Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin 9783787323500, 9783787313792

Der tradierten These, Thomas von Aquin habe die Postulate seiner Ethik im Rückgriff auf metaphysische Voraussetzungen en

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Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin
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Wolfgang Kluxen Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin

Meiner · BoD

PHILOSOPHISCHE ETHIK BEI THOMAS VON AQUIN

WOLFGANG KLUXEN

PHILOSOPHISCHE ETHIK BEI THOMAS VON AQUIN

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Meinem Lehrer Josef Koch

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der 3. durchges. Auflage von 1998 identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. isbn 978-3-7873-1379-2 ISBN eBook: 978-3-7873-2350-0

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1998. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­f rei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany.  www.meiner.de

VORWORT ZUR DRITTEN AUFLAGE

Nicht anders als bei der zweiten Auflage, muß ich auch bei dieser dritten mit einem Wort des Dankes an den Verleger beginnen. Er gilt Manfred Meiner, der nun in der dritten Generation den Verlag leitet und das mit Energie und Kompetenz tut. Nachdem die zweite Auflage seit einigen Jahren vergriffen ist, hielt er es für nötig, dies Buch wieder verfügbar zu machen. Offensichtlich spielt es ja in der Diskussion um ethische Grundlegungsfragen bei jenen, die sich mit Thomas von Aquin auseinandersetzen wollen, nach wie vor eine Rolle. Da es nicht auf die Einzelergebnisse, sondern auf die Strukturanalyse ankommt, die in einem geschlossenen Untersuchungsgang dargestellt ist, läßt sich das Buch nicht gleichsam fortschreiben. Es ist aus demselben Grunde auch nicht (oder jedenfalls nicht leicht) durch den Fortschritt der Forschung überholbar. So ist es in der vorliegenden Gestalt zu einem Standardtext geworden, der deshalb unverändert dargeboten wird. Gerade das scheint mir sachgerecht, obwohl ich selbst bestimmte Ergänzungen für wünschenswert halte (vgl. Vorwort zur 2. Auflage, S. XV). Eine Literaturübersicht will ich nun nicht geben, doch möchte ich auf zwei neuere Titel hinweisen, welche mir interessant waren: E. Schockenhoff, Naturrecht und Menschenwürde (Mainz 1996 ), welcher das bei mir eher marginal behandelte Thema des Naturrechts nun breiter und mit aktuellem Bezug behandelt; ferner die umfangreiche Arbeit von Denis Bradley, Aquinas on the Twofold Human Good: Reason and Human Happiness in Aquinas' Moral Science (Washington 1997), der vor allem die Texte zur praktischen Wissenschaft aus dem Sentenzenkommentar und den Quaestionen höchst vollständig bearbeitet hat, während ich mich ausdrücklich auf die theologische Summe und den Ethik-Kommentar beschränkt habe. Natürlich hätte ich besonders zu Bradley noch einige kritische Fußnoten zu machen, und natürlich ließen sich hier weitere wichtige Titel nennen, oder auch solche, die wichtig genommen werden, aber eher Kritik verdienen. Zu den letzteren rechne ich solche von Theologen, welche die Unterscheidung des sittlich Guten und sittlich Richtigen (good und right) gegen Thomas kritisch wenden, da ihnen nicht klar ist, daß eine ethische Untersuchung mit wissenschaftlichem Anspruch immer nur objektiv verfahren kann, daß folgerichtig die subjektive Moralität, für welche sie den Begriff des sittlich Guten reservieren, ihrem Begriffe nach nicht „objektiv" zu behandeln ist. Das sind unerlaubte

VI

Vorwort zur dritten Auflage

Fehlleistungen von Ethikern, welche über dem Studium zeitgenössischer Ethikmoden das scholastische ABC vergessen haben, wenn sie nicht gar überhaupt versäumt haben, es zu lernen. Zeitgenössisch stehen nicht Grundsatzdebatten im Vordergrund, sondern die Fülle konkreter Probleme, denen eine, oftmals mit Doppelnamen als Bioethik, Wirtschaftsethik, Technikethik usw. auftretende „Angewandte Ethik" begegnen soll. Im Vorwort von 1980 habe ich darauf verwiesen, daß hier „ Theorien mittlerer Reichweite" hilfreich sind, auch wenn Grundsatzfragen nicht bis zur Entscheidung weitergetrieben werden. Es stellen sich neue Fragen, neue Lösungen müssen erarbeitet und gesichert werden. Wer hier erfolgreich arbeiten will, tut aber gut daran, sich an klassischer Tradition zu bilden. Nach meiner Meinung kann ein Studium des Thomas hilfreich sein, obwohl man keineswegs zu „thomistischen" Lösungen im Traditionssinne kommen muß. Wie ich mir einen traditionsbestimmten Umgang mit Fragen Angewandter Ethik denke, habe ich in einer Anzahl Arbeiten gezeigt, deren einige nun in einem Sammelband, der mir von meinen Freunden Wilhelm Korff und Paul Mikat zum 75. Geburtstag überreicht wurde, unter dem Titel Moral, Vernunft, Natur. Beiträge zur Ethik (Paderborn 1997) neu herausgegeben wurden. Erfolge in konkreten Anwendungsfragen machen die Grundlegungsuntersuchungen nicht überflüssig. Im Gegenteil, man wird auf sie zurückgeführt und merkt dann, daß die „Anwendung" auch eine Art Prüfstein für die Prinzipien ist. Bei Thomas kann man allerdings auch lernen, daß die konkrete „Anwendung" zwar stets aus dem Prinzip begründet sein muß, daß jedoch aus dem Prinzip nicht notwendig nur diese eine bestimmte Konkretion folgt. Es gibt da Freiheitsräume, des Denkens, des Handelns, der Lebensgestaltung. Diese Untersuchung sollte dazu beitragen, sie offen zu halten. Bonn, im März 1998

Wolfgang Kluxen

INHALTSVERZEICHNIS

XI

Zitationsweise und zitierte Ausgaben Vorwort zur ersten Auflage Vorwort zur zweiten Auflage Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . 1. Zum Forschungsstand und zur Fragestellung 2. Zur Methode . . . . . . . 3. Zum Gang der Untersuchung 4. Zur aktuellen Bedeutung . . 5. Zur (technischen) Durchführung

XIII

XV XXV XXVI XXXV .XXXVII XL

XLIV

Erster Abschnitt

ETHIK ALS PHILOSOPHISCHE DISZIPLIN 1. Kapitel: Philosophia ancilla theologiae § 1: Der Vorrang der theologischen Synthese § 2: Die umfassende Einheit der theologischen Synthese und deren Prinzip, das "revelabile« . . .

.

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. . .

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. . . . § 4: Der Eigenstand der Philosophie u. ihre Einordnung in die Synthese

§ 3: Der Fortbestand des natürlichen Wissens in der Synthese

2. Kapitel: Der Eigenbereich philosophischen Denkens . . . . . § 1: Der philosophische Systementwurf als Aufgabe für den Theologen § 2: Einsichtigkeit natürlichen Wissens und Gewißheit des Geglaubten § 3: Die Begrenztheit des »rcvelabile« und der Sinn der philosophischen Dienstleistung . . . . . . . . . . . . . § 4: Philosophischer Thomismus als Resultat der Interpretation

4 8 9 13 13 14 17 20

3. Kapitel: Ethik als praktische Wissenschaft . . . . . . . . § 1 : Die Mehrheit natürlicher Wissenschaften und die Bedeutung des

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Objekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2: Die Wissenschaftseinteilung von In Eth. l, lect. 1 und der Unterschied von spekulativ und praktisch . . . . . . . . . . § 3: Die »philosophia rationalis« zwischen »Kunstwissen« und spekulativem Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . § 4: Das Kunstwissen . . . . . . . . . . . . . . . . § 5: Das „Handlungswissen« im Unterschied zum Kunstwissen und seine Vollendung in der "Klugheit« . . . . . . . . . . § 6: Die Struktur des Handlungswissens und der Ort einer praktischen Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . .

21 23 26 27 30 35

VIII

Inhaltsverzeichnis

§ 7: Die Eigenart der praktischen Wissenschaft . . . . . . § 8: „spekulative Weise« praktischen Wissens (am Beispiel der

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Medizin) . . . . . . . . . . . . . . . . . § 9: Der Sonderfall göttlichen praktischen Wissens (die Rolle der „Intention«) . . . . . . . . . . . . § 10: Die Selbständigkeit des praktischen Wissens . . . . . .

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4. Kapitel: Verfahren, Einordnung, Einteilung der praktischen Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1: Die Methode der Ethik; ihre Stelle im „ordo addiscendi«; ihr Verhältnis zum spekulativen Wissen, insbesondere ihre Bedeutung für die Metaphysik (1. Aspekt des Verhältnisses zur Metaphysik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2: Praktische Bedeutsamkeit metaphysischer Erkenntnisse und praktische Sicht auf die Metaphysik als menschliches Tun (2. und 3. Aspekt des Verhältnisses zur Metaphysik) . . . . . . . . § 3: Die Einteilung der Ethik nach »Teilen« (allgemeine und besondere Ethik) und nach Disziplinen (Monastik, Ökonomik, Politik); die Zweiheit menschlicher Vollendung in „diesem Leben«

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57

57

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5. Kapitel: 1heologie als praktische Wissenschaft . . . .

71 § 1: Allgemeine Charakteristik der Moraltheologie . . . . 71 § 2: Die Einheit der theologisch-praktischen Sicht und ihre faktische Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 § 3: Der Anspruch der Moraltheologie auf die Gesamtheit des praktischen Wissens und die Einschränkung einer philosophischen Ethik 81

6. Kapitel: Philosophische Ethik in der thomistischen Synthese. .

85

§ 1: Das Problem ethischer Systematik unter dem absoluten Systemanspruch der Moraltheologie; das »Offene« System . . . . . 85 § 2: Die Beschränkung der philosophischen Ethik auf das •gegenwärtige Leben« und ihre wesentliche Vollendbarkeit . . . . . . 88 § 3: Die Vorgabe des Bereichs philosophischer Ethik durch eine »Metaphysik des Handelns«; beider Einheit in der theologischen Perspektive und die Frage der >Einholbarkeit« dieser Einheit im natürlichen Wissen; Folgen für die philosophische Interpretation 93 § 4: Die Bedeutung des Ethikkommentars; Grundsätze einer philosophischen Interpretation . . . . . . . . . . . . . 101

Zweiter Abschnitt

DIE BESTIMMUNG DES XUSSERSTEN SEINKONNENS 7. Kapitel: Das letzte Ziel und die Einheit menschlicher Praxis . . 108 § 1: Die Lehre vom letzten Ziel als Anfang der praktischen Wissenschaft und als Gegenstand spekulativer Behandlung . . . . . 108 § 2: Die Fragestellung von Summa theologiae 1-11, q. 1; die spekulative Bestimmung des Wesens von „letztem Ziele (art. 1-6) . . 114

Inhaltsverzeidi.nis

IX

§ 3: Die Besonderheit des letzten Zieles des Menschen im Rahmen des . . . . bestimmten Wesensverhältnisses (art. 7 und 8) . . § 4: Die praktische Bedeutsamkeit der metaphysischen Analyse: Bestimmung des Bereiches menschlicher Praxis als Einheit

8. Kapitel: Glückseligkeit und Naturverlangen § 1: Die Ordnung des Traktats über die Glückseligkeit, Summa theologiae 1-II, q. 2-5; die Frage nach dem erfüllenden Gut und der spekulative Charakter seiner Bestimmung (q. 2) . . . . . . § 2: Die Frage nach dem Wesen der Glückseligkeit und die Zweiheit von vollkommener und unvollkommener Glückseligkeit; das Auseinandertreten spekulativer und praktischer Sicht (q. 3, art. 1 und 2) • • . . . . • • . . . • . . . • . • • . § 3: Verfolg der spekulativen Sicht in q. 3, art. 3-8: Vollkommene Glückseligkeit und Naturverlangen nach der Gottesschau; der philosophische Sinn dieser Lehre . . . . . . . . . . § 4: Die praktische Bedeutung der vollkommenen Glückseligkeit und die Notwendigkeit der Frage nach der unvollkommenen Glückseligkeit (q. 4 und 5) . . . . . . . . .

9. Kapitel: Das Glück dieses Lebens und die natürliche Moral

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§ 1: Der Zustand des »gegenwärtigen Lebens« als Grenze einer natürlichen Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 § 2: Die unvollkommene Glückseligkeit: Strukturprinzip (Summa theologiae 1-II, q. 3 art. 3), Aufbauelemente (q. 4), Zweiheit des Glücks (q. 3 art. 6), Vorrang der Kontemplation . 149 § 3: Das »Naturverlangen« nach der Gottesschau als spekulativ erfaßbarer Grund des Ordnungsgefüges der unvollkommenen Glück154 seligkeit . . . . . . . . § 4: Glück und Tugendleben . . . . . . . . . . . 157 § 5: Natürliche Ethik: ihre Konstitution als Tugendlehre vom „G)ück diese Lebens« her; die Rolle des Gottesbegriffs und der Metaphysik des Handelns . . . . . . . . 163

Dritter Abschnitt GUT UND BÖSE 10. Kapitel: Die Seinsfülle der Handlung . . . . . . . . . . 166 § 1: Der metaphysische Ansatz der Analyse Summa theologiae 1-II, q. 18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 § 2: Die ontologische Grundlage der Moralität {art. 1); zur Meta171 physik von Gut und übel . . . . § 3: Ontologische Analyse der Moralität selbst (art. 2-4) . 180 § 4: Die Ordnung der Moralität und die Ordnung der Dinge (Vergleich mit Summa theologiae 1, q. 6 art. 3) . 184

X

Inhaltsverzeichnis

11. Kapitel: Die Ordnung der Vernunft. . . . . . . . . . . 188 § 1: Die Vernunft: als Prinzip und Maß der Moralität; der Reflexionscharakter des Nachweises (q. 18 art. 5) . .

. .

. . . .

. 188

§ 2: Der Vorrang der Zielbestimmtheit (q. 18 art. 6-7) . . . . . 195 § 3: Der innere Akt (q. 19); der Verweis auf die Individualität im Rahmen der metaphysisch erkannten Ganzheit . . . . . . 197 § 4: Der äußere Akt (q. 20); die Einheit von Gesinnung und Ver201 antwortung . . . . . . .

12. Kapitel: Freiheit und Kontrarietät . . . . . . . . . . . 206 § 1: Die Vernunft: als Wurzel der Freiheit; der spekulative Ort der Freiheitslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2: »Ausübung« und »Artbestimmung«; die wurzelhafl:e Unbestimmtheit des Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . § 3: Die Freiheit der Kontrarietät als solche des endlichen und vollendbaren Vernunftwesens; die Wurzel möglicher Bosheit in der Faktizität des Wollens . . . . . . . . . . . . . . § 4: Die endliche Faktizität als Grund der Begrenztheit aller mora. lischen Wissenschaft:; Verweis an die Tugendlehre . . . . . .

206 208 210 215

Vierter Abschnitt

DIE KONKRETEN PRINZIPIEN DES SITTLICHEN HANDELNS: DIE TUGEND UND DAS GESETZ 13. Kapitel: Ethik als Tugendlehre

. . . . . . . . . . . . 218

§ 1: Die mögliche Vollständigkeit der Ethik als Tugendlehre . . . 218 § 2: Der sachliche Vorrang des »Stils« einer Tugendethik vor anderen Stilen der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 § 3: Die Ethik des »Sittengesetzes« als einzig legitime Alternative zur Tugendethik; deren Vorrang auch vor der »Gesetzesethik«. Die Unentbehrlichkeit des Gesetzesbegriffs als Komplement zur Tugendethik und seine spekulative Bedeutung . . . . . . . . 225

14. Kapitel: Gesetz und Geschichtlichkeit . . . . . . . . . . 230 § 1: Der thomistische Gesetzesbegriff (Summa theologiae I-11; q. 90); sein praktisch-politischer Ursprung . . . . . . . . . . 230 § 2: Ewiges Gesetz und Naturgesetz; ihr vorzüglich spekulativer Sinn und die Eingeschränktheit ihrer praktischen Bedeutung . . . . 233 § 3: Das positive Gesetz; Erscheinen der Geschichtlichkeit menschlichen Daseins unter praktischem Gesichtspunkt; die Grenze der thomistischen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . 237

Schlußbemerkung .

243

Personenregister Sachregister . . . Stellenverzeichnis.

245 247 257

ZITATIONSWEISE UND ZITIERTE AUSGABEN

Zitationsweise Die Werke des heiligen Thomas von Aquin sind mit den üblidten Abkürzungen zitiert: 1, 1-11, 11-11, III bezeidtnet die Teile der Summa theologiae. SCG: Summa contra gentiles. Sent.: Sentenzenkommentar (Scriptum). EBT: Expositio in librum Boethii de trinitate. Die Aristoteleskommentare sind durdt vorgestelltes „/n.: bezeidtnet: In Periherm., In Post. Anal., In De caelo, In Phys., In De an. (De anima), In Met. (In Metaphysicam), In Meteor.; ebenso In De caus., In De div. nom. Die Quaestiones disputatae sind ohne „Q.« angegeben, außer Q. de an. (Quaestio de anima; zur Untersdteidung von In de an.): Ver. (De veritate), Virt. com. (De virtutibus in communi), De malo. Quodl.: Quodlibetum. Die Stellen sind nur mit Ziffern angegeben: Büdter sind mit römisdten Ziffern bezeidtnet (SCG, Sent., Aristoteleskommentare); es folgt bei Sent. die Distinctio, bei SCG das Kapitel, bei den Kommentaren die Lectio; die restlidten (arabisdten) Ziffern bezeidtnen die Quaestio und den Artikel (oder nur diesen, falls keine Einteilung nadt Quaestionen vorliegt); bei den Aristoteleskommentaren ist die Randnummer der benutzten Ausgabe („n,«) zugesetzt.

Zitierte Ausgaben Summa theologiae, SCG, In Periherm., In Post. Anal., In De caelo: Editio Leonina (Rom 1882, 16 Bde.). Sent.: edd. P. MANDONNET et M. F. Moos (Paris 1929-1947, 4 Bde.). EBT: ed. B. DECKER (Leiden 1955). Quaestiones disputate: ed. R. M. SPIAZZI (Turin 1949, 2 Bde.). Quaestiones quodlibetales: ed. R. M. SPIAZZI (Turin 1949). In De caus.: ed. H. D. SAFFREY (Freiburg/Sdtweiz 1954). In De an.: ed. A. PIROTTA (Turin 3 1948). In Met.: ed. R. M. SPIAZZI (Turin 1950). In Eth.: ed. R. M. SPIAZZI (Turin 1949). Literatur ist im Text der Anmerkungen beim erstmaligen Zitat verzeidtnet; später wird darauf rückverwiesen.

VORWORT

Diese Abhandlung zum Problem der philosophischen Ethik bei Thomas von Aquin wurde im wesentlichen bereits Ende 1960 abgeschlossen. Nachträglich sind Verbesserungen und Zusätze eingearbeitet worden, vor allem habe ich den Abschnitt »Zur Einführung« hinzugefügt; ich entsprach damit dem Wunsch der ersten Leser des Manuskripts. Viele Gedanken dieses Buches habe ich teils vor, teils nach der Ausarbeitung in Gesprächen erproben können. Von meinen Gesprächspartnern möchte ich vor allem Herrn P. L.-B. Geiger OP (Le Saulchoir) und Herrn Privatdozent Dr. L. Oeing-Hanhoff (Münster) nennen. Den Hauptinhalt des 4., 10. und 11. Kapitels habe ich bei der Walberberger Studientagung 1961 zum Thema »Sein und Ethos« (vgl. Bericht im Philos. Jahrb. 1962) öffentlidi. zur Diskussion gestellt und erhielt eine wertvolle Bestätigung meiner Auffassungen. Wichtiger als dies war mir, daß die fertige Niederschrift von einem hervorragenden Sachkenner einer eingehenden Prüfung unterzogen wurde, die sich auch auf die Einzelheiten erstreckte. Diese große Mühe hat Herr Prälat Professor D. Dr. Josef Koch (Köln) auf sich genommen. Ihm bin ich schon deshalb zu großem Dank verpflichtet. Darüber hinaus möchte ich ihm, meinem Lehrer, an dieser Stelle sehr herzlidi. danken für die jahrelange Förderung, das beständige Wohlwollen und auch die menschliche Anteilnahme, die er mir geschenkt hat; all das ging weit über das gewöhnliche akademische Verhältnis hinaus. Ihm ist deshalb dieses Buch zum Zeichen der Dankbarkeit gewidmet. Dankbar gedenke idi. auch der ständigen Hilfe, die mir während der Ausarbeitung meine Frau geboten hat. Sdi.ließlich sei gedankt dem Kultusministerium von Nordrhein-Westfalen, das die Drucklegung durch eine Beihilfe ermöglicht hat. September 1963

Wolfgang Kluxen

VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE

Das vorliegende Buch war ein Jahrzehnt lang vergriffen. Die Neuauflage, fünfzehn Jahre nach der ersten, verdanke ich dem Interesse des Verlegers Richard Meiner, der sie in sein Haus übernommen hat. Ich möchte ihm, dessen stets dienstbereite, oft mühevolle Sorge um die philosophische Literatur so hoch verdienstlich ist, meinen persönlichen Dank hier öffentlich sagen. Die erste Auflage hat bei den Kritikern durchweg freundliche Aufnahme gefunden, zuweilen mit Vorbehalten, jedenfalls mit unterschiedlichen Graden der Zustimmung. Nur ein einziges Mal habe ich, in mehr als zwei Dutzend Rezensionen, die mir bekannt geworden sind, einen Einwand gefunden, der mit Bezug auf den historischen Thomas eine meiner Positionen als „unhaltbar" behauptet: so qualifiziert /. de Vries (Scholastik 1965, S. 114-116) meine Entgegensetzung von „Gegenstandsethik" und „Tugendethik", da nach Thomas eben der „Gegenstand" den „habitus" bestimme und nicht umgekehrt, wie bei mir (S. 224) zu lesen sei. Nun, an der zitierten Stelle meiner Darstellung gehe ich gerade auf dies Prinzip des Thomas ein und erläutere insbesondere, was „Gegenstand" meint; der Kritiker, der mich über Elementares zu belehren vorgibt, läßt sich auf die differenzierte Analyse gar nicht ein, und so kann ich mich nicht getroffen fühlen. Ich sehe keinen Grund, meine Auffassung zu ändern. Kritische Einwände betrafen eher Punkte, die außerhalb des historisch Nachweisbaren liegen. So meint der genannte de Vries (a.a.O„ S. 116), meine Ausführungen zur „unvollkommenen Glückseligkeit" bestätigten den Vorwurf Hans Reiners, die thomistische Ethik sei im Grunde ein „Eudämonismus" (im Sinne H. Reiners), und man habe vielleicht die Aufgabe, „um der größeren Treue gegen Thomas willen schon im ersten Ansatz der Sittenlehre ... über den Ansatz des Thomas selbst hinauszugehen?" - Hier liegt offenbar ein philosophisches Vorurteil vor, das ich nicht teile. Ich halte für gänzlich unnötig, den Eudämonismus-Vorwurf zu entkräften, und habe meinerseits eher den Verdacht, eine gänzlich von „Eudämonismus" (im Sinne H. Reiners) gereinigte Ethik sei nicht mehr fähig, das menschliche Gut angemessen zu bestimmen; ich frage mich auch, ob dieser 1965 erhobene Vorwurf heute, bei ganz veränderter Lage der philosophischen Ethik, noch ernsthaft in die Debatte geworfen würde. - Khnlich steht es mit einer - sehr viel ernster z~

XVI

Vorwort zur zweiten Auflage

nehmenden - Bemerkung von Andre Wylleman (Revue philosophique de Louvain 1964, 671-676), der die von mir herausgestellte Unterscheidung von theoretischem und praktischem Wissen zwar für "richtig" im Sinne des methodologischen Konzepts des Thomas hält, aber die Frage anschließt: ob jene Metaphysik, welcher das Problem dessen, was der Mensch tun kann und soll, "fremd" ist (und aus der sich daher keine ethischen Grundlagen ergeben) - ob dies wirklich "die Metaphysik" sei, auch im Sinne des Thomas? - Ich bin der Ansicht, daß die von Thomas gemeinte Metaphysik jene rein theoretische, abstrakt-begrifflich vorgehende Disziplin ist, die so gar nichts von unmittelbar "existentieller" Bedeutung hat; es sei denn, man halte reine Theorie, in der schließlich sogar eine wie immer beschränkte Gotteserkenntnis möglich ist, an ihr selbst für eine hohe Möglichkeit von "Existenz". Natürlich kann man "Metaphysik" auch ein Bemühen nennen, das vorzüglich dem Verständnis menschlichen Daseins und seiner Sinnmöglichkeiten gilt, das sich vielleicht gar in Tagebuchnotizen besser darstellen läßt als in Abhandlungen. Aber das scheint mir keine Möglichkeit oder Aufgabe, die sich auf Thomas berufen kann. Gerade bei Kritikern, die selbst profilierte Positionen einnehmen, finden sich diese in ihren Stellungnahmen wieder. Umgekehrt habe ich finden müssen, daß meine zuerst und wesentlich historisch gemeinte Interpretation des Thomas zugleich und in abgestuftem Maße selbst als Position gewertet und mir zugelastet wird. Ich bin als Autor dieses Thomas-Buches gelegentlich in öffentlichen Diskussionen als "Thomist" in Anspruch genommen worden, wenn ich ganz andere, Thomas durchaus fremde Fragen und Antworten vorgelegt habe. Ich habe inzwischen in mehreren Arbeiten, so vor allem in meiner Ethik des Ethos (Freiburg 1974), eigene Positionen vorgelegt, die durchaus in einen anderen Horizont gehören als was ich aus Thomas erarbeitet habe. Hier dürfte kein Mißverständnis mehr möglich sein. Aber auch hier ist wieder selbstverständlich: Thomas studiere ich mit der Absicht, von ihm philosophisch zu lernen, und dann ist es methodisch unerläßlich, in seine Absichten und Sichtweisen einzutreten, ihn damit in seiner Sache zu verstehen und sich darin mit ihm zu einigen. Auch Aristoteles und Kant wird man nicht anders näherkommen. Eine solche hermeneutische Identifikation ist die Erfolgsbedingung einer philosophischen Philosophiegeschichte. Die Alternative wäre eine Geschichte faktisch vertretener Doktrinen, in der das Historische jenes ist, was sachlich ohne Interesse ist. Für eine Interpretation, die bei historischer Korrektheit die philosophische Sachbedeutung anzieh und deren Verdeutlichung sich zum Ziel setzt, hat sich die Bezeichnung "Rekonstruktion" eingebürgert. Wenngleich dieses so junge Wort schon wieder modisch zerschlissen und kaum

Vorwort zur zweiten Auflage

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noch mit Anstand zu gebrauchen ist, scheint es mir doch seinem Sinngehalt nach für meine Darstellung treffend. Dies gilt auch in dem besonderen Sinne, daß ich um die „Konstruktion" eines geschlossenen Gedankengangs bemüht war, der in sich mannigfach verknüpft und dessen Konsequenz bei jedem Schritt ausgewiesen ist. Die angewendete Mühe sehe ich insofern belohnt, als ich nun keine Veranlassung sehen muß, auch nur einen Satz meines Textes zu ändern. Die einzige Hinzufügung der neuen Auflage ist ein Register, das von den Kräften des Philosophischen Seminars B der Universität Bonn gefertigt wurde; ihnen, besonders Herrn Dipl-Phil. Andreas Zacharioudakis, bin ich zu Dank verpflichtet. Ich habe darauf verzichtet, neuere Literatur zu verarbeiten; mir sind einzelne Arbeiten bekannt, die durchaus bedeutsame Beiträge zu von mir behandelten Themen bringen, aber nichts, was mich zu Revisionen oder gar Retraktationen zwingen würde, auch nicht in Einzelheiten. Eine Erweiterung hätte sich vielleicht im Kapitel über das Gesetz, insbesondere bei der recht knappen Darlegung zur „!ex naturalis" empfohlen, zumal die entsprechenden Abschnitte bei der Diskussion um den Begriff der „sittlichen Autonomie" in der Moraltheologie der letzten Jahre öfters beachtet worden sind. Dazu möchte ich lieber in einer eigenen Veröffentlichung, die Ende des Jahres in der geisteswissenschaftlichen Reihe der „Vorträge" der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften erscheinen soll, das Erforderliche sagen; dort soll auch auf die wichtigere Literatur der Zwischenzeit eingegangen werden. Auch die „Einführung" lasse ich unverändert; sie scheint mir für das Verständnis der Darstellung auch dort von Interesse, wo sie auf die damalige Situation der Ethik Bezug nimmt. Diese Situation hat sich inzwischen gewaltig verändert, und dazu mögen einige Bemerkungen am Platze sein: fragt sich doch, wie eine aus ganz anderen Voraussetzungen entstandene Untersuchung nunmehr einen Ort im Diskussionsfeld finden kann. Die Veränderung des philosophischen Diskussionsfeldes kann man mit dem Buchtitel „Rehabilitierung der praktischen Philosophie" nennen. Sie ist äquivalent der Wiederentdeckung der Eigenständigkeit praktischer Vernunft in einem Sinne, der sich auf Aristoteles berufen kann und beruft. Der Ansatz von /. Ritter, auf den ich in meiner Einführung Seite XL IV hingewiesen hatte, hat sich als ungemein folgenreich erwiesen. Zunächst ist ihm eine Erweiterung des Problembewußtseins zu danken: die „Ethik", als auf die Frage nach der vom individuellen Subjekt zu leistenden Moralität eingeschränkte Disziplin, erweist sich als Teil eines philosophischen Bemühens, dessen Bereich die „Prax.is" im

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Vorwort zur zweiten Auflage

umfassenden Sinne ist, politische, „gesellschaftliche", technische und auch wissenschaftliche Praxis. Die Philosophie gewinnt jene Breite zurüsapiens in aliquo generec, „qui considerat causam 10

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die Theologie, in der eigentlichsten Weise von Gott, der die höchste Ursache ist; betrachtet sie doch Gott nicht nur von der Kreatur her - das haben auch die Philosophen vermocht - sondern auch in Hinsicht auf das, was von ihm nur ihm selbst bekannt ist. Deshalb ist sie, unter allen menschlichen Weisheiten, am meisten Weisheit14 • Ihr kommt es zu, über alle Wissenschaften zu urteilen (das kann sie aus der intimen Kenntnis der höchsten Ursache); sie kann sie für ihre Zwecke benutzen15 ; sie scheint daher vorzüglich befähigt, alles Wissen zu »ordnen« und zur Synthese zu bringen. In gewissem Sinne trifft dieser Anspruch der Offenbarungstheologie mit dem der Metaphysik zusammen, »Weisheit« schlechthin zu sein und allen Wissenschaften vorzustehen18 • Die Summa contra gentiles (1, 1) stellt dieses Zusammentreffen schlicht fest: auch der Ersten Philosophie geht es nicht um beliebige Wahrheiten, sondern um den Ursprung aller Wahrheit, den Ursprung des Seins aller Dinge. Das Rangverhältnis ist aber schon im Sentenzenkommentar eindeutig festgelegt 17 : Während die Metaphysik nur von der Kreatur her die höchsten Ursachen betrachtet, tut das die Theologie auch »nach der Weise der höchsten Ursachen selbst«; ist die Metaphysik »göttliche Wissenschaft« vom Gegenstand her, so die Theologie noch mehr, weil »göttlich« auch nach der Weise, wie sie emp~ fangen wird18 • So kennt sie, nach der erwähnten Formel der Summa theologiae (1, 1, 6), auch das, was an sich Gott allein bekannt ist. Dazu tritt in der Summa theologiae ein weiteres Moment, in dem die Besonderheit der Theologie sich andeutet: Weil die Theologie, als auf der Offenaltissimam illius generis«, wird der „maxime sapiens« gegenübergestellt, »qui considerat simpliciter altissimam causam totius universi, quae deus est.« 14 1, 1, 6: „sacra autem doctrina propriissime determinat de deo secundum quod est altissima causa, quia non solum quantum ad illud quod est per creaturas cognoscibile (quod philosophi cognoverunt, ut dicitur Rom. 1: quod notum est dei, manifestum est illis), sed etiam quantum ad id quod notum est sibi soli de seipso, et aliis per revelationem communicatum. Unde sacra doctrina maxime dicitur sapientia.« 15 1, 1, 6 ad 2; ib. 1. 5 ad 2; SCG II, 4 (vgl. Anm. 9); EBT 2, 3. 18 Vgl. In Met., pro!. (kommentiert bei L. ÜEING-HANHOFF, Ens et unum convertuntur, Münster 1953, S. 7-20). 17 1 Sent. Pro!. 3 so!. 1: „ .„ sed etiam magis dicenda sapientia quam metaphysica, quia causas altissimas considerat per modum ipsarum causarum, quia per inspirationem a deo immediate acceptam „. magis etiam divina dicenda cst quam metaphysica, quia est divina quantum ad subiectum et quantum ad modum accipiendi, metaphysica autem quantum ad subiectum tantum.« 18 Die „göttliche Weise des Empfangens« ist im Scriptum die „inspiratio«, die eine subjektive Erhöhung des Empfangenden betont; die Summa theologiae zieht es vor, im Begriff der »revelatio« die Erschließung eines neuen Objektbereichs in den Vordergrund zu rücken. Zu diesem Unterschied vgl. J. DE GUIBERT, Les doublets de saint 1homas, Paris 1926. - EBT zeigt eine mittlere Position.

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barung beruhend, übernatürliche Prinzipien hat, steht sie nicht in Kontinuität mit den Wissenschaften der natürlichen Vernunft; sie begründet auch nicht - was sonst als Aufgabe der Weisheit angenommen wird 19 die Prinzipien der »Untergeordneten« Wissenschaften, sondern tritt ihnen, sozusagen von oben, nur richterlich entgegen. Sie bleibt, gebunden an ihre ganz anderen Prinzipien, stets irgendwie im Bereich des Geoffenbarten stehen; was immer sie an sich zieht und in ihre Synthesis einordnet, ist ihr nur zugänglich, insofern es ein »revelabile« ist20 • Unter diesem Titel geht die Fülle philosophischen Gehaltes, den die theologischen Werke des Thomas aufweisen, in die Theologie ein. Denn was heißt es, etwas an sich bereits natürlich Gewußtes als ein »revelabile« anzusehen? Die Antwort dürfte ungefähr lauten: Jegliches Gewußte ist ein »revelabile«, wenn es eine Zuordnung zum Sinn von Offenbarung hat. Sinn der Offenbarung ist die Befähigung des Menschen, zu dem von Gott ihm gesetzten übernatürlichen Ziel zu gelangen, zur beseligenden unmittelbaren Gottesschau. Etwas als »revelabile« wissen heißt also, es zu diesem Offenbarungssinn in Beziehung zu setzen, es unter dem Gesichtspunkt des Heiles, des Planes Gottes mit uns, des sich offenbarenden Gottes zu sehen 21 • Dies ermöglicht ein weites Ausgreifen der Theologie Vgl. z.B. 1-II, 57, 2c. und ad 2; ib. 66, 5. - Der Weisheit wird das iudicare zugesprochen, weil sie die obersten und für die beurteilten Wissenschaften grundlegenden Prinzipien umschließt; 1, 1, 6 ad 2 leitet aus der grundsätzlichen Verschiedenheit natürlicher Erkenntnis und der „propria ... huius scientiae cognitio ... quae est per revelationem ... « ab: „ ... ideo non pertinet ad eam probare principia aliarum scientiarum, sed solum iudicare de eis.« - Es kommt hier auf das »solum« an: die philosophische Weisheit „begründet« zwar nicht alle Wissenschaft, aber die theologische begründet keine. 20 1, 1, 3; die Bedeutung dieser Lehre für die gesamte Interpretation der thomistischen Synthese ist erst von E. G1LSON, Le Thomisme, Paris 5 1944, S. 17 ff. herausgestellt worden. - Historisch ist interessant, daß erst die Summa theologiae das „revelabile« als „formalis ratio« der Theologie benennt und damit ein objektives Prinzip für die Bestimmung des Verhältnisses rein natürlicher und theologischer Vernunft gewinnt (vgl. Anm. U}-. 21 Die Heilsbezogenheit ist nach 1, 1, 1 das Grundprinzip der „sacra doctrina« überhaupt und muß also bei der Bestimmung ihres Inhalts stets maßgeblich sein. Ein abstraktes Verständnis des „revelabile« als dessen, was überhaupt von Gott mitgeteilt werden kann, das somit - weil es ja nichts gibt, was Gott nicht mitteilen könnte - eine direkte inhaltliche Allzuständigkeit des Theologen behaupten müßte, scheint mir sinnlos: so sind etwa die ersten Prinzipien der natürlichen Vernunft, weil sie „per se nota« und in allem Erkennen immer vorausgesetzt sind, gar nicht »offenbarbarc; auch ist nicht einzusehen, wie etwa die euklidische Mathematik geoffenbart werden könnte. Eine solche abstrakte Auffassung scheint bei A. HAYEN, La Communication de l'Etre, Bd. 1, Löwen 1957, S. 30 u. ö. vorzuliegen. Nach mittelalterlichem Sprachgebrauch darf der Unterschied von „revelatumc und „revelabilec nicht starr-abstrakt als der von „konkret wirkliche und „abstrakt mögliche genommen werden, wie Bonnefoy gegen Gilson (vgl. 18

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in die Bereidte des natürlidten Wissens hinein, zumal in die Philosophie. Denn, »WOZU anders philosophiert der Mensdt außer um selig zu sein?« 22 - dies Wort Augustins nimmt Thomas auf; audt für ihn hat die Philosophie mit dem Glück des Mensdten zu tun23 und damit unmittelbar mit seinem Heil. Der Gesidttspunkt der »revelabilitas« erweist sidt als sehr weitreidtend; in seiner Anwendung zeigt sidt die Wirkung des »göttlidten Lidttes«, das in dem Glauben an die Offenbarung eingegossen wird, und dies vermag weitere Bezirke zu umfassen als selbst die hödtste und umfassendste rein natürlidte Wissensdtaft, die philosophisdte Weisheit die Metaphysik24 : diese betradttet zwar »alles«, aber dodt nur »insofern es ein Seiendes ist«, in einer Allgemeinheit, die der Natur des »natürlidten Lidttes« entspridtt und nidtt bis zur Erkenntnis des Arteigenen hinabsteigt25. Dies vermag jedodt die Theologie: sie ist ein höheres Wissen, daher weiter reidtend und tiefer greifend; sie ist Einbildung (impressio) und Teilhabe des göttlidten Wissens 28 , weldtes in einfadter Weise alles umfaßt; sie bleibt daher, in Kraft ihres aus dieser Teilhabe gewonnenen einen umfassenden Gesidttspunktes, nur eine Wissensdtaft und befähigt, audt soldte Gegenstände zur Einheit ihrer Synthesis zusammenzufassen, Le 1homisme S. 18 Anm. 2) vorbrachte. Unter dem Eindruck dieses Einwandes scheint Gilson seine Auffassung in den Elements of Christian Philosophy, New York 1960, S. 34-35 dahingehend modifiziert zu haben, daß er die iorevelabilia« nunmehr als die aktuell geotfenbarten, aber in sich der natürlichen Vcrnunfl zugänglichen Wahrheiten interpretiert (jedoch sehe ich nicht, wie das aus dem Text unmittelbar hervorgehen soll). Wieder aber ist für Gilson nun im »revelatum« alles Wißbare irgendwie enthalten (a. a. 0.): „Jn describing the work of the six days, Scripture leaves nothing out, so that there is nothing that sciences and philosophy can say which is not related to some object of a possible revclation. The easiest way to understand this point is to ask: what is there that is not in the science God has of his own work? Obviously, nothing.« - Mir scheint das Argument viel zuviel zu beweisen; als nur teilhabend am göttlichen Wissen, braucht die Theologie doch durchaus nicht alles zu umfassen, was Gott weiß; vgl. auch Kap. 2 Anm. 22, S. 19. 21 EBT 5, 1 ad 4 (AucusT1Nus, De civ. dei XIX, c. 1, der wieder Varro zitiert); vgl. 1 Sent. Pro!. 1. 23 Aus der zwiefachen Bestimmung des Glücks als kontemplativ und praktisch leitet EBT 5, 1 ad 4 den Unterschied theoretischer und praktischer Philosophie her; sie ist als menschliche Betätigung wesentlich vom Streben nach Glück als dem letzten Ziel her zu verstehen; vgl. unten Kap. 4. 24 1 Sent. Pro!. 2 so!. und ad 1, ad 3 redet von der „efficacia divini luminisc; die Summa theologiae bringt dies Bild nicht mehr, sondern betont die „formalis ratio obiecti« - den höheren Standort, der umfassendere Sicht gibt. 25 Vgl. z.B. EBT 5, 4 arg. 6 und ad 6. 28 1, 1, 3: "· .. velut quaedam impressio divinae scientiae« („des Wissens Gottes« gen. subiectivus); im Zusammenhang der nüchternen Redeweise dieses Artikels ist „impressioc ein sehr gewichtiger Ausdruck, wie Gilson zu Recht betont (Elements .... vgl. Anm. 21, S. 289, mit Verweis auf SCG II, 2).

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weldte die natürlidte Vernunft nur in versdtiedenen Wissensdtaften zu ergreifen vermag2 7 ; so ist sie Synthesis in strengstem Sinne, weil nidtt bloß Zusammenfassung von in versdtiedener Weise Gewußtem zu einer Einheit der Ordnung, sondern Einheit des Wissens selbst nadt Weise der Einheit des Habitus28 •

§ 3: Der Fortbestand des natürlidten Wissens in der Synthese Aus dieser Charakteristik der Theologie: daß in ihr, auf Grund der Erhabenheit ihres Ursprungs und ihrer Hinordnung auf das wahre letzte Ziel, materiale Fülle und formale Einheit einzigartig verbunden sind, wird ihre systembeherrsdtende und durdtgehend bestimmende Rolle bei Thomas verständlidt. Der gläubige Denker, der die universale Synthese vollziehen will, wird sie als Theologe anstreben, weil für ihn hier die vollkommenste Möglidtkeit der Obersdtau offensteht. Gleidtzeitig ist aber aus dem Gesagten deutlidt geworden, daß die Theologie, wie sie nidtt die Grundlegung der natürlidten Wissensdtaften leistet, so audt nidtt in dem Sinne Synthese ist, daß sie die natürlidten Wissensdtaften als solche zur Einheit des Systems zusammenfaßte. Jeglidtes natürlidt Gewußte, das in die theologisdte Synthesis aufgenommen wird, verliert eben darin seinen Charakter als bloß natürlidt Gewußtes. Es tritt aus seinem ursprünglidten Zusammenhang über in die andere Ordnung und in die andere Weise des Gewußtwerdens, die generisdt versdtieden ist von der »natürlidten«. Diese letztere wird in sidt nidtt angetastet, wenn ihr Gewußtes in die höhere Einheit der Theologie eingeht. Gerade die formale Gesdtlossenheit des theologisdten Wissens gibt die natürlidten Wissensdtaften in ihrer formalen Selbständigkeit frei. Das gilt audt für den extremen Fall einer soldten Ausweitung der übernatürlidten Sidtt, daß in ihr nun wirklidt alles Wißbare ergriffen würde. Dieser Fall ist gegeben im Zustand der übernatürlidten Vollendung des Mensdten, wie ihn die Seligen haben und wie er audt der Seele Christi zukommt: im unmittelbaren Ansdtauen der göttlidten Wesenheit und durdt diese wird alles übrige erkannt. Aber die natürlidte Weise des Wissens wird durdt diese übernatürlidte Erhebung des Mensdten nidtt einfadt vernidttet, so wenig, wie die mensdtlidte Natur überhaupt vernidttet wird, mit der sie »natürlidt« verbunden ist. Zwar steht sie jetzt in völliger Unterordnung unter das höhere Wissen und in durdtsidttiger Harmonie damit, nidttsdestoweniger ihren Prinzipien und ihrem forma1, 1, 3 und 4; 1 Sent. Pro!. 2 und 4. I, 1, 7: daß die Gegenstände dieses Wissens selbst nur in einer Einheit der Ordnung stehen, wird dadurdt natürlidt nidtt ausgesdtlossen. 27

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len Eigenstand nach unaufhebbar davon geschieden 29 • Um so deutlicher tritt im gegenwärtigen Zustand des Menschen - selbst wenn man davon absehen wollte, daß er der Erbsünde unterliegt - diese prinzipielle Selbständigkeit des natürlichen Wissens hervor. Hier, wo Gott »nicht gesehen« wird und »nicht erscheint« (Hebr 11, 1), wo die Kontinuität zum Wissen Gottes und der Seligen nur durch eine Offenbarung »in Spiegel und Rätsel« (1 Kor 13, 12) hergestellt wird, der die Vernunft nicht anders als durch Glauben zustimmen kann30 , besitzt das natürliche Wissen sogar einen gewissen Vorzug: es geht von Prinzipien aus, die der Vernunft unmittelbar erschlossen sind, und kann von da aus eine dem menschlichen Verstehen völlig einsichtige Gewißheit erreichen. So ist das natürlich Wißbare für uns das Bekanntere, mag auch das in der »heiligen Lehre« wirksame göttliche Wissen in sich unvergleichlich lichtvoller sein. Aus diesem Grunde gewinnt das natürliche Wissen für die Theologie selbst eine gewisse Bedeutung; nicht so, als bedürfe diese an und für sich einer Hilfe- ruht sie doch völlig in sich selbst-, sondern mit Rücksicht auf das beschränkte menschliche Verstehen, welches eine Handleite zum Höheren hin nötig hat31 •

§ 4: Der Eigenstand der Philosophie und ihre Einordnung in die Synthese Dieses Verhältnis wird in der Formel vom Magd- oder Vasallendienst der Philosophie ausgedrückt32 • Die Theologie »gebraucht« die natürlichen Wissenschaften für ihre Zwecke, und zwar tut sie das näherhin in dreifacher Weise: zum Nachweis der »praeambula fidei«, zur Erläuterung der Glaubensinhalte selbst mit Hilfe natürlicher Analogien, zur Verteidigung des Glaubens gegen die Ungläubigen33 • Ganz offenbar handelt es sich in allen drei Fällen um »revelabilia«, die als solche in die eigentliche Zuständigkeit des Theologen gehören. Nur geht es hier gerade nicht um sie Vgl. 1, 89, 5 und 6; III, 9, 4; dazu den schönen Vergleich von III, 9, 1 ad 2: das geringere Licht wird von dem größeren, wenn dies dem illuminans, jenes dem illuminatum zugehört, nicht zum Verschwinden, sondern zu hellerem Leuchten gebracht; Sonnenlicht läßt Kerzenlicht verblassen, aber das "Lufl:licht« heller werden. ao Vgl. 11-11, 1, 4 und 5. 31 Vgl. 1, 1, 5 ad 2: Es kommt darauf an, jede „Abhängigkeit« im Sinne von »Unterordnung« auszuschließen. 32 1, 1, 5 ad 2; 1 Sent. Pro!. 1 (dort ist vom „ Vasallen« die Rede). III EBT 2, 3; zum geschichtlichen Hintergrund der Doktrin vgl. M. GRABMANN, Die theologische Erkenntnis- und Einleitungslehre und die philosophische Wissenschaftstheorie des hl. Thomas von Aquin auf Grund seiner Schrift In Boethium de trinitate, Freiburg/Schweiz 1947; zur Geschichte der Formel vom »Magddienstc vgl. S. 183 f. 29

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als »revelabilia«, sondern um ihre Zugänglichkeit für ein Verstehen, welches dem übernatürlichen Licht nicht in genügendem Maße - vielleicht auch gar nicht - aufgeschlossen ist. Der Theologe sieht sich veranlaßt, auf den »natürlichen« Standpunkt jenes Verstehens einzugehen, sich auf philosophische Methoden und Sichtweisen einzulassen, schließlich auch »gelegentlich von den Prinzipien der menschlichen Philosophie auszugehen«34. Wir sahen bereits, daß er damit nicht einfach aufhört, Theologe zu sein, und zum Philosophen wird. Der Anlaß ebenso wie das sinnerfüllende Ziel seines jeweiligen philosophischen Bemühens liegt durchaus im theologischen Bereich; er ist nicht gezwungen, den Rahmen der theologischen Ordnung (materiell) zu überschreiten. Zudem ist er auf Grund seines vorgängigen höheren Wissens gehalten, ständig sein Philosophieren zu »beurteilenKünstlertum« Gottes.

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Ethik als philosophische Disziplin

sen Bedingungen zu stellen. Dagegen gehört die tatsächliche Ausübung nicht in den Begriff hinein: sie verhält sich, wie wir bereits sahen, akzidentell zum Wesen des Kunstwissens. Offenbar verlangt sie einen besonderen Antrieb, der sich aus der bloßen Regel nicht ergibt, sondern eines eigenen Prinzips bedarf. Als solches Prinzip der Ausübung setzt die Kunst das Strebevermögen der herstellenden Natur voraus, von dem her der gesamte Herstellungsakt erst ins Werk gesetzt wird. Erst wo ein Streben schon vorliegt, das auf ein Herstellbares zielt, gibt es für die Kunst ein zu Regelndes, und sie regelt es nur in der eingeschränkten Hinsicht, daß es ein Herstellbares betrifft und sich den Bedingungen von dessen Herstellbarkeit unterwerfen muß. Der Kunst geht es also nur um eine besondere Bestimmtheit oder Beschaffenheit des zu regelnden Aktes, wie sie im Hinblick auf sein Objekt ihm zukommen muß 27 • Die ausdrückliche Frage nach der Ausübung aber, die ihr zunächst äußerlich ist, rückt gerade das der Besonderheit Vorausliegende, den Akt selbst und sein Prinzip in den Blick. Unter diesem allgemeineren und grundlegenderen Gesichtspunkt geht es nicht mehr um die Herstellbarkeit eines Herstellbaren, sondern um den Akt des Herstellens selbst als Akt überhaupt, um das Aktsein oder Aktwerden dieses Aktes; er ist selbst nun das in Frage stehende Bewirkte oder Wirkbare der wirkfähigen Natur.

§ 5: Das »Handlungswissen« im Unterschied zum Kunstwissen und seine Vollendung in der »Klugheit« Die praktische Vernunft, die dieses Wirkbare betrifft, hat es offenbar mit einem anderen Gegenstande zu tun als mit einem Herstellbaren. Hier handelt es sich nicht um ein in den äußeren Dingen Gewirktes, das dem Wirkfähigen jenseitig ist (opus transiens). Das »Werk« ist hier das Wirken selbst, der Akt des Strebevermögens, welcher aller äußeren Betätigung vorausliegt, eine Bestimmtheit also, welche die wirkfähige Natur bei sich selbst und an sich selbst erwirkt und mit der sie den eigenen Bereich nicht verläßt (opus immanens). Dem transeunten Herstellen (facere) tritt das immanente Handeln ( agere) gegenüber, dem factibile, als jenseitig zu Bewirkendem, das agibile, als das zu bewirkende Wirken selbst28 • Vgl. I-11, 57, 3 und 4: das „Gute der Kunst liegt im Kunstwerk, nicht im Tun selbst; die Kunst als solche gibt nur die „facultas bene operandic, nicht den „bonus ususc (im moralischen Sinne), „ ... inde est quod magis laudatur artifex qui volens peccat quam qui peccat nolens.« 28 Zur Unterscheidung von facere, factibile, opus transiens und agere, agibile, opus immanens (nach Arist. Met. IX, 8; 1050 a 30 - b 2) vgl. z.B. I-11, 57, 4; In Eth. VI, 3 n. 1151 (die Begründung der Unterscheidung liegt danach nicht in der Zuständigkeit der Ethik, sondern „extra hanc scientiamc). - L. THIRY, 27

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Der Hinblick der praktisdien Vernunft auf das »Wirken selbst« ist von umfassender Allgemeinheit. Ausgenommen von ihm ist nur jenes Wirken, weldies dem Menschen als Naturding zukommt: es vollzieht sich spontan, ohne regelnde Einwirkung der Vernunft, und kann daher nur Gegenstand eines spekulativen, nidit eines praktisdien Wissens sein. Aber alles Tun, in dessen Wesen es liegt, nicht spontan-naturhaft zu entspringen, sondern aus vernunftgeleitetem Streben zu kommen - aus dem Willen also, wie dies im Unterschied zu anderen Strebensarten genannt wird -, ist hier betroffen. Dieses willentliche Tun ist das eigentlich mensdiliche, weil von Vernunft zu leitende, und man spricht von operatio humana, von actus humanus, im Gegensatz zur operatio naturalis, zum bloßen actus hominis 29 • Menschliches Handeln in diesem Sinne hat die größte Mannigfaltigkeit an Inhalten, Zielen, Gegenständen, ist dazu modifiziert von den mannigfachsten Umständen. Das praktisdie »Handlungswissen« sdieint demgegenüber recht eng gefaßt, wenn ihm allein die allgemeine, abstrakte Absicht auf das bloße Aktsein des Handelns - die Ausübung - zugeschrieben wird. Der »Handelnsregel« bleibt schließlich nur jene Alternative übrig, welche dem Willen - als dem Grund des Aktseins - die einzig mögliche ist, wenn man von allem Inhalt absieht: die von Tun oder Nicht-Tun, von Handeln oder Nicht-Handeln. In der Tat, die Folgerung ist zwingend: die Entscheidung dieser Alternative ist der Sinn allen Handlungswissens. Aber der Wille ist keine abstrakt gedachte Freiheit, die aus dem Leeren der Willkür auf einen beliebigen Inhalt zielte - die Entscheidung wäre ~elbst beliebig, einer Regel nicht unterwerfbar, ja der Begriff einer Handlungsregel widersprüdilich30 • Er ist vielmehr Vermögen einer konkret existierenden, naturhaft-wesenhaft und auch gesdiichtlich je vorbestimmten Menschennatur, und wenn er einen tatsächlichen, konkret-inhaltlich bestimmten Akt setzt, so ist dies sein Wirken (als immanent) zugleich eine weitere Bestimmung jenes zugrundeliegenden Wesens, die dessen vorgängiger Bestimmtheit sich einpassen, ihr angemessen und entsprechend a. a. 0. (Anm. 12, S. 25) S. 44 glaubt, ein „factibile immanens« ansetzen zu müssen, als eines der •artes puldirae«, die er von den •mechanicaec trennen will; da die •smönen Künste« für Thomas keine eigene Kategorie bilden, ist das überflüssig, vgl. Anm. 8, S. 24. 2u Vgl. 1-II, 1, 1; In Eth. 1, 1 n. 3. 30 Die Notwendigkeit einer grundlegenden Bindung des Wollens spridit z. B. 1, 82, 1 aus: „ ... necesse est quod ... voluntas ex necessitate inhaereat ultimo fini ... oportet enim quod illud quod naturaliter alicui convenit et immobiliter sit fundamentum et principium aliorum, quia natura rei est primum in unoquoque et omnis motus procedit ab aliquo immobili.« - Der Begriff einer radikalen Freiheit im existentialistisdien Sinne wäre demnadi ein Unding; diese Möglidikeit liegt außerhalb des thomistisdien Gcsiditskreises.

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Ethik als philosophisdie Disziplin

sein kann - oder auch nicht. Das Angemessene wird das Wesen vervollkommnen, ein »Gut« sein, das Unangemessene ihm abträglich, ein »Übel« oder »böse« sein81 • Daraus folgt die allgemeinste Handlungsregel: das Angemessene, das »Gute« ist zu tun, das Unangemessene, das »Üble« oder»Böse« ist zu lassen. Ersichtlich ist hierbei für das Angemessensein oder Unangemessensein einer Handlung, für ihr »gut« oder »böse«, gerade das Inhaltliche an ihr maßgeblich, sofern es jedoch nicht in seiner bloßen Stofflichkeit, sondern zugleich in seiner Rückbezogenheit auf den Handelnden selbst gesehen wird, dem es Ziel und Gegenstand eines überlegten Entschlusses ist. Der Hinblick des Handlungswissens kann dabei mehr oder weniger allgemein sein. So kann ein Handlungsinhalt (z.B. »Selbsterhaltung«) ohne Berücksichtigung der jeweiligen Besonderheit seiner Verwirklichung betrachtet und auf das handlungsgründende Wesen »Mensch« rein als solches, unter Absehung von der Besonderheit und der Situation des jeweiligen Menschen, bezogen werden. Dies ergibt Regeln allgemeinen Charakters, in denen die Grundstruktur menschlichen Seinkönnens, das Gesamt grundlegender Zielsetzungen menschlichen Strebens einzufangen ist. Ferner heben sich Verhaltensweisen, Haltungen heraus, die dem je einzelnen Akt als Dispositionen zum rechten und angemessenen Tun vorausgehen: Tugenden, »Sitten«, von denen her der Bereich des Handelns die Bezeichnung »moralisch« bekommen hat82 • Es versteht sich jedoch, daß die Kenntnis der allgemeinen Regel noch nicht für die je einzelne konkrete Entscheidung ausreicht; erst im Erfassen der Einzelheit des jeweiligen Handlungsinhalts wie des jeweils Handelnden vollendet sich das Handlungswissen zur unmittelbaren »recta ratio agibilium«, zum »rechten Begriff von dem, was zu tun ist« 83 • Vergleicht man diesen Begriff mit dem sprachlich analog gebildeten der Kunst (recta ratio factibilium), so stellen sich sofort charakteristische Unterschiede heraus. Schon die Übersetzung »Sachverstand« läßt sich hier schwerlich anwenden, wo die »Sache« nicht allein das Maß für die Rechtheit gibt, sondern zugleich das handelnde Subjekt, und zwar gerade in seiner konkreten Individualität. In diesem strengen Verweis auf die Individualität zeigt sich eine Folgerung aus dem Ansatz des HandVgl. 1-11, 18, 5: „ ... unicuique rei est bonum quod convenit eo secundum suam formam.« - Nad:t 1-11, 94, 2 folgt die Bestimmung des »Naturgesetzes« der Bestimmtheit des Mensdien durdi die »inclinationes naturales«; nad:t 1-11, 96, 2 ermöglidit die Maßgeblidikeit gesdiiditlidier Bestimmtheit des Mensdien die Verbindlidikeit der »lex humana« (vgl. dazu unten Kap. 14). 32 Zur Ableitung von »moralisdi« vgl. 1-11, 58, 1; Virt. com. 12 ad 15. 83 Dies ist der Begriff der •Klugheit«; in der Darstellung wird sie erst benannt, wenn ihre Bedeutung aus dem Ansatz des Handlungswissens überhaupt abgeleitet ist. - Es ist mir keine Thomas-Interpretation bekannt geworden, die diese Ableitung leistet. 31

Ethik als praktische Wissenschafl

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lungswissens bei der Tatsächlichkeit des Aktes, die ja notwendig zugleich Individuation bedeutet. Geht aber das zur recta ratio agibilium, zur unmittelbaren Handelnsregel vollendete Handlungswissen auf den konkret-individuellen Akt als einen tatsächlichen, so heißt das wiederum, daß die »Hinwendung zum Werk«, die »Ausübung«, nicht akzidentell, sondern wesentlich ihr zugeordnet ist. Die Entscheidung über Tun oder Nicht-Tun kann dann nicht ein bloßes Urteilen sein, dem ein Streben als unabhängiges Ausübungsprinzip immer noch beitreten müßte, sondern sie muß selbst wirksam zur Ausübung bewegen, diese »befehlen« oder »vorschreiben«, und zwar so, daß sie unmittelbar folgt. Wer zwar richtig »Urteilt«, aber dann nicht richtig handelt, dessen Entscheidung kommt eben nicht aus (vollendetem) Handlungswissen; in Hinsicht auf diese konkrete Entscheidung hat er gar nicht »den rechten Begriff von dem, was zu tun ist«. Vollendetes Handlungswissen ist demnach erst vollendet im wirksam-bewegenden Vorschreiben der Vernunft, weil erst dann die Tatsächlichkeit erreicht wird, das Wirken selbst, wie wir es im Begriff des agibile gemeint fanden. Zu dem so gefaßten Vorschreiben gibt es im Kunstwissen keine Parallele. Sofern es »Vorschriften« enthält - Herstellungsregeln -, bewegen diese doch nicht als solche wirksam zum Akt; ihre akzidentelle Ordnung zur Tatsächlichkeit des Kunsttuns zeigt an, daß sie sich auf der Ebene des Urteils halten. Kunstwissen bedeutet nur Fähigkeit zur Kunstausübung; Kunstausübung selbst fällt, als willentliches Wirken, unter den Begriff des agibile und wird erst tatsächlich ins Werk gesetzt durch ein Vorschreiben, das wiederum der recta ratio agibilium zusteht34 • Deren Unterschied und zugleich Zuordnung zur recta ratio factibilium ist hieraus deutlich. Aber auch innerhalb des Handlungswissens selbst sind der Unterschied und die Zuordnung hervorzuheben, die zwischen einem bloß urteilenden und einem zugleich vorschreibenden Verhalten bestehen. Der Unterschied zeigt sich zunächst als der zwischen Individual- und Allgemeinerkenntnis. Ersichtlich ist nur dann ein Vorschreiben, als zum Tatsächlichen hingeordnet und wirksam bewegend, anzusetzen, wenn die praktische Vernunft das konkret-individuell zu Tuende in Das „facere«, als Akt, fällt also unter die Zuständigkeit der Moral. Daraus folgt aber keineswegs eine Zuständigkeit der Moral für die Kunst schlechthin, da ja das „factibilec wieder nicht unter die Moral fällt - es sei denn auf Grund von Qualitäten, die mit dem Kunstcharakter nicht unmittelbar zusammenhängen. Die .i\ußerung von SERTILLANGES (Saint Thomas d'Aquin Bd. II, Paris 3 1924, S. 291 f.), die von L. THIRY a. a. 0. (Anm. 12, S. 25) S. 48 f. zitiert wird, ist demnach nicht ganz zutreffend: •L'art ... est sous Ja dependance de Ja morale« kann man eben nicht sagen; die Ausübung ist unter der Moral, aber diese ist eben nicht »die Kunst«. 34

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Ethik als philosophische Disziplin

seinem Hier und Jetzt betriffi. Allgemein gefaßte Inhalte sind dagegen nidi.t unmittelbar ins Werk zu setzen; ihnen gegenüber verhält sidi. die praktisdi.e Vernunft notwendig bloß urteilend. Es bedarf eines eigenen Aktes der Vernunft, um eine allgemeine Handlungsregel auf den individuellen Fall anzuwenden35 • Aber audi. ein individuelles Urteil ist nidi.t allein darum, weil es individuell ist, sdi.on bewegend. Dies ist besonders an jenem Urteil deutlidi., weldi.es nadi. gesdi.ehenem Tun die Tat überprüft: es ist zweifellos auf Individuelles (und Tatsädi.lidi.es) bezogen, ohne daß es vorsdi.reibend werden könnte. Nidi.ts hindert ferner, daß ein ebensoldi.es individuelles, nidi.tbewegendes Urteilen der Tat vorausgeht oder sie begleitet. Von dieser Art ist der Sprudi. des Gewissens (conscientia ), dem der Handelnde immer nodi. folgen oder nidi.t folgen kann39 • Audi hier liegt also bloßes Urteilen vor, und es ist offensidi.tlidi., daß der Akt des Vorsdi.reibens, sofern er wirksam-bewegend ist, ein Moment einsdi.ließt, das auf dem Wege fortsdi.reitender Determination des Urteils nidi.t angetroffen werden kann. Dieses Moment, weldi.es den werknädi.sten und zumeist praktisdi.en Akt der Vernunft di.arakterisiert, muß aus der Konsequenz jenes Ansatzes hervortreten, der überhaupt Vernunft praktisdi. werden läßt. Wie oben gesagt, erstreckt sie sidi. auf den Bereich des Praktisdi.en nidi.t sdi.on als Vernunft überhaupt (absolut), sondern erst, sofern sie als leitendes Vermögen einer wirkfähigen und mit Strebevermögen begabten Natur innewohnt. Folgeridi.tig erreidi.t sie die Tatsädi.lidi.keit des Handelns nur deshalb und insoweit, als die Natur sdi.on in aktueller Hinneigung zu konkreten Zielen bewegt und zu tatsädi.lidi.em Tun geöffnet ist. Natürlidi. setzt diese Hinneigung des Strebens wiederum Erkennen voraus, das ihm Ziele vorstellt, auf die es sidi. hinbewegen kann; aber erst aus der aktuellen Anspannung des Willens auf das Ziel hin - die durdi. die Überlegung der Mittel (consilium) und die letzte Beurteilung (iudicium ultimum practicum) hindurdi. bis zur Entsdi.lossenheit der Wahl (electio) anwädi.st - entsteht das Sdi.wergewidi.t auf die Tat hin, das im Vorsdi.reiIn der Abhebung der Klugheit von der »scientia« wird von Thomas meist ihr Bezug auf das Individuelle hervorgehoben, vgl. z.B. 11-11, 47, 5; In Eth. VI, 7 n. 1213. - Diese Kennzeidmung ist jedoch nicht ausreichend, vgl. das Folgende. 39 Vgl. 1, 79, 12: »Conscientia« ist lediglich der Akt, der »Spruch« der praktischen Vernunft, und insofern nicht bewegend-bestimmend; ausdrücklich heißt es Ver. 17, 1 ad 4: „ ... iudicium conscientiae consistit in pura cognitione.« Der Terminus ist im Grunde entbehrlich, und öfter heißt es »COnscientia sive ratio«, wie bes. deutlich 1-11, 19, 5. Als besondere moralische Größe, gar als Vermögen oder Verfassung eines solchen zu unmittelbar-moralischer „Wertung« wird das Gewissen ausdrücklich abgelehnt; im Aufbau der Moral spielt es überhaupt keine Rolle und wird offenbar nur wegen der patristischen Tradition behandelt. 35

Ethik als praktische Wissenschaft

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ben freigegeben wird 37 • Die Vernunft »befiehlt« also in Kraft eines vorausgegangenen Strebensaktes, und dieser ist es, dem das »wirksam Bewegen« zu verdanken ist. Wenn es sich so verhält, so ist die »Rechtheit« unseres »Begriffes von dem, was zu tun ist«, nicht eine Rechtheit des bloßen Erkennens, die sich aus der (logisch) richtigen Ableitung des Individuellen aus dem Allgemeinen ergäbe; sie hängt vielmehr ebenso von der Rechtheit des vorausgesetzten Strebens ab, von der Angemessenheit der erstrebten Ziele, von der rechten Verfassung des Handelnden im Hinblick auf diese - sie setzt die moralischen Tugenden voraus. Andererseits ist die recta ratio agibilium allein in der Lage, in den jeweiligen Umständen die »rechten« Mittel zur Erreichung des Zieles zu beurteilen und den Impuls des Strebens zu lenken, da gerade sie die »Vernunft des Tatsächlichen« ist. Sie ist damit ebenso notwendig für die rechte Verfassung des Handelnden wie die grundsätzliche Ausrichtung auf das Angemessene und Gute, muß also selbst unter die moralischen Tugenden gezählt werden. Obwohl eine Vollkommenheit der Vernunft, ist sie grundsätzlich verschieden von deren sonstigen Verfassungen. Vor allem ist sie nicht »Wissen« oder »Wissenschaft« (scientia), sondern schon durch ihren besonderen Namen »Klugheit« (prudentia) deutlich davon abgehoben38 •

§ 6: Die Struktur des Handlungswissens und der Ort einer praktischen Wissenschaft Es zeigt sich also, daß der bisher angewandte Terminus »Handlungswissen« eine Mehrzahl von Verhaltensweisen der praktischen Vernunft deckt, aus denen die wissenschaftliche der moralis philosophia herauszu-

Nach der Darstellung in der Quaestionenfolge 1-II, 7-17 spannt sich das „Wollen« in der „intentio« auf ein (zuvor erkanntes) Ziel hin; darauf wird ein »Consilium« (der Vernunft) - dem der Wille seinen „consensus« geben muß - die »Mittel« prüfen; das »Urteile der Vernunft löst die „electio« (des Willens) aus, in deren Kraft dann das „Vorschreiben« (der Vernunft) geschieht (Thomas spricht bei der allgemeinen Analyse von „imperium«, bei der Klugheit verwendet er meist »praeciperec); auf dies folgt unmittelbar der „usus« des Willens. Die Ausbreitung dieser Momente der Handlung ist hier nicht beabsichtigt; es kommt nur darauf an, daß man hier nicht eine (mechanistisch vorgestellte) Aufeinanderfolge selbständiger, gar psychologisch beobachtbarer Elemente sieht, sondern die Wesensmomente einer gegebenen Einheit - der Handlung-, die in der Analyse auf die Weise und Möglichkeit ihrer Einheit aus Verstandes- und Willenstätigkeit befragt wird. Die Fragestellung ist also ontologisch - oder, wenn man will, »kritisch« oder »phänomenologisch« - auf keinen Fall ist sie psychologisch! 38 Vgl. 1-II, 57, 4 und 5; II-II, 47; In Eth. VI, 4 und 7-9. - Die Darstellung

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heben ist. Sie ist zunächst, zugleich mit der Klugheit, grundgelegt und ermöglicht durch die allgemeine Bezogenheit der Vernunft auf Praxis überhaupt, wie sie sich vor allem in der angeführten obersten Handelnsregel ausspricht; doch nicht allein in dieser: denn sofern die Natur, deren Vermögen sie ist, eine bestimmte Wesensstruktur hat, die auch dem Streben Maß und Grenze setzt, muß sie diese Struktur in der Bestimmtheit ihrer allgemeinsten Urteile widerspiegeln, in einem unverlierbaren -weil ihr vom Wesen her zugekommenen-Schatz allgemeinster Regelnmenschlichen Verhaltens, die für alles abgeleitete überlegen, Urteilen und Vorschreiben oberste Prinzipien sind. Diese Grundverfassung eines »habitus principiorum rationis practicae« - sie entspricht genau dem Habitus principiorum der spekulativen Vernunft- führt den Namen Synderesis39 • Die allgemeinen Regeln der Synderesis setzen also den Umriß einer Grundstruktur, die das allgemeine Maß für die Rechtheit des Strebens ist. Wo ein Streben sich auf diese Grundlinien hin ausrichtet, hat es die »rechte« Verfassung, neigt es zu »rechtem« Tun; wir sprechen dann von »Tugend«. Man kann also sagen, daß die Vernunft in der Synderesis die Ziele der moralischen Tugenden immer gegenwärtig hat40 , und zwar im Sinne einer allgemeinen Richtweisung, nicht jedoch im Sinne konkreten Wissens um das hier und jetzt zu Tuende. Konkretes Streben, das auf einzelnes Tatsächliches geht, bedarf der Leitung durch die Klugheit. Der Sinn dieser Leitung ist offenbar, das konkrete Tun auf jenen vorgegebenen Umriß der Grundstruktur zu lenken, zum festliegenden »Ziel« die geeigneten »Mittel« ins Werk zu setzen, dem Allgemeinen das je Einzelne zuzuordnen. Kenntnis des Allgemeinen und »rechte« Ausrichtung des Strebens sind also Voraussetzungen der Klugheit. Sie selbst aber geht nun auf das Einzelne, das jeweils tatsächlich von der Neigung Ergriffene; dies sucht sie zu erkennen, beurteilt es und - in Kraft des voraufgehenden Strebens - schreibt es vor, so zum Tun bewegend. Das zum Vorschreiben übergehende »letzte« praktische Urteil kann dabei als die Konklusion eines Syllogismus aufgefaßt werden. Die voraufgehende Allgemeinerkenntnis liefert den allgemeinen Obersatz; der Untersatz muß dann partikulär sein, vom je konkreten Einzelnen hergenommen werden, da die Konklusion auf Einzelnes gehen muß, das allein tatsächlich »tubar« ist. Der Klugheit kommt es zu, den Untersatz dieses »prakder Klugheit stützt sich auf diese Texte. - Zum „Vorschreiben« vgl. z.B. 11-11, 47, 8 und In Eth. VI, 9 n. 1239; es ist der charakteristische Akt der Klugheit, weil sich darin am meisten die Ordnung zum Tun, zur »ratio agibilium« zeigt. 39 Vgl. 1, 79, 12 und 1-11, 94, 2 (an dieser Stelle wird der Inhalt dieser Lehre unter dem Gesichtspunkt des »Naturgesetzes« entwickelt, der traditionelle Terminus Synderesis tritt zurück). 40 11-11, 47, 6; ib. ad 1.

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tisdten Syllogismus« zu stellen und die Konklusion zu ziehen41 • Ihr Diskurs hebt also beim Einzelnen an - das also »Prinzip« ist - und geht wieder auf Einzelnes hin - das also zugleidt Ziel ist42 • Hier mag nun darauf hingewiesen werden, daß die Einzelerkenntnis der Klugheit, sofern sie verstandhaftes Erkennen ist, durdtaus nidtt anders besdtaffen ist als verstandhaftes Erkennen von Einzelnem überhaupt; Klugheit ist eine besondere Verfassung des Verstandes, ändert nidtt das diesem Vermögen von Haus aus Eigene. So ist sie angewiesen auf Mitwirken des sinnlidten Erkenntnisvermögens, des Gedädttnisses und der Phantasie, bedarf der »Reflexion« und »Konversion« zum Phantasma43 ; sie erfaßt nidtt die unendlidte Fülle des Individuellen, sondern nur die Charaktere, die »Zumeist« auftreten; sie ist angewiesen auf Erfahrung, wie sie im praktisdten Umgang mit den Dingen erworben wird - eine Analogie zur Kunst wird hier sidttbar44 • Was sie in Gegensatz zu allem Wissen stellt, was ihrer Bindung an das Einzelne die untersdteidende Strenge gibt, ist das nun sdton mehrfadt aufgezeigte Moment, daß sie »etwas im Streben hat« (habet aliquid in appetitu)45. Erst die »Neigung« Selbstverständlidt stammt der Untersatz des praktisdten Syllogismus nicht notwendig aus der Klugheit (da ja die Handlung nidtt „klug« zu sein braucht), aber es ist ihre Aufgabe, den Untersatz beizubringen, da ihre Aufgabe die »applicatio ad opusc ist, vgl. z.B. II-II, 47, 3; ib. ad 1. - In den »klassisdten« Texten zum praktisdten Syllogismus, Sent. II, 24, 2, 4 und Ver. 17, 1, ist der den Untersatz bestimmende Faktor »conscientia« und »liberum arbitrium«: davon ist in den späteren Sdtrifl:en des heiligen Thomas nidtt mehr die Rede (und parallel dazu wird audt nidtt mehr von einem „zweiten« Untersatz gesprodten), wiewohl in I, 79, 13 wieder der >conscientia« die „applicatio« zugesdtrieben wird. Die Entwicklung, die sidt in dieser veränderten Stellungnahme ausdrückt, geht offenbar von einer allgemeinen Analyse zu einer mehr praktisdten Sidtt, in der dann die Klugheit, als die im Praktisdten konkret maßgeblidte Tugend, in den Vordergrund tritt. Zweifellos sind - wie die Darstellung zeigen dürfte - die späteren Formulierungen für die Ethik geeigneter. t2 Vgl. In Eth. VI, 9 n. 1253: „ ... in operativis demonstrationes et procedunt ex his scilicet singularibus et dantur de his scilicet singularibus. Oportet enim in syllogismo operativo, secundum quem ratio movet ad agendum, esse minorem singularem et etiam conclusionem, quae concludit ipsum operabile quod est singulare.« 43 Einzelerkenntnis ist möglidt, sofern »intellectus per quandam reflexionem se ad materiam extendit« (II-II, 47, 3 ad 1); die Klugheit hält sidt „per quandam applicationem« im inneren Sinn (ib. ad 3). Dieser heißt wieder, sofern er das Einzelne als Prinzip des Diskurses bekanntmacht, „intellectus« und wird identifiziert mit dem (aristotelisdten) intellectus passivus, der ratio particularis oder der vis cogitativa (In Eth. VI, 1 n. 1123; ib. 7 n. 1214-1215; ib. 9 n. 1247 bis 1255). 44 Vgl. II-II, 47, 3 ad 2; In Eth. VI, 9 n. 1254; ib. 6 n. 1194: dort ein Beispiel aus der Medizin (die überhaupt redtt häufig Analogien aus dem Bereidt des Kunstwissens liefert). 46 Vgl. z.B. In Eth. VI, 7 n. 1200; die Formel ist redtt häufig, genauer ist jedodt

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des Strebens auf Einzelnes hin bringt den Diskurs der Klugheit in Gang, sie bewegt den praktischen Syllogismus und führt ihn zum Ziel. Ist aber die Klugheit in dieser Weise mit dem Streben verklammert, so hat sie schließlich auch nur für dieses selbst Bedeutung: sie ist notwendig bezogen auf den je einzelnen Menschen, diesem allein zugehörig, unmittelbar und unlehrbar; sie ist »der rechte Begriff von dem, was zu tun ist, hinsichtlich des Guten und Bösen bei nur einem Menschen, das heißt: bei sich selbst«". Ihr Anteil am Streben bindet den Diskurs der Klugheit an das Einzelne als Prinzip und Ziel, aber dieser Diskurs ist doch ein Gang jenes Verstandes, der von Hause aus dem Allgemeinen geöffnet ist. Es gilt dabei zu sehen, daß der Anteil der Allgemeinerkenntnis an der Leitung des Handelns sich nicht in der Umrißzeichnung erschöpft, die von der Synderesis ständig gegenwärtig gehalten wird. Die Erkenntnis des Einzelnen selbst, sofern sie verstandhaft ist, geschieht mit Hilfe allgemeiner Begriffe47. Erfahrung, Gewohnheit, Übung, die beim praktischen Verhalten zum Einzelnen eine Rolle spielen, sind allgemeiner Art; sie lassen sich in Sätzen aussprechen, die sich nahe dem Konkreten halten und an diesem das »Zumeist« betreffen. Solche Erfahrungssätze von niedriger Allgemeinheit - sie erinnern wieder an die empirischen Handwerksregeln, die wir beim Kunstwissen antrafen - liefert die Weisheit des Alters, das in einem langen Leben Stetigkeit sittlicher Haltung und Sicherheit in der richtigen Einschätzung des Jeweiligen erworben hat48 . Es gehört zur Klugheit, auf solche Sprüche der »Alten« zu hören; die Belehrbarkeit ( docilitas) ist einer ihrer Wesensteile ( pars integralis)'8 • Der Schatz empirischer Lebensregeln, den die Altersweisheit sammelt, hat seinen Ort wiederum in übergreifenden Zusammenhängen, die gegenüber dem ganz formalen Rahmen der Synderesis von größerer Bestimmtder Hinweis auf die vorausgesetzte »rectitudo appetitus«, z.B. ib. 4 n. 1174; I-II, 57, 4 und 5; II-II, 47, 4. 41 In Eth. VI, 7 n. 1196: »Nam prudentia est recta ratio agibilium circa unius hominis bona vel mala, idest sui ipsius.« 47 Vgl. II-II, 48, 3 ad 1. - In Eth. VI, 7 n. 1213 heißt es: „ ... oportet quod prudentia sit directiva et circa universalia et circa singularia«; doch der Klugheit als solcher wird weder hier noch sonstwo unmittelbar ein Erkennen des Allgemeinen als Aufgabe zugewiesen, sondern nur dem •prudens« (sehr deutlich II-II, 48, 3), der den ganzen Prozeß des Diskurses der praktischen Vernunft durchlaufen muß, der vom Allgemeinen ausgeht; nach In Eth. VI, 2 n. 1132: „ ... intellectus practicus principium quidem habet in universali consideratione, et secundum hoc est idem cum speculativo, sed terminatur eius consideratio in particulari operabili.« 48 In Eth. I, 3 n. 38; ib. VI, 7 n. 1211; ib. 9 n. 1254. 48 II-II, 49, 4; die aristotelische Lehre (vgl. Anm. 48) wird dort mit Bibelstellen eingeschärft.

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heit sind. Spiegelt die Synderesis den Grundriß menschlichen Seinkönnens wider, der mit dem menschlichen Wesen überhaupt und immer gegeben ist, so existiert dieses Wesen doch stets in eingeschränkter Geschichtlichkeit, in einer konkreten Gesellschaft, unter überindividuellen Bedingungen also, welche die Unbestimmtheit der allgemeinsten Regeln fortschreitend determinieren. Dargestellt am Schema des praktischen Syllogismus bedeutet dies, daß nicht notwendig einem Obersatz, der aus der Synderesis stammt, unmittelbar ein singulärer Untersatz gegenüberstünde. Vom Allgemeinsten zum Einzelnen kann es Zwischenstufen geben, Sätze von abnehmender Allgemeinheit, in denen sich diese überindividuelle - geschichtliche - Bestimmtheit ausspricht; der praktische Syllogismus nähme dann die Form eines Kettenschlusses an. Wiederum ist es keineswegs notwendig, daß dem konkret Handelnden die Serie dieser Zwischenglieder gegenwärtig sei; die Unmittelbarkeit, mit der ein in der moralischen Tugend »recht« verfaßtes Streben auf das »angemessene«, »gemäße« Einzelne zielt, überspringt die Stufen der Ableitung - im konkreten Falle gibt es die Unmittelbarkeit eines Erkennens »per connaturalitatem«, ein Vernehmen der »Rechtheit« des begegnenden Einzelnen aus der eigenen »Rechtheit« heraus, das keines ausgeführten Diskurses bedarf5°. Dennoch gibt es keinen konkreten Fall, für den nicht zuträfe, daß er in den allgemeinen Zusammenhängen steht, die wir als bestimmte Geschichtlichkeit benennen. Auch das Erkennen »per connaturalitatem« darf nicht in der Isolation des Einzelfalles allein betrachtet werden, in der es unvermittelt zum Allgemeinsten der Synderesis stände. Es gehört zunächst in einen biographischen Kontext, und an diesem wiederum haben geschichtliche Bedingungen mitgestaltet; Erziehung, Umwelt, Vorbilder, Lehre sind wirksam geworden, ehe die vollkommene »Rechtheit« erreicht ist 51 • Allgemeine Erkenntnis unterhalb der Synderesis, oberhalb der empirischen Lebensregeln, füllt den Raum der Unbestimmtheit, der zwischen den allgemeinsten Prinzipien und den konkreten Imperativen der praktischen Vernunft besteht. Danach ist es zwar möglich zu sagen, durch Synderesis und Klugheit sei die Vernunft hinreichend zur Leitung des Handelns in Stand gesetzt; die Unbestimmtheit muß dann durch die moralische Tugend überbrückt werden. Ist die Vernunft aber einmal hingewiesen auf die allgemeinen Zusammenhänge, in denen menschliches Dasein sich geschichtlich immer bewegt, 1, 1, 6 ad 3: es gibt ein •iudicare per modum inclinationisc; vgl. In Eth. X, 8 n. 2062. 51 Der Terminus »connaturaliter« ist in 1, 1, 6 ad 3 vermieden, offenbar deshalb, weil es sich dort nicht um ein •Naturverhältnis« handelt. - über die „moralische«, urteilsbestimmende Rolle der geschichtlichen Bestimmtheit (die nicht mitgenannt ist) vgl. die Lehre vom menschlichen Gesetz: unten Kap. 14. 50

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so wird es audt »praktisdt« - d. h. für das konkrete Handeln selbst widttig, die diesen entspredtenden allgemeineren Regeln zu erkennen, zu prüfen, zu beurteilen. Hier zeidtnet sidt die Aufgabe einer praktisdten Wissensdtaft ab, der beide Bestandteile ihres Namens redttens zugehören.

§ 7: Die Eigenart der praktisdten Wissensdtaft Nodtmals muß hier auf jenes Merkmal hingewiesen werden, durdt das sidt die Klugheit von allen anderen Verhaltensweisen der Vernunft untersdteidet: daß sie »etwas im Streben hat«. Sieht man von diesem Anteil am Streben ab, betradttet man Handlungswissen so, wie es in der Vernunft allein ist, so fällt die strenge Bindung an das je tatsädtlidte, einzelne »Tubare«; es fällt zugleidt die Möglidtkeit, das Tun zur Tatsädtlidtkeit in Gang zu bringen; es fällt audt jene Bestimmtheit durdt die Tugend, weldte die Redttheit des Urteils bedingt und bewirkt; sdtließlidt fällt audt die Einsdtränkung auf den einen Mensdten, weldter der Handelnde je selbst ist. Was dann als Verfassung der praktisdten Vernunft übrigbleibt, hat den Charakter von Wissen52 : Wo der Vernunft die Bestimmtheit auf das je Tatsädtlidte fehlt, verhält sie sidt akzidentell zum tatsädtlidten Tun; sie vermag dann nidtt zum Vorsdtreiben fortzusdtreiten, sondern bleibt beim Urteil stehen; da dieses nidtt durch die Tugend gerichtet ist, muß es seine Rechtheit gewinnen aus der logisch richtigen und vollständigen Rückführung auf die feststehenden allgemeinen Prinzipien praktischen Erkennens; schließlich bedeutet die Ablösung von der Einzelheit des Einzelfalles das Erreichen einer untersten Stufe der Abstraktion, einer - wie immer geringen - Allgemeinheit, wie sie gerade mensdtliche Wissensdtaft kennzeichnet58 • Mit diesen Charakteren, die praktisdtem Wissen in der »bloßen Vernunft« zukommen, sind wir schon über den Empirismus der Altersweisheit und der praktischen Lebensregel hinaus. Diese sind eben nicht in der »bloßen Vernunft«; es fehlt ihnen die Rechtfertigung durch die wissensmäßige Begründung. So ist für ihr Zustandekommen wie für ihre Aufnahme beim Hörer jene Gestimmheit der Neigung erforderlich, die von der Tugend gewirkt wird. Dagegen ist richtiges moralisches Urteilen im Sinne reinen Wissens auch demjenigen möglich, der die Tugend nidtt 52 In Eth. VI, 7 n. 1200: »Ümnia ergo, de quibus hie fit mentio, intantum sunt species prudentiae, inquantum non in ratione sola consistunt, sed habent aliquid in appetitu. lnquantum enim sunt in sola ratione, dicuntur quaedam scientiae practicae, scilicet ethica, oeconomica et politica.« 53 Nadi den EBT 5, 1 erläuterten Abstraktionsstufen; vgl. M. THIEL, Die wissenschafilidie Eigenart der philosophischen Ethik, in: Divus Thomas 14 (1936) s. 292.

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hat54 • Das schließt nicht aus, daß im konkreten Falle auch für den Moralwissenschaftler gewisse »moralische« Bedingungen gelten. Sie sind negativ: wenn ihn schon nicht die Tugend recht leitet, so darf ihn erst recht nicht eine entgegengesetzte Neigung bestimmen. Wer von heftiger Leidenschaft zu unvernünftigem Handeln getrieben wird, der wird schwerlich zugleich zu einem vernunft-gemäßen Urteilen fähig sein, welches wenngleich in allgemeiner Weise - auch eben dieses sein Handeln betriff!:. Der Loslösung des Wissens von der Konkretheit des Einzelfalles hat die Freisetzung der Vernunft von der Überwältigung durch die Leidenschaften zu entsprechen; junge Leute, die meist von starken Trieben beherrscht werden, sind ungeeignete Hörer der Moralwissenschaft55 • Mit der Abstraktheit und Allgemeinheit des Erkennens gewinnt die Moral einen weiteren Charakter der Wissenschaft: die Notwendigkeit; denn das Allgemeine ist, gegenüber der Variabilität des materiellen Einzelnen, immer zugleich das Gleichbleibende, das sich nicht einmal so und einmal anders verhält58 • Diese Notwendigkeit schließt nicht aus, daß die Dinge, von denen gewußt wird, in sich selbst kontingent sind und sich wechselnd verhalten. Wissenschaft ist hingewiesen auf die gleichbleibenden Gründe, die im mannigfachen Einzelnen wirksam sind, mindestens auf das »Zumeist«, das im Kontingenten eine gewisse »Notwendigkeit« mit sich bringt57 • In diesem Sinne kann auch spekulative Wissenschaft sich mit kontingenten Dingen beschäftigen, und so steht es mit der »naturalis philosophia« 58 • Freilich verhält sich praktisches Wissen wiederum anders zur Kontingenz seiner Gegenstände; denn sofern es darauf abzielt, menschliches Handeln und Herstellen zu leiten, welches in der Kontingenz wirkt, sucht es in Moral und Kunst die möglichste Annäherung an das Kontingente als solches, d. h. als ein Besonderes59 • Von der praktischen Wissenschaft heißt es deshalb allgemein, daß ihre eigentliche Vollkommenheit in dieser möglichsten Annäherung an das Besondere bestehe80, daß ihr Ziel nicht nur die Erkenntnis ihres Gegenstandes, sondern dessen Erwirken sei, das nur im Besonderen geschehen kann 81 • I, 1, 6 ad 3 (vgl. Anm. 50): „iudicium per modum cognitionis«; vgl. In Eth. I, 3 n. 40: „ ... finis enim huius scientiae non est sola cognitio, ad quam forte pervenire possent passionum sectatores ... " 5S In Eth. I, 3 n. 38-40. ss Vgl. In Eth. VI, 1 n. 1123. &1 Vgl. 11-11, 47, 3 ad 2. ss Vgl. In Eth. VI, 3 n. 1146. 58 Vgl. In Eth. VI, 3 n. 1152: „ ... scientiae practicae sunt circa contingentia inquantum contingentia sunt, scilicet in particulari.« • 0 Vgl. z.B. I-11, 6 prol.: „ ... omnis operativa scientia in particulari consideratione perficitur«; In Eth. IV, 15 n. 832: „ ... cognitio rerum moralium perficitur per hoc quod particularia cognoscuntur«; vgl. I, 22, 3 ad 1; SCG III, 75. 81 Vgl. In Post. Anal. I, 41 n. 7: Ziel praktisdien Wissens ist die »constructio M

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Freilicli muß man hier bedenken, daß gerade die Moral ihren Gegenstand, nämlich die menschliclie Handlung, nicht erwirkt; das ist vielmehr Sache der Tugend, des redit verfaßten Strebens also, welches von der Klugheit geleitet wird12• Auch das am meisten besonderte Urteil der Moral ist nicht wirkkräftig wie jenes letzte praktische Urteil der Klugheit, das zum Vorschreiben übergeht. Die Wissenschaftlichkeit der Moral, welche jede Einwirkung des Strebens ihrem Begriffe nach ausschließt, scheint also ihrem »praktischen« Charakter entgegen zu sein, mindestens ihn fragwürdig zu machen. M\ln könnte hier anführen wollen, daß dann aucli der Kunst der unmittelbar praktische Sinn abgesprochen werden müsse, weil sie zur Ausübung nur in einer akzidentellen Ordnung steht und ihr Akt, sofern er tatsächlich ist, ebenfalls unter die Leitung der Klugheit gehört83 • Allein, hier ist zu erinnern, daß die Kunst von ihr selbst her gar nicht die Absicht auf die Tatsächlichkeit, sondern nur auf eine bestimmte Beschaffenheit des Aktes hat: jene nämlich, durch die er ein Herstellen eines bestimmten Herstellbaren ist. Das Verhältnis, in dem dieser Akt zum Kunstausübenden selbst steht, insofern dieser eine menschliche Natur hat, die sich in tatsächlichen Akten zur Vollendung oder zur Minderung ihres Seinkönnens bestimmt, ist von der Kunst gar nicht in den Blick genommen, sondern nur das Verhältnis des Aktes zum Herstellbaren, sei es tatsächlich oder möglich, seine Angemessenheit an dieses, seine »Kunstgerechtheit«. Das ist eine Sache des» Verstehens« oder »Könnens«, und dies Verstehen und Können ist allein Grund der Kunstgerechtheit des Herstellens, also auch unmittelbar praktisch; vom Wesen der Sache her spielt ein Wollen hier nicht herein 84 • Geht es aber um ein Verstehen von menschlichen Handlungen schlechthin, so geht es um sie als gewollte, den Handelnden selbst bestimmende; der Blick auf den Akt als solchen schließt gerade auch sein Aktsein ein, und so vollendet sich praktisches Erkennen von Handlungen erst im Vorschreiben tatsächlichen Tuns. Vollendet praktisches Erkennen hat nur die Klugheit; wissenschaftliche Moral bleibt notwendig hinter der Vollendung zurück, welche ihr Gegenstand zuließe. Sie ist ihrem Wesen nach nicht »letztlich« praktisch; zwischen ihrem am meisten besonderten Urteil und dem »letzten« praktischen Urteil liegt immer noch ein Raum der Unbestimmtheit, der einzig der Klugheit angehört85 • ipsius subiecti«. - Als „ziel« der Moral gilt so der Erwerb, nicht nur die Erkenntnis der Tugend, vgl. In Eth. II, 2 n. 256; ib. X, 14 n. 2138. 92 EBT 5, 1 ad 3: > ••• Scientia vero moralis quamvis sit propter operationem, tarnen illa operatio non est actus scientiae, sed magis virtutisc (>magis« hat hier - wie im mittelalterlichen Sprachgebrauch häufig- den Sinn von >potius«, „vielmehr«). 13 Vgl. Anm. 34, S. 33. " Vgl. 1-11, 57, 3. 85 Ausdrüddich muß dabei die Vorstellung ausgeschlossen werden, daß dieser

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Es fragt sich, ob bei dieser Sachlage die Moral schlicht eine »praktische« Wissenschaft genannt werden kann, wo sie zwar Praxis erkennt, aber wesentlich von ihr selbst her nicht an die Praxis heranreicht, was die Kunst - in wie immer eingeschränkter Weise - doch tut. Wie wir hörten, ist sogar für eben die Praxis, die von der Moral erkannt wird, dieselbe Moral als Wissenschaft entbehrlich. Ist sie nicht bloß ein reines Betrachten, in dem sich praktisches Erkennen lediglich reflektiert wiederfindet, nicht anders Wissenschaft von einem besonders gearteten Seienden als die Disziplinen spekulativen Erkennens? - Bekanntlich vertritt Johannes a Sancto Thoma eine solche Auffassung - wo Moral als Wissenschaft die Klugheit ausschließt, bleibt sie für ihn beschränkt auf Beschreibung der Wesensverhalte, die im Praktischen bestehen88 • Aber Johannes steht mit dieser Auffassung ziemlich allein; es ist allzu offensichtlich, daß die Moral Regeln erkennt und angibt, die in jene syllogistische Kette eintreten können, deren Schluß die Klugheit zieht, und es ist nicht einzusehen, daß sie den praktischen Charakter, den sie dort zweifellos haben, in der »bloßen« Vernunft verlieren sollten87 • Auch der allgemeine Satz der Moralwissenschaft hat immer den Sinn, eine Regel anzugeben oder zu ihrer Begründung beizutragen, die in einer konkreten Handlung erfüllt werden soll. Alle Moralerkenntnis ist praktisch »vom Ziele her«, also unter jenem Gesichtspunkt, welcher der eigentlich maßgebende für die Unterscheidung von spekulativ und praktisch ist88 • „Raum der Unbestimmtheit« linear an das meistbestimmte rein erkenntnismäßige Urteilen ansdtließt. Die Klugheit ist - nadt II-II, 47, 5 - von allen anderen Tugenden, intellektuellen wie moralisdten, spezifisch versdtieden. So sind audt ihre Akte des „consiliaric und „iudicarec, die es ja audt in den Wissensdtaften, sogar den spekulativen - ib. art. 8 - gibt, nidtt »dieselben« wie dort. Der Anteil am Streben, der im „praecipere« einen einzigartigen Akt der Klugheit hervorbringt, wirkt konkret sdton in den vorhergehenden Akten mit, so daß die Bestimmtheit, die aus der Klugheit kommt, nidtt erst nach dem „letzten« Urteil der Wissensdtaft (oder gar eines spekulativen Verstehens) anfängt. - Dieselbe Unbestimmtheit liegt notwendig audt zwisdten dem letzten Urteil der Klugheit und dem Gewissenssprudt, der ja audt nidtt bewegend - bestimmend ist, vgl. Anm. 36, S. 34. 18 jOANNES A SANCTO THOMA, Cursus philosophicus, t. 1 Logica II, 1, 4 (ed. B. Reiser, Turin 1930, S. 276 f.): Wenn die Moralwissensdtaft die Klugheit aussdtließt, wird sie spekulativ, wie in der 1-II und im Ethikkommentar. - Unter den Neuthomisten betradttet vor allem J. GREDT, Elementa Philosophiae Aristotelicae-Thomisticae, Bd. II, Freiburg 7 1937, S. 297, die Ethik als rein spekulative Wissensdtaft. 87 In Eth. VI, 7 n. 1200 ist vielmehr ausdrüd.didt gesagt, daß die praktischen Wissensdtaften im Gegensatz zur Klugheit allein in der Vernunft sind, vgl. Text Anm. 52, S. 40. 118 Vgl. S. 25; der praktisdte Sinn der Allgemeinerkenntnis muß natürlidt besonders fraglidt werden bei allgemeinsten Prinzipien wie denen der Synderesis, die ja ausdrück.lidt nidtt der Klugheit zugehören, vgl. unten S. 52 f.

Ethik als philosophisdie Disziplin

§ 8: »Spekulative Weise« praktischen Wissens (am Beispiel der Medizin) Immerhin bleibt in einer vom Ziele her praktischen Ordnung des Erkennens noch eine Unterscheidung möglich, wie Thomas sie - im Anschluß an Avicenna - auf die Medizin anwendet; diese Wissenschaft, vom Ziele her eindeutig praktisch, kennt einen »theoretischen« und einen »praktischen« Teil nach der Nähe zum oder der Entferntheit vom Werk 89 • Bedenkt man nun, daß allein die Klugheit unmittelbar die konkrete Handlung regelt, die Moral dagegen immer in einer gewissen Entferntheit vom Tun stehen bleibt, so scheint dieser gleiche Unterschied auch hier anwendbar. Damit mag man nun die gelegentlich von Thomas vorgetragene Lehre verbinden, daß es vom Wirkbaren auch eine Erkenntnis geben könne, die ihrem »Modus« nach spekulativ ist7°. Eigentlich und »in praktischer Weise praktisch« ist dann nur die Klugheit, und sie allein gibt die »nächste« Regel des Tuns; das Wissen der Moralphilosophie ist dagegen »in spekulativer Weise praktisch« und gibt in seiner notwendigen Allgemeinheit nur die »entfernte Regel« des Handelns 71 • Was die hier eingeführte »Spekulative Weise« des Erkennens von Wirkbarem angeht, so wird von Thomas das Definieren, Einteilen und Betrachten der allgemeinen Prädikate des Gegenstandes als charakteristisch dafür angeführt, also das analytische Verfahren. Er erläutert es am Beispiel eines Architekten, der ein Haus begrifflich analysiert statt es zu bauen72 • Es ist aber wohl kaum zu bezweifeln, daß die Architektur nicht dadurch eine spekulative Wissenschaft wird, daß jemand sie in spekulativer Weise betreibt - die Frage haben wir bereits grundsätzlich behanEBT 5, 1 ad 4; den Texts. bei Anm. 75. Vgl. 1, 14, 16. 71 Die Begriffe sind geprägt von J. MARITAIN, Les Degres du Savoir, Paris 2 1934, S. 618-627 und 879-896. Für ihn gibt es jedodi zwisdien der •science speculativement pratique« - der wissensdiaftlidien Ethik - und der Klugheit nodi die von beiden spezifi.sdi versdiiedene •science pratiquement pratiquec, der die konkreten Morallehren von •Moralisten« - von Montaigne bis Dostojewski - zugeredinet werden. Untersdieidend ist einmal die „Weise« des Erkennens, andererseits (und im Zusammenhang damit) die größere oder geringere •Nähec zum Ziel, zum Wirken (vgl. Maritains Sdiema a. a. 0., S. 885). - Wie im Folgenden dargelegt wird, sehe idi innerhalb des praktisdien Wissens - zwisdien den obersten praktisdien Prinzipien und der am meisten dem Einzelnen angenäherten reinen Erkenntnis - nidit die Möglidikeit einer •spezifisdienc Differenz. 71 1, 14, 16: Von einem spekulativen Wissen kann man reden >quantum ad modum sciendi, utputa si aedificator consideret domum definiendo et dividendo et considerando universalia praedicata ipsius. Hoc siquidem est operabilia modo speculativo considerare ... «; man verfährt •per resolutionem compositi in principia universalia formalia.« 88

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delt -, und andererseits läßt sich wohl behaupten, daß jedes praktische Wissen dieser spekulativen Weise fähig ist; denn sofern es im Verstande ist, unterliegt es den Gesetzmäßigkeiten des Verstehens, die diesem schlechthin und »absolut« zukommen und die in der Logik dargestellt werden. Wenn man will, mag man diesen Gesichtspunkt in den Vordergrund rücken und sowohl Kunst als auch Moral bestimmen als »habitus formaliter speculativi« 73 • Damit sagt man aber nicht mehr aus, als daß sie eben »im Verstande sind«. Lediglich die Klugheit bleibt übrig als »habitus formaliter practicus«, jedoch gerade deshalb und gerade insoweit, als sie nicht bloß im Verstande ist7'. Der Gesichtspunkt der Weise des Erkennens und der Gesichtspunkt des »formalen« werden von Thomas selbst nicht für die Bestimmung des Wesens der Moralphilosophie herangezogen; beide sind nicht die eigentlich unterscheidenden. Treffender scheint die Unterscheidung praktischen Erkennens nach der Nähe zum oder der Entferntheit vom Wirken zu sein. Hier gilt es freilich, den Sinn des Textes, welcher die Unterscheidung von »theoretisch« und »praktisch« in der Medizin erläutert und diesen Gesichtspunkt hervorhebt, genau anzusehen75 • Er steht in der Antwort auf ein Argument, in welchem behauptet wird, alle praktischen Wissenschaften und auch die Ethik hätten analog der Medizin einen spekulativen Teil, der in der Einteilung der spekulativen Wissenschaften - von welcher der Artikel handelt - aufgeführt werden müsse. Die Antwort geht auf die Behauptung 73 Das ist die These von L. THIRY, a. a. 0. (Anm. 12, S. 25) S. 61: »Philosophia moralis est scientia formaliter speculativa cum relatione transcendentali ad opus; ideo potest vocari scientia practica analogia attributionis.« Ebda. S. 63: „ Veritates philosophiae moralis sunt ergo cognitiones analogice practicae, et quidem remote tantum. Non enim perficiunt intellectum adeo ut immediate secundum huiusmodi cognitiones praxim dirigere valeat.« 74 L. THIRY, a. a. 0. behauptet, nur das „Gebieten« sei formell praktisch, S. 55: „ ... imperium est unicus actus intellectus formaliter practicus seu practicus in actu secundo seu >practicanspraktisch«; wenigstens terminologisch wird es nicht hervorgehoben! 8!

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reichende Bedeutung hat und eine grundsätzliche Unterschiedenheit zum Ausdruck kommen läßt: eben bei der Frage nach dem göttlichen Erkennen, sofern dies Schaffbares, aber nie zu Schaffendes betrifft. Nur dort wird Wirkbares als solches erkannt, das doch gleichzeitig niemals Ziel eines Wirkens oder Gegenstand einer Wirkensintention ist. Menschlichem Wissen von menschlich Wirkbarem ist diese grundsätzliche Nicht-Zuordnung fremd. Sie tritt nur »fallweise« ein, wie auch die Zuordnung zum Tatsächlichen nur fallweise geschieht, die bei Gott gleichfalls durch grundlegende Anordnung gewirkt ist, so daß seinem eigentlich »praktischen« Wissen grundsätzlich ein - zu irgendeiner Zeit - Tatsächliches entspricht. Auch das Beispiel vom Architekten, der seinen Entwurf nicht zu verwirklichen beabsichtigt oder - wegen der Umstände, wegen seines individuellen Unvermögens - nicht zu verwirklichen vermag, hält sich auf der Ebene des jeweiligen »Falles« und seiner Tatsächlichkeit, die dann mit der Tatsächlichkeit der Zuordnung göttlichen Wissens in Parallele gesetzt wird; aber die »Fallhaftigkeit« des Tatsächlichen in der menschlichen Praxis bleibt als solche außerhalb des Vergleichs 88 • Folgerichtig rückt der »Habitus« des praktischen Wissens, mit seiner akzidentellen Ordnung zur Tatsächlichkeit und mit der reinen Verstandhaftigkeit, die seine Form bestimmt, auf die Seite des Spekulativen oder in die »Spekulative Weise«. Aber wiederum triffi: der Ansatz nur im göttlichen Erkennen grundsätzlich Unterschiedenes, im menschlichen entweder Fallhaftes oder das der Unterschiedenheit von spekulativ und praktisch vorausliegende Gemeinsame des Verstandhaften: jenen spekulativen Modus, dessen jedes menschliche Wissen als solches fähig ist. Es ergibt sich so, daß unter der Blickrichtung auf die Eigenart göttlichen Erkennens im menschlichen nur Analogien gesucht werden, nicht eine vollständige Darstellung der Verhältnisse menschlichen Wissens nach den ihm eigenen Weisen beabsichtigt ist. Allein unter dieser Perspektive kann die Aktualität der Zielsetzung zum maßgeblichen Unterscheidungsmerkmal praktischen Wissens werden.

§ 10: Die Selbständigkeit des praktischen Wissens Geht es aber thematisch um die Bestimmung und Unterscheidung menschlichen Wissens, dessen Struktur nicht in der Vereinzelung des »Falles«, sondern erst in der Vollständigkeit des Habitus beschlossen ist, so tritt der Gesichtspunkt der Aktualität zur Seite88 ; eben damit verliert auch Das Erkennen von etwas Herstellbarem, welches außerhalb des „ Vermögens« des Erkennenden liegt, scheint in Ver. 2, 8 hauptsächlich wegen der (dann abgelehnten) Lehre gebracht zu werden, Gott schaue Schaffbares „in sua potentia«. Der für die Beurteilung menschlich-praktischer Erkenntnis doch recht interes-

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der Gesichtspunst der »Weise des Erkennens« seine Bedeutung, sofern er unterschiedslos alle nur habituelle Erkenntnis umfaßt. Es kommt darauf an, nicht zwischen Akt und Habitus, sondern zwischen Habitus und Habitus zu unterscheiden. Das ist eindeutig »Vom Ziele her« möglich, nicht sofern es - beliebig oder fallweise - gesetzt ist, sondern sofern es dem menschlichen Vermögen vorgegeben und als solches von der Erkenntnis erfaßt wird. Innerhalb des Habitus praktischen Wissens kann dann wieder nur eine solche Unterscheidung belangvoll sein, die in der Linie dieser Zielbestimmtheit des Erkennens liegt. So ist die Unterscheidung in der Medizin beschaffen, die das »theoretisch« und »praktisch« an der Entfernung oder Nähe zum Ziel mißt. Als praktischem Wissen von seinem eigenen Wesen her angemessen, könnte diese Unterscheidung auch für die Moralphilosophie Bedeutung haben. Wie wir sahen (§ 8), heißt eine medizinische Erkenntnis »praktisch«, wenn sie die Regel ärztlichen Tuns enthält; »theoretisch«, wenn sie Anlaß oder Bedingung zur Bildung der Regel ist. Wendet man diese Unterscheidung auf die praktische Erkenntnis von »ZU Tuendem« an, so fällt sie sicher nicht mit der von Klugheit und Moralwissenschaft zusammen. Die Moralwissenschaft gibt ja wirklich Regeln an, und daß diese nicht zugleich die unmittelbaren Imperative der Klugheit sind, sondern der »Anwendung« im speziellen Fall bedürfen, hindert nicht, daß eben sie es sind, die im Vorschreiben ins Werk gesetzt werden. Man ist natürlich frei, eine andere Terminologie als die von Thomas hier benutzte zu wählen und die allgemeinen Sätze der Moral, wegen ihrer Allgemeinheit und der Notwendigkeit der »Anwendung«, als »entfernte« Prinzipien des Handelns zu bezeichnen90 ; aber auch dann bleibt wohl zu beachten, daß auch der allgemeinste Regel-Satz der Moral nicht so zum Imperativ steht, daß er bloß Anlaß und Bedingung wäre. Am entferntesten wären nach dieser Auffassung die allgemeinsten Sätze, und darunter müßten auch die grundlegenden Regeln der Synderesis fallen. Aber gerade von deren schlechthin allgemeinster - »das Gute ist zu tun, das Böse ist zu lassen« - muß notwendig gesagt werden, daß sie in jedem möglichen Vorschreiben enthalten ist. In jedem möglichen praktischen sante Fall wird nicht ausgewertet, da die Analogie weiter nichts hergibt: auch dies ist eine Instanz für die ganz spezielle Absicht der Doktrin dieses Artikels. 89 Was die »scientia practica« bedeutet, kann nicht unmittelbar an der „cognitio practicac, dem Akt, gemessen werden. Wie Ver. 3, 3 ad 2 contr. vielleicht am deutlichsten zeigt, ist Wissenschafl: als Habitus - um die es hier vor allem geht immer nur »habitualiterc praktisch. Gerade deshalb ist diese Kennzeichnung nicht entscheidend, und da Gottes Erkennen immer Akt ist, können die Texte zum Problem des praktischen Wissens Gottes nicht die für uns maßgeblichen sein. 90 Vgl. die in Anm. 71-73 erwähnten Thesen von Maritain und Thiry; es ließe sich eine stattliche Liste alter und neuer Kommentatoren anfügen.

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Syllogismus bildet sie den letzten Obersatz; gewiß wird dieser Obersatz - in beliebig langer Schlußkette - zum konkreten Schlußsatz hin determiniert - durch allgemeine wie durch Einzelerkenntnisse, durch Tugend, Neigung, Wille, Individualität -, aber er verschwindet nicht, sondern er selbst ist es, der in der Determiniertheit des Schlußsatzes erscheint. Was im Schlußsatz an Kraft des Regelns steckt, stammt aus der Kraft jener obersten und allgemeinen Regel der Synderesis91 , ja ist diese selbst. Allgemeinheit der Regel bedeutet also nicht, daß sie nicht »regula proxima« des Wirkens sei. Alle Moralphilosophie fällt damit unter den Begriff von praktisch, wie ihn ein Text aus den Quaestiones de veritate beschreibt: »Praktische Vernunft muß die nächste Regel des Werkes sein; sie nämlich betrachtet das Wirkbare selbst und die Gründe des Wirkens und die Ursachen des Werkes« 92 • Auch Kenntnisse, die nicht unmittelbar die Gestalt von Regeln haben (es gibt vier Kardinaltugenden) gehören nach dieser Formel zur »regula proxima«, denn sie beschreiben Gründe des Wirkens. - Es scheint, man dürfte auch die »theoretische« Medizin unter diesen Begriff fassen, bei der es um Ähnliches geht (»es gibt drei Kräfte« - als Ursachen des Werkes). Allein hier gibt es doch einen Unterschied. Während die Aussage der Moralwissenschaft »es gibt vier Kardinaltugenden« nur im Kontext der praktischen Wissenschaft entstehen kann (ihr spekulativer Modus hat da nichts zu bedeuten), kann ein Satz der theoretischen Medizin »es gibt drei Kräfte« ebensowohl aus einer naturwissenschaftlichen, rein spekulativen Betrachtung stammen. Diese Erkenntnis ergibt sich nicht erst unter dem Gesichtspunkt der Heilung, als des Zieles der Medizin, wohl aber gibt es keine kunstgerechte Heilung ohne diese Erkenntnis. Praktisches medizinisches Wissen hängt also von Erkenntnissen ab, welche, für sich betrachtet, ihren Ort in der spekulativen Naturwissenschaft haben; es ist dieser subalterniert, ebenso wie die Agronomie und die »Alchemie« - man darf vielleicht statt dessen hier »Technik« einsetzen93 • Wir haben bereits(§ 4) von der Möglichkeit Die umfassende und durchgehend wirksame Macht der ersten Prinzipien der Synderesis zeigt deutlich 1, 79, 13 ad 3 (zur Frage des Gewissens): „ ... actus, etsi non semper maneat in se, semper tarnen manet in sua causa, quae est potentia et habitus. Habitus autem ex quibus conscientia informatur etsi multi sint, omnes tarnen efficaciam habent ab uno primo, scilicet ab habitu primorum principiorum, qui dicitur synderesis.« - Vgl. Sent. II, 24, 2, 4 ad 3: „ ... tota virtus conclusionis ex primis principiis trahitur.« 92 Ver. 14, 4: „sed intellectum practicum oportet esse proximam regulam operis, utpote quo consideretur ipsum operabile et rationes operandi et causae operis.« 93 Im Sinne eines naturwissenschaftlich grundgelegten Herstellungswissens. Die mittelalterliche Alchemie hat, wie hier ersichtlich, eine ganz andere Stellung als die moderne Chemie, die ja nicht Herstellungswissen, sondern selbständige („spekulative«) Grunddisziplin ist. 91

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der Subalternation praktischen Wissens unter spekulatives gesprochen und auch den Grund dafür angedeutet: In den genannten Fällen ist »die Kunst Dienerin der Natur«; sie ist angewiesen auf naturhafte Kräfte, um ihr Wirkbares zustande zu bringen, und diese sind die eigentlichen Wirkensgründe und Werkursachen94 • Deshalb lassen sich aus ihrer Kenntnis auch die Regeln abheben, nach denen die Kunst der Natur »ZU Hilfe kommt«. Dennoch wird in der »theoretischen« Medizin der Unterschied zum spekulativen Wissen nicht verwischt. Die wirkende Naturkraft wird vom Ziele des Wirkens her als Prinzip dieses Wirkens erkannt, also »praktisch«. Als Prinzip erkannt zu werden heißt aber, nur in seinem »Daß« erkannt zu werden. Die spekulative Erkenntnis liefert nun zu diesem »Daß« das »Warum«, das es sachlich begründet; in diesem Verhältnis besteht das Wesen der Subalternation95 • Ersichtlich beeinträchtigt dies Verhältnis nicht den praktischen Charakter des subalternierten Wissens; es mindert nur seinen Rang. Es würde also nur den Rang der Moralwissenschaft, nicht ihren »praktischen« Charakter beeinträchtigen, wenn sich herausstellen sollte, daß sie in ähnlicher Weise von spekulativem Wissen abhängig ist. Es ist zunächst unschwer festzustellen, daß kaum eine Erkenntnis denkbar ist, die nicht in irgendeiner Weise Anlaß zu einem Tun werden könnte. Thomas bringt - in dem behandelten Text über die Bedingungen des »praktischen« Verstandes98 - das Beispiel von einem Philosophen, der sich durch die Erkenntnis von der Unsterblichkeit der Seele zu irgendwelchem Tun veranlaßt fühlt. Aber das ist gerade das Gegenbeispiel: hier findet sich nichts von »nächster Regel«, von unmittelbarer Zuordnung zum Wirken, die aus dem Erkannten selber folgte. Es handelt sich nur um eine »entfernte Veranlassung«. Dem moralischen Wissen eigentlich vorgeordnet könnte nur ein Wissen sein, das eben die Prinzipien des Handelns selbst betrifft und für sie das »Warum« anzugeben vermöchte. Vgl. EBT 5, 1 ad 5: »Quamvis enim corpus sanabile sit corpus naturale, non tarnen est subiectum medicinae, prout est sanabile a natura, sed prout est sanabile ab arte. Sed quia in sanatione, quae fit etiam per artem, ars est ministra naturae, quia ex aliqua naturali virtute sanitas perficitur auxilio artis, inde est quod propter quid de operatione artis oportet sumi ex proprietatibus rerum naturalium. Et propter hoc medicina subalternatur physicae, et eadem ratione aldiimia et scientia de agricultura et omnia huiusmodi.« 95 In Post. Anal. 1, 17 setzt dies für die Subalternation voraus; ib. lect. 25 wird gezeigt, daß aus dem Umstand, daß das propter quid einer Wissensdiaff: in einer anderen gewußt wird, nidit einmal notwendig die Subalternation unter diese andere folgt. 98 Ver. 14, 4: »Nec quaelibet relatio ad opus facit intellectum esse practicum, quia simplex speculatio potest alicui esse remota occasio aliquid operandi; sicut philosophus speculatur animam esse immortalem, et exinde sicut a causa remota sumere potest occasionem aliquid operandic (es folgt der Anm. 92 zitierte Text). 94

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Thomas spricht selbst - im Anschluß an Aristoteles - davon, daß für die Moralphilosophie eine gewisse Kenntnis der menschlichen Seele und ihrer Vermögen erforderlich sei 97 • Hier geht es nun wirklich um Prinzipien menschlichen Handelns; denn dies hat ja in der Seele seinen Ursprung, und die Tugenden sind Verfassungen der Seelenvermögen. Der Moralist verhält sich also zum Wissen um die Seele, mit deren Verfassung er sich beschäftigt, ganz ähnlich wie der Arzt zum Wissen um den Leib, mit dessen Heilung er sich beschäftigt. Freilich gehört die vollständige Behandlung der Seelenlehre in eine besondere Untersuchung. Die Moral, in der vom Ziele her nur ganz bestimmte Perspektiven sich ergeben, wählt vom Ziele her aus, was für sie wichtig ist. Dazu gehört besonders die Lehre von den Seelenvermögen, denen die einzelnen Tugenden zugeteilt werden98 ; vor allem den Strebevermögen, deren Akte in der Summa theologiae sogar im Zusammenhang mit der »materia moralis« im Zweiten Teil behandelt werden88 • Die spekulative Wissenschaft von der Seele, als von dem Prinzip, durch das der Mensch ist, finden wir also der praktischen Wissenschaft von den menschlichen Handlungen, durch die der Mensch sein Menschsein bestätigt, in besonderer Weise zu- und vorgeordnet. Die Analogie mit der Medizin legt es nahe, hier ein Verhältnis der Subalternation anzusetzen, wie es von manchen Interpreten auch tatsächlich angesetzt wird 100 • Es gibt jedoch keinen Thomas-Text, der hier von Subalternation spräche, obwohl ein solcher mit höchster Wahrscheinlichkeit existieren müßte, wenn Thomas diese Meinung verträte - ein so bedeutsames Verhältnis würde nicht völlig unerwähnt bleiben dürfen. Auch sollte vorsichtig machen, daß Thomas zu Beginn des De-anima-Kommentars die Psychologie der Metaphysik »vorordnet«: ohne die in der Psychologie erworbene Kenntnis vom Intellectus possibilis gibt es keine Kenntnis der getrennten Substanzen, der göttlichen und höchsten Ursachen101 - von Subalternation kann da natürlich keine Rede sein. Auch sonst gibt es zwischen den Wissenschaften ein Angewiesensein der einen auf die andere, das nicht unterordnet; man denke besonders an die »Ordnung des Lernens«, in der gerade wieder die Metaphysik am meisten auf andere Wissenschaften angewiesen ist102 • Das alles besagt nicht jene Gründung, die das »Warum« liefert, und ohne das besteht keine Subalternation. 87 In Eth. 1, 19 n. 227-229; vgl. ib. 1, 11n.136; ib. VI, 1n,1113; In De an. 1, 1 n. 7. 8 8 In Eth. I, 20 und VI, 1 (Psydtologisdtes zur Vorbereitung der Tugendlehre). 88 Vgl. unten S. 59; 1-11, 49 pro!. wird auf I, 77 ff. verwiesen, 1, 84 pro!. verweist auf 1-11, 6 ff. 100 So J. GREDT, a. a. 0. (Anm. 66, S. 43). 101 In De an. 1, 1n.11. 102 Kap. 4 § 1 und Anm. 9, S. 60.

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Allein, wenn man bedenkt, daß die menschliche Handlung, als immanent, rfükbezogen ist auf den Handelnden selbst, ihn zu größerer oder geringerer Vollkommenheit bestimmend; daß Angemessenheit und Unangemessenheit an die vorgegebene (konkrete) Natur des Handelnden den Inhalt ihrer allgemeinsten Regel bildet; daß alles Handeln ausgerichtet ist durch eine vorgegebene Struktur menschlichen Seinkönnens, in der doch wieder der Grundriß der menschlichen Natur erscheinen muß sollte da nicht die spekulative Wissenschaft vom Menschen und von der Seele, die Wesen und Natur des Menschen offenlegt, darin zugleich auch jenen allgemeinen Maßstab des Handelns offenlegen? Erkennt sie nicht darin das »Warum« des Handelns? Enthält sie nicht darin eben nicht nur den Ursprung, sondern auch das Ziel des Handelns? Aber betrachten wir nochmals den Modellfall der Medizin: Das »Warum« ihres Tuns muß deshalb von naturwissenschaftlich-spekulativ zu erkennendem Naturhaftem abgenommen werden, weil sie in ihrem Tun selbst nur »Dienerin der Natur« ist103 • Naturhafte Kräfte sind es, die eigentlich - nur »mit Hilfe« der Kunst - die Gesundheit bewirken; die Wege, welche ärztliche Tätigkeit einschlagen muß, um die Heilung zu erreichen, sind eindeutig bestimmbar von der Erkenntnis der eindeutig bestimmten Natur her104 • Mißt man an diesem Modell das Verhältnis, in dem spekulatives Wissen vom Menschen zum praktischen Erkennen menschlichen Handelns steht, so zeigt sich ein tiefgreifender Unterschied. In spekulativer Sicht zeigt sich die Grundstruktur des Menschenwesens als ein Seinkönnen, das in Verstand und Wille zu Mannigfaltigem und Verschiedenem geöffnet ist, immer in der Möglichkeit zu diesem oder jenem, zu Tun oder Nicht-Tun. Seine vollendende Bestimmtheit gewinnt menschliches Seinkönnen von dem, was in dieser Offenheit begegnet, was erkannt und ergriffen wird. »Vorgegeben« dem Erkennen ist diese Bestimmtheit immer nur als eine zu erwirkende; sie wird also grundsätzlich »praktisch« erkannt. Die Bestimmtheit, die der Menschennatur als Grundstruktur eigen ist und die Offenheit des Seinkönnens trägt und ermöglicht, ist nicht eigentlich »Maßstab« zu nennen. Sie ist es erst in der ihr möglichen Vollendung, die ihr nur vom zu Erwirkenden zukommen kann. Eigentlicher Maßstab wäre sie in ihrer höchsten Vollendung, wenn ihre Offenheit erVgl. Anm. 94. Immerhin ist in der Medizin die individuelle Natur des Kranken ein Unsicherheitsfaktor, der ein »Consilium« nötig macht; Eindeutigkeit des Verhältnisses von Zweck und Mittel gibt es also im Kunstwissen nicht immer im gleichen Sinne, vgl. 11-11, 14, 4; In Eth. III, 7 n. 467-468. Im Moralischen herrscht jedoch prinzipiell keine die Wahl unfehlbar nach sich ziehende Bestimmtheit der »Mittele, vgl. 1-11, 13, 6. 103

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füllt wäre von einem zu Erwirkenden, das die äußersten Möglichkeiten menschlichen Seinkönnens verwirklidten würde. Hier läge das letzte »Warum« menschlichen Handelns vor. Aber auch dies letzte »Warum« ist wieder wesentlich ein zu Erwirkendes. Es zeigt sidt gerade in der Blickrichtung der praktischen Vernunft. Wenn also die Synderesis die Grundstruktur menschlidten Seinkönnens enthält, wenn sie das je zu Tuende daran mißt, so mißt sie an einem grundsätzlich praktisch zu verstehenden Wesen. So muß es sich denn auch mit dem »abgeleiteten« Wissen der Moralphilosophie verhalten. Wenn es seine Prinzipien in der Synderesis hat, kann es sie nicht von einer spekulativen Wissenschaft empfangen. Das »Warum« menschlichen Handelns muß in der praktischen Wissensdtaft selbst aufgewiesen werden. Das Menschenwesen selbst muß unter dem Blickpunkt der Moral in neuem Lichte ersdteinen - nicht daß hier bloß zu spekulativ Erkanntem Zukommendes erfaßt würde, sondern daß die konkrete Weise mensdtlichen Daseins allererst hier aufgeht. Der Rang moralischen Wissens gründet darin, daß »Praxis« eine ursprüngliche, erstgegründete Weise dieses menschlichen Daseins ist. Wie spekulative Wissenschaft die Erfüllung jener Fähigkeit des Menschen bedeutet, das Seiende und seine Ordnung verstandhaft zu betradtten, so wird seine Fähigkeit, betradttend Ordnung zu erwirken, soweit sie in der Vernunft erfüllbar ist, in der praktisdten Wissenschaft der Moral erfüllt105.

4.

KAPITEL: VERFAHREN, EINORDNUNG, EINTEILUNG DER PRAKTISCHEN WISSENSCHAFT

§ 1: Die Methode der Ethik; ihre Stelle im »Ordo addiscendi«; ihr Verhältnis zum spekulativen Wissen, insbesondere ihre Bedeutung für die Metaphysik (1. Aspekt des Verhältnisses zur Metaphysik) Der Gegenstand der Moralwissenschaft - ihr »subiectum«, von dem sie Aussagen madtt - ist nadt der Formulierung des Ethikkommentars »die menschliche Tätigkeit, die zum Ziele hingeordnet ist, oder audt: der Mensdt, der willentlidt tätig ist des Zieles wegen« 1 • Ihr Blick richtet sidt Vgl. EBT 5, 1 ad 4: „ ... in divisione philosophiae habetur respectus ad finem beatitudinis, ad quem tota humana vita ordinatur ... unde, cum duplex felicitas a philosophis ponatur, una contemplativa et alia activa, ut patet in X Ethicorum, secundum hoc etiam duas partes philosophiae distinxerunt ... « 1 In Eth. I, 1, n. 3: „ ... subiectum moralis philosophiae est operatio humana ordinata in finem, vel etiam homo prout est voluntarie agens propter finem.«

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auf die Bestimmtheiten, die dem Menschen nicht schon immer mit seinem Wesen gegeben, sondern als von ihm selbst in vernunftgeleitetem Streben zu erwirkende aufgegeben sind. Dieses »Aufgegebensein« charakterisiert die Handlung als eine willentliche, als eine menschliche, und damit wird es vom Wesen des Gegenstandes her zum Blickpunkt der Moral. Ihre Aussagen werden unter diesem Blickpunkt normativ, Regeln; sie wird zur wesentlich »praktischen« Wissenschaft. Aufgegeben kann dem Menschen nur sein, was in den Bereich seiner Wirkfähigkeit, seines Seinkönnens fällt. Der Bereich dieses Seinkönnens ist fest begrenzt und umrissen durch die Grundstruktur seines Wesens, die selbst wiederum nicht zu erwirken, sondern vorgegeben ist. Als solche fällt sie unter das spekulative Erkennen. Die Wissenschaft, der es um das vorgegebene Wesen geht, erhebt dessen Grundstruktur mittels abstrahierender, verallgemeinernder Betrachtung, in analytischem Verfahren (modo resolutorio), das auf die einfachen Prinzipien abzielt2. Diese Erkenntnis ist der praktischen insofern »vorgeordnet«, als sie den Grund jenes Seienden betriffi, welches seinerseits Grund des Handelns ist. Aber Grund des Handelns ist der Mensch nicht, sofern sein Wesen in der vorgegebenen Bestimmtheit begrenzt und beschlossen ist, sondern in der Offenheit des Wesens als eines vernünftigen wirkfähigen zu dem Mannigfaltigen, das ihm begegnet. Praktische Erkenntnis erfaßt die feste Grundstruktur in der entgegengesetzten Blickrichtung; sie ist ihr Umriß des Aufgegebenen. Praktische Wissenschaft gewinnt also zwar wohl in der »Menschennatur« die feste Basis ihres Erkennens; aber sie drängt sogleich darüber hinaus, denn »aufgegeben« ist dem Menschen die konkrete, erfüllende Bestimmung dieses Umrisses, die je im Besonderen und Einzelnen geschieht. Das Verfahren der Moral ist deshalb synthetisch (modo compositivo), vom Allgemeinen zum Einzelnen fortschreitend, »allgemeine und einfache Prinzipien auf das Einzelne und Zusammengesetzte anwendend, in dem die Tätigkeit (actus) stattfindet« 3 • Die Gegensätzlichkeit der Blickrichtung in der spekulativen und in der praktischen Wissenschaft vom Menschen folgt natürlich aus der grundlegenden Verschiedenheit der »Ziele«. Sie schließt aber keineswegs aus, daß beide füreinander Bedeutung haben, sich gegenseitig befruchten; beide setzen schließlich an demselben Seienden an. So wird dem Moralisten dort, wo er die Basis seines Wissens sichert, wo es ihm um die Menschennatur zu tun ist, die spekulative Wissenschaft von der Seele nützlich In Eth. I, 3 n. 35: „ ... in scientia speculativa necesse est ut procedatur modo resolutorio, resolvendo composita in principia simplicia.« 3 In Eth. I, 3 n. 35: „ ... applicando universalia principia et simplicia ad singularia et composita, in quibus est actus. Necessarium est enim in qualibet operativa scientia, ut procedatur modo compositivo.«

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sein; das ist von Thomas wiederholt gesagt4 • Umgekehrt wird die praktische Wissenschaft dort mehr zu sagen wissen, wo es um die Erkenntnis von Besonderungen geht. Ein Beispiel dafür, daß Thomas sich von einem solchen Beweggrund leiten läßt, darf man in der Behandlung der Lehre von den Akten der niederen Begehrungsvermögen in der Summa theologiae erblicken. Dieses Lehrstück wird aus dem Rahmen der spekulativen Betrachtung, wo es seinen systematischen Platz hat, gänzlich herausgenommen und im Zusammenhang der moralwissenschaftlichen Betrachtung gebracht, obwohl es sich nicht in jeder Hinsicht um »menschliche« Akte handelt, sondern um solche, die dem Menschen mit anderen Lebewesen gemeinsam sind5 • Das Besondere, dem die Moralwissenschaft sich zuwendet, die konkrete Wirklichkeit des menschlichen Lebens, ist nicht aus dem Begriff des Allgemeinen zu gewinnen, seine Bestimmtheit nicht aus der Ausrichtung der Grundstruktur ableitbar; denn es ist ja keine Bestimmtheit, die von der Natur her eindeutig gefordert und in eindeutiger Richtung gewirkt würde. So ist die Moral wesentlich angewiesen auf die Erfahrung, durch die »am meisten« die Wirklichkeit menschlichen Tuns erkannt wird8 • Der junge Mensch, dem die Lebenserfahrung fehlt, wird vielleicht für unwahr halten, daß es eine Freigebigkeit gibt, die für sich selbst den geringeren Anteil zurückbehält, den größeren an andere verschenkt7. Erst die gereifte Erfahrung zeigt, daß es Möglichkeiten menschlicher Vollkommenheit gibt, von denen der Unerfahrene nichts ahnt. Hier ist sicher nicht allein an die individuelle Lebenserfahrung des Einzelnen zu denken, die doch zumeist auf den engen Umkreis des Alltäglichen beschränkt bleibt, sondern auch an die Geschichte menschlicher Sittlichkeit, etwa daran, daß die Überlieferung uns mit Beispielen heroischer Tugend bekannt macht8 • Nicht Bindung an das Alltägliche, den individuellen Umkreis, ' Vgl. Anm. 97, S. 55. 1, 84 pro!.; 1-11, 6 pro!. - Wie sehr man das mißverstehen kann, zeige nur ein Beispiel: C. MINDORFF, De conceptu moralitatis, in: Antonianum 2 (1927) S. 381 Anm. 2, ist wegen der erstgenannten Stelle der Meinung: »Si ordo moralis de facto tractatur separatim in sie dicta parte 2a, tarnen scimus quod eius locus logicus est in 1a,d - Damit ist nun die Eigenart des Praktischen völlig verkannt, die sich auch unter den besonderen Verhältnissen der Theologie bemerkbar macht. • In Eth. 1, 3 n. 38: „ ... quae pertinent ad scientiam moralem ... maxime cognoscuntur per experientiam.« 7 Ib.: „ ... quod liberalis minora sibi reservat et maiora aliis tribuit, hoc iuvenis propter inexperientiam forte non iudicabit verum esse.« 8 Wie In Eth. III, 2 n. 395 der hl. Laurentius erwähnt wird. über die Rolle des Beispiels in der Ethik vgl. Sent. 1 Pro!. 3 sol 2: die •exempla operandorum« braucht man •in scientia morali, quia operationes particularium et circa particularia sunt; unde per exempla particularia ea, quae ad mores pertinent, melius manifestantur.« 5

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sondern Erweiterung des Horizontes und Öffnung des Blickes für die Fülle des Seinkönnens ist es, die von der Erfahrung bewirkt werden soll. In diesem Sinne ist auch die Einordnung der Moralwissenschaft in die »Ordnung des Lernens« zu verstehen 9 • Sie wird später angesetzt als Logik und Mathematik, die wegen der Leere ihres Gegenstandes schon »Knaben« zugänglich sind; später auch als die Physik, zu der schon Erfahrung notwendig ist, auf begrenztem Gebiet; früher jedoch als die Metaphysik, deren umfassende Sicht auf das Ganze des Seienden ein Höchstmaß von vorheriger Kenntnis voraussetzt. Es fällt jedoch auf, daß die Moralwissenschaft nicht streng unter die notwendigen Voraussetzungen der Metaphysik gezählt wird, nicht streng in die Linie des Fortschreitens zur Metaphysik hin gehört10• Man muß wohl ihre »praktische« Blickrichtung für dieses »Außenstehen« verantwortlich machen, die sie grundsätzlich »neben« die Ordnung der spekulativen Wissenschaften stellen muß. Man darf wohl sagen: wie sie nicht zur Metaphysik streng vorausgesetzt wird, so setzt sie ihrerseits auch nicht das Lernen von Mathematik und Physik streng voraus. Praktische Lebenserfahrung hat ihre eigene Ordnung, und so auch praktische Wissenschaft. Aber dieses »Nebenstehen« im »Ordo addiscendi« darf die Moral nicht isolieren. Selbst die gegenläufige Blickrichtung schloß nicht aus, daß sie mit der spekulativen Seelenlehre in ein Verhältnis gegenseitiger Befruchtung trat, und so folgt aus der fehlenden Strenge der Zuordnung zur Metaphysik nicht ihre Bedeutungslosigkeit für deren Ausbildung. Diese Wissenschaft, die mit der Frage nach dem Seienden überhaupt das Gründende von allem Wissen und Wißbaren untersucht, hat natürlich auch nach dem Seiendsein menschlicher Handlungen zu fragen. Gewiß entgeht ihr, als dem allgemeinsten Wissen, das Besondere von deren Seinsweise; das muß ihr vielmehr von der ausgearbeiteten Moralwissenschaft dargeboten werden, und insofern ist diese im »Ordo addiscendi« früher. Dann aber ist die Frage nicht zu umgehen, wie sich die Praxis, das praktisch Erfahrene, das in der praktischen Wissenschaft Gewußte nun als »seiend« verhalte, was es und wie es eigentlich »Sei«. Die Praxis ist in die allgemeinen Strukturen einzuordnen, die in der Metaphysik ergriffen sind, transzendentale und kategoriale Bestimmungen sind ihr anzupassen. Als »Seiend« ist sie schließlich - wenn auch nicht in ihrer Besonderheit - im Gegenstand der Metaphysik als dem »Seiend im Allgemeinen« immer schon mitenthalten. Unvermeidlich ist diese Frage nach der metaphysischen Bedeutung der Praxis - aber sie entsteht in der Fragerichtung der • In Eth. VI, 7 n. 1211; EBT 5, 1ad3 und ad 9; In De caus. 1. EBT 5, 1 ad 9: streng vorausgesetzt sind Physik und Mathematik, dazu „astrologia«, „aliae vero scientiae sunt ad bene esse ipsius, sicut musica et morales vel aliae huiusmodi.c

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Metaphysik selbst. Die praktische Wissenschaft als solche, sofern sie nämlich auf dem ihr eigenen Wege zu dem ihr eigenen Ziel fortschreitet, setzt die Metaphysik nicht voraus und verlangt sie nicht, ebensowenig wie die Physik oder die Logik die Gründung ihres Tuns in einer Wissenschaft der Metaphysik zu ihrem Fortschreiten voraussetzen oder verlangen11. Vielmehr umgekehrt setzt die Metaphysik voraus, daß jene zuvor »gelernt« sinc\; daß in diesen Wissenschaften jenes Seiende in seinen Besonderungen erschlossen ist, das sie nun in seinem Allgemeinsten und Grundlegendsten zu erforschen hat. Nicht als Physiker stellt der Mensch die Frage, wieso die Naturdinge, die er als Bewegbares betrachtet, nun eigentlich »Seien«. Nicht dem Moralisten als solchem stellt sich die Frage, was denn nun »gut« überhaupt »sei«, was »gut überhaupt« sei. Er hat es von vornherein mit dem »gut« der Handlung, dem moralisch Guten zu tun, mit dem »gut« des Menschen in seiner Besonderheit, dem das »böse« schon im ersten praktischen Prinzip, in der obersten Handelnsregel gegenübergestellt ist. Erst der Metaphysiker fragt danach, wie es nun stehe mit dem »gut« überhaupt, dem transzendentalen, und seinem Verhältnis zum moralischen; wie es sich mit dem Gegensatz »Gut - übel« einerseits, »Gut - Böse« andererseits verhalte; was das Böse nun eigentlich »Sei«. Offensichtlich ist diese Fragestellung dem Metaphysiker nur möglich, wenn der Bereich der Praxis zuvor in der ihm eigenen Besonderheit erschlossen ist, und das geschieht in der praktischen Wissenschaft; und seine Antwort wird mit dem zu rechnen haben, was dem Moralisten unter dem ihm eigenen Blickpunkt aufgegangen ist.

§ 2: Praktische Bedeutsamkeit metaphysischer Erkenntnisse und praktische Sicht auf die Metaphysik als menschliches Tun (2. und 3. Aspekt des Verhältnisses zur Metaphysik) Kein Zweifel, daß Praxis ein Problem auch für die Metaphysik ist, daß praktische Wissenschaft »metaphysische Bedeutung« hat. Umgekehrt ist nun zu fragen, ob nicht etwa die Metaphysik ihrerseits »praktische Bedeutung« haben könne. Hier ist zunächst an ein Verhältnis zu denken, wie es zwischen der spekulativen Wissenschaft von der Seele und der Moral besteht, und ein ähnliches dürfen wir hier ansetzen: als Wissenschaft vom Seienden im Allgemeinen und von dessen höchsten und letzten Ursachen handelt die Metaphysik auch von dem, was für die Praxis - insofern diese »Seiend« ist - höchste und letzte Ursache ist. In diesem Sinne ist die Metaphysik der praktischen Wissenschaft ebenso »vorgeordnet« wie allen anderen Wissenschaften, jedoch anders als die spekulative 11 EBT 5, 1 ad 9; In Post. Anal. I, 17.

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Seelenlehre: einerseits geht sie, wo diese den Grundriß des Wesens bestimmt, das da handelnd ist, auf den letzten Grund dieses Wesens zurück, ist dieser also nochmals auf allgemeinerer Ebene »vorgeordnet«; andererseits sind die letzten Gründe, die sie erforscht, zugleich die Gründe für jenes, was im Bereich der Praxis dem Handelnden begegnet. Sowohl der Grund als auch der gesamte Umkreis des Handelns und der Gegenstände dieses Handelns wird von der Metaphysik auf sein Seiendsein und auf seine letzten Gründe hin befragt, der Gesamtbereich von ihr »umschlossen«. Der Mensch lebt und handelt in einer Welt, von der nur ein kleiner Ausschnitt Material (materia circa quam) der Praxis ist, und dieser ist in sich selbst mehr als nur Material des Handelns. Der Handelnde selbst ist in sich selbst nicht bloß ein Handelnder, gehört also ebenso nicht nur in den Bereich praktischen Erkennens. Der Bereich des Wirkbaren ist dem Bereich des Nicht-Wirkbaren eingezeichnet, dieser begrenzt jenen, umschließt ihn; indem Wirkbares begegnet, zeigt es sich der Vernunft immer zugleich eingeordnet in dieses Nicht-Wirkbare, von ihm begrenzt und umschlossen. Die spekulative Erkenntnis, die auf dieses Umschließende geht und es in seiner Gründung in einem letzten Prinzip - in Gott - und in seiner Ordnung daraufhin begreift, vermag nun auch den Menschen mitsamt dem Bereich seines Seinkönnens an seinem Ort in dieser Gesamtordnung zu begreifen. Bedenkt man hier, daß dieselbe Vernunft, die in der spekulativen Erkenntnis jene vorgegebene Ordnung des Ganzen oder auch nur ein in ihr Geordnetes betrachtet, zugleich im Bereich des Wirkbaren Ordnung herzustellen hat, so wird man annehmen müssen, daß die Schau des geordnet Vorliegenden »Anlaß« für das Ordnungswirken im Bereich des Aufgegebenen sein kann. Thomas bringt das - bereits erwähnte - Beispiel vom Philosophen, der aus der Erkenntnis der Unsterblichkeit der Seele sich zu einem Tun veranlaßt fühlt 12 • In gleicher Weise kann vielerlei spekulative Erkenntnis »praktisch bedeutsam« werden13, vor allem, als die höchste und umfassendste, die metaphysische. Allein, eine Erkenntnis, die als bloßer Anlaß zum Tun »praktisch bedeutsam« ist, ist damit eben noch keine praktische Erkenntnis. Sie liefert vor allem nicht die Regel des Tuns, bestimmt nicht, was da zu tun ist. Diese Regel kann sich nur bilden in der Anwendung der obersten Grundsätze des Handelns auf das, was im Bereich möglichen Handelns konkret begegnet. Wenn also die spekulative Vernunft im Gang der metaphysischen Erkenntnis den Menschen mitsamt dem Bereich seines Seinkönnens als in einer Gesamtordnung stehend begreift, die auf Gott hin ist, so ist Ver. 14, 4 vgl. Anm. 96, S. 54. Der Begriff „praktisdi bedeutsam« wird von L. S. 48), S. 409, redit glüddidi eingeführt.

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KERSTIENS,

a. a. 0. (Anm. 79,

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diese Erkenntnis »bedeutsam« für die Grundlegung der praktischen Wissenschaft wie die Erkenntnis des Wesens der Seele; sie ist für das Handeln »bedeutsam«, sofern Ordnen im menschlichen Bereich etwa sinnvoller erscheint, wenn dieser einer Gesamtordnung eingegliedert ist; aber unmittelbar handlungsregelnd ist sie nicht, da die spekulativ erfaßte Ordnung nicht wirkbar, nicht »aufgegeben« ist. »Praktische« Gotteserkenntnis wäre nur dann gegeben, wenn sich Gott selbst im Bereich des möglichen Handelns zeigen würde, etwa als sidi. offenbarender Gesetzgeber14. Aber es gibt noch eine dritte Weise, in der das spekulative Verhalten der Vernunft zum Umschließenden und Höchsten mit Praxis zu tun hat. Ist es doch selbst ein Verhalten des Mensdi.en, menschliches Tun, das getan oder nicht getan werden kann; willentliche Tätigkeit also, und so, sofern es Akt ist, fällt es wieder unter den Gegenstand der praktischen Wissenschaft. Was aber nun in diesem Akt eines vom Willen angetriebenen spekulativen Erkennens gewirkt wird, ist etwas von aller sonstigen Praxis gründlidi. Verschiedenes: in ihm verhält sich der Mensch gerade zum Nicht-Praktischen, zum nichtwirkbaren Umschließenden allen menschlichen Daseins. Jenes Ganze, das immer jenseits des Bereichs möglichen konkreten Handelns bleibt, wird im spekulativen Verhalten als Erkanntes »besessen« und angeeignet. Hier wird ein Seinkönnen erfüllt, das in der Zuordnung zum Ganzen des Seienden alle Beschränktheit überschreitet. Dies Vermögen, sich zum Umfassenden und Höchsten zu verhalten, ist zweifellos höher als die Fähigkeit, in einem beschränkten Umkreis zu wirken. Der Akt, in dem das Höchste besessen wird, ist zweifellos höher als der Akt, in dem das »praktische« Seinkönnen erfüllt wird15 • Das wäre anders, wenn der sich gestaltende Mensch selbst das Höchste wäre - das Wissen um den »rechten Begriff, von dem, was zu tun ist«, wäre dann die höchste Weise des Erkennens, wäre Weisheit18 • Aber gerade in seinem spekulativen Erkennen wächst der Mensch über sich selbst hinaus und zielt auf eine Vollkommenheit, die das »Menschliche« schon überschreitet - sofern man darunter jene Beschränktheit umfassen will, die aus der Materialität und Sinnengebundenheit der Menschennatur Ein solches Sich-Zeigen Gottes ergäbe eine »praktische« Theologie. In der natürlichen Erkenntnis sind die Prinzipien der Synderesis zwar als gottgegebenes »Naturgesetz« auszulegen, aber nur mittels der spekulativen Interpretation ihres Gegebenseins; damit ist natürliche Gotteserkenntnis nicht >praktisch«, sondern nur »praktisch bedeutsam« (was auch dann gilt, wenn naturgesetzliche Prinzipien wiederum als »Gebot der Gottesliebe« ausgelegt werden, wie I-II, 100, 3 ad 1) - vgl. dazu unten Kap. 14. 15 Andererseits erfüllt sich in dem schon »übermenschlichen« Akt das »eigenste« Seinkönnen des Menschen, In Eth. X, 11 n. 2109-2110. 11 In Eth. VI, 6 n. 1186; I-II, 3, 5 ad 3; II-II, 47, 2 ad 1.

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stammt17 • Das Wesen dieses Verhaltens entzieht sich damit schließlich der praktischen Wissenschaft18 . Sie weist auf diese Möglichkeit des Menschen hin als auf etwas, das schon jenseits des »moralischen« Lebens liegt; und sofern sich menschliches Leben darin zur höchsten Möglichkeit entfaltet, wird sie das Moralische als darauf hingeordnet zu begreifen haben, die Praxis als sich vollendend in einem »Tun«, das nicht mehr »Praxis« ist19 • Metaphysik als höchste spekulative Wissenschaft, als »Weisheit«, zeigt sich unter diesem dritten Gesichtspunkt - als Akt, als Tun und Tatsache im Horizont praktischen Verstehens selbst, und da als in »eigentlicher« Weise »vorgeordnet«, nämlich als höchstes zu-Tuendes. Und dennoch bleibt dieses höchste Tun, das Schauen der Wahrheit20 , in eigentümlicher Weise »getrennt« von dem Bereich der Praxis 21 . Es bleibt ja bestehen, daß der Mensch immer noch ein leiblich-geistiges Wesen ist, das in einem Umkreis möglichen Wirkens steht; daß dieser Bereich in anderer Weise »Ziel« ist, einem anders gerichteten Erkennen sich erschließt. In der konkreten Erfüllbarkeit wird er vom spekulativen Wissen eben nicht gewußt; keine »nächste« Regel des Handelns ist aus dem spekulativ Erkannten zu erheben. Menschliches Seinkönnen ist offenbar in zwei Weisen vollendbar, die einander vor- oder zugeordnet sind, aber nicht in einer Einheit zusammengefaßt werden können. Auch wird nicht die eine Weise von der anderen aufgehoben, verschwindet nicht vor der anderen; menschliche Vollendung ist nicht in einer dieser Weisen allein zu verwirklichen22. So bleibt auch die Doppelheit von spekulativ und praktisch, Betrachten und betrachtend Ordnen, Ziel der Schau und Ziel des Wirkens, spekulativer und praktischer Wissenschaft unaufgehoben bestehen. 17

In Eth. X, 11 n. 2105-2106; ib. 12 n. 2115.

18 In Eth. X, 12 n. 2116; vgl. In Eth. 1, 2 n. 27.

In Eth. X, 11 n. 2101: „ ... ita quod huiusmodi felicitas, quam intendit aliquis acquirere per politicam vitam, sit altera ab ipsa vita politica. Sie enim per vitam politicam quaerimus eam quasi alteram existentem ab ipsa.« 20 In Eth. X, 10 n. 2088, 2092. 21 In Eth. X, 12 n. 2115: „ ... vita et felicitas speculativa, quae est propria intellectus, est separata et divina.« 22 Dies ist der Sinn der Lehre von der •duplex felicitasc, In Eth. X, 12 n. 2111: •Cum ille qui vacat speculationi sit felicissimus, secundario est felix qui vivit secundum aliam virtutem, scilicet prudentiam, quae dirigit omnes morales virtutes.« - Vgl. 1-11, 3, 5, wo die •duplex felicitasc als •beatitudo imperfecta« der •beatitudo perfecta« der Theologie entgegengesetzt wird (vgl. Kap. 8 § 2). EBT 5, 1 ad 4 führt den Unterschied von spekulativ und praktisch auf die •duplex felicitas« zurück, vgl. Anm. 105, S. 57. - Daß der •homo speculativus« auch Mensch ist, mit menschlichen Bedürfnissen, veranlaßt ihn, zugleich das Tugendleben zu »wählen«, In Eth. X, 12 n. 2120; daraus ergibt sich aber keine schlechthinnige Einheit des Glücks, vgl. S. 70 und Anm. 50. 19

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§ 3: Die Einteilung der Ethik nach »Teilen« (allgemeine und besondere Ethik) und nach Disziplinen (Monastik, Ökonomik, Politik); die Zweiheit menschlicher Vollendung in »diesem Leben« Die »Schau« vollendet sich in der Lösung von den einschränkenden Bedingungen der Materialität23 , zielt auf das Einfache und Allgemeine; die praktische Erkenntnis der Moral zielt auf das Zusammengesetzte, Konkrete, sie vollendet sich in der Betrachtung des Besonderen. Gleichwohl muß sie vorher den Umriß abgesteckt haben, in dem diese Besonderung geschieht. Analog der Einteilung der spekulativen Wissenschaften, die sich nach den Stufen der Abstraktion in verschiedene Disziplinen gliedern, scheint sich vom Verfahren her, das ein Fortschreiten vom Allgemeinen zum Besonderen erfordert, eine Zweiteilung der praktischen Wisschenschaft zu ergeben. Wir finden sie im Zweiten Teil der Summa theologiae durchgeführt: zunächst werden die »allgemeinen« Lehren vorgetragen, dann die »besonderen«, in denen sich die Moral »vollendet« 24 • Dort handelt es sich freilich um eine theologische Moral, und wie weit in dieser eigene Grundsätze wirksam sind, wird noch zu besprechen sein. Aber daß diese Gliederung sich aus dem Wesen der Sache ergibt, auch in philosophischer Sicht, bezeugt die thomistische Deutung des Verhältnisses von Buch 1 und X der Nikomachischen Ethik; die Lehre vom »Glück«, vom letzten Ziel, wird in Buch 1 zunächst allgemein, »in universali« vorgetragen, später in Buch X dann in der konkreten inhaltlichen Besonderung dargeboten 25 • Doch läßt sich aus dem früher Gesagten entnehmen, daß hier nicht eine Verschiedenheit wie die zwischen verschiedenen Disziplinen anzusetzen ist, auch nicht ein Unterschied von »theoretisch-praktisch« und »praktisch-praktisch«, nach der scheinbaren Analogie mit der Medizin28 • Beide »Teile« verhalten sich zueinander wie das Unvollkommene und das Vollkommene27 , und zwar unter derselben Hinsicht; es sind gleichsam nur Teilstrecken des einen Weges, den die eine Moralwissenschaft zu ihrem Ziele geht. Sinn dieser Einteilung ist lediglich, den zu behandelnden Stoff methodisch zu organisieren 28 • Nadi In Eth. X, 12 n. 2115-2116 und den dortigen Verweisen auf De an III. 1-II, 6 pro!.; II-II pro!. 25 In Eth. 1, 11 n. 131; ib. 1, 4 n. 43. 28 Vgl. Kap. 3, § 8. 27 Nadi dem Grundsatz »omnis operativa scientia in particulari consideratione perficitur«, der häufig genannt wird, z.B. I-II, 6 pro!. 28 Daß diese Einteilung einer praktisdicn Wissensdiafl hödist angemessen und deshalb ihre erstmalige Anwendung auf den in der Theologie zu behandelnden >praktisdien« Stoff in der Summa theologiae äußerst diarakteristisdi ist, betont TH. DEMAN, Aux Origines de la 7heologie morale (Conference Albert-Je-Grand 1951), Montreal-Paris 1951, S. 105-106; jedodi ist die Einteilung in »allgemeine« und »spezielle« Ethik eben keine nadi »Disziplinen«. 23

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Von einer Mehrzahl verschiedener Disziplinen der praktischen Wissenschaft kann nur dann die Rede sein, wenn sich ein Unterschied am Gegenstand zeigt, der diesen gerade in der Weise, wie er Gegenstand praktischen Wissens ist, differenziert; wie bei aller Wissenschaftseinteilung, so kann auch hier nur die »ratio obiecti« unterscheidend sein 28 • Betriffi: nun die Moral die menschliche Tätigkeit als solche, d. h. in ihrem willentlichen Gewirktwerden, und den Menschen, sofern er Grund dieses Tuns ist, so ist die Unterscheidung moralwissenschaftlicher Disziplinen nur zu begründen aus einer Verschiedenheit im Gewirktwerden der Handlung selbst, einer Verschiedenheit der Weise, wie der Mensch Grund seines Tuns ist. Aus der abstrakten Sicht auf die Wesenskonstituentien der Menschennatur tritt ein solcher Unterschied nicht hervor; doch er zeigt sich sofort dem Blivis coactiva« abgeht (was nicht hindert, daß sie „efficacior« ist als staatliche Erziehung, ib.). - Die >Notwendigkeit« der Erziehung spielt bei der Behandlung der Unauflöslirhkeit und Einheit der Ehe eine wichtige Rolle, z.B. SCG III, 122-123. 18

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sondern audi. »gut lebt«; dazu verhilft die Gemeinsdi.aft der Bürger, die in einem Staatswesen zusammenleben, weldi.em der Einzelne wiederum als Teil angehört. Audi die Bürgergemeinsdi.aft hat eine »ökonomische« Funktion; in ihr entsteht eine arbeitsteilige Wirtsdiaft, die den von der Hauswirtsdiaft nidi.t mehr deck.baren Bedarf befriedigt34 • Vorzüglich aber stellt sie durdi. die staatlidi.e Madit eine befriedete Reditsordnung her, die dem Einzelnen Beeinträditigungen fernhält, ihn in seinem Streben nadi. sittlidiem Leben unterstützt und dazu anleitet35 • Ist der Mensdi. »von Natur aus« auf diese Gesellsdi.aften hingewiesen und als Teil ihnen eingeordnet, so ist er dodi. wieder nidit nur als Teil eines Ganzen aufzufassen. Das Ganze der jeweiligen menschlidi.en Gesellsdiaft bildet keine »sdi.ledi.thinnige« Einheit, wie sie sidi. aus einer festen physisdi.en Verbindung der Teile (Thomas nennt als deren Arten compositio, colligatio, continuitas, wobei sidier an Naturkörper zu denken ist) ergibt, sondern eine bloße Einheit der Zuordnung, wie sie bei einer Gruppe Sdi.iffstreidler oder bei einem Heere zu finden ist. Bei beiden Gruppen gibt es eine Tätigkeit des Ganzen, die nidit einem Teil für sich zugesdi.rieben werden kann; sofern er an dieser Tätigkeit des Ganzen mitwirkt, ist er tatsädi.lidi. nur ein Teil. Darüberhinaus behält aber der einzelne Treidler, der einzelne Soldat einen eigenen Bezirk des Tuns, der nidi.t im Tun des Ganzen aufgeht38 • In ähnlidi.er Weise sind die Bereidie, in denen der Mensch als Bürger, als »Familienmitglied«, als Einzelner handelt, nidit zur völligen Dekkung zu bringen. Ein »privates« Tun und Lassen, das die Gemeinsdiaft nidi.t berührt, und ein gemeinsdiaftlidies Tun, zu dessen Erwirken der Einzelne als soldier gar nidi.t fähig wäre, sind als Handlungen grundsätzlidi versdi.ieden. Sie können deshalb audi. nidit in ein und derselben Wissensdiaft gewußt werden. Dementsprediend gliedert sidi. die praktisdie Wissensdiaft in drei Disziplinen: die »Monastik«, weldie die Tätigkeit des Mensdi.en als eines Einzelnen betradi.tet; die Ökonomik, die sich In Eth. 1, 1 n. 4: „ ... homini auxiliatur multitudo civilis, cuius ipse est pars, non solum quantum ad corporalia, prout scilicet in civitate sunt multa artificia, ad quae una domus sufficere non potest .. "' 35 Nach In Eth. 1, 1 n. 4 hilft die Bürgergemeinschaft „ad vitae sufficientiam perfectam, scilicet ut homo non solum vivat, sed et bene vivat, habens omnia quae sibi sufficiunt ad vitam ... etiam quantum ad moralia, inquantum scilicet per publicam potestatem coercentur insolentes iuvenes metu poenae, quos paterna monitio corrigere non valet.« - Vgl. In Eth. X, 14 n. 2153 und 15 n. 2159: der Vater, als „Gesetzgeber« der Hausgemeinschaft, verfügt nicht über die notwendige Zwangsgewalt. - Vgl. auch In Eth. X, 11 n. 2101. 38 In Eth. 1, 1 n. 5; bei diesem Verhältnis gilt: »Non autem ad eandem scientiam pertinet considerare totum, quod habet solam ordinis unitatem, et partes ipsius.« 34

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mit dem Leben der Hausgemeinschaft, und die Politik (»civilis«), die sich mit dem bürgerlichen Leben beschäftigt37 • Selbstverständlich muß auch die Verfassung, welche die Vernunft zum rechten Vorschreiben befähigt, die Klugheit, in den drei verschiedenen Bereichen des Handelns eine je spezifisch andere sein; sie gliedert sich also in drei »Arten« 38 • In jedem dieser Bereiche muß man schließlich von einem unterschiedlichen »Gut« sprechen: dem »bonum privatum« oder »proprium« des einen Menschen, dem »bonum commune« der Familie und dem »bonum commune« des Staatswesens. Da der Mensch unter den Bedingungen einer Natur handelt, die auf die Hilfe der Gemeinschaft angewiesen ist, kann er sein privates Gut nicht erwirken ohne das Gemeingut; da er »Von Natur« Teil der Gesellschaft ist, muß er sein Eigengut zugleich immer aus der Sicht auf das Gemeingut bestimmen39 • In der Hinordnung auf das Gemeingut eröffnet sich dem Menschen ein weiterer, umfassenderer Bereich des Seinkönnens. Da nun eine Zielsetzung um so höher ist, je weitere Bereiche sie umfaßt, muß jenes menschliche Gut, das der umfassenden, zur vollen Genüge befähigten Gemeinschaft des Staates zugehört, das höchste sein. Ihm ist das Gut des Einzelnen (wie auch das Gut der Familie) zugeordnet als dem »besseren«40. Die Politik ist damit die höchste praktische Wissenschaft. Ihre Sache ist es, das .Kußerste menschlichen Seinkönnens - das »letzte Ziel« aufzuzeigen. Sie ist hinsichtlich der anderen Wissenschaften »architektonisch«, sie ordnend und ihre Bereiche absteckend 41 . Wer sein Handeln auf das Gut der Gemeinschaft richtet, bewirkt damit nicht nur für sich selbst ein Gut, sondern wird auch für andere Ursache des Guten. Dies Tun heißt »göttlicher«, weil es .Khnlichkeit mit dem Tun Gottes hat, der die Ursache von allem Guten ist, und so darf das Gemeingut »göttlicher« heißen als das Gut des Einzelnen 42. Aber die Politik ist damit nicht »göttliche« Wissenschaft - so kann nur jene heißen, die über jeden Bereich »praktischen« Seinkönnens hinaus die Zuordnung zum 87 In Eth. 1, 1 n. 6; über die Quelle dieser Einteilung vgl. 1. TH. EscHMANN, Bonum commune melius est quam bonum unius, in: Medieval Studies 6 (1944) S. 62-120 bes. S. 76 f. 38 In Eth. VI, 7 n. 1196; 11-11, 47, 11 wird der Untcrsdiied als „spezifisdierc nadigewiesen; vgl. audi 11-11, 50, bes. art. 3. 89 Wohl am stärksten ersdieint der Grundsatz bei der Frage nadi der Bereditigung der Todesstrafe, 1-11, 62, 2. 40 In Eth. 1, 2 n. 30; eine Sammlung der thomistisdien Texte, die das „authenticum«: „bonum commune melius est quam bonum unius«, oder seine Abwandlungen enthalten, gibt 1. TH. EscHMANN, A 1homistic Glossary on the Principle of the Preeminence of a Common Good, in: Medieval Studies 5 (1943) 123-165. 41 In Eth. 1, 2 n. 25. 42 In Eth. 1, 2 n. 30.

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»letzten« Ziel überhaupt, zum »Gut« des Seienden im Ganzen, des Universums, vollzieht, und das ist nur im reinen Betrachten des spekulativen Verhaltens möglich 43 • Zwar bleibt auch der Mensch, der in der Schau das Höchste vollbringen will, angewiesen auf die Gesellschaft, die ihm im konkreten menschlichen Zusammenleben den Platz freimacht und zuweist, von dem aus er seine Fähigkeit des Schauens der Wahrheit »gebrauchen« kann 44 • In seinem Schauen ist er aber nicht mehr von der Hilfe anderer abhängig, sondern er genügt sich selbst 45 ; er vollbringt es als Einzelner, und so erweist sich dem Gemeingut wieder ein »Einzelgut« vorgeordnet. Wie Thomas es ausdrückt: »Singularis assecutio eius ( = boni intellectus speculativi) excedit communem assecutionem boni intellectus practici« 48 • Ein Einzelgut überragt wieder das Gemeingut, aber es gehört nicht derselben Ordnung an wie das Oberragte47 • Es scheint notwendig, die gesamte moralische Ordnung auf dieses sie überragende hingeordnet sein 43 In Eth. I, 2 n. 31: ioSciendum est tarnen quod politicam dicit esse principalissimam non simpliciter, sed in genere activarum scientiarum quae sunt circa res humanas, quarum ultimum finem politica considerat. Nam ultimum finem totius universi considerat scientia divina, quae est respectu omnium principalissima.« Die ioscientia divina« ist sicher die Metaphysik und nicht die Offenbarungstheologie, wie auch In Eth. VI, 2 ausweist, wo dieselbe Frage behandelt und die Vorzüglichkeit der »sapientia« (wieder der Metaphysik) bewiesen wird. Anders E. G1LSON, Dante et La Philosophie, Paris 1939, S. 111-112 Anm.; ich sehe keine Notwendigkeit, in den Kontext das andere Genus der christlichen Theologie hineinzubringen, zumal Thomas im Ethikkommentar auch sonst nicht die Theologie, sondern die „Wahrheit« dem Philosophen entgegenstellt, wie besonders im X. Buch, z.B. 10 n. 2080 und 2086; 13 n. 2133. 44 In Eth. X, 11 n. 2101: „ ... felicitas speculativa, ad quam tota vita politica ordinatur, dum per pacem, quae per ordinationem vitae politicae statuitur et conservatur, datur hominibus facultas contemplandi veritatem.« Auch zur reinen Betrachtung sind ferner die •necessaria vitae« erforderlich, In Eth. X, 13 n. 2127-2128 u. ö. 45 In Eth. X, 10 n. 2095-2096 u. ö. 48 Sent. IV, 49, 1, 1 so!. 3 ad 1: •Assecutio finis quem intellectus practicus intendit potest esse propria et communis, inquantum per intellectum practicum aliquis se et alios dirigit in finem, ut patet in rectore multitudinis. Sed aliquis ex hoc quod speculatur ipse solus dirigitur in speculationis finem. lpse autem finis intellectus speculativi tantum praeeminet bono intellectus practici, quantum singularis assecutio eius excedit communem assecutionem boni intellectus practici.« 47 Der Satz „bonum commune est melius quam bonum unius« ist mit der Einschränkung zu versehen „si utrumque in eodem generec; dazu vgl. die (umstrittene) Studie von E. KuRZ, Individuum und Gemeinschafl beim hl. 7homas von Aquin, München 1932. Zur ganzen Kontroverse um die thomistische Lehre vom Gemeinwohl vgl. A. VERPAALEN, Der Begriff des Gemeinwohls bei 7homas von Aquin, Heidelberg 1954; die Arbeit gibt den Status quaestionis, der sich bis heute nicht wesentlich verändert hat.

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zu lassen, so daß sich die Politik in einem anderen vollendet als in ihr selbst48 • Aber wieder zeigt sich die unaufhebbare Doppelheit des menschlichen Seinkönnens, die sich nicht in einer umfassenden Einheit begreifen läßt. Wie einerseits die moralische Vollkommenheit nicht von der spekulativen abhängt, so ist andererseits die spekulative »Tüchtigkeit« möglich ohne Ordnung zum »Willen« 49 ; der »Weise« und »Wissende« kann demnach im »Praktischen« zugleich untüchtig sein, ist auf Grund der Weisheit oder der Wissenschaft noch keineswegs »gut schlechthin« 50 • Man könnte hier meinen, daß dennoch in der Gesamtheit der vollkommenen Gesellschaft sowohl die bürgerliche als auch die spekulative Vollendung je in der ihr eigenen Richtung von verschiedenen Individuen erreicht werden könne, daß also in der Gesellschaft als ganzer (in der »Polis«) doch die »Einheit der Vollkommenheit« erreicht werde 51 • Aber da der Einzelne nicht in der Gesellschaft aufgeht und verschwindet, ist diese »politische« Lösung nicht hinreichend; dem Spekulativen bleibt vom eigenen Seinkönnen her der Hinweis auf das moralische Gut, dem Bürger wird als solchem die spekulative Vollkommenheit nicht zuteil, die er nur als Einzelner besitzen kann. In Eth. X, 11 n. 2101 (vgl. Anm. 19, S. 64). Vgl. I-II, 56, 3; die intellektuellen Tugenden sind deshalb nur Tugenden »secundum quid«, vgl. S. 161. 50 In Eth. VI, 6 n. 1191-1192 werden Thales und Anaxagoras als Beispiele für die praktische Untüchtigkeit von "Weisen« angeführt. - Wie aber besonders In Eth. X, 12 n. 2120 hervorhebt, hört auch der „Weise« nicht auf, »Mensch« zu sein: „ ... si homo speculativus indigeat exterioribus rebus, hoc erit inquantum est homo indigens necessariis, et inquantum convivit pluribus, quos interdum oportet iuvare, et inquantum homo contemplativus eligit vivere secundum virtutem moralem. Et sie indigebit talibus ad hoc quod humaniter conversetur.« Man kann demnach aus der Unabhängigkeit der spekulativen Tugend von der moralischen nicht ohne weiteres schließen, daß spekulative Vollkommenheit für den Menschen ohne »moralische« möglich ist. Dies gilt gegen H. V. JAFFA, Thomism and Aristotelianism. A Study of the Commentary by Thomas Aquinas on the Nicomachean Ethics, Chicago 1952, S. 31: " ... it remains true, as Thomas explicit!y says, that as far as natural morality is concerned, the highest perfection is possible without moral virtue.« Daraus folgert Jaffa S. 32: „ßut if it is true that the highest human good is possible without moral virtue, then there is no moral obligation to be morally virtuous binding on those who can attain the highest good without moral virtue.« - Da Thomas nie explizit sagt, die höchste Vollkommenheit sei bei einem konkreten Menschen ohne moralische Tugend möglich, und ferner den Weisen, sofern er Mensch ist, nicht vom menschlich-moralischen Leben ausnimmt, scheinen mir beide Aussagen Jaffas nicht Thomas' Auffassung von natürlicher Moral zu treffen. 51 Dies dürfte der Ansicht des Aristoteles entsprechen, da vor allem die Maßgeblichkeit des »Politischen« (wie sie schon im ersten Kapitel der Nikomachischen Ethik hervorgehoben wird) erst von hier aus voll gewährleistet ist. Vgl. dazu ]. RITTER, Das bürgerliche Leben. Zur aristotelischen Theorie des Glücks, in: Vierteljahrschrifi für wissenschaftliche Pädagogik 32 (1956) S. 60-94. 48

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Theologie als praktisdte Wissensdtafl:

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Im konkreten Dasein, wie es im Blickfeld der Moralphilosophie steht, sind beide Vollkommenheiten von dem Einzelnen zugleich nicht zu verwirklichen; dennoch ist er zugleich auf beide hingewiesen, da sie immer seine eigenen Möglichkeiten sind, aus seinem wesensmäßigen Seinkönnen sich ergebend. Die »politische« Lösung des Zwiespaltes ist nicht hinreichend, ihn zu beseitigen. Das konkrete Dasein zeigt sich als wesentlich beschränkt; zwar weit geöffnet zum Seienden, aber nicht fähig zur völligen Erfüllung seiner Offenheit; befähigt nur zu einem von ihm selbst her »Unvollkommenen«, wie es gerade die Bedingungen des »gegenwärtigen Lebens« zulassen. Bloßes Philosophieren scheint für Thomas unter einem fast »tragisch« zu nennenden Aspekt der Endlichkeit zu stehen - sofern es sich als abschließendes Wissen setzt. Aber der Theologie ist es möglich, diesen Aspekt zu verändern52 •

5.

KAPITEL: THEOLOGIE ALS PRAKTISCHE WISSSENSCHAFT

§ 1: Allgemeine Charakteristik der Moraltheologie Die Theologie gründet sich auf die Offenbarung, durch die dem Menschen ein Wissen »eingeprägt« ist, wie es Gott von sich selbst hat1 • Dieses Wissen handelt also von Gott, und von anderem in der Hinordnung, die es zu Gott als dem Ursprung und Ziel hat2 • Das außergöttliche Seiende, das die Theologie in den Blick nimmt, betrachtet sie daher grundlegend als das von Gott Geschaffene, in dem sich die göttliche Weisheit darstellt; auch ihre Betrachtung des Geschöpfes zeigt vorzüglich Gott als das Urbild (exemplar) alles Seienden3 • In dieser Hinsicht zeigt sich nun auch der Mensch als »Darstellung« Gottes, jedoch in einer ausgezeichneten Weise. Denn, wie aus der göttlichen Macht Werke nach Gottes Willen hervorgehen, so ist auch der Mensch durch seinen vernünftigen Willen Vgl. In Eth. 1, 9 n. 113: »Loquitur enim in hoc libro philosophus de felicitate, qualis in hac vita potest haberi. Nam felicitas alterius vitae omnem investigationem rationis excedit.« Ib. 10 n. 129: „unde in praesenti vita non potest esse perfecta felicitas«. Ib. 15 n. 180: »Est notandum quod philosophus non loquitur hie de felicitate futurae vitae, sed de felicitate praesentis vitae ... « Ib. 16 n. 202: „ ... tales dicimus beatos sicut homines, qui in hac vita mutabilitati subiecti non possunt perfectam beatitudinem habere.« - Der »tragisdte« Aspekt wird natürlidt im berühmten Text SCG III, 48 besonders deutlidt. 1 1, 1, 3 ad 3. - Das Folgende ist eine zusammengefaßte Skizze der Theologie als „praktisdter Wissensdtafl:«. Entspredtend der Absidtt dieser Untersudtung sind die Belege knapp gehalten; es wäre ein Leidttes, sie zu vermehren, dodt würde Vollständigkeit nidtts zum jetzigen Zweck beitragen. 2 1, 1, 7. 3 Vgl. 1-11 pro!. 52

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Ursprung von selbstmächtigem Wirken, ist »Herr seiner Akte«, und in diesem Sinne ist er »Bild« Gottes4 • Die Theologie, die in der Fähigkeit des Menschen zur eigenmächtigen Bestimmung der Offenheit seines Seinkönnens gerade seine Gottebenbildlichkeit sieht, die besondere Weise, wie er Geschöpf ist, erkennt damit zugleich das Aufgegebensein dieses Sich-Bestimmens als von Gott stammend. Das Gut und Böse des Handelns mißt sich an einem Maße, das von Gott vorgesetzt ist; die Handlungsregel der Vernunft regelt in Kraft des ewigen Gesetzes Gottes, ist von diesem gegründet5 • Durch die Erfüllung dieses ewigen Gesetzes in seinem vernünftigen Tun ordnet sich der Mensch dem Gesamtplan des Schöpfers ein, der die Schöpfung als gegliedertes Ganzes der Darstellung seiner Weisheit zugeordnet hat. Wie nun die Schöpfung als Ganzes und jedes einzelne Geschöpf, von Gott ins Sein gerufen, nun zu diesem Sein hin ist und in diesem Hin-zum-Sein sich zum Ursprunge des Seins, zu Gott, zurückwendet als zum vollendenden Ziel, so ist der Mensch auch in der besonderen Weise seines Vermögens, zu sein, hingewiesen auf Gott als sein vollendendes Ziel6 • Sein gesamtes Tun bekommt den Sinn einer »Rückkehr« zu Gott, Rückkehr des ursprünglich von Gott Ausgegangenen, oder einer Bewegung zum Ziele Gott, die aus einer Bewegung vom Ursprung Gott herkommt7 • So erkennt die Theologie in ein und derselben Perspektive - von Gott her - das gegründete Wesen und dessen gründendes Tun; die geschaffene Menschennatur und das Gesetz ihrer Bestimmung; die Einordnung in das geordnete Ganze und die besondere Weise dieser Einordnung. So fällt Wirkbares und Nichtwirkbares unter die eine Wissenschaft. Als Wissen von Gott und von dem Gottgeschaffenen ist sie natürlich zunächst und vorzüglich spekulativ. Wo aber aus der Sicht von Gott her der Bereich des menschlichen Handelns in den Blick kommt, und zwar als einer, der von Gottes Gesetz her der Regel untersteht, ist ihr Betrachten zugleich ein »mit Betrachten Ordnung Erwirken«: sie wird in diesem Bereich zur praktischen Wissenschafts. Dabei wird sie durch den Unter1-11, prol.; Erläuterung des Begriffs 1, 93. 1-11, 19, 4. 1 Besonders kräftig sind diese Gedanken ausgedrüdtt SCG III, 1, 17 und 25. 7 Nach M. D. CHENu, Das Werk des hl. 7homas von Aquin, Heidelberg 1960, S. 343 u. ö. liegt das neuplatonische Schema von •exitus« und •reditus« dem Plan der Summa theologiae zu Grunde. Dagegen hat A. HAYEN, Saint 7homas et la Vie de l' Eglise, Löwen 1952, S. 79-98, zu Recht bemerkt, daß die Summa theologiae, im Gegensatz zum Scriptum, das Schema nicht mehr berüdtsichtigt, sondern nur vom (aristotelischen) Bewegungsbegriff her aufgebaut ist. - Allein, in unserem Zusammenhang spielt dieser Unterschied keine Rolle. 8 1, 1, 4: Der praktische Charakter der Theologie wird hier keineswegs bestritten, sondern eingeräumt, wie auch Sent. 1 Prol. 3 sol. 1. 4

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schied von »Spekulativ« und »praktisch« so wenig entzweit wie das Wissen Gottes selbst - und auch in diesem kann man den Unterschied »mit voller Wahrheit« ansetzen 9 ; aber das ist bei Gott ein Ansatz aus der Analogie, die aus der Mannigfaltigkeit der Wirkung heraus der Ursache mannigfaltige Namen zuspricht1o. Wesenhaft ist es ein und dasselbe Wissen, mit dem Gott - spekulativ - sich selbst und - praktisch die Geschöpfe weiß 11 • Theologie als »göttliche« Wissenschaft hat teil an dieser Einheit; ist in ihr doch das göttliche Licht wirksam, das die Kraft hat, das menschlich nur verschiedenartig zu Wissende in einem Blick zu durchdringen12 . Vielleicht kann es der menschlichen Vernunft - wenn auch nur »in wenigen Menschen, in langer Zeit und unter Beimischung von vielen Irrtümern«1a - gelingen, einiges wenige von dem Gesamtzusammenhang zu ergreifen, welchen die Theologie offenlegt. Sie kann es auch dann nur in der Verschiedenartigkeit der mannigfachen philosophischen Disziplinen, in der Vielfalt der Perspektiven, die aus der Vielfalt menschlichen Verhaltens sich ergeben. Vom Standpunkt des Menschen aus ist die Einheit der Zusammenschau des Verschiedenartigen, die das je Besondere mitumfaßte, als Einheit nicht erreichbar. Vollends unerreichbar ist aber dem natürlichen Verstehen die allein aus der Offenbarung bekannte Tatsache, daß dem Menschen ein Ziel von Gott gesetzt ist über alles naturhafte Vermögen hinaus: die unmittelbare Gottesschau, in der alles menschliche Seinkön:nen zugleich in höchster Weise erfüllt ist14 • Wenn Gott dem Menschen ein solches Ziel gesetzt hat, so ist das Wissen darum von höchster praktischer Bedeutung: es ist »heilsnotwendig«. Denn erst die Kenntnis des Zieles befähigt, Streben und Tun in der rechten Weise zu ordnen; vom äußersten Seinkönnen nur kann das Maß genommen werden, an dem das hier und jetzt zu Tuende zu messen ist 15. Zugleich ist aber ersichtlich, daß ein Ziel, das über die Natur hinaus liegt, nicht mit den Kräften der bloßen Natur erreicht werden kann. Es ist Ver. 3, 3. Nach der Doktrin von 1, 13; das ist der Grund, warum aus Thomas' Darlegungen zum Spekulativen und Praktischen in Gott nur begrenzte Schlüsse auf seine Lehre hinsichtlich der spekulativen und praktischen Wissenschaft möglich sind, vgl. Anm. 88 und 89, S. 51-52. 11 1, 14, 16 ad 3. 12 Sent. 1 Pro!. 2; 1, 1, 4: » ••• una existens, se extendit ad ea quae pertinent ad diversas scientias philosophicas ... «; ausdrücklich ist das anläßlich des Unterschiedes von spekulativem und praktischem Wissen gesagt. 13 1, 1, 1. u Vgl. dazu Kap. 8. 15 1, 1, 1; vgl. den (in der Tugendlehre öfter zitierten) Satz 1-11, 55,3: " ... virtus cuiuslibet rei determinatur ad ultimum in quod res potest, ut dicitur in 1 De caelo ... « 8

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notwendig, daß Gott, wenn er das Ziel setzt, dem Menschen Hilfe leistet, um das Ziel zu »Wirken«. Dies kann nicht in einem äußerlichen Sinne geschehen, daß etwa Gott unmittelbar selbst »wirken« würde, was der Mensch erwirken soll - es wäre dann nicht der Mensch, der sein Seinkönnen erfüllte; sondern in der Weise, daß dieses Seinkönnen selbst, als des Menschen eigenes, erhöht und vervollkommnet, seinem übernatürlichen Ziel zugemessen, in »Proportion« dazu gesetzt wird18• Das bedeutet, daß nicht die Natur des Menschen verändert wird, so daß er schließlich nicht mehr Mensch wäre, sondern daß ihr Kräfte beigegeben werden, die sie von sich aus nicht erwerben kann. »Zu eigene können diese Kräfte dem Menschen sein, sofern sie »Verfassungen« seiner natürlichen Vermögen sind. So bedarf der Mensch der erhöhenden Gnade, die nicht eine beliebige göttliche Hilfe ist, sondern dem menschlichen Seinkönnen zugepaßte und zugeeignete17 • Und da menschliches Tun ausgerichtet wird durch Tugend, wird die Begnadung des Menschen vorzüglich in der »Eingießung« solcher Tugenden bestehen, durch die er eine unmittelbare Zuordnung zum gottgegebenen Ziel erhält. Sofern Gott selbst es ist, den der Mensch in seinem Wirken sich zuzueignen strebt, und jene Tugenden ihn unmittelbar zu Gott hinordnen, heißen sie »göttliche« oder theologische Tugendenis. Aber sind das »Zusätzliche« Vervollkommnungen über die Natur hinaus, welche die eigentlich übernatürliche Angemessenheit des Wirkenden zum zu Erwirkenden herstellen, so ist doch gleichzeitig auch jenes Tun, dem die natürlichen Tugenden zugeordnet sind, unter dem übernatürlichen Gesichtspunkt neu zu verfassen. Denn das absolute Maß des 1'.ußersten muß für alles Tun des Menschen maßgeblich, ·auch das »natürliche« Tun ihm zugemessen sein. So ist es erforderlich, daß auch die »natürlichen« Tugenden des Menschen ihm von Gott in übernatürlicher Weise neu ein1-II, 62, 1: »Et quia huiusmodi beatitudo proportionem humanae naturae excedit, principia naturalia hominis, ex quibus procedit ad bene agendum secundum suam proportionem, non sufficiunt ad ordinandum hominem in beatitudinem praedictam. Unde oportet quod superaddantur homini divinitus aliqua principia, per quae ita ordinetur ad beatitudinem supernaturalem, sicut per principia naturalia ordinatur ad finem connaturalem ... « 17 Audi die aktuelle Gnade, die ein „ßewegenc Gottes ist, ist als »motus« der Seele zu »eigen«, als ihr Akzidens, 1-II, 110, 2; aber die habituelle wird als „qualitas« (ib.) zum inneren Prinzip weiteren Tuns (vgl. Text Anm. 16). Dem steht nicht entgegen, daß die Gnade selbst - das »lumen gratiae« - wieder den eingegossenen Tugenden vorausliegt; denn ebendasselbe Verhältnis besteht ja auch zwischen dem »lumen naturalis rationisc und den natürlichen Tugenden, 1-11, 110, 3. 18 1-11, 62,1: „Et huiusmodi principia virtutes dicuntur theologicae: turn quia habent deum pro obiecto, turn quia a solo deo nobis infunduntur, turn quia sola divina revelatione in sacra scriptura huiusmodi virtutes traduntur.« 18

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gegossen und nicht in dem unvollkommenen Zustand belassen werden, wie sie im konkreten Verhalten eingelernt und erworben sind; denn darin sind sie nur so weit vervollkommenbar, als das je vorkommende Material des Tuns eine Einübung zuläßt19• Der gesamte Bereich des naturhaft möglichen Tuns ist dem Bereich eingeordnet, der sich vom übernatürlich vorgestellten Ziel her eröffnet; das gesamte Seinkönnen des Menschen wird diesem Höchsten durch die Gnade Gottes zugemessen, indem nicht nur besondere Tugenden, die unmittelbar zu Gott hinordnen, eingegossen werden, sondern auch die natürlich erwerbbaren »moralischen« Tugenden, in einer dem erhöhten Ziele angemessenen Gestalt20 • Der ganze Mensch wird in der übernatürlichen Zielsetzung erfaßt, und der ganze Mensch bedarf der übernatürlichen Erhöhung. So gilt denn audi. für jedes einzelne Tun, daß es am übernatürlichen zu messen ist; jedes einzelne Tun ist »heilsbedeutsam«. Die Offenbarung lehrt, daß die übernatürlidi.e Heilsordnung die faktische Bedingung jeglichen menschlichen Daseins ist. Jegliches menschlidi.e Dasein fällt dann auch unter eine Regel übernatürlidi.en Charakters, weldi.e das eigentliche Maß des Tuns setzt. Diese Regel zu wissen kommt nur der Theologie zu; nur sie hat die unter letztem Gesichtspunkt maßgebende Kenntnis vom menschlichen Handeln, sie kennt es in seiner letzten Bedeutung. Sie ist deshalb das eigentlich »konkrete«, das wahrhaft »Tatsächliche« eröffnende Wissen21 • Aber dieses wahrhaft Tatsächliche, das die Theologie eröffnet, liegt grundsätzlich jenseits des »gegenwärtigen Lebens«, in dem sidi. die menschliche Natur als solche aufhält22 • Und wenn die Natur durch ein höheres Seinkönnen, das ihr eingegossen ist, ihr übernatürliches Ziel wirkt, so hört sie nicht auf, menschliche Selbst wenn sie >vollkommen« erworben würden, bestünde dodi nodi nidit die >Angemessenheit« zum letzten Ziel sdiledithin, sondern nur eine >perfectio secundum quid«, 1-II, 65,2; daher ist ihre Neuverfassung in jedem Falle notwendig, 1-II, 63, 3. Die eingegossenen moralisdien Tugenden sind stets .vollkommen« anwesend, selbst wenn sidi das nicht in der aktuellen Ausübung der Tugend zeigt, 1-11, 65, 3 ad 3; ib. 66, 2 ad 2. 20 Die »göttlidien« Tugenden allein sind nidit genug, 1-11, 65, 3 ad 2: „ ... ad hoc quod actus inferioris potentiae sit perfectus, requiritur quod non solum adsit perfectio in superiori potentia, sed etiam in inferiori; si enim principale agens debito modo se haberet, non sequeretur actio perfecta, si instrumentum non esset bene dispositum.« - Zur Frage der eingegossenen moralisdien Tugenden allgemein vgl. G. BuLLET, Vertus morales infuses et vertus morales acquises selon saint Thomas d'Aquin (Studia Friburgensia 23), Freiburg/Sdiweiz 1958. 21 Es ist verständlidi, daß sidi von hier aus das Problem einer >diristlidien« Moralphilosophie in voller Sdiärfe stellt, so vor allem bei J. Maritain, vgl. Anm. 46-47, S. 99-100. 22 Vgl. Anm. 52, S. 71. 19

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Natur zu sein und als solche zu handeln; das übernatürlich überformte Handeln findet in eben jenem Umkreis statt, in dem sich schon natürliches Handeln bewegt. Was da an umgebendem Seiendem begegnet, gewinnt unter dem übernatürlichen Aspekt eine neue Bedeutung, aber nicht ein neues Wesen. Es ist vom Wesen her nicht einzusehen, daß die »heilsbedeutsame« Handlung ein anderes Aussehen haben könnte als die natürliche. Es fragt sich jedoch, ob nicht auch im »gegenwärtigen Leben« unter der Voraussetzung des jenseitigen Zieles eine besondere, konkret das »Aussehen« eines Handelns verändernde Regelung stattfindet, in der die Bedeutung des Handelns für das Heil eigens gesetzt wird. Tatsächlich greift die Offenbarung in den Bereich des diesseitig umgebenden Seienden gestaltend und regelgebend ein. Sie belehrt den Menschen über konkret zu Tuendes, das geeignet ist, die Hinordnung auf das übernatürliche Ziel im Diesseitigen zu wirken. Sie schreibt besondere Akte vor, die sich aus dem Wesen und der Struktur des natürlichen Seinkönnens nicht ergeben, aber auch nicht aus dem offenbaren Grundriß übernatürlicher Verfassung ableiten lassen: das »positive göttliche Gesetz« gestaltet die geschichtliche Umwelt konkret, schränkt den offenen Bereich des zu Tuenden ein, liefert bestimmte Regeln für die Bestimmung menschlichen Seinkönnens23, Als geschichtlich beschränkte und beschränkende Satzung ist es wandelbar, und es entfaltet sich in den Stufen des »Alten« und des »Neuen Gesetzes«. In seiner Stufung hat es erzieherischen Sinn und führt zu einer wachsenden Vollkommenheit, die »positiv« zum Höchsten führt24. Es bleibt bestehen, daß dem Menschen schon »von Natur aus« - auf Grund seiner Geschöpflichkeit - die Einordnung in den göttlichen Gesamtplan aufgegeben ist. Die positive Gesetzgebung Gottes hat diesem Grundplan gegenüber den Charakter einer geschichtlich einschränkenden Festlegung; ihre Heilsnotwendigkeit ist bedingt durch Setzung, nicht durch das Wesen des Gesamtplanes, und sie läßt weite Bezirke des konkreten Handelns offenstehen. Aber der Gesamtbereich - des Festgelegten und des der weiteren Bestimmung Offenen - steht in Zuordnung zum umfassenden letzten Ziel. Von ihm muß nun insgesamt gelten, daß kein Stoff, der in ihm begegnet, von sich aus so beschaffen ist, daß seine Behandlung zur höchsten Vervollkommnung führen könnte; nur in der Ermächtigung durch das höhere Seinkönnen übernatürlicher Art wird der handelnde Umgang mit dem Stoff des Wirkens übernatürlich bedeut1-11, 99, 3 ad 2: es handelt sidi um »determinationesc der »praecepta legis naturae communiac - hier im Alten Bund; audi der Neue Bund kennt soldie (wenn audi in geringerem Maße), 1-11, 108,2. 24 1-11. 91, 5.

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sam. Allein, diese Bedeutsamkeit darf nicht im Sinne einer Wirkursächlichkeit verstanden werden, bei der eine unmittelbare Zuordnung von Ursache und Wirkung auf gleicher ontischer Ebene zugrunde liegen muß. Hier ist die Zuordnung insgesamt eine positive, durch Gnade bestehende: das »Diesseits« ist dem „Jenseits« vorgeordnet als Stätte vorbereitender Tätigkeit, welche die Höchstvollendung »Verdientc 25 • Die Theologie zeigt also eine übergreifende und die natürliche über-höhende Gesamtordnung des Handelns auf, deren dargestellte Charakteristika in fünf Punkten zusammengefaßt werden können: 1. Es gibt ein übernatürliches Ziel - die unmittelbare Gottesschau - das die der menschlichen Natur von ihr selbst her eigenen Maße übersdireitet. 2. Die Natur wird gnadenhaft zu einem Zustand erhoben, in dem ihr ein Maßverhältnis zum übernatürlichen letzten Ziel zuteil wird. 3. Das Wirken der begnadeten Natur im diesseitigen Bereich wird dem letzten Ziel (positiv) als Verdienst zugemessen. 4. Der Bereich diesseitigen Handelns wird positiv-geschichtlich eingeschränkt durch eine positive, geschichtlich sich entfaltende göttliche Satzung. 5. Das gesamte menschliche Tun steht unter der maßgebenden Regel des göttlichen Gesamtplanes als des ewigen göttlichen Gesetzes.

§ 2: Die Einheit der theologisch-praktischen Sicht und ihre faktische Grenze Die unmittelbare Zuordnung, welche die natürliche praktische Vernunft zwischen Handelndem, Handlung und Ziel des Handelns voraussetzt und feststellt, besteht unter theologischem Aspekt nicht mehr in gleicher Weise. Das unmittelbar Gewirkte ist immer noch erst auf das letzte Ziel zu beziehen und hat diese Beziehung nicht schon in seinem Wesen bei sich. Andererseits wird jetzt das gesamte Seinkönnen des Menschen auf ein einheitliches Ziel hin zusammengefaßt. Einmal ist die Gottesschau, zu der der Mensch als Höchstem gerufen ist, die vollkommene Erfüllung der spekulativen Vernunft; in der spekulativen Wissenschaft, wie sie in diesem Leben möglich ist, kann sie weder erreicht noch auch nur »nachgebildet« werden, es sei denn in einer Vielzahl von Akten, und der Träger dieser Akte bleibt auch dann noch immer auf die Praxis als auf einen anderen Bereich hingewiesen, in dem es eine andersartige Erfüllung gibt28 • Nun ist aber auch die Praxis demselben Ziel eindeutig zugeordnet, 1-11, 5, 7. Vgl. 1-11, 3, 2 ad 4; 1-11, 3, 5 und 6 (dazu Kap. 8 § 2 und Kap. 9 § 2); vgl. oben S. 70 und Anm. 50.

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sei es nur als Mittel, seine Zuteilung zu »verdienen«; das Streben selbst, in der Mannigfaltigkeit des umgebenden endlichen Seienden nicht zur Ruhe kommend, findet seine volle Erfüllung durch das substantielle höchste Gut. In der Anschauung Gottes begegnet, sofern in ihm die Fülle allen Seins begegnet, zugleich alles, was überhaupt begegnen kann, und nicht mehr als ein in endlichen und mannigfaltigen Akten zu behandelndes, sondern nur noch als zu schauendes27 • Aber auch das diesseitige, »verdienende« Handeln ist nicht mehr nach den geschiedenen Bereichen des »Privaten« und des »Gemeinschaftlichen« aufgespalten. Gott, als höchstes Ziel aller Schöpfung - wenn auch in je verschiedener Weise - ist das Gemeinsamste, das universelle Gut schlechthin28 , und da von ihm als dem Schöpfer der Handelnde in seinem Sein selbst als seinem Tiefsten ergriffen ist, ist das Handeln in seinem Tiefsten nicht mehr nach einem »für sich« und „für andere« zu unterscheiden, sondern in einem „für das Ganze« oder »für Gott« zu einen, das zugleich das am meisten eigene, private Gut ist. Alle Vielfalt menschlichen Verstehens von Seinkönnen ist zur Einheit zusammengeführt in dem absolut einenden göttlichen Verstehen dieses Seinkönnens. Im Erfassen des Allgemeinsten und Umfassendsten ist das Eigenste des Jeweiligen erfaßt, sofern dessen Eigensein gerade von diesem her gegründet ist29. Die umfassende Allgemeinheit des Gesichtsfeldes der theologischen Moral bringt keine größere Allgemeinheit im Sinne geringerer inhaltlicher Bestimmtheit mit sich. Dies geschieht schon nicht aus dem Grunde, weil dem Gläubigen, dem das übernatürliche Ziel in seiner umfassenden Weite gezeigt ist, zugleich ja ein bestimmter geschichtlicher Rahmen durch das positive göttliche Gesetz gesteckt wird, in den sein Tun sich einzupassen hat30 . Die Erkenntnis der Theologie nähert sich also weit mehr dem Konkreten der Handlung als die der praktischen Philosophie, der sich die besondere geschichtliche Gestalt konkreten menschlichen Daseins nur als jeweils »erfahrene« zeigt; der Theologie ist die geschichtliche Gestalt des Alten und Neuen Bundes - Gegenstand sicherer Erkenntnis. Natürlich, sie ist »Wissenschaft« und handelt deshalb nicht thematisch vom je Einzelnen, es sei denn als »Beispiel« - als solches hat es auch in der Philosophie seinen legitimen Platz31 • Wo also die Offenbarung nicht ausdrücklich das Einzelne festlegt, befindet sich die theologische Vernunft in einer analogen Lage wie die philosophische, rein natürliche. So bedarf es auch im Leben des Gläubigen wieder der »klugen« Anwen1-II, 2,8 und ib. 3,8. 1-II, 2, 8 ad 2; 1-11, 21, 4. 2 e Vgl. 1, 60, 5; I-II, 109,3. 30 I-II, 90,4; vgl. Anm. 23, S. 76. si 1, 1, 4 ad 2; Sent. Pro!. 3 so!. 2. 27

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dung der Regel auf das hier und jetzt begegnende zu Tuende; wobei die Regel das erkannte göttliche Gesetz ist, die Klugheit in der vollkommenen Gestalt der »eingegossenen« Tugend wirkt. Das befehlende Vorschreiben gibt dem Handeln seine letzte Bestimmtheit in Kraft einer vorausgesetzten Neigung des Strebevermögens, das nunmehr in einer übernatürlichen Tugend verfaßt und ausgerichtet ist. Auch hier gibt es die Möglichkeit einer »Konnaturalität« - aus Gnade - zum übernatürlich Gebotenen, welche die Stufen der Ableitung oder der Determination, wie sie sich im Verstehen abzeichnen, im Vollzug der Hinneigung zum Handeln überspringen läßt3 2 , Auch hier gibt es schließlich die Mannigfaltigkeit der Weisen des Begegnens mit vorliegendem Seiendem, aus der Gestaltungen unableitbarer Art hervorgehen können, die nur durch »Erfahrung« richtig zu beurteilen sind; es gibt Lagen, deren Bewältigung nicht durch die - wenn schon nicht in allgemeiner Unbestimmtheit, so doch in der Allgemeinheit eines für viele Vorgeschriebenen und daher auf das »Zumeist« Gemeintenaa - gegebene Regel des positiven göttlichen Gesetzes möglich ist. Erfahrung gehört auch zur theologischen Moral34 ; nur daß sie sogleich unter weitgehend bestimmten Maßstäben, unter einer Geschlossenheit von Regeln stattfindet, welche die natürliche Wissenschaft nicht in dieser Weise vorgegeben bekommt: sie muß sie an Gegebenheiten faktischer Art erst bilden. Auch bei der Offenbarung liegt natürlich eine Faktizität vor, jedoch in grundsätzlich anderer Weise; die positive, „faktische« Regel ist durch ihren zum notwendigen Heil hinordnenden Charakter für das Wissen »notwendig« und liegt der Erfahrung vorausas. Vom göttlichen Licht, an dem die Theologie teil hat, heißt es, es dringe durch seine Wirksamkeit in Bereiche vor, die menschlich nur verschiedenartig gewußt werden können, und es reiche auch hin bis zum je Besonderen, »Partikularen«3 6 • Aber die Wissenschaft, die am göttlichen Licht teil hat, wird vom Menschen doch in menschlicher Weise besessen, und so I, 1, 6 ad 3 wird sie dem „donum sapientiae« zugesdtrieben; die Gaben des Heiligen Geistes vermitteln einen übernatürlidten „instinctus«, I-II, 68, 2. 33 Das göttlidte Gesetz ist gegenüber dem Naturgesetz bestimmter, vgl. I-II, 91, 5 ad 3: „ ... lex naturalis dirigit hominem secundum quaedam praecepta communia ... !ex divina dirigit hominem etiam in quibusdam particularibus«, jedodt nidtt in allem: das Neue Gesetz, als das „Gesetz der Freiheit«, läßt den Bereidt der Handlungen, »quae non habenr necessariam contrarietatem vel convenientiam ad fidem per dilectionem operantem«, überhaupt frei: »Et sie unicuique liberum est circa talia determinare quid sibi expediat facere vel vitare«, I-II, 108, 1; für die wenigen, die den Stand der Vollkommenheit zu wählen vermögen, gibt das Gesetz nur »Ratsdtläge«, I-II, 100, 2. 34 In dem Sinne, wie sie zur >prudentia« gehört, II-II, 47, 3 ad 2. 35 Vgl. I-II, 91, 4 (Notwendigkeit der !ex divina). 38 Nadt Sent. 1 Pro!. 2. 32

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hat sie im logisch gestalteten Aufbau argumentierenden Verfahrens, geformt in Sätzen und vermannigfaltigt im Auseinander des Diskurses, aktuiert in je beschränkter Weise - wie es individuelle und geschichtliche Bedingungen zulassen - immer die Beschränktheit an sich, wie sie Wissen überhaupt von der Natur menschlichen Verstehens her zukommt: eines Verstehens im »gegenwärtigen Zustand« des Menschen37 • So bleibt es auch gebunden an die (wie immer geringe) Allgemeinheit, die jedes begründbare Wissen hier hat; so bleibt es unweigerlich hinter der letzten Konkretion des Einzelfalles zurück. Theologie ist wesentlich nicht in höherem Maße »praktisch-praktisch« als die praktische Philosophie, wenigstens sofern es darum geht, unmittelbar dem Einzelnen das Begegnende zuzumessen38• Nicht weil sie sich dem einzelnen Hier und Jetzt in höherem Maße zuwendet, ist die Theologie konkreteres praktisches Wissen als die Moralphilosophie, sondern weil sie eine bestimmte Geschichtlichkeit aufzeigt, die für alles menschliche Handeln den maßgeblichen Rahmen bildet. Diesem »Ethos der Offenbarung« hat der Einzelne sich zuzumessen, aber die Zumessung des Einzelnen ist nicht mehr ein Akt bloßer Wissenschaft. A.hnlich wie beim individuellen Einzelnen verhält es sich nun auch mit den je individuellen Gestalten des gesellschaftlichen Lebens. Die Offenbarung schreibt nur in beschränktem Bezirke bestimmtes Tun vor, vornehmlich da, wo es um die besonderen Weisen der Gottesbeziehung geht, und selbst dort beschränkt sie sich vielfach auf ein Allgemeines, das zu seiner Erfüllung im Hier und Jetzt noch immer verschiedene Möglichkeiten offenläßt39 , Je mehr aber der theologische Diskurs sich auf das Konkrete hin bewegt in jenem Bereich, der nicht von besonderen konkreten Regelp. der Offenbarung betroffen wird und schon einer natürlichen praktischen Vernunft zur Regelung offensteht, um so mehr nimmt dann ihre Sicherheit ab, um so mehr gewinnt jene Einsichtigkeit an Bedeutung, welche schon der natürlichen Vernunft im Auffinden der Regel des Tuns zugänglich ist. Wo sich der naturhaften Einsicht die Angemessenheit oder Unangemessenheit eines Tuns, ein Gut und Böse für die menschliche Natur zeigt, zeigt es die Theologie zugleich als eingeordnet in Gottes Plan, als Erfüllung des Gottesgesetzes, als verdienstlich in Hinsicht auf das letzte Ziel, als übera7 Vgl. 1, 1,5 ad 2. as J. MARITAIN, a. a. 0. (Anm. 71, S. 44), stellt den philosophisdien »Mora-

listen« die »praktisdi-praktisdien« theologisdien Sdiriftsteller gegenüber, an ihrer Spitze die spanisdien Mystiker. Aber gerade unter dem Gesetz der Freiheit (vgl. Text Anm. 33, S. 79) sind diese »Praktiker« nodi weniger »vorsdireibendc als die Moralisten, und nur in dem Sinne, daß ihre Erfahrung die tatsädiliche Heilssituation betriff!: und nicht nur die »natürlidi« gegebene, kann ihnen ein in höherem Maße praktisdier Sinn zugesprodien werden. ae 1-11, 108, 2 und ad 2.

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einstimmend mit der gottgewollten geschidulichen Gestalt menschlichen Lebens; so fügt sie der natürlichen Erkenntnis von Gut und Böse die letzte Gründung und die konkrete Bezogenheit auf die tatsächliche Heilsordnung hinzu. Aber man kann doch finden, daß diese theologische Einordnung als die hinzukommende auch die »für uns« spätere ist, natürliche moralische Erkenntnis als die »für uns« frühere auch unter der Voraussetzung der Offenbarung sinnvoll im Vollzug menschlicher Vervollkommnung steht. Freilich ist sie nur theologisch in eigentlicher Weise vollendbar, und der Theologie steht es zu, sie in dem ihr eigenen Licht zu prüfen, zu bestätigen oder zu verwerfen, einzuordnen oder auszuweisen.

§ 3: Der Anspruch der Moraltheologie auf die Gesamtheit des praktischen Wissens und die Einschränkung einer philosophischen Ethik Damit erscheint jenes allgemeine Verhältnis wieder, das wir in den beiden Eingangskapiteln zwischen natürlichem Wissen und Glaubenswissen, zwischen Philosophie und Theologie feststellten. Aber im Bereich des Praktischen erscheint es in höchst charakteristischer Weise abgewandelt: 1. Zunächst fällt ein Unterschied in die Augen, der scheinbar mehr äußerer Art ist: im spekulativ Wißbaren gibt es Bereiche von Gegenständen, die mit dem »Heil« des Menschen, dem Sinn der Offenbarung, nichts zu tun haben; man denke an das mathematische oder an das technische Wissen. Sie sind deshalb auch nicht Gegenstände einer möglichen Offenbarung und also nicht »revelabilia«; sie fallen in keiner Weise unter die Zuständigkeit der Theologie40 • Im Umkreis des Praktischen gibt es solche Bereiche nicht. Jerles menschliche Handeln führt ja den Menschen zu seiner Vollendung hin oder davon ab, und wenn »Heil« nichts anderes bedeutet als die höchste Vollendung menschlichen Seins, so ist jede Handlung »heilsbedeutsam« 41 • Jedes Handeln untersteht dem göttlichen Gesetz; ja selbst die eingeborenen obersten Prinzipien menschlichen Handelns, die Regeln der Synderesis zeigen sich theologisch als die Weise, wie der Mensch in seiner Vernunft am Gesetz Gottes teil hat 42 • So ist das göttliche Gesetz für alles Handeln die vollkommene Regel 43. Alles Handeln, der Gesamtbereich des Praktischen, fällt demnach unter die »revelabilia«, der Gesamtbereich des Praktischen gehört unter die Zuständigkeit der Theologie. Vgl. Kap. 2 § 3 und Anm. 22, S. 19. Das göttlidte Gesetz ist deshalb allumfassend, 1-II, 91, 4, jedodt (vgl. Anm. 33, S. 79) nidtt in der Weise, daß es von sidt aus alles determinierte. 42 Vgl. unten Kap. 14 § 2. 43 1-II, 91, 4. 40

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Dagegen läßt sich nicht anführen, daß in der konkret gegebenen Offenbarung - in der »Heiligen Schrift« etwa - nicht schon ein geschlossenes Regelsystem vorliegt, das nun die konkrete Ordnung des Lebens genau vorschreibt4 4. Theologie ist ja nicht bloße Auslegung des Offenbarungsinhalts, sondern argumentierende Wissenschaft, die vom ausdrüddich Geoffenbarten her auch andere Fragen aufwirft und beantwortet, die vom Geoffenbarten als Prinzip diskurrierend zu Folgerungen fortschreitet. Theologie bedient sich desselben Verfahrens wie andere, profane Wissenschaften. Dabei hört sie keineswegs auf, übernatürlich zu sein; denn ihr Diskurs geschieht im übernatürlichen »Licht«, in dem sie alle ihre Erkenntnisse erwirbt. Wenn sich unter diesem »Licht« jenes Gut und Böse zeigt, das dem natürlichen menschlichen Verstehen sich schon erschlossen hat, so zeigt es sich allererst in seiner letzten Gründung und seiner eigentlichen Bedeutung. Der einordnende Diskurs der Theologie erkennt es »eigentlicher« als das naturhafte Verstehen. 2. Es kommt hinzu, daß die Blickrichtung, in der die Theologie sich dem Bereich des Praktischen zuwendet, nicht, wie das im spekulativen Bereich der Fall ist, der natürlichen entgegengesetzt, sondern ihr gewissermaßen gleichgerichtet ist. Natürliches praktisches Wissen geht vom Menschen als dem Handelnden aus, der sein Tun durch Vernunft regelt. Theologie ist aber gerade dann praktisch, wenn sie gleichfalls den Menschen als durch Vernunft handelnden, als »Herrn seiner Akte« begreift 45 • Daß sie es von Gott her tut, bedeutet nicht eine i\nderung der Blickrichtung, sondern eine Erweiterung des Blickfeldes. Die natürliche Hinsicht des praktischen Wissens ist in der Sicht von Gott her enthalten; ihr Blickfeld bedeutet nur einen Ausschnitt aus dem, was.von Gott her in voller Ausdehnung sichtbar ist. Natürliches praktisches Wissen wird in seiner letzten Gründung und auch in seinem natürlichen »Recht« durchschaut; zugleich zeigt es sich aber als beschränkt und in sich selbst nicht genügend, sondern der Vollendung sowohl bedürftig als auch fähig. So wird die natürliche Perspektive von der übernatürlichen voll umschlossen; nichts gibt es im Bereich menschlichen Handelns, was nicht dem Blick von Gott her ebenso offenläge wie dem vom Menschen her, was nicht als zu Regelndes dem theologischen Wissen um das Gesetz Gottes ebenso unterläge wie dem »moralischen« (um die Vernunftregel) 4&. Das gesamte natürliche Das mag aber das Motiv der vorthomistisdien Theologen gewesen sein, die „moralisc lediglidi als untergeordnete philosophisdie Disziplin zu behandeln und keine Moraltheologie in diesem Sinne aufzubauen, wie sie Thomas entwidcelt; vgl. dazu R. GUINDON, Beatitude et 1heologie morale chez saint 1homas d'Aquin, Ottawa 1956, 1. Teil, bes. S. 144-145. 4 s Vgl. S. 72 und Anm. 4. 48 Im Gegenteil: „ ... ubi deficit ratio humana, oportet ad rationem aeternam recurrere,« 1-11, 19, 4. 44

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Verständnis des menschlichen Handelns wird vom übernatürlichen überhöht und vollendet - die gesamte Moralphilosophie wird von der Theologie aufgenommen, eingeordnet und überformt47 • 3. Schließlich ist hier ein drittes Moment anzuführen, welches den gleichen Sachverhalt in anderer Weise nochmals deutlich macht. Wo im spekulativen Bereich natürliche Erkenntnis und Erkenntnis aus dem Glauben am gleichen Gegenstand zusammentreffen, in der Weise, daß in der einen das »Warum« eingesehen, in der anderen das »Daß« gesichert wird, hat die natürliche Erkenntnis einen (relativen) Vorzug, auf dem das Eigenrecht der Philosophie gegenüber der Theologie gründet48. Im Bereich des Praktischen ist aber das „Warum« eines Tuns, von dem her sich die Regel ergibt, immer das Ziel. Nun gibt es im Umkreis natürlicher praktischer Einsicht sicher verstehbare Ziele, die das „Warum« einer Regel zu geben vermögen 49 • Aber das letzte und umfassende „Warum« allen menschlichen Handelns gibt gerade die Offenbarung und die sie erläuternde Theologie. Jener Vorzug des natürlichen Erkennens, der im Spekulativen eine gewichtige Rolle spielt, scheint also im Praktischen völlig verschwunden. Die praktische Theologie stellt gerade in der Linie des Wissens um das »Warum« die Vollendung des natürlichen praktischen Wissens dar. Wo dieses ein Ziel und ein »Warum« antriffi, das ihr einsichtig ist, zeigt die Theologie, daß dieses Ziel ein vorläufiges, die Einsicht in das „Warum« eine sehr begrenzte ist. Sie allein erkennt das letzte »Warum« des Handelns, und so vermittelt sie allein die vollendete Erkenntnis des Handelns in praktischer Absicht. So ist sie beherrschend und formgebend auch für das Verstehen des natürlich einsehbaren »Warum« eines Tuns. Es ist aus all dem deutlich, daß das Verhältnis von philosophischer und theologischer Moral ein ganz anderes ist als das Verhältnis von Philosophie und Theologie im Bereich spekulativen Erkennens. Weder gibt es im Praktischen den Eigenbereich der natürlichen Vernunft, der nicht zum Offenbarungssinn hingeordnet und somit der Theologie verschlossen ist; noch kann von einer Selbständigkeit des natürlichen Standpunktes die Rede sein, die diesen dem theologischen entgegengesetzte und eine eigene Einsichtigkeit in anderer Blickrichtung zustande brächte. Vielmehr ist der natürliche Standpunkt vollständig dem theologischen ein- und zugeordnet. Man möchte hier - und man wird es dürfen - von »Aufhebung« sprechen, in dem bekannten Doppelsinn, den diese Vokabel im philosophischen Sprachgebrauch hat. Denn der natürliche Standpunkt wird Damit bleibt sie natürlich nidit Philosophie (oder »christliche« Philosophie), sondern wird Theologie. 48 Vgl. Kap. 2, § 3. 49 Vgl. Kap. 9 bes. S. 156-157.

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selbstverständlich nicht vernichtet und zum völligen Verschwinden gebracht. Das würde nicht nur den - früher dargelegten 50 - allgemeinen thomistischen Prinzipien stracks zuwiderlaufen, sondern auch dem, was zum praktischen Verstehen der Moraltheologie selbst angemerkt wurde; denn wir sahen schon: wo es um Regeln des hier und jetzt zu Tuenden geht, bedient sich die Moraltheologie weitgehend der natürlichen Vernunft, wenn nämlich eine solche Regel sich im konkret Begegnenden mit natürlicher Einsichtigkeit zeigt, sie zugleich aber von den übernatürlichen Prinzipien her nur als entfernte Schlußfolgerung und mit einem geringen Grade von Sicherheit aufgewiesen werden kann5 1 • Vor allem jedoch zeigt die Theologie, daß die Gottebenbildlichkeit der »Herrschaft über die Akte« eine Eigentümlichkeit des Menschen ist, die nicht erst durch die Begnadung vermittelt, sondern in seiner Natur gegründet ist; daß die gnadenhafte Vollendung die naturhafte Vollendbarkeit voraussetzt. So verlangt die Theologie und setzt voraus die Möglichkeit eines unmittelbaren Verstehens von Gut und Böse, einer unmittelbaren Regelung menschlichen Verhaltens durch die natürliche Vernunft, die Möglichkeit einer natürlichen Sittlichkeit52 • Damit fordert sie zugleich die Möglichkeit einer Moralphilosophie als einer praktischen Wissenschaft. Sofort aber »hebt« sie deren Selbständigkeit wieder »auf«; denn als rein natürlich wäre sie gerade unvollkommen und unzulänglich, und ihr Vgl. Kap. 1, § 3. Vgl. S. 80-81. - Die Bedeutung der natürlidien Vernunft für die sittlidie Erkenntnis wird gerade im Gesetzestraktat der Summa theologiae betont. Das positive gött!idie Gesetz ordnet dem übernatürlidien Ziel zu und ist im Hinblick auf dieses notwendig; sogleich heißt es aber I-II, 108, 2 ad 1 »Sed ad opera virtutum dirigimur per rationem naturalem, quae esi: regula quaedam operationis humanae ... Et ideo in his non oportuit aliqua praecepta dari ultra moralia legis praecepta, quae sunt de dictamine rationis.« Ebenso wird I-II, 100, 1 festgehalten, daß die »praecepta moralia« des (Alten) Gesetzes »pertincant ad legem naturae«, »cum moralia praecepta sint de his quae pertinent ad bonos mores; haec autem sunt quae rationi congruunt; omne autem rationis humanae iudicium aliqualiter a naturali ratione derivatur.« Lediglich im Bereich der unmittelbaren Gottesbeziehung bedarf es einer positiven •instructio divina« (ib.); sonst aber kommt es der natürlidien Vernunft zu, das konkrete sittliche Tun (»opera virtutum«) zu bestimmen, das konkret zu Tuende zu »beurteilen« (iudicare, diiudicare). In dem weiten Bereich, der nicht positiv durch das göttliche Gesetz determiniert ist, wird die Theologie demnach eindeutig auf die natürliche Vernunft verwiesen, sobald sie auf das Partikulare hin argumentiert. 52 Hier ist zu bedenken, daß auch konkret-theologisch eine Zeit der »lex naturae« der Zeit der »lex vetus« und der •lex nova« vorausgeht; für diese Zeit war die »lex vetus« noch nicht notwendig, aus dem (als zweitem genannten) Grunde: „ ... quia adhuc dictamen legis naturae nondum erat obtenebratum per consuetudinem peccandic, I-II, 98, 6 ad 1. - Die „Jex naturae« dieser Zeit wird von Thomas nicht etwa auf eine (übernatürliche) Uroffenbarung gegründet! 50 51

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eigentlidtes Redtt hat sie erst unter dem Lidtt der Offenbarung gewonnen: sofern sie nämlidt im theologisdten Dienst unmittelbar ihrer eigenen Vollendung offensteht. Was in der theologisdt bestimmten Synthese als »philosophisdte Ethik« ersdteinen kann, ist daher sidter ein anderes als das, was sidt aus der bloßen Natur ergäbe. Es bleibt nun zu sehen, wie es damit stehen mag.

6.

KAPITEL: PHILOSOPHISCHE ETHIK IN DER THOMISTISCHEN SYNTHESE

§ 1: Das Problem ethisdter Systematik unter dem absoluten Systemansprudt der Moraltheologie; das »offene« System Der Grundansatz der Philosophie als »ancilla theologiae« in der thomistisdten Synthese bedeutet - wie wir erläutert haben1 - nidtt nur die Unterordnung philosophisdten Wissens unter die Herrsdtaft der theologisdten Wissensdtaft, sondern audt die Bestätigung seines Eigenrechts und die Freigabe zu eigenständiger Systematik. Gerade an der Frage nadt der Systematik zeigt sidt nun am deutlidtsten die Besonderheit der Verhältnisse, die im Bereidt praktisdten Wissens obwalten. »Systematik« des Wissens besagt in diesem Zusammenhang nidtts anderes als die wesentlidte Bezogenheit jeder Einzelerkenntnis von »wissensdtaftlidter« Bedeutung auf eine Gesamtkonzeption, in der ein bestimmtes Verstehen sidt das Ganze seines Gegenstandsfeldes - sei es audt in der Weise eines hypothetisdten Vorgriffs - vor Augen führt; in der Erfüllung dieses Gesamtentwurfs käme das Wissen zu seiner Vollendung2 • Audi die praktisdte Wissensdtaft bezieht ihre Aussagen auf ein vorweg ergriffenes Ganzes und entwickelt ihre Systematik von diesem her: sie versteht und mißt die Handlung am äußersten Seinkönnen des Mensdten, dem sie das konkret zu Tuende je zuordnet. Aber was die natürlidte Vernunft im praktisdten Hinblick als dieses äußerste Seinkönnen des Mensdten ergreifen kann, ist in Wahrheit nidtt das Xußerste, ist nidtt das »wahre Ganze«. Dies zeigt sidt vielmehr erst im übernatürlidten Lidtte der Theologie, von der Offenbarung her. Die Moralphilosophie ist in ihrem eigenen Hinblick nidtt vollendbar, sondern ihr Bereidt ist nur ein Aussdtnitt Vgl. besonders Kap. 2 § 2. Dies ist der aristotelisdie Wissensdiafl:sbegriff, den er besonders in In Post. Anal. 1 entfaltet: wie die einzelne Wissensdiafl: sidi gegen andere durch ihr »Objekt« - ihren Gesiditspunkt - abgrenzt, so ist sie durdi ihre „eigentümlidien« Prinzipien in sidi selbst bestimmt; eine Erkenntnis ist »wissensdiafl:lidic, wenn sie als Konklusion aus den Prinzipien gefaßt ist, die das »Ganze« bereits enthalten. - In der praktisdien Wissensdiafl: ist das Ziel Prinzip der Ganzheit. 1

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aus einem größeren Zusammenhang, den allein die Theologie aufschließen kann. Die wahre Struktur des Ausschnitts läßt sich nicht aus diesem selbst, sondern erst aus dem wahren Ganzen, in das er eingeordnet ist, vollständig bestimmen. Hier schon zeigt sich, wie sehr die Lage der praktischen Wissenschaft im Verhältnis der Synthese von der einer spekulativen Disziplin verschieden ist. Von einer solchen - auch von der Metaphysik - läßt sich keinesfalls sagen, daß sie »in ihrem eigenen Hinblick« durch die theologische Erkenntnis vollendet werde; diese hat ja vielmehr einen ganz entgegengesetzten Hinblick. Auch kann dort nicht von einem »Ausschnitt« die Rede sein, wenn der beschränkten natürlichen Sicht die umfassende theologische gegenübergestellt werden soll; denn es müßte wiederum der Hinblick als solcher theologisch umfaßt und vollendet werden können. Vor allem aber hat der auf allgemeine, abstrakte Erkenntnis abzielende Charakter des spekulativen Wissens zur Folge, daß es nicht auf die Geschichtlichkeit des Erkannten bezogen ist und so auch gar nicht von Geschichtlichkeit - sei es auch die ausgezeichnete der Offenbarung und der Heilsgeschichte - abhängen kann. Andererseits weist es nun die Geschichtlichkeit - und gerade die der Offenbarung - auch nicht ab, sondern ist trotz der »Geschlossenheit« der Systematik immer noch zu ihr hin »offen«. Ein hervorragendes Beispiel für dies Verhalten gibt die thomistische Behandlung des Problems der »Ewigkeit« der Welt3 • Die Moral ist aber gerade auf das Tatsächliche bezogen und auf dessen konkrete Geschichtlichkeit; und wenn diese wesentlich bestimmt ist durch die übernatürliche Hinordnung des Menschen zu Gott, durch die gnadenhafte Oberformung und Neuverfassung men~chlichen Lebens, durch die geschichtliche und geschichtsgestaltende Gesetzgebung Gottes - wenn also menschliche Geschichte tatsächlich Heilsgeschichte ist: so kann das nicht ohne Bedeutung auch für die natürliche Moralwissenschaft sein. Wollte sie sich in jenem Umkreis einschließen, welcher der Natur rein als solcher zugänglich ist, so würde sie die Geschichtlichkeit der Offenbarung abweisen müssen; sie müßte eine »naturhafte« Geschichtlichkeit als die tatsächliche ansetzen, die in Wahrheit von der übernatürlichen aufgehoben ist4 • Unter der Voraussetzung der Offenbarung, unter den BedinDie Argumentation von 1, 46, 2 bringt beide Gesidttspunkte „klassisch« zur Darstellung: „Demonstrationis enim principium est quod quid est. Unumquodque autem secundum rationem suae speciei abstrahit ab hie et nunc. Unde demonstrari non potest quod homo aut caelum aut lapis non semper fuit.« - Der die Zeitlidtkeit bestimmende und somit „gesdtidttlidte« Wille Gottes kann nur durdt Offenbarung bekannt werden: »Potest autem voluntas divina homini manifestari per revelationem, cui fides innititur. Unde mundum incepisse est credibile, non autem demonstrabile vel scibile.« 4 Hierin ist die eigentlidte „Heterodoxie« der ioreinen« Aristoteliker (der so3

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gungen der Synthese, kann eine natürliche Moralphilosophie nicht als in sich geschlossenes Strukturganzes, als »System«, einer theologischen Moral gegenübergestellt werden. Die maßgebliche Systematik allen moralischen Wissens, auch des natürlich möglichen, liegt also bei der Theologie. Für den Gläubigen ist es nicht möglich, eine »systematisch geschlossene« Moralphilosophie als die seine aufzustellen und zu vertreten. Aus dieser Sachlage hat die ThomasInterpretation eine bedeutsame Folgerung zu ziehen: Was bei der spekulativen Philosophie möglich ist, braucht es durchaus noch nicht in der praktischen zu sein. Obwohl nämlich Thomas seine metaphysischen Lehren vorzüglich im theologischen Zusammenhang entwickelt, ist der Interpret doch auf Grund der Prinzipien der Synthese berechtigt, sie daraus zu lösen und in ihrer eigenen Ordnung zur Darstellung zu bringen; es gibt eine »thomistische Metaphysik«, und zwar als eigenständiges »System«. Aber es gibt keine »thomistische (philosophische) Ethik«, die als eigenständiges System einer natürlichen praktischen Wissenschaft aus der Synthese gelöst werden könnte. Die thomistische Moral ist als System nur in der thomistischen Theologie zu finden. Alle moralische Erkenntnis, auch die schon »natürlich« mögliche, findet erst im theologischen Ganzen ihren maßgebenden systematischen Ort und damit zugleich ihre letzte Sinngebung. Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß die »natürliche« praktische Erkenntnis, wie sie sich - ohne Rücksicht auf die theologische Einordnung - aus den Prinzipien der bloßen Natur ergibt, in sich selbst »sinnlos« sei. Aber es ergibt sich hier gerade nach unseren Voraussetzungen - eine gewisse Schwierigkeit: denn »Sinn« meint ja nichts anderes als Bezogenheit auf ein irgendwie vorweg ergriffenes Ganzes, aus dem das Einzelne begriffen wird. Gibt es also ein natürliches praktisches Erkennen - und das ist nicht zu bezweifeln - und kommt diesem von sich aus ein »natürlicher« Sinn zu - und das ist der Fall, weil man sonst überhaupt nicht von Erkenntnis reden könnte dann muß dies auch auf ein natürlich erhebbares und verstehbares Ganzes bezogen sein. Und dieses Ganze muß »wahr« sein: denn sonst gäbe es wieder keine Erkenntnis, und die Natur kann unmöglich in ihrem Erkennen zu Falschem hingeordnet seins. Es scheint also, als müsse doch wieder eine »Systematik« der natürlichen genannten Averroisten) des 13. Jahrhunderts zu sehen und der Grund der heftigen Reaktion gegen diese Bewegung; vgl. dazu das 4. Kapitel von J. RATZINGER, Die Geschichtstheologie des heiligen Bonaventura, München 1959. 5 Gerade im theologischen Zusammenhang hat das Argument von der Wesensausrichtung der Natur her besonderes Gewicht, da diese von der Weisheit des Schöpfers gegründet gedacht ist; der allgemeine Satz „natura nihil facit frustra« ist jedoch philosophisch (nach Arist. De caelo 1, 4).

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Moralwissenschafl: anerkannt werden, obwohl wir sie gerade von der theologischen Systematik aufgehoben sein ließen. Allein, hier ist zunächst zu erinnern, daß dieses Aufheben nicht nur vernichtet und ausschließt, sondern vorzüglich erhebt und vollendet. Was ausgeschlossen wird, ist der Anspruch natürlicher Moralwissenschaft auf abschließende Endgültigkeit, in dem die Vollendbarkeit verneint würde. Es kommt also darauf an, daß sie sich in dieser Vollendbarkeit hält und zur theologischen Vollendung hin »offen« bleibt. Sie kann nur »wahr« erkennen, wenn sie diese Beschränktheit ihres Erkennens miterkennt. Und zwar muß sich die Beschränktheit ihres Horizontes - welche die Theologie deutlich macht schon von ihr selbst her zeigen, sie selbst muß der Teilhaftigkeit ihres »Ganzen« und der Offenheit ihrer Systematik innewerden. Der Theologe, der sich im Rahmen der Synthese auf moralphilosophisches Denken bezieht und ihm aus seinem höheren Recht Ziel und Ende setzt, hätte im Sinne der Synthese zunächst die Aufgabe, diese Beschränktheit und damit zugleich Offenheit jenes Denkens nun auch auf philosophischer Ebene, mit philosophischen Mitteln darzutun&.

§ 2: Die Beschränkung der philosophischen Ethik auf das »gegenwärtige Leben« und ihre wesentliche Vollendbarkeit Wir haben geschildert, wie nach Thomas die philosophische praktische Wissenschaft, rein natürlich genommen, sich ordnet und gliedert (Kapitel 4). Diese Schilderung hat gerade jene Züge hervortreten lassen, in denen die notwendige Beschränktheit und Offenheit sich zeigt. Praktisches Erkennen steht nicht in einer Ganzheit, die als abschließende Einheit ihm feste Umrissenheit gäbe, sondern gliedert sich zunächst in die Dreiheit der spezifisch verschiedenen Disziplinen der praktischen Wissenschaft. Es kommt aber hinzu, daß das praktische Wissen insgesamt noch auf das theoretische Leben verweist, als auf eine Weise menschlichen »Seinkönnens«, die ihm ihrem Wesen nach in keiner Weise untersteht, sondern gar aller Praxis überlegen ist7 • In der Unmöglichkeit, das Auseinander menschlicher Lebenshorizonte in einem einzigen Hinblick zu fassen, tritt die Endlichkeit der bloßen Natur und die Beschränktheit ihrer Lebensumstände, wie sie sich natürlich erfahrbar zeigen, deutlich in einer Beschränktheit der Wissenschaft vom menschlichen Verhalten zutage. Hier mag schon darauf hingewiesen werden, daß zudem noch in jenem Seinkönnen, welches im theoretischen Leben verwirklicht wird, der Mensch sich zu einer Weite hin öffnet, die über jede Begrenzung immer Vgl. Kap. 1 § 4; von hier aus wird der theologische Sinn des Ethikkommentars deutlich werden, s. u. § 4. 7 Vgl. Kap. 4 § 2.

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hinaus ist, daß in der Natur des Verstehens selbst ein Verlangen nach Schau wurzelt, das seinen Abschluß nur in der Gegenwart des Unendlichen fände 8 • Kann die natürliche Vernunft im Spekulativen, in welcher Weise immer, am Göttlichen teilhaben, so ist ihr um so mehr die Vorläufigkeit menschlicher Praxis, ihres »gegenwärtigen« Horizontes und ihres »gegenwärtigen« Sinnes deutlich9 • Schon die natürliche Vernunft erwartet die erfüllende Vollkommenheit - so liest Thomas bei Aristoteles - schließlich als Gottesgabe10. Wenn die praktische Vernunft - als praktische zu Konkretem hingeordnet - in einem bestimmten Konkreten, das im Umkreis des gegenwärtigen Lebens erscheint, das Umschließende des Seinkönnens, das »letzte Ziel« ansetzt, so wird dieser Ansatz von der Moralphilosophie selbst kritisiert; sie erweist ihn als vorläufig und ungenügend 11 • Auch das Vollkommenste im Bereich des Erfahrbaren - das theoretische Leben des Weisen, des Philosophen - ist so, wie es erfahren werden kann, nur »Unvollkommenes Glück.« 12 ; das vollkommene, wie es über das gegenwärtige Leben hinaus möglich ist, vermag natürliche Vernunft inhaltlich nicht zu fassen, nicht einmal auszudenken13. Erst die theologische Betrachtung gewinnt Bestimmtheit und Wesensfülle des »letzten Zieles«: es ist das Amt und auch Reservat des Theologen, darüber zu handeln 14 • Selbstverständlich muß auch der Moralist von dem Letzten handeln; er muß sogar, wie es dem Wesen seines Gegenstandes entspricht, sein Forschen damit anfangen15 • Nur ist ihm nicht möglich, die sich eröffnende Weite menschlichen Seinkönnens mit voll bestimmter Inhaltlichkeit wirklich zu »füllen«. Was er aber kann, ist dies: die Vorläufigkeit alles dessen dartun, was sich als Erfüllendes im gegenwärtigen Leben anbietet, und darin eben jene Offenheit festhalten, welche gerade deshalb, weil sie Unvollkommenheit und Vollendbarkeit aufzeigt, »wahrer« Horizont natürlichen praktischen Verstehens istl&. 9 In Eth. 1, 16 n. 202; ib. X, 12 n. 2111-2115. Vgl. 1-II, 3, 8; s. Kap. 8. In Eth. I, 14 n. 167. 11 Das geschieht im 1. Buch der Nikomachischen Ethik. 12 In Eth. X, 11 n. 2103, 2110. 13 In Eth. 1, 9 n. 113: » ••• felicitas altcrius vitae omncm investigationcm rationis cxcedit«. 14 Nach 1-II, 7, 2 (und ib. ad 3): Der Hinblick auf die »beatitudo« ist dem Theologen eigentümlich, den auf Gut und Böse hat er mit dem •moralis«, den auf Lobwürdigkeit und Verdienstlichkeit mit dem •politicus« und dem •rhetor« gemeinsam; vgl. auch 1-II, 71, 6 ad 5 (Anm. 17, S. 90). 15 Auch das geschieht im Anfang der Nikomanischen Ethik, und zwar ohne besondere Rechtfertigung: offenbar, weil das •Prinzip« einer solchen nicht bedürftig und fähig ist. 18 Aristoteles wird in diesem Sinne wegen seiner kritischen Selbstbeschränkung gelobt, SCG III, 48; vgl. S. 148. 8

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Ohne diese grundlegende „Wahrheit« der natürlidien praktisdien Vernunft gäbe es audi im konkreten jeweiligen Handeln keine natürliche Reditheit, keinen natürlidierweise »rediten Begriff von dem, was zu tun ist«. So aber ist es der Moralphilosophie möglidi, im Umkreis des gegenwärtigen Lebens Strukturen und Regeln des rechten Verhaltens, sein Gut und Böse gültig zu bestimmen, ja es ist ersichtlidi, daß in diesem Erkennen des Naheliegenden ihre eigentlidie Stärke liegt: hier bewegt sie sid1 im Bereidi unmittelbarer Erfahrung, der ihr einsichtig und von ihr beherrschbar ist. So findet sidi hier die eigentlidi angemessene Aufgabe des »moralis«, nämlidi die Behandlung der »mores«, der Verhaltensweisen, die Feststellung ihrer »Reditheit«, das Aufsudien der »Mitte« zwisdien dem Zuviel und Zuwenig, in der die Tugend besteht17. Man mag sidi dabei erinnern, daß die Theologie selbst, wo es um konkreterfahrbares Verhalten geht, ihren »Stoff« aus natürlidier Erfahrung nimmt, und wo er nadi der Weise dieser Erfahrung sdion in der natürlidien Moral verarbeitet ist, wird sie sidi auf diese beziehen; d~s Verhältnis des »Magddienstes« ist hier deutlidi gegeben18. Grundsätzlidi jedodi ist der Theologe dem Moralisten audi auf dessen eigenstem Felde überlegen: weiß er dodi die Reditheit am voll erfaßten letzten Ziel zu messen, von wo aus Gut und Böse, Tugend und Laster und sdiließlidi audi das Konkreteste einer Handlung, die besonderen Umstände, erst »endgültig« zu beurteilen sind19. Freilich wird wiederum die vorläufige Gültigkeit natürlidien Wissens nidit beeinträditigt, sondern gerade als solche, die sich »offen« hält für die Vollendung in der höheren Erkenntnis, von dieser zugelassen, bestätigt und aufgenommen. Grundsätzlidi ist es das gleidie Verhältnis wie peim »moralis« im engeren Sinne, dem »lndividualethiker«20 , das wir beim »politicusc antreffen21. Dodi zeigt sich vom Politisdien her ein neuer Ausblick, der eigens bedadit werden mag. Die natürlidie praktische Wissensdiaft findet in der bürgerlidien Gemeinsdiaft des gegenwärtigen Lebens Möglidikeiten moralischer Vervollkommnung eröffnet, zu denen der Einzelne als soldier sdiwer oder vielleidit nidit gelangen kann. Vom Ungenügen seiner Einzelheit auf Hilfe angewiesen, findet er diese in einer gefügten gesdiidit-

„ ...

17 Nach 1-II, 7, 2 ad 3; vgl. 1-II, 71, 6 ad 5: a theologis consideratur peccatum praecipue secundum quod est offensa contra deum, a philosopho autem morali secundum quod contrariatur rationi.« 18 Vgl. Kap. 5, § 2. 18 1-II, 7, 2. 20 »Moralisc und »moralis scientia« werden fast immer in diesem Sinne verwendet; nur in der Einteilung der Ethik erscheint »monastica«, wie In Eth. 1, 1n.6. 21 Vgl. 1-II, 7, 2 ad 3 (Anm. 14, S. 89).

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liehen Ordnung, die ihn durch bestimmte, konkrete Gesetze zur Tugend anleitet, schützt und stärkt22 • In der geordneten Gemeinschaft gibt es ein Mehr an Verwirklichung menschlichen Seinkönnens; es ist besser und vollkommener, dieses Mehr zu erfüllen als bloß das eigene einzelne Selbst23. Das Gut und Böse des Einzelnen, der der Gemeinschaft eingefügt ist, mißt sich jetzt zugleich an dem konkreten Maße der Gemeinschaft: es entspricht oder widerspricht dem »Gesetz«, und die erwirkte (oder verwirkte) Vollkommenheit bedeutet gegenüber der Gemeinschaft ein Verdienst oder eine Schuld (demeritum), dem Lob oder Tadel, Lohn oder Strafe gebührt2 4 • So gibt es unter dem Gesichtspunkt des »politicus« eine neue Weise, die Vollkommenheit eines menschlichen Handelns zu bestimmen: durch die Hinordnung auf eine je konkrete »Ganzheit« menschlichen Miteinanderseins und durch den Charakter der Verdienstlichkeit, der ihm nicht unmittelbar - als willentlichem -, sondern erst durch diese bestimmte Einordnung zukommt. Die Beschränktheit und damit zugleich Vollendbarkeit der politischen Ganzheit liegt am Tage: denn sie ist wesentlich als geschichtliche, die offene Weite menschlichen Seinkönnens durch positive Gesetzgebung einschränkende gefaßt; ihre konkrete Gestalt ist wandelbar und wandelt sich; es gibt ferner viele solche Ganzheiten, und es gibt sogar ein Handeln im Hinblick und in Hinordnung auf diese vielen und ihr gemeinsames Gut, als eine nochmals übergeordnete Ganzheit2 5. Zudem ist die gemeinschafl:sbezogene Bedeutung des Handelns, wie sie in der politischen Wissenschaft erscheint, nicht ein Charakter jeglichen Handelns; denn der Mensch ist nicht mit allem, was in ihm ist, auf die Gemeinschaft der Bürger hingeordnet2 6• Wichtig ist aber, daß sich eine neue Dimension der Vollendbarkeit natürlichen praktischen Wissens zeigt, die dann von der Theologie in umfassender Weise erfüllt wird. Denn die Offenbarung stiftet eine übernatürliche, umfassende und geschichtlich bestimmte Gemeinschaft des Menschen mit Gott, in die sie alle Menschen, und zwar mit allem, was in ihnen ist, versammelt. Das göttliche Gesetz schaffi: die konkrete Einschränkung der geschichtlichen Unbestimmtheit, die aber als letztgültige nicht mehr historisch-relativ ist27 ; jedes Handeln hat nunVgl. In Eth. X, 14 n. 2148-2153 u. ö. Vgl. In Eth. I, 2 n. 30. H 1-11, 21, 3. 26 In Eth. I, 2 n. 30: „ ... multo divinius est quod hoc exhibeatur toti genti, in qua multae civitates continentur.« " Vgl. z.B. 1-11, 21, 4 ad 3. 27 Die HeilsgemeinschaA: ist von Anfang an endgültig bestimmt durch das gleichbleibende Ziel; diesem gegenüber bestimmen Altes und Neues Gesetz feste •Zustände«, die sich zueinander nach dem Weniger oder Mehr ihrer Vollkorn22

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mehr eine Bezogenheit auf die Gottesgemeinschaft und die Bedeutung von Verdienst oder Schuld vor Gott28 • Doch wiederum behält das natürliche Verstehen des »politicus« eine gewisse Eigenbedeutung: denn die konkrete geschichtsgestaltende Gesetzgebung Gottes betriffi: nicht den Gesamtbereich menschlichen Zusammenlebens, sondern nur eine Gruppe besonderer Akte, in denen die Gottesgemeinschaft sich unmittelbar ausdrücken soll29 • Die bürgerliche Gemeinschaft ist also zwar mit allem, was in ihr ist, auf die Heilsgemeinschaft bezogen und findet ihren endgültigen Sinn in diesem Bezug, auf sie hingeordnet und hinordnend; aber sie ist nicht in allem, was in ihr ist, geschichtlich-konkret durch die Offenbarung bestimmt - sie ist nicht selbst unmittelbar Heilsgemeinschaft. Ein weiter Bereich des »gegenwärtigen Lebens« ist menschlicher Gestaltung freigegeben; diese hat jetzt unter das Urteil der Theologie zu treten, aber in der Einsicht in ihre Beschränktheit und in der Offenheit für das theologische Urteil hat sie ihre eigene teilhafte und beschränkte Gültigkeit30 • Man darf zusammenfassen: Die Wahrheit der natürlichen praktischen Vernunft lebt nicht aus der Geschlossenheit eines vollendeten Ganzen, sondern aus der Vollendbarkeit dessen, was sich - im gegenwärtigen Leben - geteilt und beschränkt zeigt. Praktische Philosophie trägt diese Beschränktheit und zugleich Offenheit zur Vollendung an sich; gerade darin und dadurch ist sie wahr. Erst in der Theologie kann der praktische Hinblick zur Vollendung gelangen, die Ganzheit sich schließen, die Geteiltheit praktischen Wissens überwunden werden; erst in ihr kommt es zur abschließenden Systematik moralischen Wissens.

menheit verhalten, I-II, 107, 1 und ad 2. Weder die Heilsgemeinschafl: selbst noch deren „zustände« werden vom Menschen her bestimmt, wohl aber kann auch im gleichbleibenden Zustand das Verhältnis des Menschen zum Gesetz je verschieden sein, wieder nach Unterschieden in der Vollkommenheit, I-II, 106, 4. 28

I-II, 21, 4.

Wenigstens im Neuen Gesetz, I-II, 108, 2. 30 Vgl. I-II, 108, 2 und ad 4: Die Freigabe menschlicher Gesetzgebung hinsichtlich konkreter Bestimmung des zu-Tuenden ist im Neuen Gesetz ausdrücklich gegeben. Sie gilt auch innerhalb der Heilsgemeinschafl: selbst, hinsichtlich ihres konkreten geschichtlichen Lebens - als »Kirche« -, denn auch dort stehen noch weite Bereiche zur Determination offen. Es ergäbe sich also hier die Frage nach einem •menschlichen Gesetz« im geistlidien Bereich, also nach dem kirchlichen Recht, seinem Verhältnis zum •politischen« Gesetz, überhaupt nach dem Gesellschafts- und Geschichtscharakter der Kirche. Jedoch wird diese Frage von Thomas kaum berührt, gesdiweige denn systematisch behandelt; die heutige Bezeichnung der Kirche als einer geistlichen »societas perfecta« findet sich überhaupt nicht. Das Problem ist deshalb hier nicht weiter zu verfolgen. H

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§ 3: Die Vorgabe des Bereichs philosophischer Ethik durch eine »Metaphysik des Handelns«; beider Einheit in der theologischen Perspektive und die Frage der »Einholbarkeit« dieser Einheit im natürlichen Wissen; Folgen für die philosophische Interpretation Dies alles schließt nun nicht aus, daß sich auch für die natürliche Vernunft das menschliche Handeln als »Ganzes« in eine umfassende Ganzheit eingeordnet finden kann, die sich dem spekulativen Hinblick zeigt. Es war bereits die Rede davon3 1, daß die Metaphysik auch das Handeln, sofern es eben »seiend« ist, jener Gesamtordnung des »Seienden im Ganzen« einordnet, die sich in Gott als dem Prinzip des Seienden überhaupt gründet. Unter welchen Schwierigkeiten immer sie das tun mag - grundsätzlich ist sie in der Lage, Gott als den weisen Schöpfer zu erkennen, der allen Geschöpfen ihr Maß gibt und den Bereich ihres Wirkens setzt: schon als einer geschöpflichen Natur, vor aller gnadenhaften und geschichtlichen Bestimmtheit, ist dem Menschen vom »Ewigen Gesetz« sein Bereich festgesetzt32, und wenn er in der ursprünglichen Rechtheit seines Verstehens und seiner Neigung auf seine Vollendung hin wirkt, so zeigt er sich damit einem »Naturgesetz« erschlossen, das nichts anderes ist als die ausgezeichnete Weise, wie er als vernünftig sich selbst bestimmendes Wesen am Ewigen Gesetze teilhat33 . Schon als Natur, die in der Synderesis die obersten und allgemeinen Regeln des »Naturgesetzes« bei sich hat, ist der handelnde Mensch auf das übergreifende Ganze einer Ordnung des Universums bezogen, ist er mit diesem Bezug zugleich in ausgezeichneter Weise zu Gott hingeordnet34 . Schon als Natur vermag er diesen Bezug zu erkennen und - folglich - auch danach sein Handeln einzurichten; ohne weiteres ist diese Erkenntnis (zwar nicht schon praktisch, aber:) »praktisch bedeutsam«. Aus der spekulativen Sicht ist so eine »Metaphysik des Handelns« erhebbar, welche die Ganzheit menschlicher Praxis erfaßt und der Ethik gleichsam ihren Bereich »vorgibt«. Daraus scheint die Folgerung ableitbar, es müßte doch das natürliche praktische Wissen, kraft der Einordnung seines Bereiches in das Ganze des Seienden, zu einer eigenen »Systematik« der natürlichen Moral zusammenfaßbar sein; es müßte die Möglichkeit »systematischer« Entfaltung der Prinzipien des Naturgesetzes zu einem Ganzen geben, das vollen Eigenstand beansprucht, zu dem also die übernatürliche Vollendung in ähnlicher Weise »hinzu« käme wie übernatürliches Wissen das natürliche spekulative Wissen vollendet. Aber 31 32 83 34

Vgl. Kap. 4, § 1. 1-11, 91, 1. 1-11, 91, 2. Vgl. ib. und 1-11, 93, 6.

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es ist hier wiederum die grundsätzliche Verschiedenheit des spekulativen und des praktischen Hinblicks zu berufen: nicht die Allgemeinheit des Umrisses jenes spekulativ erfaßten göttlichen Gesamtplanes; nicht die Allgemeinheit der Prinzipien des Hin-Seins zum Handeln; nicht die Allgemeinheit des Horizontes von Handeln schließt die praktische Wissenschaft zur Einheit des Systems zusammen, sondern nur die bestimmtkonkrete Erfüllung, die das Streben in der vollen Erwirkbarkeit des höchsten Seinkönnens findet, und die Einordnung des jeweils zu beurteilenden Handelns in eine Ganzheit, deren Umkreis in der Hinsicht des Handelns selbst der letztumschließende ist. Die natürliche spekulative Sicht zeigt nicht das wahrhaft letzte zu Tuende, Wirkbare, sondern wiederum nichts anderes als die Offenheit des Horizontes, in welcher Praxis »natürlich« verstanden werden muß, die Vollendbarkeit durch konkrete Bestimmung und die Unbestimmtheit, die in praktischer Sicht Ungenügen ist. Man kann von hier aus verstehen, warum einem Denken, das an der konkreten Bestimmtheit der moraltheologischen Systematik orientiert ist und die philosophische Ethik in ihrer »natürlichen Systematik«, wie sie sich scheinbar vom spekulativen Gesamtverständnis der Schöpfungsordnung her ergibt, herausstellen will, eben diese philosophische Ethik als »allgemein« und nicht »praktisch-praktisch«, oder gar überhaupt als »spekulativ« erscheinen magss. Ein »praktisches« Erkennen, das sich in Vgl. Kap. 3, § 7 und JOHANNES A SANCTO THOMA, a. a. 0. (Anm. 66, S. 43). Interessant in diesem Zusammenhang ist die Stellungnahme von J. MARITAIN, De La Philosophie chretienne, Paris 1933, übers. v. B. Sdiwarz, Von der christlichen Philosophie, Salzburg 1935, Anhang II, n. 2-5, S. 131-138: Danadi ist eine auf das Wesen abzielende natürlidie Wissensdiaft, die spekulativ eingestellt ist, möglidi; eine wahrhaft »praktisdiec und auf das Tatsädilidie geriditete muß den Zustand des Wesens berücksiditigen, weldier übernatürlidi bestimmt ist. Da der natürlidien Ethik der praktisdie Charakter nidit wohl abzuspredien ist, spridit Maritain ihr den Charakter einer Wissensdiaft ab: sie ist »praktisdie Wissensdiaft in unvollständiger Fassung«, sie kann >nur abstraktiv als ein Teil aus der Ethik sdiledithin herausgelöst werden« (S. 137), »eine einfadihin natürlidie Ethik als eigentlidie Lehrsubstanz, durdi die eine edite Wissensdiaft vom mensdilidien Verhalten sidi konstituieren würde, würde aber nidits anderes darstellen als eine Wissensdiaft vom Verhalten des Mensdien im Urzustand (sie!) der reinen Natur (in statu naturae purae) gedaditc (S. 133), und da dieser Zustand nidit wirklidi ist, ist er ethisdi irrelevant (ebda.). Die natürlidie Moral »ist eine brudistückhafte Sammlung von Wahrheiten und ist unfähig, aus sidi allein zu jener organisdien Ganzheit zu gelangen, wie sie den Wissensdiaften eigen ist. Sie ist aber audi unfähig, hinzuführen zur editen und vollständigen Vorbereitung des in der Wirklichkeit zu setzenden konkreten Aktes - nicht einmal zu einer auch nur entfernten Vorbereitung desselben« (S. 132 - Zitate nach der Obers. v. Schwarz): nur die Erkenntnis des übernatürlichen letzten Zieles und des heilsgeschichtlichen Zustandes der Menschennatur ermöglichen 35

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der Allgemeinheit hielte, hätte dieselbe Weise von Offenheit zur übernatürlichen Bestimmung wie das spekulative, bei dem damit zugleich eigenständige Systematik einhergeht. Aber wir haben bereits gesehen, daß der Unterschied theologischer und philosophischer Moral damit falsch angesetzt ist: wie die Theologie immer in dem Sinne »allgemein« bleibt, daß sie hinter dem »praktischen« Charakter des letzten bewegenden Urteils zurückbleibt, so ist andererseits die natürliche praktische Wissenschaft in ihren Grenzen ebensowohl in der Lage zu konkret-bestimmendem Urteil, auch wenn dies »unvollständig« und »Vollendbar« bleibtse. Der Unterschied liegt vielmehr, formal betrachtet, darin, daß alles praktische Urteilen in der Theologie in einem einzigen Habitus und in eindeutig bestimmter Systematik, in der natürlichen Ethik aber in je verschiedenen Horizonten, in je beschränkter und vielfacher Ordnung zusammengefaßt wird. Es charakterisiert die philosophische Ethik, daß sie in der Geteiltheit bleibt, und wenn zurecht eine umfassende Ganzheit, in die auch die Praxis und praktische Wissenschaft hineingehören, im allgemeinen Umriß aufgewiesen werden kann, so kann dies nur im spekulativen Hinblick geschehen, dessen Erkennen nur in der unbestimmten Weise »praktisch bedeutsam« ist, die wir geschildert haben37 • In der Theologie ist aber nun nicht nur die Einheit der praktischen Wissenschaft gegeben, sondern zugleich die grundsätzliche Unterschiedenheit des spekulativen und des praktischen Hinblicks in einer höheren Einheit aufgehoben. In der theologischen Perspektive können also Gedankengänge zusammentreten und sich unmittelbar einander zuordnen, die im natürlichen Wissen je in die verschiedenen Ordnungen gehören. Wenn immer die metaphysische Grundlegung der thomistischen Ethik hervorgehoben wird, muß berücksichtigt werden, daß die unmittelbar gründende Bedeutung einer metaphysischen Erkenntnis für eine ethische Regel eine Moral „in gradu verae scientiae practicae«. - Damit scheint doch wieder der praktische Charakter dieser „bruchstückhaften Sammlung von Wahrheiten« bestritten! 31 Die Unvollständigkeit liegt also nicht in der Unfähigkeit der rein natürlichen Moral, zum konkreten sittlich Guten zu führen, sondern im Nichtwisseen um die volJe Bedeutung und Tragweite dessen, was im Horizont der natürlichen Erfahrung sich als zu-Tuendes zeigt. Daß diese UnvolJständigkeit »wahre« Erkenntnis unmöglich mache, wird auch von Maritain (s. vorherg. Anm.) nicht behauptet; daß diese - wie immer bruchstückhafte - Wahrheit dann aber weder wissenschaftlich noch praktisch in strengem Sinne sein solJ, macht seine Position schwer verständlich - jedenfalJs ist sie nicht mit dem Sprachgebrauch von Thomas zu vereinbaren. 37 Kap. 4, § 2; es ist zu erinnern, daß diese Unbestimmtheit im Verhältnis zur konkreten Aktbestimmung nicht eine Bestimmtheit der „ Vorordnung« ausschließt, die weiterhin Thema der Untersuchung in den folgenden Abschnitten bleibt.

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sidt erst dann in der Einheit desselben Hinblicks ergibt, wenn natürlidtes Wissen aus der Versdtiedenheit seiner je eigenen Ordnung in beiden Wissensdtafl:en unter die Bedingungen der Theologie tritt, wie es im »Magddienst« der Philosophie der Fall ist. So ist es theologisdt selbstverständlidt, daß die Gotteserkenntnis gründend ist für jedes Verständnis mensdtlidten Tuns; auf der Ebene rein natürlidter Wissenschaft ist aber die metaphysisdte Gotteslehre und die »Metaphysik des Handelns«, die dieses dem Gesamt der Sdtöpfung einordnet, keineswegs die Voraussetzung für die Entwicklung einer Ethik - eher verhält es sidt, wie wir gesehen haben, gerade umgekehrt38, Wenn also der Vortrag ethisdter Lehren in den thomistisdten Sdtrifl:en - vor allem in der systematisdten Darstellung der Summa theologiae - mit Metaphysik geradezu durdtdrungen ist, so haben wir darin zunädtst und vor allem ein Ergebnis der einheitsstifl:enden theologisdten Perspektive zu sehen, weldte die Darstellung beherrsdtt. In ihr ergibt sidt ein Bezogensein metaphysisdtspekulativer und ethisdt-praktisdter Aussagen, das auf der Ebene natürlidten Wissens nidtt ohne weiteres gegeben ist; audt wenn beide Aussagen je für sidt in einer natürlidten Wissensdtafl: gemadtt werden können, fragt sidt dodt, ob ihr Bezogensein selbst philosophisdt eingeholt werden kann. Der Fall, daß eine faktisdt unter dem Lidtte der Theologie erworbene Erkenntnis von der Philosophie »eingeholt« wird, ist für das Philosophieren des Theologen nidtt ungewöhnlidt. Ein berühmtes Beispiel aus dem spekulativen Bereidt haben wir in der thomistisdten Gotteslehre vorliegen: Wenn Thomas den Gottesbegriff als das »ipsum esse subsistens« bestimmt, so ist das für ihn zunädtst ·und vor allem eine Entfaltung der biblisdten Gottesbenennung »Qui est«, nadt Ex 3, 14, und es ist durdtaus anzunehmen, daß er mindestens Zweifel hatte, ob die natürlidte Vernunft von sidt aus jemals zu diesem Begriff vorgestoßen wäre3 9 • Kein Zweifel jedodt, daß diese »erhabene Wahrheit« zugleidt und gerade in der Weise, wie sie von Thomas ausgedrückt wird, aus dem thomistisdten Ansatz der Metaphysik des »Seins« resultiert, daß sie philosophisdt einholbar und zu sidtern ist, unter weldten Sdtwierigkeiten audt immer40 • Es besteht kein Anlaß, der philosophisdten Ethik eine analoge MöglidtIm Sinne des „ordo addiscendic, Kap. 4, § 1. Vgl. E. GILSON, Le Thomisme, Paris 6 1944, Kap. 4 „Haec sublimis veritas« (Titel nach SCG 1, 22), bes. S. 136 f. 40 Die Ableitungen (etwa SCG 1, 22 und 1, 3, 4) lassen keinen Zweifel über die „Einholbarkeitc: das Ergebnis des Gottesbeweises (das im Charakter eindeutig philosophisch ist) wird befragt auf sein Verhältnis zu den Prinzipien des Seienden hin, die schon als in der Metaphysik entwickelt vorausgesetzt werden, Offenbarungswahrheit wird in die Ableitung nicht hineingenommen. Hier liegt also ein Modellfall der „Handleite« nach 1, 1, 5 ad 2 vor. 88

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keit zu bestreiten: der Gläubige, im Glauben der wahrhaften Ganzheit des Verstehens teilhaftig, könnte im Ausgang von Prinzipien der natürlichen Vernunft zu höheren Einsichten natürlicher Art kommen, als die Vernunft ohne die Führung der übergeordneten Erkenntnis faktisch erreicht hatu. Wieweit das jeweils der Fall sein mag, ist im einzelnen zu prüfen. Allein, im vorliegenden Fall, wo es um das philosophische Einholen der Einheit von Metaphysik und Ethik geht, müßte nicht nur eine faktische Unzulänglichkeit des Verstehens im Verfolg eines bestimmten Hinblicks, sondern eine grundsätzliche Verschiedenheit des Hinblicks selbst überwunden werden. Es ist nicht einzusehen, daß eine andere Weise des Bezogenseins philosophisch erhoben werden kann als die allgemeine »Vorordnung« der metaphysischen Erkenntnis, von der die Rede war; eine unmittelbare Ableitung des (praktisch zu erfassenden) »Sollens« aus dem (spekulativ erfaßten) »Sein«, wie sie aus der Einheit von Metaphysik und Ethik folgen müßte, kann nicht erwartet werden42 ; erwartet werden kann die Zusammenschau nur in der Theologie. Das Auseinander von Ethik und »Metaphysik des Handelns« tritt erst hervor, wenn die philosophischen Lehren und Gedankengänge aus ihrer Einordnung in das theologische Werk gelöst werden. Es ist dazu ein Akt der Interpretation erforderlich, der nicht der historisch-tatsächlichen Absicht des thomistischen Denkens folgt; denn dies geht auf die Synthese: wenn die vollendende Einheit im theologischen Verstehen - und nur in Audi das wäre wieder ein „Fall von diristlidier Philosophie«, muß aber im Sinne der Darstellung von Kap. 2, § 2 verstanden werden, nidit im Sinne von Maritain (vgl. Anm. 46, S. 99) oder im Sinne einer ioratio fide informata« (vgl. Anm. 67, S. 106) - sonst ergäbe sidi wieder eine spezifisdi theologisdie Leistung. 42 Damit wird nidit bestritten, 1. daß die metaphysisdie Position eines Denkers für seine Ethik tatsädilidi unmittelbare Bedeutung haben kann - dies ist in negativem Sinne häufig genug der Fall, vgl. u. Kap. 10, § 1. 2. daß „sein« und »Sollen« (oder „sein« und „Wert«) in einem Gründungszusammenhang stehen; nur ist dieser kein unmittelbarer. So ist die (bei mandien Thomisten) gängige Formel, das „sollen« könne nur aus dem „Sein« stammen, hödist mißverständlidi und in dieser kargen Fassung - wenn man den vollen Sinn von „sein« nidit mitdenkt - leimt zu »widerlegen«. Wenn die Erkenntnis von Seiendem als zunädist bloß feststellende gefaßt ist - wie in den modernen „wertfreien Tatsadienwissensdiaften« -, so ist unverständlidi, wie aus der festgestellten Bestimmtheit ein »Sollen« folgen kann; ein Sollen folgt nur, wenn das festgestellte Bestimmte zugleidi im Bereidi mensdilidier Wirkfähigkeit ersdieint, und zwar gerade in seiner Beziehung auf diese Wirkfähigkeit - also als »operabile«. So folgt aus dem „festgestellten« Wesen des Mensdien keinerlei Norm für mensdilidies Tun, wohl aber folgt sie aus dem „Wesen«, sofern dies als wirkendes Seinkönnen verstanden ist, das seine eigene Vollendung immer sdion, ursprünglidi, als zu erwirkende, aufgegebene versteht. 41

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ihm - gegeben ist, so kann das Interesse nidu darin liegen, jenes Auseinander des natürlichen Verstehens zum Grundthema der Darstellung zu machen, sondern vielmehr darin, das Verschiedenartige des Philosophierens am Ort seines maßgeblich-letzten Sinnes, nämlich im Rahmen der theologischen Systematik zu erheben und festzuhalten. Von daher und darin ist das Philosophieren des Theologen gleichermaßen auf die »Metaphysik des Handelns« wie auf die praktische Philosophie verwiesen. Beide Betrachtungsweisen sind von der Synthese her zugleich gefordert, und erst in ihrem Zugleich gibt die natürliche Vernunft das volle Maß ihrer Befähigung zur Erkenntnis des menschlichen Handelns. Die Interpretation, die auf die Herausarbeitung einer philosophischen Ethik zielt und nach deren Sinn und Gestalt in der thomistischen Synthese fragt, kann nicht an der Tatsache vorbeigehen, daß im uns vorliegenden thomistischen Gesamtwerk beide Betrachtungsweisen eng verbunden sind. Das ist die tatsächliche Gestalt, in der uns die philosophische Moral bei Thomas überkommen ist. Zweifellos ist man auch berechtigt, in der Darstellung der thomistischen Ethik dieses bei Thomas Verbundene verbunden zu lassen, beide Ansätze also zugleich und miteinander zu verfolgen; ja man möchte hinzufügen, daß ein solches Verfahren »historischer« ist als eines, welches die tatsächliche Gestalt verschwinden läßt48. Allein, es sollte niemals vergessen werden, daß die so gesehene thomistische Ethik ihren Sinn und ihre bestimmte Gestalt in der theologisch bestimmten Synthese gefunden hat und daß erst unter den Bedingungen der Synthese das Nebeneinander der Aussagen, die philosophisch nur unter wechselndem Hinblick zu erbringen sind, eine Einheit des Verstehens bedeuten kann. Die Interpretation, die philosophische Absichten hat, muß die Verschiedenartigkeit des jeweiligen Hinblicks hervortreten lassen. Diese Forderung zwingt nicht dazu, Einwände gegen die übliche Praxis der Thomas-Interpreten zu erheben, welche die philosophische Ethik Es ist nicht ganz dasselbe, wenn ein ähnliches Verfahren für die Darstellung des „Thomismus« überhaupt angewandt wird, wie dies E. G1LSON (in Le Thomisme) tut, da das Problem bei der spekulativen Philosophie anders liegt. Dennoch scheint mir die Kritik F. Van Steenberghens (Revue Philosophique de Louvain 48 [1950] 432-433), der die Verwendung der theologischen Ordnung als Grundriß der philosophischen Darstellung tadelt, nicht unbedingt treffend. Gilson kann mit Recht darauf hinweisen (Le Thomisme, 1944, S. 16), daß einmal nur die theologische Synthese von Thomas ausgearbeitet wurde, zum anderen die Entwiddung der rein philosophischen Ansätze zu einem Ganzen den tatsächlichen Sinn des thomistischen Philosophierens (seine Zugehörigkeit zur theologischen Synthese) gerade verstellen könnte: sie wäre weniger „historische. Um so seltsamer ist es, daß Gilson in diesem Werk bei der Darstellung der Ethik gerade nicht der thomistischen Ordnung folgt, so z. B. die Lehre vom letzten Ziel ans Ende setzt! 48

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nach theologischem Schema darstellen, wobei sie das der Summa theologiae (besonders das der I-II) bevorzugen. Ein Fehler ist das erst, wenn dieses Schema als Grundriß einer philosophischen Systematik behauptet wird, und es kann nicht verwundern, wenn eine moderne historische Betrachtung darin Unstimmigkeiten und Aufbrüche entdeckt: sie sind unbedingt zu erwarten". Man darf hier erinnern, daß der praktisdie Hinblick nach Thomas' ausdrücklicher Aussage die drei Disziplinen der praktisdien Wissenschaft erzeugt, die Thomas-Interpretation aber keineswegs gewöhnt ist, diese Lehre im »System« der Ethik zu berücksichtigen zu Recht, historisch gesehen, zu Unrecht aber, wenn sie darstellen will, was Thomas unter philosophischer Ethik verstanden haben mag4s. Es ist nicht weniger falsch, die thomistische Ethik, da sie Philosophie des Gläubigen, des Theologen ist, nun gegen eine Ethik aus „bloßer Natur« abzusetzen, ihre tatsächliche Bindung an die Synthese und ihre Einordnung in den theologischen Rahmen zum Wesenscharakter einer »christlidien Moralphilosophie« zu machen4 &. Der Gedanke, daß der Christ erst auf Grund des Glaubens eine »adäquate« Erkenntnis des zu Tuenden haben kann, führt zu der Folgerung, daß sein philosophisdies Bemühen um praktische Erkenntnis nur in der ausdrücklidien Einpassung in die heilsgeschichtlidie Wahrheit, unter Anerkennung der Offenbarung als Gegebenheit zum praktischen Ende kommen könne; die »in vollem Umfang genommene Moralphilosophie« ist der Theologie »subalterniert«, von ihr positiv geleitet, obwohl sie, von natürlichen Prinzipien aus zu natürlichen Erkenntnissen fortschreitend, »Philosophie« bleibt47 • Selbst So deutlidi bei M. W1TTMANN, Die Ethik des hl. Thomas von Aquin, Mündien 1933, der dem Sdiema von 1-11 folgt, ohne seinen theologisdien Charakter audi nur zu erwähnen: vergleidit man sein Thomas-Budi mit seinem Werk über Die Ethik des Aristoteles (Mündien 1922), so ersdieint die aristotelisdie Ethik als gesdilossene Ganzheit, die thomistisdie als Resultat widerstreitender historisdier Einflüsse. 45 Mir ist keine thomistisdie Darstellung bekannt, weldie die Einteilung der Ethik in drei spezifisdi versdiiedene Wissensdiafl:en durdiführen würde. Das soll keineswegs ein Vorwurf sein, sondern lediglidi den Mangel methodisdier Reflektiertheit zeigen: man hätte mindestens fragen müssen, warum bei Thomas selbst die Dreiteilung keine Rolle spielt, sondern nur genannt wird. 41 Dies ist die Auffassung von J. MARITAIN, vorgetragen vor allem in De la Philosophie chretienne (vgl. Anm. 35, S. 94), ferner vgl. Les Degres du Savoir, a. a. 0. (Anm. 71, S. 44) und die Verteidigung gegen die Kritiken von Ramirez und Deman in Science et Sagesse, suivie d'eclaircissements sur la philosophie morale, Paris 1935, II. Teil und Anhang. 47 Maritains Lehre von der „in vollem Umfange genommenen Moralphilosophie« ist für ihn „ ... eine unbedingte Notwendigkeit, denn es gehört zu den unabdingbaren Forderungen der mensdilidien Vernunfl:, eine Moral-Philosophie aufzubauen, wie sie sidi von den spekulativen Wissensdiafl:en gleidi bei der ersten Unterteilung des endlidien Wissens abhebt; diese Moral-Philosophie wird 44

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wenn man hier davon absieht, daß eine solche Art von »Subalternation« keine Stütze in einem Thomas-Text findet und auch nicht als Folgerung aus einem solchen abgeleitet werden kann4B, ist nicht einzusehen, wie ein natürliches Erkennen unter positiver theologischer Leitung und unter übernatürlichen Prinzipien etwas anderes sein könne als Theologie49 • Das Interesse dieser Lehre für uns liegt allein darin, daß sie die besondere Lage der Ethik in der Synthese, von der mehrfach die Rede war, aufs deutlichste sichtbar machtso. Die Einheit der praktischen Wissenschaft in sich und ihre Einheit mit der Metaphysik; ihre geschlossene Systematik und deren Einfügung in eine Gesamtordnung, als aus dieser gegründeter Teil: das sind Züge, die der thomistischen Moral eignen, sofern sie theologisch ist. In diesem aber ihrem Objekt in vollem Umfang nur gerecht, wenn sie über sich emporgehoben wird, und dafür ist die notwendige und zugleich hinreichende Bedingung die Unterordnung unter die Theologie« (Obers. v. B. Schwarz, Von der christlichen Philosophie, Salzburg 1935, S. 156). Da die rein natürliche Moralphilosophie unvollständig und unzulänglich ist (vgl. Anm. 35, S. 94) und die Theologie dem „unendlichen« Wissen zugehört (S. 153: auch das liest Maritain nicht bei Thomas, sondern bei Caietan!), sucht Maritain eine Zwischenlösung, die „einen ganz speziell gearteten Fall« (S. 186) darstellt: die Subalternation bedeutet nur die Vervollständigung der Grundwahrheiten und des Lichtes einer an sich, nur nicht im faktischen Zustand des Menschen, möglichen natürlichen Moralphilosophie. Mit Recht wird die Barockscholastik kritisiert, die einen Torso der Moraltheologie (die Secunda pars unter Auslassung des eigentlich übernatürlichen) als Moralphilosophie behandelte, „wissenschaftstheoretisch gesehen, ein Monstrum« (S. 172). Aber Maritains Konstruktionen sind nicht weniger „monströs« und nur zu verstehen als der Versuch, die eingangs genannte „Notwendigkeit« irgendwie wissenschafl:stheoretisch ·einzubauen. Das hat mit Thomas' eigener Auffassung nichts mehr zu tun (Seitenangaben nach der Obers. von Schwarz). 48 Die Verschiedenheit des „Lichtes« von Theologie und natürlichem Wissen, die generische Verschiedenheit beider und ihre grundsätzliche Diskontinuität machen unmöglich, daß irgendein natürliches Wissen eigentlich der Theologie „subalterniert« werde und somit in eigentlicher Kontinuität zu ihm stände; vgl. Kap. 3, § 10 und Anm. 95, S. 54 zum Begriff der Subalternation. 48 Maritain legt gerade auf die Unterscheidung der „in vollem Umfange genommenen Moralphilosophie« und der Moraltheologie größtes Gewicht. Allein, da die übernatürliche Wahrheit ausschließlich durch das übernatürliche Licht des Glaubens bekannt und festgehalten werden kann, vermag ich nicht einzusehen, wie ein Denken die Tatsache der Offenbarung in irgendeinem Sinne einbeziehen kann, ohne zugleich alles von da aus Gedachte im übernatürlichen Licht zu denken: das ist genau, was die Theologie tut. Der Ausgang von Prinzipien der natürlichen Vernunfl: ist da nicht entscheidend, denn dieser ist ja der Theologie immer möglich: er bedeutet gerade die »ln-Dienst-Nahme« der Philosophie! 60 Offenbar sind die von Maritain zusammengebrachten Charaktere des „in vollem Umfang genommen« und des „philosophischen« nicht zu vereinbaren.

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theologisch vorgegebenen Rahmen gibt es eine Mehrzahl philosophischer Ansätze, die von sich selbst her, sofern sie in isolierender Betrachtung herausgehoben werden, in eine Offenheit weisen, die sich nicht zur konkret-bestimmenden Ganzheit zusammenschließt. In der Synthese zeigt sich nun, daß gerade im Ungenügen dieser Offenheit die Vollendbarkeit natürlichen praktischen Erkennens zu Tage tritt, daß die philosophische Ethik, gerade indem sie sich in dieser Offenheit hält, sich in der Wahrheit hält. Es kann aber nicht das Interesse des philosophierenden Theologen sein, dies Unvollkommen-Vollendbare so, wie es in sich selbst erscheinen müßte, nun für sich darzustellen - das ist höchstens ein Interesse der philosophischen Thomas-Interpretation. Es kann aber sehr wohl für den Theologen Thomas wichtig sein, am vorliegenden philosophischen Text, am philosophiegeschichtlichenMaterial diese Charaktere aufzuweisen. Dies dürfte, wenn nicht der alleinige, so doch ein wesentlicher Gesichtspunkt des thomistischen Kommentars zur Nikomachischen Ethik sein 31 •

§ 4: Die Bedeutung des Ethikkommentars; Grundsätze einer philosophischen Interpretation Man kann nicht behaupten, daß für Thomas die aristotelische Ethik ohne weiteres die natürliche praktische Wissenschaft schlechthin bedeute, daß er in ihr die Möglichkeiten natürlichen praktischen Verstehens voll verwirklicht sehe - sicher aber sah er in ihr die höchste und ausgebildetste Gestalt einer philosophischen Ethik, die von einem Nicht-Gläubigen, mit Hilfe bloßer Vernunft, je erreicht worden ist52 • Es kommt dem Kommentar darauf an, diese philosophische Ethik rein in ihrem eigenen Sinn hervortreten zu lassen, und so bemüht er sich eindringlich um den Text Nimmt man aber die »tragische« Begrenztheit des Philosophischen in Kauf, innerhalb deren es dann doch eine engültig-maßgebliche Bedeutung konkreter natürlicher Vernunft für die Praxis geben soll, so ist diese Lösung weder •christlich« noch •systematisch« befriedigend. Daß hier ein wirkliches Dilemma besteht, das nicht im Stil ausgleichenden Kommentierens zu beseitigen ist, hat die Kritik an Maritain - soweit sie mir bekannt ist - nicht genügend beachtet, so daß Maritains Thesen nicht zu einer entscheidenden Neubesinnung in der thomistischen Behandlung der Ethik geführt haben, unabhängig davon, daß diese Thesen weder als Thomas-Interpretation noch auch in sich zu halten sind. 51 Vgl. zum Folgenden die Studie von H. V. JAFFA, 1homism and Aristotelianism. A Study of the Commentary by 1homas Aquinas on the Nicomachean Ethics, Chicago 1952, die einzige Spezialstudie zum Ethikkommentar. 62 Es muß hier (auch im Hinblick auf Jaffa, s. vorherg. Anm.) betont werden, daß Aristoteles keineswegs die einzige nicht-christliche Autorität für die thomistische Moral ist; ein Blick in den Zitaten-Index der Editio Leonina zeigt, daß eine Anzahl anderer heidnischer Autoren in der Secunda pars ebenfalls eine Rolle spielen (so bes. Cicero, Seneca, Macrobius).

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des Philosophen und seine authentische Meinung, mittels jener subtilen, sorgfältig den Zusammenhang aufsuchenden Methode, wie sie alle thomistischen Aristoteles-Kommentare auszeichnet53 . Wo Zweifel über den Sinn und Schwierigkeiten des Verständnisses auftauchen, wird die Lösung immer auf der Ebene des Textes und mit den Mitteln, die der Philosoph selbst an die Hand gibt, erstrebt5 4 • Der Kommentar bemüht sich also um eine immanente Interpretation; er ist in prägnantem Sinne »aristotelisch«. Geht es also um den wahren Sinn der aristotelischen Aussagen, so handelt es sich dabei doch keineswegs um eine rein philosophiegeschichtliche Zwecksetzung. Im Gegenteil, der historische Gesichtspunkt, von dem aus in der Nikomachischen Ethik ein geschlossenes, ein »griechisches« Ethos zu erblicken wäre, das zudem in der Weise abschließenden Verstehens begrifflich zusammengefaßt ist, liegt Thomas ganz fern; man erinnert sich, daß er an anderer Stelle schroff abgelehnt wird55 . Es geht nicht um Verständnis der geschichtlichen Individualität aristotelischen Denkens, sondern um Herausarbeitung der philosophischen Wahrheit, die darin gedacht wird. Das kann nur heißen: die aristotelischen Aussagen zur Ethik müssen im Horizont jener Offenheit geortet werden, die im Praktischen allein wahrheitgebend ist. Und zwar muß in den Aussagen selbst ein Verweis auf diese Offenheit aufgezeigt werden, sei er auch nur in der Weise sichtbar, daß sich das Ungenügen des faktischen Abschlusses zeigt. In diesem Sinne ist grundlegend, daß Thomas die aristotelische Glückseligkeit als Glück dieses gegenwärtigen Lebens versteht, das wesentlich an sich selbst unvollkommen ist; zahlreiche Bemerkungen des Kommentars betonen immer wieder diese Begrenzung, durch die notwendig alle Aussagen der Nikomachischen Ethik mitbetroffen werden58 ; alle werden über Methoden des Kommentierens vgl. M. GRABMANN, Die Aristoteleskommentare des hl. Thomas von Aquin, in: Mittelalterliches Geistesleben 1, München 1926, S. 266-313, und vor allem M. D. CHENU, Das Werk des hl. Thomas von Aquin, Heidelberg 1960, S. 232-251. 54 Das wird von H. V. JAFFA, a. a. 0., S. 18-19 anerkannt, später aber, S. 186 bis 187, dahin eingeschränkt, daß Thomas dem Aristoteles nicht-aristotelische Prinzipien imputiere; vgl. Anm. 61. 55 Vgl. die berühmte Stelle In De Caelo 1, 22 n. 222: >Studium philosophiae non est ad hoc quod sciatur quid homines senserint, sed qualiter se habeat veritas rerum.« - Man darf das »Studium philosophiae« hier ganz konkret verstehen als Bemühung um die nichtchristlichen Autoren, die •philosophic im qualifizierten Sinne; vgl. M. D. CHENU, Les :ophilosophes« dans la philosophie chrhienne medievale, in: Revue des Sciences philos. et tbeol. 26 (1937) 27-40. 58 Vgl. die Texte Anm. 52, S. 71; der Grundsatz wird nicht nur im Ethikkommentar mehrfach ausgesprochen, sondern auch in den theologischen Werken zur Rechtfertigung der aristotelischen Sicht benutzt (vgl. unten Kap. 9). 53

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damit vollendbar unter einem Gesichtspunkt, der über das gegenwärtige Leben hinausgreiA:. Ähnliche Tendenz auf Offenheit zur Vollendung ist an manchen Einzelinterpretationen zu sehen. Als Beispiel mag die Behandlung der Platon-Kritik des 1. Buches angeführt werden: Thomas betont, die aristotelische Kritik richte sich nur dagegen, daß ein »bonum separatum« als allgemeine und für-sich-seiende Idee behauptet werde; das »bonum separatum«, welches Gott ist, von dem alle Güter abhängen, sei nicht betroffen, zumal Aristoteles selbst in der Metaphysik dieses Gut nachweise5 7• Auch die schon erwähnte Stelle, an der Thomas die Glückseligkeit als Gottesgeschenk bezeichnet findet, gehört hierher5e. Die Beispiele ließen sich unschwer vermehren. In der Weise dieses Textverständnisses verrät sich der »philosophierende Theologe«, und die Einordnung des Kommentars in ein theologisches Lebenswerk kommt darin tiefer zum Ausdruck als in den ausdrücklichen Hinweisen auf die »Wahrheit des katholischen Glaubens« und in der gelegentlichen Beurteilung aristotelischer Positionen von theologischer Warte aus5', zu schweigen von Einzelheiten wie dem Heranziehen des Beispiels vom Martyrium des heiligen Laurentius80 : das sind, im Verhältnis zum immanenten Aristotelismus des Kommentars, äußere Zutaten, deren rein theologische Herkunft sich offen darbietet. Der eigentliche theologische Sinn des Kommentars liegt darin, daß er philosophisch deutlich macht, wie praktische Wissenschaft aus natürlicher Vernunft geeignet ist, in die Synthese einzugehen. Der moderne, historisch eingestellte Betrachter wird überzeugt sein, daß diese Eignung für die theologische Synthese nicht so in der aristotelischen Ethik vorzufinden ist, wie diese im geschichtlichen Kontext gemeint ist. Der thomistische Aristotelismus dürfte ein anderer sein als der des Aristoteles, und es ist der Vorwurf erhoben worden, nur deshalb gelange der Kommentator zu dem theologisch erwünschten Ergebnis, weil sein Aristo57 In Eth. I, 6 n. 79: •Aristoteles non intendit improbare opinionem Platonis quantum ad hoc quod ponebat unum bonum separatum, a quo dependerent omnia bona. Nam ipse Aristoteles in duodecimo metaphysicae ponit quoddam bonum separatum a toto universo, ad quod totum universum ordinatur ... Improbat autem opinionem Platonis quantum ad hoc quod ponebat bonum separatum esse quandam ideam communem omnium bonorum ... « - Vgl. Kap. 10, § 1. 58 In Eth. I, 14 n. 167; ib. 173: eine »Causa divina« wird nun zur „feJicitas« nötig, weldie •principaliter et primo« die Vernunft bewegt. Für den •aristotelisdien« Charakter dieser Doktrin kann sidi Thomas auf die Eudemisdie Ethik (VII, 14; 1248 a 24-29) berufen, was er audi sonst gelegentlidi tut, z.B. 1,82,4 ad 3. 59 Wie z.B. In Eth. X, 10 n. 2080 und 2086; bedeutender ist wohl der Zusatz zu der Aussage, Gottes Tätigkeit sei „spekulativ«, In Eth. X, 12 n. 2123: •Et speculatione sapientiae suae omnia facit« (nach Prov. 3, 19), sofern der aristotelisdie Gedanke dadurdi unmittelbar theologisdi •determiniert« wird. • 0 In Eth. III, 2 n. 395.

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Ethik als philosophisdie Disziplin

telismus bereits von theologisch bestimmten Prinzipien her umgestaltet sei, die fälschlich dem Aristoteles unterstellt werden 81 • Dieser Vorwurf kann nur dann voll treffen, wenn man den »historischen« Aristoteles zum Maß nimmt und sich weigert, auf die thomistische Sicht einzugehen; er verkennt zudem, daß die theologisch bestimmten Prinzipien nach thomistischer Voraussetzung solche der natürlichen Vernunft sein müssen, der gewandelte Aristotelismus also auch dann kein „theologischer« ist, wenn er aus theologischen Motiven umgewandelt wurde&2 • Es kann nur· wiederholt werden, daß Thomas den Aristoteles nicht historisch, sondern in der wahrheitgebenden Offenheit des Verstehenshorizontes orten will, in dem erst die eigentliche Wahrheit seiner Aussagen hervortritt; er fühlt sich berechtigt, den Text nicht in seinem bloß historischen, sondern im »wahren« Kontext zu interpretieren und den Wortsinn auf diesen hin zu bestimmen. Man spricht bei diesem Verfahren - das alle mittelalterlichen Kommentatoren, und nicht nur bei Aristoteles, anwenden - von einem „determinate intelligere« 8a, und so möchte man fast von einem „determinierten« Aristotelismus reden. Wichtig ist, daß es in der determinierten Aussage selbst die Determinierbarkeit gibt - das bezweifeln, hieße die historische Sicht gegen die philosophische setzenH. H. V. JAFFA, a. a. 0. (Anm. 51, S. 101), S. 186-187: „, .. although Thomas never appeals to any non-Aristotelian principles to interpret Aristotele's words, he nonetheless imputes non-Aristotelian principles to Aristotle, although treating them as if they were Aristotelian.« Jaffa nennt dann sechs „Prinzipien«, die alle tatsädilidi Prinzipien der Offenbarungstheologie seien. 11 H. V. JAFFA, a. a. 0., S. 225 Anm. 44 räumt hinsiditlidi dieser Prinzipien ein: „Jt is true that Thomas might consider some, if not all, of these as knowable by natural reason. But the fact that they were not known by Aristotle ... would certainly suggest that their value as principles of unassisted human reason, from Thomas' own point of view, would be negligible.« - Jaffa hätte sich fragen können, ob seine »theologisdien« Prinzipien nidit dodi in der niditchristlidien Philosophie tatsädilidi vorkommen, wenn audi nidit bei Aristoteles: dies ist teilweise der Fall, so daß hier eine Instanz (vielleidit) gegen den aristotelisdien, nidit jedodi den philosophisdien Charakter des Kommentars wäre. Mir sdieint jedoch nicht einmal der Nadiweis gelungen, daß Thomas alle diese Prinzipien dem Aristoteles selbst unterstellt. Vor allem hat aber Jaffa die Technik des mittelalterlidien Kommentierens nidit berücksichtigt, ja nidit einmal den Versudi des Verstehens gemadit; zur Frage vgl. die Anm. 53, S. 102 zitierte Darlegung von Chenu, sowie ebda. Kap. 4, S. 138-174. 18 Vgl. M. D. CHENU, „Authenticasubstantiae separataec in der Frage - der im Artikel selbst nicht mehr erscheint - läßt an die Versuche der Philosophen denken, hier eine höhere als die •menschlichec Erkenntnis anzusetzen, 1, 88, 1; vgl. u. Anm. 42. 38 Vgl. auch 1, 12, 1: „ ... Inest homini naturale desiderium cognoscendi causam, cum intuetur effectum, et ex hoc admiratio in hominibus consurgit.c 37

Glückseligkeit und Naturverlangen

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und auch in unserem Jahrhundert ist die recht alte Kontroverse noch zweimal Gegenstand heftiger Auseinandersetzung gewesen31• Nur in der Minderzahl der Fälle hat der Streit zu Ergebnissen Anlaß gegeben, die für die historische Interpretation der Doktrin des Thomas selbst bedeutsam sind; meist ist Problemstellung und Lösung von aktuellen Bedürfnissen der theologischen Diskussion bestimmt oder so beeinflußt, daß einer theologiegeschichtlich jüngeren Begrifflichkeit des Angriffs eine korrespondierende Umdeutung der Intention des thomistischen Textes durch seine Apologeten gegenübertritt, wenn nicht gar Thomas in Anspruch genommen wird, um seinen Absichten fernliegende Resultate durch seine formale Autorität zu stützen4o. Die Kontroverse geht wesentlich um die Frage, wie mit der Lehre von einem „natürlichen« Verlangen nach der Gottesschau die dogmatisch feststehende Gratuität, die substantielle Obernatürlichkeit derselben zu vereinbaren sei. Sie hat also spezifisch theologischen Charakter, und auch ihre Heftigkeit hat zweifellos den theologischen Grund, daß die kirchlich so sehr eingeschärfte Autorität des Kirchenlehrers Thomas zur Auseinandersetzung zwingt, wo sie auch nur verbaliter den gängigen Formeln widerspricht41 . Immerhin hat sie auch eine philosophische Dimension: wo ein „Natürliches« behauptet wird, muß sich ja wohl die Frage stellen, wie es da mit dem natürlich möglichen Wissen stehe, mit der Einholbarkeit der theologischen Position durch die philosophierende Vernunft. Man wird zugeben müssen, daß die Argumentation, die zum »desiderium naturale« hinführt, durchaus rationalen Charakter hat und ihre Gründe in natürlich erkennbaren Verhältnissen findet: die Hinordnung des Verstandes auf Gott; seine Hinordnung auf die Erkenntnis der wesentlichen Washeit; die Geöffnetheit seiner Intentionalität - das ist bereits im Vorhergehenden gesichert. Auch der philosophierenden Vernunft kann die Einsicht werden, daß allein im Haben der göttlichen Wesenheit in wesenserfassender Schau die vollkommene Erfüllung des Verstehens gegeben ist. Allein, zugleich ist festzuhalten, daß diese Schau Gottes über das hinausgeht, was sich dem Verstehen als erreichbar zeigt. Anlaß gab einmal die Debatte um das Problem der „christlichen Philosophie« (Studientagung der Societe thomiste in Juvisy, 1933) und dann das Werk von H. DE LuBAC, Surnaturel. Etudes historiques, Paris 1946. - Berichte, Kritik und Literaturangaben bietet das Bulletin thomiste. 40 Diesen Vorwurf erhebt TH. DEMAN, a. a. 0. (Anm. 3, S. 125) gegen de Lubac. - Demans Beitrag, obwohl in der beschränkten Form einer Rezension gebracht, ist einer der wichtigsten zur Frage. 41 Freilich hat die Diskussion über Inhalt und Umfang dieser Autorität seit der Enzyklika »Aeterni Patris« (1878) nicht aufgehört: das Bulletin thomiste verzeichnet die Literatur unter einer ständigen Rubrik »Autorite de saint Thomas• (am Ende des Jahrgangs). 39

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Die Bestimmung des äußersten Seinkönnens

Das gilt zunädist für das Verstehen im Zustande des gegenwart1gen Lebens: die hierher gehörigen Absdinitte der Summa contra gentiles dienen dem Nadiweis, daß die Versudie der Philosophen, für dieses Leben eine Erfüllung des Verstehens über die begrenzten Möglidikeiten der spekulativen Wissensdiafl:en hinaus anzusetzen, verfehlt sind42 ; hier hat man sidi, mit Aristoteles, mit der Begrenztheit und der daraus resultierenden »Enge« abzufinden43. »Befreiende kann da die Einsidit sein, daß die persönlich unsterbliche Seele in einem Leben nach dem Tode zu einem Erkennen nach Art der getrennten Substanzen zu kommen vermag und so die Aussidit auf einen höheren Zustand sidi öffnet44 • Aber auch für diese getrennten Substanzen gilt, daß ihnen ein Verlangen innewohnt, das nidit anders gestillt werden kann als durdi das Eingreifen eines übernatürlichen Wirkenden45 : von diesem her wird das» Verlangen« zu einer wirklidien »Bewegung« auf jene höchste Möglidikeit, die nun erst sich als erreichbar zeigen kann48 • Damit wird sie denn Ziel der Praxis, ein wenn audi nur mit übernatürlidier Hilfe - zu Erwirkendes, als weldies sie philosophisch nidit gedacht oder »verlangt« werden kann. Ist sie aber von einem natürlichen Verstehen nidit als erreidibar zu sehen, so kann es zwar ein Wollen im Sinne des Wünsdiens geben, nidit aber ein eigentlich vollendetes Wollen im Sinne des Wählens 47 : sie ist nicht praktisdi bedeutsam, es sei denn in dem Sinne, daß sich die Vernunft der ihr von Gott her zuzuteilenden Erhebung offen halten mag 4s. Will man auf Grund des »desiderium naturale« von einer Zielbestimmtheit des Menschen reden, so kann das nur gesdiehen im Sinne einer »KonSCG III, 41-45 kritisiert die Versuche Alexanders, des Themistius und der Araber, diese Erkenntnis getrennter Substanzen nachzüweisen. 43 SCG III, 48: •Quia vero Aristoteles vidit quod non est alia cognitio hominis in hac vita quam per scientias speculativas, ponit hominem non consequi felicitatem perfectam, sed suo modo.« - Offensichtlich wird hier Aristoteles wegen dieser Beschränkung auf das »Menschliche« (vgl. Anm. 28, S. 132) gelobt; sie drüdtt das »wahre« Verhältnis aus, wie es philosophisch erfahren wird (vgl. auch 1, 88, 1), vgl. Kap. 6, § 4. " Vgl. den berühmten Text SCG III, 48: »Ex quo satis apparet quantam angustiam patiebantur hinc inde eorum praeclara ingenia. A quibus angustiis liberabimur si ponamus, secundum probationes praemissas, hominem ad veram felicitatem post hanc vitam pervenire posse, anima hominis immortali existente, in quo statu anima intelligit per modum quo intelligunt substantiae separatae, sicut in Secundo huius operis ostensum estc. 45 SCG III, 49-50 und 52; 1, 62, 1. " 1, 62, 1 : „ ... nulla creatura rationalis potest habere motum voluntatis ordinatum ad illam beatitudinem, nisi mota a supematurali agente.« - Der (aktuelle) »motusc wird dem »desideriumc gegenübergestellt. 0 Sofern diesem eine Bestimmtheit »ex praemeditationec zukommt, nach II-II, 30, 1. 48 Nach 1-11, 5, 5 ad 1 (Text Anm. 54, S. 141). 41

Glückseligkeit und Naturverlangen

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venienz« der Erhebung durdi die Gnade49, der Ansatz des Naturverlangens bedeutet dann, daß in der Natur eine positive Bereitsdiafl: zur Annahme dieser Erhebung vorliegt, weldie die eigentlidie Aneignung des Obernatürlidien durch die Natur ermöglicht, im Sinne des Prinzips, daß die Glückseligkeit aus »inneren Prinzipien« der Natur gewirkt werden muß 50• Vom Naturverlangen her zeigt sidi also wesentlich dies, daß der Mensdi »capax dei« ist51, daß die hödiste denkbare Weise der Glückseligkeit ihm »möglidi« ist. Ob aber dies eine »reale« Zielbestimmtheit sei, ist eine andere, eigens aufzurollende Frage, und sie ist nur theologisch zu beantworten, da sidi vielmehr philosophisdi zeigen läßt, daß der Mensdi - und überhaupt jede Kreatur - nidit fähig ist, von dem, was er naturhaft bei sidi hat, bis zum Erreidien dieses Zieles vorzustoßen52 • Das allgemeine Axiom, ein Naturverlangen könne nicht eitel und niditig sein, das Thomas zuweilen bei dieser Lehre heranzieht53, steht dieser Einsdiränkung der natürlidien Wirkfähigkeit nidit entgegen; nur dann wäre das Verlangen nadi der Gottessdiau niditig, wenn audi jene Konvenienz nidit bestünde, die zur Realität werden kann54• Philosophisdi liegt die Bedeutung dieser Doktrin darin, daß sie die Entsdiränktheit der mensdilidien - und überhaupt jeder gesdiöpflidien Vernunft bis zur letzten Konsequenz durdidenkt. Auf spekulative Einsidit gegründet, hat sie dann audi einen spekulativen Sinn; auf die »Praxis« und deren Erfahrung wird in der Wesensanalyse keine Rücksicht genommen. Sofern man das tut - wie die Philosophen, die in der Summa contra gentiles behandelt werden55 - sdiränkt man sich gleidi auf Vgl. TH. DEMAN, a. a. 0. (Anm. 3, S. 125), S. 440-444. - Sehr charakteristisch ist der Beweisgang von SCG III, 51: Aus dem »desiderium naturale« wird mit Notwendigkeit nur auf die Möglichkeit der unmittelbaren Gottesschau geschlossen: »Cum autem impossibile sit naturale desiderium esse inane ... necesse est dicere quod possibile sit substantiam dei videri per intellectum.« Die tatsächliche Zielbestimmtheit folgt dann aus der Offenbarung (ib.): »Haec igitur visio immediata dei repromittitur nobis in Scriptura ... « und verlangt eine übernatürliche Mitwirkung Gottes (ib. 52-53). 60 1-11, 2, 4. 51 Vgl. 1-11, 5, 1 u. ö.; die augustinische Herkunft und zugleich die spezifisch theologische Bedeutung dieser Lehre zeigt 1, 113, 10. H 1-11, 5, 5; 1, 12, 4; 1, 62, 1. 53 TH. DEMAN, a. a. 0„ S. 443, macht darauf aufmerksam, daß Thomas sich 1-11, 3, 8 auf das »desiderium naturalec beruft, aber das »non potest esse inane« wegläßt, um im maßgeblichen Text jedes mögliche Mißverständnis auszuschließen (wie Deman glaubt, interpretieren zu können). H 1-11, 5, 5 ad 1: „ ... natura ... nec deficit in necessariis, quamvis non daret sibi aliquod principium quo posset beatitudinem consequi; hoc enim erat impossibile. Sed dedit ei liberum arbitrium, quo possit converti ad deum, qui eum faceret beatum.« 15 Getrieben von der erfahrenen »Enge«, vgl. Anm. 43-44. 49

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Die Bestimmung des äußersten Seinkönnens

das »gegenwärtige Leben« ein, das die spekulative Betradttung gerade hinter sidt lassen will. Es sdteint durdtaus fraglidt, ob Thomas eine Erkenntnis seiner vorgetragenen Lehre durdt die Philosophen überhaupt für möglidt gehalten hätte; es sdteint mehr Indizien gegen als für eine soldte Meinung zu geben5e. Der faktisdt theologisdte Zusammenhang ist es jedenfalls, der allein die moralisdte Bedeutung der Doktrin und ihre Anfangsstellung in der praktisdt geridtteten Betradttung gibt und reditfertigt; es sdteint sogar fraglidt, ob eine Philosophie, die sie aufnähme, sie in der Moralphilosophie einsetzen würde: entsteht dodt audt für die Theologie die Frage, wie sidt das jeweilige praktisdte Tun nun zu dieser ganz im Spekulativen gelegenen Vollendung verhalte, wie es zu ihm beitrage und es verursadte -; da alles Tun vom letzten Ziel abhängt, muß diese Frage gestellt werden. § 4: Die praktisdte Bedeutung der vollkommenen Glückseligkeit und die Notwendigkeit der Frage nadt der unvollkommenen Glückseligkeit (q. 4 und 5)

Was die Gegenwart Gottes in der Sdtau bedeuten würde, wird in Quaestio 4 untersudtt. Vollkommenheit des Erkennens in der Sdtau, vollkommene Gegenwärtigkeit des Ersdtauten, vollkommenes Anhangen des Willens im Genuß des hödtsten Gutes, die der ersdtauten Gegenwart folgt, treffen darin zusammen (Art. 1-3). Natürlidt ist der anhangende Wille notwendig ein »redtter« (Art. 4); die moralisdte Bedeutung des intelligiblen Zieles deutet sidt an. Fragt man nadt der Bedeutung des Leibes in der vollkommenen Glückseligkeit, so steht hier die Lehre von der Auferstehung im Hintergrund; obwohl der Leib nidtt zum »esse« der Glückseligkeit gehört, trägt er dodt bei zum »bene esse«, zur »omnimoda perfectio« der Glückseligkeit (Art. 5), bedarf dazu dann audt einer eigentümlidten Vollendung (Art. 6). Dagegen sind äußere Güter völlig entbehrlidt (Art. 7), entbehrlidt ist audt die Gesellsdtafl: von Freunden, wiewohl audt diese zum »bene esse« der Glückseligkeit beiträgt (Art. 8). Anzumerken ist hier, daß die Titelfrage der Quaestio 4 nadt den »Erfordernissen« der Glückseligkeit von deren Wesensbegriff aus fragt, sofern zugleidt die »unvollkommene« mitbehandelt wird, die aus dem Blick auf das Konkrete bestimmt und aus der Mannigfaltigkeit zur Einheit gebradtt wird. Die vollkommene Glückseligkeit, die diese Einheit gleidt anfänglidt hat, muß das, was sie »erfordert«, zur Folge haben, so daß sidt unsere Umdeutung der Frage redttfertigt. Diese Folgen greifen dann 61

Mindestens schreibt ihnen Thomas nirgendwo diese Lehre zu!

Glückseligkeit und Naturverlangen

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allerdings über das hinaus, was sidi als das Wesentlidie gezeigt hat, und das wird aus der Verwendung von Bezeidinungen wie »omnimoda perfectio«, »bene esse« deutlidi. Im übersdueiten der bloßen Wesensfolgen zeigt sidi wiederum, daß hier eine theologisdi gesidierte Tatsächlichkeit behandelt wird, die allein aus der Konvenienz des Erfaßten ein sicher Gewußtes werden läßt. Vollends wird bei der Frage nach dem »Erreichen« der vollkommenen Glückseligkeit (Quaestio 5) aus der Konvenienz argumentiert, wenn die Weise festgelegt werden soll, in der sich das konkret-praktische Leben ihr zuordnet (Art. 7). Vom Wesen her läßt sich die abstrakte Möglichkeit des Erreichens dartun, die ja schon in der Lehre vom »Naturverlangen« mit ausgesprochen ist (Art. 1); ebenso die Möglichkeit eines verschiedenen Maßes der Aneignung des höchsten Gutes, entsprechend der Aufnahmefähigkeit des Aneignenden, ferner die Unmöglichkeit, diese Glückseligkeit im gegenwärtigen Leben oder überhaupt auf Grund der naturhaften, eigenen Fähigkeiten des Menschen zu erreichen (Art. 2, 3, 5): sie wird nur durch das Wirken der unbegrenzten Kraft Gottes erreicht, ist aber dann wesentlich unverlierbar (Art. 6, 4). Schließlich ist wesensmäßig notwendig, daß jeder Mensch sich auf diese Glückseligkeit richtet, sofern er im Wollen nichts anderes will als die Erfüllung seines Willens wiewohl er sich täuschen kann hinsichtlich des Seienden, in dem diese Erfüllung sidi finden mag (Art. 8). Aber »praktisch« entscheidend ist doch die Frage, wie es mit der Bedeutung des menschlichen Handelns, das ja wesentlich vom letzten Ziel her bestimmt wird, für das Erreichen der vollkommenen Glückseligkeit stehe (Art. 7). Die »Rechtheit« des Willens gehört (nach q. 4 art. 4) zu den wesensnotwendigen Folgen oder, in anderer Fragerichtung, Erfordernissen der vollkommenen Glückseligkeit; aber da diese allein von Gott gewirkt werden kann, folgt daraus nicht die Forderung, daß in konkret-partikulären Akten, die aus rechtem Wollen kommen, der Mensch sidi dazu bereiten müsse. Das folgt erst durdi eine positive Anordnung Gottes, der eine höchste Konvenienz zukommt, sofern sie die der Natur des Menschen entsprechende Weise einer Vervollkommnung durch mannigfaltige Akte aus vernunftgeleitetem Wollen auch in Hinsicht auf das Höchste bewahrt - »Ut servetur ordo in rebus« 57 • Diese Akte haben dann den Charakter von Verdiensten, die Glückseligkeit den des Lohnes: wie angemessen dieses Verhältnis ist, zeigt eine .i\ußerung des Aristoteles, für Art. 7 ad 1; vgl. 1-11, 114,1 und 2. - Die »rechte Ordnung« erfordert streng mindestens einen verdienenden Akt, nicht aber notwendig eine Mehrzahl, vgl. 1, 62, 5: »Meritum autem beatitudinis non solum in angelo, sed etiam in homine esse potest per unicum actum, quia quolibet actu caritate informato homo beatitudinem meretur.«

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Die Bestimmung des äußersten Seinkönnens

den ebenfalls die Glückseligkeit der Lohn tugendhaften Handelns ist68 • Der Hinweis auf Aristoteles dürfte zeigen, daß an dieser Stelle die Beziehung zum Bereich des Konkret-Praktischen, wie er auch Gegenstand philosophisch-praktischen Wissens ist, in einer Weise gefunden ist, die eine unmittelbare Bedeutsamkeit des natürlichen moralischen Wissens für die Theologie ermöglicht. Die vollkommene Glückseligkeit war in rein »intellektualistischem« Sinne entwickelt, ihre Bedeutung für das praktische Leben, das noch nicht zum Ende gelangt ist, blieb ungewiß: Grund für Handelnsregeln gibt ihr Wesensbegriff nicht her, und auch das »Naturverlangen zur Gottesschauc, das in der Vernunft angetroffen wird, ist zunächst ein Vernunftverlangen, also das eines besonderen Vermögens, neben dem andere Antriebe wirksam bleiben, denen eine gewisse Selbständigkeit zukommt59 • Die positive Zuordnung dessen, was in der »Ordnung der Dinge«, wie sie gerade auch dem natürlichen praktischen Verstehen offenliegt, erscheint, zu der vollkommenen Glückseligkeit durch die göttliche Weisheit unter dem Begriff der Verdienstlichkeit faßt nun einerseits das Mannigfaltige von spekulativen und praktischen Antrieben zur Einheit zusammen, andererseits wird durch die Wahrung jener Ordnung der Dinge die natürliche Erkenntnis des Praktischen als auch unter letztem Gesichtspunkt maßgeblich gerechtfertigt. Dabei ist die Einheit, sofern sie positiv von Gott gestiftet wird, ausschließlich theologisch geleistet und somit ausschließlich unter theologischem Aspekt eine praktische; wiederum ist die Eigenständigkeit des praktisch-natürlichen Wissens ausdrücklich theologisch anerkannt und gesichert, wenn sie auch von sich aus noch nicht das Letzte zu geben vermag: sie ist als vollendbare eingenommen in die Synthese, die sie vollendet. Es ist einzusehen, daß von der Theologie, dem vollendenden Erkennen her Anlaß besteht, nach dem zu vollendenden Vollendbaren zu fragen, wie es in sich selbst zu verstehen ist; so hat die Frage nach dem, was sidt aus natürlicher praktischer Sicht als erfüllendes Ziel zeigt, als unvollkommene Glückseligkeit dieses Lebens, einen wohlbestimmten Ort in der Synthese. Dieser Frage ist nun nachzugehen, da sie für die natürliche Moralphilosophie die entscheidende ist -; was für Thomas natürliche Moralphilosophie bedeutet, muß sich an der Antwort absehen lassen. Allerdings ist dieser Beleg redit zweifelhaft, eigentlidi nur verbal: Aristoteles und audi Thomas als Kommentator betonen beide an dieser Stelle das Erwirktwerden des Glückes »a causa humanac, durdi Gewöhnung, Lernen, Ubung, In Eth. 1, 14 n. 169; das beeinträditigt aber nidit die Absidit des Belegs, s. das Folgende. 59 Diese relative Selbständigkeit der Antriebe ist die erfahrene Grundlage der Untersudiung, die dann »von oben« bestätigt wird, vgl. 1-11, 3, 6 ad 2: »... naturaliter desideratur non solum perfecta beatitudo, sed etiam qualiscumque similitudo vel participatio ipsius.«

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Das Glück dieses Lebens und die natürliche Moral

9.

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KAPITEL: DAS GLÜCK DIESES LEBENS UND DIE NATÜRLICHE MORAL

§ 1: Der Zustand des •gegenwärtigen Lebens« als Grenze einer natürlidien Moral Unsere Betraditung geht wieder an den Punkt zurück, wo sidi die im Ganzen maßgebliche spekulative Linie des Glückseligkeitstraktates von der •praktisdien« trennte1 • Wenn die erstere vom Wesensbegriff aus, ohne Rücksidit auf die konkret-praktisdie Erfahrung, aber auf dem Untergrund der in der theologisdien Einstellung stets anwesenden Sidierung durdi die tatsädilidie und (praktisdie) Tatsadien gebende Offenbarung, zur Entfaltung der Wesensgesetzlidikeit des Letzten und Vollkommensten weitersdiritt, so gewann die praktische Sehweise, mit ihrer ständigen Bezogenheit auf die jederzeit erfahrbaren Bedingungen tatsädilichen mensdilichen Daseins, sogleich vermehrte Eigenbedeutung. Das wird nur bestätigt durdi die Weise, wie am Ende des Traktates die beiden Linien wieder zusammengeführt werden: wenn ihre Vereinigung durdi den Begriff einer Verdienstlidikeit gesdiieht, die in positiver Anordnung Gottes gründet, so entbehrt sie damit der spekulativen Stringenz und läßt die Bedeutung natürlidi-praktisdier Einstellung nidit versdiwinden, sondern hervortreten; wenn andererseits ein Verhältnis wesensgemäßer Konvenienz zwisdien dem •natürlidi« sidi Zeigenden und der theologisdien Setzung behauptet wird - nämlich in der Bezugnahme auf die •Ordnung der Dinge«, die es zu wahren gilt -, so hat diese Aussage nur dann einen Sinn, wenn dem Natürlidien, eben jener Ordnung der Dinge, in sich selbst ein eigenes Redit und ein eigener Raum zugestanden ist. Selbstverständlidi wird der Eigenraum des natürlich-praktisdi Erkennbaren des gegenwärtigen Lebens nicht in der Weise ausgefaltet, wie er sidi einem rein natürlidien Verstehen von sich aus darstellen würde. Von der unvollkommenen Glückseligkeit, »dem Glück dieses Lebens«, ist nidit in eigensystematischer Analyse die Rede, sondern in einer Anzahl von Hinweisen, die sidi dem allgemein maßgeblidien Rahmen der •Metaphysik des Handelns« einfügen, wie er die Hauptlinie bestimmt; in Hinweisen, die ständig auf die Lehre von der vollkommenen Glückseligkeit bezogen sind. Ihre Herauslösung und Aneinanderreihung ergibt im eigentlidien Sinne deshalb keine •Linie«: dodi ist diese Bezeichnung nidit ganz unzutreffend, wenn sidi zeigen wird, daß diese Hinweise aus einer zusammenhängenden Auffassung stammen, aus der sie erst voll verständlich werden. Dieser Mangel ist keineswegs verwunderlidi, sondern eher die Tatsadie, 1

Vgl. Kap. 8, § 2.

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Die Bestimmung des äußersten Seinkönnens

daß der Theologe, für dessen Sicht einzig die vollkommene Glückseligkeit maßgeblich sein muß, immer wieder auf die Unvollkommenheit des Natürlidt-Praktisdten hinsdtaut. Es drängt sidt offenbar auf als das Tatsädtlidte im mensdtlidten Dasein, vor dem sidt die wesensgesetzlidte Analyse zu redttfertigen hat; es selbst aber, als Tatsädtlidtes, bedarf nidtt der Redttfertigung - es ist Ausgangspunkt und bedarf der Interpretation. Als Ausgangspunkt wird es in den Argumenten 4-6 von q. 3 a. 2 genommen und in der zugehörigen Antwort zugestanden. Wie oben1 gesagt, wird der Fortgang der wesensgesetzlidten Analyse geredttfertigt durch den Hinweis auf die geoffenbarte Tatsädtlidtkeit dessen, was sidt in ihr eröffnet, und so wird theologisdt die Einheit der spekulativen Perspektive hergestellt. In dieser Einheit bietet sidt die Interpretation des Glückes dieses Lebens als »Teilhabe« an, die wiederum mehrfadt als »Khnlidtkeit« (similitudo) erläutert wirds. Wie ebenfalls sdton gesagt ist, drücken diese Begriffe nicht nur das Zurückbleiben des Unvollkommenen hinter dem Vollkommenen aus, sondern deuten zugleidt auf die Positivität des Natürlidten; was sich in der natürlidt-praktisdten Erfahrung zeigt, ist durdtaus dem gegenwärtigen »Zustand« des Mensdten angemessen, ist - wie Aristoteles bestätigt - ein edtt »mensdtlidtes« Glück'. Der Begriff eines »Zustandes« (status), hier ohne nähere Erläuterung eingeführt, wird von Thomas in mannigfaltigen Zusammenhängen gebraudtt: so etwa soziologisdt, wo »Status« mit »Stande zu übersetzen ist5; ferner theologisch, wo die versdtiedenen Epochen der Heilsgesdtichte, die sidt nadt dem Verhältnis der Mensdten zum Gesetz Gottes unterscheiden, Zustände heißen 8 , oder audt vor und· nadt der Ursünde die Mensdtennatur sich in einem je anderen „zustande« befindet7 ; gelegentlich heißt ein Lebensalter »Zustandc 8 • »Zustande bedeutet eine Besonderung der Natur, der eine gewisse Festigkeit, »immobilitas« zukommt: das sdteint das durdtgängig gleidte Element in diesem so variablen, analogen Begriff zu sein9 • In unserem Zusammenhang entspridtt dem Zustand des Menschen »in diesem Leben« natürlidt ein solcher »nadi Vgl. Kap. 8, § 2. a 1-11, 3, 6 ad 2 und 5, 3 ad 3. ' Vgl. die Anm. 28, S. 132 zitierte Stelle. 1 11-11, 183, 1. • 1-11, 106, 4. 7 1-11, 109, 2. 8 11-11, 1, 7 ad 4. • 11-11, 183, 1: „Status, proprie loquendo, significat quandam positionis differentiam, secundum quam aliquis disponitur secundum modum suae naturae cum quadam immobilitate.« 1

Das Glütk dieses Lebens und die natürlidte Moral

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diesem Leben« - wobei angemerkt sei, daß dieser zweite theologisch wieder in einen solchen »vor« und »nach der Auferstehung« unterschieden werden kann10• Doch ist die erstere Unterscheidung nicht notwendig theologisch: auch rein philosophisch ist dem gegenwärtigen Leben, in dem die menschliche Seele mit dem Leibe verbunden ist, jenes andere entgegenzusetzen, in dem sie vom Leibe getrennt lebt; immer noch ist sie dieselbe Natur, hat aber eine andere Weise des »naturhaften Seins« 11 • In diesem Sinne ist hier die Rede vom gegenwärtigen Zustand des Menschen12. Daß der Zustand des Getrenntseins der Seele im Rahmen einer philosophischen Betrachtung (spekulativen Charakters) zu behandeln ist, folgt schon daraus, daß für Thomas die Unsterblichkeit der menschlichen Seele demonstrierbar ist13• So läßt sich über die Tätigkeit der getrennten Seele eine Reihe von Aussagen machen: Ihr Erkennen wird in der Weise vor sich gehen wie bei den getrennten Substanzen, mittels eingegossener Erkenntnisbilder14 ; sie erkennt nicht mehr in der Hinwendung zu den sinnlichen Vorstellungen, die an Körperliches gebunden sind, sondern ist unmittelbar dem in sich und einfachhin Intelligibeln zugeordnet15 • So ist ihrem natürlichen Erkennen der Zugang zu den getrennten Substanzen eröffnet, der im gegenwärtigen Leben verschlossen ist, und darin gewinnt sie die letzte Vollendung der ihr naturhaft möglichen Erkenntnis16 • Jedoch, wenn diese Weise des Erkennens »vornehmer« ist als die des gegenwärtigen Lebens, wenn die Seele in der Trennung vom Leibe eine vollkommenere Tätigkeit haben kann als in der Vereinigung mit ihm17, so ist die dem Leibe geeinte Seele dennoch vollkommener als die getrennte in Hinsicht auf die »natura specieic 1B, und das heißt doch wohl: der Mensch erfüllt im gegenwärtigen Leben mehr und in vollerem Maße das, was er sein kann, als im getrennten. Beachtet man ferner, daß die ge1-11, 67, 1 ad 3. 1, 94, 2: »Status animae hominis distingui potest dupliciter. Uno modo secundum diversum modum naturalis esse: et hoc modo distinguitur status animae separatae a statu animae coniunctae corpori.« 12 Es ist also nidtt ein theologisdter »Status naturae lapsae« gemeint - und ebensowenig ein theologisdter »status naturae purae« -, sondern jener ontologisdt zu besdtreibende Zustand, in dem sidt audt der Christ befindet; vgl. audt 1, 12, 11und1, 88, 1. 11 Vgl. 1, 75, 6 u. ö. 14 1, 89, 1 und ad 3. 15 1, 89, 1. 18 Q. de an. 17 ad 3: »Ultima perfectio cognitionis naturalis animae humanae haec est, ut intelligat substantias separatas«; 1, 89, 2 ad 3 sdtr~nkt diese Aussage stark ein. 17 Vgl. 1, 89, 1 und Q. de an. 17 ad 1. 18 1-11, 4, 5 ad 2. 10 11

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Die Bestimmung des äußersten Seinkönnens

trennte Seele unter den getrennten Substanzen die niedrigststehende ist, nicht begabt mit einer solchen Mächtigkeit des Erkenntnisvermögens, daß sie durch die Allgemeinheit weniger Erkenntnisbilder (species) auch zur Erkenntnis des Besonderen und Einzelnen durchdringen könnte, so begreift man, daß die an sich niedrigere Weise des Erkennens mittels der sinnlichen Vorstellungen dennoch, weil sie ein Verstehen des Besonderen und Eigentümlichen des Materiellen ermöglicht, ein vollkommeneres Erkennen bewirken kann als es die getrennte Seele von sich aus zu erwerben vermöchte19 • Es erklärt sich von da aus leicht, warum es dem Menschen »natürlich« ist, das Fortbestehen des gegenwärtigen Lebens zu wünschen und den Tod zu fliehen 2 0. So ist es auch dem Menschen natürlich und angemessen, seine Vollendung zunächst im Bereich des gegenwärtigen Lebens zu suchen; dies ist eigentlich »menschlich«. Zugleich wird verständlich, warum die Philosophen sich eindringlich bemüht haben, schon für das gegenwärtige Leben die Möglichkeit einer Erkenntnis der getrennten Substanzen nachzuweisen: die Summa contra gentiles widmet dem Nachweis ihrer Unmöglichkeit eine längere Kapitelreihe21 • Der Wunsch des natürlichen Denkens, einerseits im Raum des gegenwärtigen Lebens zu bleiben, im Bereich des Wirkbaren, der Praxis, andererseits aber die im spekulativen Ausgreifen erhobene Möglichkeit einer höheren Weise der Tätigkeit mit hineinzuziehen, führt zu einer ausweglosen Situation der »Enge« 22 • Man kann sich aus ihr befreien, indem man die Vollendung des Menschseins entschlossen ins jenseitige Leben setzt; aber, wenn das mehr sein soll als eine »theoretische« Lösung, in der nichts anderes ausgesagt wird als die Offenheit zu einer von außen kommenden Erhebung des Menschen, wenn diese Position »praktischen« Sinn haben soll, ist sie nur theologisch zu vollziehen23 • Die eigentlich »praktische« Einstellung eines natürlichen Philosophierens wird sich im Gegebenen halten und nur von einer Vollendung reden, wie sie eben »menschlich«, dem gegenwärtigen Zustand proportioniert ist; das ist die aristotelische Haltung!4 • Ib. (Anm. 17-18). 1-11, 5, 3. - Im Zustand des Getrenntseins ist die Seele wegen der Unvollkommenheit ihres Erkennens nidtt naturhaft (vollkommen) glücklidt, 1, 89, 2 ad 3; andererseits hat sie ihr Naturhaftes sogleidt vollständig bei sidt, denn das ist die Weise der getrennten Substanz, 1, 58, 3. Sie kann also von sidt aus nidtt mehr Vollendung erwirken, nur Vollendung erfahren, vgl. 1, 89, 4. Der Tod endet das tätige Zielstreben (vgl. dazu L. ÜEING-HANHOFF, Zur thomistischen Freiheitslehre, in: Scholastik 31 [1956], S. 172). 21 Vgl. Anm. 42; S. 140. H Vgl. Anm. 43; S. 140. 23 Dies zeigt sicli audt z.B. 1, 89, 2 ad 3 - sobald von »ultima felicitasc die Rede ist. Audi Q. de an. 17 und SCG III, 45 wird auf den Glauben verwiesen. 24 Vgl. audt Q. de an. 16, bes. die zusammenfassende Stelle: „ ... ultima feli19

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Diese Haltung, die den tatsächlichen Gegebenheiten der erfahrenen Natur Rechnung trägt und die Begrenztheit hinnimmt, die sich zeigt, wenn die spekulative Vernunft in der ihr eigenen Weise auf weitergehende Möglichkeiten ausgreift, wird von Thomas anerkannt: aus ihr ergibt sich die »natürliche« Moral, auf die sich der Theologe ständig bezieht25, Wie man sieht, darf man - sofern man überhaupt von natürlicher Moral bei Thomas reden will - darunter nicht ein hypothetisches Normenganzes verstehen, das etwa von einem »Status naturae purae« aus entworfen wäre; auch nicht eine Sammlung bloß allgemeiner »praktischer« Sätze, die einer weiteren theologischen Determination bedürftig wären, um »praktisch-praktisch« zu sein: sie ist vielmehr die wirkliche Moral wirklichen Lebens - jenes Lebens, in dem schließlich jeder Mensch, auch der begnadete, sich befindet26• Sie ist darum aber noch nicht die Moral des Thomas, die vielmehr die theologische ist, sondern von ihm aufgenommen als zu interpretierende, weil sich in ihr wirkliche Verhältnisse zeigen.

§ 2: Die unvollkommene Glückseligkeit: Strukturprinzip (Summa theologiae 1-II, q. 3 art. 3), Aufbauelemente (q. 4), Zweiheit des Glücks (q. 3 art. 6), Vorrang der Kontemplation Im Zusammenhang des Glückseligkeitstraktates der Summa theologiae rückt die Frage nach dem Glück dieses Lebens erstmalig in unserem Ausgangstext q. 3 a. 2 ad 4 in den Vordergrund. Es zeigt sich, daß auch das »menschliche« unvollkommene Glück in einer Tätigkeit bestehen muß, und zwar in der am meisten beständigen und geeinten. Es zeigt sich ferner (Art. 3), daß zwar auch dies Unvollkommene nicht wesentlich in einer Tätigkeit des sinnlichen Teils der Seele bestehen kann, aber dieser hat doch einen wichtigen vorgängigen Beitrag dazu zu leisten: die Tätigkeit der Vernunft - die sich als die höchste herausstellen wird citas humana, quae potest haberi in hac vita, secundum intentionem Aristotelis est cognitio de substantiis separatis qualis potest haberi per principia philosophiae et non per modum continuationis quam aliqui somniaverunt.« 25 Daß dies tatsädilidi die aristotelisdie ist, liegt also an deren Besdiränkung auf den Bereidi praktisdier Erfahrung. Es sdieint mir unzweifelhaft, daß Thomas insofern audi »historisdic die aristotelisdie Ethik riditig versteht. 28 Bes. gegen Maritain (vgl. Kap. 6, § 3 und bes. Anm. 35, S. 94). Für die Hypothese des »Status naturae purae« gibt es bei Thomas nur Ansätze (wie De malo 4, 1 ad 14 und 5, 1 ad 15), und diese natürlidi nidit im Kontext philosophisdi-praktisdier Wissensdiaft. Der in praktisdier Perspektive »erfahrene« Zustand ist der ontologisdi »tatsädilidiec im Sinne der Texte Anm. 11-12, S. 147; diesen »erfährt« audi der begnadete Mensdi so, wie er tatsädilidi ist wenn audi in einem weiteren Sinnganzen, so daß er nidit notwendig dieselbe Moral hat wie der Niditgläubige.

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bedarf der vorausgehenden sinnlichen, da sie auf die sinnlichen Vorstellungen angewiesen ist. überhaupt bedarf die vollkommenste Tätigkeit dieses Lebens einer Mehrzahl partikulärer Güter niedrigerer Ordnung als Voraussetzung (ad 2); die Vollendung des ganzen Menschen geschieht nicht so, daß das Niedere durch ein überströmen vom Höheren her, das mit der Quelle allen Gutes innig geeint ist, vervollkommnet wird, sondern umgekehrt baut sich die Vollendung des Höheren auf einer vorausgehenden Vollendung des Niederen auf (ad 3). In diesen kurzen Bemerkungen ist schon das Prinzip angegeben, nach dem die Unterschiedenheit der vollkommenen und der unvollkommenen Glückseligkeit begrifflidi. zu fassen ist, dergestalt, daß sich von da aus die charakteristischen Züge beider herleiten lassen. Im vollkommenen Zustande der Vereinigung mit Gott, in dem der Mensch die Gesamtheit alles Guten besitzt und somit kein Gut mehr zu entbehren braucht, erfährt er notwendig eine allseitige Vervollkommnung, der sich nichts in ihm entziehen kann, von oben her; wenn an irgendeinem Punkte seines Wesens - selbstverständlich am höchsten - diese vollkommene Einung wirklich eintreten kann, wird sie ihn in allem, was in ihm ist, mächtig ergreifen, so sehr, daß sie durch keinerlei Einwirkung mehr ihm zu entziehen ist27 • Jede Teilvollendung, die in der Mannigfaltigkeit des Menschenwesens eintritt, ist dann als Folge der wesentlichen Einung zu sehen. Dagegen ist die Struktur einer Glückseligkeit des gegenwärtigen Lebens grundsätzlidi. anders. Wenn jene vollendende Einung mit Gott, die von oben her in das Mannigfaltige des Seinkönnens einströmt, nicht möglidi. ist28 , so kann sich eine relative Vollendung des ganzen Menschen nur aus einer fortschreitenden Vervollkommnung der miteinander wirkenden Teile aufbauen, die sich erst im Ergebnis zur Einheit der Glückseligkeit zusammenschließt. Von unten her wächst die Glückseligkeit dieses Lebens auf: jene Teil-Vollendungen sind nidi.t ihre Folgen, sondern Erfordernisse, welche vorbereiten, »vollenden«, helfend beitragen oder begleiten29 • Die 4. Quaestio unseres Traktates führt ihren Katalog auf: die »Lust« tritt begleitend und vollendend hinzu (Art. 1-2) 30 ; die Rechtheit des Wollens muß zum wahren Ziel hinordnen (Art. 4); unentbehrlich ist der Leib (Art. 5), der die sinnliche Tätig1-II, 5, 4. Nämlich in „diesem Leben«, 1-II, 5, 3. 28 1-II, 4, 1: „ ... quadrupliciter aliquid requiritur ad aliquidc, nämlich als »praeambulum vel praeparatoriumc, „per:ficiens«, »Co:ldiuvans extrinsecus« oder „concomitans«; ersichtlich ist diese Vielzahl »von unten« her gesehen. 30 Art. 2 löst ausdrüddich eine von Aristoteles offengelassene Frage (Nik. Eth. X, 5 [1175 a 18-20], vgl. In Eth. X, 6 n. 2037-2038), übrigens ganz im Sinne des Aristoteles; der philosophische Sinn des Textes liegt in dieser Bezugnahme offen zutage. 27

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keit ermöglicht; auch die Vollkommenheit des Leibes (Art. 6) - er könnte sonst hinderlich sein (ad 2); selbst äußere, materielle Güter sind als Mittel (instrumenta) erforderlich (Art. 7), schließlich auch die Gesellschaft von Freunden, um Gutes an ihnen oder mit ihnen zu tun (Art. 8). Angewiesen auf die Mannigfaltigkeit der Teil-Vollendungen, ist die Glückseligkeit des gegenwärtigen Lebens nicht in eine solche schlechthinnige Einheit zusammenzufassen, wie der Begriff des »vollkommenen und genügenden Gutes« erfordertest. Selbst wenn man davon absehen wollte, daß die Einung mit Gott in der Schau hier nicht möglich ist, zeigt sich sogleich, daß weder alle übel ausschaltbar, noch jegliches Verlangen erfüllbar ist, daß überhaupt das gegenwärtige Leben als Ganzes wie alle seine Güter unter dem Gesetz der Vergänglichkeit, des Todes stehen das Glück dieses Lebens bleibt hinter dem zurück, was schon der allgemeine Begriff der Glückseligkeit angibtS 2• Sie selbst unterliegt der Möglichkeit eines Wandels, sie kann verloren oder durch äußere Einwirkungen beeinträchtigt werden: so entspricht es dem Zustande des menschlichen Lebens, und das ist es wiederum, was Aristoteles sagen läßt, die in diesem Leben Glücklichen seien es nicht einfachhin, sondern »wie Menschen«33. Unsere Darstellung hat dem Ablauf des Glückseligkeitstraktates vorgegriffen: die Frage, in welcher Tätigkeit sie nun wesentlich bestehe, ist nun weiter zu verfolgen. Daß der Wille sie als solcher nicht erwirke, erhellt aus der Wesensanalyse (q. 3 a. 4), wird aber gerade an einem Beispiel aus dem gegenwärtigen Leben erläutert: würde der Wille als solcher die Gegenwart eines Gutes wirken können, so genügte es, Geld zu wollen, um es zu haben. So bleibt die Tätigkeit des Verstandes übrig, wobei zu fragen ist, ob sein spekulatives oder sein praktisches Tun den Vorzug habe (Art. 5). Hier zeigt sich alsbald die Überlegenheit des spekulativen Verstandes, und die Vollendung des künftigen Lebens wird völlig· in die Kontemplation gesetzt. Aber für die unvollkommene Glückseligkeit des gegenwärtigen gilt, daß sie (zwar) zuerst und vorzüglich in der Kontemplation bestehe, (jedoch) in zweiter Linie in der Tätigkeit des praktischen Verstandes, der konkretes menschliches Tun und menschliche Leidenschaft in Ordnung bringt. Dies ist nun genau die Lehre von der »duplex felicitas«, wie sie Thomas Dies ist nicht notwendig der theologische Begriff, da das >perfectumc und >per se sufficiensc die ersten Bedingungen des letzten Zieles auch bei Aristoteles sind, vgl. In Eth. 1, 9 n. 107-117. 32 1-11, 5, 3: Die Berufung auf die Schilderung der Unvollkommenheit dieses Lebens bei AUGUSTIN, Civ. dei 19, 4-8, entspricht dem theologischen Charakter dieses Artikels. 88 1-11, 5, 4.

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bei Aristoteles vorfindet, und er verweist dazu ausdrücklidi. auf die Nikomadi.isdi.e EthikH. Einen Untersdi.ied zur aristotelisdi.en Auffassung mag man hier darin sehen, daß audi. das »aktive« Glück durdi.aus »intellektualistisdi.« gekennzeidi.net wird, nidi.t als »moralisdi.es«, sondern als eines der praktisdi.en Vernunft oder (an anderer Stelle) der Klugheit das ist audi. im Ethikkommentar zu sehenss. Dadurdi. wird die Zuordnung zwisdi.en beiden Aspekten des Glücks enger und deutlidi.er, die allgemeine Maßgeblidi.keit des spekulativen Ideals tritt hervor38• Jedodi. wird die Zweiheit eines kontemplativen und eines aktiven Glücks als faktisdi.es Ergebnis der moralphilosophisdi.en Analyse hingenommen das bedeutet der Verweis auf die Nikomadi.isdi.e Ethik, wo diese Analyse vorliegt - und bestätigt; sie wird nidi.t entwickelt, sondern interpretiert, im Hinblick auf die vollkommene Glückseligkeit. Die Argumentation für die Überlegenheit der Kontemplation bedient sidi. im Corpus der aristotelisdi.en Gründea1. Jedodi. ersdi.einen besonders in den Antworten auf die Argumente neue Akzente: so der Gedanke der »Anähnlidi.ung« an Gott, die in der Einung des spekulativen Erkennens vollkommener ist als in der bloßen Proportionalität des praktisdi.en (ad 1); so ferner der Hinweis auf die Hinordnung des Mensdi.en zu einem ihm überlegenen, ihm äußeren Ziel, das nur die spekulative Vernunft aneignen kann, während praktisdi.es Verhalten nidi.t den Mensdi.en zu einem überlegenen Äußeren, sondern sein eigenes Tun, seine eigenen Leidensdi.afl:en zu ihm selbst hinordnet (ad 3); sdi.ließlidi. gibt die festgestellte Fähigkeit des spekulativen Verstandes zu einer ganz innerlidi.en, verinnerlidi.enden Aneignung des ihm eigenen Gutes - der Wahrheit - den Ansatz zum Verständnis des rein kontemplativen Charakters der vollkommenen Glückseligkeit; wenn dies ihin eigene und verinnerlidi.te Gut das vollkommene ist, so folgt daraus die vollkommene Beseligung und Vollendung des Mensdi.en als aus einem einzigen und ihm inneren Prinzip (ad 2). Dann kann jenes »Überströmen« stattfinden, von dem die Rede war38• Umgekehrt darf man wohl aus dieser Äußerung Vgl. In Eth. X, 12 n. 2111. Vgl. a. a. 0. (vorherg. Anm.): „ ... felicitas activa, quae est secundum operationem moralium virtutum, attribuitur prudentiae, quae est perfectiva omnium moralium virtutum, ut in Sexto ostensum est.« 38 M. W1TTMANN, Die Ethik des hl. 1homas von Aquin, München 1933, S. 46 macht darauf aufmerksam, daß bei Thomas die Glückseligkeit stets auf die >ratio« - speculativa oder practica - bezogen sei; sie ist stets >intellektualistische verstanden, im Gegensatz zu Aristoteles (Stellen a. a. 0. S. 42-43; charakteristisch ist, daß Thomas nie von „felicitas moralis« redet, wie das Albert tut, vgl. ebda.). a7 Nach Nik. Eth. X, 7-8: vgl. In Eth. X, 10-12. 98 Nach 1-11, 4, 6. H

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des Thomas auf die unvollkommene Glückseligkeit zurück.schließen: wo jenes vollkommene Gut nicht vom spekulativen Verstehen voll verinnerlidtt und angeeignet ist, wo es nicht auf den ganzen Menschen überströmen kann, wird die Ordnung der Mannigfaltigkeit des menschlichen Seinkönnens durch den praktischen Verstand notwendig, und so ersdteint wieder die Zweiheit von spekulativer und aktiver Glückseligkeit, wie sie im Haupttext für das gegenwärtige Leben behauptet wird. Diese Lehre wird von Thomas hier nicht ausgeführt, wo der Gedankengang auf die vollkommene Glückseligkeit ausgerichtet ist. Auch wird die Frage nicht erörtert, wie es nun mit dem Erreichen der Vollendung stehe: sie erscheint im Zuge des Traktates erst am Ende (q. 5), und sie darf bis dahin aufgeschoben werden wegen der in der theologischen Einstellung stets anwesenden Sicherung, der Verheißung Gottes, auf die bereits q. 3 a. 2 ad 4 ausdrücklich verwiesen worden ist. Es scheint Thomas zu genügen, daß sidt das »Zwiefache« Glück faktisdt in der Erfahrung des gegenwärtigen Lebens zeigt. Dennoch ist nicht zu übersehen, daß ein Verständnis der Wesensgemäßheit dieses Faktums, eine Kenntnis des Erreidtbaren (der Erreidtbarkeit) vorausgesetzt ist, und das besagt eben der Verweis auf die Nikomachische Ethik. Aber nicht nur dieser: die zu diesem Verständnis notwendigen Elemente sind bereits im Ersten Teil der Summa theologiae, nämlidt in der Lehre von der Schöpfung, behandelt worden, und auch darauf wird im Zusammenhang verwiesen39. Die folgende Erörterung der Bedeutung der spekulativen Wissensdtafl:en fragt daher nicht, ob sidt in ihnen die Glückseligkeit dieses Lebens zuhöchst zeige, sondern sie setzt das offensidttlich voraus (Art. 6); sie bestimmt dann ihr Verhältnis zur Glückseligkeit überhaupt (ratio beatitudinis) und stellt fest, in ihnen sei ein Teilhaben an der wahren und vollkommenen Glückseligkeit zu sehen. Vollends entfernen sich die beiden letzten Artikel dieser Quaestio von der Tatsächlichkeit des gegenwärtigen Lebens. Wenn (Art. 7) eine Glückseligkeit, die in der Sdtau der getrennten Substanzen (der Engel, wie es theologisdt heißt) bestünde, ebenfalls nur Teilhabe an der vollkommenen wäre, aber doch höher als die durdt die spekulativen Wissenschaften erreichbare, so steht bereits aus der Schöpfungslehre fest, daß ein solches Erkennen im gegenwärtigen Leben nicht möglidt ist40 • Die Gottesschau endlich, in der allein die Glückseligkeit zur allseitigen Vollendung kommen kann (Art. 8), liegt gar jenseits aller natürlidten Erreidtbarkeit: auch das ist schon in den früheren Untersuchungen nachgewiesen 41 • In Art. 5 ist der Verweis nidtt ausdrücklidt; ausdrücklidte Verweise auf die Prima pars finden sidt meist, wenn es um den Nadtweis besonderer Lehrpunkte geht, wie 1-11, 3, 7 ad 2; 4, 5 und ad 2; 5, 1ad1; 5, 5; 5, 6 ad 3 usw. 41 Vgl. I, 12, 4. 40 Vgl. 1, 88, 1 und 2.

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Allerdings ist hier wieder zu erinnern, daß die Analyse zu der Position des »Naturverlangens nach der Gottesschau« führt, und dies Naturverlangen ist durchaus gemeint als ein Antrieb, der sich im gegenwärtigen Leben betätigt, der dort also vorgefunden und aufgezeigt werden kann. Hierzu ist schon gesagt, daß sich dieser Antrieb - sollte er überhaupt von einem bloßen Philosophen faktisch klar erkannt werden - im spekulativen Verstande findet und daher zunächst nur spekulative Bedeutung hat'2. So ergibt sich für die natürlich-praktische Einstellung kein neues Problem, wohl aber für eine Metaphysik des Handelns, welche dieses Naturverlangen eingeordnet hat: es fragt sich, wie von da aus die unvollkommene Glückseligkeit zu interpretieren ist.

§ 3: Das »Naturverlangen« nach der Gottesschau als spekulativ erfahrbarer Grund des Ordnungsgefüges der unvollkommenen Glückseligkeit In der metaphysischen Sicht muß versucht werden, das augenscheinlich Divergierende zu einer Einheit zusammenzufassen, die doch die Divergenzen nicht einfach untergehen, sondern bestehen läßt und gar gründet. Es hat sich schon gezeigt, daß die Mannigfaltigkeit des Handelns auf eine Einheit hin gesehen werden muß: es ist eine wesensgesetzliche Einsicht, daß alles Streben nach jeweiligen Zielen seinen Antrieb bezieht aus der ursprünglichen und ersten Hinwendung zum letzten Ziel 43 • Hierzu ist nun zu bedenken, daß alle niederen Strebungen und Tätigkeiten hingeordnet sind auf die höheren, daß in einem geordneten Ganzen die gesamte Vielfalt der Bewegung nur zu erklären ist vom Höchsten her, und dies ist im Menschenwesen die Vernunft: die Summa contra gentiles zeigt, daß sie überall der »höhere Beweger« ist .und damit alles andere von ihr bewegt wird". Dieser Gedanke wird darüber hinaus angewandt auf die gesamte Betrachtung der sublunaren Welt: wenn es der Mensch ist, der innerhalb ihrer in seiner Vernunft das Höchste erreicht, so muß der ganze Vorgang der Naturentwicklung, der mannigfaltigen Zeugungen, auf ihn hin verstanden werden, die ganze Natur ihren Sinn finden in der Erzeugung des Menschen und seiner Vernunfl:tätigkeit45. Es läßt Vgl. Kap. 8, § 3. - Vgl. audt A. STOLZ, Anthropologia theologica (Manuale theologiae dogmaticae fase. 4), Freiburg/Br. 1940, S. 22-39. 4s Vgl. Kap. 7, § 2; 1-II, 1, 6 ad 3. 44 SCG III, 25: »Inter omnes autem hominis partes intellectus invenitur superior motor ... finis igitur intellectus est finis omnium actionum humanarum.c 45 SCG III, 22: „ ... oportet quod in ultimum et perfectissimum actum quam materia consequi potest, tendat appetitus materiae quo appetit formam, sicut in ultimum finem generationis ... Ultimus igitur finis generationis totius est anima humana, et in hanc tendit materia sicut in ultimam formam ... Homo igitur est finis totius generationis.« 42

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sich von da aus leicht sehen, daß ein »Naturverlangen nach der Gottesschau« nicht gedacht werden darf als eine »höhere Schicht«, die sich einer niederen aufstockt; es muß vielmehr anfänglich dem Gesamtstreben des Menschen - und gar der gesamten vergänglichen Welt - zu Grunde liegen. Die Einheit des Gesamtstrebens hat also sowohl auf seiten des Gegenstandes, der erstrebt wird, als auf seiten des Antriebes ein konkret Eines als Ursprung, wobei der ursprüngliche Antrieb - als ein bewegt Bewegendes - wieder zurückverweist auf ein schlechthin Erstbewegendes, das ihn ebenso gründet wie die Natur, der er innewohnt, auf Gott, der zugleich das Erstbewegende als Ziel ist46 • In dieser Sicht darf das Naturverlangen nach der Gottesschau nicht auf eine bloß partikuläre Bedeutung eingeschränkt werden; würde es streng darauf festgelegt, so würde schließlich unverständlich, wie aus seinem Zum-Ziel-Kommen die vollkommene Erfüllung des menschlichen Seinkönnens resultiert47 • Aber ist seine beherrschende Stellung und damit die wurzelhafte Einheit aller Antriebe in einem konkret Einen gesichert, so ist sogleich der Mannigfaltigkeit des Erfahrenen Rechnung zu tragen. Es wäre widersinnig, wollte man die empirische Mannigfaltigkeit in einem Monismus des Naturstrebens verschwinden lassen, die Mannigfaltigkeit als Fehl brandmarken. Es gilt vielmehr zu sehen, daß die Ursprungseinheit sich in die Mannigfaltigkeit ausfaltet, ihr Auseinander trägt und wieder zur Einheit zurückführt. Das Verhältnis wird im Begriff der Teilhabe und der Ähnlichkeit gefaßt. Die Metaphysik versteht das Seiende, das verursacht ist, als ein Teilhabendes am Sein überhaupt48 • Als Teilhabendes am Sein hat es (ist es) Ähnlichkeit mit Gott, der als subsistierendes »Sein selbst« Ursprung alles Seienden ist49 • Dem Sein in der Teilhabe zugeordnet, hat das Seiende in seinem Ursprung die Bewegung auf das Sein hin ursprünglich bei sich, und diese ist, weil sie auf Sein schlechthin zielt, auf Gott gerichtet50• Nun 41 Vgl. 1-11, 9,4 und 6; von hier aus wird die (bei der Besprechung Kap. 7, § 2 übergangene) Doppelheit des Ersten verständlich, die 1-11, 1, 4 nachgewiesen ist: Sowohl im •ordo intentionis« als auch im •ordo executionis« gibt es ein Erstes, einerseits den •ultimus finisc, andererseit das »primum in his quae sunt ad finem«, und dies ist dann der ursprüngliche, von Gott verursachte Antrieb. 47 Die Hinordnung alles Verlangens auf das intellektuelle, das »induktiv« nachgewiesen wird (SCG III, 37), läßt dessen Partikularität nicht versihwinden; die universelle Bedeutung der Vernunft ist aber anclererseits für den Nachweis, daß die Gottesschau alles Verlangen erfüllt (SCG III, 63), eine wesentliche Voraussetzung. 48 Wobei das „Teilhaben« zuerst erfaßt und als „Verursachtseinc erläutert wird, vgl. 1, 44, 1 ad 1. 49 Vgl. z.B. 1, 3, 4; 44, 1; 65, 1; 4, 2 und 3, u.ö. (diese Grundlehren lassen sich natürlich aus allen Thomaswerken reich belegen). 50 Vgl. bes. die prägnanten Formeln von SCG III, 18-20. - Die Doktrin wird

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hat das Seiende seine Bestimmtheit und Besdiränktheit je nadi der Weise der Teilhabe am Sein, und so eine je versdiiedene 1\hnlidikeit mit Gott; aber nidit das Sein selbst ist das Einsdtränkende, das vielmehr, sofern es sdiledithin Sein ist, nur unbegrenzt gedadit werden kann, sondern das dieses aufnehmende Wesen, und von diesem her kommt dem Akt des Seins des jeweiligen Seienden die Begrenzung51 . Ganz analog kann der Antrieb des Strebens, sofern er zum Sein sdiledithin drängt, nur in Gott, im Unendlidien enden; sofern er aber in der Besdiränktheit einer bestimmten Natur wirksam ist, empfängt er von deren wesentlidiem Seinkönnen her seine grundsätzlidie Begrenzung, und er endet nidit im Unendlidien, sondern wieder bei einer Teilhabe, bei einer 1\hnlidikeit Gottes52. Die mensdilidie Natur nun, wie die intellektuelle überhaupt, zeigt die Fähigkeit, Gott seinem Wesen nadi erkennend aufzunehmen sie ist »Capax dei«5s. Deshalb - und nur deshalb - streckt sidi bei ihr das Naturverlangen bis zur Gottessdiau aus und rührt in dieser Entsdtränktheit an Gott selbst als Gegenstand. Aber diese Entsdiränktheit des Naturverlangens kommt wieder nur in der Entsdiränktheit des Verstandes zum Vorschein, der ein besonderes Vermögen im Ganzen der Menschennatur ist, und die Besonderheit dieses Vermögens läßt das Verlangen, das nur in ihm zum Vorsdiein kommt, wieder nur als ein besonderes, partikuläres ersdieinen. Seine Auszeichnung liegt in dem Gegenstand, durdi den es bestimmt ist; an diesem, dem umfassend allgemeinen Gut, liegt es, daß in seiner Gegenwärtigkeit, in der aktuellen Gottessdiau, der Mensch alle Vollkommenheit aus dem einen ihn überformenden Gegenstand empfängt54. In dieser Gegenwärtigkeit des angesdiauten Wesens Gottes ist dann auch alle Zielsetzung des Mensdien erfüllt; wo es nidit angesdiaut ist, wo es nur unmittelbares Ziel eines besonderten Vermögens ist, wird es sogleidi als ein nur besonderes Ziel ersdieinen, als partikuläres55. Das eine letzte Ziel und das eine grundlegende Naturverlangen, von allgemein-umfassender Bedeutung für den Gesamtbereich des Handelns, ersdieinen im eingeschränkt-einsdiränkenden Mensdienwesen, das nodi nidit zu seinem Ziele gelangt ist, als partikulär und besondert, zwar erkennbar maßgeblidi in der Mannigfaltigkeit der möglichen Zielsetzunvorzugsweise (ohne sadi.lidi.en Untersdi.ied) in der Terminologie von »honum« und »perfectio« dargestellt, in der die finale Kausalität ausdrücklidi. ist, nadi. I, 5, 2 ad 1; I, 5, 4; vgl. ib. 6, 1 und ad 2 u. ö. 51 Vgl. z.B. I, 7, 1und2; I, 50, 2 ad 4 u. ö. 6! I, 44, 4; I-II, 5, 8 u. ö. sa Vgl. Anm. 51, S. 141, ferner bes. SCG III, 25. 54 Vgl. wieder die prägnanten Formeln SCG III, 63. $6 I, 82, 2; I-II, 10, 2 u. ö.

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gen und konkreten Strebungen, aber dodi nidit so, daß sie deren Eigenbedeutung aufheben, die ihnen als ».i\hnlidikeiten« oder »Teilhaben« je besonderer Art zukommen. Das letzte Ziel hebt nidit alle Zielhaftigkeit außerhalb seiner auf; nidit es allein, sondern auch jede .i\hnlichkeit und Teilhabe am Letzten ist Gegenstand des Naturverlangens58 • Und wenn - nadi einer Formel der Summa contra gentiles - »kein Verlangen so sehr in erhabene Höhe trägt wie das Verlangen nadi Erkenntnis der Wahrheit«, das »nidit ruht, bis es zum hödisten Drehpunkt (cardo) und Sdiöpfer der Dinge, Gott, gelangt ist«, so bleibt doch wahr, daß »all unser (anderes) Verlangen nadi Lust oder was immer vom Menschen ersehnt wird, in anderen Dingen zur Ruhe kommen kann« 57. Die empirisdie Mannigfaltigkeit des gegenwärtigen Lebens ist in der Sicht des Gedankens der Teilhabe nicht bloß das auf die Einheit der vollkommenen GlüEt quia homo secundum suam naturam est animal politicum, virtutes huiusmodi, prout in homine existunt secundum condicionem suae naturae, politicae vocantur: prout scilicet homo secundum has virtutes recte se habet in rebus humanis gerendis. Secundum quem modum hactenus de his virtutibus locuti sumus.« - Der speziell neuplatonische Hintergrund .des Artikels (dazu H. VAN L1EsHouT, La Theorie plotinienne de La Vertu. Essai sur La genese d'un article de La Somme theologique de saint Thomas, Freiburg/ Schweiz 1926) braucht in unserem Zusammenhang nicht berücksichtigt werden. 89

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zug hat, so die intellektuellen Tugenden gegenüber den moralisdien: sie haben den vornehmeren Gegenstand, das Allgemeine und Beständige74 . Vorzüglidi gilt das von der Weisheit: ihr Gegenstand ist die hödiste Ursache, Gott selbst, und so ist sie schledithin höchste Tugend75 . Die sonst im mensdi.lidi.en Leben gebietende Klugheit hat sidi da nidit einzumisdien, sondern nur den Weg zur Weisheit freizumadien, wie der Pförtner den Weg zum König freimadi.t 76. Hätte die Weisheit ihren Gegenstand voll ergriffen, so läge in ihrem Akt die vollkommene Glückseligkeit; wo die im gegenwärtigen Leben nidit möglidi ist, kann man dodi von einer Teilhabe oder einem Anfang der künftigen Seligkeit reden, und so steht sie dieser von allen Tugenden am nädisten77 . Selbst das wenige, was sie sdion jetzt von Gott wissen kann, läßt ihr Wissen zum vorzüglidisten werden1s. Dennodi gilt von allen Tugenden des spekulativen Verstandes, daß sie ihn zwar zum Akt befähigen, nicht aber den Gebraudi. dieser Befähigung hervorrufen; wenn Tugend eine Verfassung ist, durdi die ein Vermögen tätig wird, so kann dodi nur dann von einer Tugend sdiledithin die Rede sein, wenn zur Befähigung audi deren Ausübung mit umfaßt wird. Diese gesdiieht nun auf Grund einer Bewegung des Willens, und so kann eine Verfassung nur dann in vollem Sinne Tugend heißen, wenn sie Verfassung des Willens oder eines anderen Vermögens ist, sofern dies vom Willen bewegt ist. Die Verfassungen des spekulativen Verstandes sind zwar sdiledithin höher, aber sie können »Tugend« nur »secundum quid« heißen7 9• So wird der Mensch schließiidi durdi. diese höheren Vollkommenheiten nur »gut« »secundum quid«: sdiledithin gut wird er durch die moralisdien Tugenden, die ihrem Wesen nadi den rediten Gebraudi einsdiließenso. Der Mensdi kann, bei dieser Untersdi.iedlidikeit beider Arten von Verfassungen, die Tugenden des spekulativen Verstandes besitzen ohne die moralisdi.en81 • Ebenso kann er umgekehrt moralisdie Tugenden haben 1-11, 66, 3. 1-11, 66, 5. 71 1-11, 66, 5 ad 1. 77 1-11, 66, 5 ad 2. 78 1-11, 66, 5 ad 3. 11 1-11, 56, 3 und 57, 1. 80 Dementsprechend ist ein erfülltes kontemplatives Leben ohne Vorbereitung (dispositio) durch die moralischen Tugenden nicht möglich, 11-11, 180, 2, wiewohl diese wesentlich dem aktiven Leben angehören, 11-11, 181, 1; sie gehören aber in dieser Hinordnung ins kontemplative Leben selbst hinein - sofern man nicht überhaupt die vita activa als dispositio zur contemplativa faßt, ib. ad 3. 81 1-11, 58, 5. - Daraus läßt sich aber nicht die konkrete Unabhängigkeit der kontemplativen Vollendung von der „aktiven« ableiten, wie Jaffa (Anm. 50, S. 70) meint, s. vorherg. Anm. 74 75

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Die Bestimmung des äußersten Seinkönnens

ohne die intellektuellen der Weisheit, der Wissenschaft und der Kunst82 • Lediglich der »intellectus«, die grundlegende Verfassung allen Verstehens hinsichtlich der obersten Prinzipien allen spekulativen wie auch praktischen Erkennens, ist dazu unentbehrlich, wie die Klugheit: diese steht als Verfassung des praktischen Verstandes mit den moralischen Tugenden im engeren Sinne in einem unlösbaren Zusammenhang wechselseitiger Bedingtheit, der von uns bereits früher gekennzeichnet ist83 : wie sie angewiesen ist auf den in der moralischen Tugend auf Rechtes hin verfaßten Antrieb, so ist sie andererseits in allem rechten Tun gebietend anwesend, haben die moralischen Tugenden an ihr »teil«s'. Durch sie wird auch die Mehrzahl der Tugenden zu einer Ordnungseinheit verbunden, welche Bedingung und Folge der Vollkommenheit der moralischen Tugenden istss. Freilich ist »Vollkommenheit« der moralischen Tugenden im theologischen Zusammenhang wieder ein zweideutiger Begriff. Die Tugend, die im Verlauf des konkret-natürlichen Lebens durch »Gewöhnung« an gutes Tun erworben ist, kann wieder verloren werden, zerstört durch gegenteilige Handlungen, die immer möglich bleiben88. Nicht anders ist es bei den Verstandestugenden, die gar schlicht »Vergessen« werden können 87 . Ihr Erwerb führt nicht sogleich zur Vollkommenheit, sondern oftmals nur zu einem vom Wesen der Tugend selbst her unvollkommenen Zustand88, so daß im Vergleich zu den eingegossenen alle erworbenen Tugenden zurückbleiben; wenn man gar bedenkt, daß sie grundsätzlich im Umkreis des gegenwärtigen Lebens befangen bleiben und nicht zum letzten Ziel schlechthin, das übernatürlich erfahren wird, hinordnen, sind sie alle nur gut »secundum quid«, hinordnend nur zu einem »l.etzten«, das Letztes in einer bestimmten Gattung ist88. So zeigt sich unter dem Aspekt der Tugendlehre nochmals die Unvoll.kommenheit jener Glückseligkeit, die im gegenwärtigen menschlichen Leben möglich ist, und ebenfalls die unaufhebbare Zweiheit des spekulativen und praktischen Glücks, die besteht, obwohl beide in derselben Vernunft gegründet sind. Lediglich in dem Ideal der Weisheit zeichnet sich eine letzte Einheit ab, die aber erst in der jenseitigen Vollkommen1-11, 58, 4. Vgl. Kap. 3, § 5-6, (11-11, 47, 6). sc 1-11, 58, 2 und ad 4; vgl. 11-11, 47, 7. 81 1-11, 65, 1 (zweiter Teil). 88 1-11, 53, 1. 87 1-11, 53, 3. 88 1-11, 65, 1 und 2. 89 1-11, 65, 2: schlechthin vollkommen sind die Tugenden nur, wenn sie durch die Caritas überformt sind. - Der „finis in aliquo genere« der natürlichen Tugenden ist das »bonum humanum«, vgl. die Parallelstelle Virt. card. 2. 82

8a

Das Glüc:k dieses Lebens und die natürlidie Moral

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heit tragend wird: die theologisdie Position madit sidi geltend 90 • Die theologisdie Sidierung ist es audi, die Thomas davor bewahrt, einen strengen Zusammensdiluß der Betraditung auf der Ebene des natürlidien Verständnisses sudien zu müssen, so daß dies eine Vollkommenheit zu statuieren geneigt wäre, wo in Wahrheit eine ungelöste Spannung bestehen bleibt. Dodi es zeigt sidi ein deutlidies Bild dessen, was nadi Thomas aus einer rein natürlidi-philosophisdien Betraditung sidi ergeben würde; und ebensosehr, wie die theologisdie Oberbauung dieses Bild vervollkommnend aufhebt, bestätigt sie es in seinem ursprünglidien Redit der Tatsädilidikeit.

§ 5: Natürlidie Ethik: ihre Konstitution als Tugendlehre vom »Glück dieses Lebens« her; die Rolle des Gottesbegriffs und der Metaphysik des Handelns Unter dem Gesiditspunkt unserer Untersudiung, die nadi der Grundlegung einer philosophisdien Ethik fragt, wie sie im Zusammenhang der thomistisdien Synthese erhebbar ist, dürfte an diesem Bild nodimals das Folgende herauszustellen sein: Es entsteht in einem Rahmen der Einheit des Bereidies aller mensdilidien Praxis, die von der spekulativen Betraditung einer »Metaphysik des Handelns« als wesensgesetzlidi erhoben wird. Darin zeidinet sidi die unvollkommene Glückseligkeit ab als das äußerste Seinkönnen, das im gegenwärtigen Leben möglidi ist. Philosophisdie Sidit ist auf die Tatsädilidikeit dieses Zustandes verwiesen und eingesdiränkt; sie findet in ihm einen Antrieb vor, der über diesen Zustand hinausweist, aber wie er sidi bietet, kann er nur als partikulär betraditet werden, nidit zur sdiledithinnigen Erfüllung führen, so daß allein in seinem zu leistenden das Wesen des Glückes erfüllt wäre. .i\ußerstes Seinkönnen ist nidit anders als in einer Einheit der Ordnung zu vollbringen, in der das Hödiste selbst nur in der Weise eines hödisten »Teiles«, das wesentlidi zu ihm Hingeordnete nidit aus ihm erfüllbar, sondern als erfüllt vorausgesetzt ist. Das bedeutet aber, daß die aktive Glückseligkeit von der spekulativen unabhängig ist in ihrer Wirkbarkeit - was von der spekulativen nidit uneingesdiränkt gelten kann 91 -, daß ein auf sie geriditetes Handeln in sidi selbst seine Gründung hat, daß es unmittelbar dem Mensdien aufgegeben ist und nidit erst der Reditfertiuo 1-II, 66, 5 und ad 2. - Audi in der übernatürlidien Ordnung des „gegenwärtigen Lebens« besteht die Zweiheit von kontemplativem und aktivem Leben anerkannt fort, untersdiieden nadi der Verschiedenheit konkreter menschlicher Zielsetzung, II-II, 179, 1; erst im Jenseits ist das kontemplative allein und uneingeschränkt herrschend, II-II, 181, 4. 91 Vgl. Anm. 80-81, S. 161 sowie Anm. 50, S. 70.

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Die Bestimmung des äußersten Seinkönnens

gung vom spekulativen Ideal her bedarf. Im Bereich der unmittelbar aufgegebenen Praxis dieses Lebens besteht eine äußerste » Tubarkeit«, von welcher sich Handeln, Handelnsregel, Handelnswissen unmittelbar herleiten; hier ist der Ort der philosophischen Ethik, der natürlichen Moral. Das hindert nidi.t, daß die spekulative Interpretation dieses unmittelbar sich Zeigenden nun die Einheit des Antriebes in einem grundlegenden »Naturverlangen«, wie auch die Einheit des Zieles in der Zuordnung zum Letzten als Gegenstand nachweisen könne - sie muß zugleich immer die empirische Zweiheit hinnehmen, vom Teilhabegedanken her gar die Selbständigkeit des Praktischen bestätigen. Wie gesagt, liegt die unmittelbare Bedeutung der spekulativen Erkenntnis des Handelns wieder nur im spekulativen Bereich; die spekulative Erkenntnis selbst verweist auf die Unabhängigkeit der Gründung praktischen Wissens. Vor allem ist dieses Ergebnis wichtig, wenn man die Rolle des Gottesbegriffs bedenkt. Selbstverständlich erscheint er zentral in der Metaphysik des Handelns; eine befriedigende spekulative Interpretation der Praxis ist ohne ihn nicht möglich. Selbstverständlich ist Gott als Gegenstand der spekulativen Glückseligkeit im Bereich des Seinkönnens anwesend, und so gehört sein Begriff in die Betrachtung der Glückseligkeit hinein. Aber er ist, im Zustande des gegenwärtigen Lebens und audi. überhaupt, ausschließlich Gegenstand der spekulativen Vernunft, und die Gründung einer Ethik kann nicht anders auf den Gottesbegriff bezogen sein als sie überhaupt auf spekulative Erkenntnis bezogen ist. Ist sie davon wesentlich unabhängig, wie sich ergeben hat, so ist sie ohne Bezug auf den Gottesbegriff zu gründen; dann ist es möglich, moralisch gut zu handeln ohne Gotteserkenntnis, dann gilt eine natürliche Moral auch für den Atheisten als verbindliches praktisches Wissen. Natürlich wäre sie da höchst unvollkommen, würde sie doch sogar den Begriff einer spekulativen Glückseligkeit schwerlich vollziehbar machen, überhaupt sich der Einheit des metaphysischen Verständnisses entgegenstellen und den anwesenden Antrieb der spekulativen Vernunft leugnen müssen: Atheistische Moral wäre notwendig mit Fehlern und Schwächen behaftet, die ihre Annahme ausschließen. Doch es bleibt bestehen, daß innerhalb des praktischen Wissens selbst der Gottesbegriff nur dann eine entscheidende Rolle spielen könnte, wenn Gott sich im unmittelbaren Bereich der Praxis zeigen, also offenbaren würde, und sofern das nicht vorausgesetzt, also theologische Moral getrieben wird, ist aller Bezug von Praxis und praktischem Wissen auf Gott sekundär, zum gegründeten Wesen der Moral hinzukommend - vollendend, gewiß, aber nicht gründend und konstitutiv. Konstitutiv für die Moral ist die Zuordnung des Handelns zu dem unter

Das Glüdt dieses Lebens und die natürliche Moral

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der Bedingung des gegenwärtigen Lebens tatsächlich greifbaren unvollkommenen Glück, das - unter letztem Gesichtspunkt - nur Teilhabe ist, aber gerade dadurch »wahres« Glück und wahrheitgebend, richtungweisend für das natürliche praktische Verständnis. Da es in der Tugend besteht und in deren Betätigung, wird die ethische Betrachtung in der Tugendlehre ihren Kern haben - nicht etwa in einer Lehre von »Gesetz« oder »Pflicht«: es ist eine eigene Frage, wie diese Begriffe in einer philosophischen Ethik zu fassen sind, die in einer theologischen durchaus im Vordergrund stehen können92 • Doch ist die inhaltliche Darstellung der thomistischen Tugendlehre hier nicht beabsichtigt. Die Frage, die als nächste gestellt werden soll, ist die nach dem Gut und Böse, wie es sich in den menschlichen Handlungen zeigt und die Verfassungen der menschlichen Vermögen bestimmt. Da sich die unvollkommene Glückseligkeit dieses Lebens aus einer Vielzahl von Akten und diese gründenden Verfassungen aufbaut, in denen je besondere Erfüllungen zu leisten sind, die ihre Gründung je in sich haben müssen und erst im Zusammen die Einheit ergeben, ist diese Frage nicht aus dem Blick auf eine vorausgesetzte Einheit zu beantworten, sondern eigens aufzurollen. Dabei wird die Rücksicht auf die Metaphysik, die ihrerseits den transzendentalen Begriff des Guten hat, nicht entbehrlich sein, und von ihr aus zugleich die Frage nach der metaphysischen Bedeutung des moralisch Guten, nach seinem Zusammenhang mit dem transzendentalen und seiner Besonderheit angerührt werden müssen.

82

Darüber wird im 4. Absdmitt gehandelt.

Dritter Abschnitt

GUT UND BÖSE

10.

KAPITEL:

DIE

SEINSFÜLLE DER HANDLUNG

§ 1: Der metaphysisdie Ansatz der Analyse Summa theologiae 1-11, q. 18 Wer vom Guten im Gegensatz zum Bösen redet, steht damit von der deutsdien Wortbedeutung her sogleidi im Bereidi des Moralisdien. Der Terminus »gut« hat von Hause aus zwar eine weitere Bedeutung, in der er audi die Gegensätze »sdiledit« oder »übel« hat, und insofern kommt ihm ein analoger Charakter zu: ein gutes Pferd, ein gutes Budi sind anders gut als ein guter Mensdi, eine gute Tat; aber sdion das spradilidie Bewußtsein wird sein äußerstes Entgegengesetztes im Bösen sehen, mit dem immer ein willentlidi Gewirktes, nur von selbstbestimmenden Vernunftwesen Auszusagendes gemeint ist, und von daher das eigentlidiste »gut« zu bestimmen geneigt sein. Sagen aber »Böse« und Bosheit immer zugleidi ein Wollen, ein Moralisdies, so kann das eigentlidi Gute als dessen Gegensatz nur nodi vom Willen in vollem Sinne ausgesagt werden: man erinnert sidi des berühmten Kantisdien Satzes, mit dem die »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« anhebt. Der lateinisdie Gegensatz von »bonum« und »malum« hat diese Einsdiränkung auf das Moralisdie nidit unmittelbar bei sidi. Eher denn legen die Abstrakta »bonitas« und »malitia« die moralisdie Deutung nahe: zumal das letztere wird man vorzüglidi mit »Bosheit« übersetzen wollen, und so mag Thomas gerade die Abstrakta in der Formulierung des Themas von 1-11, q. 18 gewählt haben, weil er über das Gutsein der mensdilidien Handlungen dort zu reden hat1 • Jedodi für die Konkreta »bonum« und »malum« ist eine rein moralisdie Anwendung nidit die erste und vorzüglidiste, sondern eher eine Bedeutungsverengung, weldier die ganze platonisdie und augustinisdie Tradition entgegensteht. Das Gute zählt zu den ersten Begriffen, und zwar so sehr, daß die Platoniker es sogar dem Begriff »seiend« vorgeordnet haben, mit dem es in Wahrheit konvertibel ist2. Vom Guten einfadihin reden, heißt unweigerlidi, Natürlich ist eine allgemeinere Verwendung von iomalitia« ohne weiteres möglich, z.B. 1-II, 18, 8 ad 2, jedoch verhältnismäßig selten. 2 In Eth. 1, 1 n. 9: „ ... bonum numeratur inter prima; adeo quod secundum Platonicos bonum est prius ente. Sed secundum rei veritatem bonum cum ente convertitur.«

1

Die Seinsfülle der Handlung

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von einem höchst Allgemeinen reden, von dem, »Was alle anstreben« 3 • In eben dieser Allgemeinheit steht das Gute am Anfang der Nikomachischen Ethik, in der breiten Mannigfaltigkeit der Weisen, in dcmen ein Gutes Ziel der verschiedenen Tätigkeiten und Strebungen sein kann 4 • Es geht dann darum, das besondere Gut in das Blickfeld zu rücken, welches Ziel der menschlichen Tätigkeit als solcher, des menschlichen Lebens überhaupt und somit eigentlich »Gut des Menschen« ist5• Die Frage danach ist ersichtlich gleichbedeutend mit der nach dem »letzten Ziel« des Menschen, und ebenso kann sie in der Gestalt der Frage nach des Menschen eigentlicher Vollendung, nach seinem äußersten Seinkönnen wiedergefunden werden: die ganze Glückseligkeitslehre wie die ganze Ethik überhaupt handelt von einer besonderen Weise des Guten »im Allgemeinen«, das sich dem Verstehen unter den ersten Begriffen zeigt8 • Man kann bemerken, daß der Thomas-Kommentar gegenüber dem aristotelischen Text eine Verschiebung des Akzents vornimmt. Aristoteles geht von den Strebungen und Verfassungen aus, die sich im Menschen als mannigfaltige vorfinden und nach einem Einheit gebenden höheren Prinzip befragt werden, und dies ist dann das menschliche Gut; Thomas hebt das - bei Aristoteles beiläufig, als Beleg gebrachte - »quod omnia appetunt« stark heraus und sieht darin eine Bestimmung des Guten »im Allgemeinen«, welche die Betrachtung des menschlichen Gutes in einen umgreifenden Rahmen stellt: alles Streben überhaupt, auch das nichtmenschliche, geht auf ein Gut, und in dem jeweils besonderen wird, als in .Ahnlichkeit und Teilhabe, das höchste Gut selbst erstrebt7 • Der Ethikkommentar beginnt mit der metaphysischen Interpretation der Praxis. .Ahnliches mag man anläßlich der Platon-Kritik des I. Buches der NikoIn Eth. 1, 1 n. 9: •quod omnia appetunt«; der Bezug auf das Streben, das vom Guten bewegt wird, ist notwendig, da ein Erstes nur von einem Späteren, von ihm Gewirkten her beschrieben werden kann. 4 In .Eth. 1, 1 n. 8: Zunächst geht es um die mannigfachen Tätigkeiten des Menschen, die Thomas im ersten Satz der Nikomachischen Ethik voll aufgezählt findet. s Dies geschieht mittels der Frage nach der eigentümlichen Tätigkeit des Menschen, Nik. Eth. 1, 6 (1098 a 3 ssq.), In Eth. 1, 10. 8 Zielsein und Gutsein werden zuweilen ausdrücklich voneinander ausgesagt, z.B. In Eth. 1, 2 n. 30: •bonum, quod habet rationem causae finalis ... «, ib. 1, 5 n. 58: •Finis autem habet rationem boni.« - Die Austauschbarkeit der Terminologie zeigt der Satz ib. I, 9 n. 106: „Et iste ultimus finis hominis dicitur humanum bonum, quod est felicitas.« 7 In Eth. 1, 1 n. 11: Vom •quod omnia appetunt« heißt es: •non describitur hie aliquod bonum, sed bonum communiter sumptum. Quia autem nihil est bonum, nisi inquantum est quaedam similitudo et participatio summi boni, ipsum summum bonum quodammodo appetitur in quolibet bono. Et sie potest dici, quod verum bonum est, quod omnia appetunt.« 3

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Gut und Böse

machischen Ethik feststellen. Die Absicht des Aristoteles ist rein auf ein Abweisen der Idee des Guten gerichtet, in der alle Gutheit in begrifflicher Eindeutigkeit gesammelt wäre und die für sich Bestand hätte; der Hinweis auf die ursprüngliche Mannigfaltigkeit des Guten, das in derselben Weite ausgesagt wird wie »seiende, das in nicht auseinander ableitbaren Weisen ist und gewußt oder erstrebt wird, macht deutlich, daß die Ethik in ihrer Frage nach dem menschlichen Gut auf eine solche metaphysische Position weder angewiesen ist noch überhaupt von ihr aus Erhellung zu erwarten hate. Thomas aber nimmt gerade hier Gelegenheit, den metaphysischen Rahmen herauszustellen; nicht nur wird die Mannigfaltigkeit der sich zeigenden Weisen des Guten in die Gemeinsamkeit eines Begriffes zusammengefaßt, der in der Einheit nach Art der Analogie sie zugleich als Mannigfaltigkeit bestehen läßt und so »überschreitende, transzendental ist, sondern es wird auch dieses Mannigfaltige in dem einen und für sich seienden höchsten Gut metaphysisch gegründet; nur gegen dessen Auffassung als »Idee«, als formgebend für alle Gutheit, richte sich die aristotelische Kritik, aber nicht dagegen, daß es (wirkender) Ursprung und Ziel aller Gutheit ist8 • Auch für Thomas gehört die thematische Behandlung des höchsten Gutes .und des transzendentalen Begriffs vom Guten nicht in die Ethik10 • Wenn aber Aristoteles sich mit dem Abweisen dieser Fragen begnügen konnte, da er in der natürlich-praktischen Perspektive des gegenwärtigen Menschenlebens denkt, sieht sich das thomistische Denken aus der Einheit der theologischen Synthese genötigt, die metaphysische Bedeutung der ethischen Position zu untersuchen. Tut dies der Ethikkommentar mit recht knappen Hinweisen, die jedoch nichts an Deutlichkeit vermissen lassen, so die Darstellung der theologischen Summa mit ausdrücklicher Ausführlichkeit: die metaphysische Interpretation des äußersten Seinkönnens des Menschen und seiner letzten Zielbestimmtheit hat das hinsichtlich des höchsten Gutes geleistet11 ; die Behandlung des Gut- oder Böseseins der menschlichen Handlung geschieht im Hinblick auf die Lehre vom transzendentalen Gut und vom »Übel«, die im I. Teil der Summa theologiae dargelegt wurde. Nik. Eth. 1, 4; In Eth. 1, 6-8. Vgl. bes. In Eth. 1, 7 n. 86, 95, 96, wo Thomas die Transzendentalität des »Guten« festhält und erläutert; ferner ib. 1, 6 n. 79 (Texts. Anm. 57, S. 103). 10 In Eth. 1, 8 n. 97-98; insbes. erkennt Thomas an, daß ein »getrenntes« Gut »non erit tale aliquid quod sit vel operatum vel possessum ab homine. Nunc tale aliquid quaerimus ... illud bonum commune vel separatum non est bonum humanum, quod nunc quaerimus.« Die von der Ethik geforderte Perspektive erübrigt die Behandlung der Frage; aber sie wird nidtt endgültig abgewiesen, sondern als nodt offene stehen gelassen. 11 Vgl. Kap. 7. 8 8

Die Seinsfülle der Handlung

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Das hödtste Gut geriet ins Blickfeld der Frage nadt dem äußersten Seinkönnen, weil es hödtster Gegenstand eines mensdtlidten Tuns, des hödtsten mensdtlidten Tuns ist. Es ersdteint so - wenn audt nidtt unmittelbar, da es nidtt Gegenstand praktisdten Verhaltens ist - in der Ethik selbst, und diese verweist von sidt aus auf das jenes von Hause aus in den Blick nehmende Wissen, die Metaphysik 12 • Das Gut und Böse, das im jeweiligen Handeln ersdteint und um das sdton die allgemeine sittlidte Erfahrung und Tradition weiß, trägt diesen Verweis nidtt an sidt selbst; als eine Besonderung des transzendentalen Guten kann es nur ersdteinen, wenn dieses zuvor in seiner ganzen Allgemeinheit erfahren ist - in der praktisdten Einstellung ersdteint dies aber nidtt, weil es in dieser Allgemeinheit nidtt Gegenstand des Wirkens ist13. Das in seiner Allgemeinheit erfahrene Gut wird in der Metaphysik behandelt; aber diese Erfahrung selbst, sofern sie ein »Erstes« enthält, liegt nidtt nur der reflektierten Metaphysik, sondern überhaupt jeder Differenzierung der Wissensdtaften voraus. Nidtt anders steht es hier als mit der Erfahrung von »seiend« überhaupt, weldtes die erste Erfahrung sdtledtthin ist, thematisdt aber erst in der »letzten« Wissensdtaft behandelt wird14 • Die grundlegende Öffnung des Verstehens in diesen Grunderfahrungen geht natürlidt der Gründung der besonderen Wissensdtaften voraus und ermöglidtt sie, aber die metaphysisdte Reflexion ist dazu keineswegs nötig; ebenso wird aber ein Fragen, das ein besondertes Wissen und das darin Gewußte auf seine Besonderung selbst und seine Abhebung von den Grunderfahrungen hin befragt, diese Grunderfahrungen thematisieren müssen, also metaphysisdt werden. So wird die Ethik sidt zunädtst auf die faktisdte Erfahrung des Sittlidten stellen und als Prinzip ein »daß es so ist« hinnehmen1s, die unmittelbar sidt zeigende Besonderheit des moralisdten Guten, und als Ethik könnte sie sidt damit begnügen: die auf dem Untergrund der Öffnung des Verstehens zum Guten überhaupt sidt gebende Erfahrung des besonderen Guten ist von der Grunderfahrung ermöglidtt, aber nidtt abgeleitet1&. Erst die Anwesenheit versdtiedener, je besonderter Erfahrungen von Gut, zugleidt mit der Einsidtt, daß ein Gemeinsames in diesen Besonderungen waltet, verlangt die Thematisierung der Besonderheit und zugleidt des Gemeinsamen, der 11

Im Sinne von Kap. 4, § 1.

1s Vgl. In Eth. 1, 8 n. 101.

Die »letzte« im »Ordo addiscendic, vgl. Kap. 4, § 1 und Anm. 9, S. 60. In Eth. 1, 4 n. 53: »Quia oportet in moralibus accipere ut principium quia ita est. Quod quidem accipitur per experientiam et consuetudinem, puta quod concupiscentiae per abstinentiam superantur.« 11 Das gilt vom »Guten im allgemeinen« ebenso wie von »Seiende, dessen besondere Weisen nicht aus dem »ens commune« deduziert, sondern je besonders erfahren werden (vgl. Ver. 1, 1). 14

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Gut und Böse

Grunderfahrung. Die Frage nach Gut und Böse überhaupt ist notwendig eine Frage nicht der praktischen Wissenschaft, sondern der Metaphysik des Handelns. Ebenso setzt sie notwendig die praktische Erfahrung, wenn nicht gar schon deren gegliederte Aufnahme in die Gestalt einer praktischen Wissenschaft voraus, in der das besonderte Gut bereits aufgezeigt ist. Die Oberlegungen der Summa theologiae zum Thema des Gut- und Böseseins der menschlichen Handlungen sind also nicht eigentlich praktisch und auch nicht »praktisch bedeutsame in dem Sinne, daß sie unmittelbar Anlaß zur Regelgebung wären. Dennoch muß in ihnen wiederum die Eigenart des Praktischen, die ihm von seiner Gründung her innewohnt, zum Vorschein kommen, denn es steht schließlich die Gründung dieses Eigenartigen in Frage. Die metaphysische Betrachtung hat das im praktischen Bereich Erscheinende gelten zu lassen, hat es zu interpretieren, wie es vorliegt; eine Metaphysik, die den praktischen Bereich nicht unverkürzt sein läßt, kann nicht wahr sein. So gipfelt die aristotelische Kritik der platonischen Auffassung vom Guten eigentlich in dem Vorwurf, daß jene Eigenart, die in der Ethik ausgebreitet wird, in ihr eben nicht zum Vorschein kommt17 • Es ist einleuchtend, daß ein Philosoph, der 'an einer metaphysischen Position festhält, von der eine unverkürzte Freigabe des im praktischen Bereich sich Zeigenden nicht möglich ist, zu einer Fehldeutung und zu einer Verkürzung der ethischen Wissenschaft kommt. Es entsteht so der Anschein, als sei die Ethik von der Metaphysik abhängig - ein Anschein, der sich auch dort halten kann, wo das wahre Verhältnis gewahrt ist. Umgekehrt muß aber eine falsche und verkürzte Ethik als Indiz für einen metaphysischen Irrtum genommen werden, der das wahre Verständnis behindert, und nur im negativen Sinne des Nicht-Hinderns ist die wahre Metaphysik eine Bedingung der wahren Ethik18 • Menschliches Wissen, das im Aus- und Nebeneinander der Disziplinen entfaltet ist, kann doch nicht in einem Widerstreit dieser Mannigfaltigkeit existieren, und von dem beherrschenden Anspruch der Metaphysik her wird auf philosophischer Ebene der Ausgleich gefordert: das ist die philosophische Bedeutung und der Ort der Fragestellung, der hier nachzugehen ist. Die theologische Forderung - die im konkreten Zusammenhang Ort und Thema bestimmt - triffi: sich mit einer philosophischen.

Thomas folgt ihm darin, vgl. bes. In Eth. I, 8, hält aber zugleich die metaphysische Perspektive offen. ·is Ist das Verhältnis auch nur >negative, so ist es doch »unmittelbare: es besteht kein Anlaß, hier eine >Meta-Ethik« als Vermittlung einzuschalten, wie mancherorts üblich geworden. 17

Die Seinsfülle der Handlung

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§ 2: Die ontologische Grundlage der Moralität (art. 1); zur Metaphysik von Gut und übel Die Summa theologiae behandelt das »Gute im Allgemeinen« in der Gotteslehre, die Unterscheidung von »gut« und »übel« im Rahmen der Lehre von der Unterschiedenheit der Geschöpfe19 • Dort wird schon die Frage nach der Besonderheit dieser Unterscheidung bei der vernünftigen, willensbegabten Kreatur angerührt, jedoch so, daß sie noch nicht voll entfaltet, sondern auf eine (künftige) Entfaltung Bezug genommen wird20. Diese geschieht dann, nachdem im Zweiten Teil, nach Abhandlung der Lehre von der Glückseligkeit, die Analyse der menschlichen Handlung geschehen ist, in den Quaestionen 18 - 21; sie setzt ihrerseits die Untersuchungen voraus, die im Ersten Teil gebracht sind, und bezieht sich auf sie21 . Wieder hebt sich diese Ordnung der Summa theologiae charakteristisch von der in der Summa contra gentiles ab; in dieser findet sich gar kein eigener Traktat über das Problem des moralischen Gut und Böse, wie sie auch nicht die eigentlich »praktische Einstellung« übtH, sondern die Diskussion von Gut und übel bei der Kreatur überhaupt, einschließlich des Sonderfalles der vernünftigen Kreatur, ist der Abhandlung des III. Buches über Gott als das allgemeine Ziel eingeordnet23. Es bestätigt sich also wieder, daß für die moralische Betrachtung und auch für die »Metaphysik des Handelns« die Summa theologiae den Grundtext hergeben muß. Ganz im Sinne unserer Darlegungen wird im ersten Artikel von 1-11, q. 18 der Rahmen für die kommenden Erörterungen, der Frageansatz und die Blickrichtung festgelegt, wenn es im ersten Satz des Corpus articuli heißt: »Über Gut und Schlecht (= Böse) bei Tätigkeiten ist ebenso zu reden wie über Gut und Schlecht bei Dingen«24. Denn die Dinge wirken in der Weise, die ihre Beschaffenheit ermöglicht, und so hängt die Beschaffenheit der Tätigkeit von der Beschaffenheit des tätigen Dinges ab25 • »Beschaffenheit« muß dabei im weitesten Sinne verstanden werden, in dem es vorzüglich die grundlegendste Bestimmtheit des Dinges meint, seine Seinsweise (modus essendi): dieser „folgt« die Tätig1, 5 und 6 sowie 1, 48 und 49. Vgl. 1, 48, 1 ad 2-4; ib. 5 und 6; 1, 49, 1 ad 1 und ad 3 - Es wird nidit ausdrüddidi verwiesen, aber die Lehre von der Handlung - die erst 1-11 entfaltet wird - vorausgesetzt. 21 1-11, 18, 1; hier wird ausdrücklidi auf 1 verwiesen. 22 Vgl. Kap. 7, § 1. 2s Vgl. SCG III, 3-15. 24 1-11, 18, 1: „ ... de bono et malo in actionibus oportet loqui sicut de bono et malo in rebus.« 15 lb.: „ ... eo quod unaquaeque res talem actionem producit, qualis est ipsa.«

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Gut und Böse

keit28 • Wie man also die Seinsweise eines Dinges durch den Hinblick auf seine Prinzipien, seine Wesenskonstituentien, und auf seine Wesensfolgen bestimmen kann und von da aus sein Gutsein, so kann man das Gutsein einer Tätigkeit im Hinblick auf ihre Prinzipien und Wesensfolgen bestimmen, aus denen ihre Seinsweise resultiert: so stehen Betrachtung von Gut und übel in den Dingen und Betrachtung von Gut und Böse des Handelns in strenger Analogie27 • In der je verschiedenen Seinsweise ist der analog selbige Begriff von Gut (und übel) anzuwenden, der zu den Transzendentalien zählt28 und von dem nachgewiesen ist, daß er mit Seiend konvertibel ist29 • »Gut« sagt Erstrebbarkeit, Zielcharakter, Vollendung3o, und daher heißt ein Ding schlechthin und uneingeschränkt gut erst dann, wenn es zu seinem Ende gekommen ist31 . Diese Vollendung, das schlechthinnige Gutsein, drückt der Begriff der »Seinsfülle« (plenitudo essendi) aus, den Thomas hier einführt32. Gott allein besitzt diese Seinsfülle von Hause aus sozusagen mit einem Griff, nämlich durch sein Wesen selbst33. Durch sein Wesen selbst hat er die Fülle des Gutseins, er ist, in der Ununterschiedenheit von Sein und Wesen, die absolute Gutheit selbst34 • In allen Dingen aber, die ihr Sein nicht durch ihr Wesen, sondern in der Weise der Teilhabe besitzen, wird die Seinsfülle nicht durch die Einfachheit eines einzigen Prinzips - secundum unum - besessen, sondern durch das Zusammenwirken mehrerer Prinzipien, die als verschiedene einander gegenüberstehen - secundum diversa - erreicht35. Es ist also möglich, daß ein Seiendes, welches »schlechthin« ist, dennoch hinter dem zurückbleibt, Vgl. 1, 89, 1: »Cum nihil operetur nisi in quantum est actu, modus operandi uniuscuiusque rei sequitur modum essendi ipsius.« 27 Damit ist aber noch nicht eine »Ableitung« des Besonderen aus dem Allgemeinen geleistet, sondern nur die analoge Allgemeinheit des ontologischen Begriffs von Gut im Sinne der Transzendentalität behauptet, welche die metaphysische Interpretation des Moralischen ermöglicht. 28 Vgl. 1, 48, 3 ad 3: „ ... bonum circuit omnia generac; deutlich ist auch das »malumc als »übergenerischc erkennbar, vgl. 1, 48, 1 ad 1. 211 1, 5, 1 und 3 (die Formel von der >Konvertibilität« erscheint an diesen Stellen aber nicht ausdrüddich, wiewohl sie hinfon vorausgesetzt wird, z. B. I, 21

16, 3). 1, 5, 1. 31 1, 5, 1 ad 1. 30

Der Begriff sagt natürlich sachlich nichts Neues aus, er hebt aber hervor, daß das gesamte »Guueinc des Dinges im »esse« gründet, vgl. Anm. 35. 33 Vgl. 1, 3, 4. 34 Vgl. 1, 6, 3. 35 1, 6, 3 und ad 3 erscheint das >esse« vorzüglich als »perfectio prima«, dem »perfectiones superadditaec und der »ordo ad finemc folgen; 1-11, 18, 1 vereinheitlicht auf das »essec und seine »plenitudoc hin: die Akzentverschiebung ist deutlich. 31

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was ihm zu verwirklichen möglich oder auch aufgegeben ist; in der einen Hinsicht seiend und insofern auch gut, ist es in der anderen nicht-seiend und nicht-gut, zurückbleibend hinter der Seinsfülle, die dem sie aufnehmenden Wesen zugeordnet ist38 • Es heißt insofern »schlecht« oder »übel«. Das übel ist nicht das bloße Fehlen irgendeines Gutseins, sondern das Fehlen jener Vollkommenheit, die dem Seienden »geschuldet« ist (privatio boni debiti )31. Da es ein Geschuldetsein nur geben kann, wo ein Seiendes schon ist, das als solches wieder gut ist, kann es kein schlechthinniges übel geben, und umgekehrt kann dort, wo keine Seiendheit und Gutheit schon vorliegt, nicht von Gut und übel die Rede sein3B; so steht es etwa bei Abstraktionsprodukten, und so heißt es denn, daß in der Mathematik von »Gut« nicht die Rede sein könne99 • Deshalb gibt es Gut und übel nicht etwa bloß »im Verstande«, sondern »in den Dingen« 40 • Ferner kommt den Dingen ein übel niemals zu in ihrem wesentlichen Wassein: eine Veränderung darin würde ein anderes Wesen ergeben 41 ; sondern nur, insofern das Wesen ein Vermögen, zu sein, ist, das sich durch besondere Verwirklichungen zu seiner Vollendung bringt, gibt es für dieses ein Geschuldetes und ein Fehlen des Geschuldeten 42 • Man sieht leicht, daß die Möglichkeit von Gut und übel und ihre jeweilige Besonderheit von der Besonderheit des Wesens und von dessen Verhältnis zum Sein und zu seiner Vollendung abhängt. Je weniger ein Wesen das zu seiner Vollendung Gehörige von Hause aus bei sich hat, um so eher gibt es die Möglichkeit des Zurüc:kbleibens hinter dem Geschuldeten, des »Fehls« (peccatum), des Übels. Vorzüglich gibt es ein übel demnach im Bereich jenes endlichen Seienden, welches ebensowohl sein Das aufnehmende Wesen ist 1-II, 18, 1 - entsprechend der Akzentverschiebung, s. vorherg. Anm., gegenüber 1, 6, 3 - nicht das auf die Wesenskonstituentien reduzierte, sondern die konkrete, in Vermögen und Organen auf Tätigkeit hin entfaltete Natur. 97 1, 48, 3; ib. 5 ad 1: „ ... non omnis defectus boni est mal um, sed defectus boni quod natum est et debet haberi.« 38 1, 48, 3 und 49, 3. se Vgl. 1, 5, 3 ad 4. 40 1-II, 18, 3 arg. 1 (im Gegensatz zum Wahren, 1, 16, 4). Daß das übel „in rebusc sei, wird 1, 48, 2 eigens betont, jedoch der Sinn dieser Aussage auf die „veritas propositionis« eingeschränkt, ib. ad 2. 41 Weshalb die Prinzipien der Natur samt den aus ihr folgenden Proprietäten sowohl beim Dämon, 1, 64, 1, als auch beim Menschen nach der Ursünde, 1-II, 85, 1, völlig ungemindert bleiben. 42 Vgl. 1, 48, 3: Da der Akt als solcher Vollkommenheit besagt, kann ein übel nur an einem „ens in potentia« stattfinden, welches als solches wieder ein Gut ist, aber sowohl einer (vervollkommnenden) Form als einer (deformierenden) Privation unterliegen kann. 36

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Gut und Böse

als auch nicht sein kann ( quod possibile est esse et non esse), also des materiellen Seienden, das dem Entstehen und Vergehen unterliegt43 • Die Form einer materiellen Wesenheit ist nicht so seinsmächtig, daß sie von sich aus die volle Unbestimmtheit der Materie zu bewältigen vermöchte. Sie entwickelt sich in der Zeit, sie wiederholt sich in einer Vielzahl von Individuen, sie unterliegt der Defizienz der Materie; sie ist verletzlich und anfällig, Krankheit, Verfall, Tod suchen sie heim; zuweilen mißlingt die Zeugung, und es entstehen Monstra, »peccata naturae«; die materiellen Seienden, die in der sublunaren Welt zusammen sind, schränken sich gegenseitig in ihren Wirkbereichen ein, vernichten einander es gibt eine Art Realrepugnanz der Wesenheiten; schließlich gibt es in dieser Welt den Zufall, jene Wirkung, die als solche (per se) keine eigene Ursache hat, sondern auf dem Zusammentreffen unabhängig verlaufender Kausalketten beruht, ein ausdrückliches Un-Wesen also, dessen Existenz die Kondition des materiellen Seienden in seiner Defizienz beleuchtet44. Im Bereich des Materiellen, der entstehenden und vergehenden Wesenheiten, gibt es also eine Fülle möglichen Fehls, möglichen Zurückbleibens hinter der geschuldeten Seinsfülle: es gibt »Übel«, und es gibt sie wegen der Defizienz der Materie. Es liegt einfach in der Natur des materiellen Seienden, daß es übel gibt. Aber sie bedeuten noch keine Tragik des Endlichen als solchen - sie hindern nicht, daß sich das Ganze dieses Bereichs in der ihm möglichen Vollkommenheit befindet. Die Vernichtung des einen Wesens dient dem Leben des anderen, der Schwäche des Individuums entspricht die Dauerhaftigkeit der Art; dem Kampf der Arten die Stabilität des symbiotischen Zusammenhangs 45. Das »physische« übel ist Vom Guten „abfallen« kann das Körperliche, sofern es und weil es sein Sein verlieren kann, 1, 48, 2 (die Korruptibilität gründet wieder in seiner Zusammengesetztheit aus Form und Materie und deren Kontrarietät, vgl. 1, 75, 6). Von ihm gilt der Grundsatz: „Jpsa autem natura hoc habet, ut quae deficere possunt, quandoque deficiant«, 1, 48, 2 ad 3. Das „physische« übel ist danach unvermeidlich, solange es Entstehen und Vergehen in zeitlicher Folge (quandoque!) gibt; dies muß deshalb im vollkommenen Endzustand der Welt aufhören, SCG IV, 97. 44 Zum Problem des Zufalls und seiner Lösung im Hinblidi: auf die göttliche Weltregierung vgl. 1, 103, 5 ad l. 46 Hieraus ergibt sich die thomistische Lösung des Problems der Theodizee; die gesamte Doktrin ist zusammengefaßt in 1, 48, 2 ad 3: »Deus et natura et quodcumque agens facit quod melius est in toto, sed non quod melius est in unaquaque parte, nisi per ordinem ad totum, ut supra dictum est. lpsum autem toturn quod est universitas creaturarum melius et perfectius est, si in eo sint quaedam quae a bono deficere possunt, quae interdum deficiunt, deo hoc non impediente. Turn quia providentiae non est naturam destruere, sed salvare ... ipsa autem natura rerum hoc habet, ut quae deficere possunt, quandoque deficiant. Turn 43

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demgegenüber stets begrenzt und partikulär: es erscheint, vom Ganzen her gesehen, in der unmaßgeblichen Minderzahl, »Ut in paucioribus« 48. Die Möglichkeit des Verfehlens der eigenen Seinsfülle bedeutet überhaupt nicht notwendig, daß das fehlbare Seiende in der Stufung der Vollkommenheit einen niederen Ort hat; was erst in der größten Vielfalt zusammenwirkender Akte seine Vollendung erreicht, gelangt vielleicht höher als ein anderes, das zwar sein Zugemessenes nicht verfehlt, aber wenig zugemessen bekommen hat. Gerade die niedersten Formen, die der Elemente, haben dank ihrer Einfachheit die größte Widerstandsfähigkeit47; auf der anderen Seite ist der Himmel weder vergänglich noch hat er die Möglichkeit des Fehls, da ihm eine besondere Materie zugeschrieben wird, die in dem Bestimmtsein durch die Form völlig aufgeht - aber dafür bleibt ihm kein anderes Seinkönnen übrig als das der Ortsbewegung«e. Der Himmel heißt ein »notwendiges« Wesen - »notwendig« ist bei Thomas ein relativer Begriff; er triffi: auf endliche Seiende zu, insofern diese nicht von Hause aus der Möglichkeit des Entstehens und Vergehens unterliegen 49 • Das Geschaffensein widerspricht dabei nicht der Notwendigkeit, handelt es sich bei ihm doch nicht um ein Entstehen im eigentlichen Sinne, das „Veränderung« wäreso. Notwendige Wesen, wenn sie einmal sind, sind unvergänglich: der Himmel ist es, sofern er die ihm eigene Materie völlig übermächtigt hat und diese also nicht ein der Form konträres Prinzip des Vergehens bilden kann; alle immateriellen Substanzen sind es, da sie reine Formen sind und keine Kontrarietät in sich haben5 1• Bei ihnen fällt die Möglichkeit einer substanziellen Veränderung gänzlich fort; die Form, die zum Sein nicht auf die Materie angequia ... deus est adeo potens, quod etiam potest bene facere de malis. Unde multa bona tollerentur, si deus nullum malum permitteret esse. Non enim gen~raretur ignis, nisi corrumperetur aer, neque conservaretur vita leonis, nisi occideretur asinus; neque etiam laudaretur iustitia vindicans et patientia sufferens, si non esset iniquitas.« - Zur Bedeutung der Spezies bei den Körperwesen vgl. 1, 98, 2: •Quia igitur in rebus corruptibilibus nihil est perpetuum et semper manens nisi species, bonum speciei est de principali intentione naturae, ad cuius conservationem naturalis generatio ordinatur.« 41 Vgl. 1, 49, 3 ad 5: •Quod autem dicitur, quod malum est ut in pluribus, simpliciter falsum est. Nam generabilia et corruptibilia, in quibus solum contingit esse malum naturae, sunt modica pars totius universi. Et iterum in unaquaque specie defectus naturae accidit ut in paucioribus.« 47 SCG IV, 97 sprimt den Elementen eine •perpetua natura« zu, „secundum totum, licet non secundum partem, quia secundum partem corruptibilia sunt.« 48 1, 66, 2. 48 Zum Begriff des •necessariumc vgl. bes. die Zusammenfassung SCG II, 30. 50 Vgl. 1, 44, 1 ad 2; 1, 50, 5 ad 3. - Zum Smöpfungsbegriff 1, 45, 2 ad 2. 31 1, 50, 5 und ad 3.

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Gut und Böse

wiesen ist, hat alles ihr von ihr selbst her Zukommende von Anfang an bei sidi. und braudi.t sidi. nidi.t gegen ein anderes durdi.zusetzen; ihr fehlt nidi.ts, aber nidi.t, weil sie, wie das niedrigstehende Einfadi.e, zu ihrer gemäßen Vollkommenheit nur weniges bedürfte, sondern weil sie ihre Vollkommenheit in der Einfadi.heit des Immateriellen besitzt52 • Ein »peccatum naturae« ist bei ihnen nidi.t denkbar. Ein Fehl, ein Zurückbleiben hinter dem Gesdi.uldeten, ist bei den immateriellen Substanzen nur in dem Falle denkbar, daß sie in einer Tätigkeit, die über den Bereidi. des ihnen von Natur Eigenen hinausge}lt, den Erwerb einer zusätzlidi.en Vollkommenheit - die dann eigentlidi. »übernatürlich« wäre - sidi. aufgegeben finden. Immaterielle Substanzen sind nidi.t ihre Tätigkeit, sondern haben sie - wie sie nidi.t ihr Sein sind, sondern es habensa. Einerseits sind sie in ihrer Immaterialität sidi. selbst völlig durdi.sidi.tig; ihre Tätigkeit besteht in einem Erkennen, das diese Lidi.theit völlig durdi.dringt und darin zugleidi. die eigene Einordnung im Seienden im Ganzen, und damit auch dieses selbst, unfehlbar treffend erfaßt; ein Wollen, das aus diesem Selbstbesitz und der treffenden Sidi.t auf das Seiende überhaupt folgt, wird sein gemäßes Gut dank dieser Klarheit ebenso sidi.er treffen54• Andererseits aber ist das Sein selbst, das sie nidi.t sind, immer über diese Wesen hinaus. Ist ihre Tätigkeit aber auf dieses hingeordnet als auf einen Gegenstand, der von der naturhaften Lidi.theit des Wesens selbst her nidi.t vollständig begriffen werden kann, so ergibt sidi. eine Vervollkommenbarkeit des Tuns über die Natur hinaus, der die Möglidi.keit eines Zurückbleibens entspridi.t, und in diesem Sinne folgt aus der grundsätzlidi.en Eingesdi.ränktheit der Natur die grundsätzlidi.e Fehlbarkeit audi. des immateriellen Wesensss. Vgl. 1, 62, 1: zu ihrer naturhaften Vollendung bedarf die reine Intelligenz keiner »Bewegung«. 5a 1, 50, 2 ad 2; 1, 54, 1-3. 54 1, 56, 1; 1, 58, 1 und 2-5. - Zur »naturalis dilectio« vgl. 1, 60; auch die »electio« geschieht irrtumsfrei, 1, 63, 1 ad 4, aber vgl. folgende Anm. 56 1, 63, 1 betont den Grundsatz: »Tarn angelus quam quaecumque creatura rationalis, si in sua sola natura consideretur, potest peccare: et cuicumque creaturae hoc convenit ut peccare non possit, hoc habet ex dono gratiae, non ex condicione naturae.c - Die Interpretation dieses Textes hängt vom Verständnis des »in sua sola natura« ab. Da hier vom »Engel« die Rede ist und im Folgenden vom »donum gratiae«, scheint es mir notwendig, die Aussage im theologischen Zusammenhang zu verstehen, so daß sie besagt: auch der Gott schauende Engel, dessen Unsündbarkeit 1, 62, 8 nachgewiesen ist, bleibt ein fehlbares Wesen, wenn nur seine Natur in Betracht gezogen wird. Die Fehlbarkeit wird dann nur grundsätzlich behauptet, nicht als eine Eigenschaft, die auch einer reinen Intelligenz in einem status naturae purae zukäme. (Völlig verfehlt wäre es, hier den Grundsatz »quod potest deficere, aliquando deficit« anzuwenden, der die Seinsweise der materiellen Substanzen betriffl). - Die H

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Wie eine solche Fehlbarkeit zum wirklichen Fehl führen könnte, ist philosophisch gar nicht abzusehen; die Theologie aber weiß auf Grund des Glaubens um die Engelsünde, um die Verwerfung der Dämonen und um die Berufung der Engel zur unmittelbaren Gottesschau, die auch für diese Geistwesen strikt über ihr naturhaftes Seinkönnen hinausgeht56• Philosophisch ist nur die abstrakte Möglichkeit festzuhalten, die sich aus der ontologischen Zusammengesetztheit ergibt, wie ja auch philosophisch die Erhebbarkeit der intellektuellen Natur zur Gottesschau sich aus der Uneingeschränktheit ihres Offenseins zum Sein ergibt, aber nur als ebenso abstrakte Vollendbarkeit, deren wirkliche Erfüllung strikt unausdenkbar bleibt57 • Wird aber die theologisch erschlossene Wirklichkeit spekulativ durchdrungen, so zeigt sich unschwer, daß die reine Intelligenz nur irren und fehlen kann, sofern sich ihr ein übernatürliches im Bereich ihres endlichen Erkennens zeigt, dem sie, als endlich Erscheinendem, ihre Zustimmung verweigern kann, dessen Angemessenheit für ihre Vervollkommnung, als die eines übernatürlichen, nicht ohne weiteres und von der Natur her sich aufdrängt; sie setzt sich selbst und ihre natürliche Vollkommenheit als genügend, stellt sich so gegen die höhere Vollendung der positiven Heilsordnung und verfehlt damit dann nicht nur diese, sondern auch die höchste Möglichkeit, die sich von ihrer eigenen Natur her - wenngleich nur abstrakt - ergibt58. Als positive Setzung gegen die höhere Ordnung ist dieser Fehl nicht nur Privation des Fehlbarkeit besteht, nach 1, 63, 1 ad 4, auf Grund der Wahlfreiheit, sofern die immaterielle Substanz zwar nicht ein übel wählen kann, das den Anschein eines Guten hat - in dieser Weise irrt sie sich nicht -, sondern nur ein In-sichGutes, das aber nicht in der geschuldeten Ordnung gewählt wird. Die Aussage, daß »dieses« oder „jenes« gewählt werden könne und so die Möglichkeit eines Fehls bestehe (ib. ad 1), ist wieder nur Kennzeichnung einer grundsätzlichen Möglichkeit: eine konkrete Fehlbarkeit ergibt sich nur im Hinblick auf eine Ordnung, die über den Bereich der endlichen Natur hinaus ist und der diese sich zu unterstellen hat. Eine soldte Ordnung kann »nidtt beamtet« werden, so daß die Wahl fehlgeht. So verhält sidt die Ordnung des göttlidten Willens tatsädtlidt zum Wollen der reinen Intelligenz; sie ist für diese „übernatürlidt«. Ob sie aber in einem „status naturae purae« ebenso überlegen und deshalb nicht-beadttbar sei, ist kontrovers; vgl. Anm. 58. 58 Vgl. 1, 62, 2. 57 Vgl. Kap. 8, § 3. 58 Zur »Engelsündec vgl. 1, 63, 3. - In der Darstellung ist zur Kontroverse über die Fehlbarkeit der reinen Intelligenz in einem hypothetisdten »Status naturae puraec im Sinne der thomistischen Tradition Stellung genommen; sie wird verneint. Thomas hat die Frage nidtt ausdrücklidt behandelt; nur die theologisdte Tatsädtlidtkeit der übernatürlidten Ordnung und der in dieser gesdtehenen Engelsünde stehen in Frage. Die grundsätzlidte Fehlbarkeit muß um dieser Tatsädtlidtkeit willen festgehalten werden. Das bedeutet aber nidtt, daß nicht in einem hypothetisdten »Status naturae purae« Verhältnisse aus derselben Natur folgen, die eine Nidtt-Fehlbarkeit notwendig zur Folge haben:

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Gut und Böse

(positiv) geschuldeten Gutes, sondern zugleich konträr dazu; er ist nicht nur ein ioObelc, sondern er ist »böse«. Die Perversion des Dämons ist am meisten dem Guten entgegengesetzt: »corruptio optimi pessimac 511• Theologisch heißt dieser Fehl aus Bosheit »Sündec, und er ist aufzufassen als eine Beleidigung Gottes; er verdient positiv Strafe, eine seinsmäßige Minderung des Sünders und insofern ein übel, das aber doch in Hinsicht auf die Ordnung des Ganzen die Rechtheit wiederherstellt und insofern wieder ein »Gute ist8o. Dasselbe Verhältnis wie bei den Engeln und Dämonen findet sich beim Menschen, mit den gleichen Folgen, wieder, wenn man ihn in Hinsicht auf die Heilsordnung betrachtet; hinzukommt aber, daß der Mensch im konkreten Zustand des gegenwärtigen Lebens sowohl eine Minderung, die sich bis in naturhafte Bereiche erstreckt, in der Erbsünde erfahren hat, als auch eine Erhöhung durch die Erlösung; daß er zudem nicht in der Lichtheit des Selbstbesitzes existiert, ~ndern in einem sich entwickelnden Verstehen und Wollen, das sich in der Zeit und in Einzelakten ausbreitet, in einer Folge von Zuständen, deren einer immer den anderen überholen kann, die einander entgegengesetzt, Ihre Vollendung fände die reine Intelligenz dann in der natürlichen Gotteserkenntnis,·die sie Clurch ihre Selbsterkenntnis gewinnt (vgl. 1, 56, 3), und in der natürlichen Gottesliebe, mit der sie nicht umhin kann, Gott zu lieben (vgl. 1, 60, 5); diese »naturalis beatitudoc erwirbt sie sogleich mit ihrem Erschaffenwerden, ohne »Bewegung« (vgl. 1, 62, 1); eine freie Entscheidung kann nicht umhin, in dieser Ordnung unfehlbar das Richtige zu treffen, da ein Irrtum ausgeschlossen und ein über die Natur Hinausreichendes nicht gegeben ist. Der göttliche Wille würde ja gerade diese Naturordnung wollen, und eine Diskrepanz zwischen dem »bonum proprium« und dem »bonum superiusc (nach der Terminologie von SCG III, 110) bestünde nie, so daß kein Verfehlen der Zuordnung möglich wäre. Aus dem »Naturverlangen nach der Gottesschau« kann (nach dem Kap. 7, § 3 Ausgeführten) nicht hiergegen argumentiert werden; wohl aber bedeutet, von diesem her gesehen, die tatsächliche Engelsünde ein Verfehlen des „finis naturaec, als welcher die übernatürliche Vollendung von da aus erscheint (vgl. 1, 62, 1). 68 In der Perversion des Vernunfl:geschöpfes findet sich demnach eine »specialis ratio« des Übels, 1, 48, 5, das »malum culpaec, dessen Schwere 1, 48, 6 erläutert wird: »Malum vero culpae opponitur proprie ipsi bono increato; contrariatur enim impletioni divinae voluntatis et divino amori quo bonum divinum in seipso amatur, et non solum secundum quod panicipatur a creatura.« Das Böse wird hier also sofort in seinem theologischen Sinn gedeutet, der jedoch nicht unmittelbar aus der allgemeinen Bestimmung von 1, 48, 5 hervorgeht: »Malum autem quod consistit in subtractione debitae operationis in rebus voluntariis, habet rationem culpae. Hoc enim imputatur alicui in culpam, cum deficit a perfecta actione, cuius dominus est secundum voluntatem. - Zur Kontrarietät dieses Bösen zum »Gut« vgl. unten Kap. 12, § 3. 90 ·Vgl. 1, 49, 2: Insofern kann Gott die Ursache dieses Übels sein; die Strafe besteht in einer »subtractio formae vel integritatis reic, die deren Wollen konträr ist, 1, 48, 5 (auch dies eine allgemeine Bestimmung, die nicht aussdiließlich theologisdi verstanden werden muß).

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einander aufhebend oder einander stützend, einander vollendend sein können: er lebt nicht nur in einer Heilsordnung, sondern in der Folge einer Heilsgeschichte; die Heilsordnung hat die Struktur, die dem menschlichen Dasein gemäß und entsprechend ist. Hat die Perversion des Dämons den Charakter einer endgültigen Entgegensetzung gegen das Heil, so die menschliche den der Widerrufbarkeit - es sei denn, der Mensch sei, in der Trennung der Seele vom Leibe, in die seinsmäßigen Bedingungen einer reinen Intelligenz eingetreten81 • Hat aber der reine Geist von Natur aus sein Zukommendes immer schon bei sich, so ist der Mensch schon auf dieser Ebene in mannigfacher Weise fehlbar, so wie alle materiellen Wesen, und auch tatsächlich immer wieder fehlend. Nicht erst in der Heilsordnung, sondern schon auf der Ebene der bloßen Natur gibt es, wie die Fehlbarkeit des physischen Wesens, so die des irrenden Verstandes und des unrechten Willens. Die theologische Betrachtung, die diese naturhafte Fehlbarkeit feststellt und in ihr eigenes Verstehen aufnimmt, verweist auf die natürliche Sicht, in der dieses Verhältnis schon vor aller übernatürlicher Einordnung obwaltet, und zwar so, daß sich die Heilsordnung gerade darauf aufbaut". Als materielles Wesen hat der Mensch teil an den Übeln, die allem Materiellen anhaften; er hat in seinem Wesen die Kontrarietät der Prinzipien bei sich, welche die Korruptibilität zur Folge hat83 • Es ist klar, daß diese Wesensbedingung des gegenwärtigen Lebens es ist, welche das Erreichen einer vollkommenen Glückseligkeit hindert84• Aber sie hindert nicht, daß sich der Mensch in all seinem Tun nach ihr ausstreckt und in dieser Richtung auf das vollkommene Gutsein in jedem Akt ein je diesem angemessenes Gutsein erwirke. Wächst eine Vollkommenheit aus diesen Akten und ihrer Folge erst zusammen, die jeweils aufgegeben, jeweils zu tun sind, so muß die Frage nach dem schledithinnigen Gutsein des gesamten menschlichen Lebens zurückgenommen werden auf die Frage nach dem jeweiligen Gutsein des jeweiligen Aktes; es ist zu fragen, wie dieser, als jeweiliger, seine Seinsfülle habe, wie sie zustande komme, wovon sie abhänge und wie ein Fehl in ihm möglich sei: wir sind damit, nach der Abschweifung in die metaphysische Gesamtschau, wieder zum besonderen Gegenstande der zu interpretierenden Quaestio zurückgekehrt. 1, 64, 2: Die »obstinatio« des Dämons stammt »non ex gravitate culpae, sed ex condicione naturae status«. 11 Im Sinne des allgemeinen Grundsatzes »gratia supponit naturam« spricht Thomas von einem »Nachahmen« 11-11, 31, 3: „ ... gratia et virtus imitantur naturae ordinem, qui est ex divina sapientia institutus.« 18 1-11, 85, 6. 94 1-11, 5, 3. 11

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§ 3: Ontologische Analyse der Moralität selbst (art. 2-4) Stellt der erste Artikel von Quaestio 18 die Betrachtung in den allgemeinen Rahmen der metaphysischen Sicht auf das Gutsein des Seienden, die je nach seiner Besonderung zu messen ist, so schließt er daraus, daß das Gutsein des Aktes zunächst und grundlegend in seinem Aktsein selbst besteht - sei dieses wie immer weiter bestimmt und eingeordnet. Damit ist nicht jeder Akt schon schlechthin gut, hat er nicht schon alles »Geschuldete« erfüllt: aber auch der »böse« Akt ist zunächst einmal, sofern er überhaupt Akt ist, von jener grundlegenden Gutheit getragen. Das ist der Sinn vor allem der Antworten auf die Argumente, die den Artikel einleitenes. Das »Aktsein überhaupt« hat im Verhältnis zur Besonderheit des bestimmten Aktes den Charakter des Genus, und so redet Thomas von einem Gutsein »der Gattung nach«ee. Dieses »erste« Gutsein der Handlung liegt der Unterschiedenheit von Gut und Böse voraus; es kommt dem Zugrundeliegenden zu, von dem her erst ein Geschuldetes erfüllt oder verfehlt werden kann. Da es das Zugrundeliegende des gesamten »genus moris« ist, kann ihm innerhalb dieses Genus kein übel entgegengesetzt sein: wir befinden uns damit noch gar nicht auf der Ebene des Moralischen und seiner Unterschiedenheit. Diese erreichen wir erst, wenn wir die Bestimmtheit des Aktes ins Auge fassen (Art. 2). Die Analogie zum Naturding erweist sich hier fruchtbar: zu seiner Seinsfülle gehört als erstes das, was ihm die spezifische Bestimmtheit gibt, die Form, und das grundlegende übel ist ihm, daß es seine Form (wie in der Mißgeburt) nicht erreicht. Ähnlich muß als erstes zur Seinsfülle der menschlichen Handlung gehören, was ihr die spezifische Bestimmtheit gibt, und das ist ihr Gegenstand: vom Gegenstand hat sie ihr erstes Gutsein oder ihr erstes »Bösesein«, im Hinblick auf den Gegenstand des Handelns ist die Rede vom »bonum ex genere« oder »malum ex genere«, wobei diese Ausdrucksweise - wie beim Terminus »genus humanum« - »genus« im Sinne von »species« nimmt87, Nur scheinbar liegt in dieser Lehre ein »Objektivismus«, welcher den Unterschied von Gut und Böse, ehe er in der Handlung erscheint, zuvor in Die Antworten (1-II, 18, 1 ad 1-3) wiederholen lediglich Gedanken, die bereits 1, 48 vorgetragen wurden. 88 Vgl. 1-II, 18, 4. 87 Wie üblich übernimmt Thomas die traditionellen Begriffe der Schule_ (•quidam«) und interpretiert sie; da •honum ex genere« und •malum ex genere« das Gut oder Böse meinen, das einer Handlung auf Grund ihrer inhaltlichen Bestimmtheit zukommt, triffi die Interpretation genau den Sachverhalt und faßt ihn so, wie es eine genauere Terminologie erfordert. 85

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den Dingen ansetzen würde, wie sie in sich sind vor allem Handeln. In sich selbst sind die Dinge gut: aber im Verhältnis des Handelns kommt es nicht auf dieses In-sich-gut-Sein an, sondern auf die Weise, wie sie Gegenstand dieses oder jenes Handelns sind (Arg. 1 und ad 1). Unter dieser Hinsicht ergibt sich ein Verfehlen auf seiten des Handelns, wenn der Gegenstand nicht in jener Ordnung, in der Handeln geschieht, »angemessen« ist ( conveniens)&a. Die »objektive« Moralität ergibt sich also nicht aus dem Hinblick auf die vorliegende »Ontische« Gutheit des Seienden, sondern erst aus der Betrachtung der Proportion, in der das Seiende zu einem es betreffenden Handeln steht, oder umgekehrt, aus der Proportion, in der das Handeln zu dem im Seienden zu Erwirkenden steht. Bei dieser »Umkehr« des Gesichtspunktes ist das zu Erwirkende nicht insofern maßgeblich, als es schon gewirkt ist - so daß die Ursache von der Wirkung her ihr Gutsein bekäme -, sondern sofern es Endpunkt (terminus) des Handelns ist; damit ist gegeben, daß der Grund für das Gutsein des Handelns in seiner Eignung besteht, eine »gute« Wirkung hervorzubringen, in der Proportion also, ohne Rücksicht darauf, ob die Wirkung nun tatsächlich hervorgebracht wird (Arg. 3 und ad 3). Weder das Seiende in seinem An-sich noch ein abstraktes Wollen, sondern die Ordnung, in der Seiendes vom willentlichen Tun getroffen wird und so sein Objekt ist, ergibt Gut- oder Bösesein&9• Thomas erläutert diese Lehre an einem einfachen Beispiel: Ein Ding, das meines, mein Eigentum ist, ist ein angemessener Gegenstand meines Gebrauchens; fremdes Eigentum ist nicht ein angemessener Gegenstand meines Nehmens10. Der Unterschied von „fremd« und »eigen« liegt meinem Handeln voraus, liegt im Gegenstand selbst - aber nur, sofern er Gegenstand eines menschlichen Handelns ist; denn es kann sich sehr wohl um Seiendes handeln, das in sich völlig gleichgeartet ist, oder um dasselbe Seiende im Verhältnis zu verschiedenen Handelnden, das also in seinem ontischen An-sich keine Unterschiedenheit hat. Liegt die Unterschiedenheit aber nicht darin, sondern in der Proportion zu dieser oder jener Handlung, so muß ihr Prinzip in jenem gesehen werden, wel»Angemessen« ist ein Gut im Verhältnis zur vorgegebenen Bestimmtheit, der »Form« eines Seienden (darüber 1-11, 18, 5); in Hinsicht auf diese wird wieder die „ratio boni« bestimmt, nach »modus, species et ordo«, 1, 5, 5. Sofern die Form das Wirkprinzip ist, ib„ scheint »Conveniens« besonders geeignet, den Bezug des zu-Wirkenden zum Wirkenden zu bezeichnen. 88 Grundlegend ist die Formel 1-11, 18, 2 ad 1: »Licet res exteriores sint in seipsis bonae, tarnen non semper habent debitam proportionem ad hanc vel illam actionem. Et ideo inquantum considerantur ut obiecta talium actionum, non habent rationem boni.« 70 1-11, 18, 2: „uti re sua« (Beispiel für >bonum ex generec), „accipere aliena« (Beispiel für >malum ex generec).

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Gut und Böse

dies für das Handeln maßgeblidi und regelnd ist, sofern es Handeln ist, nämlidi in der Vernunft; aber über diese Frage wird erst in Artikel 5 gehandelt - Thomas begnügt sidi hier mit der formalen Feststellung, die allerdings zu ihrem Verständnis ein Wissen um die Vernunfl:ordnung als die eigentlidi moralisdie voraussetzt71, Der Gedankengang von Artikel 3 führt die Analogie mit dem Gutsein der Dinge fort: Wie diese ihre Seinsfülle nidit allein aus der Wesensform haben, die ihnen die spezifisdie Bestimmtheit gibt, sondern erst durdi eine Fülle von hinzukommenden Akzidentien erwerben, deren Fehlen oder Fehlerhafl:igkeit für sie ein übel ist, so verhält es sidi audi mit der Handlung: nidit allein in ihrer gegenständlidien Bestimmtheit besteht ihre Seinsfülle, sondern gleidisam als Akzidentien verhalten sidi zu ihr die Umstände, deren Angemessenheit oder Unangemessenheit zu ihrem Gutsein beitragen oder ihm abträglidi sein kann. Ein Verfehlen dessen, was von den Umständen aufgegeben ist, nimmt der Handlung das sdiledithinnige Gutsein72 , Audi über die eigentlidi moralisdie Bedeutung der Umstände, ihre Eigenart in der Ordnung der Vernunft, wird nodi im Rahmen dieser Quaestio (nämlidi Art. 10 und 11) näher zu handeln sein. Der 4. Artikel sdiließlidi fragt nadi der Bedeutung des Zieles für das Gutsein der Handlung. Wieder wird die Analogie mit den Dingen zum Ausgangspunkt genommen: Sind diese bisher auf das hin betraditet worden, was ihnen ihrem »absoluten« Sein nadi zukommt - wie sie sidi in sidi selbst, unter Absehen von aller Ordnung zu anderem zeigen -, so genügt das nidit, wenn sie ihrem Sein nadi von anderem abhängig sind; dann ist erforderlidi, ihre Ursadie in die Betraditung hineinzunehmen. :qas Sein eines Dinges, das abhängig ist, wird bestimmt von der Ursadie, die es erwirkt und ihm die Form gibt; sein Gutsein aber, die Vollkommenheit, in der sidi das gewirkte und geformte Seiende vollendet, erwirbt es, indem es sidi auf ein übergeordnetes Ziel hin ausstreckt und zu diesem hin tätig wird, und so empfängt es von diesem her als von der Ursadie das vollendende Gutsein78, Das Gutsein vom Ziele her kommt zu der absoluten Gutheit hinzu und vollendet sie, wenn man vom (gewirkten) Seienden her auf sie hinblickt; sdiaut man aber auf dessen Abhängigkeit, sein Gewirktwerden, so zeigt sidi, daß die Zielursädilidikeit überhaupt die erste und maßgeblidie ist, denn das Wirkende wirkt im Hinblick auf ein Gut, das ihm Ziel ist, und so hängt alles Gutsein des Dinges Der Vorgriff, der hier vorliegt, ist möglich, weil - wie die Beispiele zeigen schon alltägliche Erfahrung zum Verständnis ausreicht. 71 Zum Begriff des »bonum simpliciter« vgl. 1-II, 18, 4 ad J; 1, 5, 1. 73 Vgl. dazu 1, 5, 4.

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schließlich von diesem Zielgut ab74 . Das bedeutet wiederum, daß jede Abhängigkeit eines Gutseins als eine Abhängigkeit von einer Zielursache zu denken ist; diese Weise der Ursächlichkeit ist dem Guten eigentümlich7S, So ist denn bei der menschlichen Handlung, wie bei allem, dessen Gutsein abhängig ist, ein Gutsein vom Ziel her gegeben, außer dem »absoluten« Gutsein, das ihr durch die spezifisdte Bestimmtheit vom Gegenstand her und durch die akzidentelle Vollendung von der Angemessenheit der Umstände her zukommt78. Dabei ist das Ziel, das ja eine äußere Ursadte ist, ebensowenig wie das äußere Seiende, das Gegenstand ist, in der Weise zu nehmen, wie es der Handlung äußerlich ist; bestimmend für die Handlung ist es, sofern diese zu ihm in ein Verhältnis tritt, das angemessen oder unangemessen sein kann. Diese Proportion zum Ziel, die Beziehung zu ihm, ist der Handlung innewohnend 77. Die Gutheit, die aus ihr folgt, ist also der Handlung nicht weniger eigen und innerlidt als die »absolute«. Dies wird besonders deutlich, wenn Ziel und Gegenstand des Handelns geradezu zusammenfallen: Vom Willen heißt es überhaupt, daß sein Gegenstand das Ziel sei78, und daraus folgt, daß die Handlung, sofern sie willentlich ist, gerade vom Ziel her ihre spezifische Bestimmtheit erhalten muß, wie das bereits im Traktat über die Glückseligkeit gesagt worden ist79. Dies ist jedoch nicht notwendig und immer der Fall: es ist ebensowohl möglidt, daß ein Tun einerseits einem bestimmten Gegenstand zugeordnet, mit diesem besdtäfl:igt und von ihm spezifiziert ist, andererseits aber einem darüber hinausliegenden Ziele dienlich gemacht wird. Daraus erhellt, daß Gegenstandsbestimmtheit und Zielbestimmtheit des Handelns nicht restlos ineinander überführbar und aufeinander rückführbar sind; grundsätzlich handelt es sich um verschiedene Verhältnisse, die in verschiedener Weise das Gutsein des Handelns bewirken und in verschiedenem Blickwinkel erhoben werden. Sie müssen gesondert aufgeführt werden, wenn die wesentlichen Momente des Gutseins der Handlung gesammelt werden sollen. 74

Die Verschiedenheit der Aspekte »in causando« und „in causato« ist nach

1, 5, 4 gegeben; 1-11, 18, 4 betont die Einheit beider unter dem Gesichtspunkt

der Abhängigkeit des Gutseins. Und zwar ausschließend: vgl. die Interpretation des berühmten Adagiums, 1, 5, 4 ad 2: „ ... bonum dicitur diffusivum sui (et} esse eo modo quo finis dicitur movere.« 79 Das »absolut« (wie stets bei Thomas im Wortsinn zu nehmen) sdtließt nicht die Abhängigkeit, sondern den Aspekt der Abhängigkeit aus, ist also im Hinblick auf den Betrachter zu verstehen. 77 1-11, 18, 4 ad 2. 78 1-11, 1, 1. 75

79

1-11, 1, 3.

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Gut und Böse

Natürlich ergeben sich aus dem Zusammenfall von Ziel und Gegenstand wie auch aus ihrem Getrenntsein besondere Fragen: sie werden von Thomas hier ebensowenig erörtert wie Probleme, die sich oben im Anschluß an Artikel 2 ergaben, sondern erst in Artikel 6 behandelt. Beidemal geht es um Besonderheiten des »Moralischen«, die ein Eingehen auf die besonderen Prinzipien der Moralität erfordern. In diesen ersten vier Artikeln geht es Thomas jedoch offenbar noch nicht um ein Herausarbeiten der Besonderheit, sondern um die Einordnung ins Allgemeine des Gutseins der Dinge: keine andere als die allgemeine Begrifflichkeit wird hier angewendet, die bereits in der Abhandlung über das Gute im Allgemeinen entwidtelt worden istso.

§ 4: Die Ordnung der Moralität und die Ordnung der Dinge (Vergleich mit Summa theologiae 1, q. 6, art. 3) Die Aufgabe einer allgemein-ontologischen Analyse des Gutseins der Handlung unter der Begrifflichkeit des Gutseins der Dinge ist nun zu einem gewissen Abschluß gebracht. Es hat sich eine vierfache Gutheit ergeben: die erste - generische - bezeichnet den Grund, auf dem die weiteren aufruhen und an dem auch die Privation, die zum Begriffe des Obels gehört, stattfinden kann; es folgt die spezifische, vom angemessenen Objekt her; dann die von den Umständen bewirkte als eine den Akzidentien nach; schließlich die vom Ziele her, als von der Ursache der Gutheit genommen. Damit ist die Gutheit des Handelns vollständig umschrieben, die Momente seiner Seinsfülle sind aufgezeigt, die Analogie mit der Gutheit der Dinge zu Ende geführt. M!t Bedacht wird man hier allerdings nur von einer Analogie zu reden haben: die allgemeine Begrifflichkeit, die am Beispiel des substantiellen Seienden gewonnen ist, erfährt bei der Anwendung auf die Handlung von der Besonderheit dieses Gegenstandes her eine charakteristische Abwandlung. Auffällig ist vor allem die Vierzahl der Gutheiten: in dem Artikel (q. 6, art. 3) des Ersten Teils der Summa theologiae, welcher die Momente der Vollkommenheit eines Dinges ganz allgemein darlegt, ist nur von einer dreifachen Vollkommenheit die Rede. Nach diesem Text ist die erste Vollkommenheit die, daß das Ding überhaupt sei, und dieses grundlegende Sein erwirbt es durch die Wesensform; dann bedarf es um seiner Tätigkeit willen - hinzutretender Akzidentien; schließlich erreicht es die Vollendung, indem es zu seinem »Ende« kommt, nämlich zu einem anderen, das ihm Ziel ist81 • Die beiden letzten Stufen entspreNämlidt 1, 5-6 und 1, 48-49; über Untersdtiede vgl. das Folgende. 1, 6, 3: „unumquodque enim dicitur bonum, secundum quod est perfectum. Perfectio autem alicuius rei triplex est. Prima quidem, secundum quod in suo

80

81

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chen genau den beiden letzten »Gutheiten« des Handelns, aber die erste erscheint in eine Zweiheit auseinandergelegt: der spezifischen Bestimmtheit, die beim Ding das Sein selbst vermittelt, geht beim Akt das Aktsein überhaupt als eigenes Moment voraus. Man darf voraussetzen, daß Anlaß und Sinn dieser Zweiteilung nur in der Besonderheit des Moralischen gesucht werden können. Gut und Böse sind beides spezifische Bestimmtheiten des Handelns, die sich also gegenseitig ausschließen; das Böse »raubt« dem Akt, als spezifisch bestimmend, gerade das »erste« Moment seiner Seinsfülle. Es kann also nicht in dem spezifisch Bestimmenden das Sein schlechthin des Aktes gegründet werden, da sonst ein spezifisch Böses unmöglich wird; das Sein schlechthin muß ihm vorausliegen. Die Analogie zur Gutheit der Dinge scheint hier zunächst zu versagen, da gerade gesagt worden ist, sie erwürben ihr grundlegendes Sein eben durch die species-gebende Form. Dann ist es unmöglich, daß diese Form durch ein entgegenstehendes übel völlig aufgehoben wird, denn dieses höbe sich dann selbst mit aufs 2 • Jene erste Vollkommenheit der spezifisd1en Bestimmtheit ist zugleich das Zugrundeliegende, an dem alle Privation statthat, das aber als das Zugrundeliegende sich ständig gleichbleibt und durchhält. Das schließt nicht aus, daß ein Ding insofern hinter seiner Form zurückbleibt, als es nicht das volle Maß des Seins erwirbt, das dieser Form zukommen kann, aber kein Mangel kann das Wesen ändern, da sonst das Sein selbst dieses Wesens verloren ginge und weder von Gut noch von übel mehr die Rede sein könnte83. Dennoch nennt Thomas zwei Beispiele aus dem Bereich der Naturdinge, welche ein Verfehlen auf der Ebene der spezifischen Bestimmtheit belegen sollen: das Verfehlen der Zeugung84 und den Verlust der Wesensform im Tode, der ein Lebewesen betreffen kann85 • Im ersten Falle, so heißt es, entsteht »ein anderes« an Stelle eines Menschen. Aber hier läßt esse constituitur. Secunda vcro, prout ei aliqua accidentia superadduntur, ad suam perfectam operationem necessaria. Tertia vero perfectio alicuius est per hoc, quod aliquid aliud attingit sicut finem. Utpote prima perfectio ignis consistit in esse, quod habet per suam formam substantialem; secunda vero eius perfectio consistit in caliditate, levitate et siccitate, et huiusmodi; tertia vero perfectio eius est secundum quod in suo loco quiescit.« 82 Vgl. 1, 48, 4. 83 Vgl. 1, 48, 3 und 49, 3. 84 1-11, 18, 2: „ ... in rebus naturalibus primum malum est, si res generata non consequitur formam specificam, puta si non generetur homo, sed aliquid loco hominis ... « 86 1-11, 18, 5 ad 1 (Die Stelle wird vorweggenommen, da sie sachlich in den jetzigen Zusammenhang gehört): „ ... etiam in rebus naturalibus bonum et malum, quod est secundum naturam et contra naturam, diversificant speciem naturae: corpus enim mortuum et corpus vivum non sunt eiusdem speciei.«

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Gut und Böse

sidi fragen: Ist diesem Anderen, sofern idi es rein für sidi, »absolut«, betradite, die spezifisdie Bestimmtheit des Mensdiseins wirklidi »gesdiuldet«, wo es doch eben »ein anderes« ist? - Sie mangelt ihm dodi nur im Hinblidt auf die übergreifende Ordnung, in der es entstanden ist und in der der Mensdi einen Mensdien zeugt. - Im zweiten Fall bedeutet der Verlust der Wesenform für das Lebendige den Verlust des Seins selbst; der tote Mensch ist kein Mensdi mehr, nur in äquivokem Sinne88 . Der tote Körper hat eine andere Wesensform als der lebendige und so audi ein anderes Sein, eine andere Weise der Vollkommenheit; in Hinsidit auf ihn selbst und »absolut«, sofern er eben ein Anderes ist als das Lebendige, kann man nicht von einem Verfehlen oder übel spredien. Nur wenn man auf seine vormalige Seinsweise als Wesensteil eines Lebendigen hinschaut, kann man von einem Mangel und einem übel spredien, im Hinblidt also - wiederum - auf eine übergeordnete Ordnung, aus der er herausgefallen ist. Hier ist es, wie im ersten Falle, die Ordnung der »Natur«, im Hinblidt auf weldie die Wesensform des toten Körpers »naturwidrig«, die des lebendigen »naturentsprediend« genannt werden kann, beide sidi also wie spezifisdi gut und spezifisdi übel gegenüberstehen87. Dieses Gegenüberstehen ist wiederum nur möglidi auf einem gemeinsamen Untergrund, der die gegensätzlidien Bestimmtheiten trägt und an dem sie stattfinden: dies ist das übergeordnete gemeinsame Genus »Körperwesencss. An beiden Beispielen läßt sidi, wie gezeigt, die »absolute« Betraditungsweise der transzendentalen Analyse durdiführen; aber da sidi hier Gut und übel nidit »absolut« sondern erst im Hinblidt auf eine übergreifende, zum Absoluten hinzutretende Ordnung ergeben, muß die Analyse a~f diese Ebene folgen. Die transzendentale Begrifflidikeit wird entsprediend der Besonderheit abgewandelt: die Termini deuten nun auf ein anderes, das erst in der übergreifenden Ordnung die ihnen entsprediende Bedeutung bekommen hat. Als übergreifend und hinzutretend bleibt die neue Ordnung auf den absoluten Grund bezogen und steht zu ihm in Proportion. Sie bleibt mit ihm in der Einheit der Analogie verbunden. Sie ist jedodi nidit aus ihm ableitbar oder erklärbar: in der Quodl. III, 2, 2. - Vgl. III, 50, 4. Der Gegensatz ist ein rein privativer, sofern das „mortuum« nichts positiv setzt - im Unterschied zum Moralischen, in dem der Gegensatz konträr ist, vgl. Kap. 12, § 3. 88 Das „mortuum« tritt zu diesem Genus freilich nicht als positive Bestimmung hinzu und ist insofern nicht •konstitutive« Differenz; dies ist ein »inalum«, nach 1, 48, 1 ad 2, nur im Moralischen. Das schließt nicht aus, daß es Grund der Unterschiedenheit der Spezies ist: im Text (Anm. 85) braucht Thomas deshalb das allgemeine >diversificare« (das er natürlich auch >spezifische benutzen kann!).

8e 87

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analogen Einheit des Transzendentalen stellt sie einen eigenen Bereidi mit eigens für sidi zu erhebender Besonderheit dar, die wiederum nur auf Grund einer besonderen Erfahrung des Bereidies zu erheben ist. Von dort aus stellt sidi die Anwendung und Abwandlung der transzendentalen Begrifflidikeit dar als das Unternehmen, die Einordnung des besonderen Verstehens in das universale Gesamtverstehen zu leisten, das in der Metaphysik Gestalt gefunden hat. Sdiauen wir von hier aus auf die vierfadie Gutheit der Handlung zurück, so ist in dieser analogen Anwendung der transzendentalen Begrifflidikeit eben dies und nichts anderes zu sehen: der Nadiweis, daß die Besonderheit des Moralisdien unter das Gesamtverstehen der Metaphysik fällt, sofern sidi in ihm die allgemeine Struktur des ontologisdi betraditeten Gut wiederfindet, moralisches Gut und Böse also interpretierbar sind von der Metaphysik des Guten her. Die Gründung auf das »generisdi« Gute - die entsdieidende Abwandlung - leistet dabei einerseits die feste Bindung an ein »absolut« Gutes; andererseits verweist seine Einführung darauf, daß die Bestimmtheit des Aktes nidit in seinem Absoluten, sondern in einer besonderen Ordnung gesehen werden muß, die sidi auf dem absoluten Grunde entfaltet und von ihm freigegeben wird, aber nidit aus ihm abgeleitet oder erklärt werden kann. In dieser Ordnung kann der moralisdie Untersdiied ein soldier des Wesens, der spezifisdien Bestimmtheit sein, er kann ferner dem Erkennen, das sich in dieser Ordnung schon befindet, primär sidi zeigen, obwohl zugleich gültig bleibt, daß absolut-metaphysisdi dem Guten ein sdiledithinniger Vorrang audi für das Erkennen zukommtB9, Die Ordnung des Moralisdien ist in den behandelten vier Artikeln zwar metaphysisch interpretiert, aber nodi nidit benannt worden. Thomas vermeidet es sorgfältig, andere Begriffe als die aus der allgemeinen Lehre vom Guten und vom übel heranzuziehen. Erst nach Absdiluß der Analyse der »Gutheiten« der Handlung wird auf deren Besonderheiten eingegangen. Man könnte sidi dabei fragen, ob der Traktat über die Moralität mit Artikel 1 der Quaestio 18 überhaupt sdion angefangen habe - wo diese dodi von Anfang an den Gegenstand der Untersuchung bildet90 • - Die moralisdie Ordnung wird benannt von ihrem Prinzip her, der Vernunft des Mensdien.

Nach 1, 48, 1: »Unum oppositorum cognoscitur per alterum, sicut per lucem tenebra. Unde et quid sit malum, oportet ex ratione boni accipere.c 80 Nur scheinbar ist es ein Curiosum, daß es darüber eine Kontroverse gegeben hat; vgl. dazu L. LEHU, A quel point precis de la Somme tbeologique commence le traite de la moralite? in: Revue Thomiste 11 (1928) 521-532 (gegen Lottin). 81

Gut und Böse

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11. KAPITEL: DIE ORDNUNG DER VERNUNFT

§ 1: Die Vernunft als Prinzip und Maß der Moralität; der Reflexionscharakter des Nachweises (q. 18, art. 5) Das praktische Wissen befindet sich immer schon in der moralischen Ordnung, der Ordnung der handlungsregelnden Vernunft und der vernunftgeregelten Handlung, in der sich die Unterschiedenheit von Gut und Böse sogleich und unmittelbar als wesensbestimmende, spezifische Differenz des menschlichen Handelns zeigt. Nun hat auch die -ontologische Analyse der Quaestio 18 mit dem Abschluß des 4. Artikels zu einem Punkt geführt, an dem es nötig wird, diese Ordnung zu bedenken. Aber im Sinne der Fragestellung »Von den Dingen her« geht es wieder vorzüglich um die metaphysische Deutung dieser Ordnung und des in ihr sich zeigenden Unterschiedes. Hat sich die Einordenbarkeit des Moralischen unter die Begrifflichkeit der Metaphysik der Transzendentalien im Vorhergehenden ganz allgemein gezeigt, so geht es nunmehr darum, die Einordnung selbst zu leisten: es geht um die Zuweisung eines bes~immten Ortes im Rahmen der metaphysischen Gesamtschau auf die »Dinge«. Die moralische Ordnung ist zwar keine »dingliche«, aber sie findet doch im Umkreis der Dinge statt, ist von ihnen getragen, auf sie bezogen und von ihnen grundgelegt: daraufhin ist jetzt zu fragen. Wie sie sich zu anderen Ordnungen verhält, mit ihnen übereinkommt oder sich von ihnen abhebt, wie ihre Besonderheit zu umreißen und dieser Umriß der metaphysischen Sicht auf die Gesamtordnung einzufügen sei, dies alles gehört in den Bereich dieser Untersuchung. Die Frage zielt also auf das Wesen, das die Moralität gründet. Aber dies ist durchaus nicht notwendig eine moralische Frage. Das Wesen, nach dem gefragt wird, liegt der moralischen Fragestellung selbst voraus; sie geschieht von ihm her und in dem von ihm her abgesteckten Bereich, aber gerade nicht auf das gründende Wesen selbst hin. Dies ist zwar ständig im Handeln als dessen wirkender Grund anwesend und in seiner naturgegebenen Bestimmtheit vorgegeben, aber aus dieser gegebenen Bestimmtheit folgt eben nicht ein Tunsollen, sondern dies folgt vielmehr aus der hinzukommenden Bestimmbarkeit. Der praktische Hinblick zielt auf das Wesen als das zu Erfüllende, das durch das Handeln zu seiner Vollendung gebracht werden soll. Dieser Hinblick setzt die gegebene Bestimmtheit des gründenden Wesens als anwesend voraus; er hat aber durchaus nicht die thematische Erkenntnis dieses Wesens zur Voraussetzung, wie sie in einer spekulativen Wissenschaft stattfinden würde: moralische Erkenntnis kann nicht aus der Erkenntnis des Wesens als vorgegebener Bestimmtheit abgeleitet werdent. 1

Vgl. Kap. 4, § 1 (u. ö.).

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Vielmehr muß man umgekehrt sagen, daß die Erkenntnis des gründenden Wesens erst dann zu ihrer Fülle kommt, wenn die Erfahrung des Gegründeten, des moralischen Bereiches, gegeben ist. Hier ist an den allgemeinen Grundsatz zu erinnern, daß ein Vermögen stets vom Akt her erkannt wird: dieses prinzipielle Verhältnis beherrscht die thomistische Lehre von der Selbsterkenntnis der Seele dergestalt, daß dieser prinzipiell der Charakter einer Reflexion zugewiesen wird, die erst einem aktuellen Erkennen nachfolgt: die Erkenntnis des erkenntnisgründenden Wesens ist die letzte, obwohl zugleich gesagt werden kann, daß die Anwesenheit des erkennenden Geistes, sein grundlegendes »Bei-sich-Sein«, an allem Erkennen auch wieder das erste ist2 • Wenn hier nun auf den Grund der Moralität hin gefragt wird, verhält sich das nicht anders: Als bloßes Vermögen des Gründens wird der Grund erst aus der geschehenen Gründung erkannt, und der Gedankengang muß sich folglich in der Figur der Reflexion bewegen. Er stellt einen eigentlichen »Rückgang« dar. Das schließt nicht aus, daß jenes praxisgründende Wesen, das im Rückgang von der praktischen Erfahrung spekulativ erschlossen wird, zugleich in anderer Weise schon erschlossen sein kann, nämlich in seiner vorgegebenen Bestimmtheit. Da es dasselbe Wesen ist, welches einmal als schon bestimmt, zum andernmal als bestimmbar - als Grund von Bestimmbarkeit - erkannt wird, muß sich der zwiefache Weg der Erkenntnis auf eine Einheit hinbewegen, in der die Bestimmtheit - als das Früherseiende - als der Grund der Bestimmbarkeit erscheinen wird. Das ist dann der Weg der »Metaphysik des Handelns«. Das Resultat ist die metaphysische »Gründung« oder »Ableitung« der Moralität. Aber es ist entscheidend, festzuhalten, daß diese »Gründung« und »Ableitung« wesentlich nachfolgende Erkenntnis ist. Es ist nicht unwichtig, diese - schon mehrfach in je abgewandelter Form vorgetragenen - Grundsätze hier zu wiederholen: Der jetzt zu behandelnde Artikel 5 unserer Quaestio 18 kann den Eindruck wecken, als handele es sich in ihm um das Unternehmen, ein allgemeines Prinzip der Moralität - nämlich der Unterscheidung von Gut und Böse - aus der 2 Vgl. 1, 87, 1 und 3. - Der Geist überhaupt, sofern er keine »über die Materie ausgegossene« Form ist, wird durch den »Rückgang in sein Wesen« in seiner Seinsweise bezeichnet, 1, 14, 2 ad 1 (nach De caus. 15). Allein der menschliche Verstand, als bloße Potentialität angewiesen auf die Vermittlung der sinnliche,1 Erkenntnis, hat dies »Bei-sich-Seine nicht unmittelbar; sobald er jedoch - gleichgültig hinsichtlich welchen Gegenstandes - in den Akt übergeht, ist seine »Anwesenheit« sogleich mitgegeben, so daß jegliches Erkennen zugleich die Selbsterkenntnis möglich macht, 1, 87, 1 und ad 1. In diesem Sinne ist auch das menschliche Erkennen stets und wesentlich durch »Reflexivität« charakterisiert, obwohl es die Reflexion selbst immer eigens vollziehen muß. Zusammenfassung dieser Lehre: Ver. 10, 8.

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Einsicht in das Wesen der Menschennatur als einer vorgegebenen »abzuleiten«s. Thomas führt (im zweiten Teil der Responsio) die allgemeine Wesenseinsicht der Metaphysik des Guten an, daß jeglichem Ding das ein Gut ist, was seiner Form - seiner wesentlichen Bestimmtheit - entspricht und ihr angemessen ist: ist nun die Menschennatur wesentlich bestimmt durch die Vernunft - denn die Form des Menschen ist ja die Vernunftseele -, so folgt daraus, daß des Menschen Gut die »vernunftgemäße Existenz« (esse secundum rationem ), sein übel das »Widervernünftige« (praeter rationem) ist. Damit ist nun ein Maßstab benannt, nach dem die menschlichen Handlungen beurteilt werden können; oder vielmehr, da die Handlung ihre spezifische Bestimmtheit vom Gegenstand her hat, sind die Gegenstände möglichen Handelns zu unterscheiden nach ihrer Angemessenheit oder Unangemessenheit für die Vernunft, für die vernünftige Existenz des Menschen; in der Ordnung der Vernunft ergibt sich also die Differenz von Gut und Böse als speziesbildend für die menschliche Handlung - das war es, worauf die Frage hingezielt war. Die Moralität und der moralische Unterschied ergibt sich als »Folge« aus der Wesensbestimmtheit der Menschennatur, diese ist d~r eigentliche Maßstab von Gut und Böse4 • Allein, schaut man die Ableitung bei Thomas näher an, so muß auffallen, daß der Untersatz des ersten Schlusses - daß die Menschennatur Da der Text von 1-11, 18, 5 ausführlich besprochen wird, sei er im Wortlaut vollständig zitiert: >Responsio. Dicendum quod omnis actus speciem habet ex suo obiecto, sicut supra dictum est. Unde oportet quod aliqua differentia obiecti faciat diversitatem speciei in actibus. Est autem considerandum quod aliqua differentia obiecti facit differentiam speciei in actibus, secundum quod referuntur ad unum principium activum, quae non facit differentiam in actibus, secllndum quod referuntur ad aliud principium activum; quia nihil quod est per accidens constituit speciem, sed solum quod est per se. Potest autem aliqua differentia obiecti esse per se in comparatione ad unum activum principium, et per accidens in comparatione ad aliud, sicut cognoscere colorem et sonum per se differunt per comparationem ad sensum, non autem per comparationem ad intellectum. In actibus autem humanis bonum et malum dicitur per comparationem ad rationem, quia, ut Dionysius dicit, 4 cap. de div. nom„ bonum hominis est secundum rationem esse, malum autem quod est praeter rationem. Unicuique rei enim est bonum, quod convenit ei secundum suam formam; et malum, quod est ei praeter ordinem suae formae. Patet ergo quod differentia boni et mali circa obiectum considerata comparatur per se ad rationem, scilicet secundum quod obiectum est ei conveniens vel non conveniens. Dicuntur autem aliqui actus humani vel morales, secundum quod sunt a ratione. Unde manifestum est quod bonum et malum diversificant speciem in actibus moralibus. Differentiae enim per se diversificant speciem.« 4 Es sei ausdrüddich darauf hingewiesen, daß diese (häufig uneingeschränkt vertretene) Auffassung vom Zusammenhang des Textes hier nur geschildert und nicht vertreten wird, vgl. das Folgende und Anm. 7. 3

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wesentlich durch die Vernunft bestimmt ist - nicht ausdrücklich im Text stehts. In der Tat, es ließe sich dann schwerlich eine gewisse Zweideutigkeit übersehen, die in der Gleichsetzung von »Vernunft« und »Wesensform« steckt. Der Text des Artikels nimmt zunächst Bezug auf die Vernunft als das Aktprinzip: denn bei Akten überhaupt ergibt sich ein spezifischer Unterschied nur insofern vom Gegenstand her, als durch das Aktprinzip eine bestimmte Weise von Gegenstandsein ermöglicht wird; eine an dem Seienden, welches von einem Akt betroffen wird, vorliegende Unterschiedenheit kann im Verhältnis zu dem einen Aktprinzip eine wesentliche Differenz bedeuten, die speziesbildend ist (so Farbe und Schall im Verhältnis zum sinnlichen Erkenntnisvermögen), im Hinblick auf ein anderes kann dieselbe zugleich bloß beiläufig (per accidens) sein (so steht es mit für sinnliches Erkennen »per se« Unterschiedenem im Hinblick auf das Verstandeserkennen). Der Unterschied von Gut und Böse im moralischen Sinne kann demnach nur spezifisch sein, wenn er sich im Hinblick auf das Prinzip der menschlichen Akte ergibt, und dieses Prinzip ist die Vernunft - wie gleich die erste Bestimmung der Handlung ergab, heißt sie »menschliche«, sofern sie von der Vernunft herkommt6. Wie man sieht, hat dieser Gedankengang die Gestalt des »Rückganges«, die oben gefordert wurde. Nun ist aber die Vernunft, sofern sie als Aktprinzip gesehen wird, nicht zugleich »Wesensform« des Menschen, sondern sein Vermögen. Als solches ist sie, vom Wesen her betrachtet, nicht Prinzip, sondern Prinzipiat: es wird schon deutlich, daß die Moralität nicht unmittelbar aus dem Wesen „folgen« kann. Ein solches Folgen kann nur stattfinden durch die Vermittlung des Vermögens, welches das Wesen aus sich entlassen hat, und sofern dieses Vermögen selbst, als ein solches, wiederum nur von seinem Akt her zu erkennen ist, ist die Erkenntnis des »Folgens« wesentlich nur als Reflexion möglich, die sich vom Akt auf das Vermögen als Aktprinzip, und dann vom Vermögen auf das Wesen als seinen Grund hinbewegt. Im Text unseres Artikels wird der Gedankengang tatsächlich in dieser Weise vorgetragen7• Es ist nur dann gerechtfertigt, diesen Untersatz einzufügen, wenn man in dem Grundsatz »Unicuique rei est bonum quod convenit ei secundum suam formam« den Terminus „forma« von der substantialen Form versteht und ihn als Begründung für die Bestimmung des „bonum hominis« auffaßt. Jedoch sind »res« und „forma« nicht auf die Kategorie der Substanz eingeschränkt, und der Begründungszusammenhang kann auch. anders verstanden werden, vgl. Anm. 7. • Vgl. 1-11, 1, 1 und ad 3. 7 Die Lösung der Frage beginnt im 2. Abschnitt des Artikels - nachdem im 1. Abschnitt die Fragerichtung genauer bestimmt worden ist - mit der Feststellung, daß sich Gut und Böse beim menschlichen Handeln im Hinblick auf die Vernunft ergeben. Diese Feststellung fügt sich der allgemeinen Bestimmung 5

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Hier ist aber ferner zu bedenken, daß sich im Rückgang vom gegebenen, zuerst praktisch erfahrenen Akt her die Maßstäblichkeit des »esse secundum rationem« nicht erst auf der Stufe des Wesens und von diesem her, sondern bereits in der Erfahrung und im Verstehen der Praxis selbst ergibt: denn schon darin zeigt sich der Vorrang der Vernunft und des der Vernunftregel unterworfenen Aktes, wie es sich im Traktat über die Glückseligkeit erwiesen hat, und die spezifisch thomistische »intellektualistische« Bestimmung der Glückseligkeit darf hier vorzüglich angeführt werdens. Die praktische Erkenntnis gewinnt also das »Prinzip der Moralität« in ihrem eigenen Vollzuge und ist nicht darauf angewiesen, aus einer nicht-praktischen Wesenseinsicht, die ihr vorausläge, ihre Gründung zu erwarten. Das in der Reflexion unseres Artikels erhobene »Folgen« jenes Prinzips aus der Bestimmtheit der Menschennatur ist dementsprechend nicht als »Ableitung« oder »Gründung« praktischen Erkennens zu interpretieren. Vollends wird das einsichtig, wenn man zu klären unternimmt, in welchem Sinne überhaupt von Vernunft nicht bloß als entsprungenem Vermc,>gen, sondern als Prinzip und Bestimmungsgrund des Menschenwesens die Rede sein kann. Das »vernünftig«, das in der Definition des Menschen als spezifische Differenz aufgeführt wird, ist zwar »von der Form genommen« - wie jede Wesensdifferenz 9 -, sagt aber nicht die Form des »bonum hominis« bei Dionysius ein, die aus diesem Hinblick geschieht, und wird so von dieser (die durch •quia« angeschlossen ist) begründet und erläutert. Beide Sätze sind wieder als Besonderungen des allgemeinen metaphysischen Prinzips zu verstehen, daß überhaupt Gut und übel in Hinsicht auf die wesentliche Bestimmtheit (forma) des Dinges (res) unterschieden werden, an dem sie.statthaben, und zwar nach Angemessenheit und Unangemessenheit zu deren Ordnung. Dies Prinzip (das durch »enim« angeschlossen ist) kann nun einerseits als Begründung für die Bestimmung des »bonum hominisc aufgefaßt werden, im Sinne von Anm. 5, und eine Bezugnahme auf die •Menschennatur« wäre dann hier konnotiert. Andererseits ist das Prinzip in transzendentalen Begriffen (res, forma) ausgedrückt, so daß es unmittelbar auf der Ebene von Akt und Vermögen anwendbar ist; die Bestimmung des >bonum hominisc müßte dann als bloße Erläuterung der Maßgeblichkeit der Vernunft, nicht als Begründung verstanden werden, der Rückgang der Gründung träfe gar nicht auf den Begriff der Menschennatur. Nicht auf diese, sondern auf die Vernunft als Aktprinzip hin wird im folgenden Satz die Angemessenheit oder Unangemessenheit des Gegenstandes bezogen. - Dennoch hat die zweite Lösung den Nachteil, daß sie das Gewicht der Aussage über das •Gut des Menschen« herabsetzt; der Bezug auf das Menschenwesen kann nicht völlig ausgeschlossen werden, da die Allgemeinheit des genannten Prinzips gerade auch ihn zuläßt. Die Frage ist nur, wie dieser Bezug zu denken ist und wie seine Stellung in der Argumentation ist, worüber im Text sogleich gehandelt wird. 8 Vgl. Kap. 9, § 2 und Anm. 36, S. 152. 8 Vgl. z.B. 1, 29, 1 ad 4; 1, 85, 5 ad 3 u. ö.

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selbst aus. Im zusammengesetzten Menschenwesen ist Form die Seele, die deshalb vernünftig heißt, weil sie aus ihrem substantiellen Grunde als vorzüglichstes Vermögen die Vernunft entläßt; in ihrem Verhältnis zu ihren Vermögen ist von einem »Resultieren« die Rede, also einem wirklichen »Folgen« 1o. Als vorzüglichste Wesensfolge muß dann die Vernunft das Wesen selbst am meisten zum Ausdruck bringen, und so kann dieses von ihr her benannt werden. Das Wesen selbst liegt nun zwar wieder seinen Folgen voraus, aber so wie es - als »actus primus« - bloß vorausliegt, tritt sein Auszeichnend-Unterscheidendes nicht hervor, nämlich eben jene Fähigkeit, die Vernunft aus sich entspringen zu lassen11 • Die Rede, die in der Vernunft das wesensbestimmende Moment des Menschen aussagt, tri:ffi: also notwendig zuerst auf das entsprungene Vermögen und erst vermittelt durch dieses auf den Ursprung selbst, so wie nun umgekehrt das zugrundeliegende Wesen als »Selbstand« (suppositum) es ist, welches vernünftig tätig wird, zu diesem Tätigwerden, Aktwerden aber der Vermittlung des Vermögens notwendig bedarf12 • Im Verhältnis des Vermögens zum Wesen wiederholt sich das Verhältnis, in dem das Erkennen als Akt zum Vermögen als Aktprinzip steht: auch hier findet sich die Figur der Reflexion wieder. Verhält es sich aber so, dann kann das in seiner Bestimmtheit durch Vernunft erkannte Wesen nur deshalb als „früher« und als »vorgegeben« - nämlich im Vergleich zum Wesen als Grund praktischer Bestimmbarkeit - betrachtet werden, weil die Reflexion auf Vernunft überhaupt »früher« ist als die Reflexion auf praktische Vernunft, weil also theoretische Vernunft früher im Akt ist als praktische Vernunft. Das bedeutet aber, daß die Erkenntnis der Bestimmtheit des Wesens, sofern sie nichts anderes enthält als was aus dem Gegründetsein des theoretischen Verhaltens sich ergeben kann, gerade die Gründung des Praktischen nicht miteinschließen kann. Daß auch diese im Wesen enthalten ist, erhellt notwendig erst aus einem eigenen Verfahren, das von einem besonderen Erfahren des praktischen Aktes her reflektiert. Erst wenn diese Reflexion in einer Metaphysik der Handlung vollzogen ist, kommt die »Ableitung« des Moralischen aus dem Menschenwesen zustande. Ersichtlich beruht dann aber die praktische Maßstäblichkeit des Moralprinzips nicht auf der Ableitung, sondern sie wird gerade I, 77, 6 und ad 3. 1, 77, 1: „Non enim (anima), inquantum est forma, est actus ordinatus ad ulteriorem actum, sed est ultimus terminus generationis. Unde quod sit in potentia adhuc ad alium actum, hoc non competit ei secundum suam essentiam, inquantum est forma; sed secundum suam potentiam.« 12 Vgl. 1, 77, 1, bes. ad 3 und ad 4; das Adagium •actus sunt suppositorum« z. B. 1, 39, 5 ad 1; 1, 40, 1 ad 3.

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vorausgesetzt, als in der praktischen Einstellung vor der Reflexion auf das Wesen schon erkannt. Die Ableitung hat also auch nicht praktische Bedeutung. Sie beantwortet vielmehr die aus spekulativer, metaphysischer Einstellung gestellte Frage, wie denn die - schon erkannte - moralische Ordnung und ihre Besonderheit, in der Gut und Böse speziesbildend sind, auf einem Wesen aufruhen könne; wie sich ihr Prinzip zu diesem Wesen verhalte; was sie für das Wesen bedeute. Der Akzent liegt deshalb auf der Gründung dieser Ordnung im Wesen, die durch die Vernunft vermittelt ist. Zugleich gibt aber das Verhältnis der Vermittlung, wodurch dieser Wesensbezug zustande kommt, dem Vernunftvermögen als Aktprinzip die beherrschende Stellung: die Natur und das Wesen sind nicht unmittelbar maßstäblich, sondern sie geben der Vernunft, indem sie sie gründen, den Raum frei, in dem sie nun selbst messend und regelnd ist. Die Struktur dieses freigegebenen Raumes der Vernunftordnung ist aus der Naturordnung nicht ohne weiteres ableitbar - diese Folgerung aus der dargestellten Lehre läßt sich sogleich an einigen Beispielen deutlich machen. Daß der Gebrauch des Eigentums angemessen, die Wegnahme fremden Gutes unangemessen ist, ergibt sich erst innerhalb einer von der Vernunft geregelten Rechtsordnung (so das Beispiel von Art. 2); eheliche und ehebrecherische Zeugung sind naturhaft spezifisch gleiche Akte - im Verhältnis zum Zeugungsvermögen nämlich -, im Verhältnis zu einer vernunftgeregelten Rechtsordnung jedoch spezifisch verschieden, der eine gut, der andere böse (Art. 5 ad 3). Sollte ein Gegenstand des Tuns etwa gar nicht ein Verhältnis zur Vernunft und ihrer Ordnung haben, so wäre der Akt, der auf ihn zielt, überhaupt weder gut noch -böse, sondern seiner-Spezies nach indifferent (Art. 8), wenngleich, in individuo betrachtet, kein konkreter Akt zu denken ist, den die Vernunft ordnete, ohne ihn sich irgendwie zuzumessen, mag sie das auch nur den beiläufigen Umständen nach tun (Art. 9). Was insbesondere die Umstände angeht, so ist das, was in der Sicht auf das naturhaft vorgegebene Wesen sich als akzidentell zeigt, nicht notwendig auch in der Vernunftordnung bloß ein Beiläufiges; denn die Vernunft ist in ihrem Fortschreiten nicht, wie die Natur, auf ein Eines hin determiniert, sondern sie vermag - kraft der Unbegrenzbarkeit ihres Vermögens zur Reflexion - ins Unendliche fortzuschreiten, über jedes Gegebene und jedes neu sich Zeigende immer wieder hinaus; so kann in einer Bedingung des Gegenstandes, die in seinem naturhaften Sein bloß akzidentell steht, sehr wohl das moralisch Wesentliche, Speziesgebende gesehen werden müssen (Art. 10). Das Beispiel vom Raub am „heiligen Ort« (z.B. Kirchenraub) zeigt, daß der Umstand des besonderen Ortes die an ihm verübte Handlung »Rauhe spezifisch ändern kann, nämlich zum Sakrileg, während etwa der Umstand,

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daß jemand wenig oder viel stiehlt (bei sonst gleichen Bedingungen) zwar das Maß von Gutheit und Bosheit vermehrt oder vermindert, aber nicht die Spezies ändert (Art. 11). Nicht die Naturform, die dem Ding in sich selbst eine Wesensbestimmtheit gibt, ist moralisch maßgeblich, sondern die vom Verstand aufgefaßte Form: sie gibt dem menschlichen Akt seine Wesensbestimmtheit (Art. 10 c). Vielleicht darf man an dieser Stelle anmerken, daß auch die Bestimmtheit, die der handelnde Mensch selbst hat und auf die sich alle seine Akte als vervollkommnend oder abträglich auswirken müssen, folgerichtig nur so maßgeblich sein kann, wie sie aufgefaßt ist, wie sie vom Verstande vorgestellt wird; jedoch ist diese Frage später wieder aufzugreifen (s. u. § 3).

§ 2: Der Vorrang der Zielbestimmtheit (q. 18, art. 6-7) In der Vernunftordnung und der durch sie bestimmten Gegenständlichkeit entsteht die Spezifikation des Aktes, und es entsteht die Unterschiedenheit nach Gut und Böse als spezifische, gegenständliche; in ihr ist zu bemessen, was bloß beiläufiger Umstand ist. Auch das dritte Moment des Gut- oder Böseseins einer Handlung, die Zielbestimmtheit, ist von hier aus zu sehen. Ein Eingehen auf diese Frage ist um so dringlicher, als der Gesichtspunkt der Zielbestimmtheit des Handelns im Anfang der Darlegungen des zweiten Teils der Summa theologiae, als es um die Begriffsbestimmung der menschlichen Handlung ging, ganz im Vordergrund gestanden hat: sie wurde als »willentlich« gekennzeichnet, geschehend um eines »Zieles« willen: es hieß im dortigen Zusammenhang, sie empfange ihre spezifische Bestimmtheit vom Ziele her, während im jetzigen Zusammenhang die spezifische Bestimmtheit ausschließlich vom »Gegenstand«, den die Vernunft auffaßt, abgeleitet wurde1a. Artikel 6 unserer Quaestio 18 bringt nun diese Sicht wieder zur Geltung. Wenn Artikel 5 sagte, einige Akte hießen »menschliche«, sofern sie von der Vernunft herkommen, so kehrt jetzt ihre Bestimmung als »willentliche« wieder. Dabei wird der Zusammenhang dieser Bestimmungen zunächst nicht einmal genannt. Aber natürlich schließt der Verweis auf frühere Darlegungen ein, daß dieser dem Leser gegenwärtig ist14 : In der Rede vom Willentlichen ist die Gegenwärtigkeit der Vernunft immer mitgemeint, und von der Gegenstandsbestimmung der Vernunft war stets nur die Rede, sofern sie ein Streben leitet und beurteilt. Der ZuI-11, 1-3. - Der Ursprung aus der Vernunft ist I-11, 1, 1 und ad 3 genannt, aber nidit mehr bei der Frage nadi der Spezifikation des Aktes, I-11, 1, 3. 14 Der Verweis •sicut supra dictum estc dürfte I-11, 1, 1 meinen, wo der Zusammenhang klar ausgesprodien ist; aber audi I-11, 6, 1 (zum •voluntariumc) ist hier sehr deutlidi. 13

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sammenhang zeigt sich dann audi in der Doktrin dieses Artikels und läßt sidi in der Folge immer wieder feststellen: ioZiel« heißt ja gerade der »Gegenstand« des Willens, und so gilt alles von der Gegenstandsbestimmtheit von Akten überhaupt Gesagte hier in gleidier Weise. Zielbestimmtheit ist nichts anderes als die dem Willen eigentümlidie Weise der Gegenstandsbestimmtheit, und so kann es denn auch hier heißen, daß der Willensakt seine spezifisdie Bestimmtheit vom Ziel her habe, als von seinem Gegenstand. Freilidi ist der willentlidie Akt nidit immer nur ein Akt des Willens, und sofern von dem letzteren, als dem »inneren«, der »äußere« Akt untersdiieden werden muß, sind womöglidi andere Vermögen und Kräfte beteiligt, deren Gegenstand nidit »Ziel« ist15. Hat äußeres Tun einen vorliegenden Stoff, mit dem es befaßt ist in der besonderen Weise, weldie seine Prinzipien ermöglidien, so hat es audi eine eigene Bestimmtheit, eine eigene Weise des Gut- oder Sdileditseins, die von diesem Stoff hergeleitet ist, sofern er sein Gegenstand ist. Natürlidi bleibt dabei bestehen - und sdion aus der Wesensbestimmung de~ mensdilidien Aktes als »willentlidi« ist das festzuhalten - daß der äußere Akt nur insofern moralisdie Bedeutung hat, als audi er willentlidi ist, von einem Wollen bewegt wird, und so steht er dann audi stets in einer Ordnung zu einem Ziel. Diese Ordnung kann - wie Artikel 7 klarlegt - einmal eine wesentlidie (per se) sein, so daß sidi das äußere Tun zum inneren Wollen verhält wie eine nähere Bestimmung zu einer allgemeineren Bestimmtheit; zum anderen kann eine bloß beiläufige Ordnung (per accidens) vorliegen, und dann gibt es in einem Handlungszusammenhang zwei versdiiedene Spezies18. Jedodi ist in beiden Fällen die- vom Ziel des Wollens herkommende Bestimmtheit die grundlegendere und maßgeblidiere: denn wie der Wille in den Seelenvermögen das maßgeblidi Bewegende ist, so ist das Ziel, auf das er hin ist, das zumeist und zuerst Bestimmende, das Formale, zu dem sidi die Bestimmung vom Objekt des äußeren Aktes her material verhält17• 1s Vgl. 1-11, 19, 2 ad 1: »Finis est obiectum voluntatis, non autem aliarum virium.« 18 Die Versmiedenheit ergibt sim (Art. 5 ad 1) »secundum ea quae rei adveniunt«, »secundum condiciones morales supervenientes«; vgl. 1-11, 1, 3 ad 3: " ... fines autem morales accidunt rei naturali; et e converso ratio finis naturalis accidit morali.« 17 Das Beispiel vom »Diebstahl zum Zwecke des Ehebrumsc, das Art. 7 für die Disparatheit zweier Arten von Bosheit im gleimen physismen Akt gebramt wird, ist Art. 6 zur Erläuterung des Vorzuges der Zielsetzung in der Spezifikation des Aktes angeführt worden; der Täter heiße »per se loquendoc eher ein Ehebremer als ein Dieb (das »per se loquendoc wird von Thomas zu dem aristotelismen Beispiel zugesetzt, vgl. In Eth. V, 3 n. 916); die Maßgeblichkeit des

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§ 3: Der innere Akt (q. 19); der Verweis auf die Individualität im Rahmen der metaphysisch erkannten Ganzheit Die Doktrin, die in diesen beiden Artikeln (6 und 7) umrissen ist, wird in den beiden folgenden Quaestionen (19 und 20) näher ausgeführt. Quaestio 19 beschäftigt sich mit dem Gut und Böse im inneren Akt des Willens: es hängt, wie gesagt, vom Gegenstand ab (Art. 1). Aber damit nicht genug: Gut und Böse menschlichen Handelns überhaupt hat seinen maßgeblichen Ursprung im Akt des Willens, und wenn in aller Mannigfaltigkeit, welche in einer Einheit zusammenkommt, ein Eines zugrunde liegen muß, so muß auch hier, am Ursprung von Gut und Böse des Handelns überhaupt, ein Eines das grundlegend Maßgebliche sein, eben jenes folglich, von dem wesentlich (per se) und nicht beiläufig (per accidens) das Gut und Böse des Wollens abhängt. So ist der Gegenstand allein maßgeblich (Art. 2, c.), und der Wille, der auf ein Gutes gerichtet ist, kann durch keinerlei Umstände ein böser werden (ad 2) 18. Ehen dadurch, daß das Gutsein des Willens von seinem Gegenstand und von ihm allein abhängt, hängt es nun von der Vernunft ab. Denn die Vernunft ist es, die ihm seinen Gegenstand vorsetzen muß (nicht etwa ein sinnliches Erkenntnisvermögen, auf dessen beschränktes Sehen ein ebenso beschränktes sinnliches Streben antwortet) (Art. 3). Deutlich ist hier mit »Vernunft« das Vermögen gemeint, die je eigene, konkret-individuelle Vernunft dessen, der da etwas will. Nur sie kann ja dem Handelnden den Gegenstand seines Wollens vermitteln. Von dieser Einsicht her wird es möglich, das praktische Phänomen der Verbindlichkeit des »irrigen Gewissens« einzuordnen - wobei man sich erinnern muß, daß »Gewissen« für Thomas nichts anderes ist als der Akt der praktischen Vernunft selbst19• Wenn etwa die irrende Vernunft ein an sich Gutes als ein Böses vorstellt, so wird der Wille, der sich darauf richtet, ein böser Wille, da er sich darauf ja nur richten kann unter der Bestimmtheit, welche die Vernunft ihm zuspricht (Art. 5). So ist jedes Wollen, das sich einem von derVernunft nicht als gut Vorgestellten zuwendet, böse. Daraus folgt jedoch nicht, daß der Wille, wenn er einem irrigerweise als Gut vorgestellten nachstrebt, ein guter werde; denn man kann ja nicht Zieles gilt demnach für alle Fälle, auch wenn die Zuordnung zu ihm nur vom Tätigen stammt und nicht in der Bestimmtheit des zugeordneten Aktes sich auswirkt. 18 Das ist höchstens •per accidens« möglich, sofern der gute „Wille« ein anderes als das gerade jetzt geschuldete Gut will, ib. - Diese Möglichkeit genügt aber, um zu zeigen, daß auch auf der Ebene des inneren Aktes der •gute Wille« nicht ohne Einschränkung schlechthin gut kann genannt werden. 19 Vgl. Anm. 36, S. 34.

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annehmen, daß der Mensdi durdi Aneignung eines an sidi Abträglidien sdiledithin vollkommener werde. Vielmehr muß man sagen, daß dort, wo die irrende Vernunft den Charakter der Bosheit eines Tuns nidit erkennt, ein Verfehlen der Vernunftordnung überhaupt vorliegt, weldies »entsdiuldigt«; das Böse gesdiieht dann unwillentlidi, der Akt liegt gar nicht mehr unter moralischem Maßstab, sofern es auf den je Handelnden ankommt. Vorausgesetzt werden muß dabei, daß der Irrtum aus einem einfadien Niditwissen kommt, das selbst nicht Folge willentlidien Tuns oder Unterlassens ist, da dann, auf anderer Stufe, wieder ein moralisdies Verfehlen statthat (Art. 6). In dieser Weise ist die Analyse, weldie die Maßstäblidikeit der Vernunft zunädist als eine soldie des Wesens zu verstehen sdiien, was sidi dann aber als Reflexion auf die Gründung herausstellte, bis zur Maßstäblidikeit des je individuellen Vermögens, ja des je einzelnen Aktes des Auffassens und Vorstellens gedrungen, in immer größerer Annäherung an das in der praktisdien Einstellung sidi Zeigende. Gerade jetzt ist es wieder nötig, von der Vereinzelung ins je Individuelle auf die Einheit der metaphysisdien Gründung zurückzuverweisen, weldie die gesamte Mannigfaltigkeit umgreift. Das, was hier zu nennen ist, kann nadi dem Dargelegten nidit etwa eine »allgemeine« Mensdiennatur sein, da diese ja als allgemeine nur im Verstande ist, und so würde wieder die Vernunft als sie auffassende konkret-individuelle ihre Maßstäblidikeit vermitteln müssen. Aber wenn audi der praktisdie Diskurs sidi im Individuellen abspielt, so gesdiieht er dodi im Hinblick auf eine Gegenständlidikeit, die in sidi eine Zuordnung zur Vernunft hat, welche dem Auffassen voraufgeht, und wenn es audi »praktisdi« genügt, die Vernunftordnung auf mensdilidie Vernunft zu gründen, sofern diese wenigstens in der Weise des Allgemeinen auf Wahrheit hin verfaßt ist, so fragt die Metaphysik des Handelns dodi wieder weiter zurück (Art.4): Menschlidie Vernunft ist wie mensdilidie Natur überhaupt selbst gegründet, nämlidi vom Sdiöpfer, von Gott, und die Vernunftordnung samt ihrer Maßstäblidikeit, auf ihre Gründung hin befragt, verweist auf Gott als den Gründer eben dieser Maßstäblidikeit, also als Gesetzgeber. Daß die Vernunft überhaupt Regel ist, hat sie aus dem Ewigen Gesetz, weldies nidits anderes ist als die göttlidie Vernunft, sofern sie erste, gründende Regel der Gesdiöpfe is~o. Gerade auf Artikel 3 dieser Quaestio 19, weldier die Abhängigkeit des Gutseins des Willens von der Vernunft als der vorstellenden, indivi20 Thematisdi wird das „Ewige Gesetz« erst 1-11, 91, 1 und ib. 93 behandelt. Seine Einführung an dieser Stelle der Summa theologiae, weit vor der thematisdien Behandlung, ist in der Einheit der Theologie ohne weiteres möglidi, s. folg. Anm.

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duellen des Handelnden lehrt, folgt sogleidi. in Artikel 4 der Verweis auf das Ewige Gesetz als die »Erstursache«, von der deshalb das Gutsein des Willens »viel mehr« abhängig ist. Der Einwand (Arg. 3), daß dieses Ewige Gesetz uns unbekannt sei und deshalb nidi.t Maßstab sein könne ein Einwand aus praktisdi.er Sidi.t -, wird zurückgewiesen, weil ja gerade in der Abbildlidi.keit der natürlidi.en Vernunft des Mensdi.en dieser Maßstab wirksam ist: in dieser Doktrin ist, wie aus der Formulierung der Antwort ersidi.tlidi., die metaphysisdi.e Gründung ausgesprodi.en, so daß der »praktisdi.e« Einwand verfehlt ist. Darüber hinaus gibt es aber noch theologisdi. die Möglidi.keit unmittelbaren Bekanntwerdens des Ewigen Gesetzes, nämlidi. durdi. übernatürlidi.e Offenbarung; damit ist auf praktisdi.er Ebene selbst der Einwand widerlegt21. Die Lehre vom Ewigen Gesetz zeigt die metaphysisdi.e Gründung der Vernunftordnung, und sie drückt deren Einheit aus. In der Einheit der theologisdi.en Perspektive kommt ihr natürlidi. audi. praktisdi.e Bedeutung zu, und der Terminus »Gesetz«, der aus dem Bedeutungsfeld des Praktisdi.en genommen ist, legt ein soldi.es Verständnis nahe, das dann von Hause aus ein theologisdi.es wäre. Aber es ist nicht zu verkennen, daß aus einer Metaphysik, die den Schöpfungsgedanken vollzogen hat, der Gedanke einer göttlidi.en Leitung und Gesetzgebung folgen kann. Freilidi. darf man sidi. diese dann nidi.t als eine allgemeine im Sinne des Abstrakten denken, als vorgegebenes Sdi.ema, dem die Einzelfälle als absoluter Norm zu subsumieren wären; sondern wie die Gründung des Gesdi.öpfes durdi. den Sdi.öpfer auf das Konkret-Wirklidi.e und Individuelle abzielt, so geht die Regel des Ewigen Gesetzes gerade in die Vernunft als individuelle ein. Die umfassende Allgemeinheit, weldi.e der mannigfaltigen Fülle der praktisdi. regelnden Vernunftakte die zusammenfassende Einheit gibt, ist »allgemein« im Sinne eines Umfassens des Ganzen, innerhalb dessen die Individualität ihre je besondere Beredi.tigung behält. Dies wird am Ende der Quaestio 19 noch eigens Thema, zwar nidi.t unter dem Titel des Ewigen Gesetzes, sondern in der Frage nadi. der Gleidi.förmigkeit des mensdi.lidi.en mit dem göttlidi.en Wollen {Art. 9 und 10). Sie ersdi.eint also in der Terminologie der Willens- und Zielbestimmtheit, Der ganze Artikel 4 trägt, im Unterschied zu den vorhergehenden, weit mehr theologisches Gepräge. Die metaphysische Bedeutung - wiewohl ausgedrlidtt - tritt gegenüber der theologisch-praktischen zurüdt, deren Maßgeblichkeit denn auch im Schlußsatz des Corpus ausdrüdtlich wird: „ ... ubi deficit ratio humana, oportet ad rationem aeternam recurrere.« Theologisch ist denn auch der erste Teil des ad 3: das Ewige Gesetz »innotescit nobis aliqualiter per rationem naturalem, quae ab ea derivatur ut propria eius imago« - »praktisch« bedeutsam, philosophisch dagegen kann er, wie überhaupt die Lehre vom Ewigen Gesetz, nur metaphysisch verstanden werden (vgl. Kap. 14, § 2).

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in die aber - entsprechend dem Gesagten (§ 2) - die Terminologie der Vernunftordnung unschwer umzusetzen ist. Hier wird darauf zurückgegriffen, daß der Wille des Menschen seine »letzte« Zielbestimmtheit vom höchsten Gut, von Gott selbst, als Gegenstand empfängt. Sofern nun dieses Gut an sich selbst - wenn es denn, als Gut überhaupt, auf einen Willen in Bezug gesetzt werden muß - auf den göttlichen Willen bezogen ist, folgt daraus, daß das gesamte menschliche Wollen im göttlichen Willen als dem Messenden des Höchsten selbst ebenfalls sein Maß hat, dem es sich angleichen muß (Art. 9). Nun ist dieses göttliche Wollen hinsichtlich der Schöpfung auf das Allgemeine im Sinne des Ganzen gerichtet, das Geschöpf hat aber zunächst das besondere, ihm angemessene Gut im Auge und richtet sich auf dieses. Hier kann der Fall eintreten, daß ein vom Gesichtspunkt des Geschöpfs als Gut sich Zeigendes zugleich unter der übergeordneten Sicht auf das Ganze ein Nicht-Gut ist (ohne daß etwa ein Irrtum der Vernunft vorläge!). Ein Beispiel, das Thomas (in Art. 10) zur Erläuterung beifügt, zeigt dieses Verhältnis schon innerhalb menschlicher Verhältnisse: Der Wille des Richters, der den Räuber zum Tode verurteilt, ist zweifellos gut, da er gerecht ist; die Frau des Räubers, die den Tod ihres Mannes nicht will, hat ebenso zweifellos einen guten Willen, da der Tod seiner Natur nach ein übel ist. Der Richter schaut dabei auf das allgemeine Gut der Gerechtigkeit, für das er zu sorgen hat; die Frau hat das ihr aufgegebene private Gut der Familie im Auge. So ist es möglich, daß ein verschiedenes Wollen verschiedener Menschen auch dann zugleich gut ist, wenn es sich auf genau Entgegengesetzes richtet; ein menschliches Wollen kann gut sein, auch wenn es nicht will, was Gott - unter dem Gesichtspunkt des Ganzen der· Schöpfung - will. Trotzdem bedeutet dieses mögliche Entgegengesetztsein nicht ein Auseinanderfallen; denn eben jene Besonderheit eines bloß partikularen Strebens oder Auffassens ist von Gott geschaffen, und so liegt in der Diskrepanz des (material) Gewollten von der Allgemeinordnung eine Konformität zum göttlichen Willen, sofern dieser Wirkursache ist. Die traditionelle Formel, die dieses Verhältnis beschreibt, setzt so die Rechtheit des menschlichen Wollens nicht in das »Wollen, was Gott will«, sondern ins Wollen dessen, »Was Gott will, daß der Mensch will«. So ist es möglich, daß materiale Abweichung vom Gottgewollten in eins geht mit einem Wollen, das durch die grundlegende Hinordnung auf das höchste Gut auch noch in der Abweichung die im Ganzen maßgebliche wahre Richtung auf das Allgemeine beihält, »formaliter« also die Gleichförmigkeit mit dem göttlichen Willen besitzt (Art. 10). Von diesem vermag man ja im allgemeinen zu wissen, daß er »Gutes« will, und so ist jedes gute Wollen in seiner Weise dem göttlichen Willen gleichförmig; nicht jedoch ist uns bekannt, wie es sich mit Gottes Wollen im Besonderen,

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Partikulären verhalte: das ist dem Menschen erst im Zustand der Glorie gegeben (ad 1). Sehr deutlich wird zumal in der letzten Bemerkung der theologische Hintergrund der Darlegungen; dieser ist durchgehend wirksam, wenn von einer »formellen« Gleichförmigkeit des menschlichen Willens mit dem göttlichen die Rede ist, wenn die Hinordnung auf das höchste Gut gleichsam als zu leistender Akt bewußten Wollens eingeführt wird. Hier wird auf eine Praxis Bezug genommen, die nur unter der Voraussetzung der übernatürlichen Ordnung möglich ist. Trotzdem besteht das behandelte Problem für eine Metaphysik des Handelns aus natürlicher Vernunft in gleicher Weise, nämlich als das Problem der einen und umfassenden und zugleich der Mannigfaltigkeit individueller Aneignung Raum gebenden Vernunftordnung, in der nicht nur Gut und Böse entstehen, sondern in der auch Gut und Gut einander entgegengesetzt sein können. Die Interpretation durch die Metaphysik hat zu zeigen, wie das möglich ist; sie vermag das zu leisten durch den Hinweis auf verschiedene Stufen der »Allgemeinheit«, in denen verschiedene Weisen der Auffassung sich ergeben. Freilich kann man sich bei dieser Lösung nicht darüber täuschen, daß die Entgegensetzung selbst nicht wegerklärt, sondern stehen gelassen wird: die Lösung ist formal, sie zeigt die Möglichkeit der Entgegensetzung bei Wahrung der Einheit. Mehr leistet auch nicht die theologische Sicht, denn auch in ihr gilt, daß »wir im einzelnen nicht wissen, was Gott will; und was dies angeht, sind wir nicht gehalten, unseren Willen dem göttlichen Willen anzugleichen« 22. Wie man sieht, hat auch die Sicht von der Offenbarung her keine Folge für die Bestimmung des zu Tuenden: um so mehr ist auf philosophischer Ebene die Bedeutung der Lehre eine rein theoretische - es sei denn, daß sie auf die praktische Erkenntnis des je Handelnden zurückverweist uqd sie freigibt zu ihrem je besonderen Bestimmen des Guten und Bösen.

§ 4: Der äußere Akt (q. 20); die Einheit von Gesinnung und Verantwortung Die nunmehr abgeschlossene Lehre von der moralischen Bestimmtheit des inneren Willensaktes bleibt zu ergänzen durch eine Betrachtung des äußeren Tuns, die wir in der folgenden Quaestio 20 finden. Wie wir hörten2a, hat das äußere Tun nur als willentliches moralische Bedeutung, und insofern hat es vom Willen her, der es einem Ziel zuordnet und es daraufhin bewegt, ein Gut- oder Bösesein, das aus dem Gut- oder Böse1-II, 19, 10 ad 1: „sed in particulari nescimus quid deus velit. Et quantum ad hoc non tenemur conformare voluntatem nostram divinae voluntati.« 23 § 3 zu 1-II, 18, 6. 21

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sein des Willens folgt. Andererseits liegt schon im Verhältnis des äußeren Tuns zu seinem Stoff und zu den besonderen Bedingungen, den Umständen, eine Bestimmtheit nach Gut und Böse, da schon in diesem Verhältnis, vor aller Zuordnung zu besonderen Zielen des Wollens, eine Angemessenheit oder Unangemessenheit an die Vernunftordnung gegeben ist. Diese »objektive« Gutheit (oder Bosheit) folgt demnach nicht aus dem Willen, sondern unmittelbar aus der Vernunft (Art. 1); vielmehr ist es unter dieser Hinsicht gerade umgekehrt, daß nämlich die Gutheit des Wollens, das zu diesem bestimmten äußeren Tun hinbewegt, aus dessen Gutheit folgt, denn zum bewegenden Willen verhält es sich wieder als Gegenstand und also bestimmend (Art. 2). Die Beispiele, die Thomas im Laufe dieser Überlegungen anführt, zeigen deutlich die beiden Ebenen, auf denen sich die Unterschiede ergeben; wir fassen sie in einem vierfach variierten Fall zusammen: »Almosen geben« ist ein äußeres Tun, dem zweifellos ein bestimmtes Gutsein zukommt; geschieht es aber zur Betätigung der eitlen Ruhmsucht, so ist dasselbe Tun »Vom Ziele her« böse. Geschieht dasselbe wieder um Gottes willen, so bekommt der Akt ein zusätzliches Gutsein - unterschieden von der »objektiven« Güte-, und von diesem her bekommt das Aktganze gleichsam durch »Überfließen« der übergreifenden Absicht einen anderen moralischen Charakter24• Stiehlt aber jemand, um Almosen zu geben, so kann die übergreifende gute Absicht nicht aufheben, daß der Wille, der zum unguten Tun des Stehlens hinbewegt, von diesem Tun her den Charakter der Bosheit bekommt; die Hinordnung zum guten Endziel kann diese Bosheit keineswegs aufwiegen oder gar beseitigen. Geschieht das Stehlen gar um einer weitergehenden bösen Absicht willen - etwa um Ehebruch zu begehen -, so bekommt wieder das A_ktganze eine zusätzl_iche Bosheit vom Ziele her, die auf das Ganze gleichsam »überfließtc 25 • Die praktische Vernunft erkennt in der Zuordnung von »objektiv« gutem Tun zu bösem Zweck oder von objektiv »bösem« Tun zu gutem Zweck eine Disproportion von Gesinnung und sachlichem Verhalten, ein Auseinanderfallen des zu einem Aktganzen Verbundenen, eine bloß beiläufige Ordnung (per accidens), die »Mittel« und »Zweck« auseinanderreißt; das »Mittel« - in einer wesentlichen Ordnung vom Zweck her festgelegt und ihm untergeordnet - wird zur selbständigen moralischen Größe, keineswegs durch den Zweck zu heiligen, wohl aber - sofern dieser für das Aktganze maßgeblich ist - von ihm zu entwerten. So ist nicht nur Gesinnung und gute Absicht des Handelnden - der »gute Wille« praktisch maßgeblich, sondern zugleich ist die praktische Vernunft verwiesen an die »gute Sache«, an Durchführbarkeit, voraussehbare Folgen, 24

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I-II, 20, 3. - Das Beispiel ib. art. 1. Das Beispiel nach I-II, 18, 7.

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Verantwortlichkeit für den »Ausgang« auf allen Stufen eines Handelns, das sich in jedem Moment seines Verlaufs an der Vernunft mißt. Es ist sichtlich eine Frage von ziemlicher ethischer Tragweite, die im Hintergrund der Darlegungen steht: wir sind gewöhnt, sie als das Problem von Gesinnungs- und Verantwortungsethik zu bezeichnen2 0. Allein, im theoretischen Kontext der Reflexion auf die metaphysische Bedeutung des Praktischen, in dem wir uns befinden, ist die Frage nicht erst zu entscheiden, sondern sie wird als entschieden vorausgesetzt. Die moralische Eigenbedeutung des Sachlichen, des äußeren Tuns, zeigt sich in der praktischen Einstellung selbst - sie liegt in den Beispielen vor und ist jetzt zu interpretieren. Aber in der Interpretation muß schließlich das Interpretierte anwesend sein, und da sich inzwischen die theoretische Überlegung immer mehr an das praktische Phänomen, das es zu »retten« gilt, angenähert hat, wird dies zunehmend sichtbar.. Die theoretische Lösung selbst ist ein »Umsetzen« der praktischen Struktur unter die allgemeine, spekulativ erhobene Gesetzlichkeit der Metaphysik des Guten, die schon zu einer Metaphysik des Handelns ausgeweitet ist. Moralische Gesinnung im Hinblick auf grundlegende Ziele und sachliche Verantwortung im Hinblick auf tatsächliche, äußere Auswirkung des Handelns erscheinen als Momente am Gutsein des Aktes, die auf die Weise ihres Bestimmendseins unter der allgemeinen Begrifflichkeit von Entspringen und Ursächlichkeit zu untersuchen sind. Die »Gesinnung« fällt, spekulativ gesehen, unter die Begrifflichkeit des Willens, die sachgebundene »Verantwortung« unter die Begrifflichkeit der Vernunft und der Vernunftordnung. Die erstere besagt Zielbestimmtheit und Wirkursächlichkeit, denn mit dem Willen begreift sie das Prinzip der Verwirklichung aller erwerbbaren Vollkommenheit in sich; die letztere erfaßt die besondere Weise der Wesensbestimmung, der Spezifikation, die für das tatsächlich Gewirkte Maß und Grenze angibt - in Begriffen von Ursächlichkeit also Form- und Materialursächlichkeit. Wie nun kein Wirken vollständig erklärt werden kann, ohne daß die gesamte Ursächlichkeit, innere wie äußere, zusammenwirkend gedacht wird, so muß die Handlung stets aus dem Zusammenwirken von Vernunft und Wille, wesensbestimmendem Erkennen und wirksam-bewegendem Streben zustande kommen; die Gesichtspunkte von »Gesinnung« und »Verantwortung« können dann nicht je einander ausschließende sein, zwischen denen zu wählen ist, sondern nur einander ergänzende, auf die sich die 28 Bei diesen (seit Max Weber gebräuchlichen) Begriffen ist hier nicht an bestimmte, faktisch vertretene Doktrinen gedacht, sondern an die in ihnen ausgedrückte Problemstellung, wie sie besonders für die gegenwärtige politischethische und sozialethische Diskussion bedeutsam ist (vgl. z. B. W. ScHÖLLGEN, Schuld und Verantwortung, Bonn 1948).

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beiden grundlegenden Aspekte der Kausalität der einen Handlung verteilen. Ist das aber so, dann verhalten sie sich eben nicht wie der Aspekt des »Inneren« und des »Kußeren«, der im von uns behandelten Traktat zu Grunde liegt, sondern sind Aspekte des Aktganzen, die sich quer durch diese unterschiedenen Ebenen geltend machen müssen. Auf der Ebene des »inneren« Aktes, auf der Ziel, gute Absicht, Gesinnung vorzüglich angetroffen werden, als die dem Willen eigentümlichen Bestimmtheiten, ist die strengste Bindung an den Gegenstand und damit an die Vernunft bereits ausgesprochen27 • Auf der Ebene des äußeren Tuns und seiner sachlichen Bestimmtheit wird umgekehrt das wirkliche, gewirkte Gutsein ebenso dem Willen zugeschrieben, der dieses äußere Tun selbst, sofern er zu ihm bewegt, eben als Gegenstand hat28 : die Sachgebundenheit des äußeren Tuns ergibt eine Gesinnung, wie die (übergeordnete) innere Gesinnung ihre Bestimmung von einem sachlichen Gehalt her empfangen muß. Eine wesentliche Zuordnung von äußerem Tun und übergreifender Zielsetzung hat selbstverständlich ein Verhältnis der auf beiden Stufen maßgeblichen Wesensverhalte zur Voraussetzung, in dem beide wie Materie und Form, oder besser wie Gattung und Art zueinander stehen29 ; aufseiten des wirkenden Willens muß dann von einer Einheit gesprochen werden, und wenn diese auch nicht die des einen Aktes ist - da ja am äußeren Tun noch anderes als allein der Wille beteiligt ist -, so ist es doch die der Ordnung »des einen zum anderen«, die proportionale Einheit der Analogie, in der die Gutheit des Aktganzen zusammengehört30 • Liegt dagegen ein Widerspruch zwischen Zielsetzung und äußerem Tun hinsichtlich von Gut und Böse vor, so ist das einerseits ein Sich-Widersprechen unter dem Gesichtspunkt der Wesensbestimmtheit - nämlich von allgemeinerer und spezifischer Bestimmtheit -, andererseits ebenso unter dem Gesichtspunkt des Wollens, in dem es zwei sich widersprechende »Gesinnungen« geben muß, entsprechend den widersprechenden Wesensbestimmtheiten, und unter keinem von beiden Gesichtspunkten kann es in dem verursachten Gefüge eine Einheit und ein durchgreifendes Gutsein gebena1. Die komplexe Struktur eines konkreten Aktgefüges, in dem grundlegendes Zielwollen und Bestimmtheit äußeren Tuns, in je eigenem Verhältnis zur Vernunft, zusammen zu finden sind, wird in dieser Analyse auf Vgl.§ 3. 1-11, 20, 1 ad 1. 29 1-11, 18, 7 und ad 3. 30 1-11, 20, 3 ad 3. 31 Daher ist (vgl. oben zu 1-11, 20, 3) ein »Überfließen« von Gutheit (oder B.osheit) aus dem Zielwollen auf den äußeren Akt nur gegeben, wenn beide »gut« (oder »böse«) sind; das Fehlen der Einheit verhindert, daß das Konträre gegeneinander aufgewogen wird. 21

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einfadie Verhältnisse zurückgeführt, die sidi entsprediend den Stufen des Gefüges analog wiederholen. Das Prinzip der Vernunftordnung wird allemal das grundmaßgeblidie sein; mit gleidiem Recht ist aber die ganze Moralität in das Gutsein des Willens zu setzen, auf den die Gutheit der vernunftgeordneten Bestimmtheit wieder bestimmend einwirkt, der aber allein das Prinzip der Wirklidikeit, der tatsädilidien Aneignung des aufgefaßten Gutes ist, auch er wieder auf allen Stufen des Gefüges in analog sidi wiederholender Abhängigkeit vom Auffassen der Vernunft. Auf die Seite der Vernunft und ihrer Ordnung fällt somit die ganze Mannigfaltigkeit des Moralisdien, die Vielfalt der Bestimmungen und Stufen, die Proportion des einen zum anderen oder die bloße Beiläufigkei t, die in Wahrheit ein Auseinander bedeutet, und an ihr liegt das Wollen von diesem oder jenem, an ihr mißt es sein Gut und Böse. Auf die Seite des Willens dagegen fällt das Gut und Böse selbst; es kommt nur unter Voraussetzung des Wollens und durch das Wollen zustande, und die Mannigfaltigkeit der faktisdien Bestimmungen hat von dem einen Prinzip her ihren Ursprung und ihre Wirklichkeit, so daß sdiließlidi alle Moralität in diesem Einen zu fassen ist - wenn auch dieses Eine in einem Verhältnis des Nadifolgens und Bestimmtwerdens zum dargebotenen Mannigfaltigen steht. Gerade im Verhältnis des Bestimmtwerdens von der Vernunft ist der Wille iowillentlichc, nicht naturhaft festgelegtes Streben: im Zusammenwirken von Vernunft und Wille entsteht das eigentlidi mensdilidie Verhalten, die »Vernunftgemäße Existenz«a2, in der die Mannigfaltigkeit des sich Zeigenden - wie immer die Erkenntnis davon besdiaffen sei - im aneignenden Wirken geordnet, ausgewählt, durdimessen und zur Einheit der Vollendung des Seinkönnens dieses bestimmten Mensdien gebradit wird. Im Zusammenwirken von Vernunft und Wille entsteht Moralität; die moralisdie Selbstbestimmung des Mensdien ist keine andere als die aus ioFreiheitc33.

32 Diese oben (§ 1) gegebene Obersetzung des •esse secundum rationemc zeigt sidt hier als geredttfertigt: gerade der im •modernen« Sinne verstandene Existenzbegriff bringt den »dynamisdtenc Gehalt der Formel heraus. aa Quaestio 1-11, 21 wird hier nidtt besprodten; die Behandlung der •Folgen« des mensdtlidten Aktes unter dem Gesidttspunkt von Gut und Böse (ausgedrückt in den Gegensatzpaaren bonum - malum, rectum - peccatum, laudabile culpabile, meritum - demeritum) würde zwar material die gegebene Skizze sehr bereidtern - insbesondere unter •praktisdtem« Aspekt, der in den beiden letztgenannten Gegensatzpaaren hervortritt -, formal aber nur eine Variation der gleidten Struktur zutage bringen, die eben entwickelt wurde.

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12.

KAPITEL: FREIHEIT UND KoNTRARIETÄT

§ 1: Die Vernunfl: als Wurzel der Freiheit; der spekulative Ort der Freiheitslehre »Freiheit« ist ein Name, der in der neuzeitlichen Philosophie und besonders in der neuzeitlichen Ethik eine grundlegende, wenn nicht die b~­ herrschende Rolle spielt, und zwar bei ganz entgegengesetzten Denkern: man denke an Kant und an Sartre. Dabei wird Freiheit fast durchgehend als Eigenschaft des Willens, und zwar des Willens allein aufgefaßt, sei sie nun als Spontaneität, als Indifferenz, als innere Nötigung, als »Entwurf« oder wie immer verstanden1• Freiheit ist das grundlegende Charakteristikum des sittlichen Wollens, und es ist dasselbe, vom Reich des Sittlichen oder vom Reich der Freiheit zu reden2 • Es ist eine andere Atmosphäre als die einer »Philosophie der Freiheit« neuzeitlichen Stils, in der Thomas vom »liberum arbitrium« redet, und sie drückt sich schon in der Terminologie aus. Natürlich kann er von »libertas« reden, wo aber thematisch von Freiheit die Rede ist, wird immer von der „freien Entscheidung« gesprochens. Die praktische Wissenschafl: dagegen zieht es vor, vom »Willentlichen« (voluntarium) zu handeln'. Vordergründig ist die aristotelische Tradition für diese terminologische Besonderheit verantwortlich zu machen, aber es steht doch eine sachliche und methodische Unterscheidung im Hintergrund: die Ethik handelt nicht vom Wesen der Freiheit und der freien Entscheidung; sie setzt es als anwesend voraus und fragt nun nach den konkreten Bedingungen, unter denen ein Handeln noch als »willentlich« bezeichnet werden kann 5• Das Thema der Freiheit überhaupt ge~ört in den Rahmen 1 . Für eine thomistische Auseinandersetzung mit diesen Freiheitsbegriffen vgl. G. SrEWERTH, Thomas von Aquin: Die menschliche Willensfreiheit, Düsseldorf 1954. 2 Diese Gleichsetzung ist nur gerechtfertigt, wenn die Freiheit die Kontrarietät einschließt, und so ist sie theologisch niemals möglich; umgekehrt wird vom so gefaßten Freiheitsbegriff her der Gottesbegriff bestritten, so bei Sartre und N. Hartmann (bei beiden spielen natürlich auch andere Motive mit). 3 So I, 19, 10; I, 59, 3; I, 83, 1; Ver. 24, l; De malo 6 u. ö. ' Nach Nik. Eth. III, c. 1-3, vgl. In Eth. III, 1-3; I-II, 6 folgt nicht in der Anordnung, aber in der Problemstellung. 6 Natürlich kann I-II, 6, 1 und 2 einleitend eine Wesensbestimmung gegeben werden; sofern diese aber die Diskussion der Bedingungen einleitet und auf diese abgestellt ist, hat man sie wieder als >Ortsbestimmung« des Problems zu verstehen, die angesichts der besonderen theologischen Probleme nötig. ist (vgl. I-ll, 6, 1 ad 3), und so ist sie spekulativ. Die Problembehandlung von In Eth. III, 1 - in der philosophischen praktischen Wissenschaft - hat dazu keine Parallele.

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der spekulativen Betraditung des Wollens überhaupt, und es sdieidet sdion deshalb aus der praktisdien Wissensdiafl:, weil nidit nur der Mensdi, sondern audi die reine Intelligenz (und Gott) die Madit der freien Entsdieidung besitzt: frei ist ein Wesen insofern, als es ein vernünftiges Wesen ist. Dieser Gesiditspunkt wird von Thomas wiederholt mit sehr starken Ausdrücken herausgestellt. Immer wieder wird dabei von einer Betraditung der niditfreien Natur ausgegangen, die selbst da, wo sie nidit bloß »von außen« bewegt ist, sondern sidi selbst bewegt, dodi einer »Entsdieidung„ folgt, deren Verlauf von einem naturhaft eingegebenen und festgestellten Instinkt eingegeben ist. Von einer „freien« Entsdieidung kann erst dann die Rede sein, wenn das Handeln auf Grund eines Vernunfl:urteils gesdiieht, bei dem, aus der allgemeinen Ersdilossenheit des Guten überhaupt, von diesem oder jenem, das sidi als »tubar« zeigt, geurteilt wird, daß es gut sei. Dies Urteil über das je besondere zu Tuende ist dem Vernunftwesen nidit vorgezeidinet, sondern ergibt sidi aus einer Überlegung, die Vergleidiungen anstellt und audi zu einem anderen Ergebnis als dem je tatsädilidien führen könnte: denn hinsiditlidi des eingesdiränkten Besonderen, des Kontingenten, gibt es keine Notwendigkeit der Zuordnung zu dem allgemeinen Gut, das der Verstand umgreif!: - da müßte sidi dieses Allgemeine als subsistierend zeigen&. Freie Entsdieidungsmadit hängt also vollständig von der Vernunft ab, und umgekehrt ist sie dort immer gegeben, wo Vernunft gegeben ist. Der Mensdi ist »frei« eben deshalb, weil er Vernunftwesen ist7 • Ist aber so die Freiheit des Wollens auf die Vernunft notwendig bezogen, daß sie als deren Folge verstanden werden muß, so gibt es in der Analyse der Metaphysik des Handelns nidit die Möglidikeit, etwa ein Reidi der freien Entsdieidung dem Reidi der Bestimmtheit der Vernunfl:ordnung gegenüberzustellen. In der Wurzel sind beide geeint, nämlidi in der Vernunft, und wenn in der Analyse der Handlung die vernunfl:erfaßte Gegenständlidikeit auf allen Stufen als maßgeblidi für die Bestimmung von Gut und Böse des Wollens nadigewiesen ist, so zeigt sidi nun das Verhältnis des Aktgefüges gegründet im Verhältnis der Vermögen. Gewiß ist die nähere Untersudiung dieses Verhältnisses nidit die Aufgabe der Theorie der Handlung, sondern liegt ihr im spekulativen Aufbau selbst voraus; sie ersdieint aus diesem Grunde nidit mehr in den hier behandelten Quaestionen des Zweiten Teils der Summa theologiae, und es ist hier audi nidit eine eigene Behandlung der thomistischen Freiheitslehre beabsiditigt, die in ganz andere Dimensionen führen müßte, Vgl. I, 83, 1 (und Parall.) sowie I, 82, 2. 1, 59, 3: „Ubicumque est intellectus, est liberum arbitrium«; 1, 83, 1: cesse est quod homo sit liberi arbitrii, ex hoc ipso quod rationalis est.«

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„ ... ne-

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als sie unsere Fragestellung verlangt8. Außerdem würde es nicht der thomistischen Weise der Darbietung des Stoffes der praktischen und der aufs Praktische reflektierenden spekulativen Wissenschaft entsprechen, wollte man hier die gesamte Freiheitslehre einschalten: es soll genügen, einige wesentliche Züge herauszuheben, welche zur Vollständigkeit der Interpretation des moralischen Gut und Böse durch die Metaphysik hinzuzunehmen sind. Denn es gibt zweifellos keine vollständige Einsicht in das Wesen der Kontrarietät von Gut und Böse, wenn nicht ihr Entspringen aus der Freiheit des menschlichen Wollens bedacht wird.

§ 2: »Ausübung« und »Artbestimmung«; die wurzelhafte Unbestimmtheit des Willens Hier soll von menschlicher Freiheit die Rede sein, die bestimmt ist durch die Weise, wie der Mensch vernünftig und wollend ist. Thomas unterscheidet bei ihrer Untersuchung zwei grundlegende Aspekte, nämlich den der »Ausübung« (libertas exercitii) und den der »Artbestimmung« (libertas specificationis)9• »Ausübung« meint das tatsädtliche Wollen, die faktische Hinneigung zu einem Gut, die wirkliche Bewegung des Vermögens, sofern sie überhaupt stattfindet, also den Antrieb selbst. Natürlidt kommt kein wirklicher Antrieb zustande ohne eine ihn spezifizierende Bestimmtheit, die vom Gegenstand her genommen sein muß: dies meint der Aspekt der »Artbestimmung«. Die Unterscheidung erinnert sofort an die oben geltend gemachten Gesichtspunkte: Ausübung besagt Wirkursächlichkeit und Zielrichtung, Artbestimmung Formalursächlichkeit und Bestimmtheit durch die Vernunft10. In beiden Hinsichten besteht Freiheit der Entscheidung, denn der Wille ist nur festgelegt hinsichtlidi. des letzten Zieles, de~ Glückseligkeit, und hinsichtlich des »Guten überhaupt« (bonum in universali). So ist er nidtt genötigt, hinsichtlich eines Zieles tätig zu werden, das sidt ihm nicht als Anwesenheit des Letzten zeigt, und er ist frei, »dieses« Besondere »jenem« Besonderen vorzuziehen, sofern in ihm nicht die Anwesenheit des konkreten Allgemeingutes erscheint11 • Freilich ist der Akt, in dem die Glückseligkeit angeeignet wird, selbst wiederum ein besonderer und besdtränkter, und so kann der Wille, wenn er auch nicht die anwesende Glückseligkeit nicht wollen kann, doch den Eine Darstellung der Freiheitslehre findet sich in dem Anm. 1 zitierten Buch von G. S1EWERTH; ferner bei A. D. SERTILLANGES, Saint 1homas d'Aquin, Bd. II, Paris 1 1910, S. 211-288. 8 Vgl. 1-II, 9, 1; ferner De malo 6 (wo die Freiheitslehre am eindrucksvollsten zusammengefaßt ist), vgl. diesen Text zum Ganzen. 10 Vgl. Kap. 11, § 4. 11 I-II, 10, 2. 8

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Akt selbst nicht wollen. Von einer Notwendigkeit des Wollens kann man also, streng genommen, nur hinsichtlich der Artbestimmung reden (wo außer der Glückseligkeit noch mehreres »natürlich« Erstrebte zu nennen wäre12), nicht aber hinsichtlich der Ausübung: diese bleibt stets ungenötigt, mindestens in dem Sinne, daß der Wille sich hier und jetzt nicht zur Aufmerksamkeit auf den in der Linie der Artbestimmung nötigenden Gegenstand hin zu bewegen braucht; ein Nicht-Aufmerken bleibt ihm immer möglichts. Fragt man in der Linie der Ausübung, der tatsächlich bewegenden Wirkursächlichkeit, zurück auf das Prinzip des Tätigwerdens, so kann man nicht auf ein anderes verweisen als den Willen selbst. Er ist unter den Seelenvermögen überhaupt das Erstbewegende, durch den alles andere bewegt wird, wiederum deshalb, weil sein eigentümlicher Gegenstand Ziel und Gut überhaupt sind 14• Der Wille kann deshalb sein eigenes Wollen wollen, als ein Besonderes, das im Allgemeinen seines naturhaften Gegenstandes eingeschlossen ist15. Freilich, sofern er nicht sein Akt ist, sondern von der Potenz in den Akt übergeht, bedarf er zu seiner ersten Bewegung eines Bewegers, der ihm selbst schlechthin vorausliegt, und dies Bewegende ist sein Schöpfer, Gott18• Von dieser Gründung her wohnt ihm die Bestimmtheit und Notwendigkeit inne, ohne die er überhaupt nicht sein könnte, das grundlegende Bewegt- und Bewegendsein, ohne das kein einzelnes Wollen zustande käme. Gibt es aber im einzelnen Wollen selbst keinerlei Notwendigkeit der Ausübung, so bleibt nichts übrig als eine Tatsächlichkeit des Tuns oder Nicht-Tuns, die sich dem Zugriff des Verstehens letztlich entzieht. Die Untersuchung der Wirkursächlichkeit der Freiheit führt also auf einen Ort, wo eine bloße Faktizität ungelichtet waltet. Dabei ist natürlich klar, daß jedes wirkliche Tun dank seiner gegenständlichen Bestimmtheit sofort wieder im lichte der Verstehbarkeit erscheint. Warum dieses und nicht jenes getan wird, dafür sind stets Gründe oder Motive angebbar; die konkrete Analyse des praktischen Verhaltens vermag sie zu nennen: so kann ein objektiver Vorzug des einen vor dem anderen, den die Vernunft hervorhebt, die Wahl bestimmen; oder auch zufällige Gedankenverbindungen, Gelegenheit und Situation mögen den einen Umstand so hervortreten lassen, daß er gegenüber dem anderen maßgeblich 1-11, 10, 1; vgl. 1, 82, 2. 1-11, 10, 2: Das „universaliter bonum« nötigt den Willen nur, „5j aliquid velit«; „posset enim aliquis de quocumque obiecto non cogitare, et per consequens neque actu velle illud.« 14 1-11, 9, 1. 15 1-11, 9, 3. H 1-11, 9, 4; vgl. ib. 10, 4.

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wird; oder die Disposition, sei sie naturhafte Veranlagung, schicksalhafte Lage oder charakterliche Prägung, schaffi:Neigung zu diesem vor jenem17 • Schließlich mag man - so weit geht Thomas allerdings nicht ausdrücklich - die Kontradiktion von Tun oder Nicht-Tun selbst als eine Weise von Spezifikation auffassen, so daß die Freiheit der Ausübung gänzlich in die Terminologie der Freiheit der Artbestimmung überführt würde und der Anschein einer durchgehenden lntelligibilität entstünde. Aber daß dieser Anschein bloßer Schein ist, erhellt sogleich aus der Überlegung, daß auch in der Blickrichtung auf die Artbestimmung nur im naturhaft Nötigenden Wesensnotwendigkeit und klare Einsichtigkeit herrscht. Auch die Motivation der Entscheidung zu diesem oder jenem schaffi: nicht die Eindeutigkeit der Bestimmung, die sich als zwingena dem Verstehen aufdrängen würde; vielmehr bleibt auch hier ein unlösbarer Rest von bloßer Tatsächlichkeit, hinter dem wieder nichts anderes stehen kann als die Faktizität des bewegenden Wollens. Für das Verstehen bleibt hier eine Unbestimmbarkeit, die auf eine Unbestimmtheit der Freiheit selbst zurückweist. Für die Theologie ist dieser Punkt von höchster Bedeutung; denn genau hier ist der Ort, wo sie jene Wirksamkeit Gottes ansetzen kann, die - in einer dem Willen gemäßen, die Freiheit nicht aufhebenden Weise - auf übernatürliche Ziele hinbewegt, nämlich die Wirksamkeit der Gnade, die sich dann hinsichtlich der Ausübung als »praemotio«, hinsichtlich der Artbestimmung als »praedeterminatio« bezeichnen läßt1s. Die Philosphie muß sich mit der Feststellung der Faktizität begnügen, die nicht mehr positiv, sondern nur negativ zu bestimmen ist. Nicht, daß die Freiheit nur als Negativität zu bestimmen wäre. Wohl aber kann hier die Negativität geortet werden, die der Kontrarietät von Gut und Böse zugrunde liegt.

§ 3: Die Freiheit der Kontrarietät als solche des endlichen und vollendbaren Vernunftwesens; die Wurzel möglicher Bosheit in der Faktizität des Wollens An und für sich sagt der Begriff der Freiheit, wie er bis jetzt entwickelt ist, noch nichts über die Möglichkeit zu Gut und Böse im moralischen Sinne aus. Die Freiheit der Artbestimmung wählt wesentlich zwischen Diese drei Weisen der Beeinflussung des Wollens nam De malo 6. Diese Begriffe der „thomistismen« Smule finden sim bei Thomas nimt; sie entwickeln sim erst zu ihrer heutigen Bedeutung in der namtridentinismen Diskussion, liegen aber genau in der von Thomas vorgezeimneten Rimtung (wieweit sonst im heutigen Thomismus andere Motive - von Duns Scotus oder Robert Cowton her - wirksam sind, ist eine andere Frage). Für den heutigen Stand der Frage und ihre Anknüpfung an Thomas vgl. R. GARRIGOU-LAGRANGE, Art. Premotion ph:ysique, in: Dict. de 1heol. cath. Bd. XIII, bes. eo!!. 51-56. 17

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Gut und Gut, und die Freiheit der Ausübung hat im Tun immer ein Gut zum Ziel, im Nicht-Tun aber weder Gut noch Nicht-Gut, sondern ist bloße Negation. Beide Arten von Freiheit sind aus diesem Grunde auch von Gott und von den Engeln - in analoger Abwandlung - aussagbar, und es kann überhaupt die Freiheit als »Vollkommenheit« schlechthin bezeichnet werden18. Auch die menschliche Freiheit ist grundgelegt und ermöglicht gerade durch die grundsätzliche Hinordnung des Willens zum Guten, und in keinem Wollen kann deshalb durch ein anderes eine Bestimmung eingeführt werden als durch ein Gutes. Ist das übel aber bestimmt als eine »Abwesenheit« des Guten, und näherhin als Privation eines geschuldeten Gut an einem Zugrundeliegenden20, so kann es unmöglich Ziel und Gegenstand des Wollens, geschweige denn spezifizierend sein. Wenn aber gerade dies in der metaphysischen Interpretation der menschlichen Handlung, und zwar vom Phänomen des Praktischen selbst her, als Grundposition behauptet worden ist, so läßt sich jetzt schon abstrakt absehen, daß die Lösung des Widerspruchs sich erst ergeben wird, wenn es gelingt, die Verursachung und die Ursächlichkeit des Bösen mit der Negativität in Verbindung zu bringen, die in der Faktizität der Freiheit ermöglicht ist. Zunächst ist freilich auf der Ebene der Wesensbestimmtheit festzustellen, daß für menschliches Handeln Gut und Böse nicht bloß im privativen Gegensatz zueinander stehen und daß diese Weise des Entgegengesetztseins, die als Kontrarietät zu fassen ist, im Rahmen der allgemeinen Doktrin möglich ist. Das kann in einer Betrachtung der Seinsfülle der Handlung geschehen, wo sich zeigt, daß menschliches Handeln, als das einer beschränkten und nur im Verhältnis zu dieser Beschränktheit vervollkommenbaren Natur, das sich in einem Umkreis ebenfalls beschränkter und besonderter Seiender bewegt, von diesen her teils Vervollkommnung, teils Beeinträchtigung erfahren kann, wenn es sie sich zueignet21, Dieses umgebende Seiende mag durchweg als »Gut« bestimmt sein: in seiner konkreten Beschränktheit muß es zusätzlich noch den Charakter der Angemessenheit für den bestimmten Handelnden haben, um ein geeigneter Gegenstand des Handelns, geeignetes Ziel zu sein. Die Bestimmung der Angemessenheit geschieht in der Vernunfl:ordnung, die insofern »Regel« des Handelns ist; es ist bereits gesagt, daß im konkreten menschlichen Verhalten die je besondere konkrete Vernunft des einzelnen Handelnden Vgl. bes. die Ableitung SCG II, 46-48: die Freiheit der intellektuellen Substanzen besteht, weil es erforderlich ist »ad summam rerum perfectionem, quod essent aliquae creaturae quae agerent hoc modo quo deus agit«, nämlich »intelligentes et volentes« (ib. 46) und somit „frei« (ib. 47-48). 20 1, 48, 1 und 3. 11 Vgl. Kap. 10, § 2.

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das Messende und Regelnde ist22 • Täusdlt sidl diese endlidle Vernunft, stellt sie ein Gut als angemessen vor, das in Wahrheit nidlt angemessen ist, so kann sidl das Wollen auf dieses Vorgestellte ridlten, insofern es ein Gut ist; es setzt damit nidlt eine Privation, sondern ein Positives, das aber im maßgeblidlen Verhältnis zur wahren Vernunftordnung ein »Ungeeignetes Ziel« (finis indebitus) ist und im Vergleidl zum •geeigneten« natürlidl als Privation zu fassen bleibt, sofern es ja die Nidlt-Anwesenheit des geeigneten mit sidl bringt. Das eigentlidl »Fehlende« im gesetzten ungeeigneten Ziel ist aber nidlt eine Seiendheit sdlledlthin, sondern nur die redlte Zuordnung zur Vernunft, die Angemessenheit zu diesem konkreten Handelnden, sofern er ein Vernunftwesen ist, und in diesem Sinne trifft dann audl die allgemeine Definition des übels hier zu. In dieser wird jedoch nidlt zum Ausdruck gebradlt, was die Ordnung des Handelns dlarakterisiert, daß nämlidl zugleidl mit dieser Privation eine positive Setzung gesdlieht, und zwar so unfehlbar, daß selbst das NidltHandeln, wo es ein aufgegebenes Ziel nidlt aneignet, also die Unterlassung, als »Setzen«, als » Verursadlen« interpretiert wird23 • Die Positivität der Setzung ist es, weldle den moralisdlen Gegensatz von Gut und Böse zum Konträren madlt; sie bringt ferner mit sidl, daß das Böse konstitutive Differenz sein kann - als bloße Privation könnte es das nidlt, sondern vermag es nur in der Kraft des Guten, des Positiven, an dem es statthat2'. Als positive Seiendheit kann das Böse denn audl vom Willen tatsädllidl erstrebt werden, denn so hat es ja ein Gutsein unter sich liegen, während der Wille sidl auf ein Böses als soldles, als Privation, nidlt ridlten könnte, wo er wesentlidl auf Gut überhaupt geridltet ist. Audl vermag er vom Bösen zum Guten überzugehen - zur Kontrarietät gehört die Möglidlkeit des Übergangs von einem Extrem zum anderen, die bei der Privation nidi.t gegeben ist25 • Freilidl kann das Böse willensbestimmende Kraft wiederum nur ausüben, wenn es von der Vernunft nidlt als Böses, sondern unter dem Anschein des Guten dem Willen vorgestellt wird; es sdleint also nidlt anders eine Hinwendung zum Bösen möglich als unter Voraussetzung eines Irrtums, einer falschen „Artbestimmung«, und in der Tat ist das eine Möglidlkeit, die gerade im mensdllidlen Leben eine bedeutende Rolle spielt: der Ehebremer, der glaubt, das sinnliche LustVgl. Kap. 11, § 3. Vgl. 1-11, 6, 3; 1-11, 71, 5. - Das Nicht-Handeln oder die Unterlassung ist natürlich kein „Akte, aber es ist willentlich und nerursacht« den Fehl, so daß es wie ein Akt einzuordnen ist: es gehört formell zur gleichen Spezies wie die positiv-setzende Handluqg, 1-11, 72, 6. 24 1, 48, 1 ad 2; 1-11, 18, 5 ad 2. H 1, 48, 1 ad 3. 22

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erlebnis, das er anstrebt, sei hier und jetzt das anzueignende Gut, täuscht sich2 '. Mit dieser Täuschung bezüglich des Hier und Jetzt ist es vereinbar, daß er im Allgemeinen sehr wohl weiß, daß Ehebruch »böse«, der Vernunftordnung widersprechend ist. Aber er wendet sein Wissen in diesem besonderen Falle nicht an, die Artbestimmung ist falsch. Allein, so sehr der Irrtum hinsichtlich des hier und jetzt zu Tuenden ein unangemessenes Verhalten verschulden muß, würde er doch, sofern er nur als ein Versagen der leitenden Vernunft selbst gefaßt wäre, eher das Versagen des Wollens »entschuldigen«, das sich nach ihm richtet, als daß er Schuld bewirktell7, Das Versagen der Vernunft schränkt die Willentlichkeit des Tuns ein oder hebt sie gar ganz auf, so daß hier nicht die letzte Wurzel der moralischen Bosheit gesucht werden kann. Sie muß überhaupt, wenn sie in der Blickrichtung der Artbestimmung nicht letztlich bestimmt werden kann, in der Freiheit der Ausübung zu orten sein, und auf diese läßt sich denn auch der Irrtum, der Bosheit verschuldet, zurückführen: die falsche Artbestimmung, die im Hier und Jetzt stattfindet, zugleich aber mit einem rechten Wissen des Allgemeinen der Vernunftordnung zusammengeht, wurzelt in einem Nicht-Aufmerken auf dieses Allgemeine; der Schein des Guten entsteht an einem in der Vernunftordnung Unangemessenen, weil der Blick nicht auf die Vernunftordnung, sondern nur auf das zugrundeliegende Positive gerichtet wird. Ein solches Nichtbeachten der Vernunftregel ist zunächst reine Negation, und es bedarf zu ihrer Erklärung keiner anderen Ursache als des Willens selbst und der Faktizität seines Bewegens oder Nicht-Bewegens; auch ist es weder gut noch böse, da eine Position oder Privation hier noch gar nicht vorliegt, die bloße Negativität aber nicht unter diese Unterscheidung fallen kann. Wird aber nun hinsichtlich des Gegenstandes, dessen Vernunftbezug nicht beachtet ist, zum Handeln fortgeschritten - und diese Möglichkeit ist ebenfalls im Wesen des Willens ohne weiteres gegeben-, so bedeutet die genannte Negation einen Fehl, die Abwesenheit einer geschuldeten Vollkommenheit, eine Deformität des Akteshinsichtlich der Vernunftordnung, und die folgende Position ist der geschuldeten konträr. Irrtum und Unwissenheit, die in dieser falschen Entscheidung eine Rolle spielen mögen, sind hier nicht notwendig in einem Versagen der Vernunft begründet, das der Wahl des Willens vorausläge, sondern das Versagen der Vernunft kann ebensowohl Folge eines Wollens oder Nicht-Wollens sein, so daß die Willentlichkeit auch für den Akt der Vernunft gegeben, der Grund einer »Entschuldigung« also ausgeschlossen wäret8 • 29 27

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1, 63, 1 ad 4. Vgl. Kap. 11, § 3; I-11, 6, 8; I-11, 76, 3. Vgl. 1, 49, 1 ad 4; 1, 63, 1 ad 4; 1-11, 75, 1 und ad 3. - Die Lehre von der

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Wie man sieht, kann aus der Freiheit des Willens zur Ausübung oder Nicht-Ausübung, aus seiner Fähigkeit zur Kontradiktion, und aus der Freiheit der Artbestimmung hinsichtlich des besonderen je zu Tuenden eine Freiheit der Kontrarietät „folgen«. Ersichtlich liegt in diesem dritten Aspekt kein Mehr an Vollkommenheit und kein Mehr an Freiheit: das erste nicht, weil die Möglichkeit zur Minderung im Widerspruch steht zum Begriff der Vollkommenheit selbst29 ; das zweite nicht, weil die Freiheit der Kontrarietät nichts anderes ist als die Freiheit zu Ausübung und Artbestimmung selbst, unter den Bedingungen eines wandelbaren und fehlbaren Daseins, in dem der Wille nicht von Hause aus »bei der Vernunft« ist, die Vernunft nicht von Hause aus die Wahrheit stets bei sich hat. Vollkommener ist die Freiheit der Kontrarietät nur im Vergleich zu einer Selbstbewegung, die überhaupt nicht frei ist, und umgekehrt wäre jene Freiheit die vollkommenste, die überhaupt nicht die Möglichkeit zur deformierenden Setzung des Unvollkommenen, zur beeinträchtigenden »Nichtigkeit« des Bösen hätte. Freiheit der Kontrarietät ist auch nidi.t notwendig Folge der Endlichkeit eines freien Wesens, wiewohl die Endlichkeit ihre Bedingung ist. Die reine Intelligenz, deren innere Lichtheit ein Verfehlen der Artbestimmung überhaupt nicht zuläßt und deren wesentliche Selbstgegenwärtigkeit eine Distanz ihres Wollens von der naturhaft erkannten Vernunftregel unmöglich macht, kann nur deshalb fehlen, weil ihr ein übernatürlicher Aufschwung möglich ist, dessen Regel dann freilich nicht mehr distanzlos in ihrem natürlidi.en Erkennen anwesend ist, sondern einer Beachtung oder Nidi.t-Beadi.tung freisteht. Die Endlichkeit bedeutet da nicht mehr als die Möglichkeit, daß etwas über die Natur hinaus aufgegeben wird, und nur in diesem Sinne die Möglichkeit zur Kontrarietät30. Freiheit der Kontrarietät gibt es demnach nur, wenn das freie Wesen noch nicht zu seinem Ende gekommen ist, sondern sidi. durch Tun oder Nicht-Tun, durdi. »dieses« oder »jenes« Tun - in je besonderen, beschränkten Akten und mit der Möglichkeit des Verfehlens - zu seiner Vollendung hinbewegt. Dies ist der charakteristische Zustand der Menschennatur, wie er sich vor allem in der Perspektive der praktischen Wissenschaft zeigt. Die Kontrarietät von Gut und Böse stellt dann in der Einstellung der praktischen Vernunft auf das zu Tuende die entscheidende konstitutive, spezifizierende Differenz dar, die sidi. in der Ordnung der Vernunft unmittelbar Negativität des Ursprungs der bösen Handlung ist in der Summa theologiae allerdings nicht so eindrucksvoll zusammengefaßt wie SCG III, 10 oder De malo 1, 3. H J, 62, 8 ad 3. ao Vgl. Kap. 10, § 2.

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zeigt und nicht durch irgendwelche Vermittlungen aus einem vorhergehenden, »allgemein« eingesehenen Begriff von Gut und übel abgeleitet werden muß; denn es ist ja das ursprünglich erfahrene, aller Reflexion voraufgehende besondere Handeln selbst immer schon unter dieser Kontrarietät erfahren. Die metaphysische Analyse der Freiheitslehre zeigt dann, daß diese Gegebenheit der Kontrarietät mit transzendentalen wie mit Wesensbegriffen einzufangen und zu umschreiben, ihre Konstitution zu erläutern, ihre Bestimmtheit in einer Ordnung zu fassen ist, welche das gesamte moralische Verhältnis in das Licht metaphysischer Verstehbarkeit rückt; daß aber zugleich an ihrem Ursprung eine Faktizität waltet, die nicht mehr rückführbar, sondern nur noch hinzunehmen ist. Der letzte Ursprung des Bösen ist nicht mehr aufzulichten; in seiner Negativität herrschen - wie Thomas mit einem Augustinus-Zitat sagt Dunkel und Schweigenst.

§ 4: Die endliche Faktizität als Grund der Begrenztheit aller moralischen Wissenschaft; Verweis an die Tugendlehre Damit ist die metaphysische Analyse von Gut und Böse abgeschlossens 2 • Wie mehrfach betont, ist das Interesse dieser Analyse vorzüglich eins der Metaphysik; für die praktische Wissenschaft ist sie nur insofern von hoher Bedeutung, als die Einheit des Verstehens überhaupt, die Einheit der Wahrheit, im Zusammenstimmen allen Wissens zum Ausdruck kommen muß, die Einordenbarkeit des praktisch Verstandenen in das Verstehen der Metaphysik als des allumgreifenden also auch ein Interesse der praktischen Wissenschaft als Wissenschaft überhaupt ist33. Da aber die Einheit des Wissens in der menschlichen Vernunft nur in der menschlichen Weise der Allgemeinerkenntnis geleistet wird, liegt der Rück.verweis auf die besondere Einstellung der praktischen Vernunft in der Analyse selbst beschlossen, und er wiederholt sich zudem sowohl bei ihrem Vorwärtsschreiten, wenn sie sich dem Konkreten nähert, als auch bei ihrem Rückwärtsschreiten, das auf die Faktizität der Freiheit des Willens stößtH. Denn diese Faktizität, die zunächst wie ein punktuelles Zentrum von Bewegung und Tun erscheint, ist Grund der Kontrarietät De malo 1, 3. Nämlich soweit sie im Rahmen der gegenwärtigen Themenstellung notwendig ist; die Probleme, die sich aus der göttlichen Erstursächlichkeit, Weltregierung, Vorsehung usw. ergeben, gehören so offensichtlich einzig dem metaphysischen Bereich zu, daß der Nachweis dafür nicht geführt zu werden braucht, wiewohl sie in einer vollständigen Darstellung zu berü&.sichtigen wären. aa Vgl. Kap. 4, § 1; Kap. 10, § 1. H In beiden Hinsichten ist also »Prinzip« ein »quia ita est« (vgl. Anm. 15, S. 169); im aristotelischen Kontext, in dem die Faktizität in der Singularität 81

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Gut und Böse

von Gut und Böse durch ihre wirkende Anwesenheit in der Konkretheit menschlicher Existenz: sie wird allein von dieser her sichtbar, und die Mannigfaltigkeit ihrer Wirkungen ist nicht herleitbar aus der Faktizität als solcher - aus der, gerade weil sie bloße Faktizität ist, gar nichts herleitbar ist -, sondern nur aus dem faktisch Gesetzten, also dem praktisch Erfahrenen. Auch der Hinweis auf die in spekulativer Wissenschaft erhebbare Struktur des Menschenwesens, das da handelnd und im Handeln fehlbar ist, kann hier nicht weiter führen. Denn als maßgeblich für das Handeln kann auch diese Erkenntnis nur gelten, wenn sie wieder die Erfahrung der Faktizität der Freiheit zur Voraussetzung hat, das hieße aber: sie ist überhaupt nicht mehr rein spekulative Erkenntnis, wesensbezogen und wesensbestimmend, sondern immer schon praktisch, auf Tatsächlichkeit gerichtet, nicht Erkenntnis eines vorhandenen Bestandes, sondern wirksamer Hinneigung - wenn diese auch wieder nur möglich ist von einem »Bestehenden« aus. Wenn die theoretische Analyse die Faktizität der Freiheit als letzten Ursprung des Moralischen setzt, so gibt sie also damit schließlich den letzten Grund für die Eigenständigkeit des praktischen Wissens an, das, als Wissen aus dieser Faktizität, auf ihren Raum bezogen und beschränkt, in keiner Weise mehr durch ein anderes, wesenserläuterndes, Strukturen hervorhebendes, kann aufgehoben werden, ohne daß das Eigentliche verlorenginge. Nur die Theologie vermag die Einheit praktischen und spekulativen Wissens in strenger Weise - als Einheit des Habitus - herzustellen, da sie sich auf den Standpunkt Gottes stellen kann, in dem es kein Auseinander von Faktizität und Wesen gibtss. Aber, selbst hier darf man fragen, ob denn nicht gerade die Gründung der Faktizität des Geschöpfes, sein göttlidies Gewolltsein als eines Defektibeln, dem Erkennen dieses Geschöpfes selbst - auch im übernatürlich gegründeten Wissen der Theologie - die Dunkelheit aufgibt, welche die Faktizität als solche mit sich bringt, so daß auch in der Theologie das »mysterium inquitatis« der letzten Einsicht entzogen, seine Bewältigung eine wesentlich praktische Aufgabe würde? Jedenfalls scheint es, daß die Moraltheologie ebenso wie die Ethik bei der Bestimmung des konkreten Gut und Böse auf die praktische Erfahrung verwiesen ist, wenn sie auch die unmittelbare Leitung durch das göttliche Gesetz, die unmittelbare Regelgebung durch die göttliche Vernunft hatH. Denn selbst dieses Gesetz hat den Charakter der des materiellen Seienden ersdi.eint, deutet sidi. das in den Grundsätzen an: >actus sunt singulariumc und >actus sunt circa singulariac (vgl. z.B. 1, 86 arg. 1und2). 11 Es gibt vielmehr keine Faktizität in Gott, 1, 3, 4 (es sei denn hinsidi.tlidi. der Sdi.öpfung, 1, 46, 1). 11 Vgl. Kap. 14, § 3.

Freiheit und Kontrarietät

217

»Positivität«, der faktischen Gesetztheit, und ist somit im Sinne der praktischen Wissenschaft ein Erfahrenes. Auch die theologische Analyse stößt nicht zum ungebrochenen Zusammenhang von Faktizität und Wesen vor. Sie behauptet ihn und sucht ihn mittelbar herzustellen, weil sie gerade in der Einheit beider die Einheit des Wissens Gottes im menschlichen Verstehen nachbildet; aber auch sie vermag ihn nur in der abstrakten Gestalt des »Systems«, nicht in der Unmittelbarkeit der konkreten Ableitung zu leisten37, Ist das richtig und gibt es keine Ethik aus reiner Wesenssicht, keine Moraltheologie ohne Positivität des göttlichen Wollens, so gibt es doch die Anwesenheit des Wesens, das da handelnd ist, und auch im Besonderen ist es selbst das Wirkende: praktische Einsicht kann in der Struktur des Gewußten die Struktur des am bestehenden Wesen Eingesehenen wiederholen; Wissen von menschlicher Praxis kann die Struktur einer Anthropologie, die spekulativ konstruiert ist, wiederholen. Die Folge der Summa theologiae kann daher als Darstellung praktischer Wissenschaft eine Lehre von der Struktur konkreten menschlichen Verhaltens geben, welche die Figur einer spekulativen Anthropologie aufweist; in dieser Weise ist die Passionenlehre an die Lehre von der Struktur des menschlichen Aktes angeschlossenas. Diese Analysen haben aber nur den Sinn, zu den Gestalten hinzuführen, in denen sidi. das Handeln konkret zu Gut und Böse verhält; denn dieses Verhalten findet nicht so statt, daß es in der Isolierung des jeweiligen, je einzelnen Aktes sich dem Verständnis eher entzöge als öffnete, sondern verfestigt sidi., entsprechend den Möglichkeiten menschlichen Daseinsvollzuges, in Verfassungen, die den einzelnen Vermögen zuwachsen und ihnen eine Neigung zum Guten als Tugenden - oder zum Bösen - als Laster - mitgeben. Die Lehre von Gut und Böse gewinnt ihre praktisch-wissenschaftlidi.e Gestalt zunächst in der Lehre von der Tugend3B,

Das heißt, daß sie gerade insofern „Wissenschaft« ist und nicht vom •Einzelnen« handelt, 1, 1, 2 ad 2. 38 1-11, 22-48. 38 1-11, 49-89 und 11-11: Dabei ist die Betrachtung der Prima Secundae zunächst wieder nach der Weise eingeleitet, die in einer spekulativen Abhandlung anzuwenden wäre, nämlich von der ontologischen Analyse des Habitus her (1-11, 49), und die folgenden Untersuchungen über Tugend und Laster setzen gleichfalls so ein (1-11, 55 und 71). - Ahnliches ließe sich bei Einzelfragen aufweisen. Erst in der Secunda Secundae herrscht die eigentlich praktische Sichtweise unbedingt vor und ist systembestimmend. 87

Vierter Abschnitt

DIE KONKRETEN PRINZIPIEN DES SITTLICHEN HANDELNS: DIE TUGEND UND DAS GESETZ

13.

KAPITEL: ETHIK ALS TuGENDLEHRE

§ 1: Die mögliche Vollständigkeit der Ethik als Tugendlehre Die Lehre von Tugend und Laster bildet in der Summa theologiae den umfangreichsten Teil der moralischen Betrachtung; zwar nicht in der Prima Secundae, wo sie gleichwohl nicht nur äußerlich in der Mitte steht, sondern vor allem in der Secunda Secundae, in der »speziellen« Moral. Dort gibt das Schema der grundlegenden Tugenden den Rahmen für die eigentlich konkreten, in möglichster Nähe zum Einzelfall sich haltenden Oberlegungen, in denen am meisten der Sinn einer praktischen, handlungsleitenden Wissenschaft hervortritt1 • Die Vorzugsstellung der Tugendlehre hat vor allem zwei Gründe, die sich aus Überlegungen ganz allgemeiner Art ergeben. Der erste ist, daß in ihr die größte Nähe zum Einzelfall bei gleichzeitiger Wahrung des wissenschaftlichen Charakters der Ethik möglich ist. Denn der Einzelfall selbst entzieht sich als solcher der Wissenschaft, die stets auf ein Allgemeines hingewiesen bleibt, und wenn die moralische Betrachtung ihre eigentliche Vollendung in der Erkenntnis des Einzelfalles hat (in welchem ja allein Handeln »wirklich« sein kann), so bleibt sie doch, wenn sie Wissenschaft sein will, notwendig vorher stehen; der Einzelfall ist für sie nur faßbar, sofern er sich in einer Struktur findet, die den Charakter des »Allgemeinen«, der Gemeinsamkeit für eine (mindestens mögliche) Mehrheit hat. Eben dies hat die Verfassung des wirkfähigen Vermögens gegenüber dem Einzelakt; erst als Akt, der einer bestimmten Verfassung entspricht, wird er dem einordnenden Verstehen der Wissenschaft eigentlich greifbar. Zugleich ist die moralische Verfassung- Tugend oder Laster - das nächste, unmittelbare Prinzip des Aktes - näher selbstverständlich als das Vermögen, das darin verfaßt ist, oder gar als das gründende Wesen selbst-, und so hält sich die Lehre von der Tugend auf der niedrigsten Stufe der Allgemeinheit, eben damit auch in der möglichsten Nähe zum Konkreten und Einzelnen. Hier ist nun der weitere Gedanke hinzuzunehmen, daß notwendig alles Handeln vom Handelnden durch seine Vermögen gewirkt wird, not1

Vgl. 11-11 prol und I-11, 6 prol.

Ethik als Tugendlehre

219

wendig also durch die Verfassungen, in denen diese Vermögen bestimmt sind. Wo immer eine gute Handlung erblickt wird, muß sie einer Verfassung zum Guten, einer Tugend, entsprechen2 • Eine vollständige Erfassung der Verfassungen des Handelnden gäbe einen Gesamtplan an die Hand, in welchen alles menschliche Handeln einzuordnen wäre. Dabei schaff!: der Unterschied von Tugend und Laster keine Schwierigkeiten, denn sie stehen sich gegenüber wie rechtes und unrechtes Tun hinsichtlich desselben Gegenstandes8 ; die Erkenntnis des einen führt zur Erkenntnis des andern. Es läßt sich also der gesamte Stoff der Ethik einem vollständigen System der Tugenden einfügen. Dem steht nicht entgegen, daß äußere Prinzipien des Handelns bei dem Akt mitwirken, für den Vermögen und Verfassung des Vermögens die inneren Prinzipien sind. Auch sie gehen nicht anders in den zu wirkenden Akt ein als durch die Vermittlung der wirkenden inneren Prinzipien. Das wird besonders deutlich in der theologischen Sicht, wo einige Bedingungen des menschlichen Handelns erkannt werden, die in einer rein philosophischen, natürlichen Ethik nicht erscheinen können. So tritt von »außen« das göttliche Gesetz, die geoffenbarte Handelnsregel, dem Handelnden gegenüber, und ferner wirkt von •außen« die göttliche Gnade auf ihn ein, beides Faktoren, die ihrem Wesen nach maßgeblicher und wirksamer sind als die inneren geschöpflichen Wirkgründe4 ; man könnte sich denken, daß ihre Einführung eine Akzentverschiebung der moraltheologischen Sicht gegenüber der philosophischen mit sich brächte, etwa zu einer »Gesetzesethik«, die von der positiven Offenbarung her entworfen werden könnte. Statt dessen läßt die Theologie die gesamte übernatürliche Ordnung wirksam werden durch die Vermittlung von eigens eingegossenen übernatürlichen Tugenden, die den Menschen innerlich zum übernatürlich Guten hinordnen5 • Auch theologisch wird also die praktisch-wissenschaftliche Bewältigung der konkreten Bestimmung von Gut und Böse in der Lehre von den Tugenden geleistet. Das System der Tugenden ist gegenüber dem •natürlichen« durch die Hinzunahme der besonderen übernatürlichen erweitert. Diesem erweiterten System werden aber nun jeweils die besonderen Gnadengaben - die »dona spiritus sancti« - sowie die besonderen »Gebote« (praecepta) des göttlichen Gesetzes, die in der Offenbarung enthalten 1-11, 18, 9 ad 3: »Omnis finis a ratione deliberativa intentus pertinet ad bonum alicuius virtutis vel ad malum alicuius vitii.« 8 11-11, prol.: „ ... vitia et peccata diversificantur secundum materiam vel obiectum ... est autem eadem materia circa quam et virtus recte operatur et vitia opposita a rectitudine recedunt.c 4 1-11, 91, 4; ib. 109, 1-2. 1 Vgl. Kap. 5, § 1. 2

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Die konkreten Prinzipien: Tugend und Gesetz

sind, eingefügt. Der Prolog der Secunda Secundae, in der die theologische Tugendlehre in solcher Weise ausgebreitet wird, macht ausdrücklich den Anspruch geltend, in dieser Darlegung sei die Vielfalt des Stoffes der Moral derart auf das System der Tugenden bezogen, daß darin »nichts vom Moralischen übergangen werde« 6 • Hat die Durchführung der theologisd:ien Moral bei Thomas die Gestalt einer Tugendlehre, so müßte das noch weit eher von der Durchführung einer rein natürlichen Ethik erwartet werden. Immerhin setzt die Theologie das übernatürliche letzte Ziel, dem der Mensch durch die eingegossenen übernatürlichen Tugenden zugeordnet wird, in einem Jenseits des Lebens an, das in diesen Tugenden verfaßt ist, und zwar ergibt sidt sogar, daß diese Tugenden nicht einmal notwendig fortbestehen, wenn das letzte Ziel erreidtt ist; sie haben - wenn audt nicht alle, so doch einige - den Charakter von bloßen Mitteln zum Zweck, der bloßen Ausrichtung und Vorbereitung, sie haben höchstens die Bedeutung eines »Anfangens« 7• Die Sidtt einer philosophischen Ethik, die gewiesen und beschränkt ist auf den Bereidt des gegenwärtigen Lebens, in dem der Mensch nur zu begrenzter Vollkommenheit gelangen kann, sieht im Akt der Tugend dagegen geradezu die Verwirklichung des hödtsten menschlichen Seinkönnens, und so beschreibt die Tugendlehre für ein soldtes Denken nicht Mittel und Wege oder bloßes »Anfangen« des Glücks, sondern die Weise der Erfüllung des Glückes selbst. Im Sinne dieses Verhältnisses gelangt das exemplarisdte Werk einer rein philosophischen Betrachtung, die Nikomachische Ethik, von der vorausgeschickten Lehre vom letzten Ziel, vom Glück, unmittelbar zur Lehre von der Tugend; und nachdem die Lehre von der Tugend in ihrer Vielfalt ausgebreitet ist, kehrt die Untersuchung mit dieser Kenntnis d-er konkreten Weisen der Verwirklidtung der Vollkommenheit wieder zur Lehre vom Glück zurück, die sie nunmehr spezieller, genauer ausführen kanns. Noch mehr als in der Theologie ist demnadt in der Philosophie die Tugendlehre das Kernstück der moralischen Betrachtung; sie ist es so sehr, daß man vie~leicht etwas überspitzt - sagen darf, im thomistischen Verständnis »sei« Ethik überhaupt Tugendlehre.

• 11-11, pro!.: »Et sie nihil moralium erit praetermissum«. Moralische und intellektuelle Tugenden bleiben bestehen »quantum ad id quod est formale in eise, 1-11, 67, 1 und 2, während Glaube und Hoffnung aufgehoben werden, ib. art. 3 und 4. Lediglich die Caritas bleibt dieselbe, ib. art. 6. 8 Vgl. Kap. 4, § 3 und die Stellen Anm. 25, S. 65.

7

Ethik als Tugendlehre

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§ 2: Der sachliche Vorrang des »Stils« einer Tugendethik vor anderen Stilen der Ethik Natürlich soll damit nicht behauptet werden, daß nicht auch andere Gegenstände im Rahmen der Ethik zu behandeln sind als die Tugend. Aber wenn alles auf die Tugend bezogen wird, so liegt darin doch mehr als die Lösung der technischen Frage der Organisation des Wissensstoffes. Wenn sich die Ethik in der Tugendlehre »vollendet«, wie sich die theologische Moral in der Secunda Secundae vollendet, so heißt das doch auch, daß alle ethische Erkenntnis auf die Erkenntnis der Tugend hingeordnet ist, um ihretwillen geschieht, daß also die Ethik auf die Erkenntnis der Tugend hin »stilisiert« ist. Dies ist durchaus keine selbstverständliche Folgerung, die sich ohne weiteres aus der Einsicht in das Tun und das zu Tuende ergäbe; denn das Erkenntnisziel der Ethik ist ja nicht sogleich die bedingende, bestimmende Verfassung, sondern der zu tuende Akt selbst. An diesem sind noch andere Faktoren beteiligt als das unmittelbar vorausliegende innere Prinzip, und dessen Herausstellung bedeutet eine Entscheidung, der Aufbau einer Ethik auf Erkenntnis der Tugend hin eine Stilisierung. Das schließt ein, daß auch andere Stilisierungen möglich sind, in denen andere Faktoren herausgestellt werden. Man kann die Frage stellen, was es bedeutet, daß die thomistische Ethik den Stil einer Tugendethik hat, wie sie sich, von diesem Gesichtspunkt her, von anderen - möglichen oder wirklichen - Stilen der Ethik abhebt. Es bedarf keines Beweises, daß im Rahmen einer Untersuchung, die sich auf thomistische Fragestellungen und Prinzipien einläßt, die Tugendethik nicht mit einer »materialen Wertethik« in Idealkonkurrenz gesetzt werden kann. Der höchst abkünfl:ige, nur in sekundärer Reflexion erscheinende Begriff eines „Wertes«, dem womöglich noch ein ungegründetes und ungründbares »ideales An-sich-Seine thetisch zugesprochen wird, bezeichnet keinen der wirksamen Faktoren des Handelns, wie sie sich in der Analyse zeigen 9• Das Unternehmen, die dem Handelnden innewohnenden Verfassungen auf Werte zu gründen, die ihnen vorausliegen, und so die Tugendethik in eine Wertethik umzudeuten, muß als der abwegige Versuch gebrandmarkt werden, das Abgeleitete, in der Reflexion Hypostasierte, als Grund dem Früheren, ursprünglicher Erscheinenden, vorzuordnento. Charakteristisdi ist, daß der sittlidie Wert sdiließlidi »auf dem Rücken der Handlung« ersdieint (Sdieler): die Analyse ergibt, daß er Resultat und nidit Faktor sein muß, vgl. D. VON HILDEBRAND, Die Idee der sittlichen Handlung, Halle 2 1930. 10 Hier ist an die (von M. Sdieler inaugurierte) »phänomenologisdiec Wert-

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Die konkreten Prinzipien: Tugend und Gesetz

Ebensowenig kann hier ernsthaft die Möglichkeit einer Situationsethik in Erwägung gezogen werden, sofern diese als Gestalt einer praktischen Wissenschaft auftreten wollte. Den Einzelfall selbst, der sich dem Zugriff der wissenschaftlichen Erkenntnis wesentlich entzieht, so sehr zum Angelpunkt der moralischen Betrachtungen zu machen, daß seine in der Allgemeinheit wissenschaftlichen Verstehens unfaßbare Einmaligkeit zur Negation der Bedeutung des Allgemeinverstehens überhaupt ausgemünzt wird - das heißt nicht mehr, einen besonderen Stil der Ethik entwickeln, sondern Ethik überhaupt verneinen. Eine solche Position liegt »außerhalb«, sie hebt sich schließlich selbst auf; Situationsethik im eigentlichen Sinne ist kein möglicher »Stil« der Ethik, sondern gar keine Möglichkeitu. Dennoch steckt in dem situationsethischen Hinweis auf die letzte Maßgeblichkeit der wirklichen Einzelheit des zu Tuenden eine berechtigte Forderung, der jede Ethik, da sie doch Erkenntnis auf Tatsächlichkeit hin ist, entsprechen muß. Daher triff\: die situationsethische Kritik eine Sehweise, die das im Praktischen anwesende Gemeinsame, das sich als Allgemeines in der Wissenschaft Zeigende, derart ausschließlich für das Maßgebliche und Bestimmende hielte, daß die Individualität des Einzelnen nur noch als »Fall« des Allgemeinen übrigbliebe. Das wäre nur dann berechtigt, wenn Individualität nichts anderes wäre als der Schnittpunkt mannigfaltiger, in ihrem Wesen aber allgemeiner Bestimmtheiten; es wäre dann möglich, mittels der Methode der Subsumption unter möglichst alle Schemata des Allgemeinen eine adäquate Bestimmung des Einzelnen zu geben, die wissenschaftlich wäre: eine reine Kasuistik wäre ein möglicher Stil der Ethik. Wic:derum bedarf es jedoch keines Beweises, daß ein solcher Stil von thomistischen Voraussetzungen her nicht möglich ist; eine Verkennung des Wesens der Individualität wie zugleich auch des Wesens des Allgemeinen liegt ihm zu Grunde. Gegenüber beiden Extremformen einer reinen Situationsethik und einer ethik gedadit, insbesondere an deren eindrucksvolle Systematisierung in der Ethik von N. HARTMANN (Berlin 1 1925). Im französisdien und angelsädisisdien Spradigebraudi ist der Terminus „Wert« weit weniger festgelegt und hat nidit die spezifisdie Bedeutung, die ihn zum Kennwort für einen »Stil« der Ethik ma.dien würde; allein, audi dort konnotiert er die Abkünftigkeit. 11 Daher gibt es kaum nennenswerte Abhandlungen ethisdier Probleme oder gar Gesamtdarstellungen der Ethik in situationserhisdiem Stil (mit Ausnahme der programmatisdien Gegenwart von E. GRISEBACH, 1928): die Negation des Systems schließt zusammenhängende Begründung aus. Als »Haltung« oder »Einstellung« ist sie jedodi begründbar und ersdieint so in Verbindung mit theologisdien wie »philosophisdien« Lehren. Vgl. D. VON HILDEBRAND, ~hre Sittlichkeit und Situationsethik, Düsseldorf 1957.

Ethik als Tugendlehre

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reinen Kasuistik - die hier idealtypisch gegeneinandergesetzt werden, ohne daß behauptet oder belegt werden soll, sie seien etwa tatsächlid1 von Moralisten vertreten worden - ist die Tugendethik ein »mittlerer« Weg, in dem sowohl das Allgemeine der Struktur als auch die Individualität des »Falles« zu ihrem Recht kommen. Es ist selbstverständlich keine Leugnung oder auch nur Einschränkung der Besonderheit des Individuellen, wenn es in der Weise des Allgemeinen in die Wissenschaft eingeht, sofern das Allgemeine als solches wieder als Produkt des Verstehens, dessen eigener Gesetzlichkeit folgend, entstanden gedacht wird12. Aber entscheidend ist, daß die Tugendethik auch für das Individuelle und seine Bestimmung die Maßgeblichkeit der Vernunft aufrechterhalten kann; denn diese selbst ist wiederum in einer Tugend verfaßt, durch welche sie dem konkret Begegnenden zugeordnet wird: nämlich die Klugheit, über deren Wesen und Einordnung in das Ganze des sittlichen Aktes bereits gehandelt wurde13. Die wissenschaftliche Ethik gibt als Tugendethik nicht nur den Raum frei, wo die Einzelheit des durch abstrakte Allgemeinheit nicht mehr zu greifenden Einzelfalles sich entfaltet, sondern sie weist zugleich den - außerwissenschaftlichen - Ort nach, wo ein Verstehen und eine Bestimmung des Einzelnen stattfinden kann. Es besteht dann weder ein Grund, die Wissenschaft zu negieren, weil sie den Einzelfall seines Eigenen entkleide, noch auch, ihr in illegitimer Weise seine Bewältigung zuzumuten. Gegen irrationalistische Situationsethik und rationalistische Kasuistik ist die thomistische Ethik grundsätzlich unterschieden; im Gegensatz zu ihnen darf man sie als eine »Klugheitsethik« bezeichnen, womit sachlich nichts anderes gesagt werden soll, als was in der Bezeichnung »Tugendethik« schon eingeschlossen ist. Jedoch ist zu beachten, daß die Klugheit nicht Prinzip des Aufbaus der Ethik, sondern des konkreten Handelns selbst ist; sie bestimmt nicht den Stil, sondern gehört zum Inhalt der Ethik. Aber sie ist vielleicht das charakteristischste Element in diesem Inhalt, da sich in ihrer Konzeption die Selbstbeschränkung der wissenschaftlichen Ethik wissenschaftlich ausspricht14. Mit der Konzeption der Klugheit, sofern sie inhaltliches Element der Ethik ist, wäre eine Stilisierung der praktischen Wissenschaft vereinbar, die andere Faktoren als die inneren Prinzipien des Handelns, die Verfassungen, als gestaltgebend herausstellen würde. Hier könnte zum Beispiel daran gedacht werden, daß die Analyse des Aktes und seiner Un12 Vgl. bes. 1, 85, 2 und ad 2. 13 Vgl. Kap. 3, § 5-6. Diese Auffasssung dürfte heute Allgemeingut der Thomisten sein; vgl. z.B. TH. DEMAN, Art. Probabilisme, in: Dict. de Theol. cath., Bd. XIII, coll. 418-619, bes. coll. 433-436 und 617-618. 14

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Die konkreten Prinzipien: Tugend und Gesetz

terscheidung nach gut und böse immer wieder die Gegenstandsbestimmtheit oder die Zielbestimmtheit betont hat. Es scheint demnadi außerhalb des Handelnden ein Maßgebliches zu geben, das dem Akt vorausliegt, das früher ist und audi in seinem Vorgegebensein früher erfaßt werden kann. So scheint es denkbar, ein System der Zwecke und Ziele, der bestimmenden Gegenständlidikeit auszuarbeiten und die Bestimmtheit des Handelns von diesem seinem Bestimmenden her zu begreifen. Eine »Zweckethik«, eine »Seinsethik« oder »Gegenstandsethik«, wie sie sich dann ergäbe, würde die Bezogenheit des Praktischen auf das vorgegeben Anwesende betonen, das in der spekulativen Wissenschaft, vorab in der Metaphysik, erfaßt wird; so würde im Stil der Ethik selbst die Vorordnung des Spekulativen vor dem Praktischen deutlichen Ausdruck finden 16• Allein, wiederum muß erklärt werden, daß eine solche Möglichkeit völlig abseits dessen liegt, was sidi von den thomistischen Prinzipien her ergeben könnte. Sie hat zur Voraussetzung, daß jenes vorliegende »Reich der Zwecke« oder der moralischen Gegenständlichkeit, das bestimmend für das Handeln sein soll, in eben der Weise, wie es bestimmend sein kann, früher erfaßt werde als das Handeln selbst und seine inneren Prinzipien. Gerade das ist nun nicht der Fall, wie im Laufe dieser Untersuchung in mannigfachen Wiederholungen gezeigt wurde1e. Von Ziel und Gegenstand kann nur geredet werden, wenn das Seiende im Verhältnis zum wirkenden Prinzip des Handelns gesetzt ist; Zielbestimmtheit und Gegenstandsbestimmtheit des Aktes sind nur möglich, wenn zuvor Zielhafl:igkeit und Gegenständlichkeit des Seienden überhaupt vom Seinkönnen des wirkfähigen Menschen· ermöglicht sind. So sind sie denn auch nicht anders erkennbar als in eben der Perspektive, in der sich das Seinkönnen nach den Weisen seiner Bestimmbarkeit eröffnet; ihre bestimmte Struktur gewinnen sie nur im Verhältnis zu diesen Weisen des Seinkönnens, ein System der Ziele und Gegenstände kann nichts anderes sein als ein Widerspiel zum System der Weisen des Seinkönnens, der Vermögen und - bestimmter und konkreter - der Verfassungen. Die »Maßgeblichkeit« des Gegenstandes, sein bestimmender Charakter für das auf ihn gerichtete Tun, ist keine Vorgegebenheit, die schon in seiner Seiendheit, wie sie an ihm selbst ist und erfaßbar ist, anzusetzen wäre; sie ergibt sidi erst in dem Verhältnis zu den inneren Prinzipien des Handelns. So kann man nicht anders von Zweck und Gegen16 Vgl. z. B. TH. STEINBÜCHEL, Der Zweckgedanke in der Philosophie des Thomas von Aquin (Baeumker Beitr. XI, 1), Münster 1912; H. MEYER, Thomas von Aquin, Bonn 1 1938, bes. S. 417 f. und S. 430 ff. (zum Sinn der thomistisdien Ethik). 18 Es genüge, an den Text I-II, 18, 2 ad 1 zu erinnern (Anm. 69, S. 181).

Ethik als Tugendlehre

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stand der Akte reden, als indem man zugleich von den Akten selbst redet, und wenn die praktische Wissenschaft vom Akt auf das Bedenken der ihm zu Grunde liegenden Verfassung zurück.verwiesen wird, so gilt denn auch für den Gesichtspunkt der Zweck- und Gegenstandsbestimmtheit, daß er gerade im Rahmen einer Tugendethik aufgehoben und bewahrt werden kann; für sich selbst genommen, abgezogen von seiner notwendigen Einordnung, führt er auf einen Irrweg.

§ 3: Die Ethik des »Sittengesetzes« als einzig legitime Alternative zur Tugendethik; deren Vorrang auch vor der »Gesetzesethik«. Die Unentbehrlichkeit des Gesetzesbegriffs als Komplement zur Tugendethik und seine spekulative Bedeutung Eine eigentliche Alternative zum Stil der Tugendethik gibt es, unter Voraussetzung thomistischer Prinzipien, nur in einer »Gesetzesethik«. Dabei soll hier noch nicht der volle Begriff des Gesetzes (der die Bezogenheit auf eine Gemeinschaft und ein Gemeinwohl einschließt) genommen werden - er wird uns im Schlußkapitel beschäftigen -, sondern lediglich das Moment der Anordnung durch die Vernunft, die Normativität überhaupt, die schon im Begriff der »Vernunftregel« anwesend ist1 7. Die Vernunftregel ist in einem Satz zu fassen, der - als anordnend - den Charakter eines Gebotes hat; die Vielzahl besonderer Gebote ist dann zurückzuführen auf die obersten Handlungsregeln, welche die Vernunft in der Grundverfassung des »habitus principiorum rationis practicae« bei sich hat, und umgekehrt sind sie als besondere Schlußfolgerungen aus diesen Prinzipien, den ersten Geboten, zu begreifen. Ethik ist darstellbar als ein System von Regeln oder Geboten, die von den obersten und allgemeinsten, in der Synderesis stets besessenen, in absteigender Allgemeinheit bis zu den besonderen herab sich vervielfältigen; ihr Zusammenhang ist syllogistisch darstellbar - wir dürfen hier auf die Analyse verweisen, in der die Moralphilosophie gegen andere Verhaltensweisen und Verfassungen der praktischen Vernunft abgegrenzt wurde18 • Das System der Gebote ließe sich - mit einem Ausdruck, der Thomas fremd ist - als »Sittengesetz« bezeichnen, und in diesem Sinne wäre Ethik als »Gesetzesethik« stilisierbar. Es ist unbestreitbar, daß dieser Stil der Ethik ein völlig legitimer ist: die Anwesenheit der Vernunftregel in allem menschlichen Handeln ist Grundbedingung der Sittlichkeit überhaupt; nichts ist berechtigter in einer Wissenschaft vom Handeln, als diese maßgebliche Regel auf den Zusammenhang zu befragen, den sie innerhalb der Vernunft selbst hat, 17

Vgl. 1-11, 21, 1.

18

Vgl. Kap. 3, § 6.

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Die konkreten Prinzipien: Tugend und Gesetz

auf ihre Gründung hin zu denken, sofern diese in der Vernunft selbst stattfindet. Der Zusammenhang des Bereiches der Sittlichkeit tritt aufs stärkste ins Licht; in der Rückführung auf die grundlegenden Inhalte der Synderesis, ja schließlich auf die eine oberste Handlungsregel, die in ihrer hohen Allgemeinheit die Form aller möglichen Handelnsregeln enthält, zeigt sich dieser Zusammenhang als eine Einheit aller mannigfachen Inhalte. Schließlich ist auch der Prozeß der Klugheit, auch er ein Verfahren der Vernunft, prinzipiell dieser formalen Einheit einordenbar, wenn auch andererseits gerade die abstrakte Formalität des Einen, seine umfassende Allgemeinheit, die besondere Bestimmung im Hinblick auf besonderes Erscheinendes freigibt. Eine Gesetzesethik kann „Wissenschaft«, umfassend, konkret - ohne Beeinträchtigung der Einzelheit des Einzelfalles - und somit dem Gegenstande durchaus adäquat sein. Darüber hinaus tritt in ihr eine Seite des moralischen Phänomens hervor, die in einer Tugendethik weniger sichtbar ist, nämlich das Moment des Sollens und der Pflicht. Das Sittengesetz ist nicht das Erkennen der Vernunft:, sondern das Erkannte19 ; die Regel wird von der Vernunft nicht verfügt, sondern gefunden. Natürlich heißt das nicht, daß sich nun die Vernunft zu einem »idealen Bereich geltender Gesetzlichkeit« aufnehmend verhalte, sondern die Regel auch die oberste - ist das Resultat eines Erkennens, welches den menschlichen Akt auf seine Angemessenheit oder Unangemessenheit für den handelnden Menschen prüft, die wiederum vom Seinkönnen des bestimmten Wesens in einer bestimmten Welt ermöglicht wird 20 • Aber dieses Resultat sieht sich die Vernunft dann gegenüber, wozu nichts weiter erforderlich ist, als daß sie eben Vernunft ist, welche auf sich selbst, ihren Akt und das Ergebnis dieses Aktes zu reflektieren imstande ist. Der Akt als ganzer - einschließlich des Anteils, den die Vernunft als konkret regelnde, vorschreibende an ihm hat - kann wieder unter die höhere Regel fallen; der Mensch als Handelnder kann sich stets verstehen als 18 Vgl. 1-II, 94, 1: Das Naturgesetz ist „aJiquid per rationem constitutum, sicut etiam propositio est quoddam opus rationis.« Seine Gebote sind nicht der Habitus, sondern »sunt principia quorum est habitus.« 20 1-11, 94, 2: Die oberste Regel gründet sich auf das Ersterkannte der (schon aufs Wirken gerichteten) praktischen Vernunft, das Gute: dies aber ist schon als menschliches Gut erkannt: „ ... bonum est primum quod cadit in apprehensione practicae rationis, quae ordinatur ad opus ... Et ideo primum principium in ratione practica est quod fundatur supra rationem boni, quae est: bonum est quod omnia appetunt. Hoc est ergo primum praeceptum legis, quod bonum est faciendum et prosequendum, et malum vitandum. Et super hoc fundantur omnia alia praecepta legis naturae: ut scilicet omnia illa facienda vel vitanda pertineant ad praecepta legis naturae, quae ratio practica naturaliter apprehendit esse bona humana.„ - Vgl. auch vorherg. Anm.

Ethik als Tugendlehre

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unter dem Sittengesetz stehend, das ihm gegenüber, ihm vorgeordnet und übergeordnet ist. Das Handeln ist »gesollt«, es ist »Pflicht«; es ist dadurch, daß es sich unter ein Sollen begibt, das die Vernunft erkennt, sittliches Handeln. Freilich ergibt sich ein Begriff von »Pflicht« im strengen Sinne erst, wenn ich das Gebot als unbedingtes, als »kategorischen Imperativ« vorstelle. Unbedingt, unabhängig von allen besonderen Bedingungen, ist aber nicht einmal die allgemeine oberste Handelnsregel; denn sie ist, wenn sie im praktischen Syllogismus auf das je zu Tuende angewandt wird, immer durch den partikulären Untersatz, das heißt also durch Eingehen auf die Bedingtheit des Besonderen, vermittelt21 . Von einem unbedingten Sollen könnte nur die Rede sein, wenn die obersten Regeln, welche die praktische Vernunft als solche in ihrer ursprünglichen Verfassung bei sich hat, in ihrer Allgemeinheit gefaßt und belassen werden; als solche sind sie unveränderliche und unbedingte Prinzipien, die nicht verkannt werden können 22 • Sobald aber auf die Ebene der Schlußfolgerung, der konkreten Anwendung herabgestiegen wird, nimmt die Bedeutung eines Begriffes von Pflicht ab. Schaue ich gar auf die Möglichkeit, daß im konkreten Akt einer Tugend eine Vollkommenheit angeeignet werden kann, deren Fehlen nicht abträglich sein, sondern lediglich eine geringere Stufe von Vollkommenheit bedeuten würde, so wird der Begriff von Pflicht sinnlos, wiewohl eine Vernunftregel anwesend ist; die Kennzeichnung der Handlung als »gut« ist also nicht ersetzbar durch die des »Gesolltseins« 23 . Zwar könnte man auch hier, in eingeschränktem Sinne, noch von einem »Sollen« sprechen, sofern eine Vollkommenheit zur Verwirklichung aufgegeben ist; im Vordergrund steht aber der Gedanke, daß ein Seinkönnen zu einer Erfüllung offensteht und nicht, daß es ein »Gebot« zu erfüllen hat, dem die Strenge des Befehlens abgeht, das somit dem. Begriff eines Gebotes nicht eigentlich gleichkommt. Das Beispiel eines über jede »Pflicht« hinausragenden Aktes, der doch der am meisten »gute« ist und am eigentlichsten das Seinkönnen erfüllt, zeigt deutlich, daß der Pflichtbegriff überhaupt keine durchgreifende Bedeutung hat. Er ist tatsächlich in der thomistischen Ethik nirgendwo behandelt, ja man kann sich fragen, ob er in ihr nicht gänzlich zu entbehren ist. Der Begriff der »Obligation«, der von manchen Interpreten an seiner Stelle genannt wird, ist selbst kein tragender und auch nicht von solcher Strenge wie der Pflichtbegriff. In keiner Weise ist die thomistische Ethik eine „pflichtethikc24. 21 Vgl. Kap. 3, § 5-6. H

2a H

1-II, 94, 6. Vgl. 1-11, 108, 4 (zum Problem der evangelisdten Räte). Vgl. den Anm. 10, S. 110 zitierten Aufsatz von J. Tonneau, für den eine

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Dodi ist ein »Sollen« zweifellos zu den Grundbegriffen gehörig; seine Bedeutung reidit sogar über den Bereidi des Praktisdien hinaus, sofern es im Begriff des »Gesdiuldeten«, des bonum debitum oder der perfectio debita mitausgesprodien ist25. »Praktisdi« wird dieses Sollen sogleidi, wenn das Gesdiuldete ein Wirkbares, Tubares ist. Aber es ist nidit notwendig und streng an den Begriff des Gesetzes gebunden, wenn es auch in der Verbindung mit ihm am deutlidisten zum Ausdru