus beisammen. Der Stand der Produktivkräfte führt zu spezifischen Produktionsverhältnissen, also zu den je spezifischen Formen der Arbeitsteilung und den damit einhergehenden ökonomischen Rollen, zu dem je eigentümlichen Zweck der Produktion und nicht zuletzt zu den Formen des Besitzes und der Besitzverteilung. Auf Grund der jeweiligen Produktionsverhältnisse prägen sich bei den Menschen bestimmte Uberzeugungen und Interessenlagen aus. Diese Überzeugungen und Interessenlagen lassen diese Menschen auf für sie typische Arten und Weisen handeln. Manche ihrer Handlungen bilden gewisse Muster und Regelmäßigkeiten aus, die unter denjenigen Begriff der Institution fallen, der Praktiken oder auch traditionelles Handeln umfasst. Manche Handlungen haben aber auch das Ziel, bestimmte Einrichtungen bzw. Organisationen einzurichten, zu verändern, am Leben zu erhalten oder abzuschaffen. Marx hebt in dieser Hinsicht in aller Regel die politischen und juristischen Einrichtungen hervor. Damit liegt uns das Material und die Struktur des Historischen Materialismus im Prinzip bereits vollständig vor Augen. Die Fragen, wie dieses Material im Einzelnen miteinander in Verbindung steht und wie der Historische Materialismus als Theorie funktioniert, bilden den Gegenstand der nachfolgenden Kapitel dieser Studie.

5. Entsprechung, Bedingung, Bestimmung: Erklärung In den zurückliegenden drei Kapiteln wurden die Grundbausteine des Historischen Materialismus vor Augen geführt. Damit ist meine Einführung in diese beeindruckend schlichte Theorie der Welterklärung, wie sie zu Beginn dieser Studie bezeichnet wurde, eigentlich fast schon fertig. Denn was jetzt lediglich noch fehlt, ist eine Antwort auf die bisher nur unterschwellig berührte Frage, welche Beziehungen zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen und zwischen den Verhältnissen und den Bewusstseinsformen besteht. Dies könnte als eine einfach zu beantwortende Frage erscheinen, zumal wir aus Gründen, die im nachfolgenden Abschnitt deutlich werden, getrost davon ausgehen können, dass es sich in beiden Fällen um ein und dieselbe Art der Beziehung handelt. Doch es wird sich herausstellen, dass die Beantwortung der anstehenden Frage gar nicht so unkompliziert ist. Um es gleich vorweg zu sagen: nicht nur dieses, sondern auch die beiden nachfolgenden Kapitel dienen gemeinsam dazu, eine bestimmte Antwort auf diese Frage verständlich und hoffentlich auch plausibel zu machen. Diese Antwort kreist um den Begriff der funktionalen Erklärung, genauer gesagt, um einen ganz bestimmten Begriff der funktionalen Erklärung, der jedoch erst im nachfolgenden Kapitel erläutert und anschließend durch eine Diskussion des Konzepts des Gesellschaftssystems untermauert werden soll. Im vorliegenden Kapitel geht es erst einmal darum, durch einige Erläuterungen des Begriffs der Erklärung und einiger damit zusammenhängender Konzepte den explanatorischen, also den erklärungstheoretischen Anspruch des Historischen Materialismus genauer vor Augen zu fuhren, um den Blick für die heikle Problemlage zu schärfen. In welchem Sinn des Wortes geht es in der Theorie von Marx um Erklärungen? Und wie sollen die Erklärungen, die der Historische

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Bestimmung:

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Materialismus liefert, im Einzelnen aussehen? Ich beginne mit einigen Vorklärungen bezüglich der Problemlage, wende mich daraufhin der Erklärungs- und Kausalitätsdiskussion zu, um vor diesem Hintergrund dann auf Marx zurückzukommen. Erst wenn im Zuge dieser Teildiskussionen deutlich geworden ist, aus welchen Gründen nicht davon auszugehen ist, dass der Historische Materialismus in der entscheidenden Hinsicht Kausalerklärungen liefert, wenden wir uns schließlich der funktionalistischen Auslegung dieser Theorie zu.

1. Die Problemlage Bevor wir damit beginnen, uns den erklärungstheoretischen Anspruch des Historischen Materialismus im Detail vor Augen zu führen, sollten wir uns darüber vergewissern, dass es bei den Beziehungen zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen und zwischen diesen Verhältnissen und dem Überbau in der Tat um explanatorische Beziehungen geht. Dies erscheint zum einen deshalb angebracht, weil durch diese Vergewisserung der soeben angesprochene Punkt deutlich wird, dass es sich nicht um zwei verschiedene, sondern in beiden Fällen um ein und dieselbe Beziehung eben um die Erklärungsrelation — dreht. Zum anderen erscheint dieses Vorgehen aber vor allem deshalb erforderlich, weil Marx und Engels selten schreiben, dass der Überbau durch die Produktionsverhältnisse und diese durch den Entwicklungsstand der Produktivkräfte zu erklären sind. Statt dessen bevorzugen sie eine Reihe anderer Ausdrücke, die ich in diesem Abschnitt erst einmal sammeln möchte, um sie dann in den nachfolgenden Abschnitten genauer zu untersuchen. Schauen wir uns zu Beginn unserer Überlegungen noch einmal das Vorwort an, in dem sich die Grundideen des Historischen Materialismus in einer ihrer reifsten Fassungen finden: In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die

Die Ρ rob km läge

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reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. (13, 8f.*) Hier heißt es zum einen, dass die Bewusstseinsformen den Produktionsverhältnissen entsprechen, die ihrerseits einer bestimmten Stufe der Entwicklung der Produktivkräfte entsprechen. Zum anderen erfahrt man, dass die Produktionsweise den Lebensprozess bedingt. Und diese beiden Sachverhalte werden schließlich durch das berühmte Diktum zusammengefasst, dem zufolge das Sein das Bewusstsein bestimmt. Von irgendeiner Erklärung ist also dem reinen Wordaut nach gar nicht die Rede. Vielmehr spricht Marx von Entsprechunge-, Bedingungs- und Bestimmungsverhältnissen. Ein auf den ersten Blick ganz anderes Resultat ergibt eine erneute Lektüre der beiden folgenden Passagen aus der Deutschen Ideologie·. Die Tatsache ist also die: bestimmte Individuen, die auf bestimmte Weise produktiv tätig sind, gehen diese bestimmten gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse ein. Die empirische Beobachtung muß in jedem einzelnen Fall den Zusammenhang der gesellschaftlichen und politischen Gliederung mit der Produktion empirisch und ohne alle Mystifikation und Spekulation aufweisen. (3, 25*) Diese Geschichtsauffassung beruht also darauf, den wirklichen Produktionsprozeß [...] zu entwickeln und die mit dieser Produktionsweise zusammenhängende und von ihr erzeugte Verkehrs form, also die bürgerliche Gesellschaft in ihren verschiedenen Stufen, als Grundlage der ganzen Geschichte aufzufassen und sie [...] in ihrer Aktion als Staat darzustellen [...] (3, 37*) Expressis verbis geht auch aus diesen Sätzen unmittelbar kein explanatorischer Anspruch hervor. Stattdessen sagen Marx und Engels, dass sie Zusammenhänge zwischen den Kernelementen des Historischen Materialismus aufiveisen bzw. darstellen wollen. Schauen wir uns zuletzt noch einmal diese Passage aus dem bereits mehrfach erwähnten Brief an Annenkow an:

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Entsprechung,

Bedingung,

Bestimmung:

Erklärung

Setzen Sie einen bestimmten Entwicklungsstand der Produktivkräfte der Menschen voraus, und Sie erhalten eine bestimmte Form des Verkehrs [commerce] und der Konsumtion. Setzen Sie bestimmte Stufen der Entwicklung der Produktion, des Verkehrs und der Konsumtion voraus, und Sie erhalten [...] eine entsprechende Gesellschaft [societe civile]. Setzen Sie eine solche Gesellschaft voraus, und Sie erhalten eine entsprechende politische Ordnung [etat politique], die nur der offizielle Ausdruck der Gesellschaft ist. (27, 452*)

Auch in dieser Kurzfassung der Kernideen des Historischen Materialismus tauchen Vokabeln wie .erklären' oder ,Erklärung' nicht auf. Marx scheint vielmehr auf eine Art logische Verknüpfung zwischen den besagten Kernelementen aufmerksam zu machen. Denn er fordert seinen Leser dazu auf, Folgen zu erwägen, die sich aus bestimmten Setzungen ergeben. N u n ist es aber relativ leicht zu sehen, dass in all diesen Passagen unterschwellig gleichwohl der Anspruch erhoben wird, eine Theorie zu präsentieren, die sowohl die Produktionsverhältnisse als auch den Überbau erklärt. Dieser Eindruck wird zum einen durch solche Passagen verstärkt, in denen sehr wohl genuin explanatorisches Vokabular, wie man sagen könnte, verwendet wird. So heißt es etwa etwas später i m Vorwort. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Uberbau langsamer oder rascher um. [...] Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dieses Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären. (13, 9*)

U n d schon in der Deutschen Ideologie ist zu lesen, dass es d e m Histori-

schen Materialismus darum geht, „die sämtlichen verschiedenen theoretischen Erzeugnisse und Formen des Bewußtseins, Religion, Philosophie, Moral etc. etc. [...] zu erklären [...]." (3, 38) Dieser Anspruch von Marx, eine der Erklärung gesellschaftlicher Phänomene dienende Theorie zu präsentieren, wird zum anderen

Erklärung

und Verursachung

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unterstrichen, wenn man sich vor Augen führt, dass ein Großteil des Vokabulars, das ich in diesem Abschnitt aus den Schriften von Marx und Engels extrahiert habe, in vielen Zusammenhängen dazu verwendet wird, explanatorische Anliegen zu formulieren. Um dies deutlich zu machen, möchte ich im nächsten Schritt einige Betrachtungen zum Begriff der Erklärung anstellen, die nicht zuletzt dazu dienen sollen, uns über die für unser Anliegen relevante Bedeutung der schillernden Vokabel,erklären' ein klareres Bild zu verschaffen. Vor dem Hintergrund dieses Bildes werde ich dann im übernächsten Abschnitt auf die Frage zurückkommen, wie die bisher herausgestellten Äußerungen von Marx und Engels zu verstehen sind.

2. Erklärung und Verursachung Der Begriff der Erklärung spielt sowohl in der Philosophie allgemein als insbesondere auch in der Wissenschaftstheorie eine wichtige Rolle. Im allgemeinen Fall ist dies wohl deshalb so, weil Philosophen seit jeher daran interessiert waren, sich und ihren Mitmenschen gleichsam Gott und die Welt zu erklären. Für die Wissenschaftstheorie im Besonderen ist das Konzept der Erklärung in jedem Fall in den beiden folgenden Hinsichten von herausragender Bedeutung. Zum einen haben wir es hier, wie der Name ja schon sagt, mit einer theoretischen Reflexion der Wissenschaften zu tun. Dadurch drängen sich die Fragen, ob, inwiefern und wie gut wissenschaftliche Theorien ihren jeweiligen Gegenstandsbereich erklären, mehr oder weniger von selbst in den Vordergrund. Zum anderen wurde nicht zuletzt auf Grund der Wichtigkeit dieser Fragen der Begriff der wissenschaftlichen Erklärung in den vergangenen Jahrzehnten lebhaft diskutiert, weswegen man heute von einer Theorie der Erklärung als einer fast schon eigenständigen Teildisziplin der allgemeinen Wissenschaftstheorie sprechen kann.1 Aus zwei Gründen ist es nun wichtig, dass man sich von Anfang an vor Augen hält, inwiefern es den einen Begriff der Erklärung nicht zu geben scheint. Denn wenn man etwas genauer auf die im Einzelfall gebrauchten Fragepronomina und die jeweiligen Hinsichten des

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Entsprechung,

Bedingung,

Bestimmung:

Erklärung

Erklärens Acht hat, bemerkt man, dass man zwischen sehr verschiedenen Erklärungsanliegen unterscheiden kann. Und angesichts dieser Fülle unterschiedlicher Anliegen ist es äußerst zweifelhaft, dass all diesen Anliegen ein und derselbe Begriff der Erklärung zugrunde liegt.2 Dass es diese Verschiedenheit von Erklärungsanliegen gibt, wird allein schon durch die folgende Liste von Beispielen deutlich, die keineswegs mit der Absicht zusammengestellt ist, Vollständigkeit zu erzielen.3 Man kann erklären, warum eine bestimmte Tatsache vorliegt; warum Gegenstände bestimmte Merkmale aufweisen; warum ein bestimmtes Geschehnis eingetreten ist. Dem gegenüber kann man auch erklären, warum ein Sachverhalt nicht gegeben ist; warum ein Gegenstand eine bestimmte Eigenschaft nicht aufweist; warum ein Ereignis nicht eingetreten ist. Auf einer allgemeineren Ebene der Betrachtung kann man zu erklären versuchen, warum gewisse Fakten immer wieder zu konstatieren sind; warum alle Objekte einer bestimmten Art dieselbe Eigenschaft aufweisen; oder warum Ereignisse einer spezifischen Art stets aufs Neue eintreten. Und auch auf dieser Ebene sind zusätzlich die negativen Fälle zu bedenken, in denen es etwa um eine Erklärung dafür geht, dass Ereignisse eines bestimmten Typs unter bestimmten Umständen niemals eintreten. Neben den eben zusammengestellten Fällen, denen gemeinsam ist, dass sie auf dem Fragepronomen ,warum' (bzw. auf den Synonymen ,wieso' und weshalb") beruhen, sich aber hinsichtlich der Frage unterscheiden, welcher ontologischen Kategorie (Tatsachen, Eigenschaften, Ereignisse) das Explanandum zugehört, gibt es jedoch auch Erklärungen ganz anderer Art. Dabei habe ich unter anderem solche Fälle im Auge, in denen es etwa um eine Erklärung dafür geht, wie etwas zu tun ist; wie man ζ. B. über das Internet eine Geldüberweisung tätigt oder wie man auf dem einfachsten Weg vom Hauptbahnhof zum Stadttheater gelangt. In diesem Sinn des Wortes kann man schließlich auch erklären, wie eine bestimmte Maschine oder wie der Mechanismus eines Uhrwerks funktioniert. Und es sei schon hier vermerkt, dass uns Erklärungen dieser Art im nachfolgenden Kapitel im Rahmen der Untersuchung funktionalistischer Theorien eingehend beschäftigen werden. Doch damit noch lange nicht genug. Denn man kann des Weiteren auch erklären, was ein Zeichen, etwa ein Wort; was ein Gedicht

ürklärung

und Verursachung

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oder was ein Gemälde bedeutet. Kinder wollen erklärt bekommen, was es mit Hass, mit Liebe oder mit dem Weihnachtsmann auf sich hat. In einer mehr performativen Wendung des Ausdrucks kann der Kapitän eines Schiffs zwei Menschen zu Mann und Frau, ein Staat einem anderen Staat den Krieg und eine politische Amtsträgerin ihren Rücktritt erklären. Und nicht zuletzt hat bestimmt so manch einer schon einmal den Wunsch verspürt, seinem lärmenden Nachbarn gründlich zu erklären, wo's langgeht. Ich sprach von zwei Gründen, die es wichtig machen, sich diese Vielfalt der unterschiedlichsten Erklärungsanliegen vor Augen zu führen. Einer dieser beiden Gründe wird erst im nachfolgenden Kapitel deutlich werden, in dem ich dafür argumentieren werde, dass funktionale Erklärungen von vielen Autoren, die sich mit diesem Konzept beschäftigen, mit einem falschen Erklärungsanliegen in Verbindung gebracht werden. Der momentan wichtigere Grund liegt darin, dass erst in Anbetracht dieser Fülle unterschiedlicher Anliegen zu erkennen ist, inwiefern die philosophische Diskussion des Begriffs der Erklärung zumindest bis vor kurzer Zeit ziemlich einseitig verlaufen ist. Denn in dieser Diskussion sind fast ausschließlich solche Fälle verhandelt worden, mit denen die eben zusammengestellte Liste anfing: nämlich Erklärungen, die als Antworten auf solche Fragen aufzufassen sind, die mit dem Interrogativpronomen ,warum' (bzw. mit den genannten Synonymen) eröffnen und zugleich Erklärungen singulärer Phänomene, d. h. die Erklärung von Einzelfällen darstellen. Und wenn in den folgenden Abschnitten von Erklärungen die Rede ist, dann sind in aller Regel ebenfalls Erklärungen genau dieser Art gemeint. Die genannte Einseitigkeit in der wissenschaftsphilosophischen Diskussion des Erklärungskonzepts hat nach meiner Einschätzung sowohl historische als auch systematische Gründe. Die historischen Gründe würden uns bis zur aristotelisch inspirierten Lehre von der vierfachen Wurzel des Satzes vom zureichenden Grund zurückführen, weswegen ich diese Spur hier nicht weiter verfolgen möchte.4 Diese Lehre, die zwischen vier verschiedenen Hinsichten unterscheidet, in denen man nach der Ursache einer Sache fragen kann, stellt jedenfalls die Urquelle jeder Erklärungs- und im Übrigen auch jeder Beweistheorie dar. Und damit liefert sie zugleich auch die ersten Grundlagen jeder Theorie, die sich die Wissenschaft zum Thema

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Entsprechung,

Bedingung, Bestimmung:

Erklärung

macht. In Anbetracht dessen kann man dem Bonmot von Arthur Schopenhauer nur zustimmen, dem gemäß „man das Warum die Mutter aller Wissenschaften nennen" darf.5 Weit wichtiger für den Fortgang meiner Überlegungen sind jedoch die systematischen Gründe für die Konzentration der wissenschaftstheoretischen Diskussion auf den herausgestellten Aspekt der Erklärungsproblematik. Diese Gründe betreffen nämlich die enge Verknüpfung dieses Aspekts mit dem Begriff der Kausalität bzw. der Verursachung, der ebenfalls eine herausragende Rolle in der modernen Wissenschaftstheorie gespielt hat und weiterhin spielt. Und diese Verknüpfung wird uns sowohl in diesem, als auch im nachfolgenden Kapitel beschäftigen, insofern wir mehr Klarheit darüber brauchen, ob der Historische Materialismus Kausalerklärungen liefert oder nicht. Um diesen Zusammenhang zwischen den beiden Konzepten etwas näher zu beleuchten, möchte ich an dieser Stelle die angekündigten Erläuterungen zum Begriff der Erklärung und seines theoretischen Umfelds formulieren. Vor dem Hintergrund dieser Erläuterungen werde ich dann auf das ursprüngliche Anliegen zurückkommen, die im letzen Abschnitt zusammengetragenen Äußerungen von Marx über die Beziehungen zwischen den drei Kernelementen seiner Theorie zu untersuchen. Die erste Erläuterung besteht gewissermaßen in einer Spiel- bzw. Sprachregel, die eine schlichte, aber sehr wichtige Verknüpfung zwischen der Kausalitäts- und der Erklärungsrede herstellt. Wenn der Sachverhalt (bzw. das Ereignis) α den Sachverhalt (bzw. das Ereignis) b verursacht, wenn also α die Ursache der Wirkung b ist, dann gehe ich davon aus, dass ein sprachlicher Verweis auf α dazu dient, b zu erklären. Als Kurzform wird es häufig auch einfach nur heißen, a erkläre b, womit behauptet sei, dass α uns sagt, warum b der Fall ist. Wenn also der heftige Regen in der vergangenen Nacht die Ursache dafür ist, dass im Nachbarhaus der Keller überflutet wurde, sprich der Regen auf kausalen Wegen dazu führte, dass der Keller jetzt unter Wasser steht, dann erklärt der heftige Regen die Überflutung des Kellers. Ein Verweis auf das nächtliche Wetter dient, anders gesagt, der Erklärung dafür, dass es zu der Überflutung gekommen ist.6 Wichtig ist zweitens, dass die Umkehrung zwar manchmal, aber nicht unter allen Umständen gilt. Wenn α (bzw. ein Verweis auf a) dazu dient, b zu erklären, dann ist damit nicht ohne weiteres gesagt,

dass α die Ursache von b ist.7 Von Fall zu Fall mag dies zwar so sein, nämlich genau dann, wenn es sich bei der betreffenden Erklärung um eine Kausalerklärung handelt. Aber genau dies ist nicht zwingend. Denn nicht jede Erklärung ist eine Kausalerklärung. Dieser Punkt wird naheliegenderweise dann von großer Wichtigkeit sein, wenn wir auf den Begriff der funktionalen Erklärung zu sprechen kommen. Drittens gilt es aus Gründen, die zu Beginn des nachfolgenden Abschnitts deutlicher werden, schon an dieser Stelle festzuhalten, dass sowohl dem Erklärungs- als auch dem Verursachungsbegriff eine asymmetrische Beziehung zugrunde liegt. Dies besagt nichts anderes, als dass aus der Wahrheit der Behauptung, die Straße sei nass, weil es geregnet hat, nicht die Wahrheit der Behauptung — sondern im Gegenteil sogar deren Falschheit — folgt, dass es geregnet habe, weil die Straße nass sei. Wenn α die Ursache von b ist und insofern die Erklärung für b liefert, dann ist es nicht der Fall, dass b auch α verursacht hat. Folglich erlaubt ein Verweis auf b auch nicht, α kausal zu erklären.8 Hier liegt im Übrigen die Schnittstelle, an der sich die Begriffe der Erklärung und der Verursachung auf der einen Seite mit dem Konzept der Begründung bzw. der epistemischen Rechtfertigung auf der anderen Seite berühren. Denn auch wenn es nicht wahr ist, dass die nasse Straße erklärt, warum es geregnet hat, so mag ich gleichwohl die Tatsache, dass die Straße nass ist, zur Begründung meiner Meinung anfuhren, dass es in der Nacht geregnet hat. Die nasse Straße gibt mir in diesem Fall also einen guten Grund für die Meinung, dass in der vergangenen Nacht Regen fiel. Ich darf, anders gesagt, gerechtfertigterweise meinen, dass es Regen gab, weil ich sehe, dass die Straße nass ist. Das hiermit angesprochene Konzept der theoretischen Begründung wird zwar im Fortgang meiner Überlegungen keine weitere Rolle spielen. Aber man muss es im Sinn behalten, um zu vermeiden, dass es mit den Begriffen der Erklärung und der Verursachung vermengt wird. Ein erklärendes Weil ist jedenfalls von einem begründenden Weil deutlich zu unterscheiden. Viertens sei an dieser Stelle betont, dass wir es im vorliegenden Zusammenhang in aller Regel mit zweistelligen Relationen zu tun haben. Damit ist gesagt, dass sowohl das Konzept der Verursachung als auch der Begriff der Erklärung in den meisten Fällen ein Verhältnis zwischen genau zwei Entitäten betrifft. Im Fall der Kausalität

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Entsprechung,

Bedingung,

Bestimmung:

Erklärung

handelt es sich natürlich um eine Ursache und deren Wirkung. Im Fall der Erklärung sprechen wir hingegen von einem Explanandum (also einer Sache, die zu erklären ist) und seinem Explanans (also dem, was der Erklärung dient). Diese Konzentration auf zweistellige Verhältnisse ist jedoch ausdrücklich als eine Vereinfachung auszuweisen, insofern in konkreten Fällen zumeist mehr als zwei Faktoren im Spiel sein können. Denn eine Ursache hat ja oft mehr als nur eine Wirkung; manche Wirkungen haben mehrere Ursachen; und häufig gibt es für ein und dasselbe Phänomen mehr als nur eine Erklärung. Trotzdem werde ich in Übereinstimmung mit den meisten Autoren, die sich zu diesen Problemen äußern, um der Übersichtlichkeit willen an der geschilderten Vereinfachung festhalten. Die fünfte und vorerst letzte Erläuterung ist etwas diffizilerer Natur und bereitet den Boden für Beobachtungen, die an späteren Punkten meiner Überlegungen von Bedeutung sein werden. Wenn man sagt, dass α dazu dient, b zu erklären, kann man zwei scheinbar grundsätzlich verschiedene Vorstellungen davon im Sinn haben, was in solchen Fällen erklärt wird. Manchmal verwenden wir nämlich Formulierungen dieser Art dann, wenn wir zu erklären beabsichtigen, warum es b überhaupt gibt; während es manchmal um eine Erklärung dafür geht, warum b so ist, wie es ist. Im ersten Fall wird also die Existenz bzw. das Vorliegen von b erklärt bzw. die Frage beantwortet, was dazu geführt hat, dass b existiert. Im zweiten Fall wird hingegen erklärt, weshalb b diese oder jene spezifische Ausprägung hat. Eine Erklärung vom ersten Typ liegt beispielsweise dann vor, wenn es um die Beantwortung der Frage geht, warum es zu einer bestimmten Katastrophe gekommen ist, warum also diese und jene katastrophalen Ereignisse eingetreten sind (wenn man so will, weshalb es zur Existenz dieser Ereignisse gekommen ist). Eine Erklärung des zweiten Typs liegt hingegen dann vor, wenn es etwa um die Frage geht, warum eine Person diese oder jene Augenfarbe hat, warum diese Person also hinsichtlich ihrer Augenfarbe so und nicht anders beschaffen ist. Während Erklärungen der zweiten Art also Antworten auf die Frage sind, warum etwas ist, wie es ist, bzw. warum etwas so und nicht anders ist, sind Erklärungen der ersten Art Antworten auf die Frage, warum etwas überhaupt ist. Und insofern es bei Erklärungen im ersten Fall um die Erklärung der schieren Existenz des Explanan-

Erklärung

und Verursachung

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dum geht, die als solche irgendwelchen Erklärungen bezüglich der Ausprägung des betreffenden Explanandum vorauszuliegen scheinen, könnte man sie als die grundlegenderen Erklärungen betrachten. Und diese Unterscheidung zwischen grundlegenderen und weniger grundlegenden Erklärung wäre schließlich für unsere Belange wichtig, insofern sie darauf hindeutet, dass der Historische Materialismus einen nur eingeschränkten explanatorischen Anspruch erheben kann. Denn diese Theorie versucht offenbar nur Erklärungen der zweiten Art zu geben, also die jeweilige Beschaffenheit der Produktionsverhältnisse bzw. des Überbaus zu erklären. Nicht jedoch scheint es im Rahmen der Theorie von Marx um die Beantwortung der grundlegenderen Fragen zu gehen, warum es Produktionsverhältnisse oder Bewusstseinsformen überhaupt gibt. Dieser Eindruck ist jedoch falsch. Denn die eben erläuterte Unterscheidung zwischen zwei verschieden weit reichenden Arten der Erklärung lässt sich auf eine gewissermaßen optische, besser auf eine ontologische Täuschung zurückführen. Dies wird deutlich, wenn wir den Ursprung der aufgewiesenen Ambiguität des Erklärungskonzepts in einer Zweideutigkeit des Verursachungsbegriffs lokalisieren, wodurch sich die mutmaßliche Ambiguität beheben lässt. Interessanterweise weist nämlich unser Begriff der Verursachung eine ganz ähnliche Doppeldeutigkeit auf, weswegen es mir nahe liegend erscheint, die vermeintliche Zweideutigkeit des Erklärungskonzepts auf diese Ambiguität des Kausalitätsbegriffs zurückzuführen. Die folgenden Überlegungen sollen diesen Punkt deutlich machen. Zuweilen reden wir von Ursachen so, als ob sie ihre Wirkungen gleichsam in die Existenz befördern. Auf diesem Bild beruht die so genannte kontrafaktische Analyse des Kausalitätsbegriffs, der zufolge es die Wirkung nicht gegeben hätte, wenn die Ursache nicht gewesen wäre.9 Manchmal reden wir aber auch so, als ob Ursachen machen, dass ihre Wirkungen ihre spezifische Gestalt erhalten bzw. als ob Ursachen dazu führen, dass an gegebenen Gegenständen neue Eigenschaften zu konstatieren sind. Ursachen im ersten Sinn des Wortes sind gleichsam Schöpferinnen ihrer Wirkungen, wohingegen Ursachen im anderen Fall ihre Wirkungen bzw. die Gegenstände ihrer Einwirkung manipulierend Diese Doppeldeutigkeit des Konzepts der Ursache sollte jedoch keineswegs dahin gehend missverstanden werden, als ob es zwei

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Entsprechung,

Bedingung,

Bestimmung:

Erklärung

verschiedene Arten von Ursachen oder gar zwei verschiedene Arten der Verursachung gäbe. Vielmehr erscheint es ratsam, lediglich von zwei verschiedenen Möglichkeiten auszugehen, sich das Verhältnis zwischen Ursachen und ihren Wirkungen vorzustellen. Denn dieses Verhältnis kann man sich, wie erläutert, entweder als die Beziehung zwischen einer Schöpferin und ihrem Produkt denken oder als das Verhältnis zwischen einer Manipulatorin und der Eigenschaft, die sie durch ihre Manipulation erzielt. Diese Möglichkeit, sich das Kausalverhältnis in zwei grundsätzlich verschiedenen Bildern zu denken, hängt nun vor allem damit zusammen, dass sich das Verhältnis zwischen Ursachen und Wirkungen gewissermaßen in unterschiedlichen ontologischen Währungen ausdrücken lässt. Im Prinzip ist hierbei vor allem die Unterscheidung zwischen Eigenschaften (bzw. deren Exemplifikationen) auf der einen Seite und Tatsachen oder Ereignissen auf der anderen Seite von Belang. Um zu erkennen, dass es nicht um zwei verschiedene Arten von Ursachen oder zwei Arten der Verursachung, sondern lediglich um zwei Arten der Konzeptualisierung der Kausalrelation geht, muss man sich vor Augen fuhren, wie gleichgültig es der Sache nach ist, ob wir nach der Ursache etwa dafür forschen, dass eine Person die Eigenschaft hat, krank zu sein; oder nach der Ursache der Tatsache, dass diese Person krank ist; oder nach der Ursache ihrer Erkrankung, also einem Ereignis fragen. Denn auch wenn wir die Kausalrelation in die verschiedenen ontologischen Währungen kleiden können, was dazu führt, dass wir unser Erklärungsanliegen in drei verschiedenen Formulierungen äußern können, so macht dieses Beispiel doch deutlich, dass wir es in allen Fällen mit ein und derselben Wirkung und mit ein und derselben Ursache zu tun haben. In der Eigenschaftensprache, wie man sie nennen könnte, erscheinen Ursachen als Manipulatoren. Die Ursache hat in diesem Fall die Eigenschaft der Person (bzw. die Exemplifikation der Eigenschaft in diesem konkreten Fall), gesund zu sein, durch die Eigenschaft (bzw. deren Exemplifikation), krank zu sein, verdrängt. Konvertiert man denselben Sachverhalt in die Währung der Tatsachen- und Ereignissprache, erscheinen Ursachen hingegen als Schöpferinnen ihrer Wirkungen. Denn jetzt scheint es, als habe die Ursache eine Tatsache geschaffen bzw. ein Ereignis hervorgebracht, die bzw. das es ohne diese Ursache (ceteris paribus) nicht gegeben hätte.

Erklärung

und Verursachung

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Diese Ausführungen sollten zeigen, dass es nicht zwei Arten von Ursachen, sondern zwei Arten der Konzeptualisierung von Ursachen und ihren Wirkungen gibt, aus denen zwei verschiedene Vorstellungen davon hervorgehen, wie eine Ursache zu ihrer Wirkung steht. Und vor diesem Hintergrund wird schließlich deutlich, dass auch die zuerst erläuterte Zweideutigkeit des Erklärungsbegriffs dem ersten Anschein zum Trotz nicht wirklich zu zwei Arten von Erklärungen, sondern lediglich zu den zwei erläuterten Auffassungen vom Erklären fuhrt. Es gibt folglich keinen Unterschied zwischen den mutmaßlich grundlegenden und den weniger grundlegenden Erklärungen. Also ist eine Antwort auf die Frage, warum der Überbau und die Produktionsverhältnisse einer Gesellschaft so sind, wie sie sind, zugleich auch eine Erklärung dafür, dass es genau diesen so und so beschaffenen Überbau und genau die so und nicht anders gelagerten Verhältnisse überhaupt gibt. Dieses Ergebnis hätte man übrigens auch aus der ersten Klärung herleiten können, der zufolge aus dem Satz ,a ist die Ursache von b' auf den Satz ,a erklärt b' geschlossen werden kann. Denn es liegt nahe, aus der aufgewiesenen Doppeldeutigkeit des ersten Satzes auf eine entsprechende Ambiguität des zweiten zu folgern. Und in der Tat kann man die Behauptung, dass es zu der angesprochenen Krankheit kam, weil die Person von dem und dem Virus befallen wurde, sowohl dahin gehend verstehen, dass das Virus erklärt, warum es diese konkrete Erkrankung (also dieses Ereignis) überhaupt gibt, als auch dahin gehend deuten, dass das Virus der Erklärung dafür dient, dass die Person jetzt in diesem bedauerlichen Zustand vorzufinden ist, also die Eigenschaft aufweist, infiziert zu sein. Die zurückliegenden Ausführungen zur letzten der fünf Erläuterungen des Erklärungskonzepts führten uns zugegebenermaßen in metaphysisch vernebeltes Gelände. Jetzt ist es aber an der Zeit, für die Erklärungsproblematik hinlänglich sensibilisiert auf die Hauptstraße zurückzukehren, die durch dieses Kapitel führt. In welchem Sinn geht es bei Marx um Erklärungen?

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Entsprechung,

Bedingung,

3. Zurück

Bestimmung:

Erklärung

Marx

Im vorletzten Abschnitt wurden einige Ausdrücke zusammengetragen, die Marx häufig dann verwendet, wenn er von den Zusammenhängen zwischen den drei Elementen des Historischen Materialismus spricht. Dabei war vor allem von Entsprechungs-, Bestimmungs- und Bedingungsverhältnissen die Rede. Wie stellen sich diese Vokabeln vor dem Hintergrund des zurückliegenden Abschnitts dar? In Anbetracht der fünf Erläuterungen sollten uns zunächst solche Passagen im Werk von Marx und Engels ins Auge fallen, in denen davon die Rede ist, dass zwischen den Elementen des Historischen Materialismus Entsprechungsverhältnisse bestehen, oder in denen das Anliegen formuliert wird, den Zusammenhang zwischen diesen Elementen aufzuweisen. Und der Grund für die Auffälligkeit dieser Äußerungen geht aus der dritten Erläuterung hervor, der zufolge die Erklärungsrelation eine asymmetrische Beziehung ist. Dem entgegen verweisen die Rede von einem Entsprechungsverhältnis bzw. das Anliegen, Zusammenhänge aufzuweisen, klarerweise auf symmetrische Konstellationen. Einfacher gesagt: wenn irgendein α einem b entspricht, dann entspricht freilich umgekehrt b auch a. Und wenn ein Zusammenhang zwischen α und b aufgewiesen wird, dann ist damit trivialerweise auch ein Zusammenhang zwischen b und α dargestellt. In solchen Fällen ist also nicht ohne weiteres zu erkennen, ob eine Erklärungsbehauptung aufgestellt und wie diese Behauptung gegebenenfalls zu verstehen ist. Es liegt jedoch auf der Hand, dass die Sichtweise, die sich aus den symmetrischen Verhältnissen ergeben würde, nicht dem Anliegen von Marx entspricht. Dies wird deutlich, wenn wir uns noch einmal an die Grundintention erinnern, die den Ausgangspunkt von Marxens Denken bildet. Diese als Reflex auf den Idealismus zu verstehende Grundintention beruht ja nicht allein auf der Annahme, dass zwischen dem Bewusstsein bzw. dem Denken der Menschen und ihrem gesellschaftlichen Sein irgendwelche Zusammenhänge aufzuweisen sind, die darin begründet sind, dass sich das Bewusstsein und das Sein wechselseitig entsprechen. Vielmehr bringt diese Grundintention die Vorstellung zum Ausdruck, dass zwischen den Kernelementen des Historischen Materialismus spezifische Abhängig-

Zurück

ΐζΜ Marx

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ketten, und zwar einseitige Abhängigkeiten bestehen. Marx will nicht nur sagen, dass das Bewusstsein der Menschen den jeweils gegebenen Produktionsverhältnissen entspricht, die ihrerseits dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte entsprechen. Vielmehr geht es ihm um den Nachweis, dass das Bewusstsein der Menschen von den Produktionsverhältnissen abhängig ist, unter denen sie leben, wobei diese Verhältnisse ihrerseits vom Entwicklungsstand der Produktivkräfte abhängig sind.11 Es geht also nicht nur darum, im konkreten historischen Fall eine Entsprechung oder einen Zusammenhang zwischen den Elementen des Historischen Materialismus zu belegen. Vielmehr lautet die These von Marx, dass bestimmte Produktivkräfte bestimmte Verhältnisse und dadurch auch bestimmte Bewusstseinsformen in einem noch zu klärenden Sinn dieser Worte nach sich Riehen. Diese Vorstellung spezifischer Abhängigkeiten wird viel deutlicher, wenn Marx statt von Entsprechungsverhältnissen oder irgendwelchen Zusammenhängen von Bedingungs- oder Bestimmungsverhältnissen spricht. Denn im Gegensatz zu den Konzepten der Entsprechung oder des Zusammenhangs bringen die Begriffe der Bedingung und der Bestimmung die eben herausgestellte Asymmetrie klar zum Ausdruck. Die Rede davon, dass etwas durch etwas anderes bedingt wird, oder davon, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, stimmt ja augenfälligerweise mit dem Konzept der Abhängigkeit überein. Wenn b von α bedingt oder bestimmt wird, dann bedeutet dies zumeist, dass b in einer noch zu klärenden Art von α abhängig ist. Heißt dies aber auch, dass b durch α zu erklären ist? Ich denke, in aller Regel ist dem so. Dies gilt zwar nicht ohne weiteres, wenn man den mehr technischen bzw. formalen Unterschied zwischen einer notwendigen und einer hinreichenden Bedingung im Sinn hat, der aus mathematischen, logischen oder auch philosophischen Diskursen vertraut ist. Doch mit Blick auf das Anliegen von Marx ist lediglich der mehr umgangssprachliche Gebrauch des Ausdrucks ,Bedingung' einschlägig, in dem unter Bedingungen so gut wie immer notwendige Bedingungen verstanden werden. Und in Anbetracht dessen ist klar zu erkennen, dass das Vorliegen einer derartigen Bedingung häufig dazu verwendet wird, das Gegebensein des Bedingten zu erklären. Ein einfaches Beispiel macht diesen kompliziert klingenden, aber an sich ganz schlichten Sachverhalt deutlich. Wenn es etwa

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Entsprechung,

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Bestimmung:

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heißt, ein Staatsmann sei nur unter der Bedingung bereit, an einem anberaumten Gipfeltreffen teilzunehmen, dass keine Delegation eines verfeindeten Staats zu dem Treffen eingeladen wird, dann mag man ex post durchaus bereit sein zu sagen, dass der Staatsmann an dem Gipfeltreffen teilnahm, weil die gestellte Bedingung erfüllt war. In diesem Fall erklärt folglich die erfüllte Bedingung (zumindest teilweise) die Teilnahme des Politikers an jenem Treffen. Vor dem inzwischen entfalteten Hintergrund ist auf der einen Seite also deutlich, dass sich Marx die Rede von irgendwelchen Zusammenhängen oder Entsprechungen zwischen den Elementen seiner Theorie um der Genauigkeit willen verkneifen sollte. Denn diese Ausdrucksweise verschleiert sein Anliegen, dem durch die Verwendung der Begriffe der Bestimmung und der Bedingung weit besser Rechnung zu tragen ist. In Anbetracht dieser Ergebnisse gehe ich von nun an davon aus, dass Marx in der Tat beansprucht, sowohl Bewusstseinsformen als auch Produktionsverhältnisse zu erklären, insofern er sich davon überzeugt zeigt, dass die Bewusstseinsformen einseitig von den jeweiligen Verhältnissen und die Produktionsverhältnisse ihrerseits einseitig vom gegebenen Entwicklungsstand der Produktivkräfte abhängig sind. Der nachfolgende Abschnitt wird indes zeigen, inwieweit Marx dann aber doch dazu berechtigt ist, von einem anderen Blickwinkel aus betrachtet von Entsprechungen, besser noch von Zusammenhängen zu reden. Denn auch wenn es richtig ist, dass diese Redeweise sein hauptsächliches Erklärungsanliegen verschleiert, ist es der Sache nach doch so, dass auch der Überbau die Produktionsverhältnisse und diese ihrerseits die Entwicklung der Produktivkräfte auf eine spezifische Art und Weise beeinflussen. Und in Anbetracht dieser Beeinflussung, die sich als eine kausale Beeinflussung erweisen wird, ergibt sich eine eigentümliche, nämlich wechselseitige Abhängigkeit zwischen den Elementen, auf die sich der Historische Materialismus stützt. Denn während die von Marx hervorgehobene Erklärungslinie von den Kräften über die Verhältnisse hin zum Überbau verläuft, gibt es auch eine kausale Linie, die sich umgekehrt vom Überbau über die Verhältnisse bis hin zu den Kräften zieht. Diese Zusammenhänge möchte ich jetzt erläutern, indem ich der Frage nachgehe, ob die Erklärungen, die der Historische Materialismus verspricht, Kausalerklärungen sind oder nicht.

Kausalerklärungen

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4. Liefert der Historische Materialismus Kausalerklärungen? Bevor wir uns der Kernfrage dieses Abschnitts zuwenden, ist es an dieser Stelle angebracht, kurz innezuhalten, um uns etwas genauer die Reichweite des Erklärungsanspruchs vor Augen zu führen, der mit dem Historische Materialismus einhergeht. In diesem Zusammenhang sind vor allem zwei Unterscheidungen von Belang, die zusammengenommen die unterschiedlichen Facetten des besagten Anspruchs verdeutlichen. Statische vs. dynamische Erklärungen. Der erste Unterschied betrifft die Frage, ob ein bestimmter gesellschaftlicher Zustand oder aber ein Zustandswechsel, also eine gesellschaftliche bzw. historische Veränderung erklärt werden soll. Diese Unterscheidung ist wichtig, weil Marx beispielsweise im bereits mehrfach zitierten Vorwort der Arbeit Zur Kritik der Politischen Ökonomie klarstellt, dass er nicht nur die jeweils gegebenen Produktionsverhältnisse bzw. den gegebenen Uberbau einer Gesellschaft, sondern auch Umwälzungen, also Veränderungen der Verhältnisse und des Überbaus ins Auge fassen möchte: Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen [...] Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Uberbau langsamer oder rascher um. (13, 9)

Erklärungen von gesellschaftlichen Zuständen seien statische, Erklärungen von Zustandsänderungen hingegen dynamische Erklärungen genannt. Nun ist diese Rede von den zwei verschiedenen Arten der Erklärung jedoch mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. Denn ihrer Machart nach, wie man sagen könnte, beruhen beide Arten der Erklärung auf ein und demselben Grundgedanken. Dieser Gedanke besagt, dass die Produktionsverhältnisse einer Gesellschaft zum Zeitpunkt t sind, wie sie sind, weil der Entwicklungsstand der Produktivkräfte in dieser Gesellschaft zu t ist, wie er ist (und das Entsprechende gilt für

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Entsprechung,

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Erklärung

die Beziehung zwischen dem Überbau und den Produktionsverhältnissen), dass also der Entwicklungsstand der Produktivkraft erklärt, warum die Verhältnisse in dem und dem Zustand sind. Und aus diesem Gedanken, der die statischen Erklärungen zum Thema hat, scheint die Überzeugung zu folgen, dass eine Änderung der Produktivkraft einer Gesellschaft eine Änderung der Produktionsverhältnisse erklärt (wieder gilt dasselbe für die Beziehung zwischen dem Überbau und den Verhältnissen). Denn weil der Entwicklungsstand der Kräfte zum Zeitpunkt t; anders ist als zum Zeitpunkt t?, scheint es erklärlich, dass auch die Verhältnisse zu anders sind als zu U. Dynamische Erklärungen sind also so gesehen nicht wirklich von einer anderen Art, sondern eher so etwas wie Kombinationen von statischen Erklärungen und beruhen insoweit auf demselben Grundgedanken. Gleichwohl liegt an dieser Stelle ein Schwachpunkt der Theorie von Marx, der aber erst im Rahmen ihrer funktionalistischen Auslegung in voller Schärfe zu erkennen sein wird. Inter- vs. Intraepochale Erklärungen.12 Was die zweite Unterscheidung anbelangt, die die Reichweite des Erklärungsanspruchs des Historischen Materialismus betrifft, muss man sich vor Augen führen, dass Marx in seinen mehr programmatisch gehaltenen Ausführungen - man denke ζ. B. abermals an das Vorwort — gern den Eindruck erweckt, als ob es ihm vornehmlich um Erklärungen dafür ginge, wie es zu den großen epochalen Umschwüngen in der Geschichte der bisherigen Gesellschaften gekommen ist. Das ist ein Punkt, der deutlich wird, wenn er im Anschluss an die Darstellung der Kernidee des Historischen Materialismus „asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation" zu unterscheiden vorschlägt. (13, 9) Mit Blick auf die entsprechenden Erklärungen, aus denen hervorgeht, wie es von einer Gesellschaftsformation zu einer anderen gekommen ist, könnte man folglich von interepochalen Erklärungen sprechen. Nun ist es jedoch wichtig zu sehen, dass der Historische Materialismus nicht nur solche, sondern auch intraepochale Erklärungen anbietet, wie man sie naheliegenderweise nennen könnte.13 Mit Blick auf solche Erklärungen, die ich statische genannt habe, ist dies ohnehin augenfällig. Denn wenn Marx etwa im Kapital das bürgerliche Gesellschaftssystem analysiert und dabei erklärt, weshalb die bürgerli-

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chen Produktionsverhältnisse mit den und den Bewusstseins formen einhergehen, dann liegt es auf der Hand, dass es ihm nicht um irgendwelche Epochenumschwünge, sondern um Zustände geht, die innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsformation zu beobachten sind. Dass die Unterscheidungen zwischen den statischen und dynamischen sowie zwischen den intraepochalen und interepochalen Erklärungen zu einer Matrix fuhren, die tatsächlich vier verschiedene Fälle zulässt, wird schließlich deutlich, wenn wir die Aufmerksamkeit auf solche Erklärungen des Historischen Materialismus richten, die sowohl dynamischer als auch intraepochaler Natur sind. Das wahrscheinlich berühmteste Beispiel fur eine Erklärung dieser Art liefert Marxens Analyse der Einführung der Fabrikgesetze in England, die schrittweise zwischen 1802 und 1850 stattgefunden hat.14 Insofern die Verabschiedung dieser Gesetze eine (punktuelle) Veränderung des Überbaus und zwar einer Veränderung innerhalb des kapitalistischen Systems darstellt, haben wir es mit einer sowohl dynamischen als zugleich auch intraepochalen Erklärung zu tun. Vor dem Hintergrund dieses Ausblicks darauf, was der Historische Materialismus alles erklären soll, nun zur Hauptfrage dieses Abschnitts. Sind die Erklärungen, die diese Theorie anbietet, Kausalerklärungen, wie wir sie im dritten Abschnitt dieses Kapitels kennen gelernt haben? Erklärt der Historische Materialismus diejenigen Phänomene, die er zu erklären beansprucht, indem er die Ursachen dieser Phänomene aufweist? Verursachen - noch einmal anders gefragt - bestimmte Produktivkräfte die jeweiligen Produktionsverhältnisse, die ihrerseits zur Ursache neuer Bewusstseinsformen werden? Insofern alle vier herausgestellten Facetten der Erklärung auf ein und demselben Grundgedanken beruhen, der um eine noch zu erläuternde Abhängigkeit zwischen den Kernelementen des Historischen Materialismus kreist, sollten wir getrost davon ausgehen, dass es hinsichtlich der aufgeworfenen Frage eine einheitliche Antwort gibt. In jedem Fall bedürfte es eher eines Arguments dafür, dass dem nicht so ist, dass also einige dieser Erklärungen kausaler Art sind, andere hingegen nicht. Da solch ein Argument jedoch nicht abzusehen ist, schlage ich vor, der Einfachheit halber davon auszugehen, dass die Antwort einheitlich ausfällt.

136

Entsprechung,

Bedingung,

Bestimmung:

Erklärung

Aber haben wir es überhaupt mit Kausalerklärungen zu tun? In Anbetracht dieser Frage ist in jedem Fall erst einmal festzustellen, dass einige Passagen aus den Schriften von Marx und Engels durchaus das Bild eines schlichten kausalen Zusammenhangs nahe legen.15 Diesem Bild zufolge verursacht eine Weiterentwicklung der Produktivkräfte eine Veränderung der Produktionsverhältnisse, wobei diese Veränderung der Verhältnisse ihrerseits eine Veränderung des Überbaus kausal nach sich zieht. Man könnte folglich annehmen, dass Marx sagen möchte, dass der Entwicklungsstand der Produktivkräfte die gegebenen Produktionsverhältnisse zu erklären erlaubt, gerade weil und insofern dieser Entwicklungsstand jene Produktionsverhältnisse verursacht hat, so wie etwa der Regen in der vergangenen Nacht die Überschwemmung des Kellers zu erklären erlaubt, weil und insofern er die Ursache der Überschwemmung war. Unterstützt wird dieses Sicht der Dinge durch den Umstand, dass dem skizzierten Bild zufolge genau genommen nicht die Produktivkräfte, die Produktionsverhältnisse und die Bewusstseinsformen selbst als Ursachen oder Wirkungen erscheinen. Vielmehr hat es den Anschein, als ob eine Veränderung des Entwicklungsstandes der Produktivkräfte eine Veränderung der Produktionsverhältnisse bewirkt, die ihrerseits eine Veränderung der Bewusstseinsformen kausal nach zieht. Und solche Veränderungen, die ja ontologisch betrachtet zu den Ereignissen zählen, sind sicherlich allen Bedenken zum Trotz, die von einigen Philosophen gegen diese Annahme vorgebracht wurden, die am nächsten liegenden Kandidaten für die Begriffe der Ursache und der Wirkung. Wenn Marx jedoch auf irgendwelche Kausalzusammenhänge zu sprechen kommt oder das Vorliegen solcher Zusammenhänge zumindest nahe legt, zeigt sich interessanterweise ein etwas komplexeres Bild, das der eben geschilderten Sicht der Dinge widerspricht. Diesem Bild zufolge bewirken nämlich umgekehrt Veränderungen des Überbaus, also der Bewusstseinsformen (bzw. Veränderung der Interessen- und Bedürfnislage unter den Menschen) Veränderungen in den Produktionsverhältnissen. Und diese Änderungen der Produktionsverhältnisse ziehen dieser Sicht der Dinge zufolge ihrerseits Veränderungen der Produktivkräfte kausal nach sich. Durch die kausale Brille betrachtet, kehren sich die Beziehungen zwischen den Kernelementen des Historischen Materialismus also um.

Kausalerklärungen

?

137

Dass Marx sich die kausalen Beziehungen tatsächlich eher nach diesem zweiten Muster vorstellt, ist besonders deutlich in solchen Zusammenhängen zu erkennen, in denen er die Erfindung neuer Produktivkräfte auf die Erfordernisse der veränderten Produktionsbzw. Marktverhältnisse zurückführt. So heißt es etwa in der Deutschen Ideologie: Als der Hauderer und Frachtwagen den entwickelten Bedürfnissen des Verkehrs nicht mehr genügte, als u. a. die Zentralisation der Produktion durch die große Industrie neue Mittel zum rascheren und massenweisen Transport ihrer Massen von Produkten nötig machte, erfand man die Lokomotive und damit die Anwendung der Eisenbahn auf den großen Verkehr. (3, 284f.)

Neue Produktivkräfte erscheinen hier als Wirkungen, nämlich als Wirkungen veränderter Produktionsverhältnisse, keinesfalls jedoch als die Ursachen irgendwelcher Änderungen der Produktionsverhältnisse. Und in der kurz darauf verfassten Schrift Das Elend der Philosophie finden sich zahlreiche Passagen wie etwa diese, in denen Marx die Produktivkräfte ebenfalls als Wirkungen, nämlich als Wirkungen einer veränderten Bedürfnislage darstellt: Als in England der Markt eine solche Entwicklung gewonnen hatte, daß die Handarbeit ihm nicht mehr genügen konnte, empfand man das Bedürfnis nach Maschinen. Man sann nun auf die Anwendung der mechanischen Wissenschaft, die bereits im 18. Jahrhundert fertig da war. (4, 154) 16

Dem hier gezeichneten Bild zufolge führen geänderte Produktionsverhältnisse zumindest bei bestimmten Teilen der Bevölkerung, die unter diesen Verhältnissen leben und wirtschaften, zu dem Bedürfnis, über solche Produktivkräfte zu verfügen, die diesen neuen Verhältnissen adäquat sind. Solche Bedürfnisse bzw. Interessen, die man in Anbetracht unserer Auslegung zum dritten Element des Historischen Materialismus, also zu den Bewusstseinsformen zu zählen hat, führen dann über kurz oder lang sowohl zur Erfindung als auch zur Einführung neuer Produktivkräfte. Der Uberbau bedingt also, wenn man so sagen will, die Entwicklung der Produktivkräfte. Dieses Bild passt im Übrigen nahdos mit anderen Ergebnissen unserer Überlegungen

138

Entsprechung,

Bedingung,

Bestimmung:

Erklärung

zusammen. Denn wir haben an früherer Stelle den Standpunkt vertreten, dass der Überbau einer Gesellschaft in erster Linie aus den Wünschen und Meinungen der Gesellschaftsmitglieder besteht, wobei diese Einstellungen dazu dienen, das Tun und Lassen dieser Menschen kausal zu erklären. Weil die Menschen in Anbetracht neuer Produktionsverhältnisse neue Bedürfnisse, also neue Wünsche ausprägen, tun sich einige dieser Menschen daran, neue Produktionsmittel zu ersinnen, um sich in ihrer veränderten Umgebung adäquat verhalten zu können. Die damit zutage getretenen Kausalzusammenhänge widersprechen offensichtlich dem Angebot, eine Veränderung der Produktivkräfte als Ursache veränderter Produktionsverhältnisse zu begreifen. Und was die rein kausalen Zusammenhänge anbelangt, scheint das Manifest ein Bild zu liefern, dem zufolge sogar von kausalen Wechselwirkungen zwischen den Elementen des Historischen Materialismus auszugehen ist.17 Dort heißt es nämlich bezüglich der Entwicklungsgeschichte der Bourgeoisie und ihres kapitalistischen Gesellschaftssystems: Die bisherige feudale oder zünftige Betriebsweise der Industrie reichte nicht mehr aus für den mit den neuen Märkten anwachsenden Bedarf. Die Manufaktur trat an ihre Stelle. [...] Aber immer wuchsen die Märkte, immer stieg der Bedarf. Auch die Manufaktur reichte nicht mehr aus. Da revolutionierte der Dampf und die Maschinerie die industrielle Produktion. [...] Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt, den die Entdeckung Amerikas vorbereitete. Der Weltmarkt hat dem Handel, der Schiffahrt, den Landkommunikationen eine unermeßliche Entwicklung gegeben. Diese hat wieder auf die Ausdehnung der Industrie zurückgewirkt, und in demselben Maße, worin Industrie, Handel, Schiffahrt, Eisenbahnen sich ausdehnten, in demselben Maße entwickelte sich die Bourgeoisie

[...]. (4, 463f.) Ich denke, man kann auf der einen Seite durchaus einräumen, dass diese holzschnittartige Kurzdarstellung der Entwicklung des kapitalistischen Wirtschaftssystems vom späten Mittelalter bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts im Großen und Ganzen den historischen Tatsachen entspricht. Auf der anderen Seite muss man aber erst recht eingeste-

Erklärung,

Verursachung,

Zweck und Funktion

139

hen, dass diese Kurzgeschichte kaum noch mit der bisher veranschaulichten Theorie namens Historischer Materialismus in Einklang zu bringen ist. Hierzu liegt in der zitierten Passage vor allem viel zu viel Gewicht auf der Bedeutung des Anwachsens der Märkte und des Bedarfs mit Blick auf die Entwicklung der Produktivkräfte. Denn es bleibt vollkommen unklar, wie dieses Anwachsen in demjenigen Bild einen Platz finden könnte, das der Historische Materialismus vom Lauf der historischen Gegebenheiten zeichnet. Und damit sind wir an einem entscheidenden Punkt für die Gesamtargumentation dieser Studie angelangt. Wenn wir nämlich all die soeben beleuchteten Kausalverhältnisse zwischen den Elementen des Historischen Materialismus einräumen und zugleich der Folgerung zustimmen, dass aus den betreffenden Kausalverhältnissen auch die entsprechenden Erklärungen abzuleiten sind, dann kann Marx für seine explanatorischen Hauptthesen nur dann ein eigenständiges Gewicht beanspruchen, wenn sich die von ihm favorisierten Erklärungen auf eine interessante Art und Weise von den Kausalerklärungen unterscheiden. Denn anderenfalls würden die von Marx formulierten Erklärungen einfach nur ins große Meer der übrigen Kausalerklärungen gegossen und es wäre nicht zu sehen, was der Historische Materialismus in Sachen Erklärung Interessantes zu sagen hat. Anders ausgedrückt, sollte Marx am besten einen anderen Begriff der Erklärung im Schilde führen, wenn er für seine Theorie einen nennenswerten Erkenntniswert beanspruchen möchte. Im nachfolgenden Abschnitt möchte ich im Rahmen einiger weiterer Ausführungen zur Erklärungsproblematik skizzieren, was es mit diesem anderen Begriff - dem Konzept der funktionalen Erklärung - im Ansatz auf sich hat. Und im nächsten Kapitel werden wir uns daraufhin mit diesem Konzept ausführlich beschäftigen.

5. 'Erklärung, Verursachung, Zweck und

"Punktion

Im zurückliegenden Abschnitt war zu sehen, inwieweit Marx davon ausgehen muss, dass die Produktionsverhältnisse einer Gesellschaft einen kausalen Einfluss auf die Entwicklung der Produktivkräfte

140

Entsprechung,

Bedingung,

Bestimmung:

Erklärung

ausüben. Denn er räumt ein, dass ein kausaler Pfad von den Verhältnissen, unter denen die Mitglieder einer Gesellschaft leben, über den Überbau, genauer über die Bedürfnisse und Interessen der Menschen hin zu ihrem Handeln und damit nicht zuletzt zur Erfindung und Einführung neuer Produktivkräfte führt. Wenn wir uns vor diesem Hintergrund noch einmal an die aller erste Vorklärung im zweiten Abschnitt dieses Kapitels erinnern, die einen engen Zusammenhang zwischen der Erklärungs- und der Verursachungsthematik zum Ausdruck brachte, gelangen wir unumgänglich zu dem Ergebnis, dass Marx einräumen muss, dass die Produktionsverhältnisse dazu dienen, die Entwicklung der Produktivkräfte kausal zu erklären.18 Ein derartiges Zugeständnis, wenn man es überhaupt so nennen möchte, führt natürlich nicht unmittelbar zu einem Widerspruch mit Marxens Anliegen, umgekehrt durch den Entwicklungsstand der Produktivkräfte die Produktionsverhältnisse und durch die Verhältnisse den Überbau zu erklären. Aber man fragt sich an diesem Punkt der Überlegungen, was es mit diesem Anliegen in Anbetracht der eben eingeräumten Kausalerklärungen noch auf sich haben könnte. Wozu nach weiteren Erklärungen nach Maßgabe des Historischen Materialismus Ausschau halten, wenn jene Kausalerklärungen möglich sind? Anders gefragt, was könnte die ureigene Erklärungsleistung des Historischen Materialismus sein, durch die er über die zugestandenen Kausalerklärungen hinausgeht? Diese Frage möchte ich in diesem Abschnitt beantworten, indem ich zeige, welches Erklärungsanliegen es mit Blick auf den Historischen Materialismus zu berücksichtigen gilt. Das folgende Beispiel wird uns dieses Anliegen verdeutlichen. Angenommen, jemand möchte von uns eine Erklärung dafür haben, dass die Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft, von der ihm erzählt wurde oder die er mit eigenen Augen beobachten konnte, von Zeit zu Zeit rituelle Regentänze aufführen. Diese Person möchte mit anderen Worten wissen, warum es in jener Gesellschaft diese rituellen Regentänze gibt. Diese Frage kann man nun so verstehen, als ob es darum gehen würde, verständlich zu machen, welche kausalen Faktoren in der Geschichte dieser Gesellschaft zur Genealogie dieser Regentänze beigesteuert haben. Nimmt man also die Regentänze als eine zu erklärende Wirkung in den Blick, geht es von diesem Stand-

Erklärung,

Verursachung,

Zweck und Funktion

141

punkt aus betrachtet darum, die Ursachen zu benennen, die diese Wirkung erklären. Nun kann man sich aber vorstellen, dass diese Person zwar einer zutreffenden Antwort auf diese Frage ihren Glauben schenkt, diese Antwort aber als zutiefst unzufriedenstellend zurückweist. ,Nein, das ist nicht das, was ich wissen wollte. Ich wollte wissen, warum es in dieser Gesellschaft überhaupt irgendwelche rituellen Regentänze gibt.' Nicht ist offenbar danach gefragt, welche Kausalfaktoren bzw. Ursachen dazu führten, dass es in dieser Gesellschaft diese und nicht jene Rituale gibt. Mit der Frage danach, warum es in dieser Gesellschaft überhaupt rituelle Regentänze gibt, ist vielmehr die Bitte um Aufklärung darüber verknüpft, woty es die betreffenden Rituale in jener Gesellschaft gibt. Und dieser Umstand sollte uns an die zweite Erläuterung des Erklärungsbegriffs erinnern. Denn diese besagte unter anderem, dass nicht jede Erklärung zwangsläufig eine Kausalerklärung ist. Rein kausalistisch betrachtet, könnte man nun auf die zweite Frage danach, wozu es diese Regentänze gibt, lediglich diejenige Antwort wiederholen, die man bereits in Reaktion auf die erste Frage gegeben hat. Es gab eben genau die und die genannten, kausal relevanten Faktoren in der Geschichte der betreffenden Gesellschaft, die dazu führten, dass sich genau diese Rituale verbreitet haben. Wären die Faktoren anders gewesen, hätten sie eventuell andere Rituale zur Wirkung gehabt. Wären keine vergleichbaren Faktoren vorhanden gewesen, hätte es vermutlich gar keine vergleichbaren Rituale gegeben. Mehr ist vom rein kausalistischen Standpunkt aus beim besten Willen nicht zu sagen. Nun ist es aber durchaus so, dass man der zweiten Frage einen nachvollziehbaren Sinn abgewinnen kann. Denn es ist ja eine Sache zu erklären, warum sich nach Maßgabe der historischen Gegebenheiten gerade diese spezifischen Rituale in der Geschichte der betreffenden Gesellschaft auf kausalen Wegen durchgesetzt haben; und eine ganz andere Sache zu erklären, wo%u es diese Rituale gibt. Und eine überzeugende Antwort auf diese zweite Frage wird auf eine Aufgabe bzw. auf einen Zweck dieser Rituale verweisen, d. h. deutlich machen, welche Funktion den Ritualen beispielsweise im sozialen Leben der Mitglieder der betreffenden Gesellschaft zukommt. Und damit sind

142

Entsprechung,

Bedingung,

Bestimmung:

Erklärung

wir endlich beim Ausgangspunkt des funktionalistischen Projekts angelangt. Das eben vor Augen geführte Beispiel von den Regentänzen sollte nicht zuletzt verdeutlichen, dass dem Fragepronomen .warum' eine Zweideutigkeit eigen ist, die in philosophischen Kontexten schon in den verschiedensten Zusammenhängen Verwirrung gestiftet hat. Mit dem Warum fragen wir nämlich nicht immer nach dem Ursprung bzw. der Ursache eines Phänomens, also danach, wie bzw. auf Grund wovon es zu diesem Phänomen gekommen ist. Zuweilen dient dieser Ausdruck vielmehr als ein Synonym fur das Pronomen ,wozu' und damit zur Formulierung einer Frage, die auf die Angabe eines Zwecks, einer Funktion bzw. einer Absicht aus ist.19 Und eine adäquate Reaktion auf eine derart gemeinte Frage ist nicht so sehr an das Pronomen ,weiT, sondern vielmehr an die Vokabel,damit' geknüpft. Ein weiteres Beispiel kann diesen Sachverhalt vielleicht noch deutlicher machen. Angenommen, jemand fragt uns danach, warum sich dort dieser Schalter neben der Tür des Zimmers befindet. Wir könnten diesen Menschen entweder so verstehen, als ob er wissen wollte, welche Faktoren auf kausalen Wegen dazu führten, dass sich dieser Schalter jetzt an der Wand befindet. Architekten, Baupläne und nicht zuletzt das Tun eines Elektrikers würden in diesem Fall vermutlich die entscheidenden Rollen in unserer Antwort spielen, die über die Ursachen des zu erklärenden Phänomens Auskunft gibt. Doch die Antwort, dass sich der Schalter dort an der Wand befindet, weil vor geraumer Zeit ein Elektriker kam, um diesen Schalter gemäß den Bauplänen des Architekturbüros genau dort anzubringen, dürfte kaum die Neugierde der fragenden Person befriedigen. Denn sie wollte vermutlich nicht wissen, was die Ursachen dafür sind, dass sich der Schalter dort an der Wand befindet. Vielmehr wollte sie erfahren, wozu dieser Schalter dient. Folglich wird erst die Antwort, dass der Schalter dazu dient, die Zimmerbeleuchtung einzuschalten, dem Erkenntnisinteresse der fragenden Person gerecht. Diese doppelte Bedeutung des Fragepronomens ,weil' zeigt sich nicht zuletzt dann besonders plastisch, wenn es um die Erklärung einer Handlung geht. Wer etwa danach fragt, warum eine Person etwas Bestimmtes tut, will unter Umständen, aber eben nicht unter allen Umständen wissen, was die Ursache der betreffenden Handlung war, auf Grund welcher Faktoren es also zu dieser Handlung ge-

Rückblick

143

kommen ist. Vielmehr ist man im Fall einer Handlungserklärung in aller Regel darauf aus zu erfahren, wo^u die Handlung dienen sollte, was die handelnde Person also mit ihrem Tun beabsichtigte.20 Menschen tun, was sie absichtlich tun, damit sich die Dinge so fügen, wie sie es bezwecken. Und vor diesem Hintergrund ist schließlich klar, wie das explanatorische Anliegen von Marx zu deuten ist. Der Historische Materialismus muss nämlich so verstanden werden, dass er Antworten auf die Frage anbietet, welchem Zweck bzw. welcher Funktion die Produktionsverhältnisse hinsichtlich der Produktivkräfte und die Bewusstseinsformen hinsichtlich der Produktionsverhältnisse dienen. Und auf der Grundlage der so vor Augen geführten funktionalen Zusammenhänge erscheint es dann möglich, sowohl das Bestehen als auch die Veränderungen dieser Zusammenhänge zu erklären. In jedem Fall ist nur diese Lesart sowohl mit den in diesem Kapitel erläuterten Kausalverhältnissen zwischen den Elementen der Theorie von Marx als auch mit dem Umstand verträglich, dass Marx dem Überbau und den Produktionsverhältnissen ganz spezifische Funktionen zuspricht. Diese Funktionen werden wir uns im nachfolgenden Kapitel vor Augen führen.

6. Rückblick Dem einen oder der anderen mag der erste Teil dieses Kapitels vielleicht überflüssig erschienen sein, insofern sein Ergebnis mehr oder weniger von Beginn an auf der Hand lag. In diesem Teil ging es zum einen darum, sicherzustellen, dass der Historische Materialismus in der Tat eine explanatorische Theorie darstellt, selbst wenn erklärungstheoretisches Vokabular im engeren Sinn des Wortes von Marx und Engels relativ selten gebraucht wird. Zum anderen ging es in diesem Zusammenhang aber auch darum, den Blick für die relevanten Bedeutungen des heiklen, weil facettenreichen Ausdrucks .Erklärung' durch eine Reihe von Erläuterungen zu schärfen. Erklären kann man vieles und in vielerlei Hinsicht. Aber nicht jede Hinsicht ist mit Blick auf Marxens Theorie von Belang. Um diesen Punkt zu verdeut-

144

Entsprechung,

Bedingung,

Bestimmung:

"Erklärung

liehen, erwies es sich als angemessen, zusätzlich auch das Verhältnis zwischen der Erklärungsproblematik und dem Kausalitätsbegriff etwas eingehender zu veranschaulichen. Und genau diese Veranschaulichungen waren später notwendig, um den kausalitätstheoretischen Status der Theorie von Marx in den Blick zu nehmen. Tatsächlich war aber der zweite Teil des Kapitels für den Gesamtplan dieser Arbeit von weit größerer Bedeutung. Denn im Anschluss an die Beobachtung, dass die Kausalverhältnisse zwischen den drei Elementen, auf die sich der Historische Materialismus stützt, nicht bzw. nur äußerst unzureichend mit den explanatorischen Kernthesen dieser Theorie zusammenpassen, wurde in diesem Teil das Tor dafür geöffnet, den Historischen Materialismus in die Tradition funktionalistischer Theorien einzureihen. Was es mit den Theorien, die in dieser Tradition stehen, im Allgemeinen und mit dem Konzept der funktionalen Erklärung im Besonderen auf sich hat, ist das Thema des nachfolgenden Kapitels. Dort wird sich schließlich auch im Einzelnen zeigen, in welchem speziellen Sinn des Wortes der Historische Materialismus der Erklärung gesellschaftlicher und historischer Sachverhalte dient.

6. Funktion und Erklärung Dem einen oder der anderen mag bei der Lektüre der zurückliegenden Kapitel vielleicht aufgefallen sein, inwieweit vielen von uns ein gehöriger Schuss Marxismus in Fleisch und Blut übergegangen ist. Dies mag vielleicht überraschen. Aber der Sache nach akzeptieren wir tagein tagaus Erklärungen gesellschaftlicher Phänomene und historischer Veränderungen, die ihrer grundsätzlichen Struktur nach der bis hierher erläuterten Theorie von Marx entsprechen. Niemand ist etwa irritiert, wenn es zuweilen heißt, dass der Anstieg rechtsradikalen Denkens in den neuen Bundesländern auf die dort grassierende Massenarbeitslosigkeit zurückzufuhren sei. Das ist eine Erklärung, die offenbar sozialpsychologische Sachverhalte, die die Bewusstseinsformen bestimmter Menschen betreffen, durch spezifische Umstände erläutert, die mit den Produktionsverhältnissen einhergehen, unter denen diese Menschen leben. Und fast alle, die sich an der Globalisierungsdiskussion beteiligen, die seit Jahren in allen Medien zu verfolgen ist, zeigen sich darin einig, dass die so genannte Globalisierung in erster Linie eine wirtschaftliche Globalisierung, also eine Globalisierung der Produktionsverhältnisse darstellt, die als Reaktion auf die jüngsten Entwicklungen der Produktivkräfte, vor allem der neuen Telekommunikations- und Transportmöglichkeiten zu begreifen ist. Ob diese beiden Erklärungen zutreffen oder nicht, sei hier ausdrücklich dahingestellt. Sie machen jedoch deutlich, inwieweit viele von uns Anhänger des Historischen Materialismus bzw. solcher Erklärungsmuster sind, die mit dieser Theorie verträglich sind. Tun wir aber gut daran? Sind die Erklärungen, die wir da akzeptieren, denn auch gute Erklärungen? In diesem und dem nachfolgenden Kapitel möchte ich untersuchen, unter welchen Bedingungen wir gut daran tun, d. h. in welcher Lesart die Erklärungen des Historischen Materialismus nicht nur akzeptierte, sondern auch akzeptable Erklärungen sind. Zu diesem Zweck ziehe ich zuerst ein Argument

146

Funktion

und

Erklärung

von Gerald Cohen dafür heran, dass der Historische Materialismus als eine funktionalistische Theorie verstanden werden muss, also als eine Theorie, aus der funktionale Erklärungen hervorgehen. Daraufhin führe ich die beiden gängigsten Konzepte der Funktion sowie der funktionalen Erklärung vor Augen und zeige, in welche Schwierigkeiten man gerät, wenn man den Historischen Materialismus diesen Konzepten gemäß auslegt. Dann erläutere ich jedoch im sechsten Abschnitt dieses Kapitels eine alternative Auffassung funktionaler Erklärungen, um zu zeigen, inwiefern eine dieser Auffassung entsprechende Lesart des Historischen Materialismus den angesprochenen Schwierigkeiten entgeht. In Anbetracht dieser Lesart wird sich zum Abschluss dieser Überlegungen jedoch ergeben, dass die Anwendbarkeit der Theorie von Marx in einer entscheidenden Hinsicht beträchtlich zu beschränken ist. Sie leistet nämlich nicht alles, was sie allem Anschein nach zu leisten beansprucht. Dieser Schwachpunkt wird sich aber langfristig als ein Vorteil erweisen. Denn erst durch diesen Einschnitt wird Platz geschaffen, um den Historischen Materialismus mit Marxens Theorie vom Klassenkampf zu verknüpfen. Bevor ich mich daran mache, diesen Punkt zu verdeutlichen, indem ich die beiden Theorien von Marx miteinander verbinde, wird das sechste Kapitel dem Zweck dienen, die von mir favorisierte Theorie funktionaler Erklärung wissenschaftstheoretisch abzurunden. In dieser Hinsicht wird es aus Gründen, die auf den kommenden Seiten zutage treten, wichtig sein, die Begriffe des Systems und des Gesellschaftssystems genauer unter die Lupe zu nehmen.

1. Cohens

Argument

Im zurückliegenden Kapitel haben wir uns mit den explanatorischen Zusammenhängen und Ansprüchen der Theorie von Marx beschäftigt. In Übereinstimmimg mit den Ergebnissen dieser Auseinandersetzung formuliert Cohen ein Argument für die funktionalistische Lesart dieser Theorie, das auf den folgenden Prämissen beruht:

Cohens

(1)

Argument

147

Oer Entwicklungsstand der Produktivkräfte einer Gesellschaft erklärt die Produktionsverhältnisse.

(2) Die Produktionsverhältnisse einer Gesellschaft erklären den Überbau dieser Gesellschaft,1 Ausgangspunkt seiner Überlegungen, die auf die Notwendigkeit einer funktionalistischen Auffassung der Theorie von Marx zielen, ist die Tatsache, dass in beiden Prämissen Konsequenzen bzw. Wirkungen zur Sprache kommen, die das jeweilige Explanandum auf das entsprechende Explanans ausübt. Denn nach Cohens Interpretation haben geeignete Produktionsverhältnisse eine Weiterentwicklung der Produktivkräfte %ur Folge. Und zum Beleg dafür, dass dies tatsächlich der Sicht von Marx entspricht, könnte man abermals das Vorwort anführen, auf das sich im Übrigen auch Cohen massiv stützt. Dort heißt es sinngemäß, dass die Produktionsverhältnisse genau dann obsolet werden, wenn sie aufhören, Entwicklungsformen der Produktivkräfte zu sein und statt dessen zu Fesseln derselben umschlagen. Folglich schreibt Marx «^/-obsoleten Verhältnissen den Zweck bzw. die Funktion zu, die Entwicklung der Produktivkräfte zu begünstigen. Ein geeigneter Überbau, der durch die jeweiligen Produktionsverhältnisse erklärt werden soll, hat in Cohens fünktionalistischer Perspektive eine Stabilisierung der Produktionsverhältnisse zur Folge. Marx bringt diesen Gedanken — etwas genauer die Vorstellung, dass eine anhaltende Reproduktion der bestehenden Verhältnisse zu deren Stabilisierung führt - etwas detaillierter in dieser bereits einmal zitierten Passage aus dem Kapital zum Ausdruck: Von allem andern abgesehn, macht sich dies übrigens von selbst, sobald die beständige Reproduktion der Basis des bestehenden Zustandes, des ihm zugrunde liegenden Verhältnisses, im Lauf der Zeit geregelte und geordnete Form annimmt; und diese Regel und Ordnung ist selbst ein unentbehrliches Moment jeder Produktionsweise, die gesellschaftliche Festigkeit und Unabhängigkeit von bloßem Zufall oder Willkür annehmen soll. Sie ist eben die Form ihrer gesellschaftlichen Befestigung und daher ihrer relativen Emanzipation von bloßer Willkür und bloßem Zufall. Sie erreicht diese Form bei stagnanten Zuständen sowohl des Produktionsprozesses wie der ihm entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnisse durch die bloße wiederholte Reproduktion ihrer selbst. Hat die-

148

se eine Zeitlang gedauert, so befestigt sie sich als Brauch und Tradition und wird endlich geheiligt als ausdrückliches Gesetz. (25, 801 f.)

In Anbetracht dieser beiden funktionalen Wirkungen, die die Produktionsverhältnisse auf die Produktivkräfte und der Überbau auf die Produktionsverhältnisse ausüben, sowie der Ausführungen im zurückliegenden Kapitel über die Begriffe der Erklärung und der Kausalität dürfte an diesem Punkt schon klar sein, dass die beiden Thesen (1) und (2) nicht kausal aufgefasst werden können. Denn Ursachen können zwar ihre Wirkungen erklären. Nicht können jedoch Wirkungen umstandslos ihre Ursachen erklären. Folglich ist eine alternative Antwort auf die Frage vonnöten, wie es angeht, dass Produktivkräfte Produktionsverhältnisse und diese wiederum den Überbau erklären. Cohens Antwort auf diese Frage beruht auf der Überzeugung, dass die beiden Prämissen (1) und (2) nur dann mit den beiden eben erläuterten Annahmen über die involvierten Funktionen, also mit den Aussagen: (2)

Die Produktionsverhältnisse einer Gesellschaft fordern die Entwicklung der Produktivkräfte

und (3)

Der Überbau einer Gesellschaft stabilisiert ihre Produktionsverhältnisse

in Übereinstimmung zu bringen sind, wenn man den Historischen Materialismus als funktionalistische Theorie deutet. Denn die Sätze (3) und (4) implizieren, dass sowohl die Produktionsverhältnisse auf die Entwicklung der Produktivkräfte als auch der Überbau auf die Produktionsverhältnisse einen Effekt, genauer einen funktionalen Effekt ausüben. Diese Beobachtung führe zwar noch nicht zu dem Ergebnis, dass die Verhältnisse und der Überbau durch die genannten Funktionen erklärt werden. Denn Cohen vertritt die Auffassung, dass α für b funktional sein kann, auch wenn es falsch ist, dass α deshalb existiert, weil a fur b funktional ist. Aber die Sätze (3) und (4) in Verbindung mit den Thesen (1) und (2) zwingen zu dieser zusätzlichen Annahme, also zu der Folgerung, dass die Erklärungen des Historischen Materialismus funktionaler Natur sind.

Cohens

Argument

149

Um genauer zu sehen, warum dem so ist, müssen wir uns noch einmal an einige Ergebnisse des zurückliegenden Kapitels erinnern. Dort wurde deutlich, dass Marx zugestehen muss, dass den Produktionsverhältnissen hinsichtlich der Produktivkräfte eine explanatorische Rolle zukommt, da er davon ausgeht, dass die Verhältnisse einen kausalen Einfluss auf die Entwicklung der Kräfte ausüben. Um diesem Sachverhalt Rechnung zu tragen, fragt Cohen danach, inwiefern der Historische Materialismus gleichwohl den Produktivkräften das explanatorische Primat zuweisen kann. Des Weiteren war zu sehen, dass eine entsprechende kausale und damit explanatorische Beziehung zwischen dem Überbau und den Verhältnissen besteht. Auch hier fragt Cohen folglich nach der Möglichkeit eines explanatorischen Primats der Produktionsverhältnisse gegenüber dem Überbau. Wenn Marx nun angesichts dieser Sachlage gleichwohl an den Kernthesen (1) und (2) festhalten möchte, dann kann er Cohens Argument zufolge nicht umhin, diese beiden Thesen funktionalistisch zu deuten.2 Vor diesem Hintergrund stellt Cohen fest, dass der Historische Materialismus damit steht oder fallt, ob eine funktionalistische Auslegung plausibel ist oder nicht. Und wenn ich ihn an diesem Punkt richtig verstehe, spielt er mit dieser Stellungnahme auf den Umstand an, dass es zahlreiche Autoren gibt, die funktionalistische Theorien unsinnig finden, weil ihnen funktionale Erklärungen aus generellen Gründen, die in diesem Kapitel noch zur Sprache kommen, suspekt erscheinen. Damit sind wir mittendrin in der Diskussion des Begriffs der funktionalen Erklärung. Was hat es mit Erklärungen dieser Art auf sich? Sind sie wissenschaftlich adäquate, d. h. wissenschaftstheoretisch zufriedenstellende Erklärungen? Oder haben vielleicht doch diejenigen Philosophen Recht, die solche Erklärungen und damit freilich sämtliche Theorien, die sich auf diese Art der Erklärung stützen, in Bausch und Bogen verdammen?

150

Funktion

und

Erklärung

2. Funktionale Eigenschaften und die Träger der Funktion: Einige Klärungen Funktionale Erklärungen sind Erklärungen, die ihr Explanandum nicht dadurch verständlich machen, dass sie irgendwelche Ursachen zur Sprache bringen, die zu dem betreffenden Explanandum führten. Erklärungen durch einen Verweis auf die Ursache des Explanandum, also Kausalerklärungen, entsprechen im gewissen Sinn dem normalen und zumeist gebrauchten Begriff der Erklärung, wie er im zurückliegenden Kapitel Thema war. Funktionale Erklärungen sind demgegenüber anders. Denn sie erklären, indem sie auf eine Funktion oder auf einen funktionalen Effekt des Explanandum verweisen, um die Frage zu beantworten, wozu bzw. zu welchem Zweck das betreffende Explanandum existiert. Bevor wir uns vor Augen führen, wie solch eine Erklärung im Einzelnen zu verstehen ist, was es also mit dem Begriff der funktionalen Erklärung auf sich hat, sollten wir in diesem und dem nachfolgenden Abschnitt zuerst den Begriff der Funktion etwas näher beleuchten, auf dem jede Theorie der funktionalen Erklärung zwangsläufig beruht. Dabei wird sich unter anderem zeigen, dass Funktionen nicht so ohne weiteres mit Zwecken oder Zielen gleichgesetzt werden sollten, wie ich es bisher der Einfachheit halber getan habe. Und daraus wird wiederum folgen, dass funktionale Erklärungen keineswegs unter dem Verdacht stehen, altmodisch teleologische Erklärungen zu sein. Richtig verstanden sind derartige Erklärungen nämlich mit einem nüchternen Bild von der Welt und der Wissenschaft durchaus verträglich. Es erscheint aus mehreren Gründen angemessen, die Erläuterung des Konzepts der Funktion mit der Untersuchung des Funktionsbegriffs durch Larry Wright zu beginnen. Denn Wrights Arbeit kann zum einen ohne große Übertreibung als einer der wichtigsten Ausgangspunkte der jüngeren Diskussion um die Begriffe der Funktion und der funktionalen Erklärung im Allgemeinen gelten. Dies zeigt sich allein schon durch den Umstand, dass nahezu jede Arbeit jüngeren Datums zu dieser Thematik auf den Standpunkt von Wright verweist. Zum anderen ist die Wahl dieses Ausgangspunkts aber auch deshalb angemessen, weil sich insbesondere Cohen in seiner Analyse

Funktionale

Eigenschaften

und die Träger der Funktion

151

funktionaler Erklärungen mit Wright auseinandergesetzt hat.3 Aus diesen beiden Gründen werde ich relativ ausführlich auf die Arbeit von Wright eingehen. Und dabei wird noch ein dritter Grund zutage treten, aus dem sich die Beschäftigung mit diesem Autor empfiehlt. Wright stellt nämlich eine Verknüpfung zwischen den Begriffen der Funktion und der funktionalen Erklärung her, die nicht nur ihn auf falsche Fährten fuhrt. Wright eröffnet seine Diskussion mit zwei Vorklärungen, die unter anderem den bereits angesprochenen Verdacht berühren, funktionale Erklärungen führten zwangsläufig in heikle Gefilde teleologischen Denkens. Der ersten Klärung gemäß sind Funktionen nämlich strikt von Zielen zu unterscheiden. Und weil Funktionen etwas anderes als Ziele sind, ist es laut Wright falsch, solchen Autoren zu folgen, die Funktionen einer Analyse unterziehen, die um den Begriff des zielgerichteten Verhaltens kreist.4 Dadurch macht Wright deutlich, dass Erklärungen, die sich auf Funktionen stützen, keine teleologischen Erklärungen sind, wodurch sie dem oft vorgetragenen Vorwurf entgehen, verkappte Überbleibsel vergangener Tage zu sein, in denen teleologisches Denken noch salonfähig war. Um diese wichtige Unterscheidung zwischen Zielen und Funktionen zu begründen, weist Wright darauf hin, dass Zielgerichtetheit eine Eigenschaft ist, die wir streng genommen nur ganz bestimmten Verhaltensweisen zuschreiben können. Das Tun eines Menschen kann etwa zielgerichtet sein oder auch der Flug einer Rakete, die so programmiert wurde, dass sie ein gesetztes Ziel erreicht. Wenn wir diesem Anschein entgegen einem Gegenstand — etwa dem Flugkörper - oder einer handelnden Person Zielgerichtetheit attestieren, sprechen wir Wright zufolge genau genommen ebenfalls von bestimmten Verhaltensweisen, nämlich von dem Verhalten des involvierten Gegenstands bzw. der betreffenden Person. Von Funktionen ist nach Wrights Beobachtung hingegen auch in solchen Fällen die Rede, in denen von einem Verhalten, geschweige denn einem zielgerichteten Verhalten nicht sinnvoll auszugehen ist. So schreiben wir beispielsweise Stühlen und anderen Gebrauchsgegenständen ganz bestimmte Funktionen zu, ohne dabei anzunehmen, dass sich diese Dinge irgendwie verhalten. Darüber hinaus könne eine Verhaltensweise auch eine Funktion haben, ohne deshalb allein schon zielgerichtet zu sein. Für Wright ist das Blinzeln der Augen ein

152

Funktion und

'Erklärung

Beispiel hierfür.5 Und diese Abkopplung des Begriffs der Funktion vom Kon2ept des zielgerichteten Verhaltens ist für unsere Zusammenhänge nicht nur deshalb wichtig, weil sie den Historischen Materialismus von teleologischen Verflechtungen befreit. Vielmehr ist dies auch darum von Belang, weil wir mit Blick auf diese Theorie klarerweise von den Funktionen solcher Entitäten sprechen, die mit dem Verhaltensbegriff nicht viel zu tun haben. Der zweiten Vorklärung zufolge hat eine Erläuterung des Begriffs der Funktion unbedingt von der Unterscheidung zwischen der Funktion einer Sache und anderen Eigenschaften dieser Sache auszugehen. Um jedoch zuerst auf einen nicht ganz unwichtigen Punkt aufmerksam zu machen, der noch nicht mit der Unterscheidung selbst zusammenhängt, ist es hilfreich, Wright selbst sprechen zu lassen: Höchstwahrscheinlich beruht die Analyse auf der grundlegenden Unterscheidung zwischen der Funktion einer Sache und anderen Dingen, die sie tut und die nicht ihre Funktion (oder eine ihrer Funktionen) sind. Die Funktion eines Telephonapparats besteht darin, schnelle und bequeme Kommunikation zu ermöglichen. Aber es gibt viele weitere Dinge, die Telephonapparate tun: sie nehmen Platz auf meinem Schreibtisch ein, stören mich in der Nacht, absorbieren und reflektieren Licht usw. Die Funktion des Herzens besteht darin, Blut zu pumpen, und nicht darin, ein dumpfes Geräusch oder Zickzacklinien auf Elektrokardiogrammen zu produzieren, was ebenfalls Dinge sind, die es tut.6

Der Punkt, von dem ich sprach, besteht darin, dass Wright hier Funktionen von anderen Dingen unterscheidet, die vom Träger der Funktion getan werden. Konsequenterweise müssten wir daher davon ausgehen, dass auch Funktionen zu den Dingen gehören, die von den jeweiligen Trägern der Funktion getan werden. Aber das wäre ein Sprachgebrauch, der uns leicht in die Irre führen könnte und den auch Wright in Anbetracht seiner Unterscheidung zwischen Funktionen und Zielen vermeiden sollte. Denn in der Diskussion dieses Unterschieds machte er ja selbst darauf aufmerksam, dass auch in solchen Fällen von Funktionen die Rede ist, in denen von einem Verhalten, also einer Tätigkeit bzw. einem Tun nicht gesprochen werden kann. Und denken wir noch einmal an eines seiner Beispiele, nämlich den Stuhl und seine Funktion zurück, dann wird hinlänglich

Funktionale

Eigenschaften

und die Träger der Funktion

153

klar, dass die Funktion dieses Möbelstücks nicht als etwas charakterisiert werden kann, das dieser Gegenstand in irgendeinem ernst zu nehmenden Sinn des Wortes tut. Funktionen sollten also keineswegs als eine Teilmenge aller Tätigkeiten gedeutet werden, die dem Träger einer Funktion zuzusprechen sind. Besser ist es daher, eine Begrifflichkeit aufzugreifen, derer ich mich im zurückliegenden Abschnitt bereits bedient habe, als es um die Wiedergabe des Arguments von Cohen ging. Dieser Begrifflichkeit zufolge sind Funktionen eine Teilmenge der Wirkungen, die von dem betreffenden Funktionsträger ausgehen. Dass Blut durch den Organismus fließt, ist nach Maßgabe dieser Terminologie also ein funktionaler Effekt, der vom Herzen ausgeht, wohingegen die Umstände, dass das Herz spezifische Geräusche und Zickzacklinien auf Elektrokardiogrammen verursacht, nichtfunktionale Wirkungen des Herzens darstellen. Da jedoch vor allem im Fall vieler Gebrauchsgegenstände die Konzeptualisierung von Funktionen als eine Teilmenge der Wirkungen viel zu eng erscheint, was deutlich wird, wenn wir ein letztes Mal an den Stuhl und seine Funktion als Sitzmöbel denken, werde ich im Weiteren häufig auf eine terminologische Alternative ausweichen. Diese besteht darin, Funktionen als Eigenschaften anzusprechen und folglich zwischen den funktionalen und den nicht-funktionalen Eigenschaften der Träger dieser Eigenschaften zu unterscheiden. Und im Rahmen dieses Sprachgebrauchs werde ich statt von den Funktionen irgendwelcher Funktionsträger zuweilen auch von den funktionalen Eigenschaften der betreffenden Entitäten sprechen. Vor dem Hintergrund dieser terminologischen Vereinbarungen ist dem Punkt, auf den Wright aufmerksam machen möchte, durchaus zuzustimmen. Eine Klärung des Begriffs der Funktion, also der funktionalen Eigenschaft, kann kaum umhin, dem Unterschied zwischen den funktionalen und den nicht-funktionalen Eigenschaften einer Sache gerecht zu werden. Denn hierin besteht ja die eigentliche Aufgabe einer solchen Analyse: die Frage zu beantworten, worin das Charakteristikum der Funktionen besteht, also anzugeben, was die funktionalen Eigenschaften gegenüber den übrigen Eigenschaften auszeichnet. Im nachfolgenden Abschnitt werde ich Wrights einflussreiche Antwort auf diese Frage vor Augen führen.

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Funktion

und

Erklärung

3. Wrights Analyse Wright geht auf der Grundlage der erläuterten Vorklärungen davon aus, dass es einen, wie er sagt, intrinsischen Zusammenhang zwischen den beiden Begriffen gibt, die ich bisher voneinander getrennt gehalten habe, also zwischen dem Begriff der Funktion und dem Begriff der funktionalen Erklärung. Nachdem er einige in der Literatur vorgetragene Vorschläge, den Funktionsbegriff zu definieren, diskutiert und verworfen hat, eröffnet er nämlich den positiven Teil seines Beitrags mit den folgenden Behauptungen: Die Vorschläge, die wir bisher erwogen haben, haben eine wichtige Beobachtung übersehen, ignoriert oder jedenfalls zu treffen versäumt: Funktionszuschreibungen sind — intrinsisch, wenn man so will — explanatorisch. Von einem X einfach nur zu sagen, dass es eine bestimmte Funktion hat, bedeutet, eine wichtige Art der Erklärung von X anzubieten. Ich denke, der Fehler, dies zu bedenken oder wenigstens ernsthaft in Betracht zu ziehen, ist verantwortlich für das systematische Versagen dieser Analysen in ihrem Versuch, ein zutreffendes Bild von Funktionen zu liefern.7

Vom Herzen zu sagen, dass es die funktionale Eigenschaft hat, Blut durch den Organismus zu pumpen, komme einer Erklärung des Herzens, sprich des Funktionsträgers gleich. Und nur wenn man diese erklärende Natur funktionaler Zuschreibungen (gemeint ist die Zuschreibung einer funktionalen Eigenschaft) berücksichtige, so Wright, könne man zu einer angemessenen Auffassung funktionaler Eigenschaften gelangen. Um diese Sicht zu untermauern, formuliert Wright zwei weitere Überlegungen, bevor er seine Definition des Funktionsbegriffs angibt. Die erste Überlegung fuhrt zurück zur Unterscheidung zwischen Zielen und Funktionen, die zum Ergebnis hatte, dass funktionale Erklärungen keinesfalls teleologischer Natur sind. Den Ausgangspunkt von Wrights Gedankengang liefert diesmal die Feststellung, dass sich sowohl funktionale Zuschreibungen als auch teleologische Zuschreibungen (also Zuschreibungen, die Ziele zur Sprache bringen) charakteristischerweise in um-^u-Sitze umformulieren lassen. Aus der funktionaüstischen Aussage ,Das Herz hat die Funktion, Blut

Wrights

Analyse

155

durch den Organismus zu pumpen' wird durch diesen Schritt der Satz ,Das Herz schlägt, um Blut durch den Organismus zu pumpen.' Und aus der teleologischen Aussage ,Das Verhalten des Kaninchens hat das Ziel, dem Hund zu entkommen' wird der Satz ,Das Kaninchen rennt, um dem Hund zu entkommen.' Teleologische um-^uKonstruktionen sind für Wright nun offenbar zweifellos Erklärungen. Und in Anbetracht des Umstands, dass auch funktionale Zuschreibungen derart umformuliert werden können, legt er nahe, per Analogieschluss zu folgern, dass auch funktionale Zuschreibungen explanatorisch sind. Weil wir also durch die Aussage, dass das Kaninchen rennt, um dem Hund zu entkommen, eine Erklärung dafür geben, warum dieses Tier das besagte Fluchtverhalten an den Tag legt, sollten wir auch die Aussage, dass das Herz schlägt, um Blut durch den Organismus zu pumpen, als eine Erklärung erachten. Die zweite und meines Erachtens wesentlich überzeugendere Überlegung stützt sich auf die kontextuelle Äquivalenz verschiedener Arten von Fragen. Die drei Fragen, die Wright zum Beleg anführt, lauten sinngemäß: 1. Was ist die Funktion von X? 2. Warum haben Cs ein X? 3. Warum hat X die Eigenschaft Y? In einem entsprechend charakterisierten Kontext, so Wright, dienten alle drei Formulierungen dazu, nach der Funktion von X zu fragen. Um sein Beispiel zu paraphrasieren: 1. Was ist die Funktion des Herten? 2. Warum haben Menschen ein Her%? 3. Warum hat das Her% die Eigenschaft, schlagen'? Und da nun laut Wright zum einen auf alle drei Fragen mit ein und derselben Antwort reagiert werden könne, der zufolge das Herz Blut durch den Organismus pumpt, und sich zum anderen die Fragen (2) und (3) durch die Verwendung des Fragepronomens ,,warum' ganz unverblümt als Aufforderungen zu einer Erklärung erweisen, sei davon auszugehen, dass auch die erste Frage eine Bitte um eine Erklärung ist.

156

Funktion

und

Erklärung

Bevor Wright vor diesem Hintergrund seinen Lösungsvorschlag nennt, gibt er noch einen fur uns äußerst aufschlussreichen Hinweis darauf, was für einen Begriff der Erklärung er im Sinn hat. Bisher hat er ja lediglich dafür argumentiert, dass funktionale Zuschreibungen in irgendeiner Art und Weise erklärend sind; nicht jedoch erläutert, in welchem Sinn des Wortes solche Zuschreibungen Erklärungen liefern. An dieser Stelle ist es sinnvoll, sich noch einmal an den Anfang des zurückliegenden Kapitels zu erinnern, wo ich darauf aufmerksam machte, dass man zwischen sehr verschiedenen Erklärungsanliegen unterscheiden kann, und bereits angedeutet habe, dass funktionale Erklärungen meines Erachtens von zahlreichen Autoren mit einem falschen Anliegen in Verbindung gebracht werden. Mit was für einem Erklärungsanliegen verknüpft Wright also sein Konzept der funktionalen Erklärung? Um seine Sicht der Dinge verständlich zu machen, weist er zuerst den Vorschlag zurück, dass funktionale Erklärungen als Antworten auf die Frage zu verstehen sind, wo^u der betreffende Funktionsträger gut sei. Dieser Vorschlag ist für Wright nicht befriedigend, sprich falsch, weil er an seiner zweiten Vorklärung scheitert. Denn Antworten auf die Frage danach, wozu der mutmaßliche Funktionsträger gut ist, können auch auf Eigenschaften verweisen, die in den Augen von Wright keine echten funktionalen Eigenschaften sind. Nasen seien etwa dazu gut, Brillen zu stützen, und Kugelschreiber dazu, sich die Fingernägel zu reinigen. In diesen Fällen kommen jedoch keine echten Funktionen zur Sprache.8 Und der für uns entscheidende Punkt ist, dass man dies Wright zufolge genau daran erkennt, dass die genannten Eigenschaften nicht erklären, warum es Nasen bzw. Kugelschreiber gibt, also nicht erklären, warum die betreffenden Träger der Funktion existieren. In Anbetracht dieser Diagnose schreibt er: Die Sache so zu sehen, fuhrt zu dem Vorschlag, dass Erklärungen durch Funktionszuschreibungen in einem bestimmten Sinn ätiologisch sind, den kausalen Hintergrund des betreffenden Phänomens betreffen. Und dies ist in der Tat, worauf ich hinaus will: Obwohl funktionale Erklärungen offensichtlich nicht im üblichen, eingeschränkten Sinn des Wortes Kausalerklärungen sind, betreffen sie die Frage, wie der Gegenstand mit seiner Funktion zustande kam. Daher sind sie ätiologisch, d. h. .kausal' in einem erweiterten Sinn des Wortes. 9

Wrights

157

Analyse

Funktionale Erklärungen sind also keine Kausalerklärungen in dem engen Sinn, der im zurückliegenden Kapitel diskutiert worden ist, in dem man darunter die Erklärung eines Explanandum durch den Verweis auf eine seiner Ursachen versteht. Aber insofern die Zuschreibung einer Funktion der Erklärung dafür dient, wie der Träger der Funktion an seinen Platz kam, bzw. der Erklärung dafür, weshalb es den Träger der Funktion gibt, verweisen sie unterschwellig doch auch auf die kausale Vorgeschichte des Funktionsträgers. Und in diesem Sinn sind sie ätiologisch, man könnte auch sagen genealogisch bzw. in einem erweiterten Sinn des Wortes kausal.10 Hier passiert meines Erachtens ein entscheidender Fehler, der auf eine Verwechslung zwischen den beiden Bedeutungen des Fragepronomens warum zurückzuführen ist, von denen gegen Ende des zurückliegenden Kapitels die Rede war. Auf diesen Fehler, der funktionale Erklärungen in eine unglückliche Konkurrenz zu den üblichen Kausalerklärungen versetzt, und auf die Frage, wie dieser Fehler zu beheben ist, möchte ich in den beiden nachfolgenden Abschnitten dieses Kapitels zu sprechen kommen. Vor dem inzwischen dargelegten Hintergrund ist Wrights Definition des Begriffs der Funktion überraschend schlicht. Denn sie besteht nur aus zwei notwendigen Bedingungen, die zusammengenommen hinreichend sein sollen. Aussagen der Form ,Die Funktion von X ist Z' bedeuten dieser Definition zufolge: (a) Es gibt X, weil es die Eigenschaft Ζ hat. (b) Ζ ist eine Konsequenz (oder ein Ergebnis) davon, dass es Xgibt.

11

In diesem Abschnitt bin ich nicht nur deshalb so ausführlich auf Wright eingegangen, weil er einen enormen Einfluss auf die weitere Diskussion im Allgemeinen und auf Cohens Auslegung des Historischen Materialismus im Besonderen genommen hat. Vielmehr bot sich Wrights Position auch deshalb als Hintergrund für unsere weiteren Betrachtungen an, weil sich bei ihm zwei Annahmen sehr schön voneinander trennen lassen, die auch heute noch von vielen Philosophen und Philosophinnen geteilt werden. Die eine Annahme besagt, dass Funktionszuschreibungen explanatorisch sind. Und die andere Annahme lautet, dass Funktionszuschreibungen in einem weiten Sinn des Wortes Kausalerklärungen sind und insofern der Erklärung dafür

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Funktion

und

"Erklärung

dienen, wieso es den Träger der Funktion gibt bzw. weshalb es zur Existen% dieses Trägers gekommen ist. Im nachfolgenden Abschnitt werde ich vor Augen fuhren, welches Bild der funktionalen Erklärung sich angesichts dieser Auslegung des Begriffs der Funktion ergibt. Dabei wird sich zeigen, auf welche Schwierigkeiten man stößt, wenn man sich mit der Auffassung von den Begriffen der Funktion und der funktionalen Erklärung, die sich auf die beiden erläuterten Annahmen stützt, Theorien wie dem Historischen Materialismus oder anderen sozial-, kulturbzw. geschichtswissenschaftlichen Theorien zuwendet, die sich funktionaler Erklärungen bedienen. Im Anschluss daran werde ich im übernächsten Abschnitt die zweite der beiden Annahmen zurückweisen, indem ich auf einen plausibleren Standpunkt in Sachen funktionale Erklärung zu sprechen komme, die eine alternative Lesweise der Gesellschafts- und Geschichtstheorie von Karl Marx ermöglicht.

4. Funktionale Erklärungen: Die gängige Sicht Der gängigen Sicht zufolge, die sich aus den beiden hervorgehobenen Annahmen ergibt, dienen Funktionszuschreibungen also dazu, den Träger der betreffenden Funktion zu erklären, genauer gesagt, eine Antwort auf die Frage zu liefern, warum es den Funktionsträger gibt (bzw. weshalb es zur Existenz des Trägers der betreffenden Funktion gekommen ist). Vom Herzen auszusagen, dass es die Funktion hat, Blut durch den Körper zu pumpen, bedeutet diesen Annahmen zufolge, dass es das Herz gibt, weil es Blut durch den Körper pumpt. Auf den ersten Blick scheint diese Sicht durchaus plausibel. Zumindest scheint sie durch Funktionszuschreibungen, die aus anderen Zusammenhängen stammen, gestützt zu werden. Anthro-pologen versuchen etwa, die Funktion bestimmter Rituale zu ermitteln, die in einer Gesellschaft zu beobachten sind, um verständlich zu machen, weshalb die Mitglieder dieser Gesellschaft an den Ritualen teilnehmen und damit die betreffenden Rituale am Leben erhalten. Das klassische Beispiel hierfür, das bereits zur Sprache kam, liefert der Regentanz der Hopi-Indianer. Die Funktion dieses Rituals besteht

Funktionale

Erklärungen:

Die gängige

Sicht

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mutmaßlich darin, die soziale Kohäsion zu stärken, d. h. das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Gesellschaftsmitgliedern zu stützen. Und es klingt nicht unbedingt falsch, wenn man in Analogie zum vorigen Beispiel hört, dass diese Funktion erklärt, warum es die rituelle Praxis des Regentanzes in dieser Gesellschaft gibt. Gewendet auf den Historischen Materialismus wird an diesem Punkt erst einmal deutlich, dass Wrights Standpunkt in ontologischer Hinsicht etwas liberalisiert werden muss. Hierbei ist eine Unterscheidung von Belang, die schon im zurückliegenden Kapitel zur Sprache gekommen ist. Wenn Marx nämlich behauptet, dass die Funktion der Produktionsverhältnisse darin besteht, der Entwicklung der Produktivkräfte dienlich zu sein, dann kann man das zum einen dahin gehend verstehen, dass es genau diese Produktionsverhältnisse gibt, weil sie diese Funktion erfüllen. Zum anderen kann man dies jedoch auch dahin gehend deuten, dass die Produktionsverhältnisse einer konkreten Gesellschaft so sind, wie sie sind, weil sie in diesem Zustand der Entwicklung der Produktivkräfte dienen.12 In der ersten Lesart geht es also um die Erklärung der schieren Existen£ des Funktionsträgers, wohingegen es in der zweiten Lesart darum geht, die spezifische Ausgestaltung bzw. die Genese dieser Ausgestaltung des Funktionsträgers zu erklären. Und in der Diskussion dieser Unterscheidung wurde bereits deutlich, inwiefern wir es hierbei mit zwei verschiedenen Lesarten ein und derselben Fragestellung und nicht etwa mit zwei verschiedenen Fragen zu tun haben. Diese doppelte Deutbarkeit der betreffenden Fragestellungen steht freilich nicht im Widerspruch zu Wrights Auslegung. Sie weist lediglich darauf hin, dass Wright vor allem Erklärungen der Existenz von Gegenständen im Auge hat, wohingegen wir gesehen haben, dass derartige Erklärungen in Abhängigkeit von der ontologischen .Verkleidung' oft auch so zu verstehen sind, dass es nicht so sehr um die Existenz, sondern um die spezifische Ausprägung der betreffenden Sache geht. Um diesem Punkt und zugleich der Art und Weise, in der Wright seine Definition formuliert hat, Rechnung zu tragen, können wir daher behaupten, eine Aussage der Form ,Die Funktion von X ist Z' könne auch dahin gehend verstanden werden, dass sie bedeutet:

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Funktion

und

Erklärung

(a) X ist, wie es ist, weil es die Eigenschaft Ζ hat. (b) Die Eigenschaft Ζ ist eine Konsequenz davon, dass X ist, wie es ist. Dieser Umformulierung gemäß besagt der Historische Materialismus also zum einen, dass die Produktionsverhältnisse zum Zeitpunkt t sind, wie sie sind, weil sie in diesem Zustand der Funktion dienen, die Entwicklung der Produktivkräfte zu befördern. Und zum anderen lehrt diese Theorie, dass die Bewusstseinsformen zu t sind, wie sie sind, weil sie in diesem Zustand der Funktion dienen, die gegebenen Produktionsverhältnisse zu stabilisieren. Nun gibt es jedoch ein Problem mit dieser Auffassung der funktionalen Erklärung, das uns abermals auf die beiden Bedeutungen des Fragepronomens ,warum' zurückführen wird. Und dieses Problem ist derart verheerend, dass es viele Autoren dazu veranlasst hat, funktionale Erklärungen vielleicht gerade noch in der Evolutionsbiologie zu akzeptieren, sie jedoch in der Anthropologie bzw. in den Geschichtsund Sozialwissenschaften generell zu verwerfen. Diese Schwierigkeit erwächst in Anbetracht der Tatsache, dass die Genetik im Fall der Biologie etwas leistet, was in den übrigen Disziplinen in aller Regel nicht geleistet ist. Die Genetik gibt nämlich durch die Konzepte der Variation, der Selektion und der Vererbung den so genannten Mechanismus an, der kausal erklärt, wie es dazu kommt, dass sich genau solche Funktionsträger etablieren, die die betreffenden funktionalen Eigenschaften aufweisen.13 Leicht nachvollziehbar ist dieser Punkt vor allem mit Blick auf die Evolutionsbiologie. Hier ist das - zugegebenermaßen stark vereinfachte — Bild, dass durch zufällige genetische Variationen gewissermaßen .Versuchsobjekte' mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften auf den Markt geworfen werden, woraufhin die natürliche Selektion dazu fuhrt, dass sich diejenigen Kandidaten, die zufälligerweise in irgendeiner Hinsicht funktionale Eigenschaften aufweisen, häufiger reproduzieren, als es denjenigen Exemplaren gelingt, die diese Eigenschaften nicht teilen. Und da die Genetik darüber hinaus erklärt, wie solche Eigenschaften von der einen Generation in die nächste weitervererbt werden, ist uns begreiflich, weshalb sich die funktionalen Eigenschaften und damit ihre Träger über kurz oder lang ,am Markt' durchsetzen. Wir kennen mit anderen Worten also den kausalen Mechanismus, der zu den Funktionen geführt hat.

Funktionale

Erklärungen:

Die gängige

Sicht

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Ein vergleichbarer Mechanismus, so der entscheidende Einwand gegen den Funktionalismus schlechthin, der begreiflich macht, wie es zu einer funktionalen Eigenschaft und ihrer Etablierung kommt, fehlt jedoch zumeist in denjenigen Fällen, die nicht aus der Biologie stammen. Selbst wenn es nämlich wahr ist, dass es den Regentanz der Hopi-Inidaner deshalb gibt, weil er die funktionale Wirkung hat, den Zusammenhalt der Gesellschaft zu fördern, wissen wir allein auf Grund dieser Aussage nicht, welcher Mechanismus dazu führte, dass sich dieses Ritual in genau dieser Gesellschaft etabliert hat. Und mit Blick auf den Historischen Materialismus lässt sich ein entsprechender Mangel aufweisen. Denn selbst wenn wir den Aussagen über die Funktionen der Produktionsverhältnisse und des Überbaus zustimmen, können wir allein auf Grund dieser Aussagen noch nicht die Fragen beantworten, wie es dazu kam, dass sich im konkreten Einzelfall solche Verhältnisse und solche Bewusstseinsformen Bahn brachen, die die Funktionen erfüllen, die Marx ihnen zuschreibt. 14 Nun könnte man — in Erinnerung an die mehrfach angesprochene Vielfalt verschiedenster Erklärungsanliegen — an dieser Stelle einwenden, dass es unfair sei, die funktionalen Erklärungen als mangelhafte Erklärungen zu bezeichnen. Denn wenn es doch so unterschiedliche Erklärungsanliegen gibt, wie ich behauptet habe, dann sei es nicht weiter verwunderlich, dass eine Art der Erklärung, die einem bestimmten Anliegen Rechnung trägt, anderen Anliegen nicht oder nur bedingt Rechnung zu tragen vermag. Aber es kommt noch schlimmer. Ein Autor, der auf das geschilderte Problem, also auf das Fehlen eines so genannten Mechanismus, besonders eindringlich aufmerksam und ihn zum Ausgangspunkt einer ganz anderen Interpretation der Theorie von Marx gemacht hat, ist Jon Elster.15 Elster reagiert auf diesen Mangel nicht etwa dahin gehend, dass er versucht, ihn zu beheben, also einen einleuchtenden Mechanismus aufzuweisen, um die funktionalen Erklärungen zu vervollständigen. 16 Vielmehr geht er einen Schritt weiter. Er argumentiert nämlich dafür, dass in all denjenigen Fällen, in denen ein entsprechender Mechanismus tatsächlich aufzuweisen ist, also eine Antwort auf die Frage vorliegt, welche kausalen Faktoren zur Existenz des betreffenden Funktionsträgers und seiner Eigenschaften geführt haben, dieser kausale Mechanismus automatisch die vollständige Erklärungsleistung übernimmt. Denn insofern ein derartiger

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Funktion

und

Erklärung

Mechanismus im Prinzip aus genau denjenigen Ursachen besteht, die den betreffenden Funktionsträger zur Wirkung hatten, liefert die Angabe dieses Mechanismus eine tadellose Kausalerklärung herkömmlicher Art. Man erinnere sich an dieser Stelle an die erste der fünf Erläuterungen des Erklärungsbegriffs im zurückliegenden Kapitel. Diese Erläuterung besagte, dass aus der Aussage ,a verursacht b' auf die Aussage ,a erklärt b' geschlossen werden kann. Durch diesen Zusammenhang - das ist schließlich der springende Punkt - wird jedoch die ursprüngliche Erklärung, die aus der Funktionszuschreibung hervorging, vollkommen überflüssig. Folglich sind funktionale Erklärungen laut Elster entweder unvollständig, d. h., mit dem erläuterten Mangel behaftet, oder schlichtweg überflüssig, weil der ergänzte Mechanismus an ihrer statt die komplette Erklärungsleistung übernimmt. Zu einem ähnlichen Resultat führt ein Gedanke, den man aus einer Überlegung entwickeln kann, die in einem etwas anderen Zusammenhang von John Bigelow und Robert Pargetter formuliert worden ist.17 Man stelle sich vor, dass wir die Kausalgeschichte aller (bzw. aller uns interessierender) Phänomene hinlänglich gut kennen, dass wir also für jedes beliebige χ eine zutreffende Kausalerklärung zu formulieren in der Lage sind. Unter dieser Annahme erscheinen irgendwelche Funktionszuschreibungen und vor allem die funktionalen Erklärungen, die sich auf diese Zuschreibungen stützen, ebenfalls in jedweder explanatorischen Hinsicht überflüssig. Denn durch die Kenntnis aller Kausalgeschichten ist ja ex hypothesi bereits alles erklärt, was zur Erklärung anstand. Gewendet auf unser Beispiel und in Erinnerung an eines der Zitate im zurückliegenden Kapitel: Wozu die Produktionsverhältnisse einer Gesellschaft durch ihren funktionalen Beitrag zur Weiterentwicklung der Produktivkräfte erklären, wenn uns die Kausalgeschichte vertraut ist, die über einen geänderten Bedarf an Produktivkräften seitens der Mitglieder der betreffenden Gesellschaft zu den entsprechenden Produktionsverhältnissen geführt hat? Durch diese Kausalgeschichte wissen wir doch schon, warum es diese Verhältnisse gibt bzw. weswegen sie so sind, wie sie sind. Folglich könnte eine zusätzliche funktionale Erklärung als vollkommen überflüssig zurückgewiesen werden. Das für den übergeordneten Zusammenhang dieser Studie zuletzt entscheidende Problem berührt indes einen Konflikt, der aus der bis-

Eine

Alternative

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her vorliegenden Fassung des Historischen Materialismus und Marxens Theorie vom Klassenkampf entspringt. Wenn es nämlich in der Tat so wäre, dass der Historische Materialismus Erklärungen dafür liefert, warum es zu den jeweils gegebenen Produktionsverhältnissen und Bewusstseinsformen gekommen ist, dann wäre entweder diese Theorie oder aber die Theorie vom Klassenkampf überflüssig. Denn wie sich zeigen wird, beansprucht auch die Theorie vom Klassenkampf, Erklärungen dafür zu liefern, warum die gesellschaftlichen Gegebenheiten sind, wie sie sind. In Anbetracht dessen tun wir also nicht nur aus Gründen, die das von Elster aufgewiesene Problem betreffen, sondern auch aus Gründen, die den Zusammenhalt der Theorienwelt von Marx berühren, gut daran, nach einer alternativen Auffassung vom Begriff der funktionalen Erklärung Ausschau zu halten. Eine solche Alternative ist der Gegenstand des nachfolgenden Abschnitts.

5. Eine

Alternative

Vermutlich ist im zurückliegenden Abschnitt schon deutlich geworden, dass die verheerenden Folgen für den Begriff der funktionalen Erklärung und damit auch für eine funktionalistische Auslegung des Historischen Materialismus allesamt auf eine Verknüpfung funktionaler Erklärungen mit einem ganz bestimmten Erklärungsanliegen zurückzuführen sind. Denn diese Erklärungen geraten einzig und allein dadurch in die Bredouille, dass sie gewissermaßen als Rivalen zu den Kausalerklärungen aufgefasst und damit in ein Rennen geschickt werden, das sie unter keinen Umständen gewinnen können. 18 Dies ist jedenfalls die Folge aus Wrights Vorschlag, funktionale Erklärungen als Kausalerklärungen in einem erweiterten Sinn des Wortes zu deuten, der sich aus seiner Ansicht ergab, dass Funktionszuschreibungen ätiologisch zu deuten sind. Denn in dieser Deutung sollen derartige Funktionszuschreibungen - wie Kausalerklärungen auch — erklären, warum es zu den betreffenden Funktionsträgern gekommen ist. Am Ende des zurückliegenden Kapitels zeichnete sich jedoch bereits umrisshaft ab, dass Funktionen nicht unmittelbar mit der Kau-

164

Funktion

und

Erklärung

salgeschichte der betreffenden Phänomene zu tun haben. Denn wir haben gesehen, dass Verweise auf die Funktion eines Phänomens vielmehr die Frage zu beantworten erlauben, ινοψ es dieses Phänomen gibt. In Anbetracht dieser Zusammenhänge wird erkennbar, wie das funktionalistische Unterfangen gerettet werden könnte. Um diese Lösung deutlicher vor Augen zu fuhren, möchte ich jetzt auf eine Position zu sprechen kommen, die in der allgemeinen Wissenschaftstheorie und vor allem in der jüngeren Philosophie der Biologie emsig diskutiert wird, in der Philosophie der Sozial- und Geschichtswissenschaften jedoch noch lange nicht die ihr gebührende Aufmerksamkeit gefunden hat. Diese Position, die die zweite der beiden oben herausgestellten Annahmen verwirft, geht vor allem auf Christopher Boorse und Robert Cummins zurück.19 Diese beiden Philosophen vertreten die Ansicht, dass Funktionen in erster Linie eine ganz andere Frage zu beantworten erlauben und ätiologische Erklärungen im Sinne von Wright bestenfalls als Ableitungen aus den eigentlichen Erklärungen zu verstehen sind. Funktionale Zuschreibungen dienen in den Augen dieser Autoren nämlich der Beantwortung der Frage, welchen Beitrag der betreffende Funktionsträger durch seine funktionale Eigenschaft zum Funktionieren bzw. Operieren eines Gesamtsystems liefert, zu dem dieser Funktionsträger gehört.20 Als Slogan formuliert, könnte man diese Sicht auch auf die Formel bringen, dass man Funktionen genau deshalb Funktionen nennt, weil sie erklären, wie Systeme funktionieren (bzw. operieren). Vom Herzen also zu sagen, dass seine Funktion darin besteht, Blut durch den Organismus zu pumpen, bedeutet dieser Sicht der Dinge zufolge nicht, die Frage zu beantworten, warum es das Herz gibt. Vielmehr verweist diese Aussage auf die Rolle, die das Herz im Gesamtsystem des Blutkreislaufs eines Organismus spielt. Um diesen Punkt zu betonen, spricht Boorse von den funktionalen Erklärungen sinnigerweise auch als operationalen Erklärungen. Und Cummins geht sogar so weit, die Rede von irgendwelchen Erklärungen vorsichtshalber ganz zu vermeiden, um stattdessen von funktionalen Analysen zu sprechen. Ein wichtiger Aspekt dieser Sicht der Dinge betrifft nun die bereits angedeuteten Ableitungen von Antworten auf die von Wright in den Mittelpunkt gerückte Frage, warum es den betreffenden Funktionsträger gibt, die aus operationalen Erklärungen bzw. funktionalen

Eine

Alternative

165

Analysen gewonnen werden können. Denn diese Ableitungen machen verständlich, warum die Sicht der Dinge, die von Wright und vielen anderen Autoren vertreten wird, auf den ersten Blick derart plausibel erscheint. Weil Funktionen nämlich im eben erläuterten Sinn nicht nur erklären, wie die Systeme, zu denen die betreffenden Funktionsträger gehören, funktionieren, sondern damit stillschweigend auch die Frage beantworten, warum diese Systeme erfolgreich bzw. gut funktionieren, beantworten sie indirekt oft auch die Frage, warum es die involvierten Funktionsträger gibt bzw. warum diese Träger produziert, am Leben erhalten oder reproduziert werden — sei es von der Natur oder von uns Menschen. Denn weil ein Stuhl seine Funktion hinreichend gut erfüllt, haben Menschen allen Grund, weitere Stühle zu produzieren. Und wenn ein Organismus durch seine funktionalen Eigenschaften erfolgreich mit seiner Umwelt interagiert oder ein Organ des Organismus seinen Dienst fur das System tadellos leistet, dann hat Mutter Natur sozusagen keinen Grund, den Organismus oder das Organ mit den Mitteln der Evolution auszurotten. Insofern tragen Funktionen also mittelbar tatsächlich zur Beantwortung der Frage bei, weshalb es die Funktionsträger gibt. Doch derartige Erkenntnisse sind, wie gesagt, unter Hin^unahme weiterer Prämissen (etwa der Evolutionsbiologie) aus den funktionalen Erklärungen erst abzuleiten. Keineswegs sind sie die eigentlichen Erkenntnisse, zu denen die funktionalen Erklärungen gewissermaßen von Haus aus fuhren. Funktionale Eigenschaften erklären also nicht ohne weiteres, warum es die Träger dieser Eigenschaften gibt. Vielmehr dienen funktionale Zuschieibungen vor allem dazu, auf den Beitrag des Funktionsträgers mit Blick auf ein umfassenderes System hinzuweisen. Es gibt eine Reihe von Argumenten, die für diese Sicht und gegen die zuerst erläuterte Position sprechen. Und freilich gibt es andererseits auch Probleme, auf die ein Anhänger der alternativen Sicht der Dinge stößt. Vor allem der für diesen Standpunkt äußerst wichtige Begriff des Systems stellt solch ein Problem dar. Doch auf diese Schwierigkeit möchte ich erst im nachfolgenden Kapitel eingehen, das den Begriffen des Systems und des Gesellschaftssystems eigens gewidmet ist. Im Rest dieses Abschnitts geht es erst einmal um die Argumente für die alternative Sicht der Dinge und zum Ende des

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Funktion

und

Erklärung

Kapitels um die Frage, wie sich der Historische Materialismus vor dem Hintergrund dieser Lesart funktionaler Erklärungen darstellt. In der Literatur zum Begriff der Funktion gibt es ein beliebtes Gedankenexperiment, das in unterschiedlichen Fassungen von verschiedenen Autoren vorgetragen wurde. 21 In aller Regel wendet sich dieses Gedankenexperiment gegen die ätiologische Analyse des Begriffs der Funktion a la Wright oder auch gegen die so genannten selektionistischen Ansätze, die in der Tradition von Wright entwickelt wurden. 22 Aber genau genommen trifft das Argument, das sich auf das angekündigte Gedankenexperiment stützt, meines Erachtens gar nicht so sehr bestimmte Vorstellungen davon, was es mit dem Begriff der Funktion auf sich hat. Vielmehr lässt es sich grundsätzlich gegen das herkömmliche Verständnis funktionaler Erklärungen wenden. In einer seiner plastischsten Fassungen fordert uns dieses Experiment dazu auf, uns eine mögliche Welt vorzustellen, die mit der Welt, die uns vertraut ist, nahezu identisch ist. Der einzige Unterschied zwischen dieser möglichen und unserer aktuellen Welt besteht darin, dass die mögliche Welt erst vor wenigen Minuten (etwa durch einen gigantischen kosmischen Zufall) entstanden ist. In dieser möglichen Welt gibt es naheliegenderweise sehr viele Dinge, die es in unserer Welt auch gibt. Darüber hinaus haben viele dieser Dinge in jener möglichen Welt zahlreiche Eigenschaften, die den funktionalen Eigenschaften ihrer Gegenstücke in unserer Welt entsprechen. Da die Dinge der möglichen Welt jedoch erst kürzlich (zufällig) entstanden sind, ist nicht davon auszugehen, dass ein Verweis auf ihre funktionalen Eigenschaften die Frage beantworten könnte, warum es die betreffenden Träger der jeweiligen Funktion gibt. Das müssten diese Erklärungen jedoch leisten, wenn es richtig wäre, dass funktionale Erklärungen gemäß der herkömmlichen Sicht zu verstehen sind. Also steht man in Anbetracht dieses Gedankenexperiments vor dem Dilemma, entweder leugnen zu müssen, dass es in jener möglichen Welt überhaupt irgendwelche funktionalen Eigenschaften gibt, oder den Gedanken verwerfen zu müssen, dass Funktionen dazu dienen, die Entstehung bzw. Existenz der Funktionsträger zu erklären. Und ich denke, es ist leicht einzusehen, dass der erste dieser beiden Wege, gelinde gesagt, deutlich weniger Aussicht auf Erfolg verspricht. Eine mit dem eben veranschaulichten Problem verwandte Schwierigkeit für die herkömmliche Auffassung der funktionalen Er-

Eine

Alternative

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klärung betrifft diejenigen Fälle, in denen eine Eigenschaft erstmals zur funktionalen Eigenschaft wird. Man stelle sich beispielsweise das erste Organ in der gesamten Evolutionsgeschichte vor, von dem man bereit ist zu sagen, es sei ein Herz, also ein Organ, dem die Funktion zukommt, Blut durch den Körper zu pumpen. Nun ist es für das Argument, das auf diesem Beispiel beruht, vollkommen unwichtig, ob es richtig ist, dass die Existenz späterer Organe dieser Art im Sinne von Wright dadurch zu erklären ist, dass das erste Herz die Eigenschaft hatte, Blut durch den Körper zu pumpen. Wichtig ist allein die Tatsache, dass mit Blick auf das erste ,Protoherz' keine Aussicht darauf besteht, eine funktionale Erklärung gemäß der herkömmlichen Sicht zu formulieren. Denn was auch immer die Erklärung dafür liefern mag, warum es zu diesem Organ gekommen ist, — es ist mit Sicherheit nicht seine Eigenschaft, Blut durch den Körper zu pumpen. Denn diese Eigenschaft trat ja zeitgleich mit jenem Protoherzen in die Welt, kann also keine Rolle in der Genese, Ätiologie oder Kausalgeschichte dieses Organs gespielt haben. 23 Zuletzt gibt es noch ein schlagkräftiges Argument gegen die Standardposition, das sich auf solche Beispiele stützt, in denen ein bereits etablierter Funktionsträger lange nach seinem ersten Auftreten neue bzw. zusätzliche Funktionen übernimmt. Schon Boorse hat dieses Argument durch ein fiktives Beispiel von einem Organ stark gemacht, das zu einem späten Zeitpunkt eine zusätzliche Funktion übernimmt. 24 Und Wissenschaftstheoretiker wie etwa Elliot Sober haben es mittlerweile durch konkrete Beispiele aus der Evolutionsbiologie untermauert. Hier ist solch ein Beispiel: Ein Merkmal mag jetzt nützlich sein, weil es die Aufgabe α erfüllt, selbst wenn dies nicht der Grund war, weshalb es sich entwickelt hat. Seeschildkröten benutzen zum Beispiel ihre Vorderextremitäten, um Löcher in den Sand zu graben, in die sie ihre Eier legen. In dieser Hinsicht sind ihre Extremitäten nützlich, auch wenn sie keine Anpassungen sind, um Nester zu graben. Der Grund hierfür ist, dass Seeschildkröten schon lange, bevor irgendwelche Schildkröten das Wasser verließen, um Nester am Strand zu graben, diese Vorderextremitäten besaßen.25

In Fällen dieser Art liegt es auf der Hand, dass die neuen bzw. zusätzlichen Funktionen etwa eines Organs nicht erklären können, weshalb

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Funktion

und

Erklärung

es zur Existenz des betreffenden Organs gekommen ist. Denn dieser Funktionsträger existierte ja schon geraume Zeit, bevor die neuen Funktionen auf den Plan getreten sind. Folglich kann an der von Wright vertretenen Vorstellung nicht festgehalten werden, dass es eine intrinsische Eigenschaft von Funktionen sei, die Entstehung ihrer Träger zu erklären. Alle drei Überlegungen sprechen nun nicht nur gegen die herkömmliche Auffassung vom Sinn und Zweck funktionaler Erklärungen, sondern zugleich auch für die alternative Sicht der Dinge. Denn in allen drei Szenarien, auf die sich diese Argumente stützten, ist problemlos zu verstehen, inwiefern die entsprechenden funktionalen Erklärungen genau das leisten, was von solchen Erklärungen der alternativen Sicht zufolge zu erwarten ist. Und dies liegt schlicht daran, dass aus dieser alternativen Perspektive betrachtet zu erkennen ist, dass die Vor- bzw. Entstehungsgeschichte der Funktionsträger und damit nicht zuletzt der Zeitpunkt, zu dem solch ein Träger seine Funktion erwirbt, für das funktionalistische Unterfangen in keiner Weise von Belang ist. Die jeweiligen Funktionszuschreibungen verweisen vielmehr, wie gesagt, auf einen Beitrag, den der betreffende Funktionsträger durch seine funktionale Eigenschaft zum Gesamtfunktionieren des Systems leistet, von dem er ein Teil ist. Bevor ich mich mit diesem Ergebnis wieder der Theorie von Marx zuwende, möchte ich diesen Abschnitt mit zwei Bemerkungen abschließen. Die erste Bemerkung betrifft den Umstand, dass funktionale Erklärungen in der hier eingenommenen Sicht dem Dilemma entgehen, auf das Jon Elster aufmerksam gemacht hat. Funktionale bzw. operational Erklärungen sind nämlich aus zusammenhängenden Gründen weder ergänzungsbedürftig noch überflüssig. Sie haben zum einen keine Ergänzungen nötig, weil sie nicht beanspruchen, etwas über die Entstehung bzw. Verbreitung der Funktionsträger und ihrer Eigenschaften zu sagen, sondern Aufschluss über das Funktionieren von komplexen Systemen zu verschaffen. Damit ist klar, dass sich die funktionalen Erklärungen dem ursprünglichen Eindruck entgegen gar nicht in das Geschäft einmischen, in dem die Kausalerklärungen von Interesse sind. Und in Anbetracht dessen ist zum anderen zu erkennen, weshalb diese Erklärungen keineswegs überflüssig sind. Denn sie antworten nicht unmittelbar auf die Frage, warum es das Explanandum gibt bzw. wie es zu dem Explanandum

Eine Theorie

dynamischer

Systeme

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gekommen ist, sondern vielmehr auf die Frage, wo^u es das Explanandum gibt. Und dass Antworten auf diese Frage aus Kausalerklärungen in aller Regel nicht hervorgehen, wurde bereits gegen Ende des zurückliegenden Kapitels deutlich, als es um die Doppeldeutigkeit des Fragepronomens ,warum' ging. Die zweite Bemerkung betrifft die Reichweite meiner Kritik an Wrights Theorie bzw. an den von Wright inspirierten Positionen. Ich bin mir nicht sicher, ob Wrights Position dermaßen uneingeschränkt falsch ist, wie ich es bisher aus mehr strategischen bzw. dramaturgischen Gründen behauptet habe. Genauer gesagt, kann man sich die Frage stellen, ob es nicht vielmehr zwei Arten von Funktionen, vielleicht sogar zwei Arten von funktionalen Erklärungen gibt. Die Sicht jedenfalls, der gemäß es zwei oder sogar noch mehr verschiedene Arten von Funktionen gibt, hat in der zeitgenössischen Literatur durchaus ihre Anhänger. 26 Wichtig für mein übergeordnetes Anliegen, also für die Auslegung der Theorie von Marx, ist aber nur, dass der in diesem Abschnitt entwickelte Begriff der funktionalen Erklärung sinnvoll ist. Denn genau dieser Begriff ist vonnöten, um einerseits eine plausible Auslegung des Historischen Materialismus zu formulieren und andererseits der Theorie vom Klassenkampf dasjenige Gewicht einzuräumen, das Marx für diesen Teil seines Denkens beansprucht.

6. Der Historische Materialismus: Bine Theorie dynamischer Systeme Wie stellt sich der Historische Materialismus vor dem Hintergrund der erläuterten Deutung funktionaler Erklärungen dar? Dass die Produktionsverhältnisse die Funktion haben, der Entwicklung der Produktivkräfte förderlich zu sein, und den Bewusstseinsformen die Funktion zukommt, der Stabilisierung der Produktionsverhältnisse zu dienen, soll dieser Deutung zufolge nicht erklären, wie es zu diesen Verhältnissen und Formen gekommen ist. Vielmehr sollen diese Funktionszuschreibungen erklären, wie das System, zu dem die Funktionsträger gehören, also das sozio-ökonomische Gesellschafts-

170

Funktion

und

Erklärung

system insgesamt operiert. Und dies leisten die besagten Funktionszuschreibungen, indem durch sie deutlich wird, worin der Beitrag der Produktionsverhältnisse sowie der Bewusstseinsformen für das Funktionieren dieses Gesamtsystems besteht. Der Historische Materialismus ist also in einem noch zu erläuternden Sinn des Wortes eine Systemtheorie. Nun ist es vielleicht nicht unwichtig zu betonen, dass die Behauptungen, denen zufolge die Produktionsverhältnisse und die Bewusstseinsformen die ihnen zugesprochenen Funktionen haben, rein empirische Behauptungen in der Bedeutung des Wortes sind, in dem etwa auch William Harveys Feststellung eine empirische Behauptung ist, dass dem Herz die Funktion zukommt, Blut durch den Organismus zu pumpen. Marx, der auf diese Feststellungen auf der Grundlage intensiver Beschäftigung mit der historischen Vergangenheit, sprich dem historiographischen Material gekommen ist, kann also gewissermaßen als ein Gesellschaftsphysiologe betrachtet werden. Und damit möchte ich keineswegs veraltete und heikle ,organizistische' Gesellschaftsmetaphern wiederbeleben. Vielmehr möchte ich darauf aufmerksam machen, dass es - anders als es in der Diskussion um das Konzept der funktionalen Erklärung häufig erscheint — gar nicht so sehr die Evolutionsbiologie als viel mehr die Physiologie ist, die als Paradigma einer funktionalistischen Theorie betrachtet werden sollte. Vor diesem Hintergrund dürfte außerdem deutlich werden, dass die Leistung des Historischen Materialismus vornehmlich analytischer Natur ist, was noch einmal auf Cummins zurückverweist, der es vorzieht, statt von funktionalen Erklärungen von funktionalen Analysen zu sprechen. Der springende Punkt der hier vertretenen Lesart von Marx besteht so gesehen darin, dass der Historische Materialismus nicht erklärt, wie oder auf Grund wovon es in einer Gesellschaft zu den jeweiligen Produktionsverhältnissen und den entsprechenden Bewusstseinsformen kommt. Erklärungen dieser Art, die also über die kausalen Mechanismen der sozio-ökonomischen Prozesse Aufschluss geben, werden uns später im Rahmen unserer Untersuchung der Theorie vom Klassenkampf begegnen. Die relevante Botschaft des Historischen Materialismus ist vielmehr, dass man etwas Aufschlussreiches über das Funktionieren bzw. Operieren von komplexen Gesellschaftssystemen erfährt, indem man derartige Systeme nach dem Muster Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse und Überbau ,zerlegt' und

Eine Theorie

dynamischer

Systeme

171

dabei auf die funktionalen Beiträge der einzelnen Bestandteile des Gesamtsystems aufmerksam wird. Dieser analytische Wert des Historischen Materialismus sollte keineswegs unterschätzt werden. Denn auf der einen Seite ist es durchaus informativ zu erfahren, dass die verschiedenen Merkmale (ζ. B. die Arbeitsteilung und die Besitzformen), die zusammengenommen die im dritten Kapitel erläuterten Produktionsverhältnisse markieren, oder die verschiedenen Bestandteile des Überbaus (Meinungen und Wünsche bzw. politische und juristische Institutionen) gemeinsame funktionale Eigenschaften aufweisen. Augenfällig sind diese Gemeinsamkeiten jedenfalls nicht ohne weiteres. Und auf der anderen Seite ist es auch von großem Wert zu erfahren, dass den Produktionsverhältnissen und den Überbauten ganz verschiedener Gesellschaften die immer gleichen Funktionen zuzusprechen sind. In diesen beiden Hinsichten verschafft die Theorie von Marx unter den analytischen Gesichtspunkten durchaus neue Erkenntnisse. Des Weiteren ist der analytische Wert des Historischen Materialismus auf einer gewissermaßen höheren Ebene vor allem mit Blick auf gesellschaftlichen und historischen Wandel beachtlich. Denn der Historische Materialismus ist anders als die physiologische Theorie von Harvey, die nichts über eventuelle Veränderungen des Blutkreislaufes zu sagen hat, zugleich eine Theorie dynamischer Systeme. Marxens Theorie erläutert nämlich auch, wie das Gesamtsystem seine Leistung dann aufrechterhält, wenn die Systembestandteile im Zuge einer Weiterentwicklung der Produktivkräfte ihre Funktion nicht mehr hinlänglich gut erfüllen oder gar dysfunktional zu werden drohen. Um diesen Punkt zu durchschauen, müssen wir uns klar machen, dass die funktionalen Eigenschaften, die Marx den Produktionsverhältnissen und den Bewusstseins formen zuerkennt, nicht nur zu erklären erlauben, wie ein rund laufendes sozio-ökonomisches System funktioniert. Dieselben Eigenschaften ermöglichen darüber hinaus auch eine Analyse dynamischer Veränderungen solcher Systeme. Denn insofern den Produktionsverhältnissen die funktionale Eigenschaft zukommt, der Nutzung und Weiterentwicklung der Produktivkräfte zu dienen, ist es einleuchtend, dass es dann zu einer Umgestaltung dieser Produktionsverhältnisse kommt, wenn sie in ihrer bisherigen Gestalt die besagte Funktion nicht mehr erfüllen.

172

Funktion

und

Erklärung

Dieselben Sachverhalte gelten freilich zugleich auch für die Bewusstseinsformen und ihre Funktion. Auch mit Blick auf diese dynamischen Aspekte sei jedoch betont, dass die Leistung des Historischen Materialismus hauptsächlich analytischer Natur ist. Denn auch im Fall der Erklärung von systemimmanenten Veränderungen kann diese Theorie von Marx nicht beanspruchen, irgendetwas Aufschlussreiches über die kausalen Mechanismen zu sagen, die zu den Änderungen der Produktionsverhältnissen und der Bewusstseinsformen fuhren. Die analytische Kraft dieser Theorie besteht vielmehr in der Einsicht, dass sich die Bewusstseinsformen den Verhältnissen und diese Verhältnisse dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte irgendwie anzupassen haben, um die Gesamdeistung des Systems aufrechtzuerhalten. Dabei sagt der Historische Materialismus in der hier vertretenen Lesart jedoch nichts darüber aus, auf Grund welcher Mechanismen solche Anpassungen vonstatten gehen. Trotzdem verschafft diese Theorie wertvolle Einsichten, insofern es zum einen ja nicht selbstverständlich ist, dass man gesellschaftlichen und historischen Wandel verständlich machen kann, indem man komplexe sozio-ökonomische Systeme in die Elemente Produktivkräfte, Verhältnisse und Überbau statt in irgendwelche andere Elemente segmentiert. Und darüber hinaus ist es auch keine Selbstverständlichkeit, dass die Abhängigkeits- bzw. Anpassungsbeziehungen zwischen den drei Elementen des Historischen Materialismus in der von Marx behaupteten, statt in irgendeiner anderen Richtung bestehen. Wichtig bleibt jedoch, im Auge zu behalten, dass der Historische Materialismus in der hier vertretenen Lesart nicht dazu dient, das kausale Getriebe funktionierender Gesellschaftssysteme oder die Ursachen sozialen und geschichtlichen Wandels zu beleuchten. Diese Theorie sagt uns einzig und allein, welche Beiträge die einzelnen Systembestandteile zum Funktionieren des Gesamtsystems leisten, woraus auf der höheren Ebene hervorgeht, dass sich die Systembestandteile gemäß der erläuterten Abhängigkeitsbeziehungen genau dann verändern, wenn sie ihre Funktion nicht länger erfüllen. Welche Ursachen hinter diesen Prozessen stecken, erfahren wir erst, wenn wir uns dem Tun und Lassen der in Klassen geteilten Mitglieder der betreffenden Gesellschaften zuwenden.

Rückblick

173

7. Rückblick In diesem etwas komplizierten, weil viele verschiedene Themen umfassenden Kapitel ging es eingangs darum, deutlich zu machen, warum der Historische Materialismus als funktionalistische Theorie zu verstehen ist. In dieser Hinsicht war das Argument von Cohen einschlägig, dem zufolge diese Theorie in Anbetracht der Kausalverhältnisse zwischen den Elementen des Historischen Materialismus, die Marx einräumt, nur in solch einer funktionalistischen Auslegung Aussicht auf Konsistenz hat. Nachdem dann Wrights Analyse des Begriffs der Funktion vorgestellt und das sich aus dieser Analyse ergebende Konzept der funktionalen Erklärung verworfen worden war, sollte die alternative Auffassung funktionaler Erklärungen verständlich machen, was es im Einzelnen bedeutet, die Theorie von Marx funktionalistisch zu deuten. Die Funktionen der Produktionsverhältnisse und des Überbaus sollen dieser Lesart zufolge nicht erklären, weshalb bzw. auf Grund welcher Ursachen die Verhältnisse und die Bewusstseinsformen sind, wie sie sind. Vielmehr handeln diese Funktionszuschreibungen von dem Beitrag, den die Verhältnisse und die Formen für das Operieren des sie umfassenden Gesellschaftssystems leisten. Und dieser Beitrag hilft nicht zuletzt zu verstehen, wie diese Systeme durch interne Anpassungen reagieren, wenn die Gesamdeistung nicht mehr gewährleistet ist. Bevor ich mich vor diesem Hintergrund der Theorie vom Klassenkampf zuwende, um zu zeigen, dass sie nicht als leerlaufendes Rad bzw. als redundantes Beiwerk verstanden werden muss, ist es vorab angebracht, die Rede von der Gesellschaft als einem sozio-ökonomischen System zu klären.

7. Gesellschaft: Systeme und Strukturen In diesem Kapitel geht es in erster Linie darum, das bis hierher entfaltete Bild vom Historischen Materialismus abzurunden, damit wir uns auf der Grundlage dieses Bildes in den restlichen Teilen dieser Studie einigen weiteren Theorien von Marx zuwenden können. Zu diesem Zweck werde ich mich zuerst mit dem Konzept des Systems im Allgemeinen sowie mit den Begriffen der Gesellschaft und des Gesellschaftssystems im Besonderen beschäftigen. Denn unsere im zurückliegenden Kapitel erläuterte Auffassung funktionaler Erklärungen beruht ja auf dem Systembegriff, insofern Funktionen als Beiträge des betreffenden Funktionsträgers zum Operieren eines umfassenden Systems bestimmt wurden. Was hat es also mit den Systemen, die aus Produktivkräften, Produktionsverhältnissen und Bewusstseinsformen bestehen, auf sich, von denen der Historische Materialismus spricht? Was ist ein soziales System, wie Marx Gesellschaften schon früh bezeichnet?1 Und was ist die genuine Leistung derartiger Systeme, zu denen die Produktionsverhältnisse und der Überbau ihren Teil beitragen? Diese Fragen betreffen gleichsam die vertikale Dimension der marxistischen Gesellschaftskonzeption, was deutlich wird, wenn wir uns die metaphorische Rede vom Über- und Unterbau einer Gesellschaft in Erinnerung rufen. Nachdem wir unsere Antworten auf diese die vertikale Dimension betreffenden Fragen präsentiert haben, wird dann im zweiten Teil des Kapitels auch von einer horizontalen Dimension die Rede sein, die fast ausschließlich die Produktionsverhältnisse betrifft. Mit Blick auf diese horizontale Dimension werden wir dann auch von Strukturen bzw. Gesellschaftsstrukturen sprechen. Besondere Aufmerksamkeit werden wir dabei der Frage zuwenden, ob die in den Sozialwissenschaften gängige Gegenüberstellung von individualistischen und strukturalistischen Betrachtungsweisen der Menschen und ihres gesellschaftlichen Zusammenlebens tatsächlich derart zwingend ist, wie es vielen Autoren und Autorinnen erscheint.

176

Gesellschaft:

Systeme

und

Strukturen

Marx legt jedenfalls eine interessante Überwindung dieser Dichotomie nahe, die sowohl die Befürworter individualistischer, d. h. handlungstheoretisch orientierter Betrachtungsweisen sozialer Gegebenheiten als auch Anhänger mehr strukturalistisch ausgerichteter Gesellschaftskonzeptionen zufrieden stellen könnte.

1. Was sind

Systeme?

Der Begriff des Systems ist in einem gewissen Maß mit dem des Organismus vergleichbar. Und aus einer gewissen Perspektive betrachtet, könnte man Organismen sogar als paradigmatische Beispiele für Systeme auffassen. Jedenfalls ist es nicht nur der Fall, dass Organismen aus Organen bestehen, so wie sich Systeme aus Elementen zusammensetzen. Vielmehr ist in beiden Fällen der Gedanke einer spezifischen Ordnung bzw. Organisation der Teile, eines spezifischen Aufiaus des Ganzen bzw. des Geföges mitgedacht. Wie die Elemente eines Systems bilden auch die Organe eines Organismus gemeinhin kein Chaos, sondern einen Kosmos, eine geordnete bzw. strukturierte Einheit. Und vor diesem Hintergrund erscheint es auch kaum als ein Zufall, dass der Systembegriff in seiner heute zumeist intendierten Bedeutung von einem Biologen, genauer einem Physiologen wissenschaftlich salonfähig gemacht wurde.2 Systeme sind gleichsam tote bzw. leblose Organismen. Und wie ein Organismus fasst auch ein System verschiedene Bestandteile zu einer komplexen Einheit zusammen. Durch diese Zusammenfassung bilden diese Bestandteile gemeinsam ein für sie typisches Muster, durch das sie sich — gestaltpsychologisch gesprochen — von einem Hintergrund abheben. Und diejenigen Elemente, die gemeinsam den Hintergrund bilden, nennt man im Rahmen der allgemeinen Systemtheorie gemeinhin Umwelt. Systeme bestehen also aus Elementen, die untereinander in einem geordneten, besser in einem Ordnung stiftenden Zusammenhang stehen, und haben eine Umwelt. Und was die Entitäten bzw. diejenigen Bestandteile, die die Elemente eines Systems bilden, zu den Bestandteilen eines gemeinsamen Systems macht, ist genau diese Tatsache, dass zwischen diesen Elementen ein derartiger Zusammenhang besteht, der zwischen diesen Elementen und dem restlichen Zeug,

Was sind

Systeme?

177

das zur Umwelt gehört, nicht (oder in deutlich weniger ausgeprägter Art und Weise) besteht. Je nachdem, wie die Systembestandteile einerseits untereinander und andererseits mit den Dingen, die die Systemumwelt bilden, im Zusammenhang stehen, kann man zwischen verschiedenen Arten von Systemen bzw. zwischen unterschiedlichen Systemtypen unterscheiden. Die allgemeine Systemtheorie hat in dieser Hinsicht eine reiche Palette entworfen, die von einfachen Maschinen über selbsterhaltende Systeme bis hin zu den so genannten autopoietischen Systemen reicht. Einfache Systeme, die das eine Ende dieses Spektrums bilden, reagieren auf Umweltimpulse stumpf und mechanisch in immer derselben Art und Weise. Ausgefeiltere bzw. komplexere Systeme auf der andere Seite des Spektrums sind hingegen nicht nur fähig, ihr internes Verhalten der Umwelt und eventuell eintretenden Umweltveränderungen anzupassen. Denn im Extremfall scheinen sie sogar dazu in der Lage zu sein, ihre Bestandteile selbst zu generieren. 3 Und zwischen diesen beiden Polen finden sich weitere Systemtypen, die sich hinsichtlich des Grades ihrer internen Komplexität und hinsichtlich des Ausmaßes ihrer Integration voneinander unterscheiden. 4 Auch wenn man, wie bereits angedeutet, schon bei Marx die Auffassung von der Gesellschaft als einem sozialen System findet und das Reden von irgendwelchen Systemen fast so alt ist, wie die Reflexion philosophischer Themen überhaupt, hat der Systembegriff seinen Einzug in die soziologischen und politologischen Wissenschaften erst in den 40er und 50er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts gefunden. Im Fall der Soziologie waren in erster Linie die Arbeiten von Talcott Parsons, im Fall der Politikwissenschaft vor allem das Werk von David Easton von großer Bedeutung.5 Dies belegt auf der einen Seite, dass Marx mit keiner theoretischen, genauer wissenschaftstheoretischen Betrachtung des Systembegriffs jüngeren Datums vertraut gewesen sein kann. Auf der anderen Seite ist aber auch zu betonen, dass der Systembegriff nicht nur in der griechischen bzw. antiken Philosophie Verwendung fand, mit der Marx nicht erst seit seiner Studien- und Promotionszeit sehr gut vertraut war. Vor allem ist hervorzuheben, dass Piaton und Aristoteles neben einer generelleren Verwendung des Systemkonzepts, das vor allem in musiktheoretischen Überlegungen von Bedeutung war, durchaus schon einen genuin politikphilosophischen und gesellschaftstheoretischen Gebrauch

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Gesellschaft: Systeme und

Strukturen

des Systembegriffs kannten. Piaton etwa spricht von einem Staatenbund als einem System.6 Gemeint ist dabei eine Organisation verschiedener Einzelstaaten, die sich gemeinsam gegenüber denjenigen Staaten abgrenzen, die nicht zum Bündnissystem gehören. Die basale systemtheoretische Unterscheidung zwischen dem System und seiner Umwelt tritt hierbei also in den Vordergrund. Und unserer modernen Verwendung dieses Ausdrucks noch mehr entgegenkommend bezeichnet Aristoteles die Polis als ein System, genauer als eine Gemeinschaftsorganisation. 7 In dieser Verwendung liegt der Akzent offensichtlich weniger auf der Abgrenzung des Systems gegenüber seiner Umwelt als auf dem Umstand, dass Systeme eine interne Organisation aufweisen. Nach einer Blütephase in der stoischen Philosophie, in der die Polis als ein System von Menschen betrachtet wurde, „die auf demselben Gebiet wohnen und von demselben Gesetz verwaltet werden," 8 verliert der Systembegriff jede genauere Bedeutung in der mittelalterlichen Philosophie. Mit der Neuzeit verlagert sich die Verwendung des Systembegriffs hingegen auf eine interessante und für unsere Belange äußerst aufschlussreiche Art und Weise aus der politischen und somit praktischen Philosophie hinüber in die Naturphilosophie und damit in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Von Systemen ist jetzt nämlich in aller Regel im Sinne von Theorien, also im Sinne von Wissensansprüchen die Rede, die aus systematischem Beobachten und Nachdenken hervorgegangenen sind. Systeme sind so gesehen möglichst lückenlose und vor allem geordnete Erkenntnissammlungen. Und es ist im Kern genau dieser Begriff des Systems, den man schließlich bei Kant, Fichte, Schelling und nicht zuletzt auch bei Hegel, der für das Denken von Marx sicherlich prägendsten Figur, findet. 9 System bzw. Systematizität wird dabei mehr und mehr zu einem auszeichnenden Kriterium wahrer Sätze, also zutreffender Theorien. Und die Gesamtheit der Teiltheorien von Hegel bildet ihrem eigensten Anspruch nach wiederum ein geschlossenes philosophisches System.10 Doch es liegt auf der Hand, dass dieser theoriezentrierte Systembegriff nicht viel mit demjenigen Konzept zu tun hat, das im Spiel ist, wenn in den Schriften von Marx und Engels von gesellschaftlichen Systemen bzw. von Gesellschaften als Systemen die Rede ist.

Was sind

Systeme?

179

Gleichwohl sind diese Kurzinformationen über die Geschichte des Systembegriffs für uns nützlich, insofern sie uns zusammengenommen zwei wichtige Punkte zu erkennen geben. Zum einen fuhren uns diese Informationen vor Augen, in welch großem Ausmaß an Beliebigkeit, besser Großzügigkeit mit dem Systemkonzept umgegangen werden kann und de facto auch umgegangen wurde. In einem hinlänglich losen Sinn des Wortes — wie er im Übrigen durchaus in der Physik unserer Tage gebräuchlich ist — können wir offenbar jede Ansammlung von Entitäten, die in irgendeinem engeren Zusammenhang untereinander stehen, als ein System betrachten.11 Dabei scheint es jedoch nicht ganz unerheblich zu sein, dass es sich bei dem Zusammenhang, der das System konstituiert, um einen hinlänglich stabilen Zusammenhang handelt. Und damit sei vor allem darauf hingewiesen, dass ein gewisses Mindestmaß an zeitlicher Konstant gegeben sein muss, damit die betreffende Menge von Entitäten zusammengenommen sinnigerweise als ein System beschrieben werden kann. Von einem heftigen Sturm getriebene Wolken am Himmel ergeben schwerlich ein System. Aber ein, sagen wir, kubistisches Gemälde dieser Wolken könnte durchaus ein System von Wolken zu erkennen geben. Der zweite Punkt, auf den ich durch den kurzen Ausflug in die Geschichte des Systembegriffs aufmerksam machen wollte, betrifft den Umstand, dass wir an diesem Punkt der Diskussion zwischen zwei Arten von Systemen bzw. zwischen zwei Verwendungsweisen des Ausdrucks ,System' unterscheiden sollten. Vor allem die beiden Hinweise, dass der Begriff des Systems in einer Richtung an Organismen denken lässt, aber in einer anderen Richtung auch einfach nur zu systematischen Anordnungen (etwa von theoretischen Lehrmeinungen) führt, deuten nämlich darauf hin, dass wir im folgenden Sinn zwischen schwachen und starken Systemen unterscheiden können. Schwache Systeme sind geordnete Ansammlungen einzelner Elemente und in erster Linie auch nur das: Ordnungen bzw. Anordnungen. Was dies im Einzelnen bedeutet, wird klarer, wenn man sich vor Augen fuhrt, dass den schwachen Systemen dieser Charakterisierung zufolge ein Merkmal fehlt, das nur für die starken Systeme spezifisch ist. Stark seien diese Systeme nämlich genau deshalb genannt, weil sie nicht nur Ordnungen bzw. Anordnungen sind, sondern Ordnungen von solchen Entitäten, die gemeinsam eine spezifische Leistung erbringen.

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Gesellschaft:

Systeme

und

Strukturen

Eine ordentlich zu Papier gebrachte, formalisierte und/oder a r o m a tisierte Theorie mag uns als ein Musterbeispiel für ein schwaches Systems dienen. Ein Automotor ist hingegen paradigmatischerweise ein starkes System, insofern seine Elemente nicht einfach nur irgendwie angeordnet sind, sondern eine solche Ordnung aufweisen, die es diesen Elementen durch ihre jeweiligen Beiträge gemeinsam ermöglicht, ein Fahrzeug in Bewegung zu versetzen. Es liegt vermutlich auf der Hand, dass eine funktionale Analyse, wie wir sie im zurückliegenden Kapitel kennengelernt haben, nur mit Blick auf die so genannten starken Systeme sinnvoll ist. Denn nur wenn die Systeme, sprich die Systembestandteile in ihrer Gesamtheit, eine eigentümliche Leistung erbringen, ist es angemessen, nach den Beiträgen der einzelnen Bestandteile, also nach den funktionalen Eigenschaften der Systemelemente zu fragen. Und vielleicht wäre es ratsam, in Anbetracht dieses Zusammenhangs statt von schwachen und starken, direkt von nicht-funktionalen und funktionalen Systemen zu reden. Jedenfalls verfolgt die von mir eingeführte Rede von den starken Systemen keinen anderen Zweck, als genau diejenigen Systeme in den Blick zu bekommen, die sich einer funktionalen Analyse unterziehen lassen. Daraus folgt unmittelbar, dass die Gesellschaftssysteme, die ein Befürworter der hier vertretenen Lesart des Historischen Materialismus ins Auge fasst, unter den Begriff des starken bzw. des funktionalen Systems fallen. Und damit stehen wir vor der Frage, worin die spezifische Gesamdeistung der Systeme besteht, deren Analyse der Historische Materialismus gewidmet ist. Was leistet das System, das aus den drei Elementen Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse und Bewusstseinsformen zusammengesetzt ist? Der Beantwortung dieser Frage ist der nachfolgende Abschnitt gewidmet.

2. Die Gesellschaft alsfunktionales System Die am Ende des zurückliegenden Abschnitts aufgeworfene Frage berührt einen nicht ganz unproblematischen Punkt in der Theorie von Marx. Denn auch wenn es richtig ist, dass er den Gesellschaftssystemen als Ganzes genommen eine spezifische Leistung zuspricht,

Die Gesellschaft

als funktionales

System

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kann man daran zweifeln, ob es sinnvoll ist, eine derartige Annahme zu treffen. Anders gesagt, könnte man durchaus in Abrede stellen, dass Gesellschaften zu den starken Systemen gehören. Marx lässt diesen Zweifel jedoch nicht zu. Und wenn man verstehen möchte, aus welchem Grund er die Annahme trifft, dass die Bestandteile eines Gesellschaftssystems eine gemeinsame Leistung aufweisen, dann sollte man sich noch einmal das ökonomistische Menschenbild vor Augen führen, das bereits zu Beginn dieser Studie erläutert wurde. Wer wissen will, was es mit dem homo sapiens auf sich hat, so Marxens Auskunft etwas vereinfacht auf den Punkt gebracht, muss sich immer wieder daran erinnern, dass Menschen hauptsächlich produzierende Wesen sind; genauer gesagt, dass sie produzieren, Produkte austauschen und konsumieren. Des Weiteren mag im gegebenen Zusammenhang eine erneute Lektüre der berühmten Zeilen aus dem Vorwort aufschlussreich sein: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen." (13, 8). Und vor diesem Hintergrund sollte deutlich sein, dass die Systeme, von denen der Historische Materialismus spricht, sozio-ökonomische Systeme sind, die genau dann als funktionierende Systeme gelten, wenn es den Menschen möglich ist, die ökonomischen Abläufe, die in diesem Sozialsystem stattfinden, aufrechtzuerhalten. Denn nur unter dieser Bedingung ist es diesen Menschen möglich, die gesellschaftliche „Produktion ihres Lebens" zu gewährleisten. Folglich besteht die spezifische Leistung des Systems, das die Kräfte, die Verhältnisse und die Bewusstseinsformen gemeinsam bilden, Marxens Sicht gemäß darin, den Produktions- bzw. den Wirtschaftsprozess am Laufen zu halten. Denn nur unter dieser Bedingung ist es den Menschen möglich, ihre Existenz und ihren Fortbestand zu gewährleisten. An diesem Punkt dürfen wir jedoch nicht dem Fehler verfallen, das sozio-ökonomische System unterschwellig zu personalisieren, um ihm selbst die Absicht oder das Ziel zuzuschreiben, die Produktion, den Austausch und die Konsumtion aufrechtzuerhalten. Nach wie vor ist es uns unbedingt um eine nicht-teleologische Auslegung des Historischen Materialismus zu tun. Und in dieser Auslegung gibt uns diese Theorie durch eine funktionale Analyse Aufschluss darüber,

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Gesellschaft: Systeme und

Strukturen

welche Leistungen die einzelnen Teile des Systems dazu beitragen, damit das Gesamtsystem funktioniert. Das System selbst will freilich nichts, hat keine Absichten und keine Ziele. Was die funktionale Analyse, die der Historische Materialismus in der von mir vertretenen Lesart liefert, in Anbetracht dieser Klarstellung besagt, kann man sich vielleicht durch die folgende Überlegung verdeutlichen. Immer und überall, wenn bzw. wo eine Menge von Menschen zusammenlebt und gemeinsam produziert, werden sie sich durch ihr Tun und Lassen notwendigerweise in irgendwelche Verhältnisse zueinander setzen. Immer und überall, wenn bzw. wo Menschen sind, werden sie des Weiteren irgendwelche Dinge wollen und meinen, also irgendwelche Bewusstseinsformen ausprägen. Was der Historische Materialismus vor dem Hintergrund dieser ^Axiome' (bzw. Plattitüden) liefert, ist eine Theorie darüber, unter welchen Bedingungen diese Menschen ihr gemeinsames Produzieren dauerhaft bewerkstelligen können. Denn der Historische Materialismus lehrt, dass diese gemeinsame Produktion auf Dauer nur aufrechterhalten werden kann, wenn sich die Menschen in solche Verhältnisse, Produktionsverhältnisse, zueinander setzen, die eine effektive Nutzung und Weiterentwicklung der Produktivkräfte ermöglichen, und wenn sie zugleich solche Bewusstseinsformen ausprägen, die zu einem Handeln führen, das die Produktionsverhältnisse stabilisiert. Sind diese beiden Bedingungen erfüllt, läuft das sozio-ökonomische System dem Historischen Materialismus zufolge rund. Sind sie hingegen nicht (mehr) erfüllt, ist eine Änderung der Produktionsverhältnisse und des Überbaus oder ein totaler Zusammenbruch der gesellschaftlichen Kooperation zu erwarten. Ein weiterer Sachverhalt, den wir uns in Erinnerung rufen sollten, um eine mystische Personifizierung der zur Diskussion stehenden Systeme bzw. eine teleologische Lesart des Historischen Materialismus zu vermeiden, führt erneut zu unserem individualistischen Ausgangspunkt zurück. Es sind diesem Ausgangspunkt gemäß die einzelnen Individuen, die ökonomische Absichten verfolgen, Absichten, die sie unter den gegebenen Umständen nur realisieren können, wenn sie ihr Tun und Lassen auf das Handeln anderer Menschen abstimmen. Dass wir dem Gesamtsystem die Leistung zusprechen, die ökonomischen Abläufe aufrechtzuerhalten, reflektiert mit anderen Worten lediglich die Überzeugung, dass sich in dieser Leistung des Sys-

Die Gesellschaft

als funktionales

System

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tems die Absichten der einzelnen Individuen manifestieren. In Marxens eigenen Worten klingt diese Überlegung und ein sich daran anschließender Gedanke folgendermaßen: Sosehr nun das ganze dieser Bewegung [gemeint ist die Zirkulation, M.I.] als gesellschaftlicher Prozeß erscheint, und sosehr die einzelnen Momente dieser Bewegung vom bewußten Willen und besondern Zwecken der Individuen ausgehn, sosehr erscheint die Totalität des Prozesses als ein objektiver Zusammenhang, der naturwüchsig entsteht; zwar aus dem Aufeinanderwirken der bewußten Individuen hervorgeht, aber weder in ihrem Bewußtsein liegt, noch als Ganzes unter sie subsumiert wird. Ihr eignes Aufeinanderstoßen produziert ihnen eine über ihnen stehende, fremde gesellschaftliche Macht; ihre Wechselwirkung als von ihnen unabhängigen Prozeß und Gewalt. (