Theatralität der Existenz: Ethik und Ästhetik bei Christoph Schlingensief 9783839446669

The book is dedicated to the nexus of ethics and aesthetics in Schlingensief's work through his artistic exploratio

186 35 2MB

German Pages 344 Year 2019

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Theatralität der Existenz: Ethik und Ästhetik bei Christoph Schlingensief
 9783839446669

Table of contents :
Inhalt
Theatralität der Existenz
I. Ethik und Ästhetik im Zeichen der Avantgarden und Neoavantgarden
Einführung
Kunst und Künste
Kunst und Leben
II. Die Ethik der Theater-Aufführung
III. Der nomadische Film als ästhetisches Analogon des Lebens
IV. Die Relationalität der Künste im Paradigma der Oper und die ( historische ) Idee des Gesamtkunstwerks
V. Die Installation – ein Kunstraum der Existenz. Zum Zusammenwirken der Künste aus räumlicher Perspektive
Am Ende – Kunst und Existenz
Literatur
Danksagung

Citation preview

Sarah Ralfs Theatralität der Existenz

Theater  | Band 121

Sarah Ralfs ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin und studierte Theater- und Literaturwissenschaft in Berlin und Paris.

Sarah Ralfs

Theatralität der Existenz Ethik und Ästhetik bei Christoph Schlingensief

Zugleich Dissertation an der Freien Universität Berlin 2016. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein Der Text wurde gesetzt mit freundlicher Unterstützung der Frauenbeauftragten aus Gleichstellungsmitteln des Fachbereichs für Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Satz: Dicey Studios Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4666-5 PDF-ISBN 978-3-8394-4666-9 https://doi.org/10.14361/9783839446669 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt



Theatralität der Existenz | 9 Kurze künstlerische Arbeitsbiografie | 15 Negative Gattungsästhetik | 24

I. Im Zeichen der Avantgarden | 29





  Kunst und Künste  |  39

ATTA ATTA – Die Kunst ist ausgebrochen | 39 Der Ausbruch der Kunst auf dem Theater | 41 Zitieren als künstlerische Praxis | 46 Werk und Künstler | 50 Sich in der ( Kunst-)Welt verorten  | 52 Avantgarden und Faschismus | 58 Entgrenzung der Künste | 61 Ästhetische Medien | 64 Selbst- und Weltbeobachtung | 70 Theatralität und Publikum | 73

  Kunst und Leben  |  79 Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir | 79 »Fluxus-Oratorium«  |  87 Das Filmmaterial | 94 Der Hase als nomadischer Signifikant | 106 Zwischenresümee zur Stoff- und Motivanalyse | 114 ›Impersonaten‹ als appropriatorisches Readymade | 116 Niedere Mimesis | 118 Aufruf zur Autonomie | 120 Im Angesicht des Todes | 124 Die Krankheit als Readymade | 126

II.

Die Ethik der Theater-Aufführung | 133 Aufführung als Heilungsszenario | 143 Leibliche Ko-Präsenz | 146 Das Zeigen der Wunde | 148 Theater und Ritual | 150 Anerkennung und Verwundbarkeit | 153 Die (Krebs-)Krankheit als »das Fremde in mir« | 159 Die szenografische Praxis des Miteinanderseins | 162 Ästhetischer Widerstand | 174 Wunde der (Im)perfektion | 178 Theatralität des Todes | 184

III.

Der nomadische Film | 197 Inszenierungsformen des Films | 198 Triptychon des Lebens | 201 Zeugnis der Existenz | 204 Mediale Konstellationen der Berührung | 207 Noli me tangere | 210 Mechanische Apparaturen zwischen Leben und Tod | 216 Mein erster Film | 224 Film und Theater | 228 Werkentwicklung – Film auf der Bühne | 231

IV. V.

Im Paradigma der Oper | 237 Oper, Theater und andere Künste | 240 Parsifal und das Nebeneinander der Künste | 243 Das organische Kunstwerk | 248 Kunst und Gemüse, A. Hipler | 253 Das avantgardistische Kunstwerk | 257 Schönberg und das Nebeneinander in der Musik | 260 An-/organisches Leben in der Kunst | 263 Badious Wagner-Lektionen | 265 Mea Culpa. Eine »ReadyMadeOper« | 268 Konstellative Existenzen | 274

Die Installation | 277 Animatographen | 283 Raumkünste und Zeitkünste | 287 Lessing – Laokoon | 289 Negative Synästhesien | 294 O’Doherty – Die umgekehrte Räumlichkeit | 298 Rotierende Tableaus | 302 Sontag – Kunst des Radikalen Nebeneinanders | 305 Das posthume Display | 310

Am Ende – Kunst und Existenz | 319 Resümierend | 319 Erben | 321 Schließlich, Ethik | 325 Literatur | 327 Danksagung | 342

Theatralität der Existenz

Mit dem Tod am 21. 08. 2010 endet das künstlerische Schaffen Christoph Schlingensiefs. Eine Lungenkrebserkrankung, von der Schlingensief zu Beginn des Jahres 2008 erfährt, die hiermit verbundenen existenziellen Erfahrungen und die Konfrontation mit dem eigenen Lebensende prägen seine Arbeit bis zum Schluss.1 Während das Einfließen persönlicher Erfahrungen sowie aktueller gesellschaftlicher Situationen und Problemstellungen Schlingensiefs Kunst prinzipiell kennzeichnet, spitzt sich diese Dimension der Verarbeitung persönlicher Erfahrungen in seinem Spätwerk existenziell zu. Obwohl kritische Stimmen des Feuilletons diese öffentliche Auseinandersetzung mit Krankheit, Leid und Sterben als gezielte Mitleidserregung und Persönlichkeitskitsch, und damit als nichtkünstlerisch, zu diskreditieren suchten,2 so ist es doch gerade die Fülle und Komplexität an Kunst und Künsten sowie an kunstgeschichtlichen Referenzen und Traditionen, die Schlingensief hierfür mobilisiert und formalisiert, welche so bemerkenswert erscheinen. Der Zyklus von Arbeiten, die im Kontext von Schlingensiefs lebensbedrohlichen Krankheitserfahrungen entstehen, umfasst fünf Theater- bzw. Operninszenierungen, darunter das »Fluxus-Oratorium« Eine Kirche der Angst vor dem Fremden

1

2

Schlingensief, Christoph, So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein. Tagebuch einer Krebserkrankung, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2009, S.  13  ff. Siehe z. B.: Rossmann, Andreas, »Heile, heile, Angst« , Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. 09. 2008, S.  35; Kümmel, Peter, »Ihn brennt der Tod«, DIE ZEIT 40, 25. 09. 2008, ( http://www.zeit.de/2008/40/Ruhrtriennale?page=1; [15. 06. 2019 ]) ; Tholl, Egbert, »Alle sollen es wissen«, Süddeutsche Zeitung, 23. 09.  2008, ( https://www.sueddeutsche.de/kultur/ neue-schlingensief-auffuehrung-alle-sollen-es-wissen-1.696300 ; [15. 06. 2019] ).

10

Theatralität der Existenz

in mir  3, der Kammerabend Der Zwischenstand der Dinge 4, die »ReadyMadeOper« Mea Culpa 5, der aktionistisch durch( ge)zogene Theaterabend Unsterblichkeit kann töten. (Sterben Lernen ! Herr Andersen Stirbt in 60 Minuten )  6 und die Theateroper Via Intolleranza II  7 sowie zahlreiche Interviews, Texte, Auftritte und schließlich die Planung und Gründung eines Operndorfes bei Ouagadougou in Burkina Faso. Die Krebserkrankung vermag offenkundig Schlingensiefs ohnehin schon unermüdliche und ungemein ertragreiche künstlerische Produktionstätigkeit noch einmal zusätzlich zu motivieren und zu intensivieren. Der Faden des Lebens scheint für ihn am Faden der Produktion zu hängen. Dabei sprengen die Arbeiten auf unterschiedliche Weise tradierte Genre- und Gattungsgrenzen, wenn in ihnen verschiedene Künste und Medien ineinandergreifen. Dimensionen des Films, der Installation, des Theaters, der Fotografie, der Aktions-, Performance- und Videokunst, der bildenden Kunst und der Oper, aber auch des Rituals und der Messe überlagern und überschreiben sich wechselseitig und fügen sich so zu einem uneinheitlichen, situativen und medienspezifischen Kunsterfahrungsraum der Existenz . Hierbei korreliert, so meine These, die komplexe intermediale und transgressive Ästhetik dieser späten Arbeiten konstitutiv mit ihrem Gegenstand, der die Existenz, das Leben und Sterben, in den Mittelpunkt rückt. Im Angesicht des Todes und den damit verbundenen tiefsten existenziellen Erfahrungen, die hier zum Motiv der Kunst werden, spitzen sich grundlegende Konstellationen, die Schlingensiefs künstlerische Arbeit generell auszeichnen, zu und verdichten sich. Denn sie kennzeichnet, dass sie sich an dem Weltzusammenhang ausrichtet, den sie verhandelt und dabei zugleich den jeweiligen Kontext der Kunst, in dem sie sich ereignet, reflexiv bespielt wie experimentell ausweitet, sich selbst, mit anderen Worten, als Kunst Rechnung trägt. In der Auseinandersetzung mit Leben und Tod werden nun diese stets in seiner Arbeit präsenten Motive der Beziehungen der Künste, des Verhältnisses von Kunst und Nicht-Kunst, Kunst und Leben, Kunst und Umwelt sowie der Rolle des Künstlers darin auf elementare Weise dringend. Wenn sich die vorliegende Untersuchung der existenziellen Verschränkung von Kunst und Leben im Werk Christoph Schlingensiefs widmet, soll es dabei allerdings – entgegen einer allgemeinen Tendenz posthumer Rezeption von Schlingensiefs Werk – nicht darum gehen, eine uneingeschränkte Entgrenzungsbewegung zu

3

4 5 6 7

Uraufgeführt am 21.  September 2008 in der Gebläsehalle des Landschaftsparks DuisburgNord im Rahmen der Ruhrtriennale 2008. Uraufführung am 13. 11. 2008 am Maxim Gorki Theater Berlin. Uraufführung am 20. 03.  2009 am Burgtheater Wien. Uraufführung am 04. 12.  2009 am Theater am Neumarkt Zürich. Uraufgeführt am 15.  05.  2010 beim Kunstenfestivaldesarts Brüssel.

Einleitung

beschwören, in der die Kunst mit dem Leben gleichgesetzt, das eine in dem anderen aufgelöst und schließlich als Unterscheidung zum Verschwinden gebracht würde. Es geht vielmehr darum aufzuzeigen, welche Rolle die Kunst und die Künste als vom Leben unterschiedene, entlang anderer Logiken, Strukturen und Dynamiken funktionierende »soziale Systeme«8 in der künstlerischen Auseinandersetzung mit Leben und Sterben spielen und was sie hierüber als Kunst und in der Kunst zur Erfahrung zu bringen vermögen. So möchte ich hier die These starkmachen, dass der versierte Umgang mit dem spezifischen Vermögen von Kunst und Künsten gerade wegen aller Entgrenzungsbestrebungen das wesentliche Signum und Funktionsprinzip von Schlingensiefs Arbeiten ist. Obzwar in seinem Werk Kunst und Künstler aufs Engste miteinander verwoben sind, kann es dennoch nicht darum gehen, die privaten und persönlichen Hintergründe Schlingensiefs rekonstruieren zu wollen, zumal das letztlich nur ein spekulatives Unterfangen bliebe. Der Rückschluss auf Schlingensiefs Person soll sich hier allein auf seine Erscheinungsweisen, Rollen und Funktionen in seinen Arbeiten selbst beschränken und ist damit nicht von formalen, kunstanalytischen und diskursiven Phänomenen und Fragen loszulösen. Zudem geht es in dieser Untersuchung weder in erster Linie um eine Materialsammlung noch um einen primär rekonstruktiven oder gar positivistischen Bezug auf die einzelnen Arbeiten, und noch weniger auf die Biographie oder die persönlichen Beweggründe des Künstlers. Vielmehr zielt die von mir gewählte theater- und kunstwissenschaftliche Herangehensweise an Schlingensiefs Werk auf eine analytische Diskursivierung, welche dem enormen Referenzierungs- und Reflexionsvermögen dieser Kunst – Diedrich Diederichsen spricht von einer »Diskursverknappungsbekämpfung« 9 als ihrem grundlegenden Movens – nachgeht und deren Konsequenzen aufzeigt. Schließlich provozieren Schlingensiefs Arbeiten auf produktions- wie rezeptionsästhetischer Ebene neue Antworten auf die alte Frage nach dem Verhältnis von Subjektivität und Ästhetik, Kunst und Gesellschaft, deren Vielschichtigkeit, Diskursivität, aber auch Traditionsbezogenheit bislang zu wenig gesehen und untersucht wurden.10

8

9

10

Vgl. zum Begriff Luhmann, Niklas, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. : Suhrkamp, 1997. Diederichsen, Diedrich, »Diskursverknappungsbekämpfung und negatives Gesamtkunstwerk: Christoph Schlingensief und seine Musik«, in: Janke, Pia / Kovacs, Teresa ( Hg.), Der Gesamtkünstler Christoph Schlingensief, Wien: Praesens, 2011, S.  60 ‒ 68. Wenngleich zu konstatieren ist, dass die Schlingensief-Forschung posthum enorm angestiegen ist und viele Themenkomplexe und Werkzusammenhänge sukzessive aufgearbeitet werden. Siehe z. B. Forrest, Tara /  Scheer, Anna Teresa ( Hg.), Christoph Schlingensief. Art without Borders, Bristol / Chicago: intellect, 2010 ; Janke, Pia / Kovacs, Teresa ( Hg.), Der

11

12

Theatralität der Existenz

Von Anbeginn seines künstlerischen Schaffens ist Schlingensief in seinen Arbeiten selbst aufgetreten. Er ist nicht nur als abwesender Kreateur und Arrangeur zu einem zentralen Konstituens seiner Kunst geworden. Vielmehr hat er sich selbst in seinen Arbeiten ausgesetzt und damit objektivierbar gemacht, sie in ihrem Vollzug beeinflusst, gestört, zerstört und unterbrochen; er hat sie auf exponierte Weise in den Situationen ihres Sich-Ereignens immer wieder aufs Neue geöffnet, verändert, kommentiert und umgelenkt. Als Schlingensief 2008 die Lungenkrebsdiagnose erhält, bricht er die seine Arbeit kennzeichnende Selbstthematisierung und Selbstaussetzung als Ausgangspunkt seiner ästhetischen Operationen nicht einfach ab, sondern setzt sie, wenngleich unter veränderten Vorzeichen, fort. Über die Ästhetik seiner Arbeiten zu sprechen, heißt notwendig auch, über die Gestalt Christoph Schlingensiefs in seinen Arbeiten, über die Formen, Poetiken und Funktionsweisen seines Auftretens zu sprechen. Dies gilt umso mehr, als im Phänomen seiner Anwesenheit, seiner präsentischen Rolle und Funktion und schließlich auch in seiner Abwesenheit ein zentrales ethisches Moment der von ihm und seinem Team entwickelten Ästhetik begründet liegt, um die es hier im Folgenden gehen soll. Auf beispiellose Weise, so möchte ich behaupten, reflektiert Christoph Schlingensief in seiner Kunst die Differenzen und Spezifika von Kunst und Künsten, und zwar gerade in seinen öffnenden, transgressiven Impulsen, in seinen künstlerischen Einlassungen auf Leben und Sterben. Dabei ist der Bezug auf die historischen Avantgarden und die Neoavantgarden für Schlingensiefs Arbeit wesentlich, und dies gilt besonders für ihre Transgressionen zwischen Kunst und Leben wie zwischen Kunst und Künsten. Während die Avantgarden, rezeptionsgemäß, ihrerseits von der kategorialen Grenzüberschreitung, von der Einlassung der Kunst auf das Leben träumten, geht es hier nun gerade darum aufzuzeigen, wie Schlingensief von

Gesamtkünstler Christoph Schlingensief, Wien: Praesens, 2011; Knapp, Lore, Formen des Kunstreligiösen. Peter Handke – Christoph Schlingensief, München: Fink, 2015; Seeßlen, Georg, Der Filmemacher Christoph Schlingensief, Berlin: getidan, 2015; Zorn, Johanna, Sterben lernen. Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes, Tübingen: Narr Francke Attempto ( Forum modernes Theater ), 2017; Knapp, Lore / Lindholm, Sven / Pogoda, Sarah ( Hg.), Christoph Schlingensief und die Avantgarde, Paderborn: Fink, 2019. Zu dieser Aufarbeitung und Forschung soll diese Studie einen Beitrag leisten.

Einleitung

ihnen herleitet, in welcher Weise die Spezifika von Kunst und Künsten11 reflektiert werden müssen, um diese öffnen, ausweiten und verändern zu können. Um die Dialektik von Neuerung und Kontinuität sowie das Verhältnis von Entgrenzung und Differenzierung in Schlingensiefs Arbeit freilegen zu können, soll im Folgenden das Spätwerk als deren Kristallisationspunkt untersucht werden, weil hier die Verflechtung von Kunst und Leben und gleichzeitig die Verdichtung von Kunst und Künsten kulminieren. Dabei gilt es zu analysieren, was Schlingensief in der künstlerischen Auseinandersetzung mit seinen lebensbedrohlichen Krankheitserfahrungen über die Existenz, das Leben und das Sterben, das Dasein und den Tod, zur Erfahrung zu bringen vermag, wie sie perspektiviert sowie kontextualisiert und welche gesellschaftlichen Tabus und Diskursordnungen dabei tangiert werden. Im Kern steht dabei die Frage, welches Fassungs- und Ausdrucksvermögen der menschlichen Existenz die Kunst und die Künste in ihrem spezifisch gestalteten Zusammenwirken in Schlingensiefs Arbeit erlangen. Mit der Beantwortung dieser Fragen lässt sich freilich nicht annähernd alles klären, was das Werk Christoph Schlingensiefs an Themen und Problemstellungen aufzuwerfen vermag. Vielmehr erfordern Vielfältigkeit, Heterogenität und Komplexität des Werkes für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihm einen selektiven Zugang, der in diesem Fall an der Analyse des Zusammenhangs von Ethik und Ästhetik12 ausgerichtet ist. Entscheidend dabei ist, welche Fragen und Dimensionen des Zusammenseins und -lebens sowie der wechselseitigen Verantwortung in den Arbeiten bedeutsam werden, welche philosophisch-ethischen Diskurse sie dabei berühren und an welche rezeptions- und produktionsästhetischen Parameter sie gebunden werden. Gezeigt werden soll sowohl, wie die Arbeiten hinsichtlich des Verhältnisses von Ethik und Ästhetik an andere künstlerische Praktiken anschließen, als auch, wie sie in der Konfrontation mit diesbezüglichen kunst- und sozialtheoretischen Diskursen weiterzudenken sind und in ihren visionären Konsequenzen ernstgenommen werden sollten. Denn die Untersuchung des Zusammenhangs von Ethik und Ästhetik in Christoph Schlingensiefs (späten) Arbeiten berührt schließlich die Frage, wie wir im Leben und im Sterben mitein-­

11

12

Siehe zum Verhältnis von Künsten insbesondere bei den Avantgarden und Neoavantgarden: Adorno, Theodor W. , »Die Kunst und die Künste«, in : Ders., »Ob sich nach Auschwitz noch leben lasse«. Ein philosophisches Lesebuch, Frankfurt a. M. : Suhrkamp, 1997, S.  411‒  433. Außerdem zu den Begriffen Ullrich, Wolfgang, »Kunst / Künste / System der Künste«, in: Barck, Karlheinz (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Stuttgart / Weimar : Metzler, 2000, S.  556 ‒  616. Zum Verhältnis der Begriffe des Lebens und der Ästhetik aus historischer Perspektive siehe: Avanessian, Armen / Menninghaus, Winfried / Völker, Jan ( Hg.), Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, Berlin / Zürich, 2009.

13

14

Theatralität der Existenz

ander verbunden sind und welche Möglichkeiten die Kunst hat, diese Beziehungsförmigkeiten als grundlegendes Gewebe unserer Existenz auszuloten und zur Wahrnehmung zu bringen. Das Spätwerk Christoph Schlingensiefs möchte ich keineswegs isoliert von oder als Bruch mit seinem übrigen Werk begreifen, im Gegenteil. Wenn es im Folgenden um die Untersuchung der skizzierten Fragen und Zusammenhänge anhand des Spätwerks geht, soll dabei immer wieder auf vorangegangene Entwicklungen und grundlegende Phänomene in Schlingensiefs Werk Bezug genommen werden. Dies erscheint nicht zuletzt auch deswegen geboten, weil Schlingensiefs Werkentwicklung bei allen Variationen und institutionellen wie formalen Modifikationen, ja ihrer »nomadischen« Bewegung , wie Georg Seeßlen sie bezeichnet,13 durch rekursive Schleifen und systematische Kontinuitäten im Hinblick auf die oben geschilderten ethisch-ästhetischen Beziehungsförmigkeiten gekennzeichnet ist. Die methodisch begründete Entscheidung für eine exemplarische Studie, anhand derer die eingeführten Zusammenhänge und Fragen untersucht werden können, erscheint aus heuristischen Gründen erforderlich, weil das Werk zudem zu umfangreich, vielschichtig und heterogen ist, um es im Rahmen einer einzelnen Studie als Ganzes untersuchen zu können. Trotzdem möchte ich von der Analyse und Diskussion von Schlingensiefs späten Arbeiten und den Phänomenen, Themen und Fragen, die sie aufwerfen, immer wieder Rückschlüsse auf frühere Arbeiten und Arbeitsweisen ziehen. Hierbei soll eine Entwicklung in der Werkgeschichte Christoph Schlingensiefs aufgezeigt und untersucht werden, die an bestimmte paradigmatische künstlerische Praktiken des 20. und frühen 21.  Jahrhunderts sowie an einen hierin sich begründenden Begriff von Kunst anschließt. Auf diese Weise werden die Arbeiten Christoph Schlingensiefs in unterschiedliche theoretische, systematische und prinzipielle Debatten der Kunst- und Theaterwissenschaft eingetragen und anhand ihrer Analyse neue Perspektiven auf das Verhältnis von Ethik und Ästhetik in der Gegenwartskunst und dem postdramatischen Theater entwickelt sowie der Zusammenhang zwischen der Entgrenzung der Künste und bestimmten ethischen, subjekt- und gemeinschaftstheoretischen Fragen beleuchtet. Wenn man, wie einschlägige zeitgenössische Kunsttheorien dies tun,14 zudem davon ausgeht, dass Kunst einen gesellschaftlichen Bereich bildet, der Erfahrungen strukturiert, die sich qualitativ von allen übrigen unterscheiden, und darin die

13

14

Seeßlen, Georg, »Radikale Kunst. Schlingensiefs Ästhetik der Öffnung«, in: Janke / Kovacs ( Hg.), Der Gesamtkünstler, a.  a. O., S.  76 ‒ 87, 76. Vgl. exemplarisch Rebentisch, Ästhetik der Installation, a.  a. O.; Dies., Theorien der Gegenwartskunst. Zur Einführung, Hamburg : Junius, 2013; Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, a.  a.  O., 1995; Menke, Christoph, Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, Frankfurt a.  M. : Suhrkamp, 1988.

Einleitung

Strukturierung und Prägung von Selbst- und Welterfahrung durch andere gesellschaftliche Teilbereiche wahrnehmbar, reflektierbar und damit auch veränderbar macht, scheint es umso unerlässlicher, die Frage nach der Gestaltung derartiger Erfahrungen in Schlingensiefs Kunst zu stellen, danach, wie er Welt- und Selbsterfahrung inszeniert und reflektiert, wie er sich in seiner Kunst auf Welt bezieht und was er darin schließlich über sie und uns zur Erfahrung bringt. Um das vorgestellte Programm adäquat untersuchen zu können, möchte ich zunächst einen kurzen und skizzenhaften Überblick über Schlingensiefs Arbeit geben, um die nachfolgenden Einzel- und Detailanalysen daran anschließen zu können. Hieran anknüpfend werde ich einige Überlegungen zu Schlingensiefs grundsätzlichem Gattungsbezug (vor)anstellen, die für die weiteren Gattungsanalysen entscheidend sind. Den Kunst-, Medien- und Gattungsbezügen in Schlingensiefs Arbeit entspricht heuristisch die nachfolgende Kapitelgliederung. Entlang der Genealogien des Theaters, der Oper, des Films, der bildenden Kunst und der Installation in Schlingensiefs Werk werden so dessen Visionen einer ästhetischen Erfahrung des Miteinanderseins im Theater der Existenz beleuchtet. Kurze künstlerische Arbeitsbiografie Seine künstlerische Arbeit beginnt Christoph Schlingensief zunächst als Filmemacher. Bereits in den 1960er Jahren, noch im Kindesalter, produziert er seine ersten Kurzfilme und Filmfragmente.15  In der hier zu beobachtenden Verquickung der unterschiedlichen Erzähl-, Darstellungs- und Kommunikationsverfahren des gerade als Massenmedium etablierten Fernsehens der 1960er Jahre – vom Verkaufsfernsehen, über die Quizshow hin zum Kriminalfilm – zeichnet sich bereits in diesen frühen Kinderfilmen der Versuch ab, die Möglichkeiten des Mediums Film auszuloten. Dabei wird aufgrund der sich durch seine gesamte Arbeit ziehenden permanenten Adressierung des Publikums sowie des Markierens und Bespielens der technischen Mittel und Mängel das Dispositiv des klassischen ( Kino-)Erzählfilms, das beide quasi unsichtbar und damit unmarkiert hält, angespielt wie attackiert.16

15 16

Sie liegen heute im Rahmen seiner filmischen Gesamtausgabe der Filmgalerie 451 vor. Dies lässt sich besonders gut an Schlingensiefs ersten Film, der den gleichnamigen Titel, Mein erster Film (1968 ), trägt und aus drei Teilen, »Eine kleine Kriminalgeschichte«, »Kurzer Dreh mit Christoph Schlingensief« und »Allerlei Sachen« zusammengesetzt ist. Eine ausführliche Filmografie findet sich in Janke / Kovacs ( Hg.), Der Gesamtkünstler, a.  a. O., S.  69 ff.

15

16

Kurze künstlerische Arbeitsbiografie

Vielleicht wird Schlingensief auch aus diesen Gründen nicht an der Filmhochschule angenommen, wo er sich 1980 bewirbt – eine Anekdote, die er bis zu seinem Lebensende immer wieder aufgerollt hat 17 –  , eben weil er die jeweils geltenden Konventionen von Anfang an nicht bedient, aber als solche aus- wie zur Disposition stellt und dabei alle möglichen Genres, Gattungen und filmischen Praktiken miteinander verquickt, mithin entgrenzend operiert. »Jeder Film von Christoph Schlingensief «, schreibt Seeßlen, »ist Film und Antifilm zugleich.« 18 Und Diedrich Diederichsen führt aus : »Es gibt schon in den frühesten Filmen eine mit großer Ernsthaftigkeit betriebene Arbeit an der Kinematographie – das Licht spielt verrückt, der überblickende Aussichtsposten wird verweigert – und am Stoff : Liebe zu Extremisten, großen Themen und persönlichen Obsessionen.« 19 Geprägt von unterschiedlichen Einflüssen, von der 8mm-Film-Praxis seines Vaters über die Fernsehunterhaltung daheim zum Neuen Deutschen Film,20 der in seiner Geburtsstadt Oberhausen ausgerufen wurde und hier mit den Kurzfilmtagen einen wichtigen Schauplatz hatte 21, aber auch von seinen Kinoerfahrungen des sich in der Blütezeit befindenden europäischen Autorenfilms und schließlich durch seine Arbeit als Assistent des Experimentalfilmers Werner Nekes, erarbeitet Schlingensief im Verlauf der 1980er und 90er Jahre eine Filmografie, die zahlreiche Langfilme sowie mehr als 20 Kurzfilme umfasst. Hierin verwebt er diese unterschiedlichen Einflüsse beständig miteinander, bringt sie in immer wieder neue Beziehungen zueinander, ist wiederholt versucht, sie sämtlich zu verwerfen, und sucht dabei verspielt wie verzweifelt nach neuen Möglichkeiten der filmischen Welterfassung. Mit seiner Deutschlandtrilogie 100 Jahre Adolf Hitler. Die letzte Stunde im Führerbunker (1988 / 89 ), Das deutsche Kettensägenmassaker (1990 ) und Terror 2000. Intensivstation Deutschland (1992) beginnt Schlingensief sich mit der deutschen

17

18

19

20

21

Und die sich z.  B. in seinem posthum veröffentlichten Buch Ich weiß, ich war’s, hg.  v. Aino Laberenz, Köln : Kiepenheuer & Witsch, 2012, S.  208  ff. nachlesen lässt. Seeßlen, Georg, »Radikale Kunst. Schlingensiefs Ästhetik der Öffnung« , in: Janke /  Kovacs ( Hg.), Der Gesamtkünstler, a.  a. O., S.  76 ‒ 87, S.  87. Diederichsen, Diedrich, »Diskursverknappungsbekämpfung und negatives Gesamtkunstwerk. Christoph Schlingensief und seine Musik«, in : Janke /  Kovacs ( Hg.), Der Gesamtkünstler, a.  a. O., S.  60  ‒ 76, S.  62 . Zu Schlingensiefs Filmen im Zeichen der Film-Avantgarden: Langston, Richard, »Schlin­ gensief ’s Peep Show : Postcinematic Spectacles and the Public Space of History« , in : Halle, Randall / Steingröver, Reinhild ( Hg.), After the Avant-Garde. Contemporary German and Austrian Experimental Film, Rochester / New York : Camden, 2008, S.  204 ‒ 224. Siehe hierzu Eue, Ralph / Gass, Lars Henrik ( Hg.), Provokationen der Wirklichkeit. Das Oberhausener Manifest und die Folgen, München: text + kritik, 2012.

Einleitung

Geschichte des 20.  Jahrhunderts, insbesondere dem Nationalsozialismus, Nachkriegsdeutschland, der 68er-Bewegung und der deutschen Wiedervereinigung, zu beschäftigen und stört und zerstört dabei mithilfe des geschilderten Formen- und Praktikenkonglomerats im Medium des Films die tradierten Bilder und Selbstbilder deutscher Geschichtsschreibung. Zunehmend haben es Schlingensiefs Filme schwerer, finanziert zu werden, kaum ein Film findet noch einen Verleih, der ihn in die Kinos bringt, und nur wenige laufen auf Festivals, wo sie allerdings, wenn sie dann doch laufen, für Aufsehen und Kontroversen bis hin zu massiver Ablehnung sorgen. Nach Terror 2000 erklärt sich erstmal kein Sender und keine Filmförderanstalt mehr zur KoProduktion bereit. Allerdings sorgt in dieser blockierten Situation der damalige Chefdramaturg der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Matthias Lilienthal, für einen produktiven Anschluss, indem er Schlingensief an dem von Frank Castorf geleiteten Haus engagiert. Auf der Theaterbühne setzt Schlingensief seine künstlerische Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte fort : Seine erste Theaterarbeit an der Volksbühne, 100 Jahre CDU. Spiel ohne Grenzen  22, ist gewissermaßen noch als eine »Art Dramatisierung von Terror 2000« 23 angelegt. Im Theater wie im Film verknüpft Schlingensief die geschichtlichen Themen und Fragen mit anderen aktuellen Ereignissen und tagespolitischem Geschehen, reflektiert und bearbeitet sie dabei zugleich als ästhetische Fragen, Themen und Politiken. Jede gesellschaftliche Frage ist bei ihm auch eine ästhetische und vice versa. Denn jede Mikroideologie hat mit ihr korrelierende Ästhetiken und trifft ästhetische Entscheidungen. Diese Zusammenhänge im Rahmen der Kunst auszustellen und aufzuzeigen, sie auf neue und ungekannte Weise zu rekombinieren, ihre radikale (De-)Montage und ein spielwütiger Eklektizismus kennzeichnen Schlingensiefs künstlerischen Weltzugriff. So entdeckt er für die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts auf dem Theater die historischen Avantgarden sowie insbesondere die Neoavantgarden der 1960er und 70er Jahre, um die Mittel und Möglichkeiten des Theaters jenseits der dramatischen Repräsentationslogik neu auszuloten, die er gleichwohl als Hintergrundfolie immer wieder zu bespielen versteht. Unter teilweise exzessiver wie expliziter Bezugnahme auf jene historischen Vorläufer *innen in den Entgrenzungsbewegungen der Kunst und der Künste verlässt Schlingensief rasch den Theaterraum, wenngleich er immer wieder dorthin zurückkehrt.

22 23

Uraufgeführt am 23. 04. 1993 an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin. Lilienthal, Matthias, »›Der Provokateur‹. Gespräch mit Stefanie Carp, Matthias Lilienthal, Armin Thurner, moderiert von Pia Janke und Teresa Kovacs«, in : Janke / Kovacs (Hg.), Der Gesamtkünstler, a.  a. O., S.  472 ‒  484, S.  472 .

17

18

Kurze künstlerische Arbeitsbiografie

1997 weitet er am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg zum ersten Mal eine Theaterproduktion unter dem Titel Passion Impossible ! 7 Tage Notruf für Deutschland – Eine Bahnhofsmission 24 zu einer mehrtägigen Aktion im öffentlichen Raum aus. Im anliegenden Hamburger Bahnhofsviertel, in einer dem Schauspielhaus benachbarten, leerstehenden Polizeistation, errichten Schlingensief und sein Team eine Bahnhofsmission, in der Obdachlose Essen erhalten und wo Diskussionen über das Verhältnis von Theater, Stadt, Kunst und sozialem Engagement mit ihnen, den Zuschauer *innen und anderen Bürger *innen, die sich der Gruppierung anschließen, veranstaltet werden. Hierzu erscheint gar der damalige (designierte) Hamburger Bürgermeister Ortwin Runde ( SPD ), nachdem das nach wenigen Tagen bereits für einige Aufmerksamkeit sorgende Projekt mit zahlreichenTeilnehmer*innen vor den Toren des Hamburger Rathauses Gehör und Einlass gefordert hat. Schlingensief hält selbst als Priester verkleidet zusammen mit dem Schauspieler Bernhard Schütz sowie allen anderen, die der Bahnhofsmission bereits beigetreten sind und neu dazukommen, einen Gottesdienst auf dem Bahnhofsplatz ab. Hier wird Lyotards Kapitalismuskritik verlesen, in einem über Lautsprecher verstärkten, frenetischen Chor (»Das Leben !«) ekstatisch aufgelöst und in einen realen Kirchenraum überführt, in dem eine drogensüchtige, obdachlose Frau von dem Drogentod ihrer Freundin vor einigen Tagen berichtet. Im selben Jahr wird er für den bereits in vorherigen Arbeiten wiederholt verwendeten Slogan »Tötet Helmut Kohl«, den er und sein Team im Rahmen der mehrtägigen Aktion Mein Filz, mein Fett, mein Hase – 48 Stunden Überleben für Deutschland (1997 ) auf der documenta X in Kassel skandieren, kurzfristig verhaftet. Ein Jahr später, 1998, initiiert er die Wahlkampfaktion Chance 2000 – Partei der letzten Chance, in der er und sein künstlerisches Team eine Partei gründen und zahlreiche Einzelaktionen veranstalten, in denen Szenarien des Wahlkampfs im Medium der Kunst mit theatralen inszenatorischen sowie medienreflexiven Strategien durchgespielt und zur Disposition gestellt werden.25  Mit Slogans wie »Du bist deine Chance«, »Wähle dich selbst« und »Scheitern als Chance« versucht Schlingensief, in der Tradition und unter Berufung auf Joseph Beuys, die Ohnmächtigen, Unsichtbaren, Unterrepräsentierten und durch stigmatisierende Vorurteile Bevormundeten mit den Mitteln der Kunst zu Sichtbarmachung , Selbstgestaltung und Selbstermächtigung zu ermuntern, während die Grenzen von Kunst und Politik gleichermaßen verschoben wie reflexiv intensiviert werden. Als Höhepunkt von

24

25

Siehe zu dieser Aktion weiter: Lochte, Julia / Wilfried Schulz ( Hg.), Schlingensief   ! Notruf für Deutschland. Über die Mission, das Theater und die Welt des Christoph Schlingensief, Hamburg: Rotbuch-Verlag, 1998. Siehe zu dieser Aktion weiterführend: Schlingensief, Christoph / Hegemann, Carl ( Hg.), Chance 2000 – Wähle Dich selbst, Köln : Kiepenheuer und Witsch, 1998a.

Einleitung

Chance 2000  wird immer wieder die Aktion Baden im Wolfgangsee ( 02. 08. 1998 ) herausgehoben, für die Schlingensief »6 Millionen Arbeitslose« auffordert, im österreichischen Wolfgangsee baden zu gehen, um das hier gelegene Ferienhaus des damaligen Bundeskanzler der BRD, Helmuth Kohl, zu überfluten.26 Mit der Container-Aktion Bitte liebt Österreich – Erste Österreichische Koalitionswoche ( 09.  ‒16.  06.  2000 ) im Rahmen der Wiener Festwochen avanciert Schlingensief endgültig zum ›genialen Politaktionskünstler‹ im deutschsprachigen Raum, als er nach dem Wahlerfolg der rechtspopulistischen FPÖ ( Freiheitliche Partei Österreichs) und der Koalition der ÖVP ( Österreichische Volkspartei ) mit der FPÖ einen Container in der Wiener Innenstadt errichtet, in dem in Österreich Asylsuchende einquartiert werden. Diese werden, wie es die zu jener Zeit populäre Privatfernsehshow »Big Brother« vormacht, Tag und Nacht von Videokameras gefilmt und ihre Bilder im Internet über die Website Webfreetv verbreitet. Via TedTelefon oder Mausklick kann die österreichische Bevölkerung diejenigen aus dem Container herauswählen, die dann ›offiziell‹ abgeschoben werden.27  Schlingensief entwirft hier ein vielschichtiges multimediales Szenario, in dem die Propaganda der Politik und ihrer Medien künstlerisch real werden. »Man muss real werden lassen, was Politiker propagieren, das heißt, man muss öffentliche Filmstudios aufbauen und behaupten, das sei jetzt echt. Das war die Grundidee: Wir nehmen Haider-Sätze und spielen die durch. Wir bauen ein Theater auf, das endlich nichts mehr vorspielt, sondern die Dinge durchspielt«, schreibt Schlingensief selbst zu diesem Verfahren.28 In den 1990er Jahren entdeckt Schlingensief auch das Fernsehen von Neuem für seine künstlerische Praxis. 1997 veranstaltet er in der Kantine der Volksbühne eine achtteilige Talkshow mit dem Titel Talk 2000, die über das Kulturfenster Kanal 4 auf RTL und Sat1 sowie vom ORF ausgestrahlt wird. Unter dem Slogan »Jeder kann in Deutschland Talkmaster werden« bricht er tradierte Formen medialer Selbstrepräsentation auf, indem er sie als solche zur Wahrnehmung bringt und durch seine eigene Präsenz wie durch den Einsatz weniger bekannter Talkgäste aus der Subkulturszene, Freund*innen und Kolleg*innen, die hier auf große Stars des Talk- und Showgeschäfts, wie Harald Schmidt oder Hildegard Knef, treffen, alternative Möglichkeiten der öffentlichen Kommunikation, der Selbst- und

26

27

28

Siehe hierzu auch Schlingensiefs eigene Schilderung der Aktion in: Schlingensief, Ich weiß, ich war’s, a.  a. O., S.  57 ‒ 74. Siehe zu dieser Aktion ausführlich: Lilienthal, Matthias / Philipp, Claus ( Hg.), Schlingensiefs »Ausländer Raus! Bitte liebt Österreich«, Frankfurt a.  M. : Suhrkamp, 2000. Focke, Ann-Christin, Unterwerfung und Widerstreit. Strukturen einer neuen politischen Theaterästhetik, München : Utz, 2011. Schlingensief, Ich weiß, ich war’s, a.  a. O., S.  95.

19

20

Kurze künstlerische Arbeitsbiografie

Weltdarstellung aufblitzen lässt und Störungen des Gewohnten, Erwartbaren und Kalkuliertem evoziert.29  Es folgen weitere TV-Shows, darunter etwa die mit dem Musiksender MTV produzierte Sendung U3000 ( 2000 ), die sich in der Berliner U-Bahn ereignet, oder die Castingshow Freakstars 3000 ( 2002 ), die Schlingensief zusammen mit dem Musik-TV-Sender Viva und der Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz mit Bewohner *innen des Thiele-Winkler-Hauses in Berlin, einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung, veranstaltet.30  Gleichzeitig finden TV-Formate sichtlich Eingang in seine Theaterarbeiten und Aktionen, etwa wenn er in der Volksbühnenproduktion Quiz 3000 – Du bist die Katastrophe31 eine Quizshow auf die Bühne bringt.32  Zu dieser Wechselbeziehung notieren Evelyn Deutsch-Schreiner und Katharina Pewny : »Seine Talkshow Talk 2000 war Kult, und die typische Talkshowsituation war ein dramaturgisches Element in vielen seiner Aktionen und Inszenierungen.« 33 Bereits früh beginnt Schlingensief in seinen Bühnenarbeiten immer wieder Elemente der Oper einzuarbeiten, wobei eine Konstante in dieser zunächst nicht als Oper ausgewiesenen Beschäftigung mit der Oper die Auseinandersetzung mit dem Werk Richard Wagners ist.34  2004 erreicht diese Wagner-Beziehung einen vorläufigen Höhepunkt, als Schlingensief in Bayreuth das »Bühnenweihfestspiel«

29

30

31 32

33

34

Siehe hierzu weiter: Schlingensief, Christoph, Talk 2000, Wien / München : Deuticke, 1998b. Kroß, Kati, »Christoph Schlingensief ’s Freakstars 3000 : ›…  Consistently Abused and Forced to Portray Disability !‹« , in: Umathum, Sandra /  Wihstutz, Benjamin ( Hg.), Disabled Theater, Berlin / Zürich: diaphanes, 2015, S.  167 ‒185. 15. ‒16. 03. 2002 Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin Siehe zu dieser Arbeit Forrest, Tara, »From Information to Experience. Christoph Schlin­ gensief ’s Quiz 3000 «, in: Tara / Scheer, Anna Teresa ( Hg.), Christoph Schlingensief. Art without Borders, Bristol / Chicago: intellect, 2010, S.  194 ‒ 212. Deutsch-Schreiner, Evelyn / Pewny, Katharina, »›Avant-garde! Marmelade! Avant-garde! Marmelade!‹ Schlingensief und seine Verortung in den Avantgarden«, in: Janke / Kovacs ( Hg.), Der Gesamtkünstler, a.  a. O., S.  236 ‒ 250, S.  245. So hat Schlingensief 2001 eine Schlacht um die Oper (16. ‒17. 02. 2001) an der Volksbühne veranstaltet, in der klassische Opernthemen und -stoffe anhand 40 verschiedener Opern bearbeitet wurden. Siehe hierzu http://www.schlingensief.com/projekt.php?id=t035 . Außerdem hat er 2004 eine Wagner-Rallye im Rahmen der Ruhrfestspiele durch das Ruhrgebiet veranstaltet, bei der die Städte Recklinghausen, Bochum, Castrop-Rauxel, Dortmund, Gelsenkirchen, Gladbeck, Bottrop, Mülheim / Ruhr, Essen, Herne und Oberhausen angesteuert wurden, mit Autos auf deren Dächern Lautsprecher angebracht waren, aus denen Wagner-Musik schallte. Siehe zu dieser Aktion http://www.schlingensief.com/projekt. php?id=t043 ; [ 09. 03. 2019 ].

Einleitung

Parsifal  35 inszeniert. In seinen darauffolgenden Bühnenarbeiten, die sich nun wieder wesentlich auf dem Theater ereignen, insbesondere in Kunst und Gemüse, A. Hipler  36, aber auch in seinen letzten Arbeiten wie der »ReadyMadeOper« Mea Culpa, spielen diese Erfahrungen ebenso wie einzelne Teile und Passagen aus der Inszenierung eine maßgebliche Rolle.37 Durch die Bayreuther Parsifal-Inszenierung erreichen Schlingensiefs Arbeiten einen neuen Verdichtungsgrad an Multimedialität und Simultanität, die sich bereits in einer Vorarbeit zu Parsifal, als die sich die Inszenierung Attabambi-Pornoland – Die Reise durchs Schwein  38 auffassen lässt, abzeichnen. Ein hier zu beobachtender, zunehmend installativer Charakter der Bühnenarrangements mündet in die ›Verselbständigung‹ der installativen Form in den folgenden Animatographen ( Reykjavik, Lüderitz, Neuhardenberg 2005 )39, welche als multimediale Installationen außerhalb von Theaterräumen, in Parks und Landschaften, aber auch in Galerieräumen errichtet werden und die noch szenisch bespielt werden können, aber nicht mehr müssen. Diese kleine arbeitsbiografische Skizze Christoph Schlingensiefs zeichnet lediglich die Umrisse seiner künstlerischen Laufbahn nach. Zwischendrin hat er kleinere und größere Aktionen in den unterschiedlichen Institutionen der Kunst und der Künste und aus ihnen herausführend veranstaltet, hat er Texte geschrieben, Hörspiele 40 produziert, in mehr als 15 Theaterinszenierungen Regie geführt, zudem zahlreiche Theater- und Opernaktionen41 veranstaltet, weitere Opern42 insze-

35 36 37 38 39

40 41

42

Premiere am 25. 07. 2004 bei den Bayreuther Festspielen. Uraufgeführt am 17. 11. 2004 in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Siehe hierzu ausführlich Kapitel IV. Uraufgeführt am 07. 02. 2004 im Schauspielhaus Zürich. Hierzu zählen insbesondere die Animatographen: Island Edition – House of Obsession ( Reykjavik Art Festival 2005 ), Deutschland Edition – Odins Parsipark ( Neuhardenberg 2005 ), Afrika Edition – The African Twintowers, ( Lüderitz, Namibia 2005 ), aber auch die Theaterinstallationen Area 7 – Eine Matthäusexpedition (eröffnet am 19. 01. 2006 Burgtheater Wien) und Kaprow City (eröffnet am 13. 09. 2006 in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz ) u.  a.  Siehe hierzu weiter Berka, Roman, Christoph Schlingensiefs Animatograph. Zum Raum wird hier die Zeit, Wien / New York: Springer, 2011. Z.  B. Rocky Dutksche ’68 (1997 ) mit dem WDR oder Rosebud ( 2002 ) ebenfalls mit dem WDR . Z.  B. Schlacht um die Oper. Erster imaginärer Opernführer (16.‒17. 02. 2001) zusammen mit Alexander Kluge an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin. Oder die Praterspektakelaktionen wie Schlacht um Europa I-XLII. – Ufokrise ’97  ebenfalls an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin, Premiere am 21. 03. 1997. Etwa Der fliegende Holländer im Rahmen des XI. Festival Amazonas de Ópera im Teatro Amazonas in Manaus, Premiere am 22. 04. 2007.

21

22

Kurze künstlerische Arbeitsbiografie

niert und Fernsehproduktionen gemacht, eine ganze Reihe großer Installationen in renommierten Museen und Biennalen, aber auch in Theatern aufgestellt, von der Venedig Biennale 43 zum Münchener Haus der Kunst  44 über das Wiener Burgtheater   bis hin zur Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz .45 Dabei scheint eine Arbeit aus der anderen zu entstehen ; es gibt immer wieder Rückschlüsse und -kopplungen, Momente des Recycelns, des Wiederaufnehmens und Fortschreibens. Motive, Stoffe und Formen wandern durch die unterschiedlichen Arbeiten und verändern sich mit den jeweiligen ästhetischen, medialen und situativen Settings. Zugleich sind die einzelnen Arbeiten und ihre möglichen Aktualisierungen stets auf ihre Umwelt und den Kontext, die Situationen, in denen sie entstehen und sich ereignen, bezogen und offengehalten, sodass Kontinuitäten ebenso gut unterbrochen werden und abreißen können. Hierdurch vermag sich die künstlerische Arbeit wiederum auch in eine gänzlich neue Richtung zu entwickeln. Mit der Uraufführung des »Fluxus-Oratoriums« Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir im September 2008 im Rahmen der Ruhrtriennale beginnt Schlingensiefs öffentliche künstlerische Auseinandersetzung mit seinen existenziellen Krankheitserfahrungen. Zugleich wird hierdurch sein Spätwerk eingeleitet. Dabei markiert es gleichermaßen eine existenzielle thematische Zäsur wie eine Fortsetzung vorangegangener werkgeschichtlicher Entwicklungen. Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir ist Teil einer Trilogie von Arbeiten, die allesamt auf unterschiedliche Weise mit thematischen wie formalen Schwerpunktsetzungen um die Krankheits-, Sterbe- und Lebenserfahrungen Christoph Schlingensiefs kreisen und dabei die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Künsten und Leben und Sterben in existenzieller Dringlichkeit aktualisieren. Die zweite Arbeit der Trilogie, Der Zwischenstand der Dinge, ist zugleich die erste, insofern sie gleichzeitig eine Vorarbeit des »Fluxus-Oratoriums« Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir darstellt. Nach Schlingensiefs Diagnose, Operation und noch während der Chemotherapie hat der damalige Intendant des Maxim

43

44

45

Hier hat Schlingensief vom 11. ‒17. 06. 2003 den 1. Internationalen Pfahlsitz-Wettbewerb im Rahmen des Langzeitprojekts Church of Fear abgehalten. Siehe hierzu weiter Church of Fear  : Koegel, Alice / König, Kasper ( Hg.), AC : Christoph Schlingensief – Church of Fear, Köln : Walther König, 2005. Siehe zum Deutschen Pavillon der Venedig Biennale 2011 Kapitel V, »Das installative Display«. Hier wurde Schlingensiefs multimediale Installation 18 Bilder pro Sekunde vom 25. 05. bis 16. 09. 2007 gezeigt. Eine ausführliche Werkbiografie findet sich im dem Katalog Biesenbach, Klaus / Gebbers, Anna-Catharina / Pfeffer, Susanne (Hg.), Christoph Schlingensief, Ausstellungskatalog, London: Koenig Books, 2013, S.  533 ‒ 538.

Einleitung

Gorki Theaters Berlin, Armin Petras, Schlingensief eingeladen, an seinem Haus ohne den Druck der Öffentlichkeit einen ästhetischen Ausdruck und eine Form zu entwickeln, um seine Krankheitserfahrungen zu bearbeiten. Hieraus entstand Der Zwischenstand der Dinge, der zunächst unter Ausschluss der Öffentlichkeit, nur für Freund*innen und Kolleg*innen, stattfand, und erst später, nach der Uraufführung von Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir, Mitte November 2008 an drei Abenden öffentlich am Maxim Gorki Theater aufgeführt wurde. Der Zwischenstand der Dinge ist gewissermaßen Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir als intimer Kammerabend, ohne den Überbau des »Fluxus-Oratoriums«, und dem überhaupt der übergeordnete inszenatorische Rahmen der Kirche sowie der leicht ins Monumentale gehende Eindruck von Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir fehlen. Für die sich in Aufführungen realisierenden Arbeiten wählt Schlingensief unterschiedliche grundlegende Rahmungen. So lässt er für Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir einen Kirchenraum errichten und lotet im inszenatorischen Rahmen eines »Fluxus-Oratoriums« die Analogien von Aufführungen, Ritualen, Totenmesse und Kirchenmusik aus, wobei er diese Zusammenführung explizit unter die Vorzeichen des Programms der Neoavantgarden stellt, während thematisch die Krankheitserfahrungen, die Konfrontation mit dem Tod, die Operation und die daran anschließende Chemotherapie und Bestrahlung im Vordergrund stehen. Dagegen wählt er unter den Vorzeichen einer selbstreflexiven und kritischen Kunstauffassung der ( historischen ) Avantgarden in der so ausgewiesenen »ReadyMadeOper« Mea Culpa im Rahmen von Theateraufführungen Versatzstücke, Anordnungen und Strukturen der Oper, wobei hier thematisch Prozesse der Heilung, der Hoffnung und Zuversicht, der Wieder-Autonom-Werdung sowie die zukünftigen Projekte, deren Konzeptionen aus den Krankheitserfahrungen entstanden sind, wie die Gründung eines Operndorfes in Afrika, das dann später, in Via Intolleranza II  im Zentrum steht, Schwerpunkte bilden. Zusätzlich zu dieser Serie von Arbeiten gibt Schlingensief zahlreiche Interviews zu seiner Krankheit und seinen Arbeiten, er betreibt den Schlingenblog , den er tagebuchartig sowohl zu Krankheitserfahrungen und allem, was sich damit verbindet, aber auch zu anderen Alltags-, Arbeits- und Welterfahrungen führt. Er gründet die mit seiner Website verbundene Plattform www.geschockte-patienten.de, unter deren Motto »Wir sind autonom« sich Betroffene und Angehörige über die unterschiedlichen Krankheitserfahrungen austauschen und auf diese Weise versuchen, der öffentlichen Tabuisierung ihrer persönlichen Erlebnisse sowie den medizinischen Bevormundungen entgegenzuwirken. Schon in seiner ersten öffentlichen künstlerischen Auseinandersetzung mit seinen Krankheitserfahrungen in Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir formuliert Christoph Schlingensief mit Blick auf das persönliche Ende und die Möglichkeit eines Fortlebens nach dem Tod den Gedanken an Afrika, wo er gerne

23

24

Kurze künstlerische Arbeitsbiografie

sterben würde. Fortan, bis zu seinem Tod, bearbeitet Schlingensief seine Pläne für ein Operndorf in Afrika in seinen Arbeiten ( Mea Culpa und Via Intolleranza II   ); er gibt wiederum zahlreiche Interviews in allen erdenklichen Medien, er hält Veranstaltungen ab, in denen er für das Operndorf Spenden sammelt, das schließlich bei Ouagadougou in Burkina Faso konkrete Gestalt anzunehmen beginnt.46 An der konkreten Inszenierung von Werner Braunfels Jeanne D’Arc. Szenen aus dem Leben der heiligen Johanna   47 war Schlingensief kaum beteiligt, da er zur Probenzeit im Krankenhaus war, wo ihm der von Krebs befallene Lungenflügel entfernt und er danach mit einer Chemotherapie behandelt wurde. Die Inszenierung wurde weitgehend durch sein künstlerisches Team realisiert, das seinen Plänen folgte.48 Auch diese Inszenierung kreist, wenngleich nicht unter explizit autobiografischen Vorzeichen, um Krankheits- und Sterbeerfahrungen und setzt mit einer Leichenverbrennung ein, die Schlingensief in Nepal gefilmt hat und die nun in Großaufnahme auf eine riesige Leinwand vor der Bühne projiziert wird. Seine letzte geplante Inszenierung, die noch öffentlich wurde, war die Uraufführung der von Jens Joneleit komponierten und von René Pollesch ›betexteten‹ Oper Metanoia – über das Denken hinaus am 03. 10. 2010 in der Staatsoper Unter den Linden, die zu diesem Zeitpunkt im Berliner Schillertheater untergebracht war. Schlingensief ist allerdings schon vor Probenbeginn gestorben, und diese Inszenierung ist nur ein fragmentarisches Gerüst geblieben, das auf seinen fehlenden Helden verweist. Negative Gattungsästhetik »Er war nicht eigentlich Regisseur (trotz Bayreuth und Parsifal )«, schreibt die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek in ihrem Nachruf auf Christoph Schlingensief, »er war alles, ich weiß kein anderes Wort dafür: Er war DER Künstler schlechthin. Er hat eine neue Gattung geprägt, die sich jeder Einordnung entzogen hat.«  49

46 47 48

49

Siehe zum Operndorf http://www.operndorf-afrika.com/ [ 03. 03. 2019 ]. Deutsche Oper Berlin, Premiere am 27. 04. 2008. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass ein wesentlicher Teil von Schlingensiefs Arbeiten erst im Probenprozess selbst, wenn nicht sogar erst in den Aufführungen, in den jeweiligen situativen Konstellationen, die er modellierte und in denen er agierte und agieren ließ, entstand, weshalb diese Arbeit nur noch von geringer Aussagekraft für die Untersuchung seiner Arbeit und seines Spätwerks ist. Elfriede Jelinek in ihrem Nachruf für Christoph Schlingensief, hier zitiert aus Janke / Kovacs ( Hg.), Der Gesamtkünstler Christoph Schlingensief, a.  a. O., S.  49.

Einleitung

Mit seinem Tod hat Christoph Schlingensief ein breites und vielschichtiges künstlerisches Erbe hinterlassen, das die bis dato tradierten Begrifflichkeiten der Kunst und der Künste sowie der Funktion und Rolle des Künstlers zu sprengen vermag und damit die verschiedenen kunstwissenschaftlichen Disziplinen am Beginn des 21. Jahrhunderts vor eine besondere Herausforderung stellt. Wie vorangehend skizziert wurde, hat Christoph Schlingensief in einem Zeitraum von über 40 Jahren einen komplexen sowie heterogenen Corpus künstlerischer Arbeiten geschaffen, der über Film- und Fernseharbeiten tief in das Theater hinein- und immer wieder aus ihm herausführt, Operninszenierungen, Rauminstallationen, unterschiedliche Textarbeiten, Hörspiele, zahlreiche Kunstaktionen im öffentlichen Raum umfasst und schließlich zur Gründung eines ganzen Operndorfes in Burkina Faso führt. Wie kaum ein anderer Künstler wirft er damit auf immer wieder andere und neuartige Weise, unter Rekurs auf zahlreiche kunst-, theater-, film-, musik- und medienhistorische Referenzen in seiner Kunst die Frage nach den Beziehungsförmigkeiten der Künste zueinander sowie nach dem Status der Kunst selbst, nach den Beziehungen von Kunst und Welt, von Kunst und Leben und Kunst und Künstler auf. Die eingangs von Jelinek benannte Unbenennbarkeit seiner Arbeit und Arbeiten durch bestehende Begriffe, Konzepte und Kategorien, mithin eine Gattungs-, Genre- und Kunstgrenzen überschreitende, experimentell riskante wie neuartige Ästhetik scheint dabei ihr wesentliches Merkmal zu sein. So bemerkt Georg Seeßlen : »Christoph Schlingensief war im Fernsehen, aber er ist nie ein Teil des Fernsehens geworden. Trotzdem ist, was denkende Menschen unter einer Talkshow verstehen, nach Schlingensiefs Zugriff etwas anderes als vorher. Er war in Bayreuth, wurde aber nie Teil eines entsprechenden Kultes. Trotzdem können wir nach Christoph Schlingensiefs Inszenierung zu Wagner eine andere Beziehung haben als vorher.« 50 Offenbar trägt Schlingensief in seinen künstlerischen Welteinlassungen Differenzen in das bisher scheinbar Vertraute, Bekannte, Erwartbare ein. Die Phänomene, Praktiken, Institutionen, in und mit denen er arbeitet, lässt er in und durch seine Arbeit als etwas potenziell anderes in Erscheinung treten, als etwas, das immer auch anders denkbar und lebbar sein könnte, als etwas auch, dem es sich möglicher Weise zu widersetzen gilt. Zeit seines künstlerischen Schaffens hat Christoph Schlingensief in den verschiedenen künstlerischen Feldern, Medien und Institutionen gearbeitet, dabei stets die jeweils gängigen, tradierten Praktiken und vorherrschenden Wahrnehmungskonventionen irritiert, gestört, unter- und aufgebrochen, sie dabei als solche zur Wahrnehmung gebracht und zur Disposition gestellt. Die Frage danach,

50

Seeßlen »Radikale Kunst«, a.  a.  O., S.  76  ‒ 87, S.  76.

25

26

Negative Gattungsästhetik

wie sich Schlingensiefs Arbeiten zu tradierten Kunst- und Gattungsdefinitionen verhalten, scheint sich bei der Auseinandersetzung mit ihnen gerade deswegen immer wieder aufzudrängen, weil sie die jeweils vorherrschenden Darstellungs- und Anordnungskonventionen und -strukturen im Moment ihrer Verweigerung exponieren, reflektieren und so wiederum bespielen, ausspielen und dekonstruieren. Das sich den vorhandenen Definitionen und Denkkategorien Entziehende, das Jelinek mit Blick auf Schlingensiefs Arbeit sowie auf seine Person als Künstler beschreibt, möchte ich in meiner Untersuchung in Anlehnung an Juliane Rebentischs Theorie der Gegenwartskunst, die sie in ihrer Ästhetik der Installation an Adorno anschließend formuliert, grundsätzlich als Merkmal moderner und zeitgenössischer Kunst bestimmen, die sich per definitionem den tradierten Definitionen entzieht.51 In der Kunst Christoph Schlingensiefs allerdings, so meine Hypothese, wird dieses Prinzip moderner Kunst selbst zur Wahrnehmung gebracht und zum Ausgangspunkt ästhetischer Operationen gemacht, zum Fundament der künstlerischen Auseinandersetzung mit den tradierten Konzepten, Begriffen und Praktiken der jeweiligen Kunst und Künste, in deren Kontext sich die unterschiedlichen Arbeiten ereignen. Dieses künstlerische Prinzip der reflexiven, experimentellen Referenzierungen auf das je vorgefundene Arsenal des bereits Möglichen und Denkbaren sowie das Transparentmachen der künstlerischen Verfahren, Prinzipien und Diskurse selbst, die mit ihrer unendlichen Intransparenz künstlerisch wie emanzipatorisch umzugehen suchen, soll dabei im Folgenden als ein grundlegendes Verfahren in Schlingensiefs künstlerischer Arbeit dargelegt werden. Denn diese Kunst offenbart sich insofern als ›begriffslos ‹, als sie auf bestehende Begriffe, Konzepte und Praktiken von Kunst und Künsten rekurriert, sich aber gleichwohl in Differenzen und Abweichungen dazu realisiert. Dabei scheint – wie es Elfriede Jelinek in ihrer Eingangsbemerkung konstatiert und wie es dieser Untersuchung von und Einlassung auf Schlingensiefs künstlerisches Werk als Ausgangsbeobachtung dienen soll – Schlingensief mit seiner Kunst die tradierten Definitionsmöglichkeiten der Kunst und der Künste auch deswegen zu sprengen, weil seine Arbeiten stets mit Blick auf den Weltzusammenhang, der verhandelt werden soll, auf den sie sich beziehen und in den sie sich hineinzudrehen 52 versuchen, konstruiert,

51

52

Rebentisch, Ästhetik der Installation, a.  a. O. So schreibt sie: »Nur in der Negation des qua Konvention positiv als Kunst geltenden […]« ( S.  122 ), hier in der Paraphrasierung Adornos kunsttheoretischer Überlegungen, könne Kunst sich als »authentische«, könne Kunst sich als Kunst erhalten. Siehe zu dieser Denkfigur mit Blick auf Schlingensiefs Arbeit Schaub, Miriam, »Sich in den Weltzusammenhang hineindrehen. Schlingensiefs Animatograph, mit Aristoteles und Hegel gelesen«, in : Janke / Kovacs ( Hg.), Der Gesamtkünstler, a. a. O., S. 177 ‒ 182.

Einleitung

erweitert und immer wieder verändert. Um diese Beziehungsförmigkeiten von Kunst und Welt fortwährend neu bestimmen und verhandeln zu können, lotet er künstlerisch aus, welches historisch ausdifferenzierte »ästhetische Material«53, welche Formenkonstruktionsmöglichkeiten, welche historisch sedimentierten und tradierten künstlerischen Praktiken und Diskurse er hierfür verwenden, wie er die unterschiedlichen künstlerischen Bereiche und Felder mischen und kombinieren und was er aus anderen gesellschaftlichen Bereichen und Kommunikationen dafür in die Kunst hineintransportieren und dergestalt transformieren kann. Strukturell analog beschreibt es der Literaturwissenschaftler und Philosoph Thomas Metscher mit Blick auf die Herausbildung des Dramas bei William Shakespeare in einem Interview anlässlich von dessen 400. Todestags. Shakespeare arbeite, ihm zufolge, permanent mit der Dialektik von klassischen Bezügen und deren experimenteller Ausweitung : »[…] gerade der experimentelle Charakter des shakespeareschen Verfahrens, der Drang der Erkundung, des Suchens und Ausprobierens, führt dazu, dass hier ein Drama entsteht, dessen Werkform die gegebenen Grenzen, auch die selbstgesetzten des eigenen, in einer Weise befragt und erweitert, die mit Notwendigkeit zur stets neuen Individualität der Werkform führt.« Diese permanente experimentelle Ausweitung der Gattung des hier in Entstehung begriffenen Dramas dienten dabei keinem ästhetischen Selbstzweck, sondern vielmehr »dem großen Zweck der Welterkundung« sowie der Entdeckung und Erkundung des Menschen.54 Eine solche auf die soziale Welt bezogene Ausweitung der Begriffe und Räume des Denk- und Machbaren der Kunst und der Künste kennzeichnet, so möchte ich es hier zeigen, gleichermaßen Schlingensiefs Arbeitsweise : seine Kunst. Weder übernimmt noch verwirft sie einfach deren bestehende Begriffe und Praktiken, sondern weitet sie mit Blick auf die gegenwärtige Welt und aktuellen sozialen Existenzbedingungen permanent aus, und dies auch 400 Jahre nach der neuzeitlichen Entdeckung von Mensch und Welt. So steht für diese Untersuchung nun wesentlich die Frage im Raum, wie Schlingensief die bestehenden künstlerischen Praktiken und medialen Bezüge erkundet und experimentell überschreitet, um so ungekannte, potenzielle, künftige Szenarien der Existenz, des Lebens und Sterbens am Horizont des Möglichen im Licht des historisch Gewesenen zu entwerfen.

53

54

Rebentisch, Ästhetik der Installation, a.  a.  O., S.  106  f. Begriff aus Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie, Frankfurt a.  M. : Suhrkamp, 1970, S.  287. Metscher, Thomas, »›Seine Dramen sind Weltexperimente‹. Zum 400. Todestag von William Shakespeare. Ein Gespräch mit Thomas Metscher«, in: Junge Welt ( 103), 03. 05. 2016, S.  12  f., S.  12 .

27

I. Ethik und Ästhetik im Zeichen der Avantgarden und Neoavantgarden »We are not postmodernists. I believe in the avantgarde.« Alexander Kluge 1

Wie kaum ein anderer Künstler stellt Christoph Schlingensief mit seiner Arbeit programmatisch die Frage nach dem Erbe der historischen Avantgarden und Neoavantgarden für die Gegenwartskunst an der Schwelle vom 20. zum 21. Jahrhundert. Auf beispiellose Weise beruft sich Schlingensief konsequent exzessiv wie expressiv auf ihr ethisch-ästhetisches Programm. Dies vollzieht er, indem er in seiner künstlerischen Arbeit reflexiv wie humorvoll, experimentell, affirmativ und zugleich zerstörerisch immer wieder neu das Verhältnis zu diesen kunstgeschichtlichen Fix- und Wendepunkten auslotet und die Frage bearbeitet, welche Funktion diese heterogenen künstlerischen Praktiken und Programme für die eigene Arbeit haben. Dabei verhandeln Schlingensiefs Arbeiten die Frage nach der Rolle der Avantgarden in der Gegenwartskunst und lassen dabei, so möchte ich es hier im Folgenden zeigen, einen geschichtlichen Zusammenhang erfahrbar werden, in den sie sich selbst einschreiben, von dem sie Teil werden, aus dem sie hervorgehen und den sie gleichsam anders weiterschreiben. Von André Breton zu den Situationisten und Dadaisten, über Marcel Duchamp zu Yves Klein, Jackson Pollock, den Wiener Aktionisten, Paul McCarthey, Fluxus, Joseph Beuys, überhaupt den Aktions- und Performancekünstler *innen zu Beginn

1

Kluge, Alexander, » On New German Cinema, Art, Enlightenment, and the Public Sphere. An Interview with Alexander Kluge«, October 46 (1988 ), S.  23 ‒ 59, S.  57. Dieses Zitat verdanke ich Richard Langstons Visions of violence: German avant-gardes after fascism, Evanston: Northwestern University Press, 2008.

30

Im Zeichen der Avantgarden

der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hat Schlingensief diese Künstler *innen und ihre Arbeiten in seinen Arbeiten, Produktionen und künstlerischen Praktiken aufgenommen und sich auf unterschiedlichste Weise zu ihnen in Beziehung gesetzt. So wie Schlingensief in seiner Filmpraxis das klassische Erzählkino, den Neuen Deutschen Film sowie übliche Mainstreamunterhaltungsformate des TV mit unterschiedlichen Experimentalfilmformen sowie Motiven und Darstellungspraktiken des frühen Films konfrontiert und sein Verhältnis zu den Bezugspunkten je zwischen Affirmation und Verwerfung changieren lässt, werden die künstlerischen Praktiken und Programme der Avantgarden und Neoavantgarden auch wesentlich für Schlingensiefs Theaterpraxis, die 1993 mit seiner ersten Arbeit an der Volksbühne, 100 Jahre CDU, einsetzt. Um der klassischen dramatischen Theaterdisposition sogleich eine Absage erteilen zu können und jenseits der »Als-ObVereinbarung« 2 der tradierten theatralen Ordnung der Repräsentation die Grenzen und Möglichkeitsräume des Theaters sowie des Begriffs von Theater grundlegend zur Disposition zu stellen, kommt der künstlerischen Bezugnahme auf die Avantgarden und Neoavantgarden in Schlingensiefs Arbeiten eine zentrale Rolle zu. Wenn Schlingensief in seinen frühen Theaterarbeiten3 seine filmische Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts in das Theater hinein verlängert, liefern dafür avantgardistische und neoavantgardistische Bewegungen, Arbeiten und Künstler *innen, von den Futuristen zu den Wiener Aktionisten, ein Repertoire an Formen und leibhaftig gewordenen Bildern und Bildsprachen sowie diversen weiteren experimentellen, künstlerischen Praktiken für die Auslotung des Verhältnisses von Kunst und Gewalt, Katharsis und Kritik etc.4   Wie Evelyn Annuß konstatiert, kommt in Schlingensiefs frühen Theaterarbeiten die Aktionskunst der 1960er und 70er Jahre »im Formzitat auf den Prüfstand«, und der von Schlingensief vielzitierte Wiener Aktionismus wird hier mit dem »Bildgepäck nationalsozialistischen Nachlebens konfrontiert und überfrachtet.« 5

2

3

4

5

Annuß, Evelyn, »Christoph Schlingensiefs autobiografische Inszenierungen«, in: Janke / Kovacs ( Hg.), Der Gesamtkünstler, a.  a. O., S.  291‒ 304, S.  293. Etwa 100 Jahre CDU – Spiel ohne Grenzen; Kühnen  ’94. Bring mir den Kopf von Adolph Hitler (uraufgeführt am 31. 12. 1993 ); Rocky Dutschke ’68 (uraufgeführt am 17. 05. 1996  ) – alle Arbeiten sind Produktionen der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin, wo sich auch die Uraufführungen ereigneten. Zum Verhältnis von Gewalt und Avantgarden siehe: Ehrlicher, Hanno, Die Kunst der Zerstörung. Gewaltphantasien und Manifestationspraktiken europäischer Avantgarden, Berlin: Akademie Verlag, 2001. Außerdem in diesem Kapitel, »Avantgarden und Faschismus«. Siehe zu Schlingensiefs Neo-  /Avantgardebezug mit Blick auf Gewalt, Faschismus und Nachkriegszeit: Annuß, »Schlingensiefs autobiografische Inszenierungen«, a.  a. O., S.  291‒ 304. Ebenda, S.  292  f.

I. Im Zeichen der Avantgarden

Die künstlerische Bezugnahme auf die historischen Avantgarden und insbesondere die Neoavantgarden wird darüber hinaus wesentlich für eine Öffnung der Aufführungssituation auf dem Theater in die künstlerische Aktion hinein, für das Verlassen des Aufführungsraums und die Intervention im öffentlichen Raum.6 Zentral für den künstlerischen Zugriff auf die außerkünstlerische Wirklichkeit in Schlingensiefs Arbeit sind ganz besonders Joseph Beuys und die durch ihn geprägten Konzepte der »sozialen Plastik« und des »erweiterten Kunstbegriffs«.7 Aber auch für Schlingensiefs enthusiastische, künstlerische Einlassungen auf Fernsehund Populärkultur 8 liefern unterschiedliche Künstler *innen und Formationen verschiedener avantgardistischer und neoavantgardistischer Bewegungen, von Marcel Duchamp bis Andy Warhol, entscheidende künstlerische Vorlagen. Und schließlich scheinen die Avantgarden und einmal mehr die Neoavantgarden, von Beuys zu Warhol, über Allan Kaprow zu den Wiener Aktionisten, eine Vorreiterfunktion mit Blick auf die mit Schlingensiefs erster Theaterarbeit einsetzende, konstitutive Einwebung der Künstler-Person in die künstlerischen Aktionen, Situationen und Ereignisse zu erfüllen. So schreibt Anna Lena Wenzel in ihrer Untersuchung zur Entgrenzung der Kunst und der Künste: »Beuys ist ein gutes Beispiel für Künstler, deren Leben unauflösbar mit ihrer künstlerischen Praxis verschmolzen ist und die nicht selten ihren Körper zum Bestandteil oder Gegenstand ihrer künstlerischen Praxis machen.«9  Evelyn Annuß verortet Schlingensiefs künstlerischen Einsatz seiner Person und seines Körpers sowie schließlich »den Einsatz des eigenen Lebens« im Programm der Wiener Aktionisten, das Schlingensief »in

6

7

8

9

Zu Schlingensiefs Bezugnahme auf die Kunstpraxis Joseph Beuys’ und dessen erweiterten Kunstbegriff in den Aktionen Mein Filz, mein Fett, mein Hase – 48 Stunden Überleben für Deutschland (1997 ) auf der documenta X in Kassel siehe : Mühlemann, Kaspar, Christoph Schlingensief und seine Auseinandersetzung mit Joseph Beuys, Frankfurt a.  M.: Peter Lang, 2011, S.  66  ff. ; zu Passion Impossible – 7 Tage Notruf für Deutschland. Eine Bahnhofsmission (1997  ) am Hamburger Schauspielhaus siehe ebenda, S.  84  ff. ; zu dem Beuys-Bezug in Schlingensiefs mehrmonatiger Wahlkampfaktion Chance 2000 siehe ebenda, S. 70  ff. Siehe zu der Funktion und Appropriation dieser Konzepte in Schlingensiefs Arbeit den zweiten Teil dieses Kapitels »Die Inszenierung des Lebens, der Krankheit und des Sterbens im Zeichen der Avantgarden und Neoavantgarden«. Z.  B. in den Fernseharbeiten Talk 2000 (1997 ), U 3000 ( 2000 ) oder Freakstars 3000 ( 2002 ). Siehe hierzu etwa: Forrest, Tara, »Productive Discord: Schlingensief, Adorno, and Freakstars 3000«, in: Forrest / Scheer ( Hg.), Christoph Schlingensief. Art without Borders, a.  a. O., S.  123 ‒137. Wenzel, Anna-Lena, Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst. Ästhetische und Philosophische Positionen, Bielefeld: transcript, 2011, S.  60.

31

32

Im Zeichen der Avantgarden

immer wieder anderen Kontexten fortschreibt«10. In der Tat spielen Beuys und die Wiener Aktionisten eine wesentliche Rolle für Schlingensiefs Einsatz seiner Person in seiner Kunst sowie überhaupt für seinen künstlerischen Weltzugriff. Allerdings, und dies wird im Folgenden zu zeigen sein, wird ihr Einsatz dabei nicht nur mit eindeutigen Differenzen versehen, sondern auch mit einer Vielzahl von Personen, Arbeiten und Kunstpraxen zusammengebracht, welche unterschiedlichen Bewegungen der historischen Avantgarden sowie vor allem auch der Neoavantgarden zuzurechnen sind. Ich möchte nun in diesem Kapitel zu Schlingensiefs Avantgardebezug der Frage nachgehen, weshalb die verschiedenen Avantgardebewegungen für Schlingensiefs Arbeit so wichtig erscheinen, und inwiefern die von ihnen geleisteten kunstgeschichtlichen Bewegungen und Umbrüche für sie so zentral sind. Welche Funktionen erfüllen die unterschiedlichen Avantgardebewegungen in und für Schlingensiefs Arbeit und wie genau setzt er sich zu ihnen in Beziehung ? Ein Aspekt scheint angesichts der vielfältigen und vielschichtigen Unterschiede zwischen den einzelnen künstlerischen Praktiken der Avantgarden11 und Neoavantgarden, die sich unterschiedlichen sozialhistorischen Kontexten sowie, damit verknüpft, kunstgeschichtlichen Situationen, auf die sie je verschieden reagieren, verdanken, in Schlingensiefs Bezugnahmen auf sie zentral: Sie stehen hier im weitesten Sinn für entgrenzende Kunstpraktiken, die sich in einer kritischen künstlerischen Reflexion der tradierten Praktiken und Konventionen begründen und Brüche mit ihnen zu evozieren suchen. Dabei haben die Entgrenzungsbewegungen zweierlei Richtungen. Einerseits handelt es sich um die Entgrenzung der Künste, die sich aus ihren tradierten Gattungen und Genres herauslösen und sich dabei zueinander öffnen, also etwa wenn die bildende Kunst zur Aktion, zur Aufführung werden kann und sich darinnen den medialen Bedingungen des Theaters annähert.12 Andererseits werden avantgardistische wie neoavantgardistische künstlerische Praktiken hier als Möglichkeiten und historische Variationen einer kritischen Befragung (des Begriffs ) von Kunst selbst aufgerufen, einer Entgrenzung

10 11

12

Annuß, »Schlingensiefs autobiografische Inszenierungen« , a.  a. O., S.  293. Michael Müller betont gleichfalls die Heterogenität der einzelnen historischen Avantgardebewegungen und bestimmt ihren gemeinsamen Nenner in der programmatischen Aufnahme der »reale[n] gesellschaftliche[n] Entwicklung, d.  h. die industriekapitalistische Modernisierung und deren enorme Folgeprobleme für den großen Teil der Bevölkerung«, in den von ihnen verfassten und konzipierten Manifesten oder Werken. Siehe : Müller, Michael, »Avantgarde, Subjekt und Massenkultur«, in : Klinger, Cornelia / Müller-Funk, Wolfgang ( Hg.), Das Jahrhundert der Avantgarden, München: Fink, 2004, S.  171‒180. Siehe hierzu ausführlich in diesem Kapitel »Die Entgrenzung der Künste und ihre Aufführung«.

I. Im Zeichen der Avantgarden

der Kunst in ihre Umwelt hinein, verknüpft mit dem Bestreben eine größere Wirksamkeit der Kunst zu erzielen, die Welt durch sie möglichst direkter zu berühren. Diese Entgrenzungsbestrebungen und -forderungen der Kunst und der Künste beschreibt Barbara Gronau als ›Erbe‹ , das die europäischen und amerikanischen Künstler *innen nach dem Zweiten Weltkrieg von den historischen Avantgarden übernehmen.13 Gerade in den Überblicksdarstellungen14 wird das ›Kapitel Avantgarden ‹ häufig mit Peter Bürgers Diagnose ihres Scheiterns geschlossen, das gerade mit Blick auf das Nicht-Gelingen der Überwindung der Grenze von Kunst und Leben sowie mit der Musealisierung der Avantgarden selbst begründet wird15. Wenn man allerdings davon ausgeht, und dafür gibt es hinreichende Gründe,16 dass es nicht um eine tatsächliche Aufhebung der Kunstgrenze gehen kann, sondern um ihre produktive ästhetische Kritik und Reflexion, ihre Dynamisierung und Verschiebung sowie um die sich in der Moderne begründende und von den Avantgarden radikalisierte, kritische und fundamentale Selbstreflexion der Kunst, dann lohnt es sich in diesem Zusammenhang zu fragen, wie Schlingensief in seiner Arbeit gerade dieses Unterfangen, dieses kunsthistorische Erbe antritt, aufgreift und im 21.  Jahrhundert fortschreibt. So behauptet der Literaturwissenschaftler Richard Langston nicht zu Unrecht, wie ich meine: »In spite of the many theoretically sophisticated obituaries declaring the death of the avant-garde, Christoph Schlingensief has retained a longstanding conviction that the avant-garde is still very much with our high tech age.«17 »Die Avantgarde«, schreibt Sandra Umathum in ihrem Lexikonartikel zum Begriff der Avantgarde, »steht für die revolutionäre Überschreitung etablierter Grenzen, für die Befreiung aus tradierten Strukturen und den Anspruch, eine veränderte soziale und politische Lebenspraxis zu initiieren. Bezogen auf die künstlerischen Strömungen des 20.   Jahrhunderts subsumiert sie die ›Vorreiter‹ aller Gattungen, die sich in programmatischen Schriften [ Manifesten] oder in artistischen Projekten für eine neue Kunst einsetzen, um mit deren Hilfe eine neue Lebenswirklichkeit zu organisieren.« Dabei werde »als Epoche«, so Umathum weiter, »die sogenannte

13

14

15 16

17

Gronau, Barbara, Theaterinstallationen. Performative Räume bei Beuys, Boltanski und Kabakov, München: Fink, 2010, S.  21. Z.  B. Umathum, Sandra, »Avantgarde«, in: Fischer-Lichte / Kolesch / Warstat ( Hg.), Theatertheorie, a.  a. O., S.  26  ‒30. Bürger, Peter, Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1974, S.  78  f. Siehe etwa Rebentisch, Ästhetik der Installation, a.  a. O., S.  10  ff. Adorno, »Die Kunst und die Künste«, a.  a. O., S.  428. Langston, »Schlingensief ’s Peep Show: Postcinematic Spectacles and the Public Space of History«, a.  a. O., S.  204.

33

34

Im Zeichen der Avantgarden

historische oder klassische Avantgarde der ersten Dekade des 20.   Jahrhunderts von der Neoavantgarde seit den 1950er Jahren unterschieden.«18  Wolfgang Asholt konstatiert in seinem Lexikonartikel zur Avantgarde, dass deren Projekt als bislang »radikalste Infragestellung der ›Institution Kunst‹« 19 begriffen werden könne. So schreibt Asholt: »Während die ( klassische) Moderne [auf die Autonomisierung der Kunst im 19. Jahrhundert, S.  R .] mit ihren ästhetischen Konzeptionen reagiert, diese aber innerhalb der Institution Kunst verwirklicht, versucht die Avantgarde, eben diese Infrage zu stellen und Kunst in Lebenspraxis zu überführen: Die Kunst ›tritt in das Stadium der Selbstkritik ein‹.20   Von dieser Grundlage her unterziehen die zahlreichen ›Ismen‹ der Avantgarde ( z.  B. Futurismus, Dadaismus, Konstruktivismus, Surrealismus, Poetismus ) in unterschiedlicher Radikalität die Funktion von Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft und deren ästhetische Verfahren einer scharfen Kritik. Dieses Kriterium unterscheidet die Avantgarde von der Moderne […].«  21  Während Asholt zwischen den Avantgarden und den Modernisten eine strukturelle Unterscheidung trifft,22 sieht Juliane Rebentisch in den Praktiken der

18 19

20 21 22

Umathum, »Avantgarde«, a.  a. O., S.  27. Asholt, Wolfgang, »Avantgarde«, in: Nüning, Ansgar ( Hg.), Metzler Lexikon Literaturund Kulturtheorie, Stuttgart / Weimar: J.  B. Metzler, 2004, S.  40  f., S.  41. Asholt zitiert hier Bürger, Peter, Theorie der Avantgarde, a.  a. O. Asholt, »Avantgarde«, a.  a. O., S.  40  f. Siehe zur Unterscheidung zwischen Modernismus, Ästhetizismus und Avantgarden auch Ehrlicher, Die Kunst der Zerstörung. Gewaltphantasien und Manifestationspraktiken europäischer Avantgarden, a.  a. O., S.  14  ff. Einen interessanten Punkt zur Begründung , warum Avantgarden und Modernismus im 20.   Jahrhundert häufig als Gegensatzpaar begriffen werden, bringt Cornelia Klinger vor. Insofern die aus der Romantik rührende Idee der Avantgarden von einer Verschmelzung von Kunst und Leben ( als Reaktion auf die Autonomisierung der Kunst an der Schwelle zum 20.   Jahrhundert ) in der Ästhetisierung der Politik durch die Faschisten pervertiert werde, wird diese Idee in der Nachkriegszeit in den 1950er und 60er Jahren verschmäht, und die Kunst muss sich nun »in strikte Selbstreferenzialität, in operative Geschlossenheit und in die Partialität ihrer spezifischen Sphäre fügen. Im Gegenzug wird sie von der Verpflichtung zu einer besonderen, allzu leicht missbrauchbaren Mission für die Gesellschaft entlastet. Ihre Autonomie wird anerkannt und zwar eine Autonomie, die in Art und Umfang der Autonomie anderer Sphären entspricht.« Entsprechend seien die fünfziger und sechziger Jahre »nicht allein geprägt von einem leichten und glänzenden Sieg des Modernismus über die aktivistischen Avantgarden, die nun als Episode der frühen Jahre des 20.   Jahrhunderts und als verheerende Sackgasse der Geschichte erscheinen. Es wird auch das Konzept des Modernismus selbst umgeschrieben und auf seine formalistischen und puristischen Aspekte hin vereindeutigt. Allerdings erweist sich der Triumph dieses rigiden Modernismus über die beschämte Avantgarde als

I. Im Zeichen der Avantgarden

Avantgardebewegungen eine Fortsetzung, ja eine Radikalisierung der Prinzipien der ästhetischen Modernisten. Mit Rebentisch lässt sich also ergänzen, dass modernistische Kunst und Avantgarden insofern nicht als Oppositionen zu verstehen sind, als die selbstreflexiven Operationen modernistischer Kunst nicht nur eine Erneuerung und kritisch-reflexive Ausdifferenzierung der einzelnen Gattungen, sondern in diesem Modus der Selbstreflexion potenziell wegbereitend für gattungsüberschreitende und transgressive Ästhetiken sind.23   So schreibt Rebentisch, dass die »Geschichte der modernen Kunst wesentlich geprägt ist durch Entgrenzungstendenzen« 24 und die Entgrenzungsbestrebungen der Avantgarden »nicht als Bruch mit, sondern im Gegenteil als Radikalisierung der Prinzipien der ästhetischen Moderne« 25 verstanden werden könnten.26 Diese Verwandtschaftsbeziehung von

kurzfristig.« Dies sei nicht zuletzt deswegen der Fall, »weil nicht lange verborgen bleibt, dass sich die hermetische Abtrennung einer reinen, selbstbezüglichen Kunst gegenüber ihren politischen und ökonomischen Bedingungen als einigermaßen fadenscheinig erweist. Noch die abstrakteste Kunst kann in den Dienst konkreter gesellschaftlicher Interessen treten und tut dies vielleicht nie so ungeniert wie auf dem Höhepunkt ihres Triumphes im US-amerikanischen high modernism der fünfziger Jahre des 20.   Jahrhunderts. Schließlich und vielleicht noch bedeutsamer, erlahmt nach der Jahrhundertmitte nicht nur die spezifische Temporalität der Avantgarde, sondern auch das Fortschrittskonzept der Moderne und des Modernismus.« Im Gegenzug kehre nun, gegen Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, »die Idee engagierter Kunst […] wieder auf die Bühne zurück, in Gestalt verschiedener Strömungen, die sich unter Namenszusätzen wie ›Neo-‹, ›Trans-‹ oder ›Post-‹ zum Teil sogar erneut explizit auf das Wort Avantgarde beziehen.« Alle Zitate: Klinger, Cornelia, »Die Utopie der Versöhnung von Kunst und Leben. Die Transformation einer Idee im 20.   Jahrhundert. Vom Staat als Kunstwerk zum life-style des Individuums«, in: Klinger / Müller-Funk ( Hg.), Das Jahrhundert der Avantgarden, a.  a. O., S.  211‒ 245, S.  220. 23 Rebentisch, Ästhetik der Installation, a.  a. O., S. 10  ‒17, S. 119 ‒131. Rebentisch folgt hier besonders Adornos Argumentation. Siehe hierzu weiter Adorno, »Die Kunst und die Künste«, a.  a. O. Zum Verhältnis von ( historischer) Avantgarde und Modernismus siehe auch: Klinger, Cornelia / Müller-Funk, Wolfgang, »Einleitung« in: Dies. ( Hg.), Das Jahrhundert der Avantgarden, a.  a. O., S.  9  ‒25, S. 10 ff. Begriffsklärung zum Modernismus siehe Ernst, Jutta, »Modernismus«, in: Nünning, ( Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, a.  a. O., S.  470 ‒  472. 24 Rebentisch, Ästhetik der Installation, a.  a. O., S. 14. 25 Ebenda. 26 Siehe zum Verhältnis von Modernismus, Postmodernismus, Avantgarden und Neoavantgarden Ursprung, Philip, Grenzen der Kunst. Allan Kaprow und das Happening. Robert Smithson und die Land Art, München: Schreiber, 2003, S. 15 ‒ 43.

35

36

Im Zeichen der Avantgarden

moderner Selbstreflexion der Kunst und einer in ihr sich begründenden und sie radikalisierenden Entgrenzungsbestrebung seitens der Avantgarden und Neoavantgarden möchte ich hier als wesentlich hinsichtlich Schlingensiefs Avantgardebezug herausstellen und im Folgenden herausarbeiten – und eben nicht die so häufig angeführte bloße Verwischung und Auflösung aller Grenzen und Kunstspezifik. Schlingensief selbst spitzt diesbezüglich etwas drastischer zu : »[…] wenn mir morgen noch mal ein Kunstarsch sagen will, dass Nitsch nicht im Museum funktioniert und Beuys auch nicht, dann reiß ich ihm seinen Dreitagebart aus dem Gesicht. Beuys, Nitsch, Roth, Thek, Kaprow«, subsumiert Schlingensief diese unterschiedlichen Künstler verschiedener neoavantgardistischer Kontexte als Fixpunkte seiner Arbeit, »das sind keine Karikaturisten, aber sie haben verdammt viel Spaß und Freude am Sauberkeits- und Klarheitswahn unserer Trennkostapostel und Mülltrenner« 27. Damit richtet er sich gegen ein sich in institutionellen und diskursiv-ideologischen Praktiken begründendes Festhalten an tradierten Genreund Gattungsgrenzen, durch das im- und explizit bestimmt wird, was als Theater, bildende Kunst, Film usw. gilt und was in den entsprechenden Institutionen als solches gezeigt oder eben ausgeschlossen wird. Dieses Nicht-Bedienen der besonders an Institutionen gebundenen Genre- und Gattungskonventionen und der durch sie geschürten Erwartungshaltungen, das in den Praktiken der Avantgarden und Neoavantgarden konstitutiv eingeschrieben ist, lässt sich zweifelsfrei auf Schlingensiefs eigene künstlerische Arbeit übertragen, die sich in den unterschiedlichen künstlerischen Feldern, Praktiken und Institutionen ereignet hat und dabei stets jenseits der jeweils vorherrschenden Konventionen und Praktiken operierte, sie aber dabei in die ästhetischen Verfahren und künstlerischen Weltbezüge integriert und mit ihnen interagiert hat. So vermag Schlingensief in seinen Arbeiten und künstlerischen Praktiken stets zur Disposition stellen, was, wie und mit wem sich auf dem jeweiligen Feld, auf dem er gerade agierte oder zitierte, zu ereignen habe, ohne dabei die geltenden ›Standards‹ unreflektiert zu lassen. Indem er sich von ihnen abstieß, mit ihnen spielte und einen experimentell-kritischen wie affirmativ-humorvollen Umgang pflegte, ließ er sie als solche wahrnehmbar und verhandelbar werden. Evelyn Deutsch-Schreiner und Katharina Pewny sind sich in ihrem gemeinsam verfassten Artikel über Schlingensief und seine Verortung in den Avantgarden sicher, dass Schlingensief der »Vollender der Theater-Avantgarden des 20. Jahrhunderts« sei, »überzeugend Verfahrensweisen, Formen und Praktiken der frühen und der späteren Avantgarden des 20.   Jahrhunderts« einsetze und schließlich »eine Einheit

27



Christoph Schlingensief, »Rasierklingen raus, Schmerzbekenntnis !«, http://www.sueddeutsche.de/kultur/umstrittene-aktionskunst-von-hermann-nitschrasierklingen-raus-schmerzbekenntnis-1.801854-2  , [19. 12. 2018 ].

I. Im Zeichen der Avantgarden

von Kunst und Leben« 28 erreiche. Auch wenn ein Zusammenhang zwischen Avantgarden, Neoavantgarden und der Kunst Christoph Schlingensiefs augenscheinlich ist und entsprechend häufig auch von wissenschaftlicher Seite konstatiert wird, so wurde er bislang kaum systematisch erschlossen, keinem fundierten Rekurs auf die Kunst der Avantgarden und Neo-  / Avantgarden unterzogen und auch nicht anhand konkreter szenischer Beispiele in seiner Funktion analysiert.29   Dies scheint mir auch der Grund für den in dem Zitat deutlich werdenden emphatischen und etwas pauschalisierenden Anschluss Schlingensiefs an die Avantgarden zu sein, der darin durchaus exemplarischen ist, und so stets im »Ende der Kunst« bzw. in der »Verschmelzung von Kunst und Leben« mündet. Im Unterschied dazu möchte ich im Folgenden anhand einer exemplarischen Stoff-, Motiv- und Aufführungsanalyse untersuchen, wie genau und warum sich Schlingensief zu den unterschiedlichen Avantgardekünstler *innen und ihren Arbeiten in Beziehung setzt und um wen es sich hierbei konkret handelt. Primär anhand des »Fluxus-Oratoriums« Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir möchte ich weitergehend fragen, welche Funktion die Avantgarden und Neoavantgarden für die künstlerische Auseinandersetzung mit den persönlichen, lebensbedrohlichen Krankheitserfahrungen des Künstlers, mit Leben und Sterben im Spätwerk haben und welche ethisch-ästhetischen Verbindungen und Relationen durch die Referenzierung auf jene kunsthistorischen Programmatiken eröffnet und ermöglicht werden. Meine These ist dabei, dass genau in dem Moment, in dem aus werkhistorischer Perspektive eine existenzielle und buchstäbliche Verschränkung von Kunst und Leben realisiert wird, umso klarer erkennbar wird, dass dabei der Avantgardebezug weniger für eine Auflösung der Kunst im Leben als für ein Produktivmachen ihrer Differenz steht : für ein Ausloten des spezifischen Vermögens der Kunst, gerade in ihrer Einlassung auf Leben und Sterben. In dem Spalt, den ihre Unterscheidung markiert, entsteht in Schlingensiefs Arbeit, so möchte ich zeigen, der Raum einer existenziellen künstlerischen Freiheit. Zuvor möchte ich eine Szene aus der Inszenierung ATTA ATTA – Die Kunst ist ausgebrochen  30 diskutieren, die dem eigentlichen Spätwerk vorausgeht. Denn diese Szene weist im Hinblick auf den Avantgardebezug paradigmatische Züge auf, die auch für alle nachfolgenden Arbeiten Schlingensiefs konstitutiv sein werden. Hier wird, so soll demonstriert werden, die spezifische Organisation der Künste,

28 29

30

Deutsch-Schreiner / Pewny, »›Avant-garde ! Marmelade !‹« , a.  a. O., S.  236  f. Mittlerweile hat es allerdings eine Tagung unter dem Titel »Christoph Schlingensief und die Avantgarde« ( im ZiF Bielefeld, 02.‒  04.2.2017  ) gegeben, die versucht hat, die Avantgarde-Bezüge in Schlingensiefs Werk eingehend zu untersuchen. Siehe hierzu den Tagungsband Knapp et.  al. ( Hg.), Schlingensief und die Avantgarde, a.  a. O. Uraufgeführt in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin am 23. 01. 2003.

37

38

Im Zeichen der Avantgarden

die Genre- und Gattungsgrenzen sprengende Ästhetik auf unsystematische Weise systematisch in der Geschichte der Kunst und der Kunst der Neo-  / Avantgarden begründet. In ihr wird die Frage nach den Bedingungen, unter denen es in der Gegenwart der eigenen Arbeit möglich wird, sich auf die historischen Vorläuferinnen zu beziehen, zum Gegenstand der szenischen Verhandlung selbst.

I. Im Zeichen der Avantgarden

Kunst und Künste im Zeichen der Avantgarden und Neoavantgarden ATTA ATTA – Die Kunst ist ausgebrochen ATTA ATTA – Die Kunst ist ausgebrochen wurde am 23. 01. 2003 an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin zur Uraufführung gebracht. Die Inszenierung ist Teil der ATTA-Trilogie attaistisches Welttheater, zu der außerdem Bambiland   31 sowie Attabambi-Pornoland – Die Reise durchs Schwein  32 gehören, die durch verschiedene Begleitveranstaltungen, wie ein »Attaismus«-Seminar, diskursiv erweitert wurden.33 Diese Arbeiten entstehen in einem Zeitraum zwischen 2003 und 2004, in dem Schlingensief mit der Inszenierung des Parsifals bei den Bayreuther Festspielen 2004 beauftragt wird. Die »attaistische« Arbeitsserie steht also wesentlich in einer kontextuellen Beziehung zur Parsifal-Inszenierung und ist auf besondere Weise von der formalen und kunstprogrammatischen Frage nach der Oper, nach ihren Spezifika und ästhetischen Ausdrucks- und Fassungsvermögen beeinflusst. Zugleich wird dabei in ihnen die Frage nach den Beziehungsförmigkeiten der Künste sowie nach ihrer wechselseitigen Entgrenzung und Öffnung in der selbstreflexiven Dynamik der Kunst selbst sowie in der Geschichte der bildenden Kunst verortet. Die Bühnenbilder muten teilweise bereits wie Variationen auf das Bühnenbild aus Parsifal an, die aber mit Blick auf ihre spezifisch gewählten Themen und formalen Zusammenhänge differieren. Sie bilden multimediale, zum Teil hyperkomplexe audiovisuelle Konstellationen und Arrangements, welche Bühnenmechaniken und -technologien aufs Äußerste herausfordern. In dieser Hinsicht prägen sie die Ästhetik von Schlingensiefs hierauf folgenden Arbeiten. Während in ATTA ATTA das Bühnenbild noch nur einige wenige Elemente aus der Parsifal -Inszenierung vorwegnimmt, wirkt das Bühnenbild aus AttabambiPornoland, eine vollgeladene, heterogene, multimediale Drehbühnenbildinstallation, schon fast wie eine Miniatur eines Parsifal -Bühnenbildes, wenngleich zahlreiche Details und Requisiten sich unterscheiden. Bambiland   34 liegt der gleichnamige Text von Elfriede Jelinek zugrunde, die sich Schlingensief als Regisseur

31 32 33

34

Uraufgeführt am 12. 12. 2003 im Burgtheater Wien. Uraufgeführt am 07. 02. 2004 im Schauspielhaus Zürich. Siehe hierzu Hegemann, Carl ( Hg.), Ausbruch der Kunst. Politik und Verbrechen II, Berliner : Alexander Verlag , 2003. Jelinek, Elfriede, Bambiland. Babel. Zwei Theatertexte, Reinbek bei Hamburg : Rowohlt, 2004.

39

40

ATTA ATTA – Die Kunst ist ausgebrochen

für die Uraufführung gewünscht hatte, wobei der Text aber nur zu kleinen Teilen tatsächlich gesprochen wird, sondern vielmehr als ein Element unter vielen in den vielschichtigen Gesamtzusammenhang eingewoben ist.35   Gleichwohl ist der Text buchstäblich sowohl auf formaler als auch thematischer Ebene in die Inszenierung eingeschrieben, wird in multiple ästhetische Strukturen und Medien übersetzt und mit ihnen verquickt.36    In allen Arbeiten werden einige Passagen aus dem Parsifal eingespielt, wozu Schlingensief den Dirigenten gibt. Die kunstförmige Auseinandersetzung mit den formalen Fragen der Oper führt Schlingensief in den attaistischen Arbeiten allerdings – und dies ist für den Untersuchungszusammenhang dieses Kapitels wesentlich – über den ›Umweg‹ der bildenden Kunst bzw. über ein Moment in der Geschichte der bildenden Kunst, in der die Neoavantgarden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts diese in Dimensionen der Selbstreflexion, der Aufführung und der Partizipation auf die anderen Künste hin öffnen, woraus wiederum gänzlich neue Gattungen wie die Aktions- und die Installationskunst entstehen. Dafür zitiert er verschiedene Künstler *innen, Bewegungen und Arbeiten auf unterschiedliche Weise, darunter Beuys, die Wiener Aktionisten, aber auch Yves Klein, Jackson Pollock und Paul McCarthy, bei denen die bildende Kunst zur Aufführung und Aktion wird, sich

35

36

Siehe hierzu auch Kovacs, Teresa, »› 60 Sekunden im Krieg ‹. Christoph Schlingensiefs Umgang mit Bildern des Irakkriegs in Elfriede Jelineks Bambiland« , in : Elfriede JelinekForschungszentrum ( Hg.), JELINEK [ JAHR ] BUCH, Wien: Praesens, 2001, S.  207 ‒ 219. Jelinek selbst schreibt hierzu: »Meine Sätze, die wenigen, die er verwendet hat, sind aber auf andere Weise wirksam geworden als Theatertexte, die von einem Regisseur realisiert werden. Sie haben etwas zugelassen, was aber […] gleichzeitig, in diesem Prozess, gezeigt hat, daß es sich dabei um etwas anderes handelt. Man weiß aber nicht, was handelt und was das Andere ist, um das es sich handeln könnte.« Jelinek, Elfriede, »Schlingensief«, in: Janke / Kovacs ( Hg.), Der Gesamtkünstler, a.  a. O., S.  353 ‒ 359, S.  353. Bärbel Lücke beschreibt diese Wechselverhältnis folgendermaßen : »Aber natürlich gibt es inhaltliche und formale Bezüge und Verschränkungen. Jelinek hatte Bambiland als ›work in progress‹ zeitgleich zum Irakkrieg des George W. Bush geschrieben. In die chorische Vielzahl ihrer Stimmen nahm sie Aischylos’ Perser ebenso auf wie Diskursfetzen aus Medienberichterstattungen, Waffentechnologie, Philosophie und Psychoanalyse, um durch Rekontextualisierung solcher ›Zitate‹ das ›War-tainment‹ genauso zu entlarven wie den als religiöse Polit- und Heilsmission getarnten kolonialen Kriegs-Raubzug des ›Jesus W. Bush‹. In der Kunst der Amalgamierung des scheinbar Disparaten, in dem Recyceln von diskursiven Resten berühren sich Jelineks und Schlingensiefs Kunst in ihren jeweiligen ›Macharten‹ ( eine Art Lévi-Strausscher Bastelei ).« Lücke, Bärbel, »Zwei Vermischungskünstler«. Über Texte Jelineks für Schlingensief«, in : Janke / Kovacs ( Hg.), Der Gesamtkünstler, a.  a. O., S.  377 ‒ 392, S.  383.

I. Im Zeichen der Avantgarden

in den Raum und auf den Körper ausweitet und das Publikum bzw. den Akt der Rezeption in die Produktion integriert. Die Avantgarden und Neoavantgarden und besonders die Wiener Aktionisten liefern ihm dabei zugleich einen Referenzrahmen für den thematischen und formalen Zusammenhang von Kunst und Gewalt. Denn thematisch sind die attaistischen Arbeiten, insbesondere die erste Arbeit der Serie, ATTA ATTA, sowie das attaistische Seminar maßgeblich von diesem Thema durchzogen, von dem aus wiederum ›Subthemen‹, die an die jeweiligen Aufführungsorte, Situationen und Zeitpunkte angepasst sind, gesponnen werden. Mit der Themensetzung reagieren Schlingensief und sein künstlerisches Team auf eine öffentliche Äußerung Karlheinz Stockhausens, in der dieser die Anschläge vom 11. September 2001 auf das New Yorker World Trade Center ( aufgrund ihres Spiels mit Symbolik und dem wirkungsvollen Einbezug der Medialisierung ) als »größtes Kunstwerk des 20.   Jahrhunderts« bezeichnet hat.37  Im Folgenden möchte ich nun jene Szene aus ATTA ATTA näher vorstellen und analysieren, die ich für eine Schlüsselszene der ganzen Trilogie und überhaupt des gesamten folgenden Spätwerks halte, und zwar insbesondere mit Blick auf das konstitutive sowie destruktive Verhältnis zu den künstlerischen Vorläufer *innen, das hier selbst zum Thema der szenischen Darstellung wird. Der Ausbruch der Kunst auf dem Theater In einer langen Sequenz, ziemlich am Anfang der Aufführung von ATTA ATTA – Die Kunst ist ausgebrochen ›zitiert‹ Christoph Schlingensief in Malakten, die er unter intensivem Körpereinsatz vollzieht, das zuvor umrissene historische Momentum in der Geschichte der bildenden Kunst. Die Szene spielt sich wesentlich zwischen zwei verschiedenen Settings ab, die gleichzeitig bespielt werden und wechselseitig ineinander hineinwirken. Das eine ist das spießige, kleinbürgerlich-katholische, elterliche Wohnzimmer, in dem Mutter ( Irm Hermann), Vater (  Josef Bierbichler) und Sohn ( Mario Garzaner ) auf Sofa und Sessel Platz genommen haben. Es ist ( aus Publikumsperspektive ) am linken Bühnenrand auf einem kleinen Podest errichtet und nach oben, seitlich zur Bühnenmitte und nach vorne zum Publikum geöffnet. Das andere ist ein in der Bühnenmitte platziertes dreigeteiltes Raumarrangement, das aus einem einfachen, aufgebockten Holzgestell gezimmert ist, welches ebenfalls nach vorne und oben geöffnet ist und dessen Wände mit weißem, großflächigem Papier, das als weiße Leinwand fungiert, ausgestattet ist. In dessen rechten Raum sind Staffeleien und ein Tisch mit Farben aufgestellt und einzelne Zettel als Arbeitsmaterialien an den

37

Siehe Hegemann ( Hg.), Ausbruch der Kunst, a.  a. O.

41

42

Der Ausbruch der Kunst auf dem Theater

Wänden angebracht. In dem linken Raum hängt ein schwarzes Gewand, auf dem Boden liegt eine schmale dunkle Matratze mit einem kleinen Polster als Kissen darauf, davor steht ein weiterer kleiner Klapptisch mit Farben, und ein alter Kassettenrekorder ist in der linken Ecke auf dem Fußboden aufgestellt. Das Raumarrangement mutet wie eine Rauminstallation innerhalb des Bühnenbildes an, als Arrangement spartanischer, selbst gezimmerter White Cubes. Es ist frontal zum Publikum gerichtet und in seine Blickrichtung geöffnet. Im Verlauf der gesamten hier analysierten Szene werden die einzelnen Räume unterschiedlich beleuchtet, sodass die skulpturale bzw. installative Qualität des Raumarrangements akzentuiert wird, was mit den in der Szene verhandelten Kunstbeziehungen korreliert.38 Das White Cube Setting wird hauptsächlich von Christoph Schlingensief bespielt, der neben Garzaner einen weiteren Sohn – ja, den Sohn par excellence wie er in Schlingensiefs Werk immer wieder virulent wird, in Erscheinung tritt und durchgearbeitet wird – verkörpert. Dieser Sohn scheint ein Problem mit der Kunst und mit seiner Familie zu haben, und beide erscheinen zutiefst ineinander verwoben. Er wechselt während der Szene wiederholt zwischen dem Kunstraum und dem elterlichen Wohnzimmer hin und her. Mit kreischender Kettensäge betritt er die Bühne, schreit hysterisch herum bei dem Versuch, die Kettensäge zu übertönen, und entwickelt aus dieser hysterisiert aggressiven, chaotischen Intensität unterschiedliche Malakte, in die er Körper und Stimme kraftvoll miteinbezieht. Mit einem in blaue Farbe getünchten Pinsel malt er in großen dicken Lettern »NO« und mit schwarzer Farbe »YORK« auf eine weiße Papier-Leinwand, wobei zahlreiche zusätzliche weitere Farbspritzer darauf entstehen. Er steigert diese scheinbar unchoreografierten, nur den kraftvollen Impulsen des Körpers folgenden Malakte, indem er den Pinsel immer wieder in Farbe tüncht und auf die Leinwand spritzt, als wolle er die plastische Geste, mit der er hier den abstrakten Expressionismus Jackson Pollocks und seine Action Paintings der 1950er Jahre zitiert, in ihrer Zi-

38

An den oberen Seitenrändern der Bühne, über dem Raumarrangement sind zwei große Leinwände angebracht, auf denen ein Film läuft, der eine Gruppe älterer berühmter Schauspieler *innen zeigt ( darunter Hannelore Hoger, Margit Carstensen, Hannelore Elsner ), die scheinbar unter der Anleitung des Filmregisseurs Oskar Roehler vom Brandenburger Tor Richtung Volksbühne ziehen und dabei unterschiedliche Stationen machen, z.  B. im Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Dort sorgen sie offenkundig für Unruhe, bis sie schließlich – allerdings nur noch in Person von Herbert Fritsch – die Aufführung betreten und sie mit einem langen Abschlussmonolog beenden. Der Film wird stumm projiziert, er etabliert in Form der medialen Übertragung eine zusätzliche raumzeitliche Ebene in der Aufführung , die am Ende in ihr aufzugehen scheint. Die Leinwände, auf die projiziert wird, verstärken zusätzlich den installativen Eindruck des Bühnenbildes und erweitern in dieser Hinsicht das Raumarrangement.

I. Im Zeichen der Avantgarden

tathaftigkeit unterstreichen. Mit bloßen, in Farbe getünchten Händen malt er ein Herz auf eine weitere Leinwand, indem er seine ausgestreckten Handflächen wiederholt in Herzform über die Leinwand gleiten lässt, das Herz immer wieder nachzeichnend, wobei die Konturen immer stärker ausfransen. Während er diese malerischen Bewegungen mit seinem Körper ausführt, ruft er zum wiederholten Male: »Love, Love«, als entstünden seine Bildakte als buchstäbliche Lautmalereien. Immer wieder richtet er sich zwischen Aggression, Hysterie, Wahn und Verzweiflung changierend an das elterliche Wohnzimmer und versucht auf unterschiedliche Weise, den mit scheinbar gelassener Mine auf den Ausbruch der Kunst (und ) des Sohnes reagierenden Vater aus der Façon zu bringen. Er tyrannisiert die Mutter, indem er sie beispielsweise, die »Burka für den Mann« fordernd, dazu zwingt, das schwarze Gewand, das er auf sie wirft, anzuziehen. Die Mutter zeigt sich angewidert und erschüttert über die wilden Auswüchse der Kunst (wie) des Sohnes und versucht immer wieder, ihn zu beschwichtigen, ihn wieder zu ›normalisieren‹ . Akustisch begleitet wird die Szene durch das Erklingen verschiedener elektronischer Soundflächen, einer eingespielten, tiefen Bassstimme, die immer dieselben Laute wiederholt und nach einer Soundinstallation von Joseph Beuys klingt. Es klingelt Hermann Nitsch (verkörpert von Dietrich Kuhlbrodt ) › an der Tür‹ ; die Mutter öffnet ihm und richtet sich an den Sohn : »Christoph, der Nitsch ist da, aber mach’ nicht zu lang !« Schlingensief freut sich über den Gast – »Gut, dass Du kommst, Herrmann« –  , weil er ihm zeigen will, was er gerade »gefunden« habe, nämlich ein Zitat von Niklas Luhmanns systemtheoretischer Erfassung der Funktionsweise der modernen Kunst in Die Kunst der Gesellschaft, das er ihm laut vorliest : »Ein Kunstwerk zeichnet sich durch die geringe Wahrscheinlichkeit seiner Entstehung aus.« 39  Ob das nicht irre sei, fragt Schlingensief den ruhig und unbeteiligt am Tisch sitzenden Nitsch und schlägt mit hinuntergelassen Hosen sein Gesäß gegen die voll bemalte, bespritzte und demolierte Leinwand. Eine überlebensgroße schwarzweiße Farbtube, die der Aktion The Painter von Paul McCarthy ( Los Angeles, 1995 ) 40 entlaufen zu sein scheint – überhaupt sind die Bezüge und Zitate zu dieser Aktion in dieser Szene überdeutlich –  , betritt die Bühne und versucht im elterlichen Wohnzimmer Platz zu nehmen. Sie wird aber vom stoischen Vater daran gehindert, indem er sie aus dem Wohnzimmer trägt und zu dem sich in den Wahn des Malaktes immer stärker hineinsteigernden Sohn bringt. Dieser verprügelt sie daraufhin mit dem Pinsel, sodass sie flüchtend von der Bühne rennt. Schlingensief lässt sie wissen, er wolle sie nie wiedersehen, und schlägt nun noch energischer auf die Leinwand und auf den Tisch, bis der Pinsel

39 40

Zitiert nach Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, a.  a. O., S.  247. Herv.   i.   O. Siehe hierzu weiter McCarthy, Paul, Brain Box. Dream Box, hg.  v.  Van Abbemuseum Eindhoven, Düsseldorf: Richter, 2004.

43

44

Der Ausbruch der Kunst auf dem Theater

bricht. Immer wieder kreischt er »Alles weg !« und versetzt der Leinwand mit dem abgebrochenen Pinselstil einen letzten Stoß, als sei er ein Dolch oder vielmehr noch ein Phallus. Indem er so den, besonders durch Lucio Fontana bearbeiteten Topos der Leinwandperforierung ,41 aufruft, in dem diese als Symbol des weiblichen Genitals, das vom Pinsel als Phallus penetriert wird, deutbar wird, evoziert er eine assoziative Verbindung von Kunst und Gewalt. Sie lässt er in dieser Sequenz als eine symbolische Variation von Vergewaltigung lesbar werden, die in der gesamten Szene (wie in der gesamten Aufführung  ) fortlaufend variiert wird, auch in freischwebender Anlehnung an antike Motive familialer Beziehungen. Schlingensief tritt schließlich die Leinwand durch und fällt zu Boden. Er zerlässt noch mehr blaue Farbe auf dem Boden und tüncht sein Genital, über den Boden gestützt, hinein, so als unterziehe er Yves Kleins Anthropometrie-Aktionen, in denen dieser ab den späten 1950er Jahren nackte, in Farbe getünchte Frauen über großformatige, am Boden liegende Leinwände rollen ließ,42 einer feministischen Kritik 43 im Modus des Reenactments. Er setzt dem noch eins drauf, als er, nachdem die Leinwand dabei auf ihn fällt, auf die blaugetünchte Leinwand, die noch auf dem Boden liegt, »FÜR DICH« malt und anschließend das unter anderem mit seinem Genital gemalte Bild zu seiner Mutter mit den Worten »Für Dich Mama, von Herzen« hinüberbringt, die angewidert und verzweifelt abwehrt. Nach einem kurzen Abgang kehrt er erneut mit der kreischenden Kettensäge auf die Bühne zurück, legt sie in den vorderen Malraum und lässt sie dort laufen.

41

42

43

Siehe hierzu weiter Renn, Wendelin ( Hg.), Der unbekannte Fontana, Ostfildern-Ruit : Hantje Cantz, 2003. Siehe hierzu weiter z.  B. Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien ( Hg.), Yves Klein, Wien / New York : Springer, 2007. Diese Szene lässt sich insofern so verstehen, als hier nicht mehr der weibliche Körper und das weibliche Geschlecht als Pinsel und lebendiger Akt zum Einsatz kommen, sondern nun das männliche Genital des Künstlers selbst objektiviert und instrumentalisiert wird. Oder man liest dieses kurze Reenactment anders herum, als Zuspitzung der Klein’schen Künstler-Modell-Konstellation, die als exemplarisch für eine patriarchale Künstler-Subjekt / Modell (weiblicher Körper)-Objekt-Relation in der Geschichte der Malerei gelten kann. Dieser Lesart nach vollzieht hier Schlingensief konkret, was in etwa in Kleins Arbeiten noch symbolisch implizit ist, nämlich der Malakt als Geschlechtsakt, als Penetration des weiblichen Körpers ( hier Leinwand  /-schlitz ) durch den männlichen Künstler. Auch diese Lesart würde allerdings aufgrund der Übertreibung, der Ironie, der Selbstaussetzung und -distanzierung, dem Ausstellen von Wahn und Schwäche des Künstlers und überhaupt der theatralen Situation des Nachstellens der feministischen Kritik zuspielen, indem so die eigene historische patriarchale Künstler-Konstellation auch als lächerlich markiert wird.   44  

I. Im Zeichen der Avantgarden

Nebenan raucht er und trinkt Whisky, bis er die Kettensäge wieder aufnimmt, sie in die Luft hält und laut »Brus, Brus« ruft, womit in diesem szenischen Zusammenhang freilich der Kollege Hermann Nitschs, der Wiener Aktionist Günter Brus, gemeint ist. Schlingensief verlässt noch einmal kurz die Bühne, um nun von hinten das Bühnenbild durchzustoßen und schließlich aus dem zu Boden gefallenen Herzbild ein Stück herauszusägen. Das Bild mit dem ausgesägten Dreieck in der Hand haltend, nähert er sich wieder dem elterlichen Wohnzimmer und wirft es davor zu Boden, als er stöhnt, dass »es kommt« : Er reißt sich die Hose vom Leib und brüllt den Eltern zu, dass jeder ihm geraten habe, »es« nicht zu tun, aber er müsse, denn er sei ein Künstler.44  Den »Künstler« übertrieben, heroisch, ironisch, verächtlich wie verzweifelt hinausschreiend, legt er sich zu Boden und zieht das Bild über sich, sodass das ausgesägte Dreieck auf der Höhe seines Genitals liegt. Aber durch das Dreieck erblicken wir jenes nicht, sondern ein langes schmales Dosenwürstchen, das Schlingensief anstelle seines Genitals als wabbeligen Phallus, der nun ganz Partialobjekt geworden ist, nach links und rechts baumeln lässt. Es kommt – wie könnte es anders sein – der Vater hinzu und versucht, zunächst nach dem Würstchen zu greifen, um schließlich symbolisch mit der bloßen Hand auf den Genitalbereich einzustechen. Der Künstler und Sohn Christoph Schlingensief kann nur noch vor Schmerz wimmern und lugt fassungslos unter dem Bild hervor. Er ist vollkommen mit Farbspritzern übersäht, und seine um die Schienenbeine drapierte, hinuntergelassene Hose und Unterhose leuchten voll blauer Farbe. Schlingensief zitiert hier, so möchte ich behaupten, im Rahmen einer Theateraufführung auf künstlerisch-schelmische Weise ein (unbestimmt bestimmtes ) Moment in der Geschichte der bildenden Kunst, indem sich diese der Auffüh-

44

Diese Szene lässt sich als Zitat Günter Brus’  begreifen, der seine erste Aktion Ana (1964  ), die einen Versuch darstellt, sich von der Malerei zugunsten körperbezogener Malaktionen zu lösen, abbricht, weil ihn dabei ihm nach ein »Malanfall« überkommen habe. Brucher, Rosemarie, Durch seine Wunden sind wir geheilt. Selbstverletzung als stellvertretende Handlung in der Aktion von Günter Brus, Wien: Löcker, 2008, S. 19. Brus schildert die Situation wie folgt : »[ ich] verklemmte mich in eine umgestürzte Stehleiter, auf welcher ich vorher die entsetzlichsten Turnübungen zur Schau stellte, beschmierte in rasender Verzweiflung die Wände bis zur Erschöpfung.« Das Malen sei ein Rückfall in eine »zu überwindende ›Technik‹« : die Malerei zugunsten der Aktion. Brus zitiert nach Brucher, ebenda. In seinen Malaktionen geht es Brus darum, das Bild nicht als Resultat zu sehen, sondern den Körper »direkt in ein räumliches Bild einzubringen«, was Schlingensief in seiner Aktion buchstäblich re-inzeniert. Klocker, Hubert, »Günter Brus. Biographie und Aktionschronologie«, in : Ders., Wiener Aktionismus II, Wien 1960  ‒1971. Der zertrümmerte Spiegel. Günter Brus, Otto Mühl, Hermann Nitsch, Rudolf Schwarzkogler, Klagenfurt : Ritter 1989, S.  116. Zitiert nach Brucher, Durch seine Wunden sind wir geheilt, a.  a. O., S.  19.

45

46

Zitieren als künstlerische Praxis

rungssituation des Theaters annähert 45 und sich, in einem zweiten Schritt, neue Kunstformen und Gattungen, neue Kunst-Welt-Relationen sowie neue Beziehungsförmigkeiten zwischen den Künsten herausbilden und zwar als Fortsetzung und Weiterschreibung eines sich in der ästhetischen Moderne begründenden Impulses der kritischen Selbstreflexion, als Modus der Emanzipation von den Konventionen und den an bestimmte Gattungen gekoppelten Konstruktionsprinzipien sowie als Reaktion auf eine radikal sich verändernde Umwelt, welche die tradierten Erzähl- und Darstellungsweisen nicht mehr adäquat zu erfassen scheinen. Aber wie vollzieht sich dieses szenische kunsthistorische Zitat als solches, und inwiefern kann es als paradigmatisch für Schlingensiefs Umgang mit der ( Kunst-) Geschichte und ihrer Personage angesehen werden? Und inwiefern nun kann diese Szene aus ATTA ATTA – Die Kunst ist ausgebrochen als paradigmatisch für die Organisation der Künste, für die heterogene, hybride und transgressive Ästhetik von Christoph Schlingensiefs späten Arbeiten aufgefasst werden? Zitieren als künstlerische Praxis im Spannungsfeld von Geschichte und Emergenz Die hier auf ihre Aufführung hin ausgerichteten Malakte, die Schlingensief auf der Bühne in Szene setzt und mit anderen räumlichen, materiellen, zeichenhaften und narrativen Kontexten verwebt, eröffnen in ihrer überdeutlichen Uneindeutigkeit eine spezifische Vieldeutigkeit und Pluralität der Anschlüsse und Verknüpfungen, der, so möchte ich hier zeigen, gezielt stattgegeben wird. Die Art und Weise der Bezugnahme in dieser Szene, auf ganz verschiedene künstlerische Praktiken der Neoavantgarden, die hier von Lucio Fontana zu Yves Klein, über Fluxus, Beuys und die Wiener Aktionisten bis zu Paul McCarthy reichen, welche sich alle auf unterschiedliche wie neuartige Weise primär gegenüber der bildenden Kunst und Malerei positionieren und sich, die Kunst selbst dabei verändernd, zu ihr ins Verhältnis setzen, möchte ich als spezifische Form des künstlerischen Zitats beschreiben, das sich im Spannungsfeld von Geschichte, Performativität und Emergenz entfaltet. Schlingensief versucht die Personen und Arbeiten, die er referenziert und zitiert keineswegs exakt zu imitieren, sondern bringt sie vielmehr spielerisch in ihrer plastischen Symbolhaftigkeit zur Aufführung. Hermann Nitsch wird durch Diedrich Kuhlbrodt verkörpert, indem er einen als Nitschs Erkennungszeichen fungierenden, angeklebten Rauschebart im Gesicht trägt und von Schlingensief und Irm Hermann als Schlingensiefs Mutter namentlich so angesprochen wird. Eine

45

Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, a.  a. O., S.  22  ff.

I. Im Zeichen der Avantgarden

Farbtube tritt auf, die Paul McCarthys Arbeit The Painter entnommen scheint, und Schlingensief vollzieht Malakte, die bestimmte, größtenteils sehr prominent gewordene Aktionen aus dem empirisch viel breiteren und differenzierteren Arsenal neoavantgardistischer Kunst imitieren. Dabei werden deren markanteste und prominente Wiedererkennungsmotive aufgerufen und zugleich stark verändert und verkürzt, de- und rekontexualisiert und mit anderen Arbeiten und Motiven übermalt. In den ästhetischen Zitationen scheint Schlingensief keineswegs auf die möglichst exakte Imitatio eines bestimmten historischen Vorbildes zu zielen, sonders es vielmehr auf eine assoziative Vernetzung dieser Arbeiten, künstlerischen Praktiken und Konzeptionen anzulegen, die dabei als Teil eines kollektiven symbolischen und ikonischen kunstgeschichtlichen Arsenals wahrnehmbar werden. Die Brus’schen Körperbandagen, Fontanas Leinwandschlitze, Kleins Anthropometrien oder McCarthys Riesenfarbtube sowie die aktionistischen Malpersiflagen werden als zirkulierende Signifikanten in Szene gesetzt, die selber Teil einer populären Kultur geworden sind und hier nicht mehr in erster Linie ein spezifisches Ereignis signifizieren, sondern in unterschiedlichen Kontexten und Konstellationen auf- und abtauchen und darin verschiedene Felder und Strömungen assoziativ verweben. Durch lose Akte der Wiederholung, die sich nicht an klare Vorgaben, Abläufe und Materialien halten, werden assoziative Anschlüsse und Verknüpfungen seitens der Rezipient*innen provoziert. Denn wie eigentlich immer in Schlingensiefs Arbeiten erfolgt die zitatförmige Referenzierung bestimmter Personen, Ereignisse, Kunstwerke und Kunstereignisse sowie anderer Phänomene und Diskurse so betont ungenau, so überexpressiv, so überplastisch, so ironisch gewendet und verfremdet, dass die eigene künstlerische Praxis des Zitierens und Referenzierens sich in diesen Vollzügen als solche exponiert und ins Spiel bringt. Die Kluft zwischen dem Zitierten und dem Zitat wird in actu, in Form künstlerischer Praxis, so überdeutlich markiert, dass diese Nichtübereinstimmung, das Nichtidentische in der Beziehungsförmigkeit der beiden Phänomene, zum Ausgangspunkt der ästhetischen Operationen wird. Dadurch werden nicht nur die individuellen Verknüpfungsleistungen seitens der Rezipient*innen wahrnehmbar, die durch ein kollektives kulturelles und kunstgeschichtliches Repertoire und deren singuläre Aktualisierungen und Zugriffe strukturiert werden. Auf diese Weise des ästhetischen Zitierens wird auch ein Spezifikum von Performativität deutlich, auf dessen Grundlage inszeniert wird bzw. diesen ästhetischen Modus des Zitierens überhaupt erst ermöglicht. So schreibt sich das komplexe Netz aus Geschichte und Normativität, das kollektive kulturelle Archiv, in die sich im Hier und Jetzt ereignenden Situationen ein, bedingt und ermöglicht sie.46  Durch De- und Rekontextualisierungen der

46

In diesem Sinn arbeitet Judith Butler in ihren Schriften ein Konzept von Performati-

47

48

Zitieren als künstlerische Praxis

ästhetischen und kunstgeschichtlichen Zusammenhänge verweist der geschilderte künstlerische Vollzug in der Aufführung, die Darstellungssequenz, auf das Hier und Jetzt der Aufführung, in der bestimmte ( kunst)geschichtliche Koordinaten aufgerufen, sich angeeignet und im historischen Netz der aktuellen und simultanen Gegenwärtigkeit verortet und ausgelotet werden. In der plastischen Explikation des Zitats und der Bezüge werden die jeweiligen Personen und Arbeiten einerseits überdeutlich markiert, wodurch die Abweichungen, die ausgestellten Ungenauigkeiten, ja Schlampigkeiten eine Geste der Distanzierung bilden, in der Ironie und Emanzipation mit Relevanz und Dringlichkeit eine eigenwillige Verbindung eingehen. Entsprechend werden hier Wiedererkennungen seitens der Rezipient*innen initiiert, die im gleichen Moment notwendig auch Verkennungen bilden. Die meisten Aufführungsbesucher *innen werden wohl weniger konkrete Arbeiten dieser Künstler *innen assoziieren, die hier zitiert werden, sondern vielmehr allgemeine Bilder und Assoziationen mit ihnen verknüpfen, die je nach Grad der kunstgeschichtlichen Bildung individuell variieren. Dies hängt einerseits sicher damit zusammen, dass die wenigsten Expert*innen der Arbeiten der Wiener Aktionisten sind und diese sogleich memorieren könnten, oftmals, weil sie sie vielleicht auch gar nicht kennen. Andererseits liegt diese Verkennung, die gleichwohl ein spezifisch unspezifisches Erkennen, ja Wiedererkennen darstellt, auch in der Inszenierung dieser Szene begründet, die nämlich gar nicht auf historische Genauigkeit, auf eindeutige Wiedererkennung, auf Identifikation abzielt, sondern auf die Mannigfaltigkeit und die Pluralität der Möglichkeiten von Sinnbildung, von



vität aus, auf das ich im Verlauf der Arbeit mit Blick auf unterschiedliche Arbeiten Schlingensiefs wiederholt zurückkommen werde. Besonders in ihren früheren Texten konzeptualisiert Butler Performativität als Wiederholungsstruktur von historisch ausdifferenzierter, sedimentierter, reproduzierter und modifizierter Macht und Normativität in den jeweiligen Gegenwärtigkeiten. Subjektivierung erfolgt in Akten der mimetischen und repetitiven Aneignung von ihnen vorgängigen Bedingungen, Rollen und Mustern. Vgl. z.  B. »Performativität als Zitatförmigkeit«, in : Butler, Judith, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1997, S.  35 ‒ 50. In seiner Studie Postspektakuläres Theater begründet André Eiermann mit Blick auf eine so begriffene Performativität, die bei ihm allerdings noch einmal spezifisch psychoanalytisch gefiltert ist, einen Aufführungs- und Inszenierungsbegriff, der den normativen und symbolischen Einschreibungen der einzelnen ( Aufführungs-)Situationen Rechnung trägt und in Hinsicht auf die normative und symbolische Ordnung, die ihnen allen eingeschrieben ist, den Aufführungs-, den Inszenierungs- und den Werkbegriff in eine engere Verwandtschaftsbeziehung setzt, als dies in den Theater-, Performance- und Aufführungstheorien, von denen er sich absetzt, der Fall ist. Vgl. Eiermann, André, Postspektakuläres Theater, Bielefeld: transcript, 2009, insbesondere S.  31  ff., S.  42  ff.

I. Im Zeichen der Avantgarden

Anschluss, von Kommunikation, von Vernetzung und Zusammensetzung hinweist, in denen wir uns und unsere Umwelt konstituieren. So bekunden sie auch, dass in den theatralischen Malakten eine gewisse Beliebigkeit in der Assoziation der hier zitierten und referenzierten Arbeiten seitens der Rezipient*innen möglich ist, ja ihr auf der Grundlage bestimmter Inszenierungsstrategien stattgegeben wird. In diesem Inszenierungsprinzip wird mitgeführt und ausgespielt, dass sie Teil kollektiver Geschichtsschreibung, Teil eines kollektiven kulturellen Arsenals der Nachkriegskunst geworden sind und im öffentlichen Bewusstsein auch deren verkürzenden Diskursen und Darstellungsschemata unterliegen. Deshalb geht es in ihren je gegenwärtigen Aktualisierungen nicht primär um ihre exakte Identifizierung, die um eine möglichst genaue historische Rekonstruktion der ursprünglichen, ›authentischen‹ Person, Aktion oder Arbeit bemüht ist, sondern auch darum, sie als Teil eines kollektiven Arsenals aufzurufen, in dem sie sich gewissermaßen ›verselbständigt‹ haben, was sich schließlich auch anhand der künstlerischen Aktualisierungen selbst zeigt. Sie sind Teil einer Populärkultur geworden, und ihr künstlerisches Personal wird darin teilweise zu Popfiguren stilisiert. Dass Schlingensiefs Zitate auch auf dieser Ebene ansetzen, heißt aber nicht, dass nicht Einzelne ganz konkrete Arbeiten sehr genau wiedererkennen und eine ganze Genealogie von Arbeiten, die hiermit verknüpft ist, assoziieren könnten. Die Art, Präzision und Intensität einer solchen Wiedererkennung und historischen Zuordnung hängt nicht nur von der Situation und Konstellation der jeweiligen ästhetischen Erfahrung, sondern auch von der etwaigen kunstgeschichtlichen Vorbildung der einzelnen Rezipient*innen ab. Soziale wie ästhetische Determinanten bestimmen hier den Wirkungszusammenhang mit, indem die Personen und Phänomene im Modus des künstlerischen Zitats ins Spiel gebracht werden, sie prägen die Struktur der ästhetischen Erfahrung, in einem Spannungsverhältnis von Kollektivität und Singularität. Die Inszenierung der verschiedenen kunstgeschichtlichen Phänomene, Personen und Zusammenhänge in Schlingensiefs Arbeit hebt einerseits auf ein Wiedererkennen ab und zielt auf das Gemeinsame, auf das, was Teil des kollektiven kunstgeschichtlichen Arsenals geworden ist. Zugleich wird deutlich, dass die von der künstlerischen Referenzierung ausgelösten Assoziationen und Verknüpfungen singuläre Verläufe bilden, in denen unberechenbare Verschiebungen, Fortschreibungen und Freiräume hergestellt werden, die sich den Normierungen und Standardisierungen immer auch widersetzen können.47

47

Siehe hierzu auch Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, a.  a. O., S.  240  ‒280.

49

50

Werk und Künstler

Werk und Künstler im Zeichen der Neo-  /  Avantgarden Die skizzierten Formen und Prinzipien der künstlerischen Bezugnahme auf bestimmte Vorläufer *innen sowie künstlerische Arbeiten impliziert in dieser expliziten Referenzierung innerhalb der Kunstereignisse selbst wesentliche Konsequenzen und Programmatiken für die Frage nach dem Werkcharakter der Arbeiten sowie dem Status des Künstlers darin. Denn in den künstlerischen Zitationen auf Kunst und Künstler *innen exponiert sich hier ein programmatischer Verzicht auf den Anspruch eines originären und referenzlosen Werkcharakters der Arbeiten, welcher sich der genialen und schöpferischen Kraft einer einzelnen Künstlersubjektivität verdanken würde. Insbesondere die historischen Avantgarden gelten als jene (anti )künstlerische Bewegung, die am radikalsten mit dem klassischen Werkbegriff und damit verknüpft dem singulären Schöpferstatus des Künstlers, der für das Werkhafte des Werkes bürgt, brechen.48   Besonders deutlich wird dies anhand Marcel Duchamps Intervention des Readymades. Martin Damus notiert zum Readymade in den Kunstpraktiken der Avantgarden: »Das Ready-made, das Duchamp in den Kunstbetrieb einbrachte war kein Kunstwerk, sondern eine Manifestation, eine künstlerische Positionsbestimmung, vergleichbar anderen avantgardistischen Manifestationen. – Das Ready-made markiert eine Zäsur in der Kunstentwicklung: Kunst hat nichts mehr mit der bis dato üblichen Verbindung von Handwerk und Genie zu tun. […] Die Künstler stellen mit der Verdoppelung eines Kunstwerks, was nach Duchamp künstlerischer Alltag geworden ist, den Anspruch von Kunst auf Unverwechselbarkeit und Originalität in Frage.« 49   Peter Bürger konstatiert, dass Duchamp mit dem Readymade »die Vorstellung vom Wesen der Kunst, wie sie sich seit der Renaissance herausgebildet hat, als individuelles Schaffen einmaliger Werke provokatorisch in Frage gestellt«50 habe. »Wenn Duchamp 1913 Serienprodukte (ein Urinoir, einen Flaschentrockner) signiert und sie auf Kunstausstellungen schickt, so wird damit die Kategorie der individuellen Produktion negiert« 51, so Bürger weiter. »Die Signatur, die gerade das Individuelle des Werks festhält, die Tatsache, daß es sich diesem Künstler verdankt – sie wird,

48

49

50 51

Zur Krise des Werkbegriffs in der Moderne und bei den Avantgardebewegungen im Besonderen siehe: Belting, Hans, »Der Werkbegriff der künstlerischen Moderne«, in : Klinger  / Müller-Funk ( Hg.), Das Jahrhundert der Avantgarden, a.  a. O., S.  65 ‒ 80. Damus, Martin, »Ready-made«, in: van den Berg, Hubertus / Fähnder, Walter ( Hg.), Metzler Lexikon Avantgarde, Stuttgart / Weimar : Metzler, 2009, S.  276  f. Bürger, Theorie der Avantgarde, a.  a. O., S.  77. Ebenda, S.  70.

I. Im Zeichen der Avantgarden

dem beliebigen Massenprodukt aufgedrückt, zum Zeichen des Hohns gegenüber allen Ansprüchen individuellen Schöpfertums« 52, schließt er. Schlingensief knüpft in vielerlei Hinsicht an diesen fundamentalen Umbruch an und setzt ihn anders fort. Originärer Werkcharakter und geniale Künstlersubjektiviät werden in den angeführten Beispielen besonders durch die permanente Referenzierung, Anrufung, Nachahmung und Adaption anderer Künstler *innen und ihrer Arbeiten durchgestrichen. Schlingensiefs Arbeiten werden so in sich selbst markiert, als in ein potenziell unendliches Netz der Bezüge und Verweise eingelassen, welches ihren spezifischen, kunstimmanenten Weltzugriff und ihre ästhetischen Formen überhaupt erst denkbar macht und ermöglicht. Der Künstler ist hier kein autonomes, originäres Subjekt von ebensolcher Schaffens- oder gar Schöpferkraft, sondern eine vielfach verwobene Instanz, der auf seine Vorgänger *innen zurückgeworfen wird, wenn es darum geht, künstlerisch tätig zu werden, künstlerische Handlungen zu initiieren und sich in der Kunst ( -Welt) zu behaupten und zu verorten. Szenen und Arbeitsweisen wie die dargelegten verneinen den autonomen und objektivierbaren Werkcharakter der Arbeiten und inszenieren ihre Genese als prozessuale Arbeitsstruktur, in der sie sich aus einer Vielzahl an Verweisen und Bezugnahmen, durch wiederauftauchendes und recyceltes Material und durch die immanente Reflexion auf ihre sozialen und ( kunst-) geschichtlichen Bedingungen und Genealogien sowie in Begegnung mit dem Publikum konstituieren. In der historischen Entwicklung des Prozessualwerdens der bildenden Kunst und der Malerei seit den ausgehenden 1950er Jahren, bei dem wesentlich der Akt des Malens selbst wie dessen gleichzeitige Rezeption im Vordergrund stehen und das Moment der Begegnung von Rezeption und Produktion in den Fokus der Kunst rückt, entstehen gänzlich neue Kunstformen ( Aktionskunst, Performanceund Body Art ), die sich wesentlich als Ereignisse und nicht als Objekte realisieren.53 Unter gänzlich veränderten kontextuellen und situativen Vorzeichen und damit auch in einer distanzierten, artifiziellen und reflexiven Kluft zu den an alternierender Unmittelbarkeit arbeitenden ›Originalen‹ löst Schlingensief in seinen performativen Zitaten (un-)bestimmter Künstler *innen, Arbeiten und Bewegungen diese Kritik symbolisch wie ironisch ein. Denn während die Bilder sowie andere Objekte und skulpturale Gebilde als Relikte von Kunstaktionen als kostbare

52 53

Ebenda, S.  70  f. Dieses Prozessualwerden ist auch als kritische Bewegung gegenüber der Warenförmigkeit der Bilder, Skulpturen und Kunstwerke zu begreifen. Siehe hierzu z.  B. Gronau, Theaterinstallationen, a.  a. O., S.  23. Entsprechend begreift Peggy Phelan die subversive »Ontologie der Performance«, siehe Phelan, Peggy, Unmarked. The Politics of Performance, London: Routledge, 1993.

51

52

Sich in der ( K unst- ) Welt verorten

Werke ausgestellt und zu horrenden Preisen verkauft werden, wie jene von Jackson Pollock, Yves Klein oder auch Hermann Nitsch und Joseph Beuys, sind die in Schlingensiefs Zitationen dieser Arbeiten entstehenden Bilder und ›Skulpturen‹ von vornherein keine ›Originale‹, keine originären Werke, sondern a priori Kopien, sich als solche exponierende Nachahmungen, die darin zugleich fehlschlagen, ihre Vorlagen verfehlen, sie hierin aber öffnen und für multiple Anschlüsse und Verknüpfungen freilegen. Die in der Aufführung entstehenden Bilder als Relikte körperlicher Farb- und Malakte erscheinen hier in erster Linie als wertfreie Requisiten, die bei dem ironisch gebrochenen und verfremdeten Zitieren künstlerischer Praktiken entstehen, letztendlich: als Trash. Die emanzipatorische Referenz. Sich in der ( Kunst -)  Welt verorten  /  Familie und Vorgänger *innen Im Vergleich zur ›Mutter‹ des künstlerischen Reenactments und performativen Zitats bestimmter in die Kunstgeschichtsschreibung eingegangener Events und Aktionen, Marina Abramović, die in akribischer Recherche die neu und doch anders ›wieder‹ aufgeführten zentralen Aktionen der Performancegeschichte zu rekonstruieren versucht 54 und sie dabei als ehrwürdige Kunstwerke und ihre Künstler *innen als geniale Autoritäten behandelt, wirken Schlingensiefs freie, spielerische, assoziative und plakativ-ironische gestische und performative Bezugnahmen auf die künstlerischen Vorgänger *innen distanzierter und emanzipierter. So werden sie im Theater Christoph Schlingensiefs mit jenem antiautoritären Gestus in Szene gesetzt, mit dem sie selbst einst auftraten und den sie zu evozieren suchten. Denn die referenzierten künstlerischen Praxen, Programmatiken und Bewegungen lassen sich als eine emanzipatorische Bewegung lesen, die sich, ähnlich wie die historischen Avantgarden, ihren Vorgänger *innen, dem kunstgeschichtlichen Erbe und den an sie gestellten Anforderungen durch Konventionen und Institutionen widersetzt.55   Diese emanzipatorische Geste, die – wie häufig auch

54

55

Hierzu ist gleichwohl anzumerken, dass sie dabei die Verschiebung des raumzeitlichen sowie personellen Kontexts reflektiert und Differenzen, wie Dauer, Raum etc., deutlich markiert. Siehe weiter zu Abramovićs Reenactments: Abramović, Marina, 7 Easy Pieces, Mailand : Charta, 2007. Siehe auch Umathum, Sandra, »Seven Easy Pieces oder die Kunst, die Geschichte der Performance Art zu schreiben«, http://www.academia.edu/4483224/ Seven_Easy_Pieces_oder_von_der_Kunst_die_Geschichte_der_Performance_Art_zu_ schreiben, [19. 12. 2018 ]. Sie entstehen zudem in einem gesellschaftlichen Kontext, indem sich die jüngeren Generationen gegen die gesellschaftlichen Repressionen der 1930er bis 50er Jahre emanzipa-

I. Im Zeichen der Avantgarden

bei den Neoavantgarden – einem Spannungsverhältnis von Affirmation und Abstoßung verhaftet bleibt, wendet Schlingensief nun auf sie selbst an. Entsprechend szenisch gekoppelt ist diese Auseinandersetzung mit bestimmten Künstler *innen und Arbeiten der Neoavantgarden an den Topos der Familie, der hier als strukturelles Analogon inszeniert wird. Wenn ›Hermann Nitsch‹ von Schlingensiefs Mutter ( alias Irm Hermann) zum hysterisch sich in gewaltentladende Malakte verstrickenden Sohn mit der Aufforderung geführt wird, sie sollten nicht zu lange machen, und der White Cube somit als Spielzimmer eines pubertierenden Sohnes deklariert wird, wenn eine riesige schwarzweiße Farbtube ( à la Paul McCarthy, der seinerseits den Topos des infantilen Regress des männlichen Künstlers in Szene setzte ) im elterlichen Wohnzimmer Platz zu nehmen versucht, wenn der Sohn ein mit in blaue Farbe getünchtem Gesäß und Genital ›gemaltes‹ Bild ins elterliche Wohnzimmer hinüberträgt, um es der Mutter zu schenken, die sich wie von inzestuöser Perversion, die sich hier buchstäblich als Bildakt zuträgt, angewidert zeigt, und wenn er schließlich aus so einem unter großem körperlichen Einsatz generierten Bild ein Dreieck mit einer Kettensäge heraussägt, das Bild auf sich zieht und an der Stelle seines Genitals ein Würstchen herauszieht, das von dem (erblindeten) Vater abgerissen wird, handelt es sich um eine spezifische Verschränkung familialer Topoi und re-inszenierter kunstgeschichtlicher Ereignisse. Die Auseinandersetzung und das Sich-in-Beziehung-Setzen zu bestimmten Vorläufer *innen der (un)eigenen Kunst, welche die (un)eigenen ästhetischen Operationen erst möglich und denkbar machen, wird zugleich als familiale Beziehung ins Spiel gebracht. Die Aggression, mit der Schlingensief die Auseinandersetzung mit Arbeiten und Vertreter *innen eines bestimmten Moments in der Geschichte der bildenden Kunst an die Abarbeitung an der Familie koppelt, lässt sie zu einer Auseinandersetzung werden, die sich im Spannungsfeld von Affirmation und Destruktion, von Identifikation und Dissoziation, von Mimesis und Ikonoklasmus entfaltet. Wenn Schlingensief in dieser Szene die zwischen Affirmation und Ikonoklasmus angesiedelten Malakte als Reenactments vorangegangener künstlerischer Arbeiten in jenem Spannungsverhältnis aufführt und sie gerade an der Schnittstelle dieser Ambivalenz an die Auseinandersetzung mit dem Topos der Familie koppelt, setzt er damit die strukturelle Analogie der Subjektivierung dieser verschiedenen sozialen Felder in Szene. Indem er die familiale Beziehung als zwanghafte Beziehungsförmigkeit darstellt, deren Gefängnis der Protagonist zerstören will und die

torisch richten und zahlreiche Emanzipationsbewegungen in Europa und den USA entstehen. Siehe etwa Hecken, Thomas, Avantgarden und Terrorismus. Rhetorik der Intensität und Programme der Revolten von den Futuristen bis zur RAF, Bielefeld: transcript, 2006.

53

54

Sich in der ( K unst- ) Welt verorten

er gleichzeitig liebt, zu der er immer wieder zurückkehren muss, von deren Anerkennung er abhängig ist, durch die er geschaffen und vernichtet wird, lässt er einschlägige Symbole und Motive (nicht nur antiker ) familialer Tragödien anklingen und setzt dabei die Paradoxie von Verwischung und Plakativität fort. Die Pointen und Narrative kehrt er beliebig um, verändert sie, schreibt und spielt sie anders aus und fort, wirft die unterschiedlichen Bedeutungsebenen durcheinander. So etwa, wenn hier der Vater durch die Erblindung, symbolisiert durch die Sonnenbrille, gezeichnet ist,56 wenn der Vater den Sohn symbolisch kastriert und hier also dem ödipalen Inzest zuvorzukommen scheint, der aber doch vollzogen wird, wenn die Mutter vom Sohn, in dieser Szene noch symbolisch vermittelt durch das Bild, gegen Ende der Aufführung auch konkret dargestellt, vergewaltigt wird. Solcherlei Inszenierungen ödipaler Figurationen des Topos der Familie scheint auch Carl Hegemann vor Augen zu haben, wenn er sich in einem Gespräch über »Schlingensiefs ›Theaterfamilie‹« zu diesem Begriff folgendermaßen äußert : »Zunächst möchte ich mich zum Titel unseres Gesprächs, zum ambivalenten Begriff der ›Theaterfamilie ‹ äußern. Familie verbindet man gerne mit der Keimzelle von Terrorgewalt und Verbrechen. Das wird bereits von den griechischen Tragödien gezeigt. Insofern lese ich ›Theaterfamilie ‹ nicht als positiven Begriff.« 57 Die Familie stellt so eine unfreiwillige Beziehungsförmigkeit dar, deren Bann ein Leben lang wirkt, wenngleich die einzelnen Mitglieder gesellschaftlich angewiesen sind, sich loszulösen und zu emanzipieren, sie, wie hier vorgeführt, von sich zu stoßen. So wird hier die Familie gleichermaßen identifizierend wie dissoziierend ins szenische Bild gesetzt. Die Beziehung zu den künstlerischen Vorläufer *innen wird strukturell analog dargestellt. Sie gleicht einer zwanghaften Beziehung, deren Koordinaten der Einschreibende in alle Richtungen auslotet und ausreizt. Die Kunst, auf die hier referenziert wird, gleicht insofern einer Geburt, als sie mit ihren Neuerungen und Interventionen, mit ihren Brüchen, Programmen und Praktiken die Form der eigenen Arbeit erst ermöglicht, überhaupt erst denkbar werden lässt. Diese konstitutive ( kunst-)geschichtliche Verwobenheit und Bedingtheit künstlerischen Handelns und künstlerischer Positionen spiegelt sich in ATTA ATTA als eine Auseinandersetzung mit der Familie und dem Erbe wider, als der Versuch von Emanzipation gegenüber einer Tradition, die ihrerseits durch und durch antitraditi-

56

57

Das Ödipus-Motiv des gewaltsamen Erblindens des Sohnes wird hier mit einem autobiografischen Thema verquickt. Die tatsächliche Erblindung von Schlingensiefs eigenem Vater stellt ein autobiografisches Motiv dar, das sich durch zahlreiche Arbeiten und Auftritte Schlingensiefs zieht. Hegemann, Carl im Gespräch »Schlingensiefs ›Theaterfamilie‹ mit Carl Hegemann, Irm Herrmann, Peter Kern moderiert von Teresa Kovacs«, in: Janke / Kovacs (Hg.), Der Gesamtkünstler, a.  a. O., S.  269  ‒282, S.  269.

I. Im Zeichen der Avantgarden

onalistisch war, in die der Künstler sich gleichwohl stellt und gestellt wird, die sich in sein ›eigenes‹ künstlerisches Handeln einschreibt und es so zu einem ›uneigenen‹ werden lässt. Entsprechend entfaltet sich die Auseinandersetzung energetisch im Widerstreit von Affirmation und Zerstörung, in Anrufungen und Beschwörungen und dem gleichzeitigen Versuch, sich den als Autoritäten fungierenden Vorgänger *innen zu widersetzen, ihre Bedingungen der eigenen Situationen zu zersägen, wenngleich sie die Geburt des (un)eigenen Projekts erst möglich gemacht haben. In den ikonoklastischen Akten, mit denen Schlingensief die soeben geschaffenen (Schrift -)Bilder und Malfelder, die an sich schon aus Impulsen der Gewalt und der Aggression zu entstehen schienen, sogleich zerstört, vermittelt sich die Bemühung einer vielschichtigen Destruktion , die zugleich den Versuch der Lokalisierung der eigenen Arbeit (und der persönlichen Künstlerbiografie ) im Netz der geschichtlichen und normativen Verwebungen darstellt. Die Szene fungiert exemplarisch für den Versuch der Distanzierung und Emanzipation von den autoritativen Kräften der Vorläufer *innen, indem sie mit dem Zitat der Arbeiten der Wiener Aktionisten ein Moment der Gewalt und der Aggression in der Kunst aufruft, mit dem jene, exemplarisch für viele Avantgardebewegungen, ihrerseits die autoritativen Kräfte, die ihre eigenen Operationen einerseits ermöglichten und andererseits hemmten, zu zerstören suchten. Dieses Moment wird nun in der historisch verankerten Gegenwärtigkeit des Zitats quasi auf jene selbst angewendet. Was Schlingensief in dieser szenischen Verschränkung familialer Motive und kunstgeschichtlicher Stoffe deutlich werden lässt, ist ein Zusammenhang von Subjektivität und künstlerischer Identität, von den Bedingungen und Möglichkeiten des persönlichen sowie künstlerischen Handelns. Ich möchte nun abschließend in aller Kürze die subjekttheoretischen Implikationen dieser szenischen Parallelisierung der Eltern-Sohn und KünstlerVorgänger*innen-Relationen beleuchten. An der Schwelle zum 20.   Jahrhundert werden die Strukturbedingungen der Familie in besonderem Maße mit der aufkommenden Psychoanalyse problematisiert, und zwar auch unter Rückgriff auf antike Familientopoi.58  Die einschlägigen Subjektivitätstheorien des 20.   Jahrhunderts, u.  a. von Judith Butler und Michel Foucault, greifen diese determinierenden, aber zugleich eben auch ermöglichenden Koordinaten familialer Beziehungen, wie sie in der Psychoanalyse problematisiert werden, auf und erweitern die Bedingungen der Subjektivierung um die Dimensionen anderer gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsstrukturen59 und ihren identifikatorischen Zwängen. Die

58

59

Siehe hierzu Freud, Sigmund, Totem und Tabu, hg.  v. Herman Westerink, Göttingen : V & R University Press, Vienna University Press, 2013. Siehe hierzu Foucault, Michel, Sexualität und Wahrheit, Bd.  1‒ 3, in : Ders., Die Hauptwerke, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 2008b, S.  1021‒1582.

55

56

Sich in der ( K unst- ) Welt verorten

Einzelnen treten nach Butler in die soziale Ordnung, die ihnen vorgängig ist, immer erst nachträglich ein. In iterativen Akten der Nachahmung und Verkörperung bestimmter identitärer Normen, Rollenmuster und konventionalisierter Verhaltensweisen eignen sie sich ihre Subjektivitäten an.60 »Paradoxer Weise geht die diskursive Bedingung für soziales Wiedererkennen der Bildung des Subjekts vorher und bedingt es : Wiedererkennen wird einem Subjekt nicht zuteil, sondern bildet jenes Subjekt.« 61   Die Handlungsoptionen der Einzelnen sind gleichermaßen sozial inskribiert und determiniert. Allerdings sind sie, wie die identifikatorischen Aneignungsprozesse insgesamt, in ihrer Auswahl des Arsenals des sozial Möglichen variabel, und in je singulären Variationen der Kombination entsteht für Butler der Raum für Veränderung, Subversion und Freiheit.62 Die Freiheit des Sohnes wie des Künstlers in seiner jeweiligen Gegenwart wird bei Schlingensief erfahrbar als konstitutiv verflochten in das historische Netz, das sich von den familialen wie künstlerischen Vorgänger *innen her spinnt. Die Kunst der Vorgänger *innen ist nicht nur ihrerseits historisch plural verwoben, sondern sie begrenzt und mobilisiert zugleich die Handlungsoptionen der Nachfolger *innen. Schlingensiefs Inszenierung verdeutlicht aber, dass gerade in dieser historischen Bindung auch die Momente von Freiheit begründet liegen. Denn unabhängig davon, wie deutlich er sich anzunähern und die Vorgänger *innen sogar nachzuahmen sucht, schieben sich darin eine Vielzahl von notwendigen Differenzen ein, die das Individuelle und Neue begründen, das dabei an das Vorangegangene gebunden bleibt. Performative Sprechakte gelten in Anschluss an John L. Austin als Sprechakte, die das zu evozieren vermögen, was bzw. wovon sie sprechen. Sie verfügen also über eine generative Kraft.63   Der Initiationsgedanke, der einem solchen performativen Sprechakt, einer so begriffenen Performativität inhärent ist, hat in abgewandelter

60

61 62

63

Butler, Körper von Gewicht, a.  a. O. , S.  310‒ 332 ; Dies. , Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1991. Butler, Körper von Gewicht, a.  a. O. , S.  310, Herv.  i.  O. Am Ende von Das Unbehagen der Geschlechter beschreibt Butler in der Überlagerung verschiedener identitärer Imperative die Möglichkeit ihrer Subversion: »Die Anweisung, eine gegebene Geschlechtsidentität zu sein, vollzieht sich zudem gerade auf diskursiven Bahnen, beispielsweise eine gute Mutter, ein heterosexuell begehrenswertes Objekt, ein tüchtiger Arbeiter zu sein. Kurz gesagt : als Antwort auf zahlreiche Ansprüche, die alle gleichzeitig erhoben werden, eine Vielzahl von Garantien zu bezeichnen. Die Koexistenz oder Überschneidung dieser diskursiven Anweisungen bringt die Möglichkeit einer vielschichtigen Rekonfiguration und Wieder-Einsetzung hervor.« S.  213 Austin, John L., Zur Theorie der Sprechakte. ( How to do things with Words), Stuttgart : Reclam, 2007.

I. Im Zeichen der Avantgarden

Form in den Kunstwissenschaften der 1990er Jahre und den frühen Nullerjahren des 21. Jahrhunderts große Aufmerksamkeit und Anwendung erfahren. Dies wohl gerade auch, weil Kunst stets mit der Innovation und Inititation von etwas Neuem, einer ›Schöpfung ‹, einer unerwartbaren Setzung sowie der Störung und Unterbrechung aller Konventionalitäten und Erwartbarkeiten in Verbindung gebracht wird, dies die Konvention ist, der sie unterliegt: die der Unkonventionalität. Es scheint aber unerlässlich, und dies ist bei Austin durchaus impliziert, die von Butler hier formulierte normative Gebundenheit von Performativität auch bei künstlerischen Phänomenen mitzudenken – und es gibt bereits unterschiedliche Studien, die diese geschichts-, konventions- und institutionsgebundene Lesart von Performativität hierfür fruchtbar machen.64 Wenn man davon ausgeht, wie ich dies bereits einführend in Schlingensiefs Werk mit der negativen Gattungsästhetik getan habe, dass die Kunst stets ihr historisches und spezifisches Gewordensein in sich beobachtet und damit beobachtbar werden lässt 65 und in Beobachtung ihrer historischen und normativen Bedingungen ein Moment des Neuen und der Überraschung zu etablieren vermag, lässt sich in Anlehnung an Butlers Überlegungen zur Performativität und mit Blick auf diese paradigmatische Szene aus ATTA ATTA nun die Operationalität der Kunst dahingehend beschreiben, dass sie die normative Gebundenheit von Performativität reflektiert und zur Wahrnehmung bringt und, wie im Fall Schlingensiefs, in den Kombinationen der Dispositive, welche die Performativität rückkoppeln, Irritationen, Momente des Neuen und der Überraschung initiiert und dabei permanent mit Wiedererkennungen und Reflexionen des Erwartbaren spielt. Das Spannungsverhältnis von Geschichte, Performativität und Emergenz wird in der künstlerischen Strategie, die in der hier aufgeführten Szene aus  ATTA ATTA exemplarisch wird, als Grundstruktur der Erfahrung von Geschichtlichkeit im Rahmen der Kunst wahrnehmbar gemacht. Diese spezifische künstlerische Strategie des Zitierens ist nicht nur für die gesamte Arbeit Schlingensiefs von zentraler Bedeutung, sondern wirft auch Licht auf eine Struktur von Performativität, die der Szene zugrunde liegt und die sie als solche gezielt ausspielt. Mit Judith Butler kann diese als Wechselverhältnis von historisch ausdifferenzierten, normativen Präfigurierungen und Bedingungen und den emergenten Potenzialen und Verschiebungen in der akuten und sich ereignenden Wiederholungssituation konzeptualisiert werden.

64

65

Vgl. z.  B. Eiermann, Postspektakuläres Theater, a.  a. O. ; Czirak, Adam, Partizipation der Blicke. Szenarien des Sehens und Gesehenwerdens in Theater und Performance, Bielefeld: transcript, 2012, besonders S. 194 ‒237. Siehe hierzu weiter in diesem Kapitel »Ästhetische Medien – Die Reflexion der Kunst auf ihre jeweilige Geschichtlichkeit«.

57

58

Avantgarden und Faschismus

Mit Blick auf das historische, diskursive und normative Bewusstsein gegenüber der eigenen Gegenwärtigkeit, auf dessen Basis hier inszeniert und ästhetisch operiert wird, wird damit eine Dimension und Funktion von Performativität ins Spiel gebracht, die deren historische und normative Seite stärker akzentuiert, als dies in den theater-, kunst- und kulturwissenschaftlichen Debatten der letzten Jahrzehnte, die das Hauptaugenmerk wesentlich auf das Kontingenz- und Emergenzpotenzial des Performativen legen, Berücksichtigung fand.66 Schlingensiefs Arbeiten sind dabei ein häufig gewähltes Beispiel für die Arbeit mit dem Kontingenz- und Emergenzpotenzial des Performativen.67   Dem ist einerseits zuzustimmen, und die Momente des Offenen, der Inszenierung auf das Kontingenzpotenzial der Aufführung hin, das Ausspielen der in der Aufführung emergierenden Feedback-Situationen zwischen Publikum und Akteur *innen werden hier im weiteren Verlauf als wesentliche Charakteristiken der sich in Aufführungssituationen realisierenden Arbeiten Schlingensiefs deutlich gemacht. Andererseits demonstriert das szenische Beispiel eindrücklich, dass, wenn man den Fokus ausschließlich auf das Kontingenz- und Emergenzpotenzial der Aufführungen richtet, man an einer wesentlichen Dimension der Arbeiten vorbeischaut. Denn wenn Schlingensief sich in seinen Arbeiten in Beziehung setzt, wenn er sich an der jüngeren Kunstgeschichte abarbeitet und sein Verhältnis zu ihr autobiografisch verknüpft, gar im psychoanalytischen Sinn durchzuarbeiten versucht, wenn die Arbeiten überborden vor Referenzierungen, vor Anschlussproduktionen innerhalb und außerhalb der Kunst, dann operieren sie auf der Grundlage einer Bestimmung von Performativität, die sich im Spannungsverhältnis von Geschichte, Normativität und Emergenz entfaltet. Avantgarden und Faschismus, Neoavantgarden und ( Post -) Faschismus Der Gewaltzusammenhang, den Schlingensief in seiner künstlerischen Bezugnahme auf die künstlerischen Vorläufer *innen, auf die Avantgarden und Neoavantgarden, virulent werden lässt, impliziert noch eine weitere Dimension, die in seinen Arbeiten immer wieder in verschiedenen Formen aufgerufen und durchgespielt wird: der Gewaltzusammenhang zwischen der Kunst der Avantgarden

66

67

So bilden zwar stets die Ausführungen Austins und Butlers zur Performativität den Ausgangspunkt, allerdings werden, mit Blick auf die Theater- und Aufführungsphänomene, dabei die für Austin und besonders für Butler wesentlichen sozialen, institutionellen Einschreibungen, Bedingungen und Determinierungen des Performativen weniger berücksichtigt. Siehe z.  B. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, a.  a. O., S.  79  ff.

I. Im Zeichen der Avantgarden

und Neoavantgarden und dem Faschismus. Wenn Schlingensief in Malakten auf der Bühne bestimmte Künstler *innen, Arbeiten und Motive der Neoavantgarden zitiert und diese Akte immer stärker an Gewalt und Aggression bindet, die Akte der Bildentstehung und -zerstörung energetisch in ihnen zu begründen scheint, ruft er damit auch ein paradoxes Verhältnis der historischen Avantgarden sowie in anderer Weise der Neoavantgarden zu Gewalt und zum Faschismus auf. Zwar lässt sich dieses Thema der einzelnen Verstrickungen und Paradoxien im Verhältnis von historischen Avantgarden und Faschismus respektive Neoavantgarden und Faschismus68 aufgrund seiner Komplexität und Vielschichtigkeit hier nicht umfassend darstellen, es soll aber im Folgenden zumindest mit Blick darauf angerissen werden, wie Schlingensief in jener exemplarischen Szene aus ATTA ATTA auf dieses Verhältnis in seiner Kunst Bezug nimmt. Das Feld der historischen Avantgarden ist in sich vollkommen heterogen und nicht abschließend einzugrenzen. Festhalten lässt sich aber, dass ein Großteil der Kunst der historischen Avantgarden von den Faschisten verworfen, für ›entartet‹ erklärt und /  oder gänzlich vernichtet wurde.69 Gleichzeitig haben bestimmte Vertreter *innen historischer Avantgardebewegungen in ihrem Bestreben nach radikalen Brüchen, auch nach ›Reinigung ‹ von dem Alten, alten Ordnungen, Konventionen und Erbe, Traditionen und deren Repressionen, die unter anderem auch durch Gewaltexzesse und -phantasmen in der Kunst herbeigeführt werden sollten, in dieser Hinsicht teilweise mit dem Faschismus respektive faschistischem Gedankengut sympathisiert.70 So rührt schon der Begriff »Avantgarde« ursprünglich aus dem militärischen Kontext und bedeutet »die Vorhut« 71. Die Evokation des Neuen und der Bruch mit dem Alten implizieren auch ein Moment des Kampfes, der durchaus auch gewaltsam zu denken ist und zumindest in Grenzbereichen so ausgestaltet wurde. Damit ist dessen militaristische Note auch im Feld der Kunst

68

69 70

71

Siehe hierzu mit Blick auf Deutschland Langston, Visions of violence: German avant-gardes after fascism, a.  a. O. Klinger, »Die Utopie der Versöhnung von Kunst und Leben«, a.  a. O., S.  218  f. Dies gilt besonders für die italienischen Avantgarden, siehe hierzu Demetz, Peter, »Über Aviatisches. D’Annunzio, Marinetti, die Avantgarden und der Faschismus«, in : Klinger / Müller-Funk ( Hg.), Das Jahrhundert der Avantgarden, a.  a. O., S. 123 ‒252. Allgemeiner zum Verhältnis von Gewalt, Zerstörung und dem europäischen Faschismus siehe: Ehrlicher, Die Kunst der Zerstörung, a.  a. O.   Cornelia Klinger beschreibt in ihrem Aufsatz die Idee einer Entgrenzung von Kunst und Leben von der Romantik zu den Avantgarden als wegbereitend für die Ästhetisierung der Politik durch die Faschisten, welche sie zugleich pervertierten, siehe: Klinger, »Die Utopie der Versöhnung von Kunst und Leben. Die Transformation einer Idee im 20. Jahrhundert«, a.  a. O., S.  216  ff. Siehe Umathum, »Avantgarde«, a.  a. O., S.  26  f.

59

60

Avantgarden und Faschismus

nicht gänzlich durchgestrichen, sondern wird vielmehr weiter mitgeführt, was schließlich auch für Schlingensiefs Kunstpraxen im Zeichen der Avantgarden und Neoavantgarden gilt. Die inszenierte und darinnen auch verfremdete Reaktion der Eltern in ATTA ATTA verarbeitet einerseits Schlingensiefs eigenes bürgerlich-katholisches Herkunftsmilieu und dessen Reaktionen auf die transgressive Kunst des Sohnes, die mit bürgerlichen Konventionen bricht und dabei mit ihnen spielt, sie bespielt und vorführt, sie analysiert und de( kon)struiert. In der inszenatorischen Montage spiegelt sich dabei zugleich auch der Konflikt zwischen den Neoavantgarden und den bürgerlichen Repressionen und autoritären Ordnungen der 1950er Jahre.72  Es offenbart sich hierin zudem der im deutschsprachigen Raum spezifische Konflikt der Nachkriegsgeborenen mit der Generation ihrer Eltern und Großeltern und der Frage nach deren Täterschaft und Mitwisserschaft im Nationalsozialismus, so bei der rassistischen Diskriminierung, Ausgrenzung und schließlich Massenvernichtung in den Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslagern in den deutschen Besatzungsgebieten. Im Kontext eben dieses gesellschaftlichen Konflikts begründet sich auch die künstlerische Praxis der Wiener Aktionisten, die das zunächst kollektiv verdrängte und tabuisierte in ihren rituellen Exzessen und gewaltgeladenen Körperaktionen wie einen ästhetischen Exorzismus betreiben, der das Verdrängte freilegt, um sich an ihm abzuarbeiten und kollektive sowie individuelle Schuld bearbeitbar und verhandelbar zu machen.73 Schlingensief schreibt sich hier an einem anderen sozial- und kulturgeschichtlichen Zeitpunkt und in einer veränderten Lage der Diskursivierung, Medialisierung und Tabuisierung wieder in solche Zusammenhänge von Kunst, Gewalt, Faschismus ein, die er thematisch und formal immer wieder durchspielt, um sie greif- und begreifbar zu machen, stets in der Reflexion, dass die jeweiligen Einsichten und Fragen nur eine Verschiebung und keine letztgültige Erfassung sein können.74

72 73 74

Siehe hierzu Langston, Visions of violence, a.  a. O. Siehe hierzu Brucher, Durch seine Wunden sind wir geheilt, a.  a. O., S. 109  ‒131. So schreibt beispielsweise Evelyn Annuß über Schlingensiefs zweite Theaterinszenierung an der Volksbühne : »Vor dem Hintergrund von Schlingensiefs späteren Wagner-Inszenierungen, die als Arbeit an dessen kunstreligiösen Erlösungsvorstellungen gelesen werden können, bekommt die Transposition des Wiener Aktionismus ins Neonazi-Setting nachträglich ein anderes Gewicht. Wagners von den Aktionisten aufgegriffenes Programm, Gesellschaft im Zitat von Ritual und Liturgie durch die Kunst zu heilen, kehrt in Kühnen ’94 als Nazi-Farce wieder und lässt so nach dem politischen Status und Erbe der öffentlichen Selbstinszenierungen in den Opferritualen der Wiener Aktionisten fragen. Was Schlingensief jedoch von ihnen bezieht […], ist der Einsatz des eigenen Lebens und damit die Frage nach einer der Gegenwart angemessenen Katharsis, die nicht im bürgerlichen, in

I. Im Zeichen der Avantgarden

Die Entgrenzung der Künste und ihre Aufführung Wie bereits einleitend für Schlingensiefs Kunst herausgestellt wurde, ist der mannigfaltige ästhetische Bezug auf ebenso diverse Praktiken der historischen Avantgarden wie der Neoavantgarden durch das Movens der Entgrenzung , Öffnung und Ausweitung überschrieben, das sich in unterschiedlichen Schichten und Dimensionen der Arbeiten sedimentiert. Während in den späten Arbeiten dabei der Avantgardebezug besonders auch für das Ermessen der möglichen Beziehungsförmigkeiten von Kunst und Leben signifikant wird, liegt in der geschilderten Szene aus ATTA ATTA, exemplarisch für die ATTA-Trilogie, der Fokus, neben allen anderen geschilderten thematisch-formalen Bezügen, auf der ästhetischen Realisation und Reflexion auf das historische Momentum der selbstreflexiven Öffnung von bildender Kunst und Theater aufeinander, das hier im Theater der Jahrtausendwende auf seine Aktualität hin spielerisch befragt wird. Erika Fischer-Lichte schreibt in ihrer einschlägigen Studie zur kunsttheoretischen Erfassung dieser historischen Entwicklung der Kunst und der Künste sowie deren Konsequenzen für die Ästhetik als kunstwissenschaftliche Disziplin ( nun von der Erfahrung  ): »In den frühen sechziger Jahren setzte in den Künsten der westlichen Kultur generell und unübersehbar eine performative Wende ein, die nicht nur in den einzelnen Künsten einen Performativierungsschub erbrachte, sondern auch zur Herausbildung einer neuen Kunstgattung geführt hat, der sogenannten Aktions- und Performancekunst. Die Grenzen zwischen den verschiedenen Künsten wurden immer fließender – sie tendierten zunehmend dazu, Ereignisse statt Werke zu schaffen, und realisierten sich auffallend häufig in Aufführungen.«75  Und weiter : »Die seit den sechziger Jahren des 20.   Jahrhunderts von Künstlern, Kunstkritikern, Kunstwissenschaftlern und Philosophen immer wieder proklamierte bzw. beobachtete Entgrenzung der Künste läßt sich also als performative Wende beschreiben. Ob bildende Kunst, Musik, Literatur oder Theater – alle tendieren dazu, sich in und als Aufführungen zu realisieren.« 76  Statt Werke zu schaffen, so Fischer-Lichte, brächten die Künstler *innen nun Ereignisse hervor, »in die nicht

75 76

der christlichen Denktradition stehenden Verständnis von Furcht und Mitleid aufgeht. Immer schon geht es in seinen Arbeiten um die Produktion von Jammer und Schrecken ohne ›Einfühlung in die ästhetische Illusion des Rollenspiels‹ und ohne moralische In-Anspruchnahme des Emotionstheaters. Es geht mithin um Experimente mit der kollektiven Produktion von Affekten und der Ansteckung durch diese, um deren öffentliche Entladung und unsere Selbstverständigung darüber.« Annuß, »Schlingensiefs autobiografische Inszenierungen«, a.  a. O., S.  293. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, a.  a.  O., S.  22. Ebenda, S.  29.

61

62

Entgrenzung der Künste

nur sie selbst, sondern auch die Rezipienten, die Betrachter, Hörer und Zuschauer involviert sind.«77  Damit hätten sich die »Bedingungen der Kunstproduktion und -rezeption in einem entscheidenden Aspekt geändert. Als Dreh- und Angelpunkt dieser Prozesse fungiert nicht mehr das von seinen Produzenten wie Rezipienten losgelöste und unabhängig existierende Kunstwerk, das als Objekt der kreativen Tätigkeit des Künstlers hervorgegangen ist und der Wahrnehmung und Deutung des Rezipientensubjekts anheimgegeben ist.« 78 Barbara Gronau erläutert mit Blick auf das von Schlingensief in ATTA ATTA anzitierte Action-Painting  Jackson Pollocks: »Die Umdeutung des Malaktes in eine Performance verschiebt den Fokus von der Produktion mimetischer Objekte zum Prozess einer offenen Handlung am Material. Was als ›the Pollockian performative‹ bezeichnet wird, kann als initiatorisches Moment für die Neubestimmung des ästhetischen Objekts sowie des künstlerischen und des betrachtenden Subjekts angesehen werden.« 79  Und weiter: »In so divergenten Richtungen wie Fluxus, Body Art oder Performance Art vollzieht sich die Abkehr vom traditionellen Werkbegriff mit einer gleichzeitigen Hinwendung zum Ereignis als prozessualer und kontingenter ästhetischer Form.« 80 In der Ästhetik der Installation verteidigt Juliane Rebentisch einen anti-objektivistischen Werkbegriff, demnach das Kunstwerk sich als solches, als Kunst, nur im Moment der ästhetischen Erfahrung, im Akt der Rezeption ereigne und dementsprechend die von Fischer-Lichte und Gronau beschriebene prozessuale und oszillierende Struktur des Kunstereignisses sowie seiner Bedeutungsgebung auch für nicht dezidiert in Aufführungen sich ereignende Kunst gelte. In den künstlerischen Praktiken seit den 1960er Jahren, wie in der sich herausbildenden Installationskunst, werde die bereits in der Kunst der Moderne angespielte konstitutive Verwebung mit den Rezipient*innen zum Gegenstand und Ausgangspunkt der Kunstproduktion selbst.81  In ihrer Lektüre des von Adorno ins Feld geführten Begriffs der »Verfransung«82 der Künste begreift Rebentisch diese Entwicklung, auf die Schlingensief in seinen Arbeiten mit den Neoavantgarden paradigmatisch Bezug nimmt, als Zuspitzung des Reflexionsprozesses der Moderne, auf Grundlage dessen die einzelnen Künste sich, »zumindest der Möglichkeit nach, von ihrer Darstellungsfunktion befreien und verstärkt auf ihre jeweiligen Darstellungsmit-

77 78 79 80 81 82

Ebenda. Ebenda. Gronau, Theaterinstallationen, a.  a. O., S.  22. Ebenda, S.  22. Rebentisch, Ästhetik der Installation, a.  a. O., S. 11 ff. Adorno, »Die Kunst und die Künste«, a.  a. O.

I. Im Zeichen der Avantgarden

tel besinnen«83. Und das Ergebnis dieses Prozesses sei ja wirklich, »daß dies, die Musikalisierung der Musik, die Theatralisierung des Theaters, die Reflexion auf das Malerische der Malerei und so fort, zu einer reflexiven Öffnung der Künste aufeinander geführt hat.« 84 Im Fall der hier diskutierten Szene aus ATTA ATTA nimmt Schlingensief Bezug auf das Verhältnis von bildender Kunst und Theater innerhalb dieses umfassenden künstlerischen Umbruchs.85  Mit Barbara Gronau lässt sich sagen, dass Schlingensief hier auf plastische Weise in Szene setzt und zur Aufführung bringt, dass die Aufführungsformen, »die heute als ›postdramatisches Theater ‹ die Bühnen erobern, […] das Ergebnis einer jahrzehntelangen wechselseitigen Annäherung von Theater und Performance-Art, Installationskunst und New-Media-Bewegung« sind.86  Die in Schlingensiefs Arbeit referenzierten Künstler *innen, Arbeiten, Praktiken und Gruppierungen bearbeiten auf unterschiedliche Weise in je spezifischen Situationen und an verschiedenen Orten eine Öffnung der bildenden Kunst gegenüber anderen Künsten im Modus der Aufführung sowie gegenüber dem Publikum, die zu Kollaborateuren werden, wenn Produktion und Rezeption hier raumzeitlich zusammengelegt werden. Aus historischer Perspektive nähern sich bildende Kunst und Theater an einem Punkt an, da das Theater von seiner dramatischen Subordination emanzipiert ist bzw. wird und einerseits seine materialen ( klanglichen, räumlichen, bildlichen, körperlichen usw.) Spezifika ›entdeckt‹, fokalisiert und ihr Verhältnis neu zu justieren beginnt und andererseits mit Blick auf seinen (wieder neu entdeckten) medialen Möglichkeitsraum die Modi alternierender Gemeinschaftsmodelle erprobt.87 An die moderne Tradition der medialen und materialen Selbstreflexion sowie die Negation der Konventionen durch die Avantgarden anschließend, entdeckt die bildende Kunst seit den ausgehenden 1960er Jahre, die hier in ATTA ATTA auf geschilderte Weise zitiert wird, nicht nur Leinwand, Pinsel, Galerie und Museum, Raum und Skulptur auch in den Möglichkeiten ihrer Ver- und Überwerfungen neu, sondern lotet dabei zugleich andere Beziehungsförmigkeiten zwischen Produktion und -rezeption aus. Die sich neu ausdifferenzierenden Kunstformen wie Performance- und Aktionskunst realisieren sich wesentlich als Ereignisse im hic

83

84 85 86 87

Rebentisch, Ästhetik der Installation, a.  a. O., S. 124. Paraphrasiert hier Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1970, S.  300. Rebentisch, Ästhetik der Installation, a.  a. O., S. 124. Vgl. hierzu auch Gronau, Theaterinstallationen, a.  a. O., S. 15  ‒17. Ebenda, S. 16. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, a.  a. O., S.  25  ‒ 29, S.  80, S.  85  ff. Sowie FischerLichte, Erika, Die Entdeckung des Zuschauers. Paradigmenwechsel auf dem Theater des 20. Jahrhunderts, Tübingen: Francke, 1997.

63

64

Ästhetische Medien

et nunc der leiblichen Ko-Präsenz von Akteur *innen und Zuschauer *innen. In einem Großteil der aufführungsbasierten Bild- und Kunstproduktionsprozesse der Neoavantgarden, die Schlingensief in der geschilderten Szene aus ATTA ATTA auf unterschiedliche Weise zitiert, wird der Akt der Produktion und simultanen Rezeption des Kunstwerks selbst zum Kernstück der Kunst und Kunsterfahrung. Indem der Akt der Kunstproduktion hierbei selbst ins Zentrum der Kunstspezifik und -erfahrung gerückt wird, verlagert sich der Werk- und Objektcharakter (als fixierbare Größe) auf einen Aufführungscharakter, der temporär, flüchtig und transitorisch ist.88 Schließlich geht es dabei in den Umbrüchen des Theaters dieser Zeit ebenso wie in der bildenden Kunst und ihren benachbarten Künsten auch darum, anhand der Neujustierung des Verhältnisses von Bühne und Publikum, von Produzent*innen und Rezipient*innen gesellschaftliche Kritik zu üben bzw. neue Relationen, nicht-hierarchische kollektive Erfahrungen sowie alternierende Gemeinschaftsmöglichkeiten zu erproben.89 Deutlich wird an dem Beispiel der hier an- und vorgestellten programmatischen ästhetischen Zitation, dass es keineswegs um eine klare Abgrenzung der jeweiligen Künste zueinander geht, sondern vielmehr um deren Berührungspunkte und Schnittstellen, um deren Gemeinsamkeiten und deren mögliche Kollaborationen, Modifikationen, Fortschreibungen und Erweiterungen. Die hier exemplarisch diskutierte Szene aus ATTA ATTA – Die Kunst ist ausgebrochen verhandelt die Entgrenzungsbewegung zwischen den Künsten wie der Kunst selbst. Sie trägt insofern paradigmatischen Charakter, als diese doppelte Entgrenzungsbewegung und Provokation, Überschreitung und Ausweitung tradierter Kunstgrenzen einen Grundimpuls sämtlicher Arbeiten Schlingensiefs bildet, welche sich in einem kritisch-reflexiven, experimentellen und emanzipatorischen Spannungsverhältnis gegenüber den gattungsspezifischen Konventionen, Erwartungshaltungen und Begriffen entfalten und in diesem Grenzbereich überhaupt erst ansetzen, ästhetisch und diskursiv zu operieren. Ästhetische Medien – Die Reflexion der Kunst auf ihre jeweilige Geschichtlichkeit Die in der hier diskutierten Szene aus ATTA ATTA sich ereignende Inszenierung von Kunst in der Kunst, von Kunst als Aufführung in der Aufführung lässt sich als das in dieser Potenzierung fußende Reflexiv- und Wahrnehmbarwerden der Selbstbeobachtungsfunktion der Kunst begreifen. Die einzelnen künstlerischen Arbeiten

88 89

Vgl. hierzu Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, a.  a. O., S.  22  ff. Siehe hierzu ebenda, S.  80  f., S.  85  ff.

I. Im Zeichen der Avantgarden

kommunizieren die ihnen immanente und sie bedingende und ermöglichende Geschichtlichkeit, in die sie sich einschreiben und die sie ( anders ) fortschreiben und variieren. Die Explikation und Reflexion der eigenen Genealogie sowie ein Begriff von Kunst, der sie mit Blick auf diese geschichtliche Struktur in dem Moment des Neuen ansiedelt, dort, wo sich ein Begriff von Kunst noch nicht gebildet haben kann, wird seit der ästhetischen Moderne und der Kunst der Avantgardebewegungen zu Beginn des 20.  Jahrhunderts programmatisch. Mit dies Neoavantgarden und der performativen Wende seit den 1960er Jahren erfährt das eine Zuspitzung, deren langer Schatten in die Schlingensief ’schen Arbeiten hineinragt. In ihrer Aufführungsförmigkeit auf einer Theaterbühne, in einem installativen Raumobjekt, das auf dem Bühnenhalbrund dem Blick des Publikums gegenüber geöffnet ist, werden die Malaktionen in ATTA ATTA doppelt gerahmt. Denn sie werden so als Aufführungen von Aufführungen wahrnehmbar und ihrer ursprünglichen Unmittelbarkeit zweifach (als Rekonstruktionen und als Elemente einer Aufführung  ) beraubt und dabei zugleich in eine andere Live-Situation eingespeist. Schlingensief doppelt die historische Aufeinanderzubewegung zwischen Theater, bildender Kunst und Malerei im Modus ihrer Ereignishaftigkeit, indem er sie im Rahmen einer Theateraufführung in Szene setzt und frei re-inszeniert. Theater und bildende Kunst werden in ein neues Verhältnis gesetzt, indem sie sich in der Gegenwart der Aufführung unter Rekurs auf ihre historische Annäherungssituation aufs Neue wechselseitig befragen und reflektieren können. Dabei wird die Frage bespielt, wie sich bildende Kunst und Malerei im institutionellen, dispositivischen und medialen Raum des Theaters ereignen können und welche Konsequenzen das für das Theater und seine spezifische Aufführungssituation hat, wenn es zum Aufführungsraum der bildenden Kunst wird. Erprobt wird damit gleichzeitig , wie sich in eben dieser Wechselwirkung ein anderer Grad der Reflexion auf die Material- und Objektdimension in die Situation des Theaters eintragen lässt und wie sich die Objektdimension der bildenden Kunst im Rahmen der Spezifik der Aufführungssituation als flüchtige, konstellative Bezugsgröße in oszillierende Bewegung versetzen lässt. »Die Begegnung zweier künstlerischer Kräfte«, konstatiert die Redaktion von Theater der Zeit in ihrem Nachruf auf Christoph Schlingensief, und zielt damit auf dieses Scharnier von darstellender und bildender Kunst ab, »verändert das traditionelle Schema des Theaters selbst « 90. Mit der Inszenierung der leeren Leinwand, die sich vor den Augen des Publikums zu füllen und einige Augenblicke später sich auf Raum und Körper auszudehnen beginnt und dabei zugleich zerstört wird, re-inszeniert Schlingensief das ganze mediale Szenario, vor dessen Hintergrund sich die bildende Kunst den anderen Künsten, in diesem Fall dem Theater (und dem Publikum ), gegenüber zu öff-

90

N.  N., »Editorial«, in: Theater der Zeit (10 ) 2010, S. 1.

65

66

Ästhetische Medien

nen vermag : die Reflexion der eigenen medialen und materialen sowie historischen und normativen Bedingungen – Leinwand, Farbe, Pinsel und, in zweiter Ordnung, Werk, Objekt, Raum-Zeit-Differenzen der Betrachtung –  , die Auseinandersetzung mit Kunst als Kunst selbst als ihre grundlegende Operation, die Performativierung des Produktionsprozesses, der gleichzeitig mit dem Rezeptionsprozess abzulaufen beginnt, die Freiräume und Neuerungsmöglichkeiten für Form- und Gattungsbildungen, für Kunstproduktion, die sich durch die emanzipatorische Hinterfragung der Konventionen und Erwartungen auszeichnen und durch kritische Selbstreflexion entstehen. Niklas Luhmann beschreibt den Produktions- (und Rezeptions-)prozess der modernen Kunst als Prozess des Unterscheidungentreffens und der Formgebung, die in Selbstbeobachtungen aufeinander abgestimmt werden.91  Das jeweilige Medium der Unterscheidungen und Formen liefert dabei den Maßstab.92 Schlingensief re-inszeniert auf gewisse Weise dieses kunstimmanente und -konstituierende Beobachtungsverhältnis, wenn er die Bilder in Malakten auf der Bühne im Rahmen einer Aufführung vor den Augen des Publikums entstehen lässt. Die Bezugsrahmen der Unterscheidungen und Formgebungen entstehen weniger in einem selbstreferenziellen Beobachtungsverhältnis, sondern im Rahmen der Beobachtung ihrer Medialität. Der Ausgang der Malaktion wird zwar begrenzt sowie stimuliert durch seine historischen Vorbilder ; gleichwohl ist sein konkreter Ausgang unbestimmbar, scheint er doch den situativen Eingebungen Schlingensiefs sowie den konstellativen und performativen Intensitäten, die in der Aufführung aufkommen, zu folgen. Das Beobachtungsverhältnis wird vor allem dadurch verschoben, dass sich die Malaktion im Rahmen einer Theateraufführung ereignet. Nicht nur ist sie an bestimmten historischen Vorläufer *innen orientiert, die sie künstlerisch zitiert ; vielmehr ereignet sich dieses Zitat in einem anderen künstlerischen Referenzsystem als demjenigen der bildenden Kunst. Die Unmittelbarkeit der Malaktion, um die es in den historischen Vorläufer *innen wesentlich ging, wird hier doppelt entzogen, sofern es sich um das Nachfolgen (un-)bestimmter historischer Vorläufer *innen handelt und sofern diese Aktion zu einer Szene auf dem Theater wird, in die sich die Beobachtungsparameter, die sedimentierten und institutionalisierten Anordnungsstrukturen des Theaters, die Geschichte des Theaters, der Stand seines ästhetischen Materials ablagern und einschreiben.93   Zugleich wird die Aktion damit nicht nur in ein anderes Wahrnehmungs- und Beobachtungssetting

91 92 93

Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, a.  a. O., S.  92  ff, S. 149  ff. Ebenda, S. 165  ff. Vgl. hierzu auch den Performativitätsbegriff für die Aufführungssituation, den der Theaterwissenschaftler André Eiermann in seiner Studie Postspektakuläres Theater vorlegt. Vgl. Eiermann, Postspektakuläres Theater, a.  a. O., insbesondere S.  31  ff., S.  42  ff.

I. Im Zeichen der Avantgarden

transponiert, sondern auch in eine andere Situation der Performativität gestellt. Im Theater als Schauraum ( lat. théatron ) werden schließlich die kunstspezifischen Beobachtungsverhältnisse selbst zum Gegenstand der kunstkonstituierenden Beobachtung, womit wir nun, von der anderen Seite kommend, wieder im Horizont der Avantgarden und Neoavantgarden angelangt wären. In den im Rahmen einer Aufführung auf dem Theater vollzogenen Malakten referenziert Schlingensief ein bestimmtes kunstgeschichtliches Moment, das für seine Arbeit generell wie für diesen Akt selbst programmatisch ist. Die einstigen Formenbildungen, also konkrete künstlerische Arbeiten der Vorläufer *innen, werden in seiner künstlerischen Referenzierung zum Medium für seine Formbildungsprozesse.94  Damit rekurriert Schlingensief auf  jenen Stand des »ästhetischen Materials« in der bildenden Kunst, der für die Ästhetik seiner Arbeit prägend ist, und wählt seinen historischen Einsatzpunkt dort, wo eine strukturelle Annäherung von Theater und bildender Kunst möglich und realisiert wurde – in den Kunstpraktiken der historischen und vielmehr noch der Neoavantgarden. Zugleich bezieht er sich auf jenen »ästhetischen Materialstand« des Theaters, bei dem eine intermediale und intersystemische Praxis entsteht, dort nämlich, wo es von seiner Subordination unter das Drama losgelöst, seine performativen Spezifika ›wiederentdeckt‹ und zugleich auf die Darstellungs- und Kommunikationsprinzipien anderer ästhetischer Medien und Künste geöffnet wird.95 In diesem Sinn rekapituliert Rebentisch Adornos Begriff des ästhetischen Materials : »Der Begriff des ästhetischen Materials bezieht sich bei Adorno nun allerdings nicht etwa auf materiale Eigenschaften der jeweiligen ästhetischen Medien beziehungsweise Darstellungsmittel. Vielmehr nennt der Begriff des ästhetischen Materials die in Bezug auf die jeweiligen ästhetischen Medien historisch erarbeiteten Konstruktionsprinzipien, die von den jeweils bedeutenden – und das heißt bei Adorno unter anderem: ihrer eigenen Stellung bewussten – Werken einer Zeit weitergebracht, fortentwickelt werden sollen.« 96  Fassbar wird das ästhetische Material nur in ästhetischen Formen, in den konkreten künstlerischen Arbeiten. Die einzelnen Arbeiten sehen sich mit

94 95



96

Luhmann, Kunst der Gesellschaft, a. a. O., S. 176  ff., S. 189  ff. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, a.  a. O., S.  25  ‒29. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt a.  M.: Verlag der Autoren, 2005, S.  78  ff. Zugleich spielt Schlingensief aber auch das Dagewesensein früherer Darstellungs- und Konstruktionsprinzipien (  auf dem Theater ) aus, wenn er die Auseinandersetzung mit den Neoavantgarden mit dem Motiv der Familie verschränkt und so ein oszillierendes Gewebe zwischen autobiografischen Fragmenten, die zugleich als (auf dem Theater tradiertes ) Rollenspiel fiktionalisiert werden und sich narrativ und symbolisch mit der Abarbeitung an den künstlerischem ›Erbe‹ (den historischen Vorläufer *innen) verstricken. Ebenda. Paraphrasiert hier Adorno, Ästhetische Theorie, a.  a. O., S.  287.

67

68

Ästhetische Medien

dem Arsenal der historischen Ausdifferenzierung der Möglichkeiten der Formkonstruktion und Kunstproduktion konfrontiert und reflektieren die Historizität der Situation, in der sie sich befinden, nehmen sie in sich auf und schreiben sie auch in einer kritischen Auseinandersetzung und der immanenten Notwendigkeit der Veränderung sowie der Generierung des So-noch-nicht-Dagewesenen fort und evozieren so neue Potenzialitäten des ästhetischen Materials. So wie Schlingensief es hier szenisch explizit macht, so greift die geschichtlich reflektierte Kunst den historisch ausdifferenzierten Stand der Möglichkeiten der Formenkonstruktionen innerhalb des jeweiligen ästhetischen Mediums, also der jeweiligen Kunst in ihren unterschiedlichen Dimensionen ( Material, Institution, Kommunikation), in sich auf und schreibt ihn auf dieser Grundlage weiter. Diese Geschichtsbezogenheit halte ich für eine der wichtigsten Pointen in Schlingensiefs Arbeit. Dabei ist der Avantgardeentzug entscheidend. So sind die unterschiedlichen Avantgardebewegungen, und das verdeutlicht gerade auch Schlingensiefs Avantgardebezug selbst, eben nicht von rein nihilistischen, geschichtslosen oder bloß destruktiven Impulsen geleitet, sondern sie agieren auf der Basis einer Reflexion des historischen Stands des ästhetischen Materials. Wie dies in diesem Kapitel bereits einleitend angeführt wurde, tun sie dies nicht nur in Abkehr von der Selbstreferenzialität modernistischer Kunst, sondern auf deren Grundlage und als deren radikalisierte Fortschreibung. Eben diese reflexive kunstgeschichtliche Dimension hat in der Auseinandersetzung mit Schlingensiefs Werk bislang so gut wie keine Berücksichtigung gefunden. Sie ist aber die Grundlage für die Flexibilität und Komplexität von Schlingensiefs Kunst im Umgang mit den unterschiedlichen Künsten ebenso wie für ihren verdichteten Weltbezug. Auf der Basis einer künstlerischen Reflexion des jeweiligen ästhetischen Materials, mit dem er zu tun hat – Film, Fernsehen, Oper, Theater, Aktions- und Installationskunst –  , vermag Schlingensief seine reflexiven wie experimentellen, bisweilen aggressiven Infragestellungen des je Vorgefundenen zu realisieren, kann seine komplexe und simultane Zusammenführung der unterschiedlichen Künste und Medien in Aufführungen, Filmen und Ausstellungen diesseits und jenseits des Theaters anschlagen. Die verschiedenen Avantgarden erscheinen dabei als Ermöglicher der eigenen Position, insbesondere was die Reflexion des ästhetischen Materials und deren radikale Bezugnahme und Fortschreibung anbelangt. Rebentisch bringt ihrerseits Adornos Begriff des ästhetischen Materials in Zusammenhang mit Luhmanns Medien-Begriff   97 : »Der ästhetischen Form ist nach Luhmann im Unterschied zu anderen Formen spezifisch, daß wir sie auf dem Hintergrund des unmarked space reflektieren, der sie ermöglicht und zugleich

97

Rebentisch, Ästhetik der Installation, a.  a. O., S. 107.

I. Im Zeichen der Avantgarden

unterläuft.«98 So bleibt das Medium der Kunst nach Luhmann in »jedem Kunstwerk präsent – und doch unsichtbar, da es nur auf der noch unbezeichneten Seite gleichsam als Attraktor weiterer Beobachtungen wirkt.« 99  »Darin, daß die ästhetische Form ihr Medium, genauer : der marked space einer künstlerischen Formbildung den unmarked space ihrer medialen Möglichkeiten als andere Seite präsent hält«, fasst Rebentisch Luhmann zusammen, »darin liegt nach Luhmann die Spezifik des Medium / Form-Verhältnisses.«100   »Die künstlerische Form«, so Rebentisch weiter, »bleibt im Prozeß ihrer Beobachtung konstitutiv auf das bezogen, was sie nicht ist.«101   Die künstlerischen Formen bleiben immer in sich auf das Medium der Kunst und das Medium ihrer Unterscheidungen bezogen, ohne dass diese dabei explizit würden. In bestimmter Hinsicht lässt sich die geschilderte Szene aus ATTA ATTA auch wie ein Versuch Schlingensiefs lesen, die konstituitve Bezogenheit auf das Medium der Kunst wie auf das ästhetische Material in der Kunst selbst zur Anschauung zu bringen und transparent zu machen. Pointierterweise zitiert Schlingensief in ATTA ATTA für diesen Hinweis ja direkt selbst aus Luhmanns Kunst der Gesellschaft. Diese beiden Begriffe zur Operationalität moderner Kunst möchte ich an dieser Stelle herausstellen, weil sie meines Erachtens für die Analyse der Ästhetik der heterogenen Arbeiten Christoph Schlingensiefs wesentlich sind. Es scheint mir für die Arbeiten signifikant zu sein, und das wird in dieser Szene aus ATTA ATTA auf plastische Weise verhandelt und als historisch-programmatische Referenz anschaulich gemacht, dass sie die jeweiligen ästhetischen Medien, mit denen sie umgehen, losgelöst von bestimmten ( klassischen) Gattungskonventionen verwenden können, weil sie deren Geschichtlichkeit, den Stand des ästhetischen Materials, reflektieren. Dabei operieren sie sowohl mit der in der Reflexion auf die jeweilige Spezifik der Darstellungsmittel hervortretenden »konstitutiven Intermedialität« ( Bildlichkeit des Theaters, die Theatralität der bildenden Kunst usw.)102 als auch mit den »strukturellen Differenzen zwischen den mit traditionellen Gattungen korrelieren ästhetischen Medien«.103 Denn in den tradierten Gattungskonzeptionen korrelieren bestimmte ästhetische Medien mit bestimmten Gattungen, was sich mit den Avantgarden und Neoavantgarden zu ändern beginnt. Video und Film können demnach beispielsweise Elemente der bildenden Kunst,

98 99

100 101 102 103

Ebenda, S.  91. Luhmann, Kunst der Gesellschaft, a.  a. O., S. 191, zit. nach Rebentisch, Ästhetik der Installation, a.  a. O., S.  91. Rebentisch, ebenda. Herv.  i.  O. Ebenda, S.  92. Ebenda, S. 125. Ebenda.

69

70

Selbst- und Weltbeobachtung

des Theaters, des Films, der Installation, der Performance, des Tanzes usw. sein, sie unterliegen hier nur anderen künstlerischen Funktionsweisen und Formbildungsprinzipien. Noch einmal Rebentisch: »Die Überschreitung der im Rahmen der traditionellen Gattungsdefinitionen geltenden Formbildungskonventionen führt offensichtlich nicht zur Abschaffung der Idee der Medienspezifik«, so Rebentisch, »sondern zu deren Befreiung aus der Umklammerung durch die Idee der Gattungsspezifik.«104   Dieses halte ich für wesentlich, um die transgressive Intermedialität besonders in Schlingensiefs Spätwerk zu begreifen, das im Hinblick auf die intermediale Struktur von ATTA ATTA eingeleitet wird. Denn wie der Blick auf Schlingensiefs Kunst zeigt, und im Folgenden immer wieder zeigen wird, wirken die bildende Kunst (der Neo- / Avantgarden ), der Film oder die Installation in den Aufführungen emanzipiert von ihren gattungsspezifischen Funktionen sowohl des Theaters als auch des Films, aber in permanenter Reflexion auf ihre Medienspezifik und, in einem zweiten Schritt, in Reflexion auf den historischen Stand des ästhetischen Materials. Für die Arbeiten Schlingensiefs ist die Differenzierung von Medium und Form, von Kunst und Künsten, von materiellen Trägern, Darstellungs- und Konstruktionsprinzipien erheblich. So wird im Verlauf dieser Untersuchung immer wieder deutlich, dass sie sich schwerlich voneinander trennen lassen bzw. dass Schlingensief das virtuose Spiel beherrscht, ihre unterschiedlichen Ebenen und Implikationen changieren und oszillieren zu lassen. Er scheint mit ihrer wechselseitigen Verschränkung, mit ihrer beinahe Ununterscheidbarkeit deswegen so souverän spielen zu können, weil er sie umso schärfer zu differenzieren versteht und, bei genauerem Hinsehen, ihre Differenzierungen beobachtbar werden lässt. Das Ausspielen dieser Interdependenzen und Differenzierungen wird in seiner Arbeit künstlerische Strategie und ästhetisches Prinzip. Selbst- und Weltbeobachtung der Kunst Mit Luhmanns Medien-Begriff lässt sich noch eine weitere Dimension der kunstförmigen Operationalität von Schlingensiefs Arbeiten verdeutlichen. Wie oben ausgeführt, reflektiert die ( moderne ) Kunst ( in jeder einzelnen Arbeit / Form und in jedem Formenkonglomerat ) in sich die Prinzipien und Bedingungen der Möglichkeit ihres jeweiligen Zustandekommens, die Prinzipien ihrer eigenen Operationalität, die durch das Medium der Kunst selbst getriggert werden, welches wiederum als solches immateriell bleibt und nur in den konkreten Formen überhaupt wahrnehmbar und erfahrbar werden kann. In Analogie zu Adornos

104

Ebenda, S. 125  f.

I. Im Zeichen der Avantgarden

Begriff des ästhetischen Materials impliziert jede ästhetische Form bei Luhmann das Medium ihrer Unterscheidungen ( als Formgebungsprozesse ).105  Dieses kann variabel sein und je mit Blick auf die verwendeten ästhetischen Medien und Kontexte differieren. Das Medium der Kunst quasi als Metamedium ist den jeweiligen Formen ( Kunstwerken / Arbeiten ) ebenso immanent als grundlegende Struktur der Formkonstruktion der Kunst.106 Die Kunst ist nach Luhmann insofern ein »höheres Medium«107, als sie ihrerseits die Differenz von Medium und Form als Medium der Kommunikation verwendet. Im Unterschied zu den anderen sozialen Kommunikationssystemen (  Wirtschaft, Politik, Erziehung etc.) macht die Kunst (der Moderne ) ihre eigenen Konstruktionsprinzipien (von Welt und Sinn ,) von Kommunikation wahrnehmbar. Hierdurch übernimmt sie eine paradigmatische Funktion (in der eigentlich horizontal ausgerichteten Theorie der Kommunikation sozialer Systeme Luhmanns), da sie die Operationalität von Kommunikation, die soziale Konstruktion von Welt (-ordnung  ), wahrnehmbar macht. »Was in der Kunst sichtbar wird«, schreibt Luhmann, »ist nur die Unvermeidbarkeit von Ordnung schlechthin.«108 Die Unterscheidung von Medium und Form, die in der Kunst zur Wahrnehmung gebracht wird, verweise, anstatt die »Welt phänomenal zu geben«, darauf, so Luhmann, »daß es immer auch noch etwas anderes gibt«109. Für die Arbeiten Schlingensiefs ist nicht nur diese erste Dimension des FormMedium-Verhältnisses zentral, sondern auch die zweite. So zeigen die bereits erfolgten exemplarischen Untersuchungen, dass die Arbeiten auch deswegen so flexibel sind und ihre intermediale Gestalt immer weiterentwickeln und immer komplexer ausrichten können, weil sie die spezifische Operationalität der Kunst, die sich in ihrem reflexiv zur Wahrnehmung gebrachten Form-Medium-Verhältnis begründet, reflektieren und ausagieren. Gerade weil in Schlingensiefs Arbeiten das spezifische Beobachtungs- und Reflexionsverhältnis von Medium und Form reflektiert und bespielt wird, vermögen sie es durch die und in der Kunst bestimmte Funktionsprinzipien anderer sozialer Systeme und Phänomene beobachtbar zu machen und zu re-inszenieren, wie etwa im »Fluxus-Oratorium« das der Medizin und der Religion oder in früheren Arbeiten der Politik und des Fernsehens usw. Bei Luhmann nimmt die moderne Kunst eine besondere Rolle ein, weil sie die Struktur der (modernen ) Welt, die Unfasslichkeit und Unerfahrbarkeit ei-

105 106 107

108 109

Luhmann, Kunst der Gesellschaft, a.  a. O., S. 189  ff. Ebenda, S. 191  ff. Luhmann, Niklas, »Das Medium der Kunst«, in: Ders: Aufsätze und Reden, hg. v. Oliver Jahraus, Stuttgart : Reclam, 2001, S. 198 ‒218, S.  203. Luhmann, Kunst der Gesellschaft, a.  a. O., S. 241. Ebenda, a.  a. O., S. 174.

71

72

Selbst- und Weltbeobachtung

ner gegebenen objektiven Welt sowie die operativ geschlossene Konstruktion von Welt durch Bewusstseins- und Kommunikationssysteme und hieraus resultierende »Selbstorganisation, Polykontexturalität, Hyperkomplexität, […], Pluralismus, Relativismus, Historismus«110 zum Ausgangspunkt ihrer eigenen ästhetischen Operationen, ihrer Konstruktionen von Kunst und Welt macht. Genau dieses Prinzip vermögen Schlingensiefs Arbeiten auf besondere Weise auszuspielen und zu potenzieren, wenn sie die unterschiedlichen Diskurse, Kommunikationen, Formen und Formate miteinander verzweigen und so aus einer anderen Perspektive ( mit Luhmann: von der anderen Seite der Unterscheidung  ) beobachtbar werden lassen. So etwa, wenn in ATTA ATTA der 9/11-Terrorismus, Neoavantgarden, Propaganda, religiöser Fundamentalismus und das Dispositiv der Familie thematisch und formal miteinander verflochten werden und wenn diese Kette (der kommunikativen Weltbezüge ) im Verlauf der Trilogie je nach Zeit und Ort als kontextgebende Faktoren immer weitergesponnen wird und dabei alles in sich aufzunehmen scheint. Noch einmal Luhmann: »Man kann deshalb auch sagen, es sei die Funktion der Kunst, Welt in der Welt erscheinen zu lassen – und dies im Blick auf die Ambivalenz, daß alles Beobachtbarmachen etwas der Beobachtung entzieht, also alles Unterscheiden und Bezeichnen in der Welt die Welt auch verdeckt.«111 Juliane Rebentisch begründet in ihrer Ästhetik der Installation einen Begriff der »erfahrungstheoretisch gefaßten« ästhetischen Autonomie, der die »Unlösbarkeit des Rätsels der Kunst zum entscheidenden Punkt ihrer Bestimmung macht.«112 Sie verweist auf Rüdiger Bubners Bestimmung des ästhetischen Phänomens als »Struktur der Unfaßlichkeit«113. Noch einmal Rebentisch : »Darin, daß das Objekt zum Verstehen ebenso wohl anreizt wie es letztlich alle konkreten Verstehensvollzüge eigentümlich unverbindlich an sich abperlen läßt, um neue zu provozieren, eben darin, so haben wir gesagt, liegt die Autonomie der Kunst, ihr ›Gegensatz zur Objektsphäre‹«.114  Es scheint fast überraschend, dass Rebentisch in ihrer systematischen Analyse und philosophisch-begrifflichen Begründung der Genealogie und Struktur der Installation den Begriff der ästhetischen Autonomie an dieser Stelle ( Adorno folgend  ) in der »Rätselhaftigkeit der Kunst« verortet.115   Ich würde hier mit Luhmann – und mit Blick auf die Arbeiten Christoph Schlingensiefs – modifizieren, dass die Kunst den Gegensatz zu einer vermeintlichen ›Objektsphä-

110 111 112 113

114 115

Ebenda, S.  499. Ebenda. S.  241. Rebentisch, Ästhetik der Installation, a.  a. O., S. 134. Ebenda. Zitiert Bubner, Rüdiger, Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1989, S.  41. Rebentisch, Ästhetik der Installation, a.  a. O., S. 134. Vgl. ebenda, S. 12  ff.

I. Im Zeichen der Avantgarden

re‹ als obsolet wahrnehmbar macht und die Selbstbezüglichkeit von Sinn- und Weltproduktion und -konstruktion, die Kontingenz und Losgelöstheit von einer objektiven Welt beobachtbar werden lässt und in diesem Sinne weniger eine autonome116 denn eine paradigmatische Funktion erfüllt. Die Kunst verdoppelt das Sichentziehen einer fixierbaren Welt. In der Erfahrung der Kunst, das zeigt uns Schlingensief im Sinne Luhmanns, erfährt die Erfahrende das Sichentziehen einer fixierbaren Welt, die potenzielle Unendlichkeit der Bezeichnungen und Bezüge, die Unabschließbarkeit der Bezugnahmen, die nie an ein Eigentliches, Objektives, Ursprüngliches gelangt, im unendlichen Netz der ( Kunst-)Geschichte. Theatralität und Publikum Abschließend möchte ich mich der Theatralität zuwenden, mit der ich schließlich die Rolle des Publikums in den Blick nehmen werde. Im Vergleich zu vielen vorangegangenen früheren Arbeiten steht die Publikumspartizipation in der diskutierten Szene aus ATTA ATTA exemplarisch für die gesamte Trilogie und nahezu alle nachfolgenden Bühnenarbeiten, und sei sie auch nur in der Gestalt exponierter Potenzialität zu finden, auf den ersten Blick vollkommen sekundär oder gar gänzlich zu vernachlässigen. Auch scheint das sich vollziehende Bühnengeschehen nicht explizit sein Ausgerichtetsein auf ein Publikum auszuspielen und es als Grundstruktur der theatralen Ereignisse in den Fokus der Wahrnehmung bringen zu wollen. So markieren Schlingensiefs explizit partizipatorische Arbeiten, wie die Parteigründungsaktion Chance 2000   *, die aus dem Theater hinausführende Passion Impossible. 7 Tage Notruf für Deutschland oder die wohl bekannteste Aktion Schlingensiefs, der Asylcontainer Bitte liebt Österreich !, wesentlich deutlicher und offensiver ihren Publikumsbezug. Gleichwohl lässt sich meines Erachtens an exakt der dargelegten Szene aus ATTA ATTA eine systematische und kunstgeschichtliche Verortung und Begründung dieses sich explizit öffnenden Impetus (nicht nur ) gegenüber dem Publikum herleiten, der im Prinzip alle Arbeiten Schlingensiefs als deren Grundstruktur kennzeichnet, wenngleich in unterschiedlichen Formen und Graden. Denn auf den zweiten, analytisch ausgerichteten Blick zeigt sich, dass es in dieser Szene durchaus auch um eine Auseinandersetzung mit der Rolle der Zuschauer *in, des Publikums, geht. Durch das ästhetisch in Szene gesetzte Zitat eines bestimmten kunstgeschichtlichen Moments – in dem sich Malerei und bildende Kunst wesentlich als Aufführungen, als Aktionen und damit in der Situation leiblicher Ko-Präsenz von Akteur *innen und Zuschauer *innen ereignen und

116

Wenngleich sie dabei operativ geschlossen agieren kann. Vgl. Luhmann, Kunst der Gesellschaft, a.  a. O., S.  216  ff.

73

74

Theatralität und Publikum

einander annähern – wird die Rolle des Publikums als expliziertes Konstituens der unterschiedlichen Kunstereignisse und Arbeiten systematisch in der Geschichte der Kunst verortet. Die Verschiebung einer (verwischten ) historischen Situation in eine neue (wiederum anders historisch und institutionell geprägte ) Gegenwärtigkeit und die darinnen sich eröffnende Möglichkeit der Beobachtung der kunstspezifischen Beobachtungsstruktur, wie sie sich in den Schlingensief ’schen Referenzierungen und Zitationen von Künstler *innen, künstlerischen Arbeiten und Kunstgeschichte ereignen, lassen sich als spezifischer Modus von Theatralität begreifen, der meines Erachtens in Schlingensiefs Arbeit insgesamt wesentlich ist und auf spezifische Weise mit dem in ATTA ATTA aufgerufenen historischen Einsatzpunkt der Neoavantgarden verknüpft ist. Die modernistischen Kunstdiskurse um die Mitte des 20.   Jahrhundert kritisieren ein Ende der 1950er Jahre einsetzenden Entwicklung der Kunst, auf deren etwas später beginnende Blüte Schlingensief sich in den vorgestellten Arbeiten so vehement beruft. In einer der bekanntesten Kritiken, in der sich diese Tendenz emblematisch abzeichnet, wirft Michael Fried »der Unternehmung, die unter dem Namen Minimal Art […] bekannt geworden ist«117, vor, sich der (  Verfügungsgewalt der ) Subjektivität der Betrachter *innen anheimzustellen, gar auszuliefern.118 Weil sie nicht mehr den Gesetzen einer bestimmten Werkästhetik folgten, in denen das Kunstwerk sich selbst genügend und auf seine eigene kunstimmanente Stimmigkeit gerichtet und dabei eben kein verfügbares Objekt des Betrachter *innen-Subjekts sei, sondern vielmehr seinerseits eine quasi autonome Subjektposition erlange, gefährdeten die Objekte der Minimal Art den Status ästhetischer Autonomie, gar der Kunst selbst. Indem sie den Fokus ihrer spezifischen materialen, medialen und semiotischen Struktur119 auf ihre Beziehungsförmigkeit einerseits zu ihrem räumlichen Kontext, in dem sie gezeigt werden, und andererseits zu ihren Rezipient*innen, denen sie sich zeigen, also sich auf ihr Auf-ein-Publikum-gerichtet-sein richteten und sie in ihre Form, in ihre eigene Konstruktion einbeziehen, verfielen sie nach Fried in eine strukturelle Analogie zu dem Theater, in einen Modus der Theatralität. Und dieses Theater und diese Theatralität sind für Fried keine Kunst. Es

117

118 119

Fried, Michael, »Kunst und Objekthaftigkeit«, in: Stemmrich, Gregor ( Hg.), Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden / Basel : Verlag der Kunst, 1995, S.  334 ‒ 375, S.  334. Ebenda, S.  339  ff. Und diese Hypothese scheint aus heutiger Perspektive nur bedingt nachvollziehbar aus den Objekten selbst hergeleitet zu sein, wirken sie bei heutiger Betrachtung mit Blick auf alles, was mit den Neoavantgarden bis in die Gegenwartskunst hinein noch folgen würde, doch eigentlich erstmal sehr hermetisch und in ihrer ästhetischen Reduktion und Abstraktion den klassisch modernistischen Prinzipien folgend.

I. Im Zeichen der Avantgarden

ist typisch für die modernistischen Diskurse seiner Zeit, diese Entwicklung der Kunst, eines in ihrer kritischen Selbstreflexion sich begründenden Auslotens ihrer intermedialen Beziehungsförmigkeiten sowie ihrer konstitutiven Bezogenheit auf ein Publikum, ihr Ausstellen und Experimentieren mit eben dieser spezifischen Beziehungsförmigkeit als ›theatralisch‹ abzuwerten und damit diese ausgestellte und ausgespielte Öffnung auf ein Publikum hin dem Theater (als ›unreine‹ , unautonome, konstitutiv auf das Publikum bezogene Nicht-Kunst) zuzuschreiben und zu verwerfen.120   Das mag insofern überraschen, als eine Aufführung zwar konstitutiv auf ihr Publikum angewiesen ist, sie sich notwendig in der leiblichen Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauer *innen ereignet.121 Sie kann allerdings – und dies zeigt bereits ein flüchtiger Blick in die Theatergeschichte – mit dieser Angewiesenheit auf unterschiedliche Weise umgehen: Sie kann sie kaschieren und zu leugnen versuchen, wie dies in der Regel im klassisch dramatischen Theater und ihrem korrespondierenden Modell der Guckkastenbühne und der sogenannten »Vierten Wand« der Fall ist, die ein So-tun-als-ob-das-Publikum-nicht-da-wäre und die Repräsentation einer ›in sich‹ geschlossenen Welt vorsieht.122 Sie kann diese konstitutive Anwesenheit und ihr ausschließliches Gerichtetsein auf ein Publikum aber auch ausspielen, kommunizieren und als Ausgangsbedingung ihrer Realisierung exponieren, wozu das Theater seit den 1960er Jahren und der postdramatischen Wende123 neigt. Diese Tendenz des Theaters bildet sich aber eben auch genau erst in der zuvor dargelegten generellen Entwicklung der Künste, beeinflusst von ihrem Wechselspiel, heraus.

120

121

122

123

Siehe hierzu Rebentisch, Ästhetik der Installation, a.  a. O., S.  25  ‒  40. Cavell, Stanley, »Ending the Waiting Game: A Reading of Beckets Endgame« in: Ders., Must we mean what we say ? A book of Essays, Cambridge: Cambridge University Press, 1966, S. 115  ‒162. Siehe auch Diekmann, Stefanie ( Hg.), Theaterfeindlichkeit, München : Fink, 2012. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, a.  a. O., z.  B. S.  47. Es ließe sich hier allerdings modifizieren, dass im Zuge der Performativitätsforschung seitens der Kunst- und Kulturwissenschaften der 2000er Jahre zahlreiche Studien vorgelegt worden, die auch den Aufführungscharakter von Kunstwerken, von Installationen und Arrangements untersuchen und diesen gerade mit Blick auf einen bestimmten expliziten Modus des Antizipierens des und Kommunizierens mit einem Publikum, mit einem bestimmten Modus der Theatralität, der hier näher vorgestellt und im Zusammenhang mit Schlingensiefs wesentlich ist, und den eben Fried und Cavell in der bildenden Kunst kritisieren, beschreiben. Vgl. hierzu Rebentisch, Ästhetik der Installation, a.  a. O., S.  25  ‒  80. Auch wenn sie dabei letztlich auf ein Publikum gerichtet ist, ist dies doch ein ganz anderer Modus auch der schauspielerischen Produktion, als ginge sie produktionsästhetisch offensiv mit der Anwesenheit des Publikums um. Siehe hierzu Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, a.  a. O., S.  63   ‒114.

75

76

Theatralität und Publikum

Es scheint also eigentlich gar nichts auszumachen, auf welche Theaterform sich die Theaterfeinde hier berufen, außer auf bestimmte Vorurteile gegenüber dem Theater, die nicht auf tatsächlicher Theatererfahrung basieren. Vielmehr scheint es der Theatralitätskritik um einen Gestus des Zeigens und Transparentmachens der eigenen ästhetischen Operationen zu gehen, um das Zeigen des eigenen Zeigens, das Zeigen der Bedingungen des Zeigens und Kommunizierens. Dies umfasst sowohl die räumliche, mediale, normative und situative Gebundenheit als auch die Adressat*innen und Rezipient*innen. Dieser Gestus ist allerdings nicht notwendig theaterspezifisch, sondern vielmehr kunstspezifisch. Als solcher wird er in der Kunst der Neoavantgarden seit den ausgehenden 1950er Jahren zunehmend in den Arbeiten selbst ausgestellt, offensiv kommuniziert und erweitert. Juliane Rebentisch hat in ihrer dezidierten Auseinandersetzung mit dieser Theatralitätskritik ( von Michael Fried, Stanley Cavell und Rosalind Krauss u.  a. ) ausgeführt, dass Kunst immer theatralisch sei, insofern sie stets konstitutiv auf ein Zeigen, auf ein Publikum ausgerichtet ist.124  Gleichwohl erscheint es sinnvoll, die unterschiedlichen Grade dieses Zeigens, des Ausspielens von konstitutiver Ausgerichtet-, Offenheit und Angewiesensein auf ein Publikum – der Theatralität – zu differenzieren, da die Intensitäten und Formen des Umgangs der einzelnen Arbeiten damit stark variieren. Deutlich wird das mit Blick auf die Arbeiten Schlingensiefs. Denn es gibt in Schlingensiefs nahezu unüberschaubaren Arbeitskorpus viele andere Beispiele, in denen eine so begriffene Theatralität, als Zeigen des Zeigens, als Zeigen des konstitutiven Ausgerichtetseins auf ein Publikum, viel stärker zum Dreh- und Angelpunkt der jeweiligen Arbeit wird, als dies in ATTA ATTA der Fall ist.125   So wenn Schlingensief die jeweiligen Darstellungen explizit kommentiert Ereignisse einzuschließen sucht, es provoziert und es mitdiskutieren und gestalten lässt und durch diese direkten Adressierungen ihm seine Anwesenheit und das in ihr begründete Potenzial bewusst macht und spürbar werden lässt. Diese spezifische Form der ästhetischen Agitation, die wesentlich für einen Großteil von Schlingensiefs früheren Arbeiten ist, lässt das Publikum sich als Publikum wahrnehmen und thematisiert auf diese Weise explizit die hieraus sich ergebenden Potenziale gegenüber dem Gesamtgefüge. Was ich allerdings an dem Beispiel von ATTA ATTA für besonders aufschlussreich halte, ist, dass ein bestimmter Modus des selbstreflexiven Zeigens, der Darstellung und der Exposition (der ausgestellten

124 125

Rebentisch, Ästhetik der Installation, a.  a. O., S.  40  ‒79. Zu Theatralität etwa in der sogenannten Containeraktion Bitte liebt Österreich – Erste österreichische Koalitionswoche ( Wiener Festwochen 2000 ) vgl. Roselt, Jens, »Big Brother. Zur Theatralität eines Fernsehereignisses«, in: Lilienthal, Matthias / Philipp, Claus ( Hg.), Schlingensiefs »Ausländer raus ! Bitte liebt Österreich«, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 2000, S.  70  ‒78.

I. Im Zeichen der Avantgarden

Darstellung und der ausgestellten Ausstellung) – der Theatralität – hier strukturell und systematisch begründbar wird und sich entlang bestimmter Eigenschaften des unterschiedlichen Materials entfaltet, und nicht bloß entlang der explizierten Kommunikation und Agitation. Tatsächlich stellt dieser Punkt, so möchte ich hier herausstellen, eine Zäsur in Schlingensiefs Arbeiten dar, die von diesem Zeitpunkt an weit weniger agitatorisch angelegt sind als zahlreiche Arbeiten zuvor, auch wenn diese expliziten und buchstäblich herausfordernden Publikumsadressierungen nicht gänzlich verschwinden, sondern immer wieder punktuell in die Arbeiten Einzug halten. In ihrem Unternehmen, zeitgenössische Ausstellungskunst im Fokus einer Aufführungserfahrung zu konzeptualisieren, verweist Sandra Umathum auf das Theatralitätskonzept Denis Diderots, das Michael Frieds Kritik zugrunde liegt: »Was Diderot unter ›Theatralité‹ versteht, ist die ›sich selbst (re)präsentierende Rhetorizität‹ des Theaters seiner Zeit«126, ein Theater also, das sein Zeigen reflexiv zeigt. Durch die geschilderte Weise des künstlerischen Zitierens in der hier diskutierten Szene aus ATTA ATTA, in der überbordenden Expressivität und der plakativen Referenzierung, in der die Differenzen hervortreten und die aktuellen Performanzen als solche in einem konstitutiven Spannungsverhältnis zu ihren historischen Vorläufer *innen wahrnehmbar werden, scheint ein Modus der Theatralität am Wirken, in welchem die Darstellung auf ihre Darstellungshaftigkeit verweist, wie es Umathum unter Rekurs auf Diderot beschreibt. Die Selbstbeobachtungsfunktion der Kunst, die sich bei Luhmann gleichermaßen auf den Produktions- wie den Rezeptionsprozess bezieht,127 wird hier durch

126

127

Umathum, Sandra, Kunst als Aufführungserfahrung. Zum Diskurs intersubjektiver Situationen in der zeitgenössischen Ausstellungskunst. Félix González-Torres, Erwin Wurm und Tino Sehgal, Bielefeld : transcript 2011, S.  63. Siehe hierzu auch Brandstetter, Gabriele, »Dies ist ein Test. Theatralität und Theaterwissenschaft«, in: Fischer-Lichte, Erika et.  al. ( Hg.), Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften, Tübingen / Basel : Francke 2004c, S.  27‒  42. In ihrer Luhmann-Lektüre bestimmt Rebentisch den Rezeptionsprozess als Nachvollzug der Unterscheidungen und Formgebungen des Produktionsprozesses und reformuliert ihn mit und, wie sie schreibt, gegen Luhmann, als »Am-Werk-Bleiben in einer Sequenz von Beobachtungen, die das Kunstwerk zu entschlüsseln versuchen‹«, der, so die Modifikation Rebentischs, «in jedem Moment seiner eigenen Formbildungen, das heißt seiner eigenen Herstellung von Zusammenhang am oder im Kunstwerk auf das Medium, den unmarked space unendlicher Möglichkeiten einer solchen Zusammenhang- oder Formbildung zurückverwiesen bleibt.« Rebentisch, Ästhetik der Installation, a.  a. O., S.  93, Herv.  i.  O.; zitiert Luhmann, Kunst der Gesellschaft, a.  a. O., S.  205. Ich würde dem hinzufügen, dass dies nicht notwendig eine Erweiterung mit und gegen Luhmann ist, sondern seine Beschreibung des Rezeptionsprozesses als Beobachtungs- und Unterscheidungsprozesse von

77

78

Theatralität und Publikum

die mediale und dispositivische Verschiebung selbst zur Anschauung gebracht. Mit anderen Worten: Auch wenn Schlingensiefs Spätwerk weit weniger deutlich und expressiv auf Publikumspartizipation ausgerichtet zu sein scheint, so wird hier in ATTA ATTA für alles Nachfolgende bereits vorweggenommen, dass in der Reflexion auf die Kunstspezifik immer die Bezogenheit auf ein Publikum mitgeführt wird. Dies verdeutlicht auch der Blick in die Kunstgeschichte, den er in seinen Arbeiten selbst anstellt und den er dabei auf die Theatralität der Kunst richtet. Wie in ATTA ATTA verdeutlicht sich dies besonders am Beispiel der bildenden Kunst, weil sie, und das zeigt der kleine Theatralitätsexkurs, diskursiv häufig als antitheatrale Kunst in Stellung gebracht wird. Wenn Schlingensief in seinen früheren Arbeiten die Publikumspartizipation entlang der Spezifika der Aufführungssituation auf dem Theater gegenüber dem Film enorm zu potenzieren und freizulegen vermag und dies dann aus dem Theater heraus zur Aktionskunst führt (wie etwa in Passion Impossible oder Mein Filz, mein Fett, meine Hase 1997  ), so erfolgt nun der scheinbare ›Rückzug ‹ vom Publikum unter Verweis auf dieselbe kunstgeschichtliche Bewegung. Dort nämlich, wo die Theatralität der bildenden Kunst und der Künste überhaupt explizit gemacht wird und zur Ausdifferenzierung der Aktionskunst sowie zur wechselseitigen Annäherung der Künste überhaupt führt: bei den Neo- /Avantgarden. Und diese Theatralität verankert den Publikumsbezug in einem systematischen Zug der Kunst selbst. Diese programmatische werkgeschichtliche Setzung ist wichtig, um den Publikumsbezug in dem hier eingeleiteten Spätwerk nachvollziehen zu können, auch wenn er fortan nicht mehr zur selben Offenheit der Form führt. Wie im nächsten Kapitel zur »Ethik der Theater-Aufführung« ( II ) deutlich werden wird, wird dieser theatrale Zug der Kunst als ästhetisches Szenario der ethischen Verwobenheit zwischen Akteur, Bühne und Publikum virulent werden. Blicken wir aber nun zunächst näher auf die Rolle der Avantgarden und Neoavantgarden für die Auseinandersetzung mit Leben und Sterben in Schlingensiefs Spätwerk , exemplarisch in dem »Fluxus-Oratorium« Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir, das seine Referenz bereits programmatisch im Titel trägt. Wie zu zeigen sein wird, ist Fluxus dabei nicht nur zentral für die transgressive Einlassung der Kunst auf Leben und Sterben, sondern mit dieser Referenz tritt erneut jenes kunsthistorische Momentum der theatralen und performativen Entgrenzung der Künste auf den Plan, das bereits in ATTA ATTA auf die Bühne gebracht wird, und nun existenziell geschärfte Vorzeichen erfährt.

Form- und Medium-Relationen nicht identisch, sondern verschiedenen ist, und daher das jeweilige Medium, das den Formen zugrunde gelegt wird, mit jeder Betrachter *in und Rezipient*in ein anderes sein kann. Vgl. Luhmann, ebenda, S. 165 ‒214.

I. Im Zeichen der Avantgarden

Kunst und Leben. Die Inszenierung des Lebens, der Krankheit und des Sterbens im Zeichen der Avantgarden und Neoavantgarden Das »Fluxus-Oratorium« Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir und die »ReadyMadeOper« Mea Culpa bilden Anfang und Ende der Krankheitstrilogie, schließen sie ein und ab und umklammern damit auch programmatisch den Kern der künstlerischen Auseinandersetzung mit Schlingensiefs Leben und Sterben. Damit sind diese Arbeiten zur Existenz programmatisch in ihrem konstitutiven Bezug zu den Avantgarden respektive den Neoavantgarden ausgewiesen. Als solchen möchte ich diesen im Folgenden untersuchen und fragen, welche Rolle der Avantgardebezug für die Auseinandersetzung mit Leben und Sterben im Spätwerk spielt und inwiefern er zentral für die Organisation der Künste, für die Gestaltung ihrer Beziehungsförmigkeiten in diesem existenziellen Horizont ist. Dabei steht hier zunächst das »Fluxus-Oratorium« im Vordergrund, insofern es als erste Arbeit in dieser Konstellation programmatisch ist für alles Nachfolgende. Auf die »ReadyMadeOper« komme ich im IV. Kapitel zur »Relationalität der Künste im Paradigma der Oper« noch einmal gesondert zurück, um die Frage nach Schlingensiefs Avantgardebezug in seiner Opern- und vor allem in seiner Wagner-Arbeit aufzuwerfen, welche ihrerseits in der Überschreibung durch die Avantgarden maßgeblich in das Spätwerk hineinwirkt. Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir im Zeichen von Fluxus. Zum Raum Die Raumgestaltung des »Fluxus-Oratoriums« ist in besonderem Maße gespickt und verdichtet mit Fluxus-Referenzen sowie überhaupt mit plastischen Bezügen zu Arbeiten unterschiedlicher Künstler *innen der Neo-Avantgarden, die ich im Folgenden darlegen möchte. Beim Berliner Theatertreffen128, das mit der Aufführung von Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir am 1. Mai 2009 eröffnet wurde, ist die Kirche der Angst auf der Nebenbühne des Hauses der Berliner Festspiele installiert.129  Vor

128

129

Für eine kurze Einführung in die Arbeit und die Trilogie siehe in der Einleitung »Kurze künstlerische Arbeitsbiografie«. Auf diese Aufführung beziehen sich wesentlich meine Ausführungen, unter Hinzuziehung einer Aufzeichnung, die live auf 3Sat ausgestrahlt wurde, sowie von Texten und Fotos.

79

80

Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir

dem Betreten des Hauptaufführungsraumes wird das Publikum durch einen von großen, kubenförmigen Holzkisten flankierten Einlass geschleust, auf denen in roter Farbe in großer Schrift »FLUXUS« und »FLUXUS-ORATORIUM« geschrieben steht. Die zentrale programmatische und formale Referenz wird hier bereits vor dem Betreten des eigentlichen Aufführungsraumes schriftbildlich markiert und räumlich in Szene gesetzt. Im Anschluss passiert das Publikum ein schmales, mit schwarzem Stoff ausgekleidetes Entree, das in den Hauptaufführungsraum mündet. Die Einlassinszenierung markiert bereits eine Schwelle, die in den dunkel funkelnden, auratisch stark aufgeladenen Aufführungsraum hinüberführt, der seinem Anschein nach einer anderen raum-zeitlichen Ordnung angehört als die Welt draußen vor der Tür, wodurch eine erste Anspielung auf seine Todesnähe raumgestalterisch in Szene gesetzt wird. Für die Raumgestaltung hat Schlingensief den Innenraum der römisch-katholischen Kirche Herz Jesu am Altmarkt seiner Heimatstadt Oberhausen nachempfunden, in der er während seiner Kindheit und Jugend viele Jahre lang als Messdiener tätig war.130   Als bühnenbildnerische Nachempfindung eines Kircheninnenraums ist der Aufführungsraum den gesamten Raum umfassend ausgestaltet. Er funktioniert zugleich als Kinoraum, als Theaterraum, als Blackbox und installativer Raum131. Damit wird man beim Betreten des Aufführungsraumes sogleich von dem Sog einer Aura erfasst, die den Effekten eines gelungenen Kirchenraums nicht unverwandt ist und doch zugleich in eine andere künstlerische Richtung weist. Der Raum ist vollkommen abgedunkelt und von einer immersiven Wirkung, die der eines Kinosaals gleicht. Eine weitere audiovisuelle Verknüpfung von Kino- und Kirchenraum vollzieht sich durch das maschinelle Surren der Filmprojektoren132, die von der Decke hinuntergelassen sind und auf die seitlichen Wände projizieren. Die christlichen Ikonen sind an den Flanken des Raumes durch autobiografisches und unterschiedlichen Arbeiten entsprungenes Film- und Bildmaterial ausgetauscht. Die Marienbilder und Skulpturen sind hier nun Materialien und Objekte, Reliquien aus Performances und Aktionen von Schlingensief und anderen, welche im Verlauf der Aufführung als projiziertes Film- und Videomaterial gezeigt werden. Als Kirche wie als Kunstraum ist der Aufführungsraum maßgeblich als ein Raum im Zeichen von Fluxus, von Beuys und den Neoavantgarden markiert. Die Bild- und Symbolsprache sowie die ›architektonische Liturgie‹ der Kirche markieren dies, indem sie qua Zeichen, Schriften, Objekten, Skulpturen und nachgestelltem Bildmaterial aus dem Kanon gewordenen Anti-Kanon der Neoavantgarden

130

131 132

Als Bühnenbildner nutzt Schlingensief das Pseudonym Thekla von Mühlheim. Er hat den Bühnenraum zusammen mit Thomas George entwickelt. Zum installativen Raum siehe Kapitel V zur Installation. Siehe hierzu ausführlich Kapitel III zum Film.

I. Im Zeichen der Avantgarden

zitieren. Die liturgischen Zitate, mit denen das Oratorium verquickt wird, der Kirchenraum, Elemente der Messe, Momente von Predigt sowie das Psalmodieren, die die Aufführung immer wieder durchziehen, treten deutlich als Zitate auf den Plan, die immer wieder durch Fluxus überschrieben werden. Als Zitate treten die kirchlichen Bezüge in einer formalen Uneigentlichkeit in Erscheinung, die sie ihrer Wirkmacht entheben und in Differenz zu sich treten lassen. Zitieren heißt auch, Stellung beziehen und diese Position heißt in Schlingensiefs Oratorium »Fluxus«. Der formale, zitatförmige Bezug auf die römisch-katholische Kirche im Hinblick auf Raum, Requisiten, Praktiken und Rituale eröffnet ein ästhetisches Spiel zwischen Affirmation, Modifikation und Distanzierung. Rituale der Messe und der Totenmesse, die Predigt von der Kanzel, das Singen der Psalmen, die Beweihräucherung : All diese Elemente sind formale Zitationen, die sogleich auch ihre Abweichungen markieren. Entsprechend ist etwa eine inszenierte Totenmesse für den so verkündeten »zukünftig Verstorbenen« als eine Fluxus-Beerdigung mit Miniatursärgen und Fluxus-Aufschriften gekennzeichnet. Unter Anrufung von Fluxus wird die Kunst- bzw. Theateraufführung mit rituellen und zeremoniellen Zügen versehen. Die unterschiedlichen Formen dieser ästhetischen Referenzierungen werden durch die Metareferenz auf die Neoavantgarden umklammert. Im Zentrum der ›Religion‹, der um Leben und Sterben kreisenden Inszenierung und Aufführung steht ein Glaubensbekenntnis zur Kunst der Neoavantgarden, zu Fluxus, Beuys und den Wiener Aktionisten im Besonderen, zu der sich Schlingensiefs Kunst bekennt und sich darin selbst verortet. Als ›Religion‹ wird dieser Bezug lesbar durch die formale Zitation christlicher Symbole, Architektur und Rituale. Die wechselseitige Überschreibung und Kollision von künstlerischen Praktiken der Neoavantgarden und jenen des Christentums werden ihrerseits wiederum im Programm der entgrenzenden Kunstpraktiken der Neoavantgarden lokalisiert.133 Die Thematisierung der persönlichen Krank-

133



Zum Begriff der Kunstreligion mit besonderem Blick auf die historischen Avantgarden siehe Müller-Funk, Wolfgang, »Prophetie und Ekstase. Avantgarde als Erweckungsbewegung«, in : Klinger / Ders. ( Hg.), Das Jahrhundert der Avantgarden, a.  a. O., S.  27‒  52. Hier schreibt er: »Die Entstehung der Kunstreligion im Gefolge der Romantik und der ihr nachfolgenden Avantgarden ist ein Effekt der Säkularisierung: des Überlebens der Religion in der neuen kulturellen Nische der ›autonomen‹ Künste und – was derselbe Prozess aus der umgekehrten Perspektive ist – der Aneignung der Religion durch die Kunst. Mit dieser Aneignung verquickt, ist die Ausdifferenzierung der Elemente des religiösen Komplexes […] als Ritual, Gefühl, Mythos, und Dogma […].« S.  36  f. Vgl. allgemein zum Begriff der Kunstreligion: Meier, Albert / Alessandro, Costazza / Laudin, Gérad ( Hg.), Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept in seiner historischen Entfaltung, Bd. 1, Der Ursprung des Konzepts, Berlin / New York : de Gruyter, 2011 sowie Meier, Al-

81

82

Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir

heitserfahrungen, der stark räumlich, auratisch und handlungsspezifisch hergestellte Bezug zur christlichen Kirche, zur Zeremonie und überhaupt zu religiös konnotierten Fragen korreliert mit bestimmten Entgrenzungsbestrebungen der Neoavantgarden, wie etwa der engeren Verschränkung von Kunst und Leben und der Ausweitung des Zuständigkeitsbereich der Kunst im Sinne eines nachhaltig transformatorischen Potenzials und dadurch freigesetzter Heilungskräfte.134 Die Beschwörung der Neoavantgarden, das kunstförmige Sich-zu-ihnen-in-Bezugsetzen weist eine meta-religiöse Struktur auf, insofern sie sich im »Fluxus-Oratorium« als ästhetische Produktivkraft im Sinne einer »unendlichen Annäherung«135 entfaltet. Die Nichtverfügbarkeit der historischen Bezugsgröße gibt Antrieb für die eigene künstlerische Produktion. Die Differenz zwischen Geschichte und Gegenwart wird als ästhetische Spannung ausgespielt und öffnet den Raum für das Kunstereignis. Das an dieser Stelle kunstreligiös konnotierte Inszenierungsverfahren, welches die Objekte im Raum in einer Reibung von profanierter Requisite und rekonsekrierten Reliquien auflädt, begründet sich auch durch einen Medienwechsel. So sind die Ikonen in Schlingensiefs Fluxus-Kirche durch Schriftbilder, großformatige Skizzen, Farbtafeln- und Fahnen sowie durch Skulpturen und Objekte ersetzt, die Relikte der Aktionen von Fluxus-Künstler *innen und den Wiener Aktionisten zitieren. Sie entstammen hier allerdings Reenactments136 dieser Aktionen, die in dem projizierten Filmmaterial gezeigt werden und teils aus früheren Produktionen Schlingensiefs stammen, teils extra für Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in

134

135

136

bert /  Alessandro, Costazza / Laudin, Gérad ( Hg.), Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept in seiner historischen Entfaltung, Bd.  2, Die Radikalisierung des Konzepts, Berlin / New York : de Gruyter, 2012. Ausführlich zum Kunstreligiösen in Schlingensiefs späten Arbeiten siehe Knapp, Formen des Kunstreligiösen, a.  a. O. Siehe hierzu Warstat, Matthias, Krise und Heilung. Wirkungsästhetiken des Theaters, München : Fink, 2011. Diesen Terminus entwende ich hier Manfred Frank, der ihn in Anlehnung an Friedrich Schlegel als Titel für seine Auseinandersetzung mit der Frühromantik gewählt hat. Frank, Manfred , ›Unendliche Annäherung ‹. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1997. Zu der künstlerischen Praxis des Zitierens vornehmlich in Aufführungen, deren Phänomen in der jüngeren Forschung auch als Reenactment beschrieben wird, vgl. den Sammelband von Jens Roselt und Ulf Otto Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld: transcript, 2012. Das künstlerische Zitieren, Reenacten und Impersonaten in Schlingensiefs Arbeit wird eingehender unter »Zitieren als künstlerische Praxis« in diesem Kapitel analysiert.

I. Im Zeichen der Avantgarden

mir angefertigt wurden.137  Die Ambivalenz der Objekte rührt aus ihrer doppelten Gestalt in der Aufführung. Sie scheinen einerseits als Projektion von den Leinwänden über und vor der Bühne auf das Publikum, aus einer anderen Raum-ZeitRelation im Modus der technischen Reproduktion in der jeweiligen Aufführung vergegenwärtigt 138, hinunter. Zugleich werden sie als deren Überreste und Spuren einer im Film und für den Film aufgezeichneten Aktion jenem Film enthoben, zu dessen Spur sie werden und der sie auflädt. Aufgrund seiner spezifischen Medialität verleiht der Film den Objekten eine ambivalente Gestalt, indem er sie in der vergegenwärtigten, vergangenen Raum-Zeit-Konstellation, in der sie im Film erscheinen, als etwas abwesend Anwesendes aufspannt und ihre Profanität als Requisiten aufhebt, sie in diesem Sinn ›sakralisiert‹ . Dieses Verfahren nimmt Anleihen bei dem für Schlingensief immer wieder und besonders in dieser Arbeit so wichtigen Künstler Joseph Beuys. Barbara Gronau hat darauf verwiesen, dass Joseph Beuys bereits sehr früh Aktionsrelikte in Form von Objekten mit Körperspuren in Ausstellungen und Werkkomplexen (wieder) verwendete.139 Das Besondere dabei ist ihr nach, dass Performance und Ausstellung gleichwertig nebeneinanderstehen, auch autonom funktionieren sollen und doch in ihrem Status und ihrer Geschichtlichkeit aufeinander bezogen bleiben. Diesen künstlerischen Umgang mit Performance- und Ausstellungsobjekten bringt Schlingensief hier als historische Bezugsgröße auf dem Theater ins Spiel, wodurch der rein funktionale Status der Requisite in das Gefüge noch hinzukommt. Zusätzlich wird die Polyvalenz der Objekte durch ihr gleichzeitiges Erscheinen im Film potenziert. Aufgrund des kirchlichen Formenbezugs erhalten sie zudem eine sakrale Schicht, die gleichzeitig permanent profaniert wird und umgekehrt. Ein solcher Umgang mit künstlerischen und medialen Wechselrahmungen unter permanenter Fortschreibung und Potenzierung historischer Vorläufer *innen und ihren transgressiven Bewegungen ist, wie im Folgenden immer wieder deutlich werden wird, emblematisch für Schlingensiefs Arbeitsweise.

137 138

139

Siehe hierzu ausführlich in diesem Kapitel »Das Filmmaterial«. Diese sakral anmutende Konstellation des abwesend Anwesenden fasst Walter Benjamins in seinem Aura-Begriff als »allgemeine Erlebnisstilart, die er als paradoxe Erfahrung der Anwesenheit des Abwesenden beschreibt«, Spangenberg, Peter M. »Aura«, in: Barck, Karlheiz et.   al. ( Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart / Weimar : Metzler, 2000, S.  400 ‒  416, S.  404. Benjamin spricht auch von der Aura als »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.« Benjamin, Walter, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in : Ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a.  M. Suhrkamp, 1972, S.  7  ‒  65, S. 18. Siehe Gronau, Theaterinstallationen, a.  a. O., S.  51 und S. 119  ‒125.

83

84

Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir

Auf Höhe der Publikumsblicke sind entlang der Seitenwände zudem Stills aus einem der wiederholt während der Aufführung projizierten Filme angebracht, in dem eine fabelhafte Fluxus-Prozession über das Ruhrparkgelände zieht, auf dem die Uraufführung von Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir stattfand. Um den Hals des Protagonisten Norbert Müller hängt ein Schild, auf dem »Fluxus« geschrieben steht, auf jenem von Achim von Paczensky steht »Paik«. Außerdem sind Bilder und Schriftbilder sowie vergrößerte und bemalte Röntgenbilder an den Seitenwänden des Raumes aufgehängt ebenso wie längliche Fahnen, auf denen in großen, untereinander geschriebenen Lettern »Fluxus« steht. Eine Schriftbildskizze lehnt sich an Joseph Beuys’ Skizze des sozialen Organismus an, die er im Rahmen eines künstlerischen Vortrags am 2. März 1974 in Bochum angefertigt hat. Sie skizziert in einer scheinbar flüchtig hingeworfenen Kreidezeichnung Beuys’ Auffassung des Zusammenhangs von Mensch, Tier, Natur und Ding, die in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis stehen, in dessen Zentrum die Natur liegt. Dabei verbindet die Skizze Umrisse von Tier, Mensch und Sonne mit Skalierungen, Strichbewegungen und Begriffen. Schlingensief variiert diese Skizze und kombiniert seine arbeitsbiografisch verwobene Krankheitsgeschichte mit seinem künstlerischen Kosmos. Eine vertikal langgezogene Leinwand hängt hier zudem, voller abstrakter roter Farbflächen, die einem Body-Painting gleichkommen, auf dem die Spuren eines in Farbe getränkten Körpers, der sich über eine weiße Leinwand bewegt, abgedrückt sind. Das Bild zitiert damit einerseits die körperbezogene Expansion der Leinwand sowie die Performativierung der bildenden Kunst in den Neoavantgardebewegungen seit den ausgehenden 1950er Jahren, in der die Malakte selbst in den Fokus rücken. Im Rahmen der theatralen Kontextverschiebung werden so die hier virulent werdenden Relationen von Aktion, Liveness, Körper, Artefakt, Relikt und Spur in Szene gesetzt. Andererseits ruft dieses Bild aufgrund der mit Blut assoziierten roten Farbe Motive der Wunde, des Leidens, der Opferung und des Todes auf und referenziert hierdurch die Tafel- und Schüttbilder aus Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater. Diese entstehen in so bezeichneten »Malaktionen« , bei denen rote Farbe wie tierisches Blut140 in ( imitierten ) ›Opferritualen‹ ihre Spuren auf den gespannten weißen Leinwänden hinterlassen und damit das Tafelbild in die Aktion zu überführen suchen.141   Somit werden Nitsch und im weiteren Verlauf

140

141

Es konnte allerdings auch vorkommen, dass tatsächlich Tierblut und Exkremente in den Malaktionen verwendet wurden. Siehe hierzu ausführlich: Badura-Triska, Eva, »Die Erweiterung der Malerei. Vom Tafelbild zur Aktion«, in : Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien / Badura-Triska, Eva / Klocker, Hubert ( Hg.), Wiener Aktionismus, Kunst und Aufbruch im Wien der 1960er Jahre, Köln : Walther König , S.  31‒34.

I. Im Zeichen der Avantgarden

der Aufführung die Wiener Aktionisten überhaupt als historische Ankerpunkte von Überschneidungen zwischen religiösen Motiven und subversiven Kunstpraktiken referenziert, in deren Kontext Schlingensief sein autobiografisch zugespitztes Projekt einordnet. Der Bühnenraum ist als Altarraum gestaltet, der durch eine fünfstufige Empore erhöht ist. Sie bildet den Bug des Kirchenschiffes, das nach hinten durch ein Halbrund abgeschlossen wird, welches aus dünnen, zur Seite des Raumes hinein dunkel angestrichenen Holzplatten mit ausgesägten Fenstern besteht, die mit bunten Kirchenmosaiken aus lichtdurchlässigem Papier ausgeklebt sind und von hinten angestrahlt werden, so als falle das Tageslicht durch die Fenster. Eine Drehbühne sorgt für ein dynamisches, wechselndes Dekor, darunter der Altar und ein Krankenzimmer. Der Altar besteht aus einer großen schwarzen Kiste, auf der ein künstlicher Hase sitzt. Über ihm hängt ein großer, kreisförmiger, schwarzer Leuchter. Am rechten vorderen Seitenrand der Bühne ist die Kanzel errichtet, die hier ein Sprechpult bildet. Hinter dem Altar ist ein Hochsitz aufgestellt, auf dem im Verlauf einer abgehaltenen Messesequenz die Darstellerin Karin Witt im Kardinalsornat thront. Gemäß der Raumanordnung der Kirche nimmt das Publikum als Gemeinde auf kargen Kirchenholzbänken Platz, die durch den Mittelgang in zwei Seiten aufgeteilt sind, der vom Eingang zum Bühnenaltar führt und mit einem roten Teppich ausgelegt ist. Rechts neben dem Altar, vor dem rechten Beichtkammerdurchlass, ist eine Fettecke errichtet, die aus zwei circa zwei Meter hohen, mit weißgelblichem Wachs überzogenen Holzscheiten, die im rechten Winkel miteinander verbunden sind, konstruiert ist. Sie wird von einer Glühbirne erleuchtet, die in sie hinein von der Decke hängt. Die Überreste eines ( künstlichen ) Hasenfells, das vollkommen eingewachst ist, formieren sich in diesem installativen Setting als reliquienhafte Skulptur. Auch dieses Beuys’sche Fettecken 142-Zitat stammt aus einem der während der Aufführung projizierten Fluxus-Filme. Immer wieder wird im Verlauf der Aufführung von den Akteur *innen Fluxus beschworen, etwa wenn die Schauspielerin Mira Partecke am Altar steht und aus dem »5. Evangelium von Joseph Beuys« über den Hasen liest und dann zu dem beschwörenden Ausruf »Fluxus« die Faust ballt. Oder wenn Schlingensief selbst, bei seinem leibhaftigen Auftritt gegen Ende der Aufführung, die Worte Jesu am Kreuz aus dem Johannesevangelium dementiert und seine Kritik der Stellvertretung und Aufforderung an das Publikum zur Autonomie mit dem lauten Schrei »Fluxus !« besiegelt. Noch einmal wird Fluxus so als jene ethisch-ästhetische Bewegung demonstriert, zu der sich Schlingensiefs Kunst bekennen will, in ihrem Unterfangen,

142

Siehe hierzu: Brandt, Susanne / Dammert, Rike / Jurack, Brigitte et.  al. ( Hg.), Joseph Beuys und die Fettecke. Eine Dokumentation zur Zerstörung der Fettecke in der Kunstakademie Düsseldorf, Heidelberg : Staeck, 1987.

85

86

Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir

Kunst und Leben existenziell ineinander zu weben und dafür ihre Trennschärfe reflexiv zu bespielen. Dass dabei nicht nur Bekenntnis, sondern immer auch Verkennung mitläuft, dies markieren die ihre eigenen Differenzen herausstellenden künstlerischen Bezugnahmen permanent, in Gesten der Übertreibung, des Dilettantischen, der Ironie und der pointierten Verfehlung. Wie bereits angeklungen, kennzeichnet die Inszenierung eine extrem ausgefeilte audiovisuelle Ästhetik, die verschiedenes Material kombiniert und es einander wechselseitig ablösen, unterbrechen, ergänzen, synthetisieren und konstruieren lässt. Diverses Film- und Videomaterial wird im Verlauf der Aufführung immer wieder auf das Leinwand-Triptychon über der Bühne, auf die Halbgardine vor der Bühne und von den entlang der Flanken des Raumes installierten Filmprojektoren auf die Seitenwände projiziert. Schlingensief vermag es hier, ein multiples Bildrepertoire zu mobilisieren, in dem Bilder der Existenz, des Lebens, der Krankheit und des Todes verhandelt werden. Medizinische Ansichten des Körpers, der Krankheit und des Sterbens, Röntgenbilder und mikroskopische Zellteilungen werden mit Fluxus-Filmen, Mondbildern, autobiografischem Filmmaterial von Schlingensief im Kindesalter montiert sowie mit Filmmaterial aus seinen früheren Arbeiten kombiniert, welche Motive des Lebens und Sterbens zeigen, wie etwa eine Kreuzigungsszene in Schwarzweiß, Slow Motion, langen Schwarzblenden und Flackerbildern oder der in einer Schwarzweißen Zeitrafferaufnahme verwesende Hase (ursprünglich aus Schlingensiefs Parsifal -Inszenierung 143  ).144  Dieses Bildrepertoire wird wiederum mit unterschiedlichen filmischen Sequenzen verwoben, in denen auch in Schwarzweiß und Slow Motion nachgestellte Aktionen von Fluxus, Beuys, Nam Jun Paik, Valie Export und den Wiener Aktionisten projiziert werden, in denen abermals Bilder und Motive des Schmerzes und Leidens in Szene gesetzt werden. Die Gestaltung, Verbindung sowie die Funktionen der verschiedenen filmischen Motive möchte ich im späteren Verlauf dieses Kapitels (mit Blick auf die Neoavantgarden) sowie im dritten Kapitel ( III ) zum Film (mit Blick auf das autobiografische Filmmaterial ) noch dezidierter vorstellen und untersuchen. Zunächst möchte ich an dieser Stelle die Bedeutung von Fluxus für das Fluxus-Oratorium, aber auch für die künstlerische Auseinandersetzung mit Leben und Sterben ins-

143

144

Das Filmmaterial stammt eigentlich von Alexander Kluge und kam bei Schlingensief im Bayreuther Parsifal erstmalig als großformatige Bühnenprojektion zum Einsatz. Diesen Hinweis verdanke ich Sandra Umathum und Aino Laberenz. Dieses Filmmaterial, mit dem Titel Fremdverstümmelung, hat Schlingensief ursprünglich für die Opernproduktion Freax gedreht, aus der er nach einem Konflikt dann allerdings ausgeschieden ist und die Filmvorführung gesondert bei der Opernaufführung am 01. 09. 2007 beim Beethovenfest in Bonn ausgerichtet hat.

I. Im Zeichen der Avantgarden

gesamt im Spätwerk in den Blick nehmen. Außerdem gilt es kurz zu skizzieren, welche Rolle das Oratorium in dieser ersten großen öffentlichen Arbeit zu Schlingensiefs Erkrankung spielt und in welcher Beziehung es dabei zu Fluxus steht. »Fluxus-Oratorium« Wie ist nun die formgebende Betitelung von Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir als »Fluxus-Oratorium« zu begreifen? Wie kommt das Oratorium hier vor und welche Rolle spielt dabei Fluxus? Blicken wir zunächst auf den Bezug zum Oratorium. Das Oratorium stellt eine musikalische Gattung dar, welche christlichreligiösen Ursprungs ist.145 Als musikalische Gattung der Vertonung geistlicher Texte leitet sich der Begriff des Oratoriums aus dem italienischen oratorio ( Betraum) ab, in dem solche Werke zur Aufführung kamen, und taucht in diesem Zusammenhang erstmalig im 17. Jahrhunderts in Rom auf. Das Oratorium bildet hier den musikalischen Teil der geistlichen Übungen. Gerade in Deutschland 146 entwickeln sich in der zweiten Hälfte des 18.  Jahrhunderts neue Themen des Oratoriums, wie die religiöse Empfindung und die Meditation über die letzten Dinge: die Ewigkeit und die göttliche Natur.147  Wenn sich das Oratorium als musikalische Gattung im 20. Jahrhundert zunehmend säkularisiert, verliert es seinen religiösen Entstehungskontext nicht gänzlich, vielmehr wird dieser in den jeweiligen neuen Produktionen oder auch Bezugnahmen und Aktualisierungen in ein Spannungsverhältnis zu seiner säkularen Ausdifferenzierung gebracht. Die meditative musikalische Funktion kann so auch auf andere Themen und Stoffe gerichtet werden. Auf diese produktive Spannung der säkularisierten musikalischen Form religiösen Ursprungs hebt seinerseits Schlingensief mit der Bezugnahme auf das Oratorium in seinem »Fluxus-Oratorium« ab und potenziert sie in der Überschreibung durch Fluxus. Das »Fluxus-Oratorium« Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir trägt durchaus Züge einer theatralen Meditation über die ›letzten Dinge‹, über Leben und Sterben, Diesseits und Jenseits, die sich auf dem Theater immer wieder

145

146

147

Zur Geschichte des Oratoriums vgl.  o.   A., »Oratorium«, in: Dahlhaus, Carl / Eggebrecht, Hans Heinrich ( Hg.), Brockhaus Riemann Musiklexikon, Bd.  2, Wiesbaden, Mainz : Schott’s Söhne, 1979, S.  241 ‒ 243 sowie Wangemann, Otto, Geschichte des Oratoriums. Von den ersten Anfängen bis zur Gegenwart, Leipzig : Kiesler, 1973. Vgl. »Oratorium«, in: Dahlhaus / Eggebrecht ( Hg.), Brockhaus Riemann Musiklexikon, a.  a. O., S.  241‒ 243. Siehe hierzu Schmid, Eva Verena, Oratorium und Musikfest. Zur Geschichte des Oratoriums in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Göttingen: Hainholz, 2012.

87

88

»Fluxus-Oratorium«

auch in musikalischen Formen und Variationen ereignet und dabei häufig auch christliche Liturgien zitiert. Das Oratorium wird zugleich in seiner rahmengebenden Funktion aufgespalten und mit anderen zentralen formalen und motivischen Referenzrahmen montiert, sodass zwar die Aufführung insgesamt als künstlerische Variation auf das Oratorium gelesen werden kann, sich hierin aber nicht erschöpft. Entsprechend würde eine solche ausschließliche Lesart der Arbeit als Oratorium zugleich die Sicht auf die übrigen zentralen Phänomene und Bezüge verstellen. Denn das Oratorium wird hier nicht als einheitliche, strenge Form zur Aufführung gebracht, sondern eher als ein zentrales Versatzstück montiert und geöffnet. Deswegen erscheint es sinnvoll, das Gewebe herauszuarbeiten, indem sich das Oratorium in Wechselwirkung mit den anderen Dimensionen, Referenzen und Formen der Arbeit ereignet und vor allem: wie es sich gerade dabei als ein »FluxusOratorium« realisiert. Mit Blick auf die Musik ist zunächst zu bemerken, dass hier nicht ein musikalisches Werk zur Aufführung gebracht wird, sondern unterschiedliche Lieder und Stücke in Fragmenten aufgegriffen, eingespielt und gesungen werden, aber dabei kaum einen Anfang und eigentlich nie ein Ende haben, sondern immer wieder durch andere elektronische Soundflächen, akustische Störsignale sowie das Sprechen und Schreien der Akteur *innen unter- und aufgebrochen und so zusammen in einen dissonanten akustischen Patchwork-Teppich gewebt werden.148 Romantische Lieder von Richard Wagner, Gustav Mahler und Franz Schubert über den Tod und das Sterben werden mit musikalischen Versatzstücken einer Messe, die über das »Halleluja« und »Sanctus« zu einem Kinder- und Gospelchor reichen, ergänzt, und beide werden wiederum durch verzerrende elektronische Effekte an der Orgel und rockig-anarchische Schlagzeugeinheiten unterbrochen, abgelöst und verfremdet. Indem der Fluxus-Bezug im Titel signifikant für die Arbeit in den Kontext des Oratoriums gerückt wird, rufen Schlingensief und sein Team an dieser Stelle besonders die musikalischen Bezüge von Fluxus auf den Plan. Fluxus steht hier auch als eine Referenz für eine unorthodoxe, intermediale Form des Konzerts. Im Programmheft von Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir liest sich zur Verbindung von Fluxus und Oratorium : »Fluxus heißt fließen. […] FluxusVeranstaltungen lassen sich mit Konzerten vergleichen, bei denen Gedichte, Manifeste vorgetragen, dazu Kunstobjekte und Filme in Szene gesetzt wurden, alles zusammengehalten von Musik . […] Oratorien weisen eine Familienähnlichkeit mit Fluxus auf und widmen sich dem Glauben und dem Gebet in seiner musikalischen Form. Musik verweist auf Transzendenz. Bei Fluxus geht es um den Künstler

148

Die musikalische Leitung hat hier als Korrepetitor an der Orgel Dominik Blum.

I. Im Zeichen der Avantgarden

und wie er sich in seiner Kunst verkörpert. […] Fluxus ist ein Oratorium über das profane, weltliche Leben.«149 Die hier beschriebene Zusammenführung von Fluxus und Oratorium verweist erneut auf einen Begriff und einen künstlerischen Umgang mit Glauben, Religion und römisch-katholischer Kirche, der diesseits der Kunst ansetzt, sie hier bespielt und ihre Unterscheidungen kreuzt. In der Konstatierung einer Verwandtschaftsbeziehung zwischen Fluxus und Oratorium drückt sich noch einmal die programmatische Klammer aus, in der Schlingensief in Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir auf die römisch-katholische Kirche sowie auf Religion im Allgemeinen in ästhetischer Weise zugreift, nämlich unter den Vorzeichen avantgardistischer und neoavantgardistischer transgressiver Kunstpraktiken, die auf diese Weise säkularisiert werden: »Fluxus ist ein Oratorium über das profane, weltliche Leben.«150   Wenn sich im Programmheft auf Fluxus als künstlerische Praxis berufen wird, die sich um die Idee und den Begriff des Fließens herum formiert, ist dabei die Dimension einer in ethischer wie ästhetischer Hinsicht entgrenzenden Kunstpraktik entscheidend. Der als Mitbegründer der Fluxus-Bewegung geltende Künstler George Maciunas hat selbst Lexikoneinträge zu Fluxus verfasst, in denen Fluxus (englisch flux ) als »Akt des Fließens : eine kontinuierliche Bewegung oder ein Vorübergehen, wie das eines fließenden Stroms ; eine kontinuierliche Folge von Veränderungen«151 gefasst wird. Als metaphorischer Begriff der Existenz und allen Seins geht eine solche Auffassung von Fluxus / Fließen152 auf Heraklit zurück, nach dem alles Sein sich im Strom des Entstehens und Vergehens befindet.153   Die existenzielle Dimension des Begriffs Fluxus liefert der Aufführung von Eine Kirche der Angst vor

149

150 151

152

153

Zit. aus Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir, Fluxus-Oratorium von Christoph Schlingensief, Programmheft, hg. v. Kultur Ruhr GmbH, Gelsenkirchen, 2008. Zit. aus ebenda. Maciunas zitiert nach Knapstein, Gabriele, »Fluxus«, DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, hg.   v. Hubertus Butin, Köln: DuMont, 2002, S.  86  ‒   90, S.  86. o.  A., »Fluxus« in : Klein, Ernest ( Hg.), A Comprehensive Etymological Dictonary, Volume I A ‒ K, Amsterdam / London / New York : Elsevier Publishing Company, 1966, S. 605 ; o.   A., »flux, fluere« Walde, A. / Hofmann, J.  B. ( Hg.), Lateinisches Etymologisches Wörterbuch, Band I  A ‒ L , Heidelberg : Carl Winters Universitätsbuchhandlung, 1938, S.  519. »Zusammensetzungen sind Ganzes und Nichtganzes, Einträchtig-Zwieträchtiges, Einstimmend-Mißstimmendes, und aus Allem Eins und aus Einem Alles. […] Steigen wir hinein in die gleichen Ströme, fließt andres Wasser herzu. […] Alles ist in Fluß.« Heraklit, Fragmente, griechisch und deutsch, hg.  v. Snell, Bruno, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1976, S.  7   ff. vgl. hierzu auch Adriani, Götz / Konnertz, Winfried / Thomas, Karin, Joseph Beuys. Leben und Werk, Köln: DuMont, 1994, S.  92.

89

90

»Fluxus-Oratorium«

dem Fremden in mir einen zentralen formalen und thematischen Rahmen, der sich schließlich auch reflexiv in dem Medium der Aufführung niederschlägt, deren prozessuale Verfasstheit konstitutiv flüchtig wie transitorisch und deshalb stets im Werden und Vergehen begriffen ist.154 Eine Bewegung des Fließens, des Stroms, der ununterbrochenen Überwindung von Grenzen, ein Modus des unaufhörlich wie gleichmäßig In-Bewegung-versetzt-Seins erscheinen hier als ausschlaggebend für die Möglichkeit einer künstlerischen Inszenierung existenzieller Erfahrungen, für die die Bezugnahme auf Fluxus steht. Dies schließt ein Fließen der Formen, der Gattungen sowie der Kunstgrenzen, der Grenze von Kunst und Leben, den Fluxus als Traum der historischen Avantgarden weiterträumt und auf den Schlingensief sich hier beruft, mit ein. Cornelia Klinger konstatiert: »Das latent seit der Romantik präsente Postulat einer Versöhnung von Kunst und Leben gewinnt im frühen 20. Jahrhundert besondere Aktualität. Es geht darum, die Kunst ins Leben zu überführen, das heißt die im Zuge des Modernisierungsprozesses ausdifferenzierte, institutionalisierte und professionalisierte Sphäre der Kunst aufzuheben.«155 Dies bedeute konkret, »erstens, die Grenzen zwischen den verschiedenen Gattungen zu überwinden, in die sich der Kollektivsingular Kunst real aufsplittert. Es bedeutet zweitens die Trennung von Experten und Laien, Künstlern und Nicht-Künstlern einzuebnen (›jeder Mensch ist ein Künstler‹ ). Es zielt drittens auf eine Verunsicherung des Werkbegriffs in der Intention, das Werk in den Prozess aufzulösen, die künstlerische Arbeit im politischen Engagement und im gesellschaftlichen Leben aufgehen zu lassen.«156 Trotz aller Fließmetaphorik möchte ich betonen und deutlich machen, dass die Bezugnahme auf die Avantgarden und Neoavantgarden im Allgemeinen sowie auf Fluxus im Besonderen nicht zu einer vollkommenen Auflösung der Form-, Kunst- und Medienspezifik führt und diese auch gar nicht anvisiert, im Gegenteil. Denn dass Fluxus, die sich ihrerseits massiv auf die künstlerischen Praktiken der

154 155

156

Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, a.  a. O., S.  42  ‒  62. Klinger, »Die Utopie der Versöhnung von Kunst und Leben«, a.  a. O., S.  215. Klinger schreibt weiter : »Das läuft letztlich darauf hinaus, aus Gesellschaft und Staat ein Kunstwerk zu machen, d.  h. zu einer politischen Organisationsform zu gelangen, die eine sinnvoll und harmonisch gestaltete Einheit bildet.« Diese romantische und später avantgardistische Forderung nach der politischen Einheit von Kunst und Leben erinnert nicht nur an Wagner, an Beuys und schließlich an Schlingensief, wenngleich die künstlerische Bezugnahme auf die Staatspolitik hier keine unmittelbare Funktion hat, sondern vielmehr Züge der ästhetisch-reflexiven Vergegenwärtigung trägt, werde diese Idee zu Beginn des 20.   Jahrhunderts durch Faschismus und Kommunismus, »die ihre Erfüllung vorgaukeln« pervertiert und scheitere damit als politische Utopie. Vgl. ebenda, S.  215  f. Ebenda, S.  215, Herv.  i.  O.

I. Im Zeichen der Avantgarden

historischen Avantgarden berufen, in experimentellen Verfahren neue, intermediale Formen und Gattungsbezüge hervorgebracht haben, heißt keineswegs, dass dies eine vollkommene Auflösung ihrer Kunst in ihre soziale Umwelt hinein evoziert hätte. Auch unterscheidet sich der Umgang von Fluxus mit neuen und alten Medien und Künsten aufs Deutlichste von allen anderen Gebrauchsweisen diesseits und jenseits der Kunst und bezieht gerade hieraus Spezifik, Unterscheidbarkeit und die Realisation als Kunst. Genau diese spezifische Bewegung der Entgrenzung ist es, so meine ich, an die Schlingensief hier anschließt. Nicht nur das Spiel mit und auf der Grenze ist wesentlich für seine Arbeit im Zeichen der Neo-/Avantgarden, sondern auch mit den unterschiedlichen Rahmen und Rahmungen: Kirche, Theater, Fluxus – die Wechselrahmung wird zum inszenatorischen Prinzip. Die Beobachtung der generativen Grenze, das gezielte Arbeiten mit beiden Seiten der Unterscheidung, die Beobachtung der Wechselwirkung von normativen Strukturen und den Differenzen und Singularitäten, die in den Kontextverschiebungen und reflexiven Rahmenwechseln deutlich werden,157 wodurch stets auf die andere Seite der Unterscheidung verwiesen wird, erscheint als Spezifikum der Kunst der Avantgarden und Neoavantgarden, das sich in ihren künstlerischen, selbstreflexiven Befragungen des Status von Kunst und Künsten sowie dem Versuch der Öffnung der Kunst auf  Welt entfaltet. Dies ist es, worauf sich Schlingensief in seiner Arbeit beruft. Um vor diesem Hintergrund Schlingensiefs künstlerische Bezugnahmen auf Fluxus noch konkreter kontextualisieren zu können, ist es zunächst wichtig, in gebotenener Kürze den Blick noch einmal auf die Fluxus-Bewegung selbst zu richten. Fluxus formiert sich als eine in sich heterogene künstlerische Bewegung in den ausgehenden 1950er Jahren zuerst in den USA und dann auch in Deutschland und Japan. Die Fluxus-Künstler *innen arbeiten entlang der Metapher des Fließens, lateinisch »fluere«, an neuen intermedialen künstlerischen Praktiken und Aufführungsformen, in denen experimentelle Musik eine besondere Rolle spielt und deren Aufführungen sich zunächst häufig als intermediale Konzerte ereigneten.158

157

158

Erika Fischer-Lichte beschreibt die ästhetische Strategie des Rahmenwechsels in der Aktion Wahlkampfzirkus   ’98 (13. 03. ‒12. 04. 1998 an der Volksbühne am Rosa-LuxemburgPlatz ), im Kontext seiner Wahlkampfaktion Chance 2000. Partei der letzten Chance (1998 ) als symptomatische Strategie des postdramatischen Theaters und überhaupt der Kunst seit der performativen Wende in den 1960er Jahren. Indem sie die Frage nach dem KunstStatus in sich virulent werden lässt, richte sie die Aufmerksamkeit des Publikums auf seine eigene Rolle. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, a.  a. O., S.  74  ff. Siehe hierzu weiter Blunck, Lars, »›Die Erhebung des Zufälligen zum Wesentlichen‹. Fluxus avant Fluxus : Cage, Kaprow, Brecht«, in: Graulich, Gerhard / Uhl, Katharina ( Hg.), Die Revolution der Romantiker. Fluxus Made in USA, Nürnberg : Verlag für moderne Kunst, 2014, S. 133  ‒163.

91

92

»Fluxus-Oratorium«

Das Erforschen neuer Beziehungen von bildender Kunst und Musik in performativen multimedialen Konstellationen bildet eine wesentliche Schnittstelle von Fluxus.159 Der Begriff Fluxus wurde zunächst von dem Künstler George Maciunas als Titel für eine von ihm konzipierte, aber nie veröffentlichte Kunstzeitung gewählt. Er firmierte rasch als Sammelbegriff für die von Maciunas initiierten »Konzerte und Festivals, Publikationen und Multiples.« 160 Als solcher weitete er sich in den 1960er und 70er Jahren schnell aus und bezeichnete diverse transgressive Aktivitäten eines Netzwerks aus Künstler *innen, das sich zwischen New York, Köln, Düsseldorf, Darmstadt, Wiesbaden und Tokyo aufspannte und zu dem neben zahlreichen anderen Nam June Paik, Dieter Roth und Joseph Beuys gehörten, die »immer wieder zusammenkamen, um gemeinsam in Konzerten und Ausstellungen an neuen, die traditionellen Gattungsgrenzen überschreitenden Formen der Kunst zu arbeiten«.161 Für die Entgrenzung der Künste in den Kunstpraktiken der 1960er und 70er Jahre, die, wie bereits mit Blick auf ATTA ATTA deutlich wurde, für Schlingensiefs künstlerische Praxis an der Jahrtausendwende von zentraler Bedeutung ist, spielt Fluxus somit eine zentrale Rolle. Erika Fischer-Lichte hält fest : »Es waren vor allem bildende Künstler wie Joseph Beuys, Wolf Vostell, die Fluxus-Gruppe oder die Wiener Aktionisten, welche in den sechziger Jahren die neue Form der Aktions- und Performancekunst kreierten.«162 Als Bezeichnung für diese heterogenen künstlerischen Praktiken wurde auch der Begriff »Intermedia« durch den Fluxus-Künstler Dick Higgins eingeführt.163 Gabriele Knapstein zitiert Higgins in ihrem Lexikonartikel zu Fluxus: »Im Grunde können wir solche Arbeiten als Fluxus bezeichnen, die von ihrer Anlage her intermedial sind: visuelle Poesie und poetische Bilder, Aktionsmusik und musikalische Aktion und auch Happening und Events, sofern sie Musik, Literatur und bildender Kunst konzeptuell verpflichtet sind.«164 Sie führt selbst weiter aus: »In den Grenzbereichen zwischen den Gattungen Musik, bildende Kunst, Literatur, Tanz und Theater zu arbeiten kann

159

160 161 162 163 164

Vgl. u.   a. Kellein, Thomas ( Hg.), Fluxus, Ausstellungskatalog ( 21. August bis 31. Oktober 1994  ), Basel: Kunsthalle Basel, 1994 ; Schlilling, Jürgen, Aktionskunst, Identität von Kunst und Leben ? Eine Dokumentation, Lutzern, Frankfurt a.  M.: Bucher, 1978, S.  79  ‒102 ; Emmett, Williams, My Life in Flux ‒ and Vice Versa, London: Thames and Hudson, 1992. Knapstein, »Fluxus«, a.  a. O., S.  86 ‒  90. Knapstein, »Fluxus«, a.  a. O., S.  86  ‒  90, S.  86. Ebenda. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, a.  a. O., S.  22. Siehe ebenda. Ebenda.

I. Im Zeichen der Avantgarden

als eine zentrale Vorgehensweise der KünstlerInnen gelten, die im Laufe der Jahre im Fluxus-Zusammenhang aufgetreten sind.« 165 Maciunas selbst verortet eine solche entgrenzende Kunstpraktik in den historischen Avantgarden: »Wir haben die Ideen der Unbestimmtheit und Simultaneität, des Konkretismus und der Geräuschmusik aus dem Futurismus, aus dem futuristischen Theater und der futuristischen Musik von Russolo. Dann haben wir die Idee des Ready-made und die Konzeptkunst, die auf Marcel Duchamp zurückgehen. Dann gibt es die Ideen der Collage und des Konkretismus bei den Dadaisten – und, wie Sie sehen, das alles mündet in die Stücke für präpariertes Klavier von John Cage, die tatsächlich Klangcollagen sind.«166  Nicht nur wird dementsprechend in Schlingensiefs »Fluxus-Oratorium« verstärkt mit Klangcollagen gearbeitet, sondern auch jene Verbindungslinie von historischen Avantgarden und Neoavantgarden hergestellt : als sich in der kritischen Auseinandersetzung mit den Tradierungen und Konventionen herausbildende, entgrenzende Kunstpraktiken, die für Schlingensiefs künstlerische Arbeit und die Begründung der transgressiven Ästhetik seiner (nicht nur späten ) Arbeiten wesentlich sind. Während in diesem Kapitel zur Rolle der Avantgarden und Neoavantgarden in und für Schlingensiefs ( Spät-)Werk besonders die gattungssprengenden und -pluralisierenden, die transmedialen und transgressiven Dimensionen dieser Einflüsse im Fokus stehen und hier vor allem Einwirkungen aus der bildenden Kunst fokussieren, wird im IV. Kapitel zur Oper noch deutlich werden, wie entscheidend die Musik der Avantgarden für Schlingensiefs Spätwerk ist. Dabei ist an dieser Stelle festzuhalten, dass Fluxus gegenüber der an späterer Stelle untersuchten Achse zwischen der Musik Richard Wagners und den Avantgarden der neuen Musik, die Schlingensief in seiner Arbeit mobilisiert, eine weitere zentrale Position im Spätwerk markiert. Fluxus zeigt eine historische Bezugsgröße an, die wiederum die Musik der Avantgarden gegenüber anderen Künsten und anderem Material öffnet, die eine Enthierarchisierung der Materialen sowie zwischen der Unterscheidung von Hoch- und Unterhaltungskultur anvisiert und radikal mit allen Erwartungshaltungen, Konventionalisierungen und Institutionalisierungen, die die Definitionen von Musik regulieren, verfährt. Fluxus steht hier für eine experimentelle musikalische Praxis und einen offenen Begriff von Musik im Kontext der Neoavantgarden, die darin zugleich keineswegs ahistorisch operieren, sondern die reflexiven Readymade-Verfahren der historischen Avantgarden in die Musik überführen, deren ästhetische Spannung sich gerade aus der negativen wie generativen Referenz auf die Geschichte und Institution der Musik entfaltet. Das macht sie für Schlingensiefs Arbeit und deren musikalische Dimension und Praxis so wesentlich.

165 166

Ebenda. Maciunas zitiert nach Knapstein, »Fluxus«, a.  a. O., S.  89.

93

94

Das Filmmaterial

Das Filmmaterial im Zeichen von Fluxus und der Kunst der Neoavantgarden Wie bereits einleitend erwähnt, steht das die audiovisuelle Gestalt der Aufführung wesentlich prägende Filmmaterial, das in ihrem Verlauf durch verschiedene Projektoren auf die heterogenen Bildträger projiziert wird, deutlich im Zeichen von Beuys, Fluxus und allgemein den Neoavantgarden. Im Folgenden sollen nun einige der projizierten Filme unter dem Aspekt ihrer Referenzierung auf die Neoavantgarden eingehender analysiert und diskutiert werden. Dabei soll gefragt werden, wen und was genau diese Filme eigentlich referenzieren, wie sie das tun und wofür sie ( in der Aufführung ) stehen.167  Wie bereits in der Raumbeschreibung skizziert wurde, prägen filmische Apparaturen, Inszenierungsweisen und wechselnde, simultane Projektionen die Erscheinung und Wirkungsweise der Aufführung auf entscheidende Weise, und dies gilt im Prinzip für nahezu alle Arbeiten in Schlingensiefs Spätwerk. Entsprechend möchte ich die Inszenierungs- und Wirkungsweisen in der Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod in diesem Arbeitszyklus später auch gesondert aus medientheoretischer sowie werkgenealogischer Perspektive untersuchen.168  An dieser Stelle geht es nun dezidiert um den Avantgardebezug des filmischen Materials, der im »Fluxus-Oratorium« besonders markant ist. Zunächst ist festzustellen, dass alle Fluxus- und Neoavantgarde-Filme in Schwarzweiß projiziert werden. Dabei wird verstärkt mit Hell-Dunkel-Wechseln sowie mit Handkamera, Wackel- und Flickereffekten gearbeitet. Die Reenactmentund Fluxus-Filme werden mit dem übrigen Film- und Bildmaterial sequenziell verwoben und montiert, das von medizinischen Bildern, über autobiografische Super 8-Filme zu existenziell-romantischem Parsifal-Material reicht, das wiederum mit christlichen Symboliken und anderem Bildmaterial verquickt wird.169 Unterschiedliche mediale Szenarien werden zitiert und neu kontextualisiert, wenn die Filme Aktionen und Motive aus der Geschichte der bildenden Kunst in den 1960er und 70er Jahren aufrufen, in denen das zweidimensionale Bild dreidimensional und in den Betrachter *innen-Raum, in die soziale Umwelt hinein, als Aktion und Interaktion intermedial ausgeweitet wird. Diese kunstgeschichtlichen Zitate werden in den existenziellen Kontext der Inszenierung eingelassen, wodurch immer wieder neue Zusammenhänge und Anschauungen des Schmerzes, des Leidens und der Existenz evoziert werden.

167 168 169

Eine medienspezifische Diskussion zur Rolle des Films in der Arbeit siehe Kapitel III. Siehe hierzu Kapitel III zum Film und V zur Installation. Siehe hierzu weiter Kapitel III sowie in diesem Kapitel »Der Hase als nomadischer Signifikant«.

I. Im Zeichen der Avantgarden

Der erste Film, den ich besprechen möchte, befasst sich nicht dezidiert mit einzelnen Arbeiten bestimmter Künstler *innen, sondern erscheint als Schlingensiefs filmische Version einer künstlerischen Auseinandersetzung mit dem (un /eigenen) Tod im Zeichen der Avantgarden und Neoavantgarden, insbesondere im Zeichen von Fluxus. Gleichzeitig werden hier bestimmte Künstler *innen und ihre Aktionen auf eine Weise referenziert, die, so meine ich, für diese Art der ( kunst-)geschichtlichen und personellen Referenzierung in Schlingensiefs Arbeit überhaupt wesentlich ist. Der Film wird eingeleitet durch eine auf die mittlere Leinwand des Triptychons über der Bühne projizierte Überschrift, die auf dunklem Hintergrund auf weißen Notenzeilen »Letzte Bilder vor der Vollnarkose« verschriftbildlicht. Er wird ohne Originalton projiziert. Aus den Lautsprechern des Aufführungsraumes erklingen die »Nebensonnen« aus Franz Schuberts Winterreise (1827  )170. Dazu ertönt, wie dies immer wieder im Verlauf der Aufführung geschieht, die aufgezeichnete und nun über Lautsprecher wiedergegebene Stimme Christoph Schlingensiefs, der Textpassagen aus seinem später veröffentlichten Krankentagebuch einliest und über seine Gefühle und Gedanken vor der ersten Krebsoperation vor der Vollnarkose spricht.171   Das Filmmaterial wird auf die drei Leinwände des Triptychons über der Bühne projiziert, wobei die Sequenzen auf den beiden Seitenleinwänden synchron sind und von dem, was auf der mittleren Leinwand läuft, differieren, aber aus demselben Footage herrühren. Die gezeigten Filmsequenzen sind auf 16-mm-Filmmaterial gedreht, und in der Projektion in der Aufführung zeichnen sich die Performanz des Materials und die filmspezifische Körnigkeit des Bildes deutlich ab. Das Material wurde auf dem Ruhrparkgelände in Duisburg während der Produktion des »Fluxus-Oratoriums« gedreht. Es zeigt in Schwarzweiß und Slow-Motion eine Fluxus-Prozession, die durch das Parkgelände streift. Manchmal werden einzelne Protagonist*innen in einer nahen Einstellung im Porträt gezeigt oder durch kleine Einzelszenen verfolgt, mal sieht man den ganzen Zug von fantastisch ausgestalteten Wesen, die zwischen Menschen, Tieren und Märchenfiguren changieren. Einige tragen weiße Fahnen mit schwarzer »Fluxus«-Aufschrift und aufgemalten Wellen, die die Begriffsbedeutung des Fließens plastisch machen. An den Betonwänden des Kohlewerks ist eine weitere riesige weiße Fahne aufgehängt,

170

171

Winterreise. Ein Cyclus von Liedern von Wilhelm Müller. Für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte komponiert von Franz Schubert. Op.  89. Erste Abtheilung ( Lied I ‒  XII ). Februar 1827. Zweite Abtheilung ( Lied XIII  ‒  XXIV  ). October 1827. Hier in einer Aufnahme aus dem gleichnamigen Film ( 2006, Regie Hans Steinbichler ), gesungen von Josef Bierbichler. Siehe zur Funktion dieses medialisierten Synchronsprechens in der Aufführung weiter Kapitel II, »Die szenografische Praxis des Miteinanderseins«.

95

96

Das Filmmaterial

auf der mit großen schwarzen Lettern »Fluxus« geschrieben steht. Die Kamera folgt einem Mann in weißem Anzug mit großem Vogelkopf, der ins Gebüsch abtaucht und darin verschwindet. Auf ihren Köpfen tragen die Prozessionsteilnehmer *innen große Masken, die zwischen Tierkopf und Monsterhaupt oszillieren und so die Schwelle von Diesseits und Unterwelt, von Menschsein und schon Etwas-andereswerden markieren. Ein menschlicher Körper mit einer Art Bärenkopf, der in einem schwarzen Ganzkörper-Anzug steckt, auf dem mit weißer Farbe ein Skelett und Schriftzüge aufgemalt sind, springt mit der Monstranz in der Hand, deren Fensterbereich mit dem Röntgenbild einer Lunge mit nur noch einem Lungenflügel ausstaffiert ist, in die Höhe. Im Kontext der Inszenierung erscheint es als Röntgenbild von Schlingensiefs kranker Lunge, das in der Film-Prozession als konsekrierte Hostie zur feierlichen Verehrung gezeigt wird, und so zugleich, zum Zeitpunkt der Aufführung, in der Monstranz auf dem Altar steht. Zu erkennen sind im Film wesentlich die Akteur *innen, die in der Aufführung auch auf der Bühne agieren – Kerstin Grassmann, Achim von Paczensky, Norbert Müller, Karin Witt ; es fehlen die Schauspielerinnen Angela Winkler, Margit Carstensen und Mira Partecke. Vier Frauen mit riesigen Bärenköpfen, in weiße, knielange Kleider gewandet, tragen eine Totenbahre, auf der aber keine Person zu erkennen ist, sondern weiße Decken und Kissen gelegt sind, die einen Körperumriss andeuten. Dahinter wird Karin Witt als Päpstin von vier Männern, den Sediario pontificio172, auf einer Sedia gestatoria173 getragen. Später in der Sequenz wird sie von ihnen auf einem Schlauchboot voller Fluxus-Aufschriften durch ein Gewässer gezogen, wobei nicht nur die Fluss- und Fließmetaphorik von Fluxus bildlich wird, sondern diese zugleich in eine Todessymbolik überführt wird. So weckt diese Szene, im Kontext der übrigen Todessymboliken der Inszenierung, Assoziationen zu dem Fluss Lethe, der Ober- und Unterwelt voneinander trennt und den Strom des Vergessens darstellt, welcher die elysischen Gefilde umströmt, auf denen die von den Totenrichtern als Gerechte Gerichteten in der Gestalt von Schatten schmerzlos in ewiger Glückseligkeit fort  leben. Wie eine Sequenz von Traumbildern erscheint diese FluxusProzession vom Leinwandhimmel im Altarraum des Aufführungsraums, auf den die Blicke des Publikums gerichtet sind. Durch die projizierte Überschrift »Letzte Bilder vor der Vollnarkose« wird diese Bedeutung unterstrichen, denn als solche entwerfen sie eine Vision dessen, was man vor dem Tode sehen könnte. Schließlich steht die Vollnarkose dem Tod näher, als der ihm verwandte und doch in seiner

172

173

Mitglieder des päpstlichen Hofes, deren wesentliche Aufgabe darin bestand, die Sedia gestatoria (  Thronsänfte) des Papstes zu tragen. Eigentlich sind dies 12, bei Schlingensief sind es nur 4. lat. wörtl. »Sitz, der zum Tragen dient«. Es handelt sich um eine Trage für den Papst, die heute eigentlich nicht mehr benutzt wird.

I. Im Zeichen der Avantgarden

lebensregenerierenden Form ganz verschiedene Schlaf. Versinkt man in den Schlaf der Vollnarkose, kann es kein Erwachen mehr geben. Umso näher scheint ihr Zustand dem ›letzten Film‹ zu kommen, den man angeblich sieht, bevor man stirbt, und der Schlingensief immer wieder, besonders in seinen späten Arbeiten, beschäftigt hat. So symbolisieren die filmischen Bilder hier ein Nahtodszenario, das einem Zwischenstadium zwischen Leben und Tod gleicht, in dem man als ( noch ) Lebender das Reich der Toten schon erblicken kann, es aber hier, anders als im Tod, im Rahmen der Kunst noch selbst gestalten kann.174  In ihren unwahrscheinlichen Konstellationen wirkt die Prozession zugleich wie ein heterogenes Tableau auf der Schwelle von Leben und Sterben, wie ein buntes, dem Schicksal frotzelndes Gemenge, das hoffnungsvoll und zugleich, aufgrund der aufgerufenen Zeitkonstruktion des »zukünftigen Verstorbenen«, wie ein einmalig trauriges Unterweltenszenario erscheint, was in seiner Wirkung durch die Einspielung der Winterreise und der weinenden Stimme Schlingensiefs noch verstärkt wird. Die Fluxus-Symboliken in dieser filmischen Nahtodvision veranschaulichen die kunstprogrammatischen Vorzeichen der Inszenierung einer derartigen existenziellen Erfahrung. Kunst und Leben fließen hier ebenso ineinander wie Leben und Tod, Film, bildende Kunst und Aufführung, autobiografische Erfahrungen und szenisches Spiel. Darüber hinaus verdeutlicht die hervortretende Referenzierung auf Fluxus in diesem Material die Kunstförmigkeit der Auseinandersetzung mit Leben und Tod, die hier kunstgeschichtlich wie kunstprogrammatisch gekoppelt wird. Die Transformation der existenziellen Erfahrungen des Künstlers in künstlerisches Material wird in dieser Bezugnahme noch einmal spezifisch akzentuiert. Der Rahmen der Kunst ermöglicht durch den reflexiven Einsatz der jeweiligen medialen, materialen, semiotischen und ästhetischen Spezifika der aufgerufenen künstlerischen Praktiken die Schichtung unterschiedlicher Zeiten und Welten, von Leben und Nachleben, Sterben und Tod-Sein, von asynchroner Synchronizität. Verstärkt wird diese Montage historischer künstlerischer Praktiken und der szenischen, bildnerischen und filmischen Auseinandersetzung mit Leben, Sterben und Tod durch die Einbettung der hier beschriebenen Filmsequenz in weitere Sequenzen desselben Materials, die in expliziter Weise ikonisch gewordene Arbeiten und Künstler *innen der Performancekunst der 1960er und 70er spielerisch zitieren. So erscheint vor der Fluxus-Prozession, in der Projektion auf der mittleren Leinwand über der Bühne, ein Mann, der in einen Karton hereingreift, welcher Karin Witt vor die Brust geschnallt ist und nach vorne durch einen kleinen Vorhang geschlos-

174

Siehe hierzu weiter in diesem Kapitel »Im Angesicht des Todes« sowie Kapitel III.

97

98

Das Filmmaterial

sen wird. Er langt, mit anderen Worten, in ihr Tapp- und Tastkino 175 hinein und lacht dabei vor Scham in die Kamera. Das Filmmaterial wird stumm projiziert. Es trägt dabei den gleichen Look und ist mit den gleichen stilistischen Mitteln, in der gleichen Topografie produziert, wie die Prozession, sodass sie in direkter Verwandtschaft erscheinen, ohne dass sich der thematische Zusammenhang zwischen ihnen unmittelbar erschließen würde. An späterer Stelle der Projektion marschieren Kerstin Grassmann und Karin Witt im Gleichschritt und Slow-Motion über das Ruhrparkgelände und haben nun beide ein Tapp- und Tastkino vorgeschnallt, das Valie Exports gleichnamige Prothese und Aktion von 1968176 zitiert, mit der sie eine feministische Kritik am männlichen Blick und seiner Herrschaftsposition gegenüber der Rolle der Frau und der Funktion(alisierung  ) des weiblichen Körpers im kinematografischen Dispositiv und darüber hinaus in der Bild- und Kunstproduktion generell übte.177 Der Schluss der Fluxus-Prozession erscheint nur noch auf der mittleren Leinwand des Triptychons über der Bühne und wird dabei durch ein zweifaches Ganzkörperporträt der kleinwüchsigen Karin Witt gerahmt, das auf die beiden seitlichen Leinwände im Slow-Motion-Bewegtbild projiziert wird. Witt ist frontal zur Kamera gerichtet, und es hat den Anschein, als blicke sie durch sie hindurch das Publikum direkt an. Dabei trägt sie ein weiteres Valie Export-Signum, nämlich einen ledernen Ganzkörperanzug, der hier allerdings im Bauchbereich ausgeschnitten ist und den Blick auf das zusammengezogene schrumpelige Bauchfleisch freigibt. Mit dieser Differenz versehen, zitiert ihr Porträt Valie Exports Aktionshose: Genitalpanik (1969 )178. An einer Stelle fasst sie sich auffordernd ins Fleisch, so als wolle sie das Publikum auffordern, mit dem Blick nicht auszuweichen, sich nicht schamvoll zurückzuziehen, sondern sich der Pointe dieses Porträts buchstäblich

175

176

177

178

Für weiterführende Informationen zu der Aktion siehe : http://www.valieexport.at/en/ werke/werke/?tx_ttnews[tt_news]=1956&tx_ttnews[backPid]=13&cHash=8278689e8b , [19. 12. 2018 ]. Für weiterführende Informationen zu der Aktion siehe: http://www.valieexport.at/en/ werke/werke/?tx_ttnews[tt_news]=1956&tx_ttnews[backPid]=13&cHash=8278689e8b , [19. 12. 2018 ]. Das Tapp- und Tastkino verlängert haptisch, was die patriarchale Filmproduktion imaginär triggert, aber real physisch getrennt lässt. Damit aber kann sie viel machthaltiger das männliche Begehren bespielen und die Frau primär als Lustobjekt erscheinen lassen. Indem Export mit ihrer Tapp- und Tastkino-Prothese diese Konstellation plastisch werden lässt, macht sie sie kritisierbar und demonstriert ihre Absurdität und Unannehmbarkeit im Kontext feministischer Emanzipation. Aktionshose: Genitalpanik. Siehe : http://www.valieexport.at/de/werke/werke/?tx_ttnews [tt_news]=1963&tx_ttnews[backPid]=4&cHash=e0c3046292 , [19. 12. 2018].

I. Im Zeichen der Avantgarden

zu stellen. Liegt bei Export die Provokation und Kritik, die von der Aktionshose ausgeübt wurde, in dem Exponieren des weiblichen Genitals, das durch den entsprechenden Ausschnitt einer Jeanshose im Genital- und Gesäßbereich den Blicken gegenüber freigelegt wurde,179 wird der Ausschnitt und Akzent nun auf ein körperliches Merkmal gelegt, das als Abweichung der körperlichen Norm in der öffentlichen Bildproduktion, in der Sphäre des öffentlich Sichtbaren unter- bzw. nichtrepräsentiert ist. Im Kontext der gesamten Inszenierung und ihrem Leitmotiv des Wunde-Zeigens kann diese Differenz in der Aktionshosen-Referenz auch als eine Spielform des Wunde-Zeigens gewertet werden, in dem der demonstrative Umgang mit dem sozialen ›Stigma‹ zum Angelpunkt der Emanzipation wird. Eine weitere filmische Fluxus-Referenz wird an anderer Stelle, noch ziemlich am Anfang der Aufführung, auf das Leinwandtriptychon über der Bühne projiziert. Ihre zentralen visuellen Parameter ähneln stark den zuvor beschriebenen Filmsequenzen. Hier nun re-enacten Kerstin Grassmann und Achim von Paczensky die Aktion Concerto for TV and Videotapes (1971) von Nam June Paik. Bereits im Titel der Aktion drückt sich eine Bezugnahme von Fluxus auf neue Medien entlang einer musikalischen Form aus. In dem Film ›spielt‹ Grassmann als die Cellistin Charlotte Moorman im rechten Vordergrund der Bilder auf einem Cello, das aus übereinander gestapelten alten Röhrenfernsehern besteht, während von Paczensky im linken Hintergrund leicht seitlich zu ihr steht und das Schild, auf dem »Paik« steht, um den Hals trägt. Hinter ihnen zeichnen sich die Umrisse der Industriebrache ab, auf dem Boden stehen weitere Fernseher, die von Regenschirmen geschützt werden und so eine objektförmige Pilzskulptur kreieren. Zu einer futuristischelektronischen Soundfläche erklingt ein Voice-Over im Duktus der Fernsehdokumentation der 1960er und 70er Jahre: »›Ein Abklatsch unserer Konsumwelt, ein Kommentar zum Zustand der Gesellschaft, eine absichtliche Rückkehr zu den Gartenzwergen‹ – das ist die Meinung der Kritik zu einer Kunstrichtung, von der noch nicht entschieden ist, ob sie überhaupt mit Kunst zu tun oder eine Richtung hat. Kunst als Raum, Raum als Umgebung, Umgebung als Ereignis, Ereignis als Bild, Bild als Leben, Leben als Kunst.«180 Nach einer Schwarzblende erscheinen wieder Grassmann und von Paczensky von unten gefilmt mit dem Fernseher-Cello. Nach einer weiteren Schwarzblende wechselt die Sequenz und führt in Witts und Grassmanns Tapp- und Tastkino. Die Montage der Reportage zu Paiks Aktion im strengen, ernsthaften Ton klingt nicht nur wie ein akustisches Zeugnis vergangener Tage, sondern wirkt zugleich in ihrer Diskrepanz wie in ihrer Trefflichkeit

179

180

Damit setzte sie ein wirkungsvolles Zeichen zur Rolle der Frau in der Kunst und zur Forderung der Selbstbestimmung und Selbstdarstellung des weiblichen Körpers, der nicht mehr länger durch Männer und für Männer gestaltet sein sollte. Transkription der Aufführungsaufzeichnung.

99

100

Das Filmmaterial

gegenüber dem Schlingensief ’schen Reenactment, auf das sie hier bezogen wird, absurd. Mit der Einspielung dieses kritisch-verachtenden wie poetisch bewundernden Kommentars distanziert sich Schlingensief zunächst von dem von ihm filmisch reinszenierten Vorbild, um in dieser Distanz wiederum Nähe zu suchen. Die Differenzen in seiner Inszenierung wirken überdeutlich, nicht zuletzt durch die Besetzung von Grassmann als Moorman und von Paczensky als Paik, die dieser ungehörigen szenischen Behauptung den Ausdruck stoischer Selbstverständlichkeit verleihen. So vermag Schlingensief in dieser künstlerischen Referenzierung auf Paik die »lakonische, minimalistische«181 Geste von dessen Arbeit, den ernsten Gestus der Avantgarde mit seiner Selbstironie zu unterbrechen und humorvoll zu kommentieren. Er verortet seine eigene künstlerische Praxis damit in der Tradition von Fluxus und Paik als Vertreter einer historisch signifikanten neoavantgardistischen intermedialen und transgressiven Praxis, zur der Schlingensiefs Umgang mit unterschiedlichsten medialen Verfahren, die er intensiv und komplex miteinander verwebt, durchaus Bezüge aufweist. Durch die Kommentierung, die nun zugleich auf Paiks wie auf seine eigene Arbeit beziehbar wird, öffnet er zudem dem Raum für die ironische Beobachtung seiner eigenen künstlerischen Praxis, deren Kunststatus hier immer wieder neu zur Disposition steht und von der, wie es das Voice Over spricht, »noch nicht entschieden ist, ob sie überhaupt mit Kunst zu tun oder eine Richtung hat«. Hierin drückt sich schließlich auch ein grundsätzliches Bekenntnis zu einer riskanten, experimentellen künstlerischen Praxis mit offenem Ausgang aus, die stets ein bestimmtes Maß an Dilettantismus impliziert. Zugleich markiert Schlingensief deutlich die Differenz und Kluft zwischen diesen unterschiedlichen künstlerischen Praktiken, zwischen derjenigen Paiks und seiner eigenen, die sich zu verschiedenen kultur- und kunstgeschichtlichen Zeitpunkten ereignen, und lässt damit schließlich die Frage nach der Geschichte in der Gegenwart oder genauer : der Kunstgeschichte in der Gegenwartskunst virulent werden.182 Neben Fluxus werden in den wiederkehrend im Verlauf der Aufführung projizierten Filmen über und vor der Bühne in besonderem Maße Aktionen und Personen der Wiener Aktionisten aufgerufen und imitiert. Die filmischen FluxusReferenzen umkreisen, wie erörtert, Fluxus als einen kunstgeschichtlichen Fixpunkt, der im Geist der Avantgarden die Freisetzung neuer experimenteller und grenzüberschreitender Kunstpraktiken und Gattungen auch vor dem Hintergrund neuer Technologien markiert. Zu dieser Bewegung bringt sich Schlingensiefs Kunst in Beziehung und schreibt die darin implizierten ethischen Unterströme neuer Beziehungsförmigkeiten von Kunst und Leben im Hinblick auf die eigene Programmatik fort. Die Referenzierung auf die Wiener Aktionisten hebt nun hin-

181 182

Warstat, Krise und Heilung, a.  a. O., S.  165. Siehe zu dieser Frage weiter »Zitieren als künstlerische Praxis« in diesem Kapitel.

I. Im Zeichen der Avantgarden

gegen noch stärker auf die Schnittstelle historisch neuer künstlerischer Formen und Interrelationen in der Bewegung und Öffnung der Kunst auf Leben und Sterben ab. Dabei visiert die Inszenierung besonders die Symboliken des Leidens und Schmerzes an, die in den künstlerischen Praktiken der Aktionisten verhandelt werden. An zwei unterschiedlichen Stellen der Aufführung wird solch ein Film erneut in Schwarzweiß und Zeitlupe auf das Triptychon über der Bühne projiziert, der explizit die Zerreißprobe des zu den Wiener Aktionisten zählenden Künstlers Günter Brus zitiert. Zum ersten Mal erscheint der Film etwa in der Mitte und das zweite Mal gegen Ende der Aufführung. Beim ersten Mal wird er zunächst unten auf die Bühne, über die Schauspieler, Kulissen und Requisiten, projiziert und manifestiert sich als fragmentiertes Bild dort, wo sich einzelne Flächen als Bildträger in die Vektoren der Projektion stellen, was durch die in Bewegung versetzte Drehbühne immer nur vorübergehend geschieht. Zunächst wird der Aktionisten-Film auf die Kulisse und Akteur *innen auf der Bühne projiziert, bis er wenige Augenblicke später auch auf dem Triptychon über der Bühne erscheint. Während sich in der Projektion unten auf der rechten Bühnenseite erst nur ein Mann erkennen lässt, der in Anglerweste und Stetson-Hut als Joseph Beuys verkleidet ist und auf einem Stuhl in einer Ateliersituation sitzt, erscheint links neben der leibhaftigen Gestalt der Schauspielerin Angela Winkler die Projektion eines in lange weiße Unterwäsche gekleideten Mannes mit John-Lennon-Perücke und einer ihn kennzeichnenden kleinen, runden Sonnenbrille auf den Augen.183   Parallel zu seinem Auftritt auf der Bühne erscheint er in der projizierten Ateliersituation, die nun auch auf dem Triptychon über der Bühne sichtbar ist. Hier wie dort steht er vor einer erleuchteten Röntgentafel, die unterschiedliche Ausschnitte des Lungenbereichs zeigt. Die John-Lennon-Figur184 ebenso wie die Beuys-Figur sind in diesem filmischen Setting allerdings nur Statisten, werden selbst zu Figurationen im Bildzusammenhang. Die Lennon-Figur steht am linken Bildrand, die Beuys-Figur sitzt daneben, wobei sie beide ihre Blicke auf einen nackten Mann im Bildzentrum zu richten scheinen, dessen Genital mit einem weißen Verband verbunden ist, dessen Enden wiederum am Boden festgebunden sind. Er versucht sich so auf allen Vieren durch den Raum zu bewegen. Auf dem Boden stehen Schalen und Farbeimer ; ein Tisch, der vor der Beuys-Figur aufgebaut ist, dient ihm zunächst noch als Stütze. Mit deutlichen Differenzen – allein schon durch die behauptete Anwesenheit von Lennon und

183

184

An anderer Stelle des projizierten Filmmaterials, das auf dem Ruhrparkgelände aufgenommen wurde, liegt diese John-Lennon-Figur zusammen Kerstin Grassmann als Yoko Ono im Bett, und die beiden reenacten Bed-in for Peace (1969 ). Figur hier nicht im Sinne eines dramatischen Charakters, sondern bildlich gefasst im Sinne von figura ( lat.) Gestalt, Gebilde, Erscheinung.

101

102

Das Filmmaterial

Beuys – versehen, zitiert diese Filmsequenz die Aktion Zerreißprobe von Günter Brus, die am 19. Juni 1970 in dem Münchner Aktionsraum I, »einem Zentrum für interdisziplinäre, innovative Kunstformen«185, stattfand. Diese Aktion bildete den Abschluss einer Serie von Aktionen Brus’, in denen der Künstler selbstverletzende Handlungen durchführte und mit Farbe, Blut und Exkrementen experimentierte.186 Zwei unterschiedliche Dimensionen erscheinen für die Referenzierung auf Brus im Kontext des »Fluxus-Oratoriums« wesentlich. Zum einen handelt es sich um einen formalen kunstgeschichtlichen und kunstprogrammatischen Aspekt, und zum anderen um die ikonischen und christlich-religiösen Bezüge, die für die künstlerische Inszenierung des Leidens, des Schmerzes, der Verwundung und der Opferung relevant sind. Brus’ Aktionen gelten als maßgeblich für jene Entwicklung, in der die bildenden Künstler *innen sich von der zweidimensionalen Leinwand abwenden und die bildgebenden Verfahren und visuellen ( Symbol-) Praktiken auf den gesamten Raum sowie vor allem auch auf den Körper ausweiten. Wenn Schlingensiefs plastische Zusammenführung von Lennon, Fluxus und Brus sich zunächst auch als ironische Geste liest, so ist zumindest die Zusammenführung von Fluxus, Beuys und den Wiener Aktionisten, hier speziell Günter Brus, aus kunsthistorischer Perspektive plausibel. So schreibt Rosemarie Brucher über die Rolle von Brus in der Geschichte der Ausweitung der bildenden Kunst seit den 1960er Jahren: »Indem dieser [ Brus, S.  R .] von Beginn seines Schaffens an seinen Körper als Kunstmedium in das Zentrum seiner Aktionen stellt und somit den Fokus der Aufmerksamkeit auf die Künstlerperson zurückrichtet, zugleich jedoch, im Gegensatz etwa zum Happening-Konzept Allan Kaprows, jegliche Partizipation des Publikums völlig ausschließt, nimmt er Aspekte der sich in den späten 1960er Jahren aus der Happening- und Fluxusbewegung entwickelnden Body Art vorweg und kann somit zu Recht als Vorläufer körperbezogener Kunst gelten.«187 Brucher zitiert außerdem Peter Weibel, der die herausgehobene Rolle Günter Brus’ für die Entwicklung der ( bildenden) Kunst seit den 1960er Jahren noch einmal verstärkt. Laut ihm ist Brus »der eigentliche Begründer der Body Art, weil er bei seinen Selbstbemalungen schon als erster den eigenen Körper direkt ins Zentrum der Aktion gestellt hat. Wenn es also einer Inkunabel für den Paradigmenwechsel in den sechziger Jahren von der Malerei zur Aktion, vom Tafelbild zum Körper, von der Illusion zur Wirklichkeit bedarf, dann ist es die Selbstbemalung von Günter Brus.«188

185 186

187 188

Brucher, Durch seine Wunden sind wir geheilt, a.  a. O., S.  43. Zur einer ausführlichen Beschreibung und Analyse dieser Aktion sowie die Einbettung in Brus’ Gesamtwerk siehe ebenda. Ebenda, S.  13, Herv.  i.  O. Weibel, Peter, »Zur Aktionskunst von Günter Brus«, in: Museum moderner Kunst Wien,

I. Im Zeichen der Avantgarden

Im Kontext von Schlingensiefs Arbeit und der vehementen Referenzierung auf dessen Aktion(en) im Spätwerk wird Brus als wichtiger Vorgänger einer künstlerischen Auseinandersetzung mit Topoi des Schmerzes und des Leidens bedeutsam, die am eigenen Körper vollzogen wird und dabei ihre christliche Tradition ebenso bespielt wie zersetzt. Darüber hinaus wirkt die Referenz auf Brus’ künstlerische Praxis als kunsthistorische Bezugsgröße auch deshalb so sinnfällig in und für Schlingensiefs Arbeit und das Spätwerk im Besonderen, weil sie mit und am Körper, in der Auseinandersetzung mit Schmerz und Tod, die Praxis der Kunst selbst erweiterte. In ihrer Brus-Studie untersucht Brucher ausführlich die religiösen Bezüge der Zerreißprobe, in der sich der Künstler als Opfer und Erlöser inszeniert. Die selbst zugefügten Wunden fungierten dabei als Index seines Leiden und seiner körperlichen Versehrung, welche eine Opferrolle untermalten.189 In dem filmischen Reenactment der Motivik dieser Aktion in Schlingensiefs »Fluxus-Oratorium« werden diese Bezüge im Kontext der Inszenierung von Neuem bedeutsam. Daran ist, aus medientheoretischer Perspektive betrachtet, zudem markant, dass sich die filmische Ausrichtung und Darstellung der Aktion doppelt, insofern Brus’ Aktionen selbst bereits für die filmische und fotografische Darstellung und Dokumentation ( als konstitutiver Teil der Arbeiten selbst ) ausgerichtet sind. So erläutert Brucher : »Zum einen entwickelt Brus eine Dramaturgie beziehungsweise Choreographie des Handlungsablaufs seiner frühen Aktionen, welche ausschließlich zur fotografischen und filmischen Dokumentation durchgeführt werden, indem er seinen Körper in gezielt gesetzten Posen, quasi als lebendes Bild, vor einem weißen Hintergrund ablichten lässt bzw. in festgelegten Handlungsschemata das Geschehen für die Kamera in den Raum verlagert.«190 Auf diese Weise entstünden hier »stilllebenartige Kompositionen beziehungsweise pantomimische Filmsequenzen, in denen der menschliche Körper durch den Einsatz von Farbe und Requisiten gleichsam verfremdet wird.«191 Schlingensief ruft in seinem filmischen Reenactment diese unterschiedlichen Bedeutungs- und Symbolebenen der Brus’schen Aktion in einem anderen zeitund kunstgeschichtlichem sowie inszenatorischem Kontext auf und verändert

189 190 191

Amanshauser, Hildegund / Ronte, Dieter ( Hg.), Günter Brus. Der Überblick, Salzburg: Residenz, 1986, S.  33  ‒ 49, S.  39. Brucher, Durch seine Wunden sind wir geheilt, a.  a. O., S.  51‒ 99. Ebenda, S. 15. Ebenda. Diese Verfremdung, welche den Körper »meist in das Feld von Verletzung, Folter und Tod rückt,« sei, so Brucher weiter, »im Sinne Brechts zu verstehen: Der verfremdete Körper in den Brus’schen Aktionen soll die gewohnten Sehmuster der Rezipienten durchbrechen und somit einen kritischen, von den Machtinstanzen unverfälschten Blick auf die repressive österreichische Gesellschaft der 1960er Jahre gewährleisten.« Ebenda.

103

104

Das Filmmaterial

ihre Implikationen entsprechend ihrer Aktualisierung. Die Differenzen werden zudem unterstrichen, indem die Zeichen und Symbole unterschiedlicher Aktionen Brus’ sowie auch anderer Protagonisten des Wiener Aktionismus verquickt werden. Zwar lässt sich als Referenz die konkrete Aktion Zerreißprobe, die sich am 19. Juni 1970 in München ereignete, anlegen, allerdings ist diese Zuordnung für ihr ästhetisches Erscheinen in der Aufführung sekundär. Die Art und Weise der ReInszenierung der Aktion im Fluxus-Oratorium verunmöglicht streng genommen durch die von ihr eingezogenen und markierten Differenzen die bloße Beschränkung der Referenz auf lediglich eine bestimmte Arbeit. Außerdem ist die Zerreißprobe, wie bereits oben angesprochen, Teil einer Serie von Arbeiten, die sich alle durch ähnliche Merkmale, Praktiken und Symbole auszeichnen. Sie vermischen sich in der flüchtigen ( kollektiven ) Erinnerung, aus der Schlingensief hier viel eher als aus einer kunsthistorisch exakten Rekonstruktion zu schöpfen scheint, rasch zu einem Konglomerat aus unterschiedlichen Arbeiten. So ist zum Beispiel die Körperbandagierung, die in Schlingensiefs Referenz als ikonisches Zeichen von Brus’ Aktion  /en aufgegriffen und re-inszeniert wird, ein Medium, mit dem Brus bereits seit seinen ersten Aktionen, wie Ana von 1964, gearbeitet hat.192  Schlingensief ruft das Motiv der Brus’schen Körperbandagierung im Kontext seiner Auseinandersetzung mit dem Sterben auch als künstlerische Symbolpraxis auf, die um den Stoff des Todes, des Leidens, des Schmerzes sowie die Frage nach dem Verhältnis von Einzelnem und Gemeinschaft in diesem existenziellen Kontext kreist. Denn das Weiß der Bandagen in Brus’ Aktionen fungiert als »Leerstelle, als Tabula rasa, als Erweiterung der Leinwand in den Raum.«193 Die Bandagierungen, mit denen Brus sich »mumienartig umwickelt«, assoziierten »Krankheit, Aussatz, Verrottung, aber auch Anonymität und Entindividualisierung«194, so Brucher. Brucher zitiert in diesem Zusammenhang auch Franziska Meifert, nach der das sterile Weiß die Farbe der Toten sei und die Weißbemalungen Brus’ für die »Auflösung des Menschen als Ich und Du, als Innen- und Außenwelt« stünden, für einen »Auflösungsvorgang, der dem physischen und psychischem Tod des Individuums gleichkommt«195. Das Bandagieren, das Schlingensief in seiner Version der Zerreißprobe aktualisiert, nehme in Brus’ Frühwerk sein spätes ( Weiß-)Bemalen des Körpers vorweg und stelle einen »aggressive[n] Akt gegen den eigenen Körper bzw. die eigene Person« dar, die Selbstbemalung komme einer Auslöschung, einer »unendlich ausgekostete[n]

192 193 194 195

Brucher, ebenda, S. 16  ff. Ebenda. S. 16. Ebenda, S. 18. Meifert, Franziska, »Zweimal Geborene. Der Wiener Aktionismus im Spiegel von Mythen, Riten und Geschichten«, in: protokolle. Zeitschrift für Literatur und Kunst (1), 1990, S.  32. Zitiert nach Brucher, ebenda, S. 18.

I. Im Zeichen der Avantgarden

Selbstentleibung «196 gleich – auch »im Sinne einer Verfremdung des Körpers in Richtung einer ins Abstrakte, ins Stilisierte gehenden Deformation.«197  Wie auch in Schlingensiefs Film und für seine Re-Inszenierung dieses Motivs wesentlich, wird in Brus’ Aktionen »der Eindruck der Verletztheit und des Schmerzes […] durch die scheinbar mühevoll kriechende Bewegung durch den Raum zusätzlich verstärkt.«198 Vor diesem Hintergrund erscheint am Ende der Aufführung des »FluxusOratoriums« jene Filmsequenz noch einmal auf dem Triptychon über der Bühne. Nachdem die Fluxus-Messe für den »zukünftig Verstorbenen« abgehalten ist, Schlingensief selbst noch einmal aufgetreten ist und die Prozession durch den Mittelgang die Kirche verlässt, eröffnet diese Brus-Reminiszenz das audiovisuelle Finale der Aufführung. Während noch die Miniatur-Fluxus-Särge aus dem Raum getragen werden und Angela Winkler zu einer Art Vampir mutiert, die sich selbst mit der Taschenlampe im Gesicht verstrahlt, erscheinen noch einmal zu trauriger Musik die Bilder aus dem Brus’schen Atelier. Der Kriechende hat nun auch den Kopf verbunden wie eine Mumie und schreit zugleich wie ein von den Toten Erwachter im Close-Up um Erlösung von seinen Schmerzen flehentlich in die Kamera. Aber wir, das Publikum, können seinen Schrei nicht hören, weil der Film ohne Ton projiziert wird und der Schrei ein stummer Schrei, ein gesehener und nicht gehörter Schrei, in einem Stummfilm bleiben muss. Hierauf folgt eine filmspezifische Selbsttötung des jungen Christoph Schlingensief, indem noch einmal die Super 8-Aufnahmen aus der Kindheit auf die Leinwände zurückkehren, bis zu jener Stelle, an der Schlingensief mit einem Spielzeuggewehr zielt und nach einem Schnitt, im filmischen Gegenschuss, von der imaginären Kugel des eigens abgefeuerten Schusses getroffen an einer Wand herabsinkt. Dazu schlagen und zählen unzählige Metronome, bis das letzte Schwarz kommt und die Aufführung zu Ende ist. Auf diese Weise montiert Schlingensief seine frühen medienspezifischen Sterbeszenarien mit denen der Wiener Aktionisten, die nicht nur die Grenzen der Kunst und der Künste verschieben, sondern sie auch, wie im Falle von Brus, existenzialisieren.

196

197 198

Brus, Günter, »Malerei, Selbstbemalung, Selbstverstümmelung«, Sonderausgabe der Zeitschrift Le Marais zur gleichnamigen Ausstellung in der Galerie Junge Generation, (2 ) 1965. Zitiert nach Brucher, ebenda, S. 18. Brucher, ebenda. Ebenda.

105

106

Der Hase als nomadischer Signifikant

Vom Christentum zu Wagner, von Beuys zu Schlingensief : Der Hase als nomadischer Signifikant zwischen Montage und Recycling Ein Schlingensiefs »Fluxus-Oratorium« prägendes Objekt und Symbol ist zudem der Hase. Ähnlich wie Fluxus oder Beuys zirkuliert er auf unterschiedliche Weise, in verschiedenen Formen und Kontexten durch die Aufführung und scheint hierbei eine für die gesamte Arbeit programmatische Funktion zu erfüllen. Dabei entfaltet sich entlang des Hasen ein multiples referenzielles Spiel, das wiederum die Brücke zu dem Werk Joseph Beuys’ schlägt , in dem der Hase eine wesentliche Rolle an der Schnittstelle zwischen Kunst und Leben einnimmt. Im »Fluxus-Oratorium« wird der Hase durch collagierende und montierende Verfahren an unterschiedlichen Stellen in wechselnden Erscheinungsweisen eingelassen. So konturieren sich an ihm exemplarisch ästhetische Strategien, die im Zeichen der Avantgarden und Neoavantgarden stehen und für die Reflexion der Spezifik von Kunst sowie für die Öffnung der Kunst in ihre Umwelt maßgeblich sind. Der Hase als nomadischer Signifikant zieht in dieser referenzierenden Funktion nicht nur durch diverse Arbeiten Schlingensiefs und verweist darin nicht allein auf das Werk Beuys’, sondern spannt wiederum auch den Bogen zu Richard Wagner und seinem Versuch, Kunst und Leben ineinander zu verschlingen. So werden die religiösen Muster, Konnotationen und Assoziationen, die in der Symbolik des Hasen mitschwingen, in einer polyvalenten Spannung fortgeführt. Ein künstlicher Hase thront auf dem Altar, während auf dem Leinwand-Triptychon über der Bühne in Schwarzweiß der verwesende Kadaver eines Hasen, der im Zeitraffer von Maden zerfressen wird, erscheint, begleitet von der Erlösungsmusik aus Wagners Parsifal. Gegen Ende der Projektion dieses kurzen Films ersteht eine animierte, nackte Frau aus dem verwesenden Hasenleib auf und unterstreicht so die christliche Konnotation des Hasen als Ostersymbol, das für den ewigen Kreislauf des Lebens aus Werden, Vergehen, ( Wieder-)Auferstehen steht. Sie doppelt dabei dessen Fruchtbarkeitssymbolik ebenso wie die Konnotation der jungfräulichen Empfängnis.199 In der christlichen Mythologie steht der Hase als Symbol der Fruchtbarkeit, des Lebens und der Wiedergeburt.200 Als solcher ist er auch ein Signum des Osterfestes, des höchsten christlichen Festes, in dem sich die christliche Auffassung des

199

200

Siehe hierzu Dittrich, Sigrid und Lothar, »Hase und Kaninchen«, in : Dies., Lexikon der Tiersymbole, Tiere als Sinnbilder der Malerei des 14.-17. Jahrhunderts, Petersberg : Michael Imhof Verlag, 2004, S. 194  ‒206. Sowie Kemp, Wolfgang, »Hase«, in : Kirschbaum, Engelbert ( Hg.), Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 2, Freiburg i. Breisgau / Basel u.  a.: Herder, 1970, S.  221‒225. Vgl. ebenda.

I. Im Zeichen der Avantgarden

(eigentlich nicht dichotomischen, sondern eher zirkulär triadischen ) Verhältnisses von Leben und Tod ausdrückt. Wie Ostern für die Auferstehung und das Leben nach dem Tod im Christentum steht, so fungiert der Hase als Symbol, das dieses zirkuläre Existenzverhältnis fasst. An dem Symbol des Hasen verdeutlicht sich, wie Schlingensief es beherrscht, ein vielfach verzweigtes Netz aus Referenzen der Kunstgeschichte zu weben, indem er die christlichen und kunstreligiösen Konnotationen darin integriert, ohne sie in eine Richtung hin aufzulösen und die Vieldimensionalität der Bezüge in eine produktive ästhetische Reibung versetzt. Bereits in seiner Bayreuther Parsifal-Inszenierung verwendet Schlingensief diese Filmsequenz des verwesenden Hasen, die den Stoff des »Bühnenweihfestspiels« Parsifal und seinem Kreisen um Motive des Leidens, der Wunde, des Schmerzes, der Opferung und der Erlösung eine symbolische Verdichtung im Bewegtbild verleiht und dabei deren christliche Konnotationen mit ins Bild setzt. Überhaupt spielt der Hase in Schlingensiefs Parsifal-Inszenierung als Symbol der christlichen Lehre vom Kreislauf des Lebens, vom Zusammenhang zwischen Leben und Sterben, Werden und Vergehen, Geburt und Tod bereits eine wesentliche Rolle. So schreibt Kaspar Mühlemann in seiner Studie zu den Bezügen zwischen Beuys und Schlingensief : »In außergewöhnlich hoher Dichte verwendete Schlingensief das Hasenmotiv in seiner ›Parsifal‹ -Inszenierung, die 2004 in Bayreuth uraufgeführt wurde. Der Hase tauchte das ganze Stück hindurch immer wieder auf, etwa als Abbildung auf Bühnenelementen, in Filmprojektionen, als Stoffpuppe oder sogar als lebendige Hasenfigur.« 201 Dabei, so Mühlemann weiter »nahm das Tier verschiedene Funktionen ein, deren Bandbreite von der Symbolisierung des Friedens ( als goldener Hase ) über die Darstellung von Klingsors Impotenz ( als ›toter‹ Stoffhase in Klingsors Schloss) bis hin zur Interpretation des Grals ( als Projektion eines verwesenden Hasen ) reichte.« 202   Die auferstehende Frau hingegen wurde für Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir nachträglich eingearbeitet ; sie setzt damit ein hoffnungsvolles, aber auch leicht ironisches Schlusszeichen, akzentuiert das Moment der Auferstehung im Kreislauf des ewigen Lebens und untermalt die Symbolkraft des Hasen als Motiv der Fruchtbarkeit.

201

202

Mühlemann, Christoph Schlingensief und seine Auseinandersetzung mit Joseph Beuys, a.  a. O., S.  51. Ebenda. Mühlemann erläutert weiter, dass der Gral in Wagners Parsifal das Gefäß ist, aus dem Christus beim letzten Abendmahl getrunken hat, womit er zugleich auf den Tod wie die Auferstehung verweise. Entsprechend sei der verwesende Hase bei Schlingensief ein »Symbol für Christus«, der in Analogie zur Kreuzigung »einer Verwesung ausgesetzt [ist], die ebenfalls auf die Überwindung des Todes bzw. der Erlösung vorausdeutet.« Ebenda.

107

108

Der Hase als nomadischer Signifikant

Gegen Ende der Aufführung, als die Fluxus-Messe zum Schluss kommt, liest die Schauspielerin Mira Partecke aus dem »5. Evangelium von Joseph Beuys« und schließt mit den Worten »Sehet den Hasen, denn er erklärt euch den Glauben«, während sie ein Buch über die Olympischen Spiele 1968 als heilige Schrift in die Höhe hebt, auf das handschriftlich und in blauer Farbe »Der Hase« geschrieben wurde.203 Über ihr erscheint dazu auf dem Leinwand-Triptychon erneut ein Schwarzweiß-Film. Er zeigt eine hölzerne Ateliersituation, die wenig in die Tiefe organisiert ist, sondern stärker die rissigen Vordergrundflächen der aktionistischen Szenerie akzentuiert. Das Joseph-Beuys-Double, das bereits in dem ZerreißprobeReenactment aufgetreten ist, steht stumm und stoisch-ruhig neben Schlingensief, der eine Perücke trägt und einen Pelzmantel anhat. Auch Schlingensief selbst tritt in dieser Gestalt als Beuys-Zitat auf, denn sein Mantel referenziert in diesem inszenatorischen Kontext Beuys’ Erscheinung in Aktionen wie Titus / Iphigenie (1969 ) 204 oder Transsibirische Eisenbahn (1970 )205, in denen Beuys einen solchen Mantel trug. Der in weiße Unterwäsche gekleidete ›John Lennon‹ assistiert Schlingensief bei der Aktion. Die drei bespielen eine Ecke, die durch zwei im Neunzig-GradWinkel zueinander aufgestellte Holzscheite begrenzt ist und sich als jene Fettecke erweist, die zum Zeitpunkt der Aufführung in dem konkreten Aufführungsraum als Beuys-Skulptur rechts neben der Bühne errichtet ist. Im Film scheint die Fettecke einzig von jener Glühbirne beleuchtet zu sein, der die Kamera abwechselnd näher kommt, um wieder zurückzuweichen. Hierdurch entsteht ein Flackereffekt, der die Schwarzweiße Filmszene überstrahlen lässt, um sie im nächsten Augenblick ins Dunkel zu tauchen. Zugleich schmilzt Schlingensief mit der Glühbirne das Fett und salbt einen ( künstlichen) toten Hasen mit einer hellen Flüssigkeit ein, die zwischen Milch, Fett und Honig oszilliert, fettet ihn schließlich in die Fettecke hinein und lässt so die eingefetteten Überreste des Hasen zu einer sakral-morbiden

203

204

205

Hierbei handelt es sich um Harry Valériens Olympia ’68 : Die Jugend der Welt in Grenoble und Mexiko-City, München: Süd-West Verlag, 1968. Die Geste lässt sich auch als eine übermalende Erinnerung an die Black-Panther-Geste der beiden Athleten Tommie Smith und John Carlos deuten, die die kämpferische Faust im schwarzen Handschuh bei der Siegerehrung gezeigt hatten und daraufhin von den olympischen Spielen in Mexiko ausgeschlossen wurden. Siehe weiter zu dieser Aktion vom 29. Mai 1969 Schneede, Uwe M., Joseph Beuys. Die Aktionen, Kommentiertes Werkverzeichnis mit fotografischen Dokumentationen, Stuttgart: Gerd Hatja, 1994, S.  240  ‒ 259. Die Aktion ereignete sich im Februar 1970 in Humlebæk bei Kopenhagen für einen von Ole John gedrehten Film anlässlich einer Ausstellung im Lousiania Museum mit dem Titel Tabernakel vom 24. Januar bis zum 22. Februar 1970. Für weiterführende Informationen zu diesen Aktionen siehe: Schneede, Joseph Beuys. Die Aktionen, a.  a. O., S.  260 ‒265.

I. Im Zeichen der Avantgarden

Hasen-Plastik werden, die als solche parallel im Aufführungsraum installiert ist. Mit diesem schamanisch anmutenden Akt im Film ruft er verschiedene Aktionen Beuys’ auf, die er hier re-kombiniert, darunter insbesondere die Fettecke (1982 ) sowie die Aktion Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt (1965). Zugleich referenziert Schlingensief dabei auch seine eigenen vorangegangenen Arbeiten, in denen er die Beuys’schen Aktionen bereits auf unterschiedliche Weise und in anderen Kontexten zitiert hat, wie etwa in ATTA ATTA – Die Kunst ist ausgebrochen, wo er mit einem toten Hasen durch das Publikum geht und ruft »Erklärt dem Hasen das Theater« und damit Beuys’ Aktion für das Theater variiert. In seinem künstlerischen Schaffen greift Beuys die christlichen sowie existenziellen Konnotationen des Hasen auf und wendet sie auf die und in der Kunst an.206   Zur Bedeutung des Hasen in seiner Arbeit schreibt Beuys : »Für mich ist der Hase ein Symbol für die Inkarnation. […] Denn der Hase macht das real, was der Mensch nur in Gedanken sein kann. Er gräbt sich ein, er gräbt sich einen Bau. Er inkarniert sich in die Erde.«  207   In der Aktion Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt führte Beuys, seinen Kopf mit Blattgold, Goldstaub und Honig überzogen und seine Schuhe in eine Eisensohle geschnallt, einen toten Hasen eingehend durch eine kleine Ausstellung, bestehend aus von ihm angefertigten Zeichnungen und Objekten.208   Das Publikum blieb dabei draußen vor die Tür der Galerie Schmela in Düsseldorf verwiesen und konnte den beiden nur durch die Fensterscheibe hindurch zuschauen. Kaspar Mühlemann führt aus : »Mit dem Tier auf dem Arm nahm er die ikonografische Position der Pietà ein, wodurch er den toten Hasen gleichsam mit dem Leichnam Christi parallel setzte.« 209 Die Symbolkraft des Hasen als Signifikant des christlichen Glaubensverhältnisses von Leben und Sterben, welches in der Auferstehung Christi begründet wird, mit der Beuys hier arbeitet, setzt Schlingensief in der Inszenierung des verwesenden Hasen, der in Großaufnahme über der Bühne als Altarraum schwebt, in einem anderen ästhetischen Setting fort. Durch die Wiederholungen, die gezielt ungenauen

206 207

208

209

Siehe hierzu auch Warstat, Krise und Heilung, a.  a. O., S.  165  ff. Joseph Beuys in einem Interview mit Hagen Lieberknecht vom 28. 09. 1970, zitiert aus Ermen, Beuys, a.  a. O., S.  44. In der Sybirischen Symphonie 1.  Satz (1963 ) etwa entfernt Beuys einem toten Hasen das Herz. Vgl. hierzu Adriani / Konnertz / Thomas, Joseph Beuys, a.  a. O., S. 108  ‒112. Auch in zahlreichen Plastiken, Zeichnungen, Skulpturen und Installationen findet der Hase Eingang in seine Arbeit. Diese Aktion fand zur Ausstellungseröffnung am 26. 11. 1965 in der Galerie Schmela in Düsseldorf satt. Vgl. hierzu Adriani / Konnertz / Thomas, Joseph Beuys, a.  a. O., S. 152  ‒156. Mühlemann, Christoph Schlingensief und seine Auseinandersetzung mit Joseph Beuys, a.  a. O., S.  44. Für eine ausführliche Beschreibung der Aktion von Beuys siehe : Schneede, Joseph Beuys. Die Aktionen. a.  a. O., S.  102  ‒111.

109

110

Der Hase als nomadischer Signifikant

Nachahmungen der Beuys’schen Aktionen sowie durch die Vervielfachungen des Hasensymbols entstehen Distanzierungen, die die religiöse Überhöhung des Hasen brechen und zugleich die Mannigfaltigkeit seiner Bezüge und die Sedimentierungen seiner historisch und kulturell variablen Bedeutungsschichten bespielen.210 Dabei erschöpfen sich die unterschiedlichen Bedeutungen des Hasen, die in Schlingensiefs Arbeit miteinander verwoben werden, keineswegs nur in christlichen Konnotationen. Schlingensief selbst weist immer wieder auf die Bedeutung des Hasen in anderen Kulturen hin, insbesondere in afrikanischen, die für ihn ebenso relevant erscheint  : »Die Namas in Namibia erzählen eine Geschichte, in der der Hase den Menschen eine Erlösungsbotschaft bringt. Er spielt auch eine Rolle im Buddhismus; dort hat er sich Siddharta als Speie geopfert. So kam der Hase bei mir ins Spiel. Das weiß niemand, und so heißt es unter den Heerscharen an Kunstkennern natürlich: ›der Beuys’sche Hase‹.« 211 Trotz dieser Polemik weist Kaspar Mühlemann in seiner Studie zu Schlingensiefs Beuys-Bezügen zu Recht darauf hin, dass der Hase in Schlingensiefs Arbeiten immer wieder in Kontexten inszeniert wird, die »keinen Zweifel daran lassen, dass damit der Beuys’sche Hase gemeint ist: beispielsweise in Gruppierung mit einer Fettecke oder als Friedenshase mit Sonne.« 212  Ähnlich wie bei Schlingensief mündeten nach Mühlemann dabei die unterschiedlichen »kulturgeschichtlichen Aufladungen des Hasen« auch bei Beuys »in einen ikonografischen Synkretismus« 213, welcher sich einer einzigen Interpretation der Verwendung des Hasensymbols widersetzt. »Im Wesentlichen ist der Hase im Werk von Schlingensief Träger von Bedeutungen, die er schon bei Beuys versinnbildlichte : Auferstehung, Frieden, Erlösung, Christus und Fruchtbarkeit.« 214 Darüber hinaus dient er nach Mühlemanns Einschätzung »zumindest gelegentlich als Hommage an Beuys oder umgekehrt zur kritischen Hinterfragung von Beuys’ Kunst.« 215  

210

211

212 213 214 215

Mühlemann verweist in seiner Darstellung der Schlingensief ’schen Bezugnahme auf Beuys darauf, dass Schlingensief auch in seinem direkten Zitat von Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt in der Atta Atta die Geste zwar wiederholt, sie dann aber radikal bricht, indem er den Hasen an die Wand schlägt und damit auch seine Sakralisierung im Kontext der Beuys’ schen Arbeit zerstört. Schlingensief, Christoph zitiert aus Mühlemann, Christoph Schlingensief und seine Auseinandersetzung mit Joseph Beuys, a.  a. O., S.  50. Zu weiteren kulturgeschichtlichen, mythologischen und religiösen Bedeutungen des Hasensymbols siehe Mühlemann, ebenda, S.  46  f. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda.

I. Im Zeichen der Avantgarden

Unter den Vorzeichen von Fluxus, unter welche die im Verlauf der Aufführung des »Fluxus-Oratoriums« sich wandelnde Gestalt des Hasen grundsätzlich gestellt wird, flotiert der Hase in den unterschiedlichen Erscheinungsweisen und Gestalten durch die Aufführung und schlägt, im Zeichen der fließenden Übergänge, für die »Fluxus« hier etymologisch wie kunstprogrammatisch steht, diverse Brücken zwischen unterschiedlichen Assoziationsfeldern und Referenzen. Er zirkuliert als Symbol und komplexer sowie antagonistisch aufgeladener und zugleich freischwebender, kontextuell variabler Signifikant durch die Aufführung und webt dabei ein unüberblickbares Dickicht aus Querverbindungen und Verweisen zwischen Christentum und Richard Wagner, germanischen, mittelalterlichen, afrikanischen, buddhistischen, chinesischen Symboliken, Avantgarden und Neoavantgarden, Joseph Beuys und Christoph Schlingensief diesseits und jenseits von Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir. Seine trotz oder gerade wegen aller plastischen Erscheinungsformen fluide Signifikationsfunktion ist exemplarisch für einen bestimmten Zug in Schlingensiefs Arbeitsweise, bei der unterschiedliche Arbeiten, Künstler *innen, Künste, geschichtliche Motive und andere diskursive Felder miteinander verwoben werden. Zugleich werden zentrale Strategien der Avantgarden und Neoavantgarden, wie Montage 216 und Collage,217 aufgegriffen und aktualisiert : Der Hase markiert so eine exemplarische Figur des Fluidwerdens, das durch Verfahren der Montage und Collage, der De- und Rekontextualisierung in Gang gesetzt wird. Wie bereits angedeutet, referenziert der oben genannte Film, in dem Schlingensief im Beuys-Kostüm den Hasen einwachst, nicht nur Beuys’ Aktion Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt, vielmehr wird hier auch in einer ästhetischen

216

217

So notiert Erika Fischer-Lichte: »Die Montage avancierte innerhalb kürzester Zeit [ zu Beginn des 20.   Jahrhunderts, S.  R .] zum avantgardistischen Verfahren par excellence in allen Kunstgattungen.« Fischer-Lichte, Erika, »Zwischen Differenz und Indifferenz. Funktionalisierungen des Montage-Verfahrens bei Heiner Müller«, in: Dies. / Schwind, Klaus ( Hg.), Avantgarde und Postmoderne. Prozesse struktureller und funktioneller Veränderungen, Tübingen : UTB, 1991, S.  231‒  245, S.  232. Siehe zum Begriff der Montage weiter : Sollich, Robert, »Montage«, in: Fischer-Lichte / Kolesch / Warstat ( Hg.), Theatertheorie, a.  a. O., S.  208  f. Die Techniken der Montage und Collage als neo-  / avantgardistische Strategien in Schlingensiefs Arbeiten werden in diesem Kapitel näher in den Abschnitten »Krankheit als Readymade« sowie »Zitieren als künstlerische Praxis « erörtert. Barbara Gronau beschreibt die Collage als Signum des »›Einbruch[s] des Realen‹ in die illusionistische Bildoberfläche« zu Beginn der klassischen Moderne, die sich im Verlauf des 20.   Jahrhunderts auf die gesamte Kunstproduktion ausweitet. Gronau, Theaterinstallationen, a.  a. O., S.  26. Siehe hierzu weiter Kapitel V zur Installation, »Die umgekehrte Räumlichkeit der modernen Kunst«.

111

112

Der Hase als nomadischer Signifikant

Verschmelzung der Beuys’schen Zeichen, Symbole und Objekte seine berühmte Fettecke (1982 ) zitiert. Im Rahmen einer Aktion am 28. 04. 1982 in seinem Atelier »Raum 3« in der Düsseldorfer Kunstakademie verfertigte Beuys die Fettecke als »installierte Plastik aus verfestigtem Schmalz, zirka zwei Meter unterhalb der Decke in der Innenkante von zwei aufeinanderstoßenden Wänden«218. Auf diese erste Aktion folgend, variierte er später die Fettecke an unterschiedlichen Orten und in diversen Formen und Formaten. In seiner Referenzierung dieses Signums aus Beuys’ Werk re-inszeniert Schlingensief aber wiederum nicht exakt jene Aktion. Er installiert auch keinen kleinen Fettfleck in einer Raumecke und versucht nicht Beuys’ Handlungsvollzug in der Aktion nachzuvollziehen. Vielmehr re-kombiniert er, ähnlich wie das mit Blick auf Brus der Fall war, in ebenso losen wie plastischen Assoziationsketten zentrale Elemente, Zeichen und Materialien aus unterschiedlichen Arbeiten Beuys’ und rekontextualisiert sie in seinen Arbeiten, hier konkret im »Fluxus-Oratorium«. Die Fettecke scheint er dabei ebenso wie die Symbolkraft des Hasen ganz buchstäblich aufzufassen, wenn er eine Ecke aus Holzscheiten konstruieren lässt, in die er den Hasen mit Fett hineinschmiert und zu einer Beuys’schen Hasenplastik werden lässt, die zum Zeitpunkt der Aufführung in den konkreten Aufführungsraum hinübergewandert ist und hier wie ein Relikt der im Film aufgezeichneten und zugleich für ihn produzierten Aktion wirkt. In diesem Spannungsverhältnis ihres Verwendungszusammenhangs, in der Aktion (im Film) einerseits und als ihr Relikt und Ausstellungsobjekt in der Aufführung andererseits, überträgt Schlingensief einen Kern der Fettecke in der Beuys’schen Arbeit und weitet ihn auf die Konstellation Aktion-Film-Aufführung aus. So notieren Lothar Romain und Rolf Wedemeyer zum Verhältnis von Aktion und dem Relikt der Aktion, das bei Beuys nachträglich zu einer als Plastik wird, dass die Fettecke »auf eine vorhergehende, rituelle Aktion« verweist und »als deren Überbleibsel [erscheint] – die Fettecke als Relikt« 219. Durch die Art und Weise der Materialkombination – Hase, Wachs, Fett – wird der Fokus auf das Material selbst gelenkt, werden die Materialien zu Insignien des Beuys’schen Kunstkosmos, indem sie wiederum als künstlerisches Material der Existenz fungieren, das sie für die Schlingensief ’sche Referenzierung im Fluxus-Oratorium signifikant werden lässt. Das Beispiel des Hasen als künstlerisches Material der Existenz wurde bereits im vorherigen Abschnitt erörtert, nun sollen an dieser Stelle noch etwas eingehender das Fett und das Wachs als künstlerisches Material in den Blick genommen werden, die Schlingensief aus dem Beuys’schen Oeuvre herausgreift und im Kontext seiner kunstförmigen Auseinandersetzung mit der Existenz re-inszeniert und fruchtbar

218 219

Zitiert aus Brandt et al. ( Hg.), Joseph Beuys und die Fettecke, a.  a. O., S. 17. Romain, Lothar / Wedemeyer, Rolf, Über Beuys, Düsseldorf: Droste, 1972. Zitiert aus Brandt et al. ( Hg.), Joseph Beuys und die Fettecke, a.  a. O., S.  47.

I. Im Zeichen der Avantgarden

werden lässt. Wenn Schlingensief in dem geschilderten projizierten Hasenfilm mit einer Glühbirne das Fett schmilzt und einen ( künstlichen) toten Hasen mit einer hellen Flüssigkeit einsalbt, um ihn dergestalt mit dem Fett in der Fettecke zu installieren, re-kombiniert er dabei zentrale Materialien des Beuys’schen Werks. Beuys selbst beschreibt Funktion und Symbolcharakter des Fetts in seiner Arbeit in enger Anlehnung an die Grundidee von Fluxus als Fließen und konstatiert, dass er besonders die Flexibilität und das transformatorische Potenzial des Materials schätze : »Ich will den konventionellen Begriff ›Plastik‹ aufspalten. Mit dem Material Fett zeige sich das chaotische Fließen, das ich in eine Form bringe: sogar in harte Formen, eben meine ›Fettecken‹.« 220  Diese Deutung und Verwendungspraxis des Materials Fett impliziert für ihn eine ethische Dimension des ästhetischen Materials, ganz ähnlich wie Schlingensief sich im »Fluxus-Oratorium« auf die Idee von Fluxus und den Kerngedanken des Fließens beruft : »Aber Fett trifft im Betrachter andere Zentren. Es geht mit nicht nur um die Plastik. Das Plastische ist als Lebenselement im Menschen selbst. Das will ich klarmachen.« 221   Nach eigener Auskunft ist Beuys auf das Fett als Arbeitsmaterial gekommen, weil es den Wärmecharakter, den Beuys primär anthropologisch als »geistige oder evolutionäre Wärme« 222 verstanden wissen will und der als solcher den Ausgangspunkt seiner Theorie zur Plastik bildete, am besten zu demonstrieren vermag : »Seine absolute Flexibilität, seine Anfälligkeit gegenüber Temperaturschwankungen –   , so konnte das Fett in den Aktionen auftreten in einem völlig chaotischen Zusammenhang, indem man es zum Beispiel einfach in den Raum hineinwarf.« 223 Und, so führt er weiter aus, könne »man es mit Wärme bearbeiten, dann zerfließt es sozusagen völlig. Dann kann man es aber wieder erkalten lassen, also Wärme und Kälte als zwei Prinzipien innerhalb der Plastik, die mich interessiert haben. Dann kann man Fett zusammennehmen und kann es schließlich in eine Form bringen.« 224 So sei Fett »durchaus ein Material, mit dem man auch klassische Kunstwerke schaffen könne. Nur bei mir spielt es während der Aktion eine ganz bestimmte Rolle. Das Fett nimmt den Weg von einer chaotisch zerstreuten, energieungerichteten Form zu einer Form.« 225 Und schließlich wird dem Fett im Zusammenwirken mit dem anderen für Beuys’ Arbeit zentralen Material, dem Filz, eine potenzielle Materialität der Verlebendigung,

220

221 222 223

224 225

Joseph Beuys im Interview mit Armin Halstenberg, im Kölner Stadtanzeiger 14.  /   15. 06. 1968. Zitiert aus Brandt et al. ( Hg.), Joseph Beuys und die Fettecke, a.  a. O., S.  31. Ebenda. Joseph Beuys zitiert aus ebenda, S.  35. Joseph Beuys im Interview mit Wulf Herzogenrath, in: Selbstdarstellungen, Düsseldorf, 1973. Zitiert aus Brandt et al. ( Hg.), Joseph Beuys und die Fettecke, a.  a. O., S.  37. Ebenda. Joseph Beuys im Interview mit Wulf Herzogenrath, a.  a. O., S.  37.

113

114

Zwischenresümee zur Stoff- und Motivanalyse

der Transformation von totem Stoff in Lebendiges zugesprochen, die es für die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Tod im »Fluxus-Oratorium« relevant werden lässt: »Wie in unserer Zeichnung gibt es plastische Arbeiten von Beuys, in denen Fett zwischen die einzelnen Lagen eines Filzstapels gelegt ist. Der Filzstapel fungiert, wie gezeigt, als Batterie, in der ›Wärme‹ erzeugt wird. Kommt jetzt noch Fett dazu, das durch die Wärme den flüssigen Zustand erreicht, so lässt sich die Filz-Fett-Plastik als Zeichen der Umwandlung von Kälte in Wärme, das heißt vom Todespol zum Lebenspol begreifen.« 226 Zwischenresümee zur Stoff- und Motivanalyse der Neo- /  Avantgardebezüge Zum Abschluss dieser ausführlichen, dennoch exemplarischen Stoff- und Motivanalyse mit Blick auf die Bezüge zur Neoavantgarde, wie sie in Schlingensiefs »Fluxus-Oratorium« inszeniert werden, möchte ich noch einmal resümieren, welchen Status die zitierten Arbeiten, Motive und Materialien in der Aufführung einnehmen. Denn in den erörterten Referenzierungen bzw. plastischen Nachstellungen von Beuys’ Arbeiten etwa oder jenen von Günter Brus verlieren, wie gezeigt, die Materialien, wie der Hase, das Fett, der Filz, aber auch die Performances selbst erst einmal ihren Primärstatus. Es scheint Schlingensief in seinen gezielt auch auf Differenzen und Verfehlungen gehenden Reenactments nicht daran gelegen zu sein, die Bedeutung des Fetts oder auch des Hasen bei Beuys als unmittelbare und wirkungsvoll Transformatorische rehabilitieren zu wollen. Genauso wenig geht es offenkundig in den Referenzierungen auf Fluxus, Export, Paik oder dem Aktionisten Brus darum, an deren Arbeit möglichst nahtlos anzuknüpfen und die Spezifik von deren jeweiligen sozio- und kunsthistorischen Vorzeichen ausradieren zu wollen. Gerade der auf sich selbst zeigende Gestus, der seinen Reenactments eingeschrieben ist, überhaupt das plastische Nachstellen – denn Schlingensief hätte sich genauso gut für das Einspielen von Originalmaterial entscheiden können – markieren permanent die Notwendigkeit der Differenzen und Verfehlungen der historischen Vorlagen in der Gegenwart (der Aufführung  ). Es bedarf hier offenbar gerade der persönlichen Verkörperung, der Aneignung im Nachstellen und Reenacten, um Beziehungen zwischen der ( Kunst-)Geschichte und der Gegenwart, zwischen sich selbst und den Neoavantgarden herzustellen. Dazu gehört auch, dass sich zwischen der Geste des Zum-greifen-nahe-Seins und der dabei stets inhärenten Verfehlung des zeitlich Entfernten eine Kluft aufspannt. Diese unüberwindbare Trennung ist es, die die Bezugnahme und Auseinandersetzung mit der ( Kunst -)

226

Zitiert aus Brandt et al. ( Hg.), Joseph Beuys und die Fettecke, a.  a. O., S.  45.

I. Im Zeichen der Avantgarden

Geschichte immer wieder notwendig erscheinen lässt. Zugleich lässt sich in den gezielt fehlgehenden Bezugnahmen und Nachstellungen und dem darin ›Uneigentlichwerden‹ des zitierten Materials gerade im »Fluxus-Oratorium« keineswegs nur eine Geste der Distanzierung oder auch – nicht unwesentlich in Schlingensiefs Arbeit – des Sichlustigmachens verstehen. Denn die Dringlichkeit, mit der die historischen Vorläufer *innen und Künstler *innen unterschiedlicher NeoavantgardeBewegungen vor dem Hintergrund der Inszenierung und ihrem Kreisen um das Sterben des Künstlers auf- und angerufen, ja beschwört werden, lässt diese Bezugnahme auch in ihrer existenziellen Dimension erfahrbar werden. Schlingensief scheint hier vor dem Hintergrund seines eigenen Projekts, nämlich der Einlassung der Kunst in das Leben und vice versa, und zwar in dem existenziellen Moment der Konfrontation mit dem Lebensende, an die kunsthistorischen Vorgänger *innen erinnern zu wollen. Dabei werden die unterschiedlichen künstlerischen Arbeiten von Beuys bis Brus als kunsthistorische Bezugspunkte für eine Verschränkung von Kunst, Leben und Sterben herausgestellt, die diese Verbindungen entlang der Spezifik von Kunst, dem ausdifferenzierten, fokussierten und verdichteten Materialgebrauch der bildenden Kunst, der Verwebung neuer und alter Medien und Künste und dem reflexiven Bespielen intermedialer Wechsel zwischen Bild und Performance, Theater und Musik, Fotografie, Film und Fernsehen realisieren. Hierin verortet Schlingensief sein eigenes Kunst-Existenz-Projekt, wenngleich an einer anderen kunsthistorischen Position und unter anderen Voraussetzungen. Aus dieser anderen Situation heraus agiert er unter der Prämisse, dass eine völlige wechselseitige Öffnung von Kunst und Leben oder auch eine unmittelbare, intendierte und direktionale Wirksamkeit der Kunst auf das Leben ohne die Auflösung der Kunst und damit ohne die Aufhebung ihrer spezifischen Kraft nicht zu haben ist. So beschreibt der Dramaturg Carl Hegemann, der auch an nahezu allen späten Arbeiten Schlingensiefs mitgewirkt hat, dessen Arbeitsweise, dessen künstlerischen Zugriff auf die Umwelt wie auf die Kunst selbst, in der Funktionsweise des Readymades : »Christoph ist jemand, der – und das finde ich eine großartige künstlerische Entscheidung – nicht gerne selbst etwas erfinden möchte. Es ist alles da. Er nimmt die Sachen, die er findet und die ihm durch den Kopf gehen. Er hat keinen kreativen Originalitätsdrang. Das heißt, bevor er sich irgendeine Plastik ausdenkt, zitiert er lieber die ›Honigpumpe‹ von Joseph Beuys. […] Oder, wie man in ›Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir‹ sehen kann, er stellt einfach die ganzen Fluxus-Happenings nach. Allerdings macht er das auf eine Weise, die etwas ganz Eigenes hat, etwas ganz Einzigartiges. Die Arbeitsweise von ihm ist tatsächlich Readymade ready made. Er macht Readymades aus Readymades.« 227  Die von He-

227

Carl Hegemann im Interview mit Kaspar Mühlemann, Christoph Schlingensief und seine Auseinandersetzung mit Joseph Beuys, a.  a. O., S.  141‒148, S. 145.

115

116

›Impersonaten‹ als appropriatorisches Readymade

gemann beschriebene Potenzierung neo-  / avantgardistischer Strategien in Schlingensiefs Arbeitsweise, indem er deren künstlerische Verfahren nun auf sie selbst anwendet, möchte ich auf dieser Metaebene noch einmal in den Blick nehmen und in ihren inhaltlichen wie formalen Konsequenzen darlegen. Inwiefern ereignet sich also die Bezugnahme auf Arbeiten und Personen (nicht nur ) der Neo-   / Avantgarden in den von ihnen etablierten Verfahren? Und inwiefern werden sie dabei als Readymades behandelt? ›Impersonaten‹ als appropriatorisches Readymade Wie dies anhand der unterschiedlichen Filmbeispiele im Zeichen der Neo-  /Avantgarden aufgezeigt wurde, ist die explizite Referenzierung auf künstlerische Vorgänger *innen, aber auch auf andere Personen des öffentlichen Lebens diesseits und jenseits der Kunst eine typische ästhetische Strategie in Schlingensiefs Arbeitsweise, die sich als roter Faden durch viele seiner unterschiedlichen Arbeiten spinnt. In Freakstars 3000 spielt Kerstin Grassmann Angela Merkel, Achim von Paczensky brilliert in Schlingensiefs Talkshow Talk 2000 als Heiner Müller, Mario Garzaner fungiert in der Film-im-Film-Parabel vom »letzten Neuen Deutschen Film«, Die 120 Tage von Bottrop (1997  ), als der Regisseur Rainer Werner Fassbinder, um nur einige prominente Beispiele hierfür aus anderen Werkphasen Schlingensiefs zu nennen. Dabei werden auch hier die auffälligsten Merkmale der darzustellenden Personen – Frisur, ein prägnantes Kleidungsstück, eine Brille – aufgenommen und mit einer Geste der Nachlässigkeit adaptiert, wodurch die Differenzen zwischen Darstellung und Dargestellten umso drastischer markiert und exponiert werden. Offenbar geht es dabei nicht um eine möglichst exakte Nachahmung bestimmter Personen und genau einstudierter Idiosynkrasien, nicht um die Erfassung ihrer individuellen Mannigfaltigkeit, sondern vielmehr um deren Außerachtlassung. Wesentlich erscheint hier der Gestus der Behauptung, eine unwahrscheinliche wie ungehörige Montage, in der die referenzierten Personen nicht weiter zu spezifizieren sind. Der öffentliche Allgemeinplatz, den sie repräsentieren, wird als Readymade aufgegriffen und wiederum auf deren Darstellung selbst angewendet. Dabei verwischt zugleich das, wofür sie gemeinhin öffentlich stehen, und öffnet sich in dieser Inszenierungsform für die Möglichkeit einer kritischen Hinterfragung ihrer Selbstverständlichkeit sowie der Funktionalität ihrer sozialen Positionierung. Zugleich werden dabei andere Akteur *innen an dieser Stelle denkbar, vorstellbar und vorgestellt. Besonders in der Diskrepanz zwischen den als ›behindert‹ stigmatisierten Akteur *innen zu dem politischen Führungspersonal und den intellektuellen und künstlerischen Eliten, die sie ›verkörpern‹, wird die alltägliche soziale Rolle und Position der Ersteren zum Politikum. Diese Strategie der Um-Besetzung scheint

I. Im Zeichen der Avantgarden

Schlingensief aber nicht nur wegen der sozialen Diskrepanzen und politischen Spannungen zu realisieren, die sich in der Besetzung durch diese Akteur *innen entfalten. Vielmehr wirken sie auf besondere Weise bereit, sich auf ein bestimmtes Prinzip der zitathaften Verkörperung als Spiel mit äußerlichen personellen Zeichen, die auf eine andere Person übertragen und durch sie ausgetragen werden, einzulassen. Und hierbei geht es eben nicht darum, eine möglichst umfassende und lückenlose wesenhafte Nachahmung einer bestimmten Person bzw. eines bestimmten Charakters abzuliefern, sondern vielmehr die Klüfte und Differenzen auszustellen, die Disparatheit der Darstellung nicht zu eliminieren, sondern zu akzentuieren, sie gar zum ästhetischen Ausgangspunkt zu machen, um einen wirkungsvollen Effekt der Entfremdung des Vertrauten, Bekannten, Gewöhnlichen zu evozieren, das so als Fremdes, Unbekanntes und Unheimliches wiederkehrt. In diesem Sinne weisen die Verkörperungen Grassmanns, von Paczenskys, Garzaners und Co bekannter öffentlicher Personen eine strukturelle Ähnlichkeit zum Prinzip des Readymades auf, indem sie bei fertigen Gegebenheiten ansetzen und lediglich auf äußeren Setzungen fußen, die nicht verinnerlicht noch schöpferisch oder handwerklich durchdrungen werden. Damit vermögen sie den Impetus von Schlingensiefs künstlerischem Weltzugriff, der von Hegemann zuvor als potenziertes Readymade-Verfahren beschrieben wurde, besser zu entsprechen, als jede am Ideal einer realistisch-naturalistischen Nachahmung originärer und individueller › authentischer menschlicher Vorbilder‹ geschulte Darstellung dazu in der Lage wäre. Im »Fluxus-Oratorium« sind diese Formen personeller Referenzierung, wie bereits dargelegt, wesentlich auf einige Protagonist*innen der Neoavantgarden von Export, zu Brus, über Paik zu Beuys bezogen, die von Grassmann, Witt und anderen sowie von Schlingensief selbst dargestellt werden. Die bekanntesten Arbeiten der jeweiligen Künstler *innen werden zitiert und referenziert, indem ihre markantesten Merkmale aufgerufen und in nachlässiger Geste nachgestellt werden. Durch diese Form der Bezugnahme auf andere Kunstwerke, Arbeiten, Aktionen sowie Künstler *innen lässt Schlingensief auf spielerische Weise bestimmte Mechanismen der Ikonenbildung der Kunst und Kunstgeschichtsschreibung reflexiv werden und wirft zugleich die Frage auf, für was diese Arbeiten und Künstler *innen in der ( jeweiligen ) Gegenwart stehen, was sie mit der zeitgenössischen Kunstproduktion und ihren Ästhetiken zu tun haben und wie sich im jeweiligen Heute auf sie beziehen lässt. Wenn Kaspar Mühlemann in seiner vergleichenden Studie zu Schlingensief und Beuys behauptet, dass die »künstlerische Erzeugung von BeuysReferenzen, die auf einer assoziativen Ebene funktionieren, […] ihren Hauptzweck in der Würdigung eines Künstlers, von dem Schlingensief, wie seine intensive Auseinandersetzung mit Beuys belegt, überaus fasziniert war,« so lässt sich dies als allzu einfache Annahme zurückweisen, die an den tatsächlichen mannigfaltigen und polyvalenten Weisen der ästhetischen Bezugnahme auf Beuys vorbeisieht, wel-

117

118

Niedere Mimesis

che eine ganze Spannbreite von Nähe und von Distanz umfasst, die von Ironie, zu Affirmation, Identifikation bis zu Destruktion reichen und die Rolle und Funktion von Beuys für die eigene Arbeit wie für die Gegenwart(-skunst ) überhaupt immer wieder als offen sowie hinterfragenswert verhandeln.228 Niedere Mimesis – Kunst und Welt Die hier skizzierte Art und Weise der Bezugnahme auf andere Künstler *innen und Arbeiten in und als Schlingensiefs Kunst kann selbst als emblematisch für seinen künstlerischen Weltbezug insgesamt gelten. Hierfür nutzt er seit Beginn seiner künstlerischen Arbeit eine genuin theatrale Praxis: die der Nachahmung. Seine künstlerischen Bezugnahmen auf andere Künstler *innen, öffentliche Personen, Arbeiten und Ereignisse, Geschichte und mediale Kommunikationen – sein künstlerischer Weltzugriff – entfaltet sich, so möchte ich behaupten, zwischen einem äußerst avancierten Einsatz und Spiel mit den unterschiedlichen Künsten und deren jeweiligen Vermögen, Differenzen und Spezifika auf der einen und einer fundamentalen theatralen Praxis, der Mimesis, auf der anderen Seite. Diese Mimesis ist hier wiederum keine verfeinerte oder virtuose, unendlich ausdifferenzierte Darstellungspraxis, wie dies besonders auf dem Theater ihre Tradition ist.229 Sie zeichnet sich bei Schlingensief vielmehr durch Grobheit, Dilettantismus, Durchlässigkeit und Verfehlung des Nachzuahmenden aus. In dieser Verfehlung wiederum ist sie umso treffsicherer. Wenn Schlingensief das Dritte Reich und seine Protagonist*innen, die deutsche Wiedervereinigung oder die 68er Bewegung aufgreift, wenn er aktuelle Politiker *innen, Künstler und Künstlerinnen in seiner Arbeit behandelt, so impliziert diese Behandlung stets eine Berührung, die Nachahmung heißt. Das jeweilige Personal, die Ereignisse, die Arbeiten und Stoffe müssen nachgestellt und nachgeahmt werden, und diese Nachstellung muss immer als solche in ihrer Nachträglichkeit dargestellt sein. Nur in ihrer Uneigentlichkeit und Zweitrangigkeit kann sie wieder originär werden. Sie strebt nie nach der Ununterscheidbarkeit vom Vorbild. Die Vorbilder, die Gegenstände dieser ›niederen

228

229

Mühlemann, Christoph Schlingensief und seine Auseinandersetzung mit Joseph Beuys, a.  a. O., S.  74. Siehe zur einer umfassenden geistesgeschichtlichen Analyse der Mimesis Gebauer, Gunter / Wulf, Christoph, Mimesis. Kunst – Kultur – Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg , Rohwolt, 1992. Girshausen, Theo, »Mimesis«, in: Fischer-Lichte / Kolesch / Warstat ( Hg.), Theatertheorie, a.  a. O., S.  201‒ 208.

I. Im Zeichen der Avantgarden

Mimesis‹ 230 müssen durch die Körper der Akteur *innen, durch Schlingensiefs eigenen Körper und durch die in den jeweiligen Arbeiten zur Verfügung stehenden Materialien durchgehen. Erst in der Verwerfung jeder Abstraktion des Zeichens oder Symbols, erst in der überpräsenten Plastizität erlagen diese Nachahmungen und Darstellungen überhaupt Abstraktion. Auch wenn wir es in Schlingensiefs Kunst also mit einer fehlgehenden oder auch niederen Mimesis als grundlegender künstlerischer Operation zu tun haben, so erscheint der Mimesis-Bezug darin doch wesentlich. Da Mimesis auch als eine grundlegende, subjektkonstitutierende soziale und künstlerische theatrale Praxis gilt,231 dann ist diese Subjektwerdungsdimension auch in Schlingensiefs Kunst wesentlich, so wie es paradigmatisch in ATTA ATTA – Die Kunst ist ausgebrochen von ihm selbst zur Aufführung gebracht wird. Abschließend möchte ich nun die ethischen Aspekte in den Blick nehmen, die Schlingensief in seiner Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod, insbesondere aus dem Werk von Joseph Beuys, ableitet. Von hier aus möchte ich demonstrieren, dass auch der künstlerische Umgang mit Krankheit und Tod eine ReadymadeStruktur aufweist und damit auf ein Verfahren zurückgeht, das sich aus den historischen Avantgarden herleitet, welches Schlingensief schließlich, so meine These, in seinen letzten Arbeiten existenzialisiert. Verlief der Weg des Readymades historisch über die Einführung von banalen Alltagsgegenständen in die Kunst, so sind es bei Schlingensief die Ausnahmesituation und die existenziellen Phänomene, die um Leben, Krankheit und Tod zirkulieren, die hier als Readymades in die Kunst eingelassen und darin parallelisiert werden. Unter Rückbezug auf jene historische Bewegung des Readymades werden diese dadurch umgekehrt auch in ihrer Normalität und Alltäglichkeit erfahrbar. Zugleich werden sie sich dabei in ihrem ästhetischen Erscheinen fremd, wie es für das Readymade prinzipiell charakteristisch ist.

230

231

Zum Begriff der minderen Mimesis siehe das Forschungsprojekt »Mindere Mimesis« von Maria Muhle und Friedrich Balke https://www.fg-mimesis.de/mindere-mimesis/ , [ 02. 12. 2018 ]. Der Begriff der niederen Mimesis ist hier nur lose daran angelehnt und soll nicht nur die Nachgeordnetheit, sondern insbesondere auch die mindere Wertigkeit und den dezidierten Anspruch der Nicht-Originalität, der Verfehlung und Fahrlässigkeit unterstreichen, der für die Nachahmung in Schlingensiefs Arbeit wesentlich ist. Siehe hierzu Gebauer / Wulf, Mimesis, a.  a. O. Auch die subjekttheoretischen Schriften Judith Butlers arbeiten an einem so gefassten Nachahmungsbegriff. Auch Butler sieht in der Verfehlung bzw. Differenz der Nachahmung die Möglichkeit der Subversion und der eigentlichen Subjekt-Ermächtigung. Siehe hierzu Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, a.  a. O. sowie Dies., Körper von Gewicht, a.  a. O.

119

120

Aufruf zur Autonomie

Eine Revision der christlichen Ethik im Zeichen von Beuys  / Aufruf zur Autonomie »›Denn in der Nacht, da er verraten wurde,  / und sich aus freiem Willen dem Leiden unterwarf, / nahm er das Brot und sagte Dank , /  brach es, / reichte es seinen Jüngern und sprach:  /  Nehmet und esset alle davon  /  Das ist mein Leib,  /  der für euch hingegeben wird.‹   Aus freiem Willen Leiden unterwarf   ? Das möchte ich mal sehen. Aus freiem Willen unterwarf, heißt auf der Zeitachse auch zu einem Ende kommen zu wollen. Täuscht sich hier Jesus? Weil aus freiem Willen unterwerfen heißt ja ›Gut, Erschieß mich jetzt!‹ Kennen wir aus Kitschfilmen, bringt aber in der Realität gar nichts, weil der menschliche Geist doch zu klein ist, um die Großzügigkeit zu entwickeln und zu sagen : beschließt IHR doch meine Grenze.   Nehmet und trinket euer eigenes Blut, vor und nach der Diagnose! Bleibt autonom, bleibt bei euch! Lasst euch nichts erzählen, sondern glaubt an eine Zukunft, die ihr bestimmen werdet und niemand anderer !   FLUXUS !«  232

Das hier vorangestellte Zitat aus dem Johannesevangelium spricht und kommentiert Christoph Schlingensief, als er gegen Ende der Aufführung von Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir zum ersten und einzigen Mal leibhaftig auf der Bühne erscheint. Nach einem szenischen audiovisuellen Tohuwabohu steht er plötzlich hinter dem Altar, umgeben von den Schauspieler *innen, die sich wie seine Jünger um ihn versammelt haben. Mit einer Lesebrille auf der Nase scheint er die berühmte Passage aus dem Johannesevangelium zunächst abzulesen, um die hier zum Ausdruck gebrachte Lehre dann offenkundig improvisierend philosophierend zu erweitern, zu modifizieren, zu verwerfen und sie durch seine ›eigene‹ ethische Lehre zu ersetzen. Diese besiegelt er schließlich mit einem laut sich entäußerndem, markerschütterndem Schrei des Wortes »Fluxus«, den er dem Auditorium, der Gemeinde der Gläubigen und Ungläubigen, entgegenschleudert. Noch einmal verdeutlicht sich in diesem szenischen Exempel, wie Schlingensief auf christliche Motive künstlerisch zugreift und sie mit dem Bezug auf die Avantgarden und Neoavantgarden überschreibt, sie in diesem Sinne de-säkularisiert und die Spezifik der Kunst reflektierend zum Einsatz bringt, ohne ihre christliche und religiöse Konnotation dabei gänzlich durchzustreichen. In der von Schlingensief hier zitierten Stelle des Johannesevangeliums, die das letzte Abendmahl wachruft, bevor Jesus verraten und gekreuzigt wird, nimmt Jesus seine Opferung bereits vorweg und begründet mit der symbolischen Gleichset-

232

Christoph Schlingensief in Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir, hier zitiert nach dem Programmheft. Überprüft anhand der Transkription und Das vollständige Römische Messbuch, lateinisch und deutsch, hg.  v. Schott, Anselm, Freiburg : Herder, 1958.

I. Im Zeichen der Avantgarden

zung des Brotes mit seinem Leib ( »Das ist mein Leib,  /  der für euch hingegeben wird« ) ein zentrales Moment in der christlichen Ordnung der Repräsentation. Schlingensief zieht das Ritual des Abendmahls, mit dem die christliche Gemeinschaft ihren Glauben an die Geschichte Jesu, an seine Leibhaftigkeit, an seine Opferung, sein Leiden, seinen Tod und schließlich und wesentlich: seine Auferstehung bekundet, in Zweifel und hinterfragt kritisch die hierin verankerte Ordnung der Repräsentation. Auf der vom »Fluxus-Oratorium« antizipierten tatsächlichen Trauerfeier Schlingensiefs, am 30. 08. 2010 in der Kirche Herz Jesu in Oberhausen, nimmt Klaus Mertes in seiner Trauerrede »Requiem für Christoph Schlingensief« auf diese Szene Bezug. Er greift dabei die Kritik, die Schlingensief gegenüber der Idee der Opferung und der hierin eingeschriebenen repräsentationalen Struktur vorbringt, auf und stellt sie in den Kontext von Augustinus: »Von Jesus zu reden«, so Mertes, »heißt jedenfalls auch: von sich selbst zu reden. ›Nehmt und esst, was ihr seid‹ , heißt es bei Augustinus.« 233   Dementsprechend lauten die Worte Schlingensiefs, mit denen er sich in der Aufführung vom Altar aus an das Publikum richtet : »Nehmet und trinket euer eigenes Blut, vor und nach der Diagnose! Bleibt autonom, bleibt bei euch! Lasst euch nichts erzählen, sondern glaubt an eine Zukunft, die ihr bestimmen werdet und niemand anderer !« Lasst nicht andere über euer Lebensende bestimmen, fordert Schlingensief, sondern nehmt die Gestaltung eures Lebens wie eures Sterbens selbst in die Hand , soweit dies möglich sein kann. Er beglaubigt diese Aufforderung zur existenziellen Gestaltung mit »Fluxus«, als handele es sich um das zentrale Movens dieser neoavantgardistischen Bewegung. Dabei kann die Aufforderung zur Autonomie hier nicht als eine arglose Forderung begriffen werden, die an die Allmachtstellung autonomer Subjekte gegenüber sich selbst appelliert. Sie richtet sich zunächst im zitatförmig hergestellten Kontext der Religion gegen eine von hier aus gedachte absolute Fremdbestimmung des persönlichen Lebens durch normative Ordnungen ( wie z.  B. die Religion oder Medizin ). Sie wird aber noch aus einem anderen Grund in den Kontext von Fluxus gerückt. Die von Schlingensief vorgenommene Revision der christlichen Lehre und ihres Opferungsideals als Aufforderung an das Publikum, an die Gemeinde, an die Gemeinschaft der Kranken und Sterbenden, »bei sich zu bleiben«, »autonom zu bleiben« und die Gestaltung des eigenen Lebens selbst zu übernehmen, impliziert einen Kernpunkt des ethisch-ästhetischen Movens von Inszenierung und Aufführung. So stellt sie sich wesentlich auch als Versuch dar – ebenso wie der umfassende Corpus der diversen öffentlichen Tätigkeiten, denen Schlingensief in den letzten Jahren seines Lebens, in welchen er sich durch seine Lungenkrebserkrankung akut

233

Mertes, Klaus, »Requiem für Christoph Schlingensief, Oberhausen, 30.   August 2010«, Trauerrede, abgedruckt in: Gaensheimer (Hg.), Deutscher Pavillon 2011, a.  a. O., S.  279  ‒ 282, S.  281.

121

122

Aufruf zur Autonomie

mit seinem Lebensende konfrontiert sah, nachgegangen ist –  , eine existenzielle Mündigkeit und Souveränität bewahren zu können, die sich in Gestaltungsräumen und -möglichkeiten des persönlichen Lebens realisiert, auch und gerade im Angesicht des Verlustes des eigenen Lebens. So bildet die Transformation der Krankheitserfahrungen in ästhetische Kommunikationen in den späten Arbeiten eine Möglichkeit, den existenziellen und unfreiwillig finalen Erfahrungen des Lebens nicht lediglich ausgeliefert zu sein, sondern sie ihrerseits zu gestalten, zu transformieren und so ein Stück weit zu beherrschen, um seiner selbst willen, trotz aller fremdbestimmenden Faktoren, mächtig zu bleiben und Handlungsfähigkeit zu bewahren.234 In der Bezugnahme auf Fluxus, mit der die Aufforderung zur Selbstbestimmung als Selbstgestaltung besiegelt wird, wird erneut eine Brücke zum Verhältnis von Ethik und Ästhetik im künstlerischen Schaffen von Joseph Beuys geschlagen, in das sich Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir im Besonderen wie auch Schlingensiefs Arbeit insgesamt auf vielfache Weise einschreibt. Denn dass die Kunst ein Möglichkeitsraum für die Existenzgestaltung sein kann und sein sollte, ist programmatisch in dem Oeuvre Joseph Beuys’ eingetragen. »Jeder Mensch ist ein Künstler  « lautet die berühmteste anthropologische Kunst-Vorstellung Beuys’,235 in deren Kontext sich Schlingensiefs ästhetische Auseinandersetzungen, Projekte und Arbeiten zur und mit der Krankheit hier einmal mehr und dringlicher stellen. Denn wie Barbara Gronau ausführt, ist die Formel »Kunst ist alles oder jeder [ist] Künstler« die zentrale Metapher des Beuys’schen Denkens.236  Beuys erklärtes Ziel sei es, so Gronau weiter, einen »nunmehr ›erweiterten Kunstbegriff‹ in Anschlag zu bringen, der das Ästhetische mit dem Sozialen verklammert und zwischen die Begriffe Mensch, Kunst, Plastik und Ästhetik ›ein Gleichsetzen‹ setzt.« 237 »Die Brückenfunktion zwischen diesen Feldern« leisteten in Beuys’ Theorie »der Mensch

234

235

236 237

Im Licht einer solchen relativierten Auffassung von Autonomie kann auch die von Schlingensief im Kontext seiner Krankheitsdiagnose initiierte Internetseite www.geschocktepatienten.de [19. 12.  2018 ], die unter dem Motto, »Wir sind autonom« antritt, aufgefasst werden. Auf dieser Seite tauschen sich Betroffene und Angehörige über ihre Erfahrungen aus und bemühen sich auf diese Weise, der öffentlichen Tabuisierung ihrer persönlichen Erfahrungen, den medizinischen Bevormundungen sowie der Lähmung durch die Todesangst entgegenzuwirken. Siehe hierzu auch Mühlemann, Christoph Schlingensief und seine Auseinandersetzung mit Joseph Beuys, a.  a. O., S.  100. Vgl. hierzu Joseph Beuys in Harlan, Volker ( Hg.), Was ist Kunst ? Werkstattgespräch mit Joseph Beuys, Stuttgart: Urachaus, 1992, S.  14   ff. Sowie Adriani / Konnertz / Thomas, Beuys, a.  a. O., S.  9. Gronau, Theaterinstallationen, a.  a. O., S.  45. Ebenda.

I. Im Zeichen der Avantgarden

und dessen Fähigkeit, kreativ zu handeln«, da in der »natürlichen Anlage jedes Menschen zur Kreativität«, die Potenz stecke, die Gesellschaft zu transformieren. Es gelte, so paraphrasiert Gronau Beuys, das Bewusstsein »auf den immanenten Freiheitspol jedes Individuums zu lenken«, frei sei der Mensch dort, »wo er sich selbst als kreativ tätiges Subjekt erfährt.« 238   Bei Beuys sei bereits das Denken »Prototyp revolutionären Handelns«, da er im Moment des Denkens, wie Beuys es formuliert, »an einer Schwellensituation steht und etwas Neues auf die Welt bringt«.239 Der Aufruf zur Selbstbestimmung zieht sich auf verschiedene Weise, in unterschiedlichen Kontexten durch Schlingensiefs gesamtes Werk. Slogans früherer Arbeiten und Aktionen wie »Wähle Dich selbst« oder »Du bist Deine Chance« der Wahlkampfaktion Chance 2000. Partei der letzten Chance (1998 )240 oder »Jeder Mensch kann Talkmaster sein«, so das immer wieder ausgegebene Motto von Schlingensiefs erster Fernsehproduktion, der Talkshow Talk 2000 (1997  ), weisen bereits deutlich in diese Richtung. Sie sind dabei stets dialektisch gefasst, was sie von Beuys utopisch-anthropologischen Maximen wesentlich unterscheidet.241 »Jeder kann in Deutschland Talkmeister sein« verweist zugleich darauf, dass es nicht jeder sein kann und ist, obwohl es jeder sein könnte. Wenn die Talkmaster*innen sich nicht per se von allen anderen unterscheiden und eher durchschnittlich erscheinen, so wirft dies dann entsprechend die Frage auf, durch welche sozialen Ausschlussmechanismen sie an die exponierten Positionen kommen, auf denen alle anderen nicht sind und von denen ganze soziale Gruppen kategorisch ausgeschlossen sind. »Wähle dich selbst« verweist zunächst einmal darauf, dass man sich nicht selbst wählen kann, und lässt fragen, was das überhaupt bedeuten würde und was Repräsentation in diesem Kontext heißt. Einerseits greifen diese Appelle zur Selbstagitation also neoliberale Slogans auf und markieren den Selbstverwirklichungs- und Kreativitätsimperativ als Zumutung gegenüber dem Einzelnen, als hegemoniale Ausbeutung, die ihre zwingende Macht verschleiert, indem sie ›freien Willen‹ , ›Selbstverwirklichung‹ , gleiche Chancen und Möglichkeiten, Freiheit suggeriert.242 Andererseits appellieren sie, um die soziale und normative Bedingt-

238 239

240

241

242

Ebenda. Beuys, Joseph, in: Harlan, Volker / Rappmann, Rainer / Schata, Peter (Hg.), Soziale Plastik. Materialien zu Beuys, Wangen: Achberger, 1984, S.  212. Zitiert nach : Gronau, Theaterinstallationen, a.  a. O., S.  46. Siehe zu dieser Aktion weiterführend Schlingensief, Christoph / Hegemann, Carl, Chance 2000. Wähle Dich selbst, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1998 sowie Schlingensiefs retrospektive Schilderung der Aktion in Schlingensief, Ich weiß, ich war’s, a.  a. O., S.  57  ‒ 74. Siehe zu der Bezugnahme auf Beuys in Talk 2000 und Chance 2000: Mühlemann, Christoph Schlingensief und seine Auseinandersetzung mit Joseph Beuys, a.  a. O., S.  68  ff. Siehe hierzu z.  B. Menke, Christoph / Rebentisch, Juliane ( Hg.), Kreation und Depression.

123

124

Im Angesicht des Todes

heit von Handeln und Freiheit wissend, durchaus an die Selbstermächtigung und -gestaltung gerade derjenigen, denen diese Möglichkeit aufgrund ihrer sozialen Position abgesprochen und versagt wird. In den späten, um Krankheit und Tod kreisenden Arbeiten und insbesondere im »Fluxus-Oratorium« autobiografisiert und existenzialisiert Schlingensief im Angesicht des persönlichen Lebensendes diese Forderung zur Selbstgestaltung des eigenen Lebens und Lebensendes. Dabei bildet die Selbstgestaltung des persönlichen Weltverhältnisses z.  B. durch ( künstlerische ) Arbeit einen Weg der Selbst-Bestimmung. »Jeder Mensch ist ein Künstler« oder »bleibt autonom« meint hier in diesem Sinne, dass jeder und jede die Möglichkeit haben sollte, in einem bestimmten, wenn auch limitierten Grad sein bzw. ihr Welt- und Selbstverhältnis mitbestimmen und -gestalten zu können und nicht vollkommen fremdbestimmt zu sein. ( Selbst-)Gestaltung des Lebens im Angesicht des Todes Im Lichte dieser so verstandenen relativen Autonomie und Souveränität als Freiräume und Möglichkeiten der Gestaltung, als Aneignungspraktiken und Prozesse des iterierenden und modifizierenden Zueigenmachens, als Praktiken des Sichtbar- und Hörbarmachens lässt sich die Konstellation des »zukünftig Verstorbenen« als grundlegendes Inszenierungsprinzip des »Fluxus-Oratoriums« begreifen. Unter diesen Vorzeichen ist der Arbeit und dem gesamten Spätwerk im Prinzip der Versuch inhärent, sich einer lebensbedrohlichen Erkrankung nicht vollkommen auszuliefern und sich von ihrem Verlauf determinieren zu lassen. Dies umso mehr, als die Inszenierung deutlich herausstellt, dass ein solcher Krankheitsverlauf ebenso singulär (als individuelles Zusammenwirken der kollektiven Variablen ) wie kollektiv – als Variable von gesellschaftlichen Entwicklungen, von Medizin- und Sozialgeschichte, von kulturellen Symbolisierungen und Kommunikationen – verläuft.243 Gerade weil das Erleben der eigenen Krankheitserfahrungen (als Bewusstseinsform sowie als physische Leidensform) einerseits nicht mitteilbar und andererseits von den gesellschaftlichen Symbolgebräuchen und sozialen Praktiken abhängig ist, vermag die Kunst als geeignetes Medium der Verhandlung dieser Erfahrung, ihrer ästhetischen Transformation, ihrer Materialwerdung und damit ihrer Gestaltbarkeit und Beobachtbarkeit erscheinen.244  Wenn Schlingensief seine Krankheitserfahrun-

243 244

Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin: Kadmos, 2010; Reckwitz, Andreas, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 2012. Siehe hierzu weiterführend Kapitel II, »Die ( Krebs-)Krankheit als ›das Fremde in mir‹«. Wie Sandra Umathum herausstellt, ist die Selbstthematisierung ( im Kontext von Krank-

I. Im Zeichen der Avantgarden

gen und sich als Kranken in Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir auf unterschiedlichen Ebenen der medialen Repräsentation inszeniert, dann verdeutlicht sich hierin nicht nur der ( potenzielle) Symbolcharakter der Krankheit und mehr noch des Todes. Vielmehr muss diese Inszenierung auch als Aneignungspraktik der eigenen Existenz begriffen werden, die eine Möglichkeit bietet, die persönlichen Lebenserfahrungen ästhetisch zu transformieren, neu zu materialisieren und sie so anders beobachtbar und gestaltbar zu machen. In dieser inszenatorischen Aneignung des eigenen Lebens durch ihre formgebende Transformation offenbart sich eine grundlegende Konstellation der Existenz. Sie formuliert Helmuth Plessner am Beginn des letzten Jahrhunderts, wenn er die exzentrische Position des Menschen als anthropologische Grundkonstante, als conditio humana, konstatiert. Plessner hat dabei die Möglichkeit des Menschen im Visier, sich selbst zum Material zu machen, zu sich selbst in Distanz zu gehen und sich gestalten zu können.245 Dies beruht nach Plessner auf einer grundlegenden Selbstspaltung des Menschen, die produktiv zu machen und in besonderer Weise am Phänomen des Schauspielers modelliert ist. Gerade in der anthropologischen Selbstspaltung bzw. Abständigkeit des Menschen zu sich selbst, in welcher der Mensch immer an einer sozialen und funktionalen Rolle orientiert ist, die nicht mit ihm identisch ist, liegt für Plessner das Moment von Würde. Würde und Integrität begründen sich für Plessner in der von ihm konstatierten Abständigkeit des Menschen zu einer Rolle, welche die Möglichkeit von Distanz und Selbstgestaltung bereitet. Die Gestaltung ist zugleich nicht vollkommen willkürlich und frei, sondern erfolgt in Anlehnung an die je vorgängige soziale Rolle. Ihre individuelle Aneignung birgt den Spielraum der Freiheit.246  Diesen Raum der Würde und Freiheit, der sich aus einem Nichtidentischsein mit der jeweiligen Rolle, in der man sozial erscheint, begründet, bespielt Schlingensief, wenn er seine existenziell bedrohliche Situation in seinem Spätwerk verarbeitet und buchstäblich gestaltet. Dabei potenziert er dieses existenziale Prinzip in der von ihm gewählten Plastizität der inszenatorischen Konstellation und ästhetischen Materialisation und versucht

245

246

heit und Sterben ) im »Theater, der Performance und der Installationskunst« noch ein relativ junges Phänomen im Vergleich zur Malerei. Es führt wiederum in die Anfänge der Performance Art und damit zu den Neoavantgarden. Umathum, Sandra, »Die Kunst des Abschiednehmens. Überlegungen zu Christoph Schlingensiefs Inszenierung vom eigenen Sterben und Tod,« in: Bachmann, Michael Kreuder, Friedemann / Pfahl, Julia / Volz, Dorothea ( Hg.), Theater und Subjektkonstitution, Bielefeld: transcript, 2012, S.  253 ‒ 262, S.  254. Plessner, Helmuth, »Zur Anthropologie des Schauspielers«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd.  7, hg.  v. Günter Dux, Odo Marquard, Elisabeth Ströker, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1982, S.  399  ‒ 418. Ebenda.

125

126

Die Krankheit als Readymade

damit nicht ›nur‹ , angesichts der ihn dominierenden Krankheit, Gestaltungs- und Handlungsfreiräume im und des Lebens zurückzuerlangen. Vielmehr unternimmt er durch sie den Versuch, sich hier symbolisch noch einer viel stärkeren, endgültigeren Entmächtigung zu widersetzen, nämlich der des Todes. So können nicht nur die retrospektiv angelegten ästhetischen Materialisierungen als ein Entgegenwirken wider potenzielle Vernichtung und Auslöschung aufgefasst werden. Denn die fragmentarischen Relikte und Artefakte seiner ästhetischen Erscheinungsweisen offerieren Momente des Überdauerns auch nach einem möglich gewordenen Tode. Schlingensief versucht den Zustand seines Todes aus der Perspektive der Hinterbliebenen zu antizipieren, ja gar sich selbst als Hinterbliebenen seines eigenen Todes zu antizipieren, um ihn so zu gestalten und darin zu überwinden. Dabei kann er die Paradoxie, dass man sein eigenes Leben nicht betrauern kann, weil man, solange man trauert, noch lebt und das Leben noch nicht verloren hat, sondern nur ›weiß ‹, aber nicht erfahren hat, dass man es zukünftig verloren haben wird, als ästhetisches Prinzip bespielen.247 Der Tod ist insofern nicht darstellbar, als er aus der Perspektive der Darstellungen und des Darstellbaren notwendig unbekannt bleiben muss: Er hat keinen erfahrungsgebundenen, fixierbaren Referenten. Als solcher wird er ( neben Gott – und die Verbindungen von Religion, Glauben und Sterben rühren in dieser strukturellen Analogie der Unbegründbarkeit durch die Erfahrung  ) zur emblematischen Figur der Struktur der Repräsentation par excellence. Es gibt keine sinnliche Gewissheit über den Tod als Erfahrung, und das macht ihn zum Ausgangsszenario und zur Antriebsfeder seiner unendlichen Repräsentationen. Er ist das Ausgangsszenario von Repräsentation an sich. Diese Szenarien des Todes, so wird es im Folgenden sukzessive vertieft werden, entwirft Schlingensief entlang des reflexiven Spiels mit den jeweiligen medialen und künstlerischen Vermögen von Theater, Film, Oper und Installation und evoziert damit einen finalen Werkzyklus, indem Kunst, Leben und Sterben ästhetische Konstellationen eingehen, die ebenso einmalig wie anschlussfähig sind. Die Krankheit als Readymade Wie ich im Folgenden schließlich zu Schlingensiefs Avantgardebezug im künstlerischen Umgang mit der eigenen Existenz erörtern möchte, weist die hier skizzierte künstlerische Aneignungspraktik der Krankheit und des Sterbens, die dabei nie identisch bleiben, sondern immer auch zu etwas anderem werden, ein Strukturprinzip auf, das sich mit dem Readymade konzeptualisieren lässt. Damit

247

Siehe hierzu weiter Kapitel III.

I. Im Zeichen der Avantgarden

ist dieses künstlerische Verfahren nicht nur dem Denken und Schaffen Joseph Beuys’ verwandt, sondern weist darüber hinaus Bezüge zu einer für die Kunst des 20.  Jahrhundert maßgeblichen Intervention der historischen Avantgarden auf, die das Readymade darstellt. Wenn Schlingensief in dem »Fluxus-Oratorium« Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir auf großen Leinwänden über, neben und vor der Bühne 8mm-Filme projiziert, die ihn als Kind zeigen, das am Strand mit seinen Eltern tobt, sich einseift oder spielt, sich selbst zu erschießen und dazu über Lautsprecher ein aufgezeichnetes Gespräch einspielt, in dem er seiner Frau von seiner Lungenkrebsdiagnose berichtet, wenn er die Röntgenbilder seiner krebsbefallenen Lunge (mit entfernten Lungenflügel ) in einer Monstranz projiziert oder defekte Zellteilungsprozesse animiert, wenn er seine Krankenhauserfahrungen nachspielen und verfremden lässt und sie mit anderen Versatzstücken kurzschließt, sie ohnehin in der Inszenierung gänzlich re-kontextualisiert, sie transformiert, gestaltet, sie sich so aneignet und neu beobachtbar werden lässt, wenn er eine Messe für den von der Schauspielerin Angela Winkler als »zukünftig Verstorbenen« verkündeten in Szene setzt oder später, in der »ReadyMadeOper« Mea Culpa, sein Krebsgeschwür auf der Bühne in eine überlebensgroße Plastik überführt, tut er das stets unter exzessiver Anrufung und expliziter wie struktureller Inbezugsetzung zu Fluxus, zu Beuys und allgemeiner zu den Neo- / Avantgarden. Erneut beruft er sich auf Beuys, den er zitiert und erweitert, wenn er sagt : »Ich gieße aus meiner Krankheit eine soziale Plastik. Und arbeite am erweiterten Krankheitsbegriff. Es geht nicht darum, den Leidensbeauftragten zu geben, es geht ganz einfach ums Zeigen.« 248

248



Schlingensief zitiert aus: Burgtheater Wien ( Hg.), Mea Culpa. »Eine ReadyMadeOper«, Programmheft (194 ), Wien, 2009, S.  7. Zum erweiterten Kunstbegriff bei Beuys schreibt Kaspar Mühlemann in seiner vergleichenden Studie: »Die Hauptmaxime des erweiterten Kunstbegriffes besteht darin, dass die Kunst ins Leben übertreten soll. Mit seiner sozialen Plastik wollte Beuys das Wirkungsfeld der Kunst auf alle menschlichen Tätigkeitsbereiche, vornehmlich auf Kultur, Politik und Ökologie ausdehnen. Diese ›neue Kunstdisziplin‹ zielt darauf ab, sozial gestaltend in die Gesellschaft einzugreifen.« Mühlemann, Schlingensief und seine Auseinandersetzung mit Joseph Beuys, a.  a. O., S.  83. Zitiert hier : Beuys, Joseph in: Altenberg, Theo / Oberhuber, Oswald ( Hg.), Gespräche mit Joseph Beuys. Joseph Beuys in Wien und am Friedrichshof, Klagenfurt : Ritter, 1988, S.  5. Noch einmal Beuys selbst ebenda : »Mich interessiert an der Kunst ein erweiterter Kunstbegriff, der sich auf die Umgestaltung der Gesellschaft bezieht. Also hiermit erscheint eine neue Kunstdisziplin, man könnte sie auch soziale Kunst nennen.« Das, wie Gronau erläutert, »universal gedachte Prinzip des Plastischen« setzt für Beuys mit dem »Hineindrücken einer Tat in Materie« ein. Gronau, Theaterinstallationen, a.  a. O., S.  46. Beuys in: Harlan / Rappmann / Schata ( Hg.), Soziale Plastik, a.  a. O., S.  125.

127

128

Die Krankheit als Readymade

In diesem künstlerischen Umgang mit der Krankheit nun, so meine ich, konkretisiert sich zugleich der Bezugspunkt zum Readymade, das in Mea Culpa gar programmatisch titelgebend ist, für die Auseinandersetzung mit den existenziellen Erfahrungen in Bezug zur Oper.249 Das Readymade, »als metaphorische Struktur für die Kunst selbst« 250, ist laut Juliane Rebentisch »für die Kunstphilosophie einer der wichtigsten Gegenstände, wenn es darum geht, näher zu bestimmen, was Kunst ist an der Gegenwartskunst.« 251 László Földényi schreibt zur Funktion des Readymades für das Verhältnis von Kunst und Leben bei den historischen Avantgarden: »Im extremen Fall wollte sie [die Kunst der Avantgarde, S.  R.] das Leben selbst in eine Art ›objet trouvé‹ umwandeln. Das bedeutete sinngemäß, dass die Kunst Anspruch auf die Umgestaltung des gesamten Lebens erhob, ohne dass sie selbst irgendwo dingfest zu machen oder als Kunstobjekt zu isolieren gewesen wäre.«252 Dabei bildet ihm zufolge Duchamps Readymade als »verkörperte[s] Paradoxon« den »radikalsten Schritt in diese Richtung.«253 Das Readymade »(oder ›objet trouvé‹)« könne als »Kunstobjekt bezeichnet werden, weil es für sich selbst genommen keine Kunst ist«, handele es sich doch »um ein gefundenes Objekt«, und zugleich sei es »im alltäglichen Sinn auch nicht als Objekt zu bezeichnen, denn es ist als Kunstwerk präsentiert. Seinem Wesen nach ist es die Auslöschung der ihm geltenden Erwartungen, die Auslöschung des Begriffs der Kunst eingeschlossen«, so Földényi weiter.254 So verstanden, erfolgt die Einlassung der Kunst auf das und in das Leben und die darin begründete Überschreitung tradierter Kunst-, Genre- und Gattungsgrenzen auf der Basis einer sich in der kritischen Reflexion begründenden Emanzipation gegenüber den konventionellen Rahmungen, die dabei nicht gänzlich negiert, sondern zur Wahrnehmung gebracht und dekonstruiert, de- und re-kontexualisiert und auf diese Weise ausgespielt werden. Das Readymade wirft folglich grundlegend die Frage auf, was unter welchen Bedingungen Kunst als Kunst ausmacht, was als Kunst gilt und wodurch das bestimmt wird. Es stellt damit auch die Frage nach der Geschichte, der Sozialität



249 250

251 252

253 254

Zur Funktion des Zeigens der Krankheit – und im übertragenden Sinn der Wunde – sowie zur Analogie zu Beuys Umgang mit Krankheit siehe Kapitel II, »Wer seine Wunde zeigt, wird geheilt«. Siehe hierzu ausführlich Kapitel IV, »Mea Culpa«. Danto, Arthur, Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1984. Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst, a.  a. O., S.  122. Földényi, László F., »Das zwiespältige Erbe der Romantik«, in: Klinger / Müller-Funk, Das Jahrhundert der Avantgarden, a.  a. O., S.  53 ‒  62, S.  55. Ebenda. Ebenda. Siehe hierzu Wolfgang, »Kunst / Künste / System der Künste«, a.  a. O.

I. Im Zeichen der Avantgarden

und Normativität von Kunst und bildet zugleich ihre selbstreflexive Geste par excellence. Mit der Einführung des Readymades in die Kunst in den 1910er Jahren durch Marcel Duchamp wird eine Zäsur in der Geschichte der modernen Kunst etabliert, »nach der die Kunst »jetzt immer aufs Neue eine Bestimmung dessen, was Kunst ist, und damit eine Infragestellung von Kunst, von dem, was bis dato als Kunst gilt bzw. galt« 255 darstelle, so formuliert es Martin Damus. »Insofern ist bzw. wird das Ready-made, das als Nicht-Kunst in das ›System‹ Kunst eingebracht worden war, innerhalb desselben zu Kunst. […] »Alles kann – innerhalb des Systems ›Kunst‹ – Kunst werden«, als »Ausweitung des Bereichs Kunst« 256, so Damus weiter. In diesem Zusammenhang bewirkt die Inszenierung existenzieller Erfahrungen, im Konkreten: persönlicher Krankheits- und Sterbeerfahrungen, das Zur-Wahrnehmung-Bringen der Frage nach der Kunst selbst, danach, was in den Bereich der Kunst gehört und was davon abgegrenzt ist. Die Irritation, die durch die Inszenierung von Krankheit auf der Bühne ausgelöst wird, indem etwa die Röntgenbilder aus dem Feld der Medizin nun in dem der Kunst erscheinen, verweist auf eine Grundfunktion der Kunst: das Stören alltäglicher sozialer Ordnungen und Funktionen. Zugleich veranschaulicht sich hier das Prinzip des Readymades, das durch eine De- und Rekontextualisierung die uns die vertrauten Gebrauchsgegenstände, Phänomene, Zusammenhänge, Platzierungen und Ordnungen des Alltaglebens als anders Gewordenes erscheinen und uns fremd werden lässt. So schreibt Juliane Rebentisch in ihren Ausführungen zum Readymade: »Es sind solche Eingriffe oder Verrückungen, die für die ästhetische Erfahrbarkeit der Gebrauchsgegenstände entscheidend sind. Durch solche Eingriffe nämlich werden sie sich selbst – ihrer Identität als Gebrauchsgegenstand – unähnlich : Sie werden zu Objekten der Interpretation, an denen jedes Element ihres sinnlichen Erscheinens, aber auch jedes Element ihrer Inszenierung potenziell bedeutsam wird.«257 Die künstlerischen Verfahren »der Verfremdung, der Dekontextualisierung, der spezifischen Markierung« im Umgang mit den Alltags- und Gebrauchsgegenständen zielten darauf, so Rebentisch weiter, »uns in ein verändertes Verhältnis zur Welt der Gebrauchsgegenstände zu setzten.« Kunst bewirke so, schreibt Rebentisch in Rekurs auf Stanley Cavell, den Eindruck der »Unheimlichkeit des Gewöhnlichen.«258 In dem Maße, »wie die Kunst an einer solchen Verrückung arbeitet«, so führt sie

255 256 257 258

Damus, »Ready-made«, a.  a. O., S.  277. Ebenda, S.  277. Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst, a.  a. O., S. 133. Ebenda, S. 133  f. Zitiert hier Cavell, Stanley, »Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen« , in: Ders., Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen und andere philosophisches Essays, Frankfurt a.  M.: Fischer, 2002, S.  76  ‒110.

129

130

Die Krankheit als Readymade

mit Cavell weiter aus, »provoziert sie die Erfahrung, dass die Welt genau dann entweicht, wenn man sich bemüht, sie sich gegenwärtig zu machen. Man hat zwar gemeint, sich der Welt durch die Sinne vergewissern zu können«, so Rebentisch weiter, aber, »und das ist die abgründige Erfahrung des Readymades, ›was den Sinnen gegenwärtig ist, ist nicht die Welt.‹« 259 Die »Tiefe« der Kunst sei nicht, wie Arthur Danto 260 in seiner kunsttheoretischen Beschäftigung mit dem Readymade konstatiert, jene einer »nachzuvollziehenden künstlerischen Metapher, die der sinnhaft erschlossenen Welt einen weiteren, besonders originellen Sinn hinzufügt«, sondern sie sei vielmehr, so Rebentisch, »die Tiefe des Abgrunds, in den wir blicken, wenn uns die Automatismen unseres Verstehens, die Automatismen unserer gewöhnlichen Welthabe entzogen sind.« 261 Diesen Entzug oder Verlusts des Gewöhnlichen und Vertrauten, sein Fremdwerden evoziere das Readymade, also die Rekontextualisierung des Gewöhnlichen, Außerkünstlerischen in der und durch die Kunst. »Durch eine solche Erfahrung [ der Entfremdung und des Verlust des Gewöhnlichen, Vertrauten, der Sinnlichen Gewissheit und des alltäglichen Urteilens, S.  R. ] hindurchgegangen, vermag das Gewöhnliche durchaus wiederzukehren, allerdings nicht als Zustand der Gewissheit, sondern als ein Gewöhnliches, das sich seine eigene Kontingenz und Fragilität, kurz : seine Außergewöhnlichkeit eingestehen muss.« 262 Damit erscheine das Gewöhnliche nun im Readymade »als das Produkt einer prinzipiell veränderlichen Praxis.« 263 Wenn Schlingensief seine Krankheit im Rahmen seiner künstlerischen Praxis ( auch) als Readymade behandelt – was sich etwa in den Röntgenbildern der Lunge als Emblem der Aufführung versinnbildlicht –  , lässt er die Gewissheiten und die alltäglichen Strukturen und Praktiken im Umgang mit der Krankheit, mit Krebs, mit dem Tod, aber auch mit dem Leben, mit der Existenz als fragwürdig und fragil in ihrer Gewissheit und Beständigkeit erscheinen. Hierin wiederum wird die Möglichkeit der alternierenden Bezugnahme und des Umgangs mit Krankheit, Leben und Sterben freigelegt.264 Die Röntgenbilder der krebsbefallenen, kranken und halb amputierten Lunge kehren in der Aufführung nicht mehr als evidente Visualisierungen des ( Inneren des ) Körpers zurück, sondern verunsichern die medizinische Evidenz und überführen sie in eine unheimlich anmutende Poetik und Polyvalenz. Was so vorstellbar, erfahrbar wird: Der Umgang und Begriff von

259

260 261 262 263 264

Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst, a.  a. O., S. 134. Zitiert hier erneut Cavell, »Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen«, a.  a. O., S. 103. Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen, a.  a. O. Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst, a.  a. O., S. 134. Ebenda. Ebenda. Vgl. hierzu weiter Kapitel II.

I. Im Zeichen der Avantgarden

Krankheit, Leben und Sterben könnte immer auch ein anderer sein. Damit werden die biologischen und medizinischen Evidenzen als soziale Ontologien erschüttert. Im nächsten Kapitel zur Ethik der Theater-Aufführung ( II ) möchte ich nun zunächst diskutieren, wie Schlingensief entlang der Spezifika der Aufführungssituation auf dem Theater das Publikum in seine existenzielle Einlassung des Lebens und Sterbens konstitutiv involviert, ohne diese Involvierung auf dieselbe Weise explizit zu machen, wie dies in seinen früheren Arbeiten oft der Fall war. Hierin entfaltet sich, so möchte ich es zeigen, eine grundlegende ethische Dimension seiner öffentlichen Auseinandersetzung mit Leben und Sterben, die für einen ethischen Grundgedanken seiner Kunst insgesamt geltend zu machen und dabei nicht loszulösen ist von der Ästhetik, in der er sich ereignet.

131

II. Die Ethik der Theater -Aufführung

»[S]eine Theaterarbeit ist immer mehr in diese Richtung gegangen, in Richtung von etwas Prozessualem, das im Fortgang etwas entstehen läßt, das sich zwar immer auf dem Theater realisieren ließ, aber nicht Theater war, sondern etwas anderes«1, schreibt Elfriede Jelinek in ihrem Versuch, die Theaterarbeit Christoph Schlingensiefs, insbesondere seine späten Arbeiten, auf den Begriff zu bringen. Dabei berührt sie mit ihrer scheinbaren Verfehlung des Zu-Benennenden als Noch-nicht-Benanntes und Noch-zu-Benennendes einen Punkt, der für diesen Untersuchungszusammenhang wesentlich ist. Es handelt sich um den konstitutiven Bezug der Arbeiten zur Situation der Aufführung sowie die häufige Gebundenheit solcher Aufführungssituationen an die Institution und das Dispositiv 2 des Theaters. Nahezu alle der in dieser Untersuchung diskutierten Beispiele ereignen sich als Aufführungen auf dem Theater, auf der Theaterbühne, in Theatersälen und werden durch Institutionen des Theaters initiiert, getragen und finanziert. Gleichwohl werden sie in dieser Untersuchung neben dem Theater in ihren Relationen zu Begriffen und Praktiken des Films, der Oper, der bildenden Kunst und der Installation analysiert und diskutiert. Denn es ist zu fragen – und Schlingensief wirft in seinen Arbeiten diese Frage selbst auf  –  , ob der Umstand, dass die Arbeiten sich maßgeblich im Theater ereignen, automatisch bedeutet, dass sie Theater sind. Und wenn ja, so soll und muss weiter gefragt werden, mit was für einem Theater werden wir in der Kunst Christoph Schlingensiefs konfrontiert ? Und wie bringt es die jeweiligen anderen künstlerischen Praktiken diesseits und jenseits des

1

2

Jelinek, Elfriede, »Assistent des Verschwindens«, in: Theater der Zeit (10), 2010, S. 13  ‒15, S. 13. Siehe zur Theateraufführung als Dispositiv: Warstat, Krise und Heilung, a.  a. O., S.  25 und Eiermann, Postspektakuläres Theater, a.  a. O.

134

Die Ethik der Theater - Aufführung

Theaters ins Spiel, auf die es sich wesentlich beruft ? Dass die Arbeiten dabei mit keinem bestehenden Begriff des Theaters mehr zu fassen sind, hat, so meine These, mit ihrem einmaligen Grad an künstlerischer und intermedialer Differenzierung zu tun, mit ihrem versierten Spiel mit dem jeweiligen ästhetischen Material, auf das sie sich beziehen. Hierin begründet sich auch ihr von Seeßlen konstatiertes nomadisches Vermögen, aufgrund dessen sie durch die unterschiedlichen künstlerischen Felder und Institutionen ziehen können, sich hier immer wieder neu und anders realisieren lassen und dabei zugleich in Kontinuität an das Vorangegangene anschließen.3 Einerseits ereignen sich und kommunizieren die Arbeiten stets ortsspezifisch, und andererseits sind sie aufgrund ihrer strukturellen Intermedialität außerordentlich flexibel. In ihrer anti-homogenen Serialität entsteht eine Arbeit aus der anderen: Versatzstücke, Themen, Formen, Motive und Akteure zirkulieren zwischen ihnen, tauchen auf und verschwinden wieder, werden in neue Kontexte und Konstellationen eingerückt und recycelt, erneuert, verworfen sowie angesichts der jeweiligen Gegenwärtigkeit der je neuen Arbeiten und ihrer Aufführungen und Realisierungen aktualisiert und adaptiert. So geistert etwa Schlingensiefs Bayreuther Parsifal-Inszenierung auf immer unterschiedliche Weise, in anderen Formen, Motiven und Konstellationen, durch nahezu alle nachfolgenden Arbeiten, wird zur Installation, zum Theater und Musiktheater, zum Oratorium oder zum Readymade. Dies erfolgt auf der Grundlage intermedialer Gefüge, welche in der Arbeit selbst bereits potenziell angelegt sind und dann andernorts erweitert realisiert werden ( können). Ihre Genealogien lassen die unterschiedlichen Arbeiten in sich selbst reflexiv werden und markieren sie als ästhetische Produktivkraft. Nicht nur immanent ästhetische Motive beeinflussen diese Entwicklung und treiben sie voran, sondern auch praktische und institutionelle, so die Auftragslage, die Personen und Institutionen, die Schlingensief um eine Arbeit in ihren Räumen und Kontexten bitten. Von Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir, über Der Zwischenstand der Dinge, zur »ReadyMadeOper« Mea Culpa und Via Intolleranza II werden diese Arbeiten primär auf dem und für das Theater entwickelt und ereignen sich hier in Aufführungen. Ihre Entstehung und Realisierung scheint an diesen ästhetischen sowie institutionellen Rahmen gebunden und schließlich doch von ihm loslösbar. Auf Gastspielen wie in Amsterdam4 oder München5 können die Arbeiten prob-

3

4

5

Siehe Seeßlen, »Radikale Kunst«, a.  a. O. und weiter hierzu vgl. Einleitung »Negative Gattungsästhetik«. Hier war Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir vom 5. bis 8. Juni 2009 auf Gastspiel, in der Westergasfabriek Zuiveringshal West in Amsterdam, im Rahmen des Holland Festivals. Mea Culpa in der Bayrischen Staatsoper am 13. und 14. September 2009.

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

lemlos in die Opernhäuser ziehen und dort aufgeführt werden, zumal sie ohnehin auch als Musiktheater, als Oratorien und mit strukturellem Bezug zur Oper angelegt sind und dabei ebenso als filmische und installative Arbeiten funktionieren. Sie sind als inter- und transmediale Arbeiten angelegt und konzipiert, weshalb sie andernorts durch bestimmte kuratorische und organisatorische Verschiebungen und Einrichtungen modifiziert als Opern, Installationen oder filmische Arbeiten variiert werden können. Wie ein Reptil können sie ihre alte Haut, ihre äußere Gestalt und Rahmenbedingungen abstreifen, um in einer neuen Gestalt zu erscheinen, ohne dabei ihre Grundstruktur zu verlieren, vielmehr lediglich einen Schwerpunkt verschiebend, einen ihrer unterschiedlichen, ihnen zugrundeliegenden Stränge akzentuierend. Diese formalen Transformationen werden durch das spezifisch gestaltete Zusammenwirken der unterschiedlichen künstlerischen Praktiken und Medien ermöglicht, bei dem diese nicht unter eine bestimmte darstellerische bzw. gestalterische Ordnung untergeordnet werden und ihr in diesem Sinne dienen, sondern vielmehr entlang ihrer jeweiligen Eigenlogiken und -dynamiken ausdifferenziert werden. In ihrer wechselseitigen Widersprüchlichkeit, ihren dialektischen Reibungen und in der hierbei entstehenden Heterogenität formieren sie sich, so möchte ich behaupten, zu einem ästhetischen Analogon der Existenz. An dieser Stelle lohnt der Bezug auf das vorangestellte Zitat Jelineks, wonach es offenbar das Theater ist, von dem aus ein solch auffällig vielschichtiges und ausdifferenziertes und dabei immer wieder auch dialektisches Zusammenwirken der Künste entfaltet werden kann, aufgrund dessen sie es nicht mehr auf einen Theaterbzw. Kunstbegriff zu bringen vermag. Jelinek differenziert hier nicht die einzelnen Arbeiten, wenn sie über die letzte Entwicklung seiner »Theaterarbeit« spricht und damit das Spätwerk im Blick hat, sondern sie fasst diese Arbeiten zusammen und beobachtet hierin eine bestimmte Tendenz, die so nur auf dem Theater entstehen konnte und zugleich von ihm wegzuführen schien. Diesen Weg möchte ich im Folgenden nachzeichnen und die Arbeiten auch entsprechend zusammenhängend begreifen. Dabei möchte ich untersuchen, warum es ausgerechnet das Theater ist, auf dem diese Werkentwicklung möglich war, und ob und inwiefern sie nicht mehr mit bestehenden Theaterbegriffen zu fassen ist. Und schließlich möchte ich in den späteren Kapiteln zeigen, wie dieser Weg tatsächlich vom Theater wegführt bzw. in einem Theater mündet, das in struktureller Anlehnung an die bildenden Künste das Nach- und Überleben der Kunst selbst verhandelt. Bereits mit Beginn seiner künstlerischen Arbeit scheint Schlingensief eine solche interkünstlerische Strategie zu verfolgen und die Relationen, Verbindungen, Wechselwirkungen und Analogien zwischen den verschiedenen Künsten auszuloten, wenn er Film, Fernsehen, Experimentalfilm und Theater schon in seinen ersten Filmen ineinander verwebt, das Theater zunächst einmal aufgrund seiner Live-Situation als Ort der Aushandlung und Kommunikation auch in seinem

135

136

Die Ethik der Theater - Aufführung

mannigfaltigen politischen Potenzial ausprobiert,6 es aber auch als Kunst- und theatralen Kinoraum erprobt, ohne dabei die Möglichkeiten der Repräsentation und des Spiels mit mannigfaltigen Modi von An- und Abwesenheit aufgrund der im Theater sedimentierten künstlerischen Praktiken und Wahrnehmungsweisen aus den Augen zu verlieren. So führt der Weg von Schlingensiefs Arbeiten aus dem Theater heraus 7 und immer wieder in es hinein; Theater kann auf der Straße stattfinden, Aktion und Partei werden, über es hinausgehen und es ausweiten, die Oper kann eine Rallye 8 oder eine Geisterbahn9 sein, der Film eine Installation10 und so fort. Die unterschiedlichen Gestaltungs- und Wahrnehmungsparadigmen des Films, des Theaters, der Oper, der Musik, der Fotografie, der bildenden Kunst und Installation werden in Bewegung versetzt, flexibilisiert, aufeinander geöffnet, übertragen und ineinander verwoben, um solche des Fernsehens, der Politik, der Massenkommunikation bespielen, reflektieren, stören, kritisieren und erweitern zu können. Der Bezug zum Theater erscheint aber immer wieder zentral und die Begründung hierfür ist, wie ich meine, auf verschiedenen Ebenen anzusiedeln. Zum einen hat es mit der Geschichte des Theaters im 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum zu tun und zum anderen mit der intermedialen Verfasstheit und der Gebundenheit an die Aufführungssituation und leibliche KoPräsenz von Akteur *innen und Zuschauer *innen. Auf dieser Grundlage ereignet sich auch die hier im Fokus stehende künstlerische Auseinandersetzung mit den lebensbedrohlichen Krankheitserfahrungen, mit Leben und Sterben, mit der Existenz in Aufführungen auf dem Theater, die sich, wie Jelinek es umschreibt, »zwar

6

7

8

9 10

Z.  B. 100 Jahre CDU – Spiel ohne Grenzen (1993 ), Kühnen  ’94 Bring mir den Kopf von Adolph Hitler, Rocky Dutschke,  ’68 (1996  ) alle an der Volksbühne am Rosa-LuxemburgPlatz Berlin. Aber auch seine Theater-  /Aktionen dort (und anderswo) wie Volles Karacho Rohr – Erste große sozialistische Butterfahrt (1995 ), Zweites Surrealistisches Manifest von André Breton (1996  ), Schlacht um Europa – Ufokrise ’97: Raumpatrouille Schlingensief   (1997  ). Die Bahnhofmission Passion Impossible – 7 Tage Notruf für Deutschland stellt Schlingensiefs erstes dezidiertes Verlassen des Theaterraumes dar, auf das zahlreiche weitere folgen, grundlegend etwa in der Langzeitaktion Chance 2000, die allerdings ihren Ausgang auch im Theater in der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz genommen hat. Es empfiehlt sich hierzu seine Reflexionen und Begründungen für diese ethisch-ästhetischen Entscheidungen und Wege nachzulesen in: Schlingensief, Christoph, »Wir sind zwar nicht gut, aber wir sind da«, aufgezeichnetes Gespräch mit Julia Lochte und Wilfried Schulz, in: Lochte / Schulz ( Hg.), Schlingensief   ! Notruf für Deutschland, a.  a. O., S. 12  ‒  39. So etwa in Schlingensiefs Wagner-Rallye im Rahmen der Ruhrfestspiele in Recklinghausen 2004. In Trem-Fantasma – Erster Prototyp einer Operngeisterbahn Sao Paulo 22. 11. ‒   03. 12. 2007. Etwa die Animatographen ( 2005  ‒ 2006  ).

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

immer auf dem Theater realisieren ließ[en]«, aber dabei nicht mehr mit tradierten Begriffen des Theaters zu fassen sind. Das Theater ist eine grundlegend intermediale Kunstform, die sich im Zusammenspiel unterschiedlicher Medien ( Text, Raum, Körper, Sprache, Klang, Bühnenbild, Video, Film, Fernsehen ) ereignet. So schreibt Erika Fischer-Lichte : »Da Theater in diesem Sinne eine ›Interart‹ darstellt, muss Theaterwissenschaft entsprechend als eine ›Interdisziplin‹ betrieben werden«11, was das Unternehmen dieser Untersuchung der Kunst Christoph Schlingensiefs ist, die vielleicht wie keine zweite Gegenwartskunst eine ›Interart‹ ist und dabei, wie es in diesem Kapitel dargelegt werden soll, zugleich auf spezifische Weise an die ›Interart‹ Theater rückgekoppelt ist. Die grundlegende Intermedialität des Theaters legt allerdings nicht fest, wie die in ihm verwendeten Medien zum Einsatz kommen, welche Funktionen sie erfüllen oder ob überhaupt zwischen ihren medialen, ihren institutionellen, gattungsspezifischen, geschichtlichen und ästhetischen Dimensionen in der jeweiligen Bezugnahme differenziert wird. Die Art und Weise ihres Einsatzes, ihrer Gebrauchsweise, ihrer Erfahrbarmachung und ihrer Anordnung hängt von den jeweiligen Theaterpraktiken ab, die sie zum Erscheinen und Erklingen bringen, die sie verwenden und einsetzen. Häufig sind ihre Anordnung und Funktion durch ein bestimmtes normatives Konzept oder Dispositiv von Theater bestimmt.12  Schlingensief kann sich in seiner Arbeit der grundlegenden Intermedialität des Theaters bedienen und sie gleichzeitig, indem er sie reflektiert, experimentell einsetzt und so produktiv fortschreibt. Derart stellt er die tradierten intermedialen Relationen auf dem Theater in Frage, ver-rückt sie buchstäblich und lässt damit die Frage nach der Grenze und Eingrenzung von Medien, Gattungen und Künsten zentral werden. Damit knüpft er wiederum an Projekte der historischen Theateravantgarden, der Neoavantgarden sowie generell des postdramatischen Theaters an, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in einer je anderen gesellschaftlichen und kunstgeschichtlichen Situationen sowie mit je verschiedenen Absichten ein postdramatisches Projekt verfolgen, indem sie die einzelnen Elemente und Medien des Theaters neuordnen, sie von der hierarchischen Ordnung des dramatischen Theaters und der Subsumierung und Fixierung der Elemente unter das Drama emanzipieren und, zumindest potenziell, als egalitär begreifen sowie überhaupt die Vielfalt ihrer Spezifika und Potenzialitäten erforschen und bespielen.13

11

12

13

Fischer-Lichte, Erika, Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die Grundlagen des Faches, Tübingen: Francke, 2010, S.  202  f. Siehe Fischer-Lichte, Erika, Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen / Basel: Francke, 1999. Sowie Lehmann, Postdramatisches Theater, a.  a. O., S.  13  ‒113. Siehe Fischer-Lichte, ebenda sowie Ästhetik des Performativen, a.  a. O.; Lehmann, Postdramatisches Theater, S.  13  ‒113.

137

138

Die Ethik der Theater - Aufführung

Eine mit Blick auf die Auseinandersetzung mit Leben und Sterben im Spätwerk relevante Kontinuität in Schlingensiefs Theaterarbeit ist die grundlegende Anwesenheit von seiner Person in nahezu allen seiner vorangegangenen Theaterarbeiten. Die Aufführungssituation auf dem Theater und die ihr gegenüber anderen Künsten wie dem Film spezifischen Möglichkeiten der Liveness, der Kommunikation und formalen Offenheit vermag er offenbar erst dann so richtig produktiv zu machen, wenn er leibhaftig Teil der Aufführungen wird. Damit verlässt Schlingensief die tradierte Regisseurposition jenseits der Bühne und schließt an aktionistische Formate und Performancekonstellationen an, in denen die Künstler *innen selbst leibhaftig Teil der Arbeiten sind, was wiederum eine Verbindung zu Neoavantgarden der 60er und 70er Jahre darstellt, die diese Kunstformen begründen. Zugleich kreuzt Schlingensief diese Traditionen durch die Repräsentationsweisen und Anordnungen, welche der Theatersituation eingeschrieben sind. Dass seine leibhaftige Anwesenheit in den Aufführungen mit dem Beginn seiner Theaterarbeit zusammenfällt, belegt eine Anekdote Matthias Lilienthals, der Schlingensief eingeladen hatte, an der Volksbühne zu inszenieren. Lilienthal zufolge habe er nach eher mäßig verlaufenden ersten Aufführungen und schlechten Kritiken von 100 Jahre CDU. Spiel ohne Grenzen Schlingensief ermuntert, er solle doch selber mal mit auf die Bühne gehen. Dieser Aufforderung nachkommend, habe Schlingensief »zunächst nur eine Vorrede gehalten; eine Aufführung später ging er rein, ließ das Licht löschen, ein Song wurde eingespielt, und er hat vom Tod seines Onkels gesprochen und dass er so verzweifelt sei, dass er sich jetzt einen Schuss setzen müsse. Über diese private, kleinbürgerliche Familiengeschichte und seine Verzweiflung, mit der er die Leute in seinen Bann gezogen hat, wurde alles vorher und nachher beglaubigt. In der Sekunde wurde Schlingensief für das Theater geboren.«14  Die Geburt von Schlingensiefs Theaterarbeit und deren spezifischer Ästhetik entsteht diesem Mythos zufolge aus dem Geist der situativen Selbstinszenierung , der Anwesenheit und Aktion Christoph Schlingensiefs in seinen Arbeiten, in den Aufführungen selbst.15  In dieser von Lilienthal als Schlüsselszene herausgehobenen Sequenz wird

14

15

Lilienthal, Matthias, »Achtzig Prozent Eigendynamik. Matthias Lilienthal im Gespräch mit Franz Wille«, in: Gaensheimer ( Hg.), Christoph Schlingensief. Deutscher Pavillon 2011, a.  a. O., S.  259  ‒265, S.  260. Sandra Umathum beschreibt die selbe Szene wie folgt: »Er trank sich Mut an, stürmte auf die Bühne, rammte sich eine Spritze in das Blutpolster unter seinem Hemd, zerbiss eine Blutkapsel und schrie: ›Macht das Licht aus!‹ Danach rief er ins Publikum: ›Ich bin der Apothekersohn aus Oberhausen, da habt ihr mich! Ihr habt es ja gewollt.‹ Schlingensief sah garstig aus. Von oben bis unten mit Theaterblut verschmiert, begann er unter Tränen von der Todesstunde seiner Großmutter erzählen. Im Auditorium wurde es still. Sein Auftritt hatte offenkundig für Betroffenheit und Verwirrung gesorgt.« Umathum, Sandra,

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

Schlingensief als öffnender, Spannung generierender Fixpunkt seiner Arbeit(en) dargestellt, der bestimmte Wirkungen und Intensitäten auszulösen vermag und verschiedene Transgressionen initiiert. Durch seine Anwesenheit und Aktion in der Aufführung , durch seine Kommunikation mit dem Publikum und den Einsatz seiner Biografie in dem übrigen inszenatorischen Kontext, der dabei keineswegs auf den szenischen Rest abgestimmt sein muss, entwickelt sich nach Lilienthal erst die inhaltliche wie formale Sinnstruktur der Arbeit, durch die sie »beglaubigt« wird. Das familiale autobiografische Narrativ und dessen pathologische Vorzeichen werden, wie das erste Kapitel ( I ) bereits gezeigt hat, in Schlingensiefs Arbeiten der nachfolgenden 15 Jahre in immer anderen Episoden re-inszeniert, ausagiert und in diesem Rahmen auch ›therapiert‹. Insofern ist die Inszenierung und künstlerische Auseinandersetzung mit seinen lebensbedrohenden Krankheitserfahrungen und seinem Sterben im Spätwerk meines Erachtens in dieser werkgeschichtlichen Kontinuität zu begreifen. Nach Lehmann teilt das Theater seit den 1970er Jahren den »Hang zu Selbstreflexion und Selbstthematisierung« der anderen »Künste der ( Post-)Moderne«16. So reflektiert die Theaterpraxis zunehmend die eigenen medialen Bedingungen, die »Materialität [ihrer] Kommunikation«17. Fischer-Lichte und Lehmann stellen beide an unterschiedlicher Stelle fest, dass die besondere Medialität des Theaters in der Gleichzeitigkeit und Gleichortigkeit von Produktion und Rezeption, in der »gemeinsam verbrauchte[n] Lebenszeit«18 von Akteur *innen und Publikum liege.19 Aus dieser medialen Grundanordnung ergebe sich, so Fischer-Lichte weiter, die Möglichkeit, eines sich während der Aufführung vollziehenden Feedbacks des Publikums gegenüber dem Bühnengeschehen, worauf wiederum, zumindest in Nuancen, die Akteur *innen reagierten. Aus dieser Wechselwirkung heraus entstünden

16 17 18 19

»Theater der Selbstbefragung : Rocky Dutschke, ’68 oder die Kinder der Revolution«, in: Gaensheimer ( Hg.), Christoph Schlingensief. Deutscher Pavillon 2011, a.  a. O., S.  341‒ 348, S.  342. Die verschiedenen Schilderungen verweisen darauf, dass es sich wahrscheinlich um zwei unterschiedliche Aufführungen handelt, auf die sich beide jeweils beziehen. Sie deuten auch darauf hin, dass Schlingensief die Geschichte von Aufführung zu Aufführung variiert hat und dabei der genaue Inhalt weniger wichtig war als seine leibhaftige und persönliche, autobiografische Einbindung in das Aufführungsereignis. Sie ist es, die für beide die Spezifik sowie den qualitativen Shift in Schlingensiefs Bühnenarbeiten aus werkgeschichtlicher Sicht ausmacht. Ebenda, S.  13. Lehmann, Postdramatisches Theater, a.  a. O., S. 12. Ebenda, S. 12. Herv. i. O. Siehe auch Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, a.  a. O., S.  58.

139

140

Die Ethik der Theater - Aufführung

unvorhersehbare Synergien, Vorgänge und Ereignisse.20 Schlingensief nun nutzt diese spezifische Kommunikationssituation des Theaters, hatte er ja im Film bereits zuvor den Versuch unternommen, durch die Kamera und Leinwand hindurch auch in der gesteigerten Expressivität wie Referenzialität möglichst so direkt und in scheinbar paradoxer Weise unmittelbar mit dem Publikum zu kommunizieren. Georg Seeßlen beobachtet in seiner Analyse des Verhältnisses von Film und Theater in Schlingensiefs Arbeit einen bestimmten Freiheitsgrad, den ihm das Theater gegenüber dem Film offeriert, ein höheres transgressives Potenzial, das eine intensivere, direktere Beziehung zwischen dem Geschehen auf der Bühne, den Akteur *innen und dem Publikum ermöglicht. »So wie es Theatermacher gibt, denen die Bühne zu klein, das Potential der Illusionen und Desillusionierungen zu gering wird und die unbedingt zum Film gelangen müssen, so ist Schlingensief ein Filmemacher, dem das Kino von Anfang an zu kalt und distanziert ist, der, bewusst oder unbewusst, zur direkten Konfrontation, zum Theater und zur Performance strebt« 21, konstatiert Seeßlen. »Und«, so Seeßlen weiter, »auch das, was man nun schon als ›Provokation‹ kanonisiert hat, funktioniert im Film anders als beim Theater. Man kann in einem Film eimerweise Blut verschütten, in Eingeweiden wühlen und Mensch und Tier massakrieren, und das Ganze wird allenfalls dazu führen, dass ein paar Zuschauer kurz die Augen schließen. Wenn Schlingensief seine Helden auf dem Theater (  bei Kühnen  ’94     ) über eine Katze herfallen läßt, treibt er wirklich noch Besucher zum Ausgang, die glauben, einiges gewöhnt zu sein.« 22 Diese Differenz der Wahrnehmung und Reaktion seitens des Publikums liege darin begründet, so Seeßlen weiter, dass die »Grenze zwischen der Leinwand und dem Kinosaal nicht zu durchbrechen« sei; deswegen ließen »wir uns vom Kino ja auch beinahe alles gefallen. Schlingensief aber«, hält er fest »benötigt das Überschreiten dieser Grenzen.« 23   Schlingensiefs heterogene Theaterpraxis ist von Beginn an eine experimentelle Praxis, mit der er die medialen Möglichkeiten und Grenzen des Theaterraumes auf unterschiedliche Weisen auslotet und ausweitet und ihn zumindest temporär auch immer wieder verlässt. Er hinterfragt so auf künstlerische Weise die Konventionen des Theaters sowie dessen institutionelle, soziale und kulturgeschichtliche Bedingungen, und zwar unter der expliziten Bezugnahme auf zahlreiche avantgardistische und neoavantgardistische Referenzen, die

20

21

22 23

Das Phänomen dieser Interrelation bezeichnet Fischer-Lichte als »autopoietische Feedbackschleife«. Vgl. ebenda, S.  59  ff. Seeßlen, Georg, »Über die Filme, das Theater und die Talkshow«, http://www.schlingensief. com/bio_seesslen.php, [ 19. 12. 2018 ]. Auch erschienen in Lochte / Schulz ( Hg.), Schlingensief   ! Notruf für Deutschland, a.  a. O. Ebenda. Ebenda.

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

allesamt kunstgeschichtliche sowie sozialhistorische Schauplätze der Ausweitung der Genre- und Gattungsgrenzen, des Bruchs mit Traditionen und Konventionen als auch der generellen Ausweitung der Kunstzone markieren. Das alles ereignet sich in den 1990er Jahren an der von Frank Castorf geleiteten Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, jenem Theater, »auf dessen Dach mit leuchtenden Lettern die Aufschrift OST prangt« 24 und das »als eine der experimentierfreudigsten und innovativsten deutschsprachigen Bühnen« 25 galt. Es geschieht zudem im Horizont der postdramatischen Wende, in der sich das Theater von seiner klassischen Form und Unterordnung unter den Dramentext emanzipiert und auf seine materiellen und medialen Grundeigenschaften reflektiert und mit ihnen spielt.26  Diese Entwicklungen sind dabei nicht ausschließlich als ›interne‹ künstlerische Entwicklungen zu begreifen, sondern als solche, die auch auf die Veränderungen ihrer Umwelt reagieren. Dies sind einerseits günstige und damit allseits verfügbare neue technische Möglichkeiten,27 andererseits aber vor allem auch der Zusammenbruch der kommunistischen Sowjetstaaten und, mit Blick auf Deutschland und insbesondere Berlin, das Ende der NachkriegsBRD, das Ende der DDR sowie das neue, ›vereinigte‹ Berlin. Im Horizont dieser Entwicklungen bringt sich Frank Castorfs Volksbühne künstlerisch in Position, und in diesem Kontext setzt Schlingensiefs Theaterarbeit ein, hatte er ohnehin bereits zuvor in den Filmen diese historische Gegenwart mit filmischen Mitteln malträtiert. In Postdramatisches Theater schreibt Hans-Thies Lehmann, was man im Zusammenhang mit Schlingensiefs Arbeiten unterstreichen muss : »Kunst und wie sehr erst Theater, das vielfältig in Gesellschaft eingelassen ist, […] steht im Feld realer sozio-symbolischer Praxis. Bleibt die geläufige Reduktion des Ästhetischen auf gesellschaftliche Positionen und Aussagen leer, so ist umgekehrt jede theaterästhetische Fragestellung blind, die in der künstlerischen Praxis des Theaters nicht die Reflexion gesellschaftlicher Wahrnehmungs- und Verhaltensnormen erkennt.«28 Das Theater ist zu Beginn der 1990er Jahre, als es Schlingensief empfängt, aus unterschiedlichen Gründen ein offener Raum, der die komplexen, widersprüchlichen und transmedialen Arbeiten Schlingensiefs aufnehmen, gar hervorbringen kann.

24 25 26 27

28

Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, a.  a. O., S.  79. Ebenda. Lehmann, Postdramatisches Theater, a.  a. O. Vgl. hierzu z.  B. Lehmann, ebenda, S.  22 ‒ 24. Lehmann begreift die gesamte Entwicklung der postdramatischen Wende des Theaters seit den 1970er Jahren vor dem Hintergrund neuer, fragmentierter, simultaner, heterogener, komplexerer und multidimensionaler Weltdarstellungen und -wahrnehmungen, wie sie durch die neuen Medien generiert werden. Vgl. Ebenda, S. 11‒  24. Ebenda, S. 16.

141

142

Die Ethik der Theater - Aufführung

In und mit dem Theater können sie sich weiterentwickeln und entfalten und dabei ihrerseits wiederum das Theater als Institution sowie als Kunst-Form und Praxis hinterfragen, herausfordern, überschreiten und ausweiten. Dass Schlingensief für die künstlerische Auseinandersetzung mit seinem Leben, seiner Krankheit und seinem näher rückenden Tod den Rahmen des Theaters wählt, erscheint exemplarisch für verschiedene Entwicklungen in Schlingensiefs Werk und hat mit dem entgrenzenden, antagonistischen und öffnenden Potenzial des Theaters zu tun, das er auf singuläre Weise in seiner Kunst freizusetzen und signifikant zu bespielen versteht. Wenn Schlingensief in den frühen Theaterarbeiten die Gleichzeitigkeit und Gleichortigkeit von Akteur *innen und Publikum und die damit verknüpften Kontingenzen und Öffnungen der Formen in den Vordergrund stellt und in die Aktionskunst überführt, so scheinen sie im Spätwerk deutlich in den Hintergrund zu rücken. Wie dies bereits im vorherigen Kapitel ( I ) anhand der Theatralität beleuchtet wurde, verschwinden sie aber nicht vollkommen aus dem Blick, sondern kommen diskreter, reflexiver und inhärenter zum Einsatz. Auch wenn ich an dieser Stelle in Aussicht stellen möchte, dass sich letztendlich in der Auseinandersetzung mit Leben und Sterben auch eine dezidierte symbolische Abwendung vom Publikum im Spätwerk beobachten lässt ( Kap. V  ), so möchte ich in diesem Kapitel nachfolgend erörtern, inwiefern eben doch die Spezifika der Aufführungssituation auf dem Theater und besonders die leibliche Ko-Präsenz und die gemeinsam verbrauchte Lebenszeit von Akteur *innen und Zuschauer *innen sowie deren konstitutive Anwesenheit für die Inszenierung von Leben, Krankheit und Sterben wesentlich gemacht werden und wie dabei ein existenzieller ethischer Grundzug qua einem ästhetischen Prinzip verhandelt wird. So geht es schließlich darum zu fragen, welche ethischen Dimensionen die Aufführungssituation auf dem Theater hier offeriert, wie Momente einer grundsätzlichen Intersubjektivität in der Aufführung in Erfahrung gebracht werden, welche Rolle die Krankheit dabei spielt, wie Krankheit gezeigt, was über sie zur Wahrnehmung gebracht wird und schließlich: wie wir uns in der Aufführung erfahren als miteinander verwoben, im Leben und auch wesentlich im Sterben, im scheinbar unendlichen Moment des Todes.

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

»das Theater als Ort der symbolisch-imaginären Aneignung der kollektiven Existenz« 29 Jean-Luc Nancy »Jeder ist bei-sich insofern und weil er bei-anderen ist. ›Wir‹ sind also zuerst die Miteinander: weder als versammelte Punkte noch als aufgeteiltes Zusammen, sondern als ein Mit-ein-ander-sein.« 30 Jean-Luc Nancy »Es ist im Grunde dieser Aspekt des gemeinsamen Zeitraums der Sterblichkeit mit seinen kommunikationstheoretischen und ethischen Implikationen, der am Ende als kategoriale Differenz zwischen Theater und Medien bestehen bleibt.« 31 Hans-Thies Lehmann

Wer seine Wunden zeigt, wird geheilt. Die Aufführung als Heilungsszenario Der von Joseph Beuys stammende, an das Evangelium angelehnte Satz »Wer seine Wunden zeigt, wird geheilt«32 dient dem Fluxus-Oratorium Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir als Leitsatz. Im Folgenden möchte ich untersuchen, inwiefern dieser Satz als paradigmatisch zu begreifen ist für die Inszenierung von Krankheit und Sterben im Fluxus-Oratorium sowie darüberhinausgehend in sämtlichen späten, um Leben und Tod kreisenden Arbeiten und inwiefern sich hier ein ethisches Prinzip im Umgang mit Krankheit, Versehrung und Verwundbarkeit ausdrückt, das für Schlingensiefs Kunst zentral ist. Im Vordergrund steht dabei zunächst die Frage, welche Rolle die Spezifika der Aufführung auf dem Theater für diese ethische Dimension des Zeigens, der Inszenierung von Versehrung und grundsätzlicher von Verwundbarkeit spielen und wie auf ihrer Grundlage

29 30 31 32

Nancy, Jean-Luc, singulär plural sein, Berlin / Zürich : diaphanes, 2004, S. 113. Nancy, ebenda, S. 146. Lehmann, Postdramatisches Theater, a.  a. O., S.  410 Eine Auflistung vorangegangener Anspielungen, die aber nicht systematisch oder paradigmatisch werden, an dieses Beuys-Zitat in anderen Arbeiten Schlingensiefs findet sich in Mühlemann, Christoph Schlingensief und seine Auseinandersetzung mit Joseph Beuys, a.  a. O., S.  98  ff.

143

144

Die Aufführung als Heilungsszenario

bestimmte ethische Grundbedingungen der Existenz ästhetisch erfahrbar gemacht werden können. Schließlich steht dabei auch die Frage im Raum, welches transformatorische Potenzial der Kunst in dem oben zitierten Grundsatz an die Aufführungssituation gebunden wird.33 »Wer seine Wunden zeigt, wird geheilt« steht in großen weißen Blockbuchstaben, welche die bildliche Qualität der Schrift ausstellen, auf schwarzem Hintergrund, den ein länglicher Stoff, eine Art Fahne, bildet, die horizontal von der Decke hängt und so mitten über dem Publikumsraum schwebt. Sie rahmt dabei programmatisch den Blick auf die Bühne als Altarraum. Diese Inschrift ist das Erste, auf das der Blick des Publikums beim Betreten des Aufführungsraumes des Fluxus-Oratoriums gerichtet wird, und als solcher kündet und verkündet er bereits hier die ethisch-ästhetischen Parameter der Aufführung. In ihrem Verlauf wird er von den unterschiedlichen Akteur *innen auf der Bühne immer wieder aufgegriffen, szenisch zitiert und am Altar vorgetragen. Das Motiv der Wunde wird in unterschiedlichsten Formen und Variationen durchgespielt. Schlingensief markiert für die künstlerische Auseinandersetzung mit seinen persönlichen Krankheitserfahrungen, mit seiner Autobiografie, der konkreten Bedrohung seines Lebens und der Angst vor dem Tod dieses Motiv des Wunde-Zeigens als Möglichkeit der Heilung. Alles, was sich im Verlauf der Aufführung ereignen wird, wird damit als Akte und Ereignisse des Wunde-Zeigens lesbar: die Auftritte, Spielhandlungen, die filmischen und fotografischen Bilder, die Röntgenbilder, die Kindheitsbilder, die Bühnenraumbilder, die umfassende Raumgestaltung, die von Schlingensief selbst eingesprochene und als Tonbandaufnahme wieder eingespielte Diagnose. Folglich wird die Wunde selbst als einheitliche Gestalt nicht erkennbar. Sie nimmt vielmehr multiple Gestalten an – Bilder, Texte, Klänge, Räume, Personen werden zu Motiven der Wunde, der Krankheit und Versehrung und verlieren sich in dieser Symbolik wieder, werden fragmentarisch, polyvalent und selbstreferenziell.34 Das Motiv des Wunde-Zeigen wird hier auch zu einer allgemeinen Chiffre des expliziten und offenen und schließlich des künstlerischen Umgangs mit Krankheit, Schwäche, Verletzbarkeit und Scheitern, der persönlichen Behinderung und des eigenen Unvermögens. Es scheint nun an dieser Stelle sinnvoll, zunächst einen kurzen Blick auf die symbolischen Implikationen der Wunde zu werfen, um ihren paradigmatischen Einsatzpunkt im »Fluxus-Oratorium« und in der Einlassung von Leben und Sterben in Schlingensiefs Spätwerk besser begreiflich zu machen. So markiert die Wunde eine akute Versehrtheit des Körpers. In ihrem Akut-Sein fordert sie Behandlung

33

34

Siehe zur Geschichte und Theorie der Beziehung von Theater, Krise und Heilung : Warstat, Krise und Heilung, a.  a. O. Siehe hierzu weiter Kapitel I, »Die Krankheit als Readymade«.

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

und Zuwendung der Anderen, der sozialen Umwelt gegenüber dem oder der Bebzw. Getroffenen ein. Die Wunde ist eine körperliche Öffnung, eine Stelle fehlender Haut und offenen Fleisches. Diese Öffnung bedarf der Behandlung durch die Hand eines Dritten sowie durch Materialien, Waschungen, Salben. Ihre Heilung und Schließung vollzieht sich im Lauf der Zeit ; ihr Heilungsverlauf hängt meistens von der Behandlung sowie von Faktoren wie Alter, Epoche (von der auch die Behandlung abhängt), übriger Gesundheitszustand des oder der Verwundeten ab. Meistens hinterlässt die Heilung der Wunde eine Narbe, die als Spur auf die Wunde, die anstelle der Narbe einmal gewesen war, verweist und an sie erinnert. In der christlichen Tradition symbolisiert die Wunde besonders das Leiden Christi am Kreuz, seine Verletzungen, die er durch die Nägel, mit denen er ans Kreuz genagelt wurde, erlitt. Sie fungiert so als Identifikationsmerkmal und Differenzkriterium des »auferstandenen Gottesmenschen.« 35 Im Johannesevangelium will der ungläubige Thomas erst glauben, dass es sich tatsächlich um den zuvor gekreuzigten Jesus handelt, wenn er seine Wunde berührt hat.36 Dieses Motiv lässt Schlingensief in Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir insbesondere filmisch virulent werden, und es wird deshalb im folgenden Kapitel ( III ) zur Rolle und Funktion des Films in der Auseinandersetzung mit Leben und Sterben noch einmal gesondert der Analyse unterzogen.37 Als ethischer Imperativ und Versprechen, »Zeige Deine Wunde« und »Wer seine Wunden zeigt wird geheilt« stammen diese Zitate von Joseph Beuys,38 deren christliche Konnotation Beuys in das ethisch-ästhetische Programm seiner Kunst buchstäblich übersetzt hat und plastisch werden lässt. Nach einem Herzinfarkt 1975 hatte Beuys 1976 ein Environment unter dem Titel »Zeige Deine Wun-

35

36



37 38

Blume, Eugen, »zeige deine Wunde«, in: Blume, Eugen / Nichols, Catherine (Hg.), Beuys. Die Revolution sind wir, Katalog zur Ausstellung im Hamburger Bahnhof vom 03.  10. 2008  ‒ 25. 02. 2009, Göttingen: Steidl, 2008, S.  77. Eine weitere Bedeutung der Wunde ist in einem christlichen Kontext, den die Aufführung hier mit aufruft, auch die der Sünde, wie Kaspar Mühlemann erinnert. Heilung ist hier Vergebung. Siehe hierzu Mühlemann, Christoph Schlingensief und seine Auseinandersetzung mit Joseph Beuys, a.  a. O., S.  95  ff. 1. Joh.  1, 9  ‒10. Die auf Eine Kirche der Angst folgende Arbeit Mea Culpa greift diese Konnotation der Wunde als Schuld und der Heilung als Vergebung bereits im Titel auf und stellt thematisch stärker die Frage nach der ›Schuld‹ wie nach der Heilung in den Vordergrund. Mühlemann, Christoph Schlingensief und seine Auseinandersetzung mit Joseph Beuys, a.  a. O., S.  97. Siehe hierzu ausführlich Kapitel III, »Der ungläubige Thomas«. Joseph Beuys zitiert nach Ermen, Reinhard, Joseph Beuys, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2007, S.  76.

145

146

Die leibliche Ko-Präsenz

de« errichtet, wo er, wie Kaspar Mühlemann beschreibt, »je zwei Leichenbahren, Werkzeuge, Forken, Weckgläser, Lampenkästen, Zeitungen und Schultafeln (mit der Aufschrift ›Zeige deine Wunde‹)«39 aufstellte. Und Beuys selbst schreibt hierzu: »Zeige deine Wunde, weil man die Krankheit offenbaren muss, die man heilen will. Der Raum […] spricht von der Krankheit der Gesellschaft. […] Dann ist natürlich der traumatische Charakter angesprochen. Eine Wunde, die man zeigt, kann geheilt werden.«40 Aus werkgeschichtlicher Perspektive wird das Motiv der Wunde in Schlingensiefs Arbeit insbesondere durch die Bayreuther Inszenierung von Richard Wagners Parsifal ( 2004 ) maßgebend, die das Thema der offenen Wunde allein durch den heiligen Speer, »mit dem die Seite Jesu geöffnet wurde«41, aufgreift sowie symbolisch nur durch die im Laufe der Oper zu lernende Empathie-Fähigkeit und das Mitleid des Titelhelden geheilt werden kann.42 Auch in Wagners Oper wird anhand des Motivs der Wunde ein ästhetisches Szenario der wechselseitigen, existenziellen Abhängigkeit und des ethischen Ingemeinschaftseins verhandelt. All diese unterschiedlichen Implikationen des Motivs der Wunde führt Schlingensiefs Inszenierung in ihrer Arbeit am Motiv mit, ohne sie dabei auf einen Aspekt zu reduzieren oder darin zu erschöpfen. Das Zeigen der Wunde und die leibliche Ko-Präsenz des Publikums Indem der Akt des Zeigens der Wunde zum Leitmotiv der Aufführung erhoben wird, gerät damit auch die dafür konstitutive Präsenz des Publikums in den Fokus. Der Akt des Wunde-Zeigens schließt das Publikum grundlegend mit ein, insofern sich das Zeigen in einer dualen oder auch triadischen Struktur konstituiert, zwischen etwas, das sich jemandem zeigt, bzw. etwas, das von jemandem jemand anderem gezeigt wird. Derjenige, dem gezeigt wird, ist in dieser Konstellation das Publikum und der, der zeigt, ist Christoph Schlingensief. Es sind aber auch die Akteur *innen auf der Bühne, die in seinem – und dabei zugleich immer auch in ihrem eigenen Namen – agieren, und es sind zudem auch die ästhetischen Objekte und Erscheinungen selbst, die zugleich zeigen oder das Gezeigte sind oder auf es verweisen, indem sie die Wunde re-  / präsentieren. Der Akt des Zeigens, des

39

40 41

42

Mühlemann, Christoph Schlingensief und seine Auseinandersetzung mit Joseph Beuys, a.  a. O., S.  96. Beuys, Joseph zitiert nach Mühlemann, ebenda, S.  96. Fath, Wolf, »Parsifal«, in: Reclams Opernführer, Stuttgart: Reclam, 2002, S.  327 ‒  332, S.  327. Siehe ebenda, S.  327 ‒  332.

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

Wunde-Zeigens bedarf konstitutiv einer Rezipient*in bzw. eines Publikums, so wie die Aufführung nach Fischer-Lichte per definitionem der leiblichen Ko-Präsenz von Akteur *innen und Zuschauer *innen bedarf. 43  Im Akt des Wunde-Zeigens und der in ihm begründeten Heilungsmöglichkeit wird das Publikum auf seine für das Aufführungsgeschehen konstitutive Rolle aufmerksam gemacht, weil das Zeigen eine notwendige wie existenzielle Relationalität impliziert. In dieser Konstellation offenbaren sich auch die vermeintlich bloße rezeptive Anwesenheit des Publikums als aktive Teilnahme an dem Aufführungsgeschehen sowie die hierin immanente Oszillation der Rolle von Akteur *innen und Zuschauer *innen.44 Indem die spezifischen Modi der ( ästhetischen Materialität der ) Kommunikation der Aufführungssituation zum inszenatorischen Ausgangspunkt gemacht werden, wird die konstitutive Verwobenheit von Aufführungsgeschehen und Publikum markiert und dem Publikum seine Beteiligung und auch seine Verantwortung gegenüber der Aufführung in der Aufführungssituation vor Augen geführt. »Zuschauer werden zu Teilnehmern, die für das, was sie gesehen, gehört und erlebt haben, verantwortlich sind […] . Das Publikum wird zum Zeugen, und aus dieser Zeugenschaft resultiert eine Verantwortung im Sinne der Antwort: Responsivität und Responsibilität sind hier nicht zu trennen«45, schreibt Doris Kolesch in diesem Sinn zur Rolle des Publikums in der theatralen Inszenierung von Schmerz in der Performancekunst. Indem das Zeigen der Wunde als Movens von Inszenierung und Aufführung exponiert wird, gestaltet Schlingensief diese Situation der leiblichen Ko-Präsenz, die konstitutive Anwesenheit eines Publikums als inszenatorisches Grundprinzip, auf dessen Grundlage ethische und ästhetische Dimensionen sich ineinander verschlingen. Die Aufführungssituation, hier immer gebunden an die Institution des Theaters, bildet zudem die ästhetische Ausgangssituation für das spezifische Zusammenwirken der Künste und Medien, für ihre konstitutive inter- und transmediale Gestalt, die dieses ästhetische Zeigen der Wunde zuallererst ermöglicht. Für das ästhetische Zeigen der Wunde – die künstlerische Auseinandersetzung mit den existenziellen Krankheitserfahrungen – bespielt Schlingensief die spezifische Semiotiziät der Aufführungssituation im Theater und entwirft, so möchte ich im Folgenden weiter zeigen, eine vieldeutige und vielschichtige ästhetische Gestalt seiner Erfahrungen und seiner Subjektivität, die dadurch transformiert und zu intersubjektiven, gemeinschaftlichen Erfahrungsräumen der Existenz transzendiert werden.

43 44 45

Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, a.  a. O., S.  63  ‒128, S.  47  ff. und S.  58  ‒100. Vgl. zu der Möglichkeit dieses Wechsels Fischer-Lichte, ebenda, S.  63  ‒128. Kolesch, Doris, »Die Schmerzen Anderer betrachten«, in: Caduff, Corina / Wälchli, Tan ( Hg.), Interventionen, Zürich: Zürcher Hochschule der Künste, 2009, S.  88  ‒101.

147

148

Das Zeigen der Wunde

Das Zeigen der Wunde und deren Beglaubigung In der Inszenierung der Wunde als Sinnbild seiner Krankheit und Verletzung greift Schlingensief zudem auf religiöse und glaubensbasierte Strukturen der Repräsentation zurück und reflektiert dabei ihre Analogien zu den medialen und dispositivischen Bedingungen der Theateraufführung. Denn die Heilung der Wunde bedarf in ihrer Inszenierung der Zeugenschaft des Publikums. »Der Zuschauer ist da, um den Schmerz zu bezeugen, von dem die Akteure sprechen,«46 schreibt Hans-Thies Lehmann über das Theater von Klaus-Michael Grüber. Dies lässt sich auf das Inszenierungsprinzip des »Fluxus-Oratoriums« und überhaupt auf Schlingensiefs künstlerischen Umgang mit Krankheit und Leiden übertragen. Die Ereignisse sind auf die Beglaubigung durch das Publikum angewiesen. Zugleich wird deren sinnliche Gewissheit in der ästhetischen Transformation vervielfacht und damit uneindeutig gemacht. Die Rückbindung der ästhetischen Phänomene und Erscheinungen an eine empirische Wirklichkeit lässt sich nur in der Rezeptionsleistung des Publikums vollziehen. Sie verläuft dabei je singulär, wenngleich der in die Situation eingeschriebene Kontext der Inszenierung sowie Dimensionen sozialer Ordnung generell ihre Verknüpfungen mitbestimmen, welche wiederum nie an ein Ende, an eine andere faktische Wirklichkeit gelangen, sondern freischwingend assoziieren.47 Wie Sandra Umathum schreibt, vermag sich »im Blick des Betrachters« die Inszenierung von Schlingensiefs Situation »immer wieder auch abzulösen«, sie macht sich hier »selbstständig und verlässt den Radius des rein Subjektiven durch die Objektivierbarkeit, die sie adoptiert.«48 Die Ereignisse, das Zeigen und die sich in ihm vollziehende Heilung können nur in einem Pakt zwischen Publikum und Ereignis geschehen. Die Einlassung als Einwilligung und Glaubensbekenntnis des Publikums ist somit für die wirklichkeitskonstituierende Genese der Aufführung unabdingbar. Indem das Zeigen der Wunde zum Inszenierungsprinzip erhoben wird, bespielt Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir dieses Glaubensprinzip, das sich über der Schlucht aufspannt, die durch das Ausbleiben der sinnlichen Gewissheit entsteht. Das Verhältnis von An- und Abwesenheit, von sinnlicher Gewissheit und Repräsentation verändert sich allerdings unter dem Vorzeichen der Kunst. So scheint die Inszenierung ihren Ausgangspunkt darin zu wählen, dass die sinnliche Gewissheit nicht jenseits ihrer Repräsentationen erfahrbar ist, was zur operativen Grundbedingung der (transformatorischen) Materialisierungen der Kunst wird. Denn einerseits gibt es keine fixierbare, eindeutige sinnliche Evidenz ( der Krankheit und der Wunde in

46 47 48

Lehmann, Postdramatisches Theater, a.  a. O., S. 127. Siehe Rebentisch, Ästhetik der Installation, a.  a. O., S.  57  ff. Umathum, »Die Kunst des Abschiednehmens«, a.  a. O., S.  260.

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

der Aufführung ), sondern sie erscheint immer schon als etwas anderes, in einem anderen Material und als Material der Kunst. Dieses Spiel mit der Verdichtung und reflexiven Polyvalenz des Materials als Grundoperation der Kunst dient der Inszenierung als Bedingung der künstlerischen Auseinandersetzung mit Krankheit und Versehrung, mit Leben und Tod. Dass in die sinnliche Evidenz der Erfahrung immer schon Strukturen der Referenz, der Repräsentation, der normativen Ordnung eingeschrieben sind, also die Erfahrung der Mittelbarkeit des immer schon Vermittelten, wird zum Ausgangspunkt der Inszenierung der Krankheitserfahrungen. Andererseits wird so zugleich die Rückbindung der ästhetischen Phänomene in der Aufführung an andere, individuelle und zugleich sozial verwobene Erfahrungen möglich. So erscheinen und erklingen im Verlauf der Aufführung unterschiedliche ästhetische Formen und Materialisierungen ( Texte, Stimmen, Körper, Bilder, Filme, Musik, räumliche Atmosphären usw.), die im Gesamtzusammenhang der Inszenierung und unter Berücksichtigung einiger vorgängiger Rahmeninformationen durch Berichterstattungen und Programmhefte, durch Paratexte, darauf verweisen, dass es sich um die Auseinandersetzung des Künstlers mit seiner Krankheit handelt. Denn die persönlichen Krankheitserfahrungen des Regisseurs, seine Wunde sind nichts, was sich in der Aufführung unmittelbar zeigen oder einheitlich erfassen ließe. Als in vielen ästhetischen Formen anwesend abwesende, als referenzierte Größe, bedarf die Wunde, um überhaupt zeigbar zu sein, der Beglaubigung der Gemeinde, als die das Publikum im Raum gesetzt ist. Die Konstituierung der Wunde als Wunde vollzieht sich also gleichzeitig in der Bezugnahme des Publikums auf die ästhetischen Phänomene und Formen, von denen es erfasst, berührt und affiziert wird und vice versa. Anders als im dramatischen Theater oder in anderen Formen der ( fiktionalen ) Repräsentation läuft der Pakt zwischen Publikum und ästhetischem Geschehen hier nicht als blinder Fleck mit, sondern wird als thematischer Ausgangspunkt zum expliziten und reflexiven Inszenierungsprinzip selbst, das in der Dialektik von Form und Inhalt oszilliert. Die Momente von Abwesenheit, von Mannigfaltigkeit, von Prozessualität und Medialität werden hier zum Konstitutionsprinzip nicht von Glauben, sondern von ästhetischer Erfahrung, von Kunst als Kunst. Wie im Folgenden noch deutlich werden wird, verweist diese wechselseitige ästhetische Konstitution der Szenarien der Wunde auf eine ethische Verbundenheit zwischen Künstler und Publikum, die in der Wunde selbst begründet liegt. Blicken wir dafür zunächst kurz auf die rituelle Dimension der Aufführung, die mit dem Thema des Wunde-Zeigens ausgespielt wird.

149

150

Theater und Ritual

Theater und Ritual: Die Heilung der Wunde und die transformatorische Kraft der Kunst Mit dem leitmotivischen Satz der Aufführung »Wer seine Wunde zeigt, wird geheilt« wird eine strukturelle Nähe von Ritual und Aufführung in den Raum gestellt, deren Auslotung zum Movens der Arbeit selbst wird. Indem das Zeigen der Wunde, als das die künstlerische Auseinandersetzung mit den existenziellen Krankheitserfahrungen im Spätwerk markiert wird, als Möglichkeit ihrer Heilung inszeniert wird, wird der Aufführung auf dem Theater eine existenziell transformatorische Kraft zugesprochen, die ihr normalerweise nicht zukommt.49  Wenn Schlingensief mit jeder Aufführung des »Fluxus-Oratoriums« seine Wunde zeigt, indem er seine Krankheits- und Sterbeerfahrungen inszeniert, repräsentiert und somit ästhetisch transformiert, wenn etwa Röntgenaufnahmen seines krebsbefallenen Lungenflügels und seiner Lunge mit nur noch einem Lungenflügel auf der Bühne projiziert werden oder hier als Sakrilege in einer Monstranz erscheinen, um in solcherlei Zeigen potenziell Heilung zu erfahren, wird damit nicht nur auf die spezifisch doppelbödige Performativität von Aufführungen und die Möglichkeit ihrer wirklichkeitskonstituierenden Genese rekurriert, sondern vielmehr wird damit jede Aufführung als potenzieller Vollzug eines Heilungsrituals zur Wahrnehmung gebracht.50 Wie Erika Fischer-Lichte beschreibt, weisen Rituale und Aufführungen mit Blick auf die Erfahrung der sie durchlaufenden Teilnehmer *innen eine strukturelle Nähe auf, unterscheiden sich dabei allerdings mit Blick auf ihre transformatorische Kraft, die mit ihren unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen und Funktionen zu tun hat. Fischer-Lichte nimmt Bezug auf Arnold van Gennep, der in seiner Studie zum Ritual festgestellt hat, dass Rituale in hohem Maße mit Liminalitäts- und Übergangserfahrungen verbunden sind.51 Rituale sind an bestehende Ordnungen und Machtverteilungen gekoppelt, welche sie gleichzeitig erneuern und stabilisieren, und bergen dabei ein Moment der Veränderung in sich. Das Übergangsritual ermöglicht eine Transformation, eine grundlegende soziale Veränderung, etwa des sozialen Status’, und ist bei van Gennep durch drei unterschiedliche Phasen gekennzeichnet, die Fischer-Lichte folgendermaßen zusammenfasst : erstens »die Trennungsphase, in der der /  die zu Transformierende(n) aus ihrem Alltagsleben herausgelöst und ihrem sozialen Milieu entfremdet werden«,

49 50

51

Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, a.  a. O., S.  313  ff. Siehe zu dem Zusammenhang von Aufführung und Heilung in der Parallelisierung von Theater und Ritual aus historischer Perspektive Warstat, Krise und Heilung, a.  a. O., S. 111‒ 158. Gennep, Arnold van, The Rites of Passage, London: Routledge, 2004. Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, a.  a. O., S.  305  ff.

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

zweitens »die Schwellen- und Transformationsphase ; in ihr wird /  werden der / die zu Transformierende(n) in einen Zustand ›zwischen‹ allen möglichen Bereichen versetzt, der ihnen völlig neue, zum Teil verstörende Erfahrungen ermöglicht«, und drittens »die Inkorporationsphase, in der die nun Transformierten wieder in die Gesellschaft aufgenommen und in ihrem neuen Status, ihrer veränderten Identität akzeptiert werden.«52  Für die Kunst und die ästhetische Erfahrung in der Aufführung, im Kunstereignis, sei, so Fischer-Lichte, das zweite Stadium, die Schwellen- und Transformationsphase von besonderer Bedeutung. Denn die (Gegenwarts-)Kunst und insbesondere die aufführungsbasierte Kunst, als deren Beispiel Fischer-Lichte Schlingensief in diesem Zusammenhang namentlich nennt, arbeite wesentlich mit der Destabilisierung von Gewissheiten, mit dem Einstürzen von Gegensätzen und der Verunsicherung und Infragestellung des Status der Rezipierenden und Erfahrenden. Der Unterschied zum Ritual sei dabei allerdings, dass die Transformation nur temporär sei und die Folgen nach Ende der jeweiligen Aufführung, wenn überhaupt, individuell ausfielen, also nicht von allgemeiner gesellschaftlicher Relevanz seien und nicht von sozialer Anerkennung abhängig wären.53 Fischer-Lichte beschreibt die an Ritualstrukturen angelehnten künstlerischen Praktiken seit den 1960er und 70er Jahren, wie etwa von Joseph Beuys, den Wiener Aktionisten, Richard Schechner sowie die später darauf auf unterschiedliche Weise anknüpfenden Ästhetiken von Frank Castorf und eben auch von Christoph Schlingensief, als solche, die Strukturmerkmale von Übergangsritualen im Sinne van Genneps als grundlegende ästhetische Strategie in ihren Arbeiten fruchtbar machten. Destabilisierung, Verunsicherung und alternierende Perspektivierung würden dabei zu einem Grundmotiv ästhetischer Erfahrung.54 Diese unterschiedlichen künstlerischen Praktiken operierten nämlich auf der Basis einer Kollision unterschiedlicher sozialer Rahmen mit unterschiedlichen normativen Strukturen, Anforderungen und Bedingungen, welche die Rezipient*innen in Schwellen- und Verunsicherungssituationen brächten, in denen ihre habituellen Praktiken, Gewohnheiten, Selbst- und Weltverhältnisse destabilisiert würden. Dabei gelte es, die Grenze zwischen Ritual und Aufführung, zwischen Ritual und Kunst selbst zu bespielen und den Grenzverlauf zu verwischen, ihn gar unkenntlich zu machen.55 Wesentlich geht es nach Fischer-Lichte bei Ritualen aller Art um

52 53 54

55

Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, a.  a. O., S.  305. Ebenda, S.  307  ff. Ebenda sowie Dies., »Ritualität und Grenze. Einleitung«, in: Dies. / Horn, Christian / Umathum, Sandra / Warstat, Matthias ( Hg.), Ritualität und Grenze, Tübingen / Basel: Francke, 2003, S. 11‒ 30, S. 16  ‒ 27. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, a.  a. O., S.  307  f.

151

152

Theater und Ritual

eine gesteigerte Gemeinschaftserfahrung , die »die Grenzen aufhebt, welche die einzelnen Individuen voneinander trennen«56. Wenn Schlingensief im »Fluxus-Oratorium« das Heilen der Wunde durch das Zeigen, durch ihre multiple ästhetische Transposition im Ereignis der Aufführung, welches das Publikum konstitutiv einschließt, als potenziell möglich in Szene setzt, lotet er damit eben diese Nähe und Beziehungsförmigkeit zwischen Ritual und Aufführung aus. Dies vollzieht sich einerseits mit Blick auf Heilung als Transformation, als Besserung des physischen Zustands sowie auf den sozialen Status des Kranken, der sich auch durch die Gestaltung der persönlichen Erfahrungen als Selbstermächtigung verändert. Andererseits wird durch die inszenierte Potenzialität der existenziellen Transformation, welche die Heilung der Wunde symbolisiert, die von der Anwesenheit und Zeugenschaft des Publikums abhängig ist, ein Moment von existenzieller Intersubjektivitäts- und Gemeinschaftserfahrung in der Kunst verhandelt und realisiert, das mit Fischer-Lichte als wesentlich für das Ritual beschrieben wird. Mit diesem Bezug zum Ritual schließt sich zudem eine weitere Verbindung zwischen dem Verhältnis von Kunst, Leben und Sterben in Schlingensiefs Arbeit und den historischen Avantgarden und Neoavantgarden an. In deren künstlerischen Praktiken nämlich waren die höchst unterschiedlich gestalteten Versuche der Annäherung von Kunstereignissen und Ritualen gleichfalls dem Versuch einer Annäherung der Kunst an ihre außerkünstlerische Wirklichkeit sowie dem Erforschen des nachhaltig transformatorischen Potenzials der Kunst geschuldet. Auch hier ging die Annäherung der Kunst an Ritualpraktiken mit der Bemühung um neue Gemeinschaftsformen und bestimmte Auflösungs- bzw. Entgrenzungsbestrebungen klassischer autonomer, von ihrer Umwelt klar abgrenzbarer und in der Selbstreflexion sich begründender Subjektivität und Individualität einher.57 So schreibt Fischer-Lichte mit Blick auf den Beginn des 20.  Jahrhunderts über die Praktiken der Theateravantgarden, dass hier die »Auflösung der Grenze zwischen Theater und Ritual mit der Neubestimmung oder besser: Aushandlung anderer Grenzen Hand in Hand ging – der Grenzen des Ichs und damit verbunden der Grenze zwischen Individuum und Gemeinschaft. Die Theaterreformer begriffen die Ritualisierung des Theaters als eine Möglichkeit, die Grenzen des Ichs aufzulösen und eine Gemeinschaft zu konstituieren.«58 Die Neoavantgarden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts knüpfen in unterschiedlicher Weise an jene historischen Ritualisierungsbestrebungen an. Wie diese Entgrenzung des Ichs in Schlingensiefs Arbeit konkret aussieht und wie sich hieraus die Ethik der Aufführung entfaltet, darum geht es im Folgenden.

56 57 58

Ebenda, S.  306. Vgl. hierzu Fischer-Lichte, »Ritualität und Grenze«, a.  a. O., S. 17  ‒ 30. Ebenda, S.  20  f.

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

Anerkennung und Verwundbarkeit – theatrale Figurationen des existenziellen Miteinanderverwobenseins Indem Schlingensief das Zeigen der Wunde zum programmatischen, formalen und thematischen Ausgangspunkt der Aufführung macht, rekurriert und reflektiert er damit neben der strukturellen Nähe zum Ritual noch auf weitere Bedingungen und Spezifika der Aufführungssituation, um an ihnen entlang eine paradigmatisch ethische Dimensionen seiner ( späten) Kunst freizulegen. Er mobilisiert das Potenzial der leiblichen Kopräsenz, der gemeinsam verbrauchten Lebenszeit von Akteur *innen und Publikum in der Aufführung für die ästhetische Erfahrungsgestaltung von Intersubjektivität sowie von bestimmten Geweben von Gemeinschaft. Die Konstellation des Wunde-Zeigens als grundlegende und buchstäbliche Aufführungsrahmung spielt auf eine ethische Implikation der Aufführungssituation an. Denn das Wunde-Zeigen impliziert nicht nur eine konstitutive Relationalität zwischen Bühne, Akteur * innen und Zuschauer * innen in der Aufführung, sondern verweist darüber hinaus auf ein Moment von Anerkennung, an das sich eine Ethik der Intersubjektivität und Gemeinschaft anschließt, die ich im Horizont von Schlingensiefs ( Theater -)Arbeit insgesamt für wesentlich halte. Dabei handelt es sich um die Negation einer autonomen Subjektvorstellung, die durch ein interdependentes und intersubjektives Anerkennungsverhältnis ersetzt wird. In Kürze möchte ich den hiermit verknüpften sozialphilosophischen Strang skizzieren, um mit ihm die Ethik der Aufführung zu beleuchten. In der Tradition von Hegel, der in der Phänomenologie des Geistes die Anerkennung des Anderen als Konstituens menschlicher Subjektivität und von hier ausgehend als Grundstein von sozialer Ordnungsbildung ausarbeitet,59 wird in der Ethik Emmanuel Lévinas’ und in deren Weiterführung durch Judith Butler die Anerkennung der Verwund  barkeit des Anderen zur Grundbedingung des Miteinanderlebens.60 Das entscheidende Novum in Hegels Subjektivitätskonzeption ist, dass er in der Anerkennung des Anderen als Konstitutionsmoment von Selbstbewusstsein den Weg für eine Auflösung der klassisch cartesianischen, autonomen Subjektvorstellung, in der sich das Subjekt aufgrund seines Reflexionsvermögens selbst konstituiert,61 ebnet. Diese wird bei Hegel durch eine konstitutive Abhän-

59 60

61

Hegel, G. W.  F., Phänomenologie des Geistes, Hamburg: Meiner, 1988, S. 120  ‒157. Siehe Butler, Judith, Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 2005, S. 10  ‒15; darin: »Gewalt, Trauer und Politik«, S.  36  ‒  68, besonders S.  42  ff., S.  60  ff. Außerdem : Butler, Judith, Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt a.  M. / New York : Campus, 2010; sowie Butler, Judith, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 2006. René Descartes, Meditationes de Prima Philosophia. Meditationen über die Grundlagen

153

154

Anerkennung und Verwundbarkeit

gigkeit des Selbstbewusstseins vom Gegenüber und, in einem zweiten Schritt, von der sozialen Umwelt ersetzt.62  Dieses Interdependenzverhältnis als Fundament von Intersubjektivität gründet im Moment der Anerkennung.63 Hierzu Butler : »Wir erinnern uns, daß der Kampf um Anerkennung im Hegelschen Sinne erfordert, daß jeder Partner in der Interaktion nicht nur erkennt, daß der andere Anerkennung braucht und verdient, sondern auch erkennt, daß jeder auf verschiedene Weise von demselben Bedürfnis, demselben Erfordernis getrieben ist.«64 Das bedeute, so Butler weiter, »daß wir keine getrennten Identitäten im Kampf um Anerkennung sind, sondern bereits in einen wechselseitigen Austausch einbezogen sind, einen Austausch, der uns aus unseren Positionen, unseren Subjekt-Positionen verschiebt und uns einsehen läßt, daß Gemeinschaft an sich der Erkenntnis bedarf, daß wir alle auf unterschiedliche Art und Weise nach Anerkennung streben.«65   So begriffen, wird Anerkennung zum entscheidenden Moment des auf der Einsicht der konstitutiven Interdependenz gründenden intersubjektiven und sozialen Zusammenlebens. Aus der Erkenntnis der eigenen Abhängigkeit vom Gegenüber wie von der sozialen Umwelt heraus entsteht die Aufgabe der intersubjektiven und sozialen Verantwortung im Netz des Miteinanderverwobenseins. In diesem Sinne fragt Butler an anderer Stelle rhetorisch: »Trage ich nur als ein ›Ich‹, das heißt als ein Individuum, Verantwortung ? Kann es nicht sein, dass erst mit der Übernahme von Verantwortung deutlich wird, dass das Wer dieses ›Ich‹ notwendiger Weise mit anderen verbunden ist? Bin ›ich‹ ohne diese Welt der anderen überhaupt denkbar ?

62

63 64 65

der Philosophie, Hamburg : Meiner, 1992. Es gibt mittlerweile durchaus auch Lesarten des cogito, die dieses nicht als Begründung eines autonomen und hermetischen Subjekts begreifen, sondern darin eine kommunitäre Komponente der Ko-Existenz ausmachen, weil die Abgrenzung konstitutiv auf ein Anderes bezogen und damit von ihm abhängig ist. Eine entsprechende Lesart liefert Jean-Luc Nancy in seiner sich mit Martin Heideggers Sein und Zeit befassenden Seinsanalyse singulär plural sein. Vgl. hierzu Nancy, singulär plural sein, a.  a. O., S. 106. Die entscheidende Stelle, in der der Grundstein für diese Theorie begründet wird, ist das berühmte Herr / Knecht-Kapitel, das in zwei unterschiedliche Richtungen interpretiert wird. Dabei geht es um die Frage, ob Herr und Knecht zwei unterschiedliche Personen sind oder ob es sich dabei um zwei unterschiedliche Instanzen eines Selbstbewusstseins handelt. Die Intersubjektivitätsforschung geht von erster Richtung aus und wird prominent vertreten durch die heutige sozialphilosophische Frankfurter Schule um Axel Honneth, aber auch von Judith Butler, auf die ich mich hier wesentlich beziehe. Z.  B. Honneth, Axel, Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 2010. Butler, Gefährdetes Leben, a.  a. O., S.  61  f. Ebenda, S.  61. Ebenda, S.  61  f.

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

Kann es nicht sein, dass das ›Ich‹ sich mit der Übernahme von Verantwortung zumindest in Teilen als ›Wir‹ erweist ?«66 So lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass Schlingensief in seiner öffentlichen und künstlerischen Auseinandersetzung mit seiner Krankheit und dem Zeigen der Wunde als Aufführungsprinzip an die Anerkennung seiner Verwundung appelliert sowie auf ein darin offenbar werdendes, uns verbindendes Prinzip der Verwundbarkeit abhebt. Hierbei stehen nun genau die Zusammenhänge, die Butler formuliert, im Raum: die aus unserer geteilten Verwundbarkeit resultierende gemeinschaftliche Verantwortung auch gegenüber dem Einzelnen, die sich im Verhältnis von Schlingensiefs Szenarien der Verwundung, welche der Anerkennung des Publikums bedürfen, reflektiert, sowie unser existenzielles Miteinanderverwobensein und Ingemeinschaftstehen. Wie in Hegels Kampf von Herr und Knecht bereits angelegt und von Lévinas und Butler in eine etwas andere Richtung weitergeführt, spitzt sich im Moment der Verwundbarkeit die intersubjektive und soziale Interdependenz existenziell zu und geht buchstäblich auf Leben und Tod. Denn die Einsicht in die Lebendigkeit des Anderen ist sogleich eine Einsicht in die mit ihr notwendig einhergehende potenzielle Gefährdetheit ( precariousness), in die Verwund  barkeit des Anderen wie in die eigene. Die Anerkennung der Verwund   barkeit des Anderen wird mit Lévinas und Butler zu einer existenziellen Notwendigkeit.67 Die Verwund   barkeit bildet das Signum der Lebendigkeit des Menschen, und in dieser humanen Verfasstheit begründet sich eine ethische Verantwortung, welche die Grundfaser des Sozialen und der Gemeinschaftsordnung bildet bzw. bilden sollte. Butler bestimmt die Verwund  barkeit, die mit ihr gegebene potenzielle Gefährdetheit des Menschen, seine potenziell prekäre Lebenslage als dessen conditio humana. Sie verwendet in den englischen Originaltexten die Begriffe »precarious« /»precariousness« 68 und »vulnerable« / »vulnerability« 69. Erstere werden von 66 67

68

69

Butler, Raster des Krieges, a.  a. O., S.  41. »Emmanuel Lévinas bietet die Konzeption einer Ethik, die auf einer Erkenntnis der Gefährdetheit des Lebens beruht, die Konzeption einer Ethik, die bei dem gefährdeten Leben des Anderen ansetzt.« Butler, Gefährdetes Leben, a.  a. O., S. 13. Vgl. z.  B. Butler, Gefährdetes Leben, a.  a. O.; Dies., Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence, London / New York: Verso, 2004. Vgl. Butler, »Gewalt, Trauer, Politik«, in: Dies., Gefährdetes Leben, a.  a. O., S.  36. Sowie Butler, »Violence, Mourning, Politics«, in: Dies., Precarious Life, a.  a. O., S. 19  ‒ 50, S. 19. Lévinas spricht im Französischen auch von »vulnérabilité« als Grundbedingung des Seins, welches ein Miteinandersein und hierin zugleich ein wechselseitiges Ausgesetztsein darstellt. Vgl. z.  B. Lévinas, Emmanuel, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, La Haye : Martinus Nijhoff, 1978, S. 17. Im Deutschen ist der Begriff »vulnérabilité« in dieser Passage übersetzt mit »Verwundbarkeit«, siehe Lévinas, Emmanuel, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg, München: Alber, 1992, S. 48.

155

156

Anerkennung und Verwundbarkeit

der deutschen Übersetzung mit Gefährdung übersetzt, letztere mit Verletzlichkeit oder Verwundbarkeit. Der Terminus der »vulnerability«, der Verwund  barkeit ist im hiesigen Kontext besonders aufschlussreich, weil er die Möglichkeit der körperlichen Versehrung akzentuiert. Gleichwohl geht es dabei nicht darum, Körper und Psyche zu trennen, den Körper zu naturalisieren und ihn außerhalb der sozialen Ordnung zu begreifen, sondern ihn im Gegenteil mit Butler als Ausgangspunkt des Sozialen zu bestimmen: »Diese Disponiertheit unserer selbst außerhalb unserer selbst«, schreibt sie, »ergibt sich offenbar aus dem körperlichen Leben, aus seiner Verwundbarkeit und seinem Ausgesetztsein. […] 70 Der Körper impliziert Sterblichkeit, Verwundbarkeit, Handlungsfähigkeit […]. Der Körper hat unweigerlich seine öffentliche Dimension. Als in der öffentlichen Sphäre geschaffenes soziales Phänomen gehört mein Körper mir und doch nicht mir. Als Körper, der von Anfang an der Welt der anderen anvertraut ist, trägt er ihren Abdruck, wird im Schmelztiegel des sozialen Lebens geformt.«71 Die Gefährdung und Verwundbarkeit der Körper liegen folglich in ihrer Exposition, ihrem Ausgesetztsein in der sozialen Umwelt als grundlegendem Modus des In-der-Welt-Seins, sie figurieren die verwobenen Relationen der Einzelnen zueinander und markieren den Ausgangspunkt des Sozialen sowie die politische Verfasstheit der Körper: »[…] jede (jeder) einzelne von uns [ist] zum Teil aufgrund der sozialen Verwundbarkeit unserer Körper politisch verfaßt […] – als ein Ort des Begehrens und der physischen Verwundbarkeit, als Ort der öffentlichen Aufmerksamkeit, der durch Selbstbehauptung und Ungeschütztheit zugleich charakterisiert ist. Verlust und Verletzbarkeit ergeben sich offenbar daraus«, stellt Butler fest, »daß wir sozial verfaßte Körper sind: an andere gebunden und gefährdet, diese Bindungen zu verlieren, ungeschützt gegenüber anderen und durch Gewalt gefährdet aufgrund dieser Ungeschütztheit.«72 Hieraus schließt sie an anderer Stelle, dass diese »Ontologie des Körpers« als Ausgangspunkt für eine »Neukonzeption der Verantwortung« dienen kann, »eben weil der Körper sowohl an seiner Oberfläche als auch in seiner Tiefe ein soziales Phänomen ist : Er ist per definitionem verletzlich. Sein Bestand hängt von sozialen Bedingungen und Institutionen ab ; um ›sein‹ oder ›bestehen‹ zu können, muss sich der Körper auf das verlassen, was sich außerhalb seiner selbst findet.«73 Deswegen fragt Butler : »Wie lässt sich Verantwortung auf der Grundlage dieser sozial ekstatischen Struktur des Körpers denken? Als von sich aus abhängig von sozialer Formung und sozialen Kräften ist der Körper verletzlich. Er ist jedoch

70 71 72 73

Butler, »Gewalt, Trauer und Politik«, a.  a. O., S.  42. Ebenda, S.  43. Ebenda, S.  37. Herv. S.  R. Butler, Raster des Krieges, a.  a. O., S.  39.

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

keine bloße Oberfläche, in die sozialer Sinn eingeschrieben wird; er erleidet und genießt vielmehr die Äußerlichkeit der Welt und reagiert auf diese Äußerlichkeit, die seine Aktivität und seine Passivität, seine ganze Disposition definiert.«74 Diese exzentrische Position, die Exponiertheit und Sozialität des Körpers, sein fundamentales In-den-Händen-der-Anderen-Liegen sowie sein In-Gemeinschaftund In-Geschichte-Stehen bespielt Schlingensief in seinem Zeigen der Wunde, in der Inszenierung seiner Krankheit als ästhetisches Prinzip. Sein Körper wird vielfach zerlegt und transformiert, erscheint in Bildern, Räumen, Sounds, Flächen, Montagen und anderen Körpern. Die Heilung seiner Wunde, seiner Krankheit, hängt von dem Zeigen, von der Anwesenheit und Anerkennung des Publikums ab, sein Körper liegt mithin in den Händen der Anderen, in den Händen der Gemeinschaft. Die Wunde des Künstlers wird zur Chiffre unserer geteilten und uns verbindenden Verwundbarkeit. Mit Butler lässt sich beschreiben, wie sich hier in der Aufführung entlang der Leitmotivik von Verwundung und Verwundbarkeit die existenzielle wechselseitige Abhängigkeit von Künstler, Akteuren und Publikum, die wechselseitige Verantwortung füreinander entfaltet und somit die ethische Grundfaser der Aufführung bildet. Wenn Schlingensief im »Fluxus-Oratorium« paradigmatisch für das gesamte ( Spät-)Werk auf vielfältige Weise seine Wunde zeigt, erinnert er damit an eine ethische Grundbedingung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, an eine elementare Gemeinsamkeit, die uns miteinander verbindet, uns aufeinander bezieht, uns voneinander abhängig sein lässt: unsere existenzielle Verwundbarkeit. Er greift dafür auf eine fundamentale Konstellation der Existenz zurück, die sich im Modus der Aufführung potenziert. Der Mensch, schreibt Jean-Luc Nancy, »ist der Exponierende, aber was er derart exponiert, ist folglich nicht ihn selbst, den Menschen, sondern die Welt und sein eigenes Seinmit-allem-Seienden in der Welt, als Welt.«75  Denn, so Nancy weiter – und hier sind Butler und Nancy denkbar nah beieinander – »das Gesellschaftlich-sein [ist] doch auf jeden Fall wesentlich ein Exponiert-sein. […] Das Selbstsein der ›Gesellschaft‹ ist das Netz und das gegenseitige aufeinander Verwiesensein der KoExistenz, das heißt der Ko-Existenzen.«76 Das Grundsetting der Aufführung, das Zeigen der Wunde, webt das Publikum existenziell in diese Struktur ein. Die Wunde verweist auf eine grundsätzliche wechselseitige Abhängigkeit, und von dieser Grundkonstellation ausgehend entfalten sich die unterschiedlichen Szenarien unserer uns gemeinsamen Verwundbarkeit als Ausgangspunkt der Aufführung wie des Zusammenlebens und Ingemeinschaftstehens.

74 75 76

Ebenda, S.  39. Nancy, singulär plural sein, a.  a. O., S. 133. Ebenda, S.  110.

157

158

Anerkennung und Verwundbarkeit

Damit vermag Schlingensief ein existenzielles Prinzip unseres ( Miteinander -) Seins auf dem Theater als tradiertem Ort der Menschenbilder und -szenen als theatrales Prinzip zu inszenieren und zu potenzieren. Denn das fundamentale Ingemeinschaftstehen, das nach Butler in unserer geteilten Verwundbarkeit fußt, ist nach Nancy eine existenzielle theatrale Praxis, der Prinzipien des Zeigens und Aufführens inhärent sind. Diese elementare Genese unseres Seins als Ko-Existenz, als konstitutives Miteinanderverwobensein äußere sich in der Gesellschaft nicht »als ein ›Wissen‹«77, so Nancy, sondern durch eine fundamentale theatrale Praxis, quasi als anthropologische Grundkonstante, »exponiert als und durch ihre eigene Bühne, als ihre szenographische Praxis «, die offenbart »daß es ein Sein hinter dem Zusammen-sein […] nicht gibt. […] Die ›gesellschaftliche‹ Mit-erscheinung ist selbst das Exponierende der allgemeinen Miterscheinung der Seienden.« 78 Die Wunde, die in unterschiedlichsten Szenarien, ästhetischen Settings und auf verschiedenen Darstellungsebenen auftaucht, wird zum Moment, das von der Aufführungssituation ausgehend ethische Grundbedingungen der Existenz und der Gemeinschaftsbildung kristallisiert. Die Inszenierung der Wunde versinnbildlicht dem Publikum seine konstitutive Verwobenheit in das Aufführungsgeschehen, sofern seine Anwesenheit und Zeugenschaft das Zeigen der Wunde erst ermöglichen. Allein in diesem Zeigen liegt der Inszenierung nach die Möglichkeit der Heilung begründet, wodurch auch dem Publikum eine existenzielle transformatorische Wirkung zugesprochen wird. So begriffen verweist die Heilung der Wunde in ihrer Aufführung auf die existenzielle Abhängigkeit der Einzelnen voneinander ( sowie in einem zweiten Schritt auf die normative Bedingtheit von sozialer Anerkennung, die auch verwehrt werden kann und in ihrer Negation mithin zu vernichten vermag  ). Die Wunde signifiziert die Verwundbarkeit als grundlegende Gemeinsamkeit aller, die potenzielle Verletzlichkeit und Gefährdetheit aller Existenzen und die auf ihr (zu) gründende Ordnungsbildung des Zusammenlebens. Wenn nun Schlingensiefs akute Wunde seine Krankheit ist, welche die potenzielle Verletzbarkeit und Verwundbarkeit in eine konkrete Existenzbedrohung umwandelt, dann stellt die Krankheit damit auch ein Akutwerden und eine Zuspitzung einer Ethik des Aufeinanderverwiesenseins, des Voneinanderabhängigseins und des Miteinanderverwobenseins dar. Indem Schlingensief aus seiner Krankheit eine soziale Plastik gießt, wie er selber es formuliert,79  beschreibt er damit seine ethisch-ästhetische Strategie, die auf genau diese soziale Dimension von Krankheit abzielt. Die Krankheit wird in ihrer ästhetischen Transformation und Formwer-

77 78 79

Ebenda, S. 111. Ebenda. Zitiert aus : Burgtheater Wien ( Hg.), Mea Culpa. Eine ReadyMadeOper, Programmheft, a.  a. O., S.  7.

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

dung und durch die Verschiebung der Parameter ihrer Wahrnehmbarkeit und Gestaltbarkeit zum Modell von Gemeinschaft, Gemeinschaftsbildung und des Miteinanderlebens, des Zusammenlebens. In diesem Sinne, unter philosophischen Vorzeichen, schlägt Jean-Luc Nancy in seinen Überlegungen zu dem Verhältnis von Krankheit und Identität bzw. Subjektkonzeptionen in dem Text Der Eindringling die Organtransplantation als Modell vor, alternative, interdependente und kommunitäre Subjektivität zu denken: »Gemeinsam mit all meinen immer zahlreicher werdenden Nächsten, bin ich – sind wir tatsächlich die Anfänge einer Mutation.«80 Die Figuration der Krankheit als Eindringling , nach der ein Fremdkörper, und sei es gar ein fremdes Organ, in den eigenen Körper eindringt, ihn angreift, aber auch Teil von ihm wird, begreift er in Analogie zur Subjektkonstitution per se. Die »Wahrheit des Subjekts [ besteht, S.  R .] in seiner Äußerlichkeit und Unverhältnismäßigkeit […]: in seiner unendlichen Aussetzung. Der Eindringling setzt mich unverhältnismäßig aus. Er bewirkt meinen Ausstoß, trägt mich heraus und enteignet mich.«81 Der Analogie von Krankheit und Subjektkonstitution in der Figur des Fremden im Eigenen möchte ich im Folgenden weiter nachgehen und untersuchen, inwiefern diese Struktur in der Kirche der Angst vor dem Fremden in mir entlang der Krebskrankheit virulent wird. Die ( Krebs- ) Krankheit als »das Fremde in mir« und das fundamentale Ingemeinschaftstehen Indem Schlingensief die künstlerische Auseinandersetzung mit seiner Krankheit als eine Arbeit am Fremden im Eigenen, »dem Fremden in mir« markiert, kennzeichnet er die Krankheit als etwas Fremdes in ihm, im Eigenen, im Vertrauten. Dafür findet er in Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir, aber auch in Der Zwischenstand der Dinge, in Mea Culpa oder Via Intolleranza II, unterschiedliche Wege und Strategien, das Sichfremdwerden als Kranker, das Fremdwerden des Körpers zu verhandeln. Der kranke Körper ist hier nicht mehr der gewohnte und vertraute – wenngleich er auch im gesunden Zustand permanent in Veränderung begriffen ist – , sondern er wird zerstört und zersetzt, zersetzt sich selbst, entzieht sich der eigenen Verfügungsgewalt, dem existenziellen Wunsch, weiterzuleben, kräftig und vital zu bleiben, und prozessiert dagegen seine eigene Gesetzesmäßigkeit. In diesem Bild des Körpers bezieht sich Schlingensief auf die Genese der Krebskrankheit selbst. Denn die Krankheit als Fremdes entsteht aus dem ›eigenen‹, aus einem ele-

80 81

Nancy, Jean-Luc, Der Eindringling. Das fremde Herz, Berlin: Merve, 2000, S.  6 ‒51, S.  49. Ebenda, S.  47.

159

160

Die ( K rebs- )  K rankheit als »das Fremde in mir«

mentaren Prozess des Lebens, der hier fehlgeht : die Zellteilung. Krebs entsteht aus einer deformierten, unkontrolliert wuchernden Zelle. Wie der Mediziner Siddharta Mukherjee erläutert, ist dieses unkontrollierte Wachstum der Zelle »eine Folge von Mutationen, von Veränderungen in der DNA, speziell solcher Gene, die wucherndes Zellwachstum in Gang setzen. In einer normalen Zelle sind Zellteilung und Zelltod durch effiziente genetische Steuerungsmechanismen reguliert. In einer Krebszelle sind diese Steuerungsmechanismen gestört, und es entsteht eine Zelle, die nicht mehr zu wachsen aufhört. Dass dieser scheinbare einfache Mechanismus – unbegrenztes Zellwachstum – der Kern dieser maßlosen, vielgestaltigen Krankheit sein kann« 82, so Mukherjee weiter, zeuge »von der unermesslichen Macht des Zellwachstums. Die Zellteilung ermöglicht uns Organismen zu wachsen, uns anzupassen, zu genesen und zu reparieren – also zu leben. Verläuft sie aber verzerrt und ungebremst, so sind es die Krebszellen, die wachsen und gedeihen, sich anpassen, genesen, sich reparieren – sie leben auf Kosten unseres Lebens. Krebszellen können schneller wachsen und sind anpassungsfähiger als gesunde Zellen. Sie sind eine perfekte Version unserer Selbst.« 83 Der Krebs entsteht folglich in uns selbst und basiert auf fundamentalen Prozessen unserer lebendigen Reproduktion, der Zellteilung. Das Fremde und uns vernichtende findet seine Bedingungen in uns selbst und ist Teil von uns, auch wenn es uns vernichtet. Gleichwohl haben die Auslöser für das unkontrollierte Zellwachstum durchaus ( auch ) externe Ursachen.84 »Das

82

83 84





Mukherjee, Siddharta, Der König aller Krankheiten. Krebs – Eine Biografie, Köln: Dumont, 2012, S.  28  f. Ebenda. In seiner Medizin- und Sozialgeschichte der Krebsforschung beschreibt Mukherjee verschiedene sozialgeschichtliche Stufen der Krebsforschung. Hierbei stellt er heraus, dass die Forschung immer wieder von unterschiedlichen Lobbyisten, besonders der Tabakindustrie, blockiert wurde, die zu verhindern versuchte, dass externe Faktoren als krebsverursachend angenommen wurden. Ebenda, S.  307 ‒  367. Über den Zusammenhang von Körpergrenzen und Staatsgrenzen und damit über die Verbindung von unterschiedlichen Identitätskonzepten zitiert Butler in Das Unbehagen der Geschlechter Mary Douglas: »Der Körper liefert ein Modell, das für jedes abgegrenzte System herangezogen werden kann. Seine Begrenzungen können für alle möglichen Begrenzungen stehen, die bedroht oder unsicher sind.« Douglas, Mary, Reinheit und Gefährdung, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1988, S. 15  f. Zitiert nach Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, a.  a. O., S. 194. Und Butler konstatiert weiter: »Wenn der Körper als Synekdoche für das Gesellschaftssystem per se oder als Schauplatz, an dem sich offene Systeme überschneiden, gelesen werden kann, stellt jede Art von unregulierter Durchlässigkeit einen Ort der Verunreinigung und Gefährdung dar.« Ebenda, Herv.  i.  O.

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

Fremde in mir«, um das das »Fluxus-Oratorium« kreist, verweist somit auf einen Prozess, in der die eigene Materialität, ein Teil des eigenen Organismus aufgrund einer Deformation oder eines Defekts zu etwas Fremden wird, das sich potenziell gegen einen richtet und dabei trotzdem Teil von einem bleibt. Die Krankheit als das Fremde im Eigenen, das Fremde im Selbst, »in mir«, als das sie zunächst einmal markiert ist, verdeutlicht in ihrer Inszenierung und Aufführung, dass das (potenziell) Fremde Teil unserer Selbst ist.85 Wie Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir exemplarisch für Schlingensiefs Auseinandersetzung mit Krankheit und Sterben im Spätwerk zeigt, verschiebt die Betrachtung des (nicht nur) an Krebs erkrankten Körpers die Körpergrenzen von innen und außen, von Eigenem und Fremdem und verdeutlicht, dass die Auffassung und Bedeutung von Krankheit sowie die Möglichkeiten ihrer Behandlung und Heilung sozial- und kulturgeschichtlich variabel sind. Das Emblem des kranken Körpers verweist auf die konstitutive und existenzielle Verwobenheit und Abhängigkeit des Körpers von und mit seiner sozialen Umwelt.86 In den zahlreichen transformatorischen Visualisierungen, Vertonungen und Verräumlichungen von Körper und Krankheit wird in der Aufführung dieser Körper auch als in den Händen der historisch im Wandel begriffenen Medizin, der Gesellschaft und ihrer Bilder liegend zum Erscheinen gebracht.87 Auf diese konstitutive Sozialität, die in Krankheit und Sterben eingeschrieben ist, hebt auch Nancy im Kontext der bei ihm vorgenommenen Herztransplantation ab, wenn er schreibt: »Wäre alles früher geschehen, wäre ich gestorben, hätte sich alles später ereignet, hätte ich anders weitergelebt. Immer aber ist das ›Ich‹ eingezwängt in eine Lücke, in den engen Raum, den technische Möglichkeiten schaffen.[…] Ich bin die Krankheit und die Medizin, ich bin die kanzeröse Zelle und das verpflanzte Organ […].«88 Im Folgenden möchte ich etwas eingehender darlegen und analysieren, wie Schlingensief es versteht, Szenen für die von Nancy beschriebenen intersubjektiven und sozialen Mutationen entlang des ( krebs-)kranken Körpers zu finden, wie er dafür die Krankheit interpersonell zirkulieren lässt und dafür die Spezifika der Aufführungssituation auf dem Theater bespielt. Dabei wird auch deutlich, wie das zur Sprache kommende Ich, die Subjektivität des Kranken im Sinne Nancys, einerseits

85

86 87

88

»Das Fremde ist in mir, also sind wir alle Fremde. Wenn ich Fremder bin, gibt es keine Fremden«, schreibt Julia Kristeva. Kristeva, Julia, Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1990, S.  209. Vgl. hierzu Butler, Körper von Gewicht, a.  a. O. Siehe zum sozialhistorischen Wandel der Bedingungen, Begriffe und Behandlungen von Krankheit Foucault, Michel, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt a.  M.: Fischer, 2008a. Nancy, Der Eindringling, a.  a. O., S. 11, S.  47.

161

162

Die szenografische Praxis des Miteinanderseins

mit der Sprache und Technik der Medizin verwoben wird und andererseits stets an die Bedingungen und Polyvalenzen der Theatersituation gebunden bleibt. In diesem inszenatorischen Prinzip, das sich in den Bedingungen und Möglichkeiten der Aufführungssituation auf dem Theater selbst begründet, verdeutlicht sich die von Nancy konstatierte grundlegende Genese unseres Seins in Ko-Existenz als existenzielle theatrale Praxis : Es gibt kein Sein hinter dem Zusammen-Sein.89 Szenerien des fremden Selbst und die szenografische Praxis des Miteinanderseins Im »Fluxus-Oratorium« markiert Schlingensief mittels auf Leinwände vor und über der Bühne projizierter Zwischentitel ganz unterschiedliche szenische Sequenzen und inszeniert sie so als verschiedene Stadien seiner Krankheitsmetamorphose. Beispielsweise wird gleich zu Beginn die große, vorrangig filmisch gelöste Auftaktsequenz, in der Animationen von Zellteilungen mit Röntgenbildern und Kindheitsaufnahmen von Schlingensief montiert werden und dazu seine Stimme einspielt wird, die von seiner Krebsdiagnose erzählt  90, als »Protokoll einer Selbstbefragung« und »Auferstehung« überschrieben. Entsprechend kann alles hierauf Folgende unter diesen Überschriften rezipiert werden. Beide vermögen sich erst in der Ko-Präsenz des Publikums zu realisieren und zu ereignen. Solche Überschriften, wie später auch »Letzte Bilder vor der Vollnarkose« und »Aufwachphase«, antizipieren die hierauf folgenden Szenen, Bilder, Texte, Filme und Handlungen, die diversen Materialanordnungen als Szenarien des sich fremden und im Fremden zu sich kommenden Selbst. Dabei werden die existenziellen Erfahrungen, die schweren Krankheits- und Nahtoderfahrungen als Entfremdungserfahrungen, die ihrerseits fundamentale Selbsterfahrungen darstellen, in unterschiedliche Stadien und autobiografische Passagen unterteilt. Sie werden anhand unterschiedlicher Medien in Fragmenten inszeniert, die immer wieder durch andere Formen und Motive unterbrochen und mit ihnen verflochten werden. Auch in ihren Redundanzen, Differenzen und Schleifen machen wir als Publikum diese Entwicklung mit Schlingensief, mit dem kranken und potenziell sterbenden Subjekt, durch. Schlingensief entwirft in der Aufführung unterschiedliche Szenarien seiner selbst, seiner Krankheit, seiner existenziellen Erfahrungen. Er projiziert Filmmaterial aus seiner Kindheit über und auf die Bühne, er animiert und montiert verschiedene medizinische Ansichten und Visualisierungen des Körpers, des Gewebes, der Organe und der Krankheit. Aufzeichnungen seiner Erlebnisse und Gedanken

89 90

Ebenda, S. 110  f. Siehe hierzu ausführlich das nächste Kapitel ( III ), »Lebensbilder«.

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

während der Zeit der Krebsbehandlung im Krankenhaus, die er in ein Diktiergerät gesprochen hat, werden über Lautsprecher eingespielt, von den Schauspieler *innen gelesen oder in Dialogen szenisch verhandelt. Die Eindeutigkeit der personellen Zugehörigkeiten der geschilderten und dargestellten Erfahrungen werden dabei mittels der jeweiligen medialen Möglichkeiten, in denen sie hervorgebracht werden, zugleich unterlaufen. Mit Blick auf das Theater bedeutet dies, dass das Gesprochene und Dargestellte permanent zwischen der Ordnung der Repräsentation und der Ordnung der Präsenz oszilliert und exponiert wird.91 Die formulierten Erfahrungen und Ängste zirkulieren zwischen den Stimmen und Körpern der Schauspieler *innen, dem abwesenden Künstler und Autor, auf den sie verweisen, und dem Publikum. Als eine der Hauptprotagonistinnen, die Schlingensiefs aufgezeichneten Erfahrungen und Gedanken immer wieder im Verlauf der Aufführung ( wie auch in Der Zwischenstand der Dinge und teilweise in Mea Culpa ) Ausdruck, Körper und Stimme verleiht, akzentuiert die Schauspielerin Margit Carstensen den von ihr gesprochenen Text stets als fremde Rede, die sie in der ersten Person spricht.92 Gleichzeitig findet im Moment des Sprechens und Spielens in der Aufführung immer auch ein Prozess der Aneignung des Gesprochenen statt, wird der Text zur ›eigenen‹ Rede der ihn Vortragenden. Wenn Carstensen zum Beispiel im Namen des Autors Schlingensief Bilanz mit den Worten zieht : »Ich hab 47 Jahre lang wirklich viel gemacht. Ich hab viele Leute kennengelernt. Ich hab viele Glücksmomente gehabt. Ich hab viele Dinge erlebt. Ich durfte denken. […] Und ich hab auch viel Scheiße gebaut und mich nicht immer an der richtigen Stelle auch mal ruhig verhalten. Aber ich habe schon viele, viele, viele schöne Sachen gemacht«93, dann ist der Text mit autobiografischen Eckdaten gespickt, die auf ihren Autor verweisen. Zugleich lassen sich einzelne Passagen und Sprechakte immer auch auf die Sprecherin selbst beziehen. Die Uneindeutigkeit der Referenz wird durch den Rezeptions- und Produktionsrahmen des Theaters noch verstärkt, weil darin Dimensionen von Spiel und Repräsentation sedimentiert sind.

91

92

93

Hierzu hält Fischer-Lichte bezüglich der Aufführungssituation fest : »Repräsentation und Präsenz sind das Resultat spezifischer Verkörperungsprozesse, wie es in der Wahrnehmung entsteht.« Ästhetik des Performativen, a.  a. O., S.  256. Als notwendige Bedingungen für die literarische Autobiografie bestimmt Philippe Lejeune die »Identität zwischen dem Autor […] und dem Erzähler« und die »Identität zwischen dem Erzähler und der Hauptfigur.« Lejeune, Philippe, Der autobiographische Pakt, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1999, S. 14  f. In der Aufführung werden diese zwar durch den Sprech-Akt Carstensens unterlaufen, aber durch den Verweis auf einen Text wird auf eine textimmanente autobiografische Spur verwiesen, die aufgrund des Kontexts der Inszenierung zu Christoph Schlingensief führt. Transkription.

163

164

Die szenografische Praxis des Miteinanderseins

Dieses Prinzip wird in einer weiteren Szene herausgestellt, die als ebenso exemplarisch für die Darstellerrelationen zwischen Schlingensief und seinen Akteur *innen in den um seine Krankheit zirkulierenden späten Arbeiten gelten kann. Margit Carstensen liegt im Krankenhausbett in einer räumlichen Parzelle auf der kleinen Drehbühne, die ein Krankenhauszimmer andeutet, als die Schauspielerin Angela Winkler zu ihr tritt und sie mit ihrem Namen anspricht : »Margit ? Margit, ich hab ganz schlechte Nachrichten« 94, worauf diese abgeklärt und mit tiefer Stimme fragt : »Wie lange hab ich noch?« 95   So werden einerseits die phänomenale Leiblichkeit ebenso wie der semiotische und soziale Körper, der Habitus und die soziale ›Identität‹ der Person Margit Carstensen in den Fokus gerückt und andererseits das für das literarische Theater typische Als-ob 96 beibehalten und als solches ausgestellt. Die Szene lässt sich im Modus des Als-ob rezipieren, indem die Schauspielerinnen Schlingensiefs Situation der Krebsdiagnose nachspielen. Sie verweist aber auch auf die persönliche Situation der Schauspielerin, die durch ihre Namensnennung exponiert wird. Denn auch Carstensen könnte die Frage stellen, »Wie lange habe ich noch?«, und sie damit auf sich und ihre persönliche Lebenserwartung beziehen. In den von ihr gelesenen oder gesprochenen Monologen, die aus Schlingensiefs Krankenhaustagebuch zitieren und dabei häufig Bilanz ziehen und Todesnähe formulieren, schlägt ihre tiefe, verrauchte Stimme immer wieder einen bitteren, resümierenden Ton ein, der darauf angelegt ist, das so Gesprochene in der Rezeption immer auch auf sie selbst beziehen zu können, indem er auf ihre Lebensgeschichte und ihre eigene Körperlichkeit verweist. Die Referenz auf Schlingensief erfolgt aufgrund des inszenatorischen Kontexts. Die Kontextinformationen und der übrige inszenatorische Zusammenhang lösen einerseits eine repräsentative Zuordnung des Spiels aus und stellen den Bezug zu Schlingensief her. Andererseits wird dabei stets die Möglichkeit offengehalten, die Selbstreferenzialität der Akteur *innen wahrzunehmen und zu reflektieren. So wird in den gebrochenen und reflexiven repräsentativen Konstellationen zur Anschauung gebracht, dass sich durch andere zu inszenieren immer auch bedeutet, andere zu inszenieren, und dass die anderen sich selbst und denjenigen inszenieren, auf den sie verweisen. Was Mieke Matzke über den Schauspieler festhält, wird hier als Inszenierungsprinzip potenziert: »Die Darstellungen des Schauspielers können nicht von seiner Person und seinem Körper abgetrennt werden. Der Schauspieler stellt somit bei jeder Rollendarstellung immer auch sich selber dar.«97 Die Krankentagebuch-Monologe

94 95 96 97

Transkription. Transkription. Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, a.  a. O., S. 130  ff. Matzke, Annemarie Mieke, Testen, Spielen, Tricksen, Scheitern. Formen szenischer Selbstinszenierung im zeitgenössischen Theater, Hildesheim: Olms, 2005, S.  23.

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

sind entsprechend notwendig auch Selbstinszenierungsmedien der Schauspielerinnen und Schauspieler, die sie aufführen, und entziehen sich so einer eindeutigen Zuordnung.98 Dabei wird ein rezeptionsästhetisches Prinzip reflektiert und inszeniert, das Philippe Lejeune wie folgt beschreibt : »Die Personalpronomen ( ich /  du ) besitzen nur innerhalb der Rede, im Äußerungsakt selbst Verweiskraft. […] Das ›ich‹ verweist jedes Mal auf den Sprecher, den wir eben aufgrund seines Sprechens identifizieren. […] Aber die Äußerung ist nicht die letzte Instanz der Referenz: sie wirft selbst wieder das Problem der Identität auf « .99  Für die mündliche Rede und das Theaterspielen konstatiert Lejeune, dass das Zitat hier schwerlich eindeutig zu markieren sei. »Sobald diese Zeichen«, schreibt er und meint damit jene Zeichen, die zur Markierung des Zitats dienen, wie Anführungszeichen im Text oder die unterschiedlichen Betonungen in der mündlichen Rede, »jedoch verblassen oder verschwinden, tritt die Ungewissheit auf: Das gilt für das Re-Zitieren und ganz allgemein für das Theaterspielen. Wer sagt ›ich‹ […] ?« 100 Die Form der theatralen Selbstdarstellung und Äußerung durch andere, die dabei zugleich immer auch etwas anderes wird, immer über ein bestimmtes Subjekt hinausgeht, impliziert ein Moment des Sichfremdseins sowie des Selbstseins im Fremden und Anderen. Identität und Subjektivität, Krankheit, Leben und Sterben, Existenz stabilisieren und destabilisieren sich so in den Aufführungssituationen auf dem Theater als immer wieder divergente kommunitäre Figurationen. Eine andere Strategie, mit der in den späten Arbeiten solche existenziellen wie gleichermaßen medienspezifischen Szenen realisiert werden, sind interpersonelle und intermediale rekursive Schleifen. Das fatale Szenario der Diagnose als Ausgangspunkt des gesamten Arbeitszyklus’ wird auf diese Weise verhandelt und so in seiner ontologischen Dimension relativiert. Während es zu Beginn des »FluxusOratoriums« von Schlingensiefs akusmatischer Stimme als fatale und lebensbedrohliche Hiobsbotschaft erzählt wird und aufgrund dieser existenziellen Fatalität eine ebenso mediale wie scheinbar unmittelbare Verbindung zwischen Publikum und Betroffenen herstellt, wird dieser Eindruck später gebrochen, indem Carstensen diese Episode noch einmal aufgreift.

98

99 100

Es gilt, was Erika Fischer-Lichte für das Verhältnis von Schauspieler *in und Figur schreibt: »Sowohl Präsenz als auch die Figur werden durch spezifische Verkörperungsprozesse hervorgebracht. […] Die jeweils hervorgebrachte Figur ist an die spezifische Körperlichkeit des Schauspielers gebunden, der sie hervorbringt.« Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, a.  a. O., S.  256. Lejeune, Der autobiografische Pakt, a.  a. O., S.  20  f. Herv. i.  O. Ebenda, S.  21.

165

166

Die szenografische Praxis des Miteinanderseins

Erneut liegt sie dabei im Krankenhausbett, während die grünschwarzen Projektionen der Zellteilungen auf den Vorhang hinter ihr fallen, sodass die Lichtstrahlen auf ihr haften bleiben und durch ihre Bewegung die Prozessualität ihres Sprechens und die Inszenierung von ihr als Projektionsfläche plastisch reflektieren. Erika Fischer-Lichte beschreibt eine solche Strategie als symptomatisch für das Gegenwartstheater, insofern hier »mit perzeptiver Multistabilität gespielt (werde, S.  R .); im Zentrum des Interesses steht der Augenblick, in dem die Wahrnehmung des phänomenalen Leibes umspringt in die Wahrnehmung der Figur und umgekehrt, indem jeweils der reale Körper des Schauspielers oder die fiktive Figur in den Vordergrund tritt und fokussiert wird, in dem der Wahrnehmende sich auf der Schwelle zwischen diesen beiden Wahrnehmungen befindet.«101 Auf diese Weise oszilliert Carstensens von den filmischen und digitalen Projektionen angestrahlte Erscheinung auf der Bühne zwischen ihrer phänomenalen Gestalt und ihrer repräsentativen Funktion. Wobei zu ergänzen ist, dass Carstensen hier nie und überhaupt niemand in Schlingensiefs Theater eine klassische, geschlossen fiktive Rolle spielt, sondern eben eher partiale Referenzfunktionen übernimmt, die als solche stets markiert bleiben. Carstensen erzählt noch einmal von der erhaltenen Diagnose in etwas abgewandelter und gekürzter Wortwahl. Sie schildert den Moment des Erfahrens der Diagnose aus einer anderen Perspektive, die etwas distanzierter und reflexiver klingt und dabei doch keineswegs jedwede dramatische Wirkung ausräumt. »Ich war jetzt gerade beim Kardiologen, der diese Punktionen gemacht hatte, der wollte mich noch mal sprechen und hat mich ganz lange reingebeten, fast ’ne dreiviertel Stunde und hat mit mir wirklich total lieb geredet und hat eben auch sehr … also ich weiß nicht, was er so genau gemacht hat mit mir, aber auf der einen Seite war ich panisch plötzlich wieder Mal und auf der anderen Seite war er plötzlich der, der das in einen von mir sicher auch befürchteten, aber jetzt nicht ausgesprochenen Rahmen gebracht hat und dadurch auch in eine Ruhe, indem er dann gesagt hat, eben er würde mir abraten jetzt noch woanders hinzufahren, er hätte im Bauch diese Drüse und das wäre eben schon etwas, wo es schon mit metastasiert und das aber eben noch nicht diese anderen Sachen befallen hat. Schilddrüse ist wohl auch in Ordnung […].«102

Im weiteren Verlauf der Aufführung kehren Moment und Motiv der Diagnose als alternierende Echos immer wieder zurück und wechseln dabei ihren szenischen Kontext sowie das Personal. In den jeweiligen szenisch gerahmten Sprechakten zirkuliert dabei Schlingensiefs kranker Körper, seine befallenen Organe. Im Akt des Sprechens gehen sie symbolisch auf das Ich der Sprecher *innen über und spannen

101 102

Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, a.  a. O., S. 152. Transkription.

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

sich zugleich zu Schlingensief hin auf. Der hier aufgeführte, visualisierte, referenzierte, gesprochene Körper lässt sich so als ein Geteilter begreifen. Er erinnert an Nancys Postulat einer sozialen und intersubjektiven Mutation der kanzerösen Zellen und verpflanzten Organe, die intersubjektiv zirkulieren und die Ichs im Horizont der Krankheit und der Medizin – hier nun als theatrale Praxis – existenziell miteinander verbinden.103 In dieser Form der ›plastischen Chirurgie‹ spielen die Versprachlichung des Körpers und der Krankheit, der interpersonelle und intermediale Transfer des Textes sowie die Sprechakte der Akteur *innen eine wesentliche Rolle. So schreibt Dieter Mersch: »Die Sprache befindet sich, weil sie bereits mit dem ersten Wort an die Struktur der Alterität gekoppelt ist und diese in sich verwahrt, immer schon im Horizont des Sozialen, der als Rahmen alternativlos bleibt und darum auch weder wählbar noch negierbar erscheint. Das impliziert, als weitere Konsequenz, dass mein Sprechen nirgends intentional geschieht, sondern stets schon als ein anderes, das heißt von der Stimme des Anderen überformt und durchdrungen erscheint […].«104 Dort, wo Sprache ins Spiel kommt, so lässt sich zusammenfassen und auf Medien und Kommunikation generell ausweiten, haben wir es immer mit sozialen Praktiken und deren jeweiligen Eigendynamiken zu tun, die keinem Individuum eigen, sondern, wenn man so will, fremd sind und in deren Gebrauch, in dieser Entfremdungspraktik, sich dennoch zugleich Subjektivität und Idiosynkrasie konstituieren. Unter dieser Voraussetzung entfaltet sich in der Aufführung ein szenisches Spiel mit Figurationen des Autobiografischen, die hierbei mit Blick auf die jeweiligen Medialitäten, in denen sie erscheinen, ein Stück weit selbstreferenziell werden und sich von ihrem Verfasser ebenso ablösen wie von der ›Urszene‹ des ›eigentlichen‹ Lebens, das sie beschreiben. Paul de Man legt in seinem Text Autobiographie als Maskenspiel dar, dass die Autobiografie, entgegen gängiger Vorstellungen der führenden Autobiografietheorien, ihren Referenten, also sowohl das beschriebene Leben als auch das sich hierin konstituierende Subjekt, maßgeblich präge, gar hervorbringe und dass der elementare Grund hierfür in der Sprache begründet liegt. Die »Selbsterlebensbeschreibung«105 sei immer notwendig und konstitutiv an das Medium der Sprache gekoppelt und durch sie bedingt. Gerade die Autobiografie demonstriere durch ihr Insistieren auf dem Subjekt und den Lebenserfahrungen als Referenten die Totalität der Sprache

103 104

105

Nancy, Der Eindringling. Das fremde Herz, a.  a. O., S.  47 ‒  49. Mersch, Dieter, »Präsenz und Ethizität der Stimme«, in: Kolesch, Doris / Krämer, Sybille ( Hg.), Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 2006, S.  211‒ 235, S.  227. Man, Paul, de »Autobiographie als Maskenspiel«, in: Ders., Ideologie des Ästhetischen, hg.  v. Christoph Menke, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1993, S. 131‒146, S. 133.

167

168

Die szenografische Praxis des Miteinanderseins

und die Unendlichkeit ihrer Verweisungsstrukturen, die jeden außersprachlichen Zugriff verwehrten.106 »In dem Maße, in dem die Sprache eine Figur (oder Metapher oder Prosopopöie) darstellt, ist sie in der Tat nicht Gegenstand selbst, sondern seine Repräsentation, das Bild des Dinges, als solche ist sie still und stumm, so stumm, wie Bilder eben sind. Die Sprache ist als Trope immer privativ«, schreibt de Man. »Insofern wir beim Schreiben auf diese Sprache angewiesen sind, sind wir alle […] stumm und taub […] also für alle Zeit der Stimme beraubt und zur Stummheit verdammt.«107 Diese Stummheit, die aus der Unmöglichkeit eines ›originären‹ oder ›unmittelbaren‹ Sprechens rührt und das darin begründete Sichfremdsein im eigenen Ausdruck, die konstitutive Entfremdung, die sich in der Äußerung selbst begründet, wird in der Aufführung in der szenischen Verdopplung auf plastische Weise zum Ausdruck gebracht. Die Dopplung des Sprechens, das Vorlesen, das Stutzen, die Verzögerungen und Wiederholungen als Markierung ›fremder‹ Rede demonstrieren dieses Strukturprinzip von Sprache und Referent im Kontext des Autobiografischen, welche die Entindividualisierung, die Transformierung und die Ästhetisierung des Gesprochenen ermöglichen und bedingen. Entsprechend verfährt Schlingensief, indem er formulierte Selbstmordgedanken einspielen lässt, die ihn vor der Vollnarkose zur OP umtreiben, bei der seine von Krebs befallenen Körperteile entfernt werden, und sie nach einer Weile durch die Schauspielerin Mira Partecke mit- bzw. nachsprechen lässt. Während zunächst Schlingensiefs akusmatische Stimme über Lautsprecher erklingt, erscheint auf der Leinwand über der Bühne die unterweltartige Fluxus-Prozession auf dem Ruhparkgelände108, überschrieben als »Die letzten Bilder vor der Vollnarkose«. Begleitet wird Schlingensiefs Stimme leise im Hintergrund durch die »Die Nebensonnen« aus Franz Schuberts Winterreise, womit die traurige Stimmung des sich todgeweiht Glaubenden untermalt wird: »Ich habe keine Angst vor der Operation. […] bei der Bronchoskopie ist mir das auch wieder passiert. Ich geh da gemütlich rein, ich freu mich, wenn es warm wird, es ist mir ein Hochgenuss abzutauchen und das ist wunderbar […] ich bin wirklich so was von kühl und distanziert, wie eigentlich noch nicht in der ganzen Zeit. Also, das ist wie Tod […] Das Eine ist komplett absagen und wirklich noch irgendwie gucken, dass ich einen Haufen Schmerzmittel irgendwo organisiere und mich wirklich irgendwo hinbegebe, in mein Afrika oder so was, um da […].

106

107 108

»Die Bedeutung der Autobiographie besteht nicht darin, daß sie eine verläßliche Selbsterkenntnis liefert (was sie auch gar nicht tut), sondern darin, daß sie auf schlagende Weise die Unmöglichkeit der Abgeschlossenheit und der Totalisierung aller aus tropologischen Substitutionen bestehenden textuellen Systeme demonstriert.« Ebenda, S. 135. Ebenda, S. 145. Siehe hierzu Kapitel I, »Das Filmmaterial«.

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

abzuhängen, Bänder vollsprechen, Bücher lesen und alles sein lassen und am Ende weiß man nicht, was dann ist, schreiend zurückzukommen und flehen […] und alles ist zu spät. Oder eben die andere Version, die ich ja ganz schwer mit mir ausmachen kann, ist einfach der Sache kurzfristig ein Ende machen, weil ich einfach … Ich müsste nur Wege finden, dass die Aino und meine Freunde, dass die das nicht falsch verstehen, sondern dass es mir einfach an totaler Kraft fehlt, schon seit ein oder zwei Jahren oder schon immer. Ich kann mich eben nicht so liebhaben, wie ich es vielleicht manchmal müsste. Ich kann mich nicht so, in dem was ich mache, als guten Menschen begreifen, oder also irgendwie bin ich mir vielleicht nie ganz wohl in mir […].«109

Im Verlauf der Einspielung bricht Schlingensiefs Stimme und wird weinerlich. Als das passiert, fällt Licht auf die vordere Bühne, und man sieht Mira Partecke hinter einem hellen transparenten Vorhang sitzen, wie sie mithilfe einer Taschenlampe den Text mitliest. Einen Moment später beginnt sie, ihn laut mitzusprechen. Ihr Sprechen ist holprig und erfolgt stets zeitverzögert zu Schlingensiefs Stimme, als müsse sie den fremden Text dechiffrieren und erst begreifen, wovon hier die Rede ist. Diese Synchronisation wird gezielt asynchron inszeniert. Hierdurch entsteht ein Verfremdungseffekt, der die traurige Grundstimmung und die scheinbare Intimität zwischen Publikum und Schlingensiefs Stimme unterbricht, die sich aufgrund der indexikalischen Qualität 110 der Stimme ereignen kann – denn gerade weil die Stimme als Index einer Person fungiert, vermag sie trotz der leibhaftigen Abwesenheit des Künstlers eine solche Intimität zu generieren. Wenn Schlingensiefs Stimme über Tonband eingespielt wird, wird dabei stets auf unterschiedliche Weise auf ihre Medialisierung verwiesen, welche die unmittelbaren, intimen und anrührenden Wirkungen und Effekte, die unfassliche Trauer, die sich in ihr artikuliert, aufbricht und ein multiples dialektisches Spannungsverhältnis etabliert. Durch die Dopplungen und rekursiven Vervielfältigungen des Textes und der hier formulierten Erfahrungen wird auf deren ästhetische Transformationen aufmerksam gemacht und damit zugleich das Einfühlen, Mitfühlen und Mitleiden der Rezipient*innen unterbrochen und selbst dem Verfremdungseffekt unterzogen. In der Bewusstwerdung der persönlichen Rezeption wird das Leiden so auch als ein Mitleiden, ein geteiltes Leiden inszeniert, das sich dabei selbst fremd wird. Schließlich lässt Schlingensief sich immer wieder auch in Rollenspielen verkörpern. Hierzu schreibt Sandra Umathum : »Für diese Inszenierung des Ineinanders von Dasein und Nicht (mehr )-Dasein hat Schlingensief Schauspieler ausgewählt […], die seinen Part übernehmen und an seiner Stelle die Aufspaltung in unter-

109 110

Transkription. Siehe hierzu weiter Kapitel III, »Mediale Szenarien der Berührung«.

169

170

Die szenografische Praxis des Miteinanderseins

schiedliche Schlingensief-Figuren [...] verkörpern«111. Umathum deutet hierzu zwei mögliche Interpretationen an. Zum einen lässt sich ihr zufolge die in Schlingensiefs Arbeit werkgeschichtlich neue Repräsentationsstruktur seiner Person als Möglichkeit begreifen, dem eigenen Sterben auf der Bühne zuzusehen. Zum anderen stellt sie in Aussicht, dass man die Figur des Doppelgängers auch als »Ausdruck seiner Auflehnung gegen den Untergang des Ichs«112 lesen kann. Ich möchte beide Möglichkeiten im Weiteren verfolgen und dabei betonen, dass es sich bei der Auflehnung gegen den Untergang des Ichs zugleich um eine Inszenierung des Ichs handelt, das jenseits der anderen inexistent ist, im Leben wie im Tod. Während im »Fluxus-Oratorium« sowie in Der Zwischenstand der Dinge der Schauspieler Stefan Kolosko ›Schlingensiefs Rolle‹ übernimmt, fällt dies in Mea Culpa dem Schauspieler Joachim Meyerhoff zu. Im Wechselspiel mit anderen medienreflexiven und vieldeutigen Erscheinungsweisen und Re-  /  Präsentationsmomenten des Künstlers und seiner Krankheit entfaltet sich so ein multiples Spiel unterschiedlicher szenischer Tableaus, die den konstitutiven Zusammenhang von Sich und Anderem, vom Fremden in uns und als Teil unserer selbst hervorheben, der dem Theater in besonderem Maße eingeschrieben ist. Koloskos durch ein Mikrofon verstärkte und mit einem Echoeffekt versehene Stimme sorgt für ein erhebliches Maß an Artifizialität, sodass sein Spiel nie in verwechselbare Nähe zu psychologisch-realistischem Schauspiel gerät. Dadurch, dass seine Auftritte und sein Spiel häufig eine absurde oder autodestruktive Wendung nehmen, werden unterschiedliche Mechanismen der theatralen Distanzierung aufgeführt. Kolosko und später Meyerhoff treten als ›Repräsentanten‹ von Christoph Schlingensief auf. Diese Rollen werden als solche wiederum ausgestellt, gebrochen und ironisiert, es gibt keine Identifizierung, sondern eine multiple Dissoziierung. Dabei wirken die Spielszenen interessanter Weise noch verfremdeter und selbstreferenzieller als die gelesenen, als ›fremde Rede‹ markierten Monologe der Schauspielerinnen. Wenn Joachim Meyerhoff in der »ReadyMadeOper« Mea Culpa in der Rolle Christoph Schlingensiefs über die Bühne irrt, das Operndorf eröffnet, sich selbstmordlustig zeigt und am Ende der Aufführung seinen aus dem Jenseits kommenden Vater zurückweist, er wolle noch nicht gehen, er wolle leben, dann verfremdet er seine Darstellung nicht nur mit schauspielerischen Mitteln und markiert sie als nicht an psychologischer Wahrscheinlichkeit orientiert, sondern als eine darstellerische Aufgabe, die er mit einer zugewandten, offenen und anerkennenden Haltung gegenüber demjenigen, um den es dabei vornehmlich geht, löst. Seine verfremdende Darstellung weiß um ihre Künstlichkeit als ihre Bedingung und ist wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass sie gar nicht an einer umfassenden Darstellung, einem

111 112

Umathum, »Die Kunst des Abschiednehmens«, a.  a. O., S.  260. Ebenda, S.  261.

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

realistischen Porträt interessiert zu sein scheint. Vermessen würde dieser Anspruch angesichts der Plastizität des Vorbildes auch sein. Vielmehr gründet Meyerhoff seine Schlingensief-Rolle ( ähnlich wie dies zuvor beim Schauspieler Stefan Kolosko im »Fluxus-Oratorium« der Fall war ) offenbar in der Einsicht, Teil einer kommunitären und konstellativen Darstellung zu sein, die auch den Raum, die Filme, die anderen Körper, Bilder, Flächen, Klänge usw. miteinschließt, welche dabei eben nicht gemeinsam an personeller Entsprechung oder Wahrscheinlichkeit arbeiten und mitwirken. Meyerhoff in der Rolle Christoph Schlingensiefs vermag dem Tod selbst noch einmal entschieden von der Schippe zu springen, wenn das übrige Ensemble am Ende der Aufführung von Mea Culpa vor ihm steht, in einem kleinen, modellhaften Bühnenrahmen, der den Bühnenrahmen doppelt und damit das Szenische der Szene unterstreicht und reflexiv potenziert. Es will ihn, scheinbar aus dem Jenseits kommend, zu sich in seine Mitte holen. Er dankt ihnen und beschließt, nicht mitzukommen, noch hierbleiben, noch nicht sterben, sondern weiterleben zu wollen, und zieht einen roten Theatervorhang vor ihnen zu. In der szenischen Dopplung vermag der Protagonist das Szenario113 seines Sterbens selbst zu beobachten und kann dann auf dieser Grundlage selber über sein Leben und seinen Tod als in den Händen und Körpern der anderen liegend entscheiden. Als letzte Handlung öffnet sich der Vorhang noch einmal und das Gesicht eines älteren Schauspielers blickt durch den Vorhang. Ein heller Lichtspot trifft sein Gesicht und verursacht ein Flimmern auf seiner Haut. Er resümiert: »Gestern Abend ging mir durch den Sinn: alles was ich an den anderen mag, bin ich selbst, habe ich selbst, liebe ich selbst an mir. Das heißt, ich liebe mich im, ich erkenne mich selbst im anderen. Wir sind EINS! Tschüss!« Diese Sätze bilden den Abschluss von Mea Culpa wie auch der gesamten Krankheitstrilogie in Schlingensiefs Spätwerk, welche um die existenziellen Erfahrungen des Selbstverlusts, der Selbst- als Fremderfahrung, des Verschwindens und Weiterlebens in den anderen kreist. Die Schlusserkenntnis demonstriert ein Zusichkommen im anderen, nicht als projektive Relation, sondern als Einsicht in die konstitutive Alterität des Selbst und das existenzielle Miteinanderverwobensein im Leben und im Sterben. Wie Benjamin Wihstutz herausstellt, beschreibt Rim-

113

Zum Begriff des Szenarios siehe Wolfsteiner, Andreas, Sichtbarkeitsmaschinen. Zum Umgang mit Szenarien, Berlin: Kadmos, 2018. Der Begriff des Szenarios erscheint hier deshalb passend, als er Potenzialitäten und Möglichkeiten beschreibt, die sich noch nicht realisiert haben, und um diese Potenzialitäten und Möglichkeiten geht es meines Erachtens in der Inszenierung von intersubjektiven und gemeinschaftlichen Erfahrungen im Leben, Sterben und Tod, die so noch nicht eingetreten und realisiert sind und hier als Möglichkeit in den Raum gestellt werden, aber noch und immer wieder neu diesseits und jenseits der Aufführung realisiert werden müssen.

171

172

Die szenografische Praxis des Miteinanderseins

bauds berühmte Feststellung »Je est un autre« genau das, was Jean-Luc Nancy ( in einer Re-Lektüre Heideggers ) als Todeserfahrung beschreibt, die im Tode des anderen zur Erfahrung bringt, »außerhalb des Moi, in Gemeinschaft zu sein«.114 Den eigenen Tod erfährt man lebend nur als Tod des anderen, der einem das eigene Ende vor Augen führt, es erahnen lässt und als existenzielle Gemeinsamkeit anzeigt.115 Schließlich möchte ich in aller Kürze unter den Szenarien des fremden Selbst auch Schlingensiefs leibhaftigen Auftritt in der Aufführung in den Blick nehmen. So tritt er in eigentlich allen späten Arbeiten auch selber auf, allerdings nur noch an einzelnen Stellen und nicht mehr als kontinuierlicher Akteur, wie dies in den meisten früheren Bühnenarbeiten der Fall gewesen war. Dies, obwohl und gerade weil die Arbeiten wie nie zuvor thematisch seine eigene Existenz umkreisen. In Mea Culpa, wie schon in Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir und auch in Der Zwischenstand der Dinge lässt er sich nicht nur durch jemand anderen spielen, sondern erscheint auch leibhaftig auf der Bühne. Dabei wirkt er aber wie ein Außenstehender in der eigenen Arbeit, trägt scheinbar seine Alltagskleidung und changiert zwischen Beobachter, Kommentator und Akteur. Die übrige künstlerische Darstellung seiner Persona und seiner existenziellen Erfahrungen in der Arbeit, die sich auf ganz unterschiedlichen ästhetischen Ebenen ereignet, wird so deutlich von seiner ›realen Gestalt‹ unterschieden inszeniert. Nicht nur insistiert er dabei offenbar auf einer Zwischenposition zwischen Leben und Sterben, sondern erscheint auch als Subjekt, das als realer Referent in der Arbeit nicht eindeutig fixierbar ist, sondern sich in der Kunst ästhetisch konstelliert, sich stabilisiert und destabilisiert, unentwegt wieder im Sichentziehen begriffen ist, daher nicht gegriffen, nicht begriffen werden kann. »Hier soll einerseits klargestellt werden, dass eine Sicherheit über den ontologischen Status eines Auftretenden nicht zu haben ist«116, schreibt Diedrich Diederichsen mit Blick auf diese Konstellation. »Die Figur Schlingensief spricht eher im Sinne der Planungen und Intentionen des Künstlers Christoph Schlingensief als dessen volle, körperlich anwesende Stimme, die nun die Schluchten des Burgtheaters füllt«, notiert er über dessen Auftritt in Mea Culpa. Daraus schließt er zum Verhältnis von Künstler und ihn verkörperndem Schauspieler, dass so kein Zweifel besteht, »dass dieser Redende dort unten Christoph Schlingensief ist, und der Typ (   Joachim Meyerhoff, S.  R .) dahinten ›nur‹ ein

114

115 116

Wihstutz, Benjamin, Der andere Raum. Politiken sozialer Grenzverhandlung im Gegenwartstheater, Berlin / Zürich : diaphanes, 2012, S.  263  f. Siehe hierzu weiter in diesem Kapitel »Theatralität des Todes«. Diederichsen, Diedrich, »Diskursverknappungsbekämpfung, Vergebliche Intention und negatives Gesamtkunstwerk: Christoph Schlingensief und seine Musik«, in: Gaensheimer ( Hg.), Christoph Schlingensief. Deutscher Pavillon 2011, a.  a. O., S. 184  ‒190, S. 184.

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

Schauspieler.«117 Neben »der performancetheoretischen und subjektphilosophischen Frage, wie oder durch wen ein planender, intentional agierender Mensch am besten körperlich repräsentiert wird«, die durch die Spielanordnung in Mea Culpa (und in Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir ) gestellt werde, trete damit »eine existenzielle Komponente« hervor, bemerkt Diederichsen. »Schlingensief ist mit seiner eigenen Sterblichkeit konfrontiert und bezieht dies nicht nur auf seine körperliche Existenz, sondern auch auf die zahllosen Verkettungen und Wirkungen in dem unübersichtlichen Produktionsapparat Theater, bei dem es keine verbindlichen Aufzeichnungsformate und nur sehr vermittelte Aufbewahrungstraditionen gibt«118, so Diederichsen weiter, »wo aber auf der anderen Seite fortgesetzt Genealogien, Erbschaften und Verwandtschaften behauptet werden, sodass gerade die Abwesenheit einer verbindlichen Aufzeichungskultur die Frage des Erinnerns, Aufbewahrens, Überlebens und das – damit verbundene – Verhältnis der beabsichtigten zu den kontingenten Teilen ( des Lebens wie der Kunst ) permanent in den Mittelpunkt der künstlerischen Entscheidungen rückt.« 119  Damit formuliert Diederichsen hier eine weitere Dimension, in der Existenzfragen entlang der Spezifika der Aufführungssituation auf dem Theater verhandelt werden. Fragen des Lebens, Sterbens, Verschwindens und Fortlebens in den Erinnerungs- und Trauerkulturen der anderen werden an die Medialität des Theaters rückgekoppelt. So beschreibt Diederichsen die Flüchtigkeit der Aufführungssituation in Analogie zum Verschwinden und Sterben. Anstelle der Aufbewahrungskultur, die etwa dem Museum inhärent ist, verfügt das Theater über eine Apparatur der Erinnerungen, der Repräsentationen und fiktionalen wie medialen Verwandtschaftsbeziehungen, die sich, wie es in diesem Kapitel gezeigt wurde, in besonderem Maße eignen, die intersubjektiven und sozialen Dimensionen der Existenz, des Lebens und Sterbens zu verhandeln. Im abschließenden Kapitel ( V  ) dieser Studie zur Installation werden wir demgegenüber sehen, wie Schlingensief die Aufbewahrungskulturen und den sedimentierten Objektstatus der bildenden Kunst mobilisiert, um noch eine andere Dimension von Überleben, Tod und Erinnerung in seine Arbeit einzutragen. Im Folgenden möchte ich ferner zeigen, welche Rolle die spezifische Medialität und Materialität der Aufführung für die Auseinandersetzung mit dem Tod spielt, die mit Diederichsen lediglich angerissen wurde. Zuvor möchte ich einen kleinen Exkurs machen und Licht auf die Frage nach der politischen Dimension der öffentlichen, künstlerischen Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod richten.

117 118 119

Ebenda. Ebenda. Ebenda.

173

174

Ästhetischer Widerstand

Entäußerungen der Krankheit als ästhetischer Widerstand gegenüber ihrer Tabuisierung Die Figur der Anerkennung im »Fluxus-Oratorium« fungiert nicht nur als Moment, das dem Publikum seine konstitutive Rolle in der Aufführungssituation bewusstwerden lässt und es darüber hinaus zum aktiven Respons auffordert, sondern sie erinnert auch daran, dass diese Anerkennung nicht automatisch jedem zukommt. So fragt Judith Butler immer wieder danach, wem die konstitutive, lebensbestimmende Anerkennung zuteil wird und wer davon ausgeschlossen ist, also nach den »Grenzen, die festlegen, was im öffentlichen Leben in Erscheinung treten wird und was nicht« als »Grenzen eines öffentlich anerkannten Feldes des sichtbaren Erscheinens.«120 Diese Frage, wer Anerkennung erfährt, hat wiederum mit normativen Aufteilungen zu tun, die darüber bestimmen, wessen Leben bzw. welche Leben überhaupt anerkannt werden dürfen und sollen. In diesem Sinne fragt Butler: »Wer gilt als Mensch ? Wessen Leben zählt als Leben? Und schließlich: Was macht ein betrauernswertes Leben aus ?«121  Indem Schlingensief durch die Reflexion auf die Aufführungssituation die Anerkennung seiner Wunde und damit schließlich seiner Existenz durch das Publikum einfordert, erinnert er nicht nur an eine ethische Grundbedingung der Existenz, sondern politisiert auch im Sinne Butlers die Frage nach der Anerkennung. So fordert Schlingensief mit der Anerkennungsfigur der Wunde auch die Anerkennung seiner Existenz als Kranker, die Anerkennung seiner Krankheit innerhalb der hegemonialen Ordnung des öffentlich Gezeigten und Verhandelten und verändert damit wiederum diese Ordnung ein Stück weit. Wie die Pressereaktionen auf die Uraufführung von Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir deutlich zeigen,122 begründen die Schlingensief ’schen Darstellungsparameter hier eine Verschiebung dessen, was auf der ( post-)bürgerlichen Theaterbühne gezeigt werden darf. Denn obwohl sich Schlingensief einerseits auf eine Reihe künstlerischer Praktiken berufen kann, in denen die Grenzen der Darstellung von Krankheit und Sterben in der Kunst radikal verschoben wurden,123

120

121 122

123

Butler, Gefährdetes Leben, a.  a. O., S. 14. Butlers Überlegungen richten sich dabei konkret primär auf »Raster des Krieges« und insbesondere auf Propaganda- und Diskursmaschinen in der Kriegsführung der USA. Vgl. Butler, Raster des Krieges, a.  a. O. Butler, »Gewalt, Trauer, Politik«, a.  a. O., S.  36. Siehe z.  B.: Rossmann, »Heile, heile, Angst«, a.  a. O.; Kümmel, »Ihn brennt der Tod«, a.  a. O.; Tholl, »Alle sollen es wissen«, a.  a. O. Zu denken ist hier etwa an die AIDS-Bewegung und ihre emanzipatorischen Arbeiten, z.  B. von Félix González-Torres ( siehe hierzu Umathum, Kunst als Aufführungserfahrung, a.  a. O.); oder von David Wojnarowicz ( siehe Lehmann, Annette Jael, »Spuren der Präsenz,

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

zeigt das von der Arbeit zunächst ausgelöste Ressentiment, dass die Bearbeitung der persönlichen Krankheits- und Sterbeerfahrungen jenseits fiktionaler oder dramatischer Repräsentationsordnungen noch nicht zum Konsens der Theateröffentlichkeit gehört. Die öffentliche Auseinandersetzung mit seiner Krebserkrankung in der leitmotivischen Ummantelung des Wunde-Zeigens muss auch als eine Widersetzung gegenüber einer Tabuisierung, Singularisierung und Isolation des Kranken, insbesondere des Krebskranken gelesen werden, der von der Sphäre des öffentlich Wahrnehmbaren ausgeschlossen wird. In Krankheit als Metapher schreibt Susan Sontag, dass Krebs als Metapher in besonderem Maße negativen Konnotationen und entsprechenden öffentlichen Tabuisierungen unterliegt, die zu einer Isolation der Betroffenen führen. »Jede Krankheit, die man als Geheimnis behandelt und heftig genug fürchtet«, schreibt Sontag, »wird als im moralischen, wenn nicht wörtlichen Sinne ansteckend empfunden. So sehen sich überraschend viele Menschen mit Krebs von Verwandten und Freunden gemieden und werden von Mitgliedern ihres Haushalts zum Objekt von Desinfektionspraktiken gemacht, als ob Krebs wie Tb eine ansteckende Krankheit wäre. Der Kontakt mit jemandem, der von einer als mysteriöses Übel betrachteten Krankheit befallen ist, gilt unvermeidlich als Vergehen oder gar als Tabuverletzung.«124 Vor diesem Hintergrund lässt sich Schlingensiefs öffentliche Auseinandersetzung mit seinen Krankheitserfahrungen, die sich in den unterschiedlichen Formen und Formaten, Institutionen und Foren diesseits und jenseits der Kunst ereignet, auch als ästhetischer Widerstand gegenüber solchen Tabuisierungen lesen, als eine aufs Maximale hinauslaufende Widersetzung gegenüber der sozialen Verinnerlichung, Individualisierung und Tabuisierung der Situation des Krebskranken.125

124

125

Spuren der Absenz – Performativität und Erinnerung im Zeitalter von AIDS«, in: Paragrana. Theorien des Performativen 9 /2 ( 2000 ), S.  217–  236  ). Zu denken wäre aber auch etwa an die Aktion Visiting Hours des an Mukoviszidose erkrankten Bob Flanagans, siehe Fischer-Lichte, Theaterwissenschaft, a.  a. O., S.  I. Sontag, Susan, Krankheit als Metapher. Aids und seine Metaphern, München: Hanser, 2003, S. 10. Diese Strategie erinnert zumindest prinzipiell auch an den AIDS-Aktivismus der 1980er Jahre, der, wie Annette Jael Lehmann es beschreibt, »keine Unterscheidung von privatem Anliegen und öffentlichem Appell anerkennt und sich gegen die Strategien des Verschweigens und der Diskriminierung in weiten Teilen der […] Öffentlichkeit richtet.« Lehmann, »Spuren der Präsenz, Spuren der Absenz – Performativität und Erinnerung im Zeitalter von AIDS«, a.  a. O., S.  219. Vgl. weiterführend zu Kunst und AIDS-Aktivismus : Roamn, David, »Performing all our Lives : AIDS, Performance, Communitiy«, in: Roach, Joseph / Reinelt, Janelle ( Hg.), Critical Theory and Performance, Ann Arbor : University

175

176

Ästhetischer Widerstand

Der Krebs nimmt in diesen Inszenierungen und künstlerischen Sichtbarmachungen alle denkbaren, auch plastischen Formen, Gestalten und Mutationen an. In dieser ›Veräußerlichung‹ der Krebskrankheit, in ihrem öffentlichen Zeigen, in ihrer Aufführung lokalisiert Schlingensief symbolisch die Möglichkeit der Heilung. Hierin reflektiert sich auch ein Mythos der Krebskrankheit, demnach sie als eine Folge von emotionaler Unterdrückung entsteht 126 : die vollkommene, künstlerische Veräußerung wird so zum Gegengift. Mea Culpa, als letzter Teil der Krankheitstrilogie, variiert diese Volte, indem Schuldgeständnis und Buße als rituelle Praktiken der ( seelischen ) Heilung als Referenzrahmen gesetzt werden. Dass die Unterscheidung krank / gesund wesentlich auch eine normative und politische Dimension enthält,127 die kaschiert wird, indem die Unterscheidung naturalisiert wird, und die so im Interesse der bestehenden Ordnung, der sie dient, mit darüber bestimmt, wer an welchen Orten teilhaben darf, wer sichtbar ist, wessen Sprechen gehört wird 128 und wer ausgeschlossen bleibt, verdeutlicht sich in Schlingensiefs öffentlichen, künstlerischen Auseinandersetzungen mit seiner Krankheit in anschaulicher Weise. In seiner Inszenierung von sich als Krankem richtet er sich gegen eine Funktion »des Attributs ›krank‹ in normativen Diskursen«, die »auf dem Angstpotenzial, das es zu mobilisieren vermag«129 basiert. Denn als solches, so Thomas Anz in seiner Untersuchung zur Verflechtung von Medizin, Moral und Ästhetik, drohe es »mit dem Stigma der Minderwertigkeit, mit sozialer Isolation und mit der Aberkennung bürgerlicher Rechte«130 einherzugehen.

126 127

128

129 130

of Michigan Press, 1992, S.  208  ‒ 221; Phelan, Peggy, Mourning Sex. Performing Public Memories, New York, Routledge, 1997. Sontag, Krankheit als Metapher, a.  a. O., S.  23, S.  42  f. Wie Thomas Anz in seiner an der Gegenwartsliteratur ausgerichteten Diskursanalyse zu der Unterscheidung von gesund / krank darlegt, avanciert »Gesundheit« im Kontext der Aufklärung »zu einem derart ranghohen Wert der Kultur, erst im 18. Jahrhundert erlangen die Begriffe ›gesund‹ und ›krank‹ jene Schlagkraft im Kampf um die Gültigkeit bestimmter sozialer Normen, die ihnen noch heute eigen ist. Im 18.   Jahrhundert diente sie auch der Stabilisierung bürgerlicher Identität […]. Gesundheit wird so zum Ausweis der Überlegenheit einer den bürgerlichen Normen entsprechenden ›Art zu leben‹.« Anz, Thomas, Gesund oder krank ? Medizin, Moral und Ästhetik in der deutschen Gegenwartsliteratur, Stuttgart : Metzler, 1989, S.  27. Rancière schreibt: »Die Politik bestimmt, was man sieht und was man darüber sagen kann, sie legt fest, wer fähig ist, etwas zu sehen und wer qualifiziert ist, etwas zu sagen«. Rancière, Jacques, »Die Aufteilung des Sinnlichen. Ästhetik und Politik«, in: ders, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin: b_books, 2006, S.  21‒ 75, S.  26  f. Anz, Gesund oder krank ?, a.  a. O., S.  30. Ebenda, S.  30.

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

Auf der Internetseite der Wochenzeitung Der Freitag anlässlich eines dort erschienenen Artikels, der forderte, Schlingensief solle sein Leiden für sich behalten und kein allgemeines Mitleid erwecken, wehrt er sich. Er appelliert gegen die öffentliche Tabuisierung von Krankheitserfahrungen, dagegen, bestimmte Veranschaulichungen, Schilderungen und Darstellungen von Krankheit, Leiden und Sterben aus der öffentlichen Sphäre und dem allgemeinen Bewusstsein zu verbannen, sie der Verstehbarkeit, der Kommunikation, der Einfühlung und des Mitfühlens zu entziehen und damit das Miteinandersein der Kranken und Gesunden, der Lebenden und Sterbenden öffentlich zu verhindern: »So sieht’s also aus: ›Wer hat geil Krebs?‹ So einen Dreck schreibt jetzt also der Freitag   ? Boulevarddreck wie der Artikel in der FAZ: ›Lasst uns mit Eurem Krebs in Ruh!‹ Sollen wir wirklich unsere Schnauze halten? Noch vor einer Woche bittet mich die Chefredaktion vom Freitag, ich solle doch bitte den Aufruf für den Rückzug der deutschen Bundeswehr aus Afghanistan unterschreiben. Da war ich noch in den Flitterwochen. Und nun bekomme ich so einen Dreckskommentar zu lesen? Habe ich jetzt Freitagskrebs? Sie haben doch nicht mehr alle Tassen im Schrank oder besser ausgedrückt, ihr habt gewaltig den Arsch auf. Wie viele Leute haben Krebs und sehnen sich danach, dass sie mal nachlesen können, was da eigentlich los ist. Und zwar nicht in diesen Horrorforen im Internet mit all dem Horrorschnickschnack, den man sich vorstellen kann. Sie können gerne mal zwanzig Sonderausgaben mit all den Zusendungen von Krebskranken, Verwandten, Priestern, Ärzten usw. als Sonderdruck rausbringen. Die Briefe liegen hier bei mir. Menschen, die nicht mehr wissen, was sie tun sollen. Die keinem Gott im weißen Kittel ihre Fragen stellen wollen, weil sie Angst haben, anschließend blöd behandelt zu werden. Wissen Sie eigentlich, was man als Krebskranker für eine unglaubliche Angst hat ? Haben Sie überhaupt eine minimale Ahnung von dem, was Sie schreiben? Sollen wir alle ganz ehrenhaft schweigen, damit wir diese schreienden Gesundheitsbilder im TV nicht stören ? Supermodels, kräftige Haare, weiße Zähne, Adoniskörper, dazu noch erfolgreiche Börsenkurse – und wir Kranken sind zu laut? Wie bitte? Ich kenne mittlerweile Tausende von Leuten, die Angst haben, zu ihrem Krebs, zu ihrer Verzweiflung, zu ihrer Depression Fragen zu stellen. Wir schreiben mittlerweile unter www.geschockte-patienten.de. Nicht um uns den neuesten Darmkrebs auszumalen, sondern um uns selber zu fragen: Bist Du noch autonom? Was war das eigentlich für eine Autonomie bevor du den Krebs oder ALS oder MS bekommen hast ?   Was Sie beim Freitag da mit dem Spiegel zu rupfen haben, ist mir scheißegal. Mir geht es um jeden Einzelnen, der Angst hat, Fragen zu stellen, seine Ängste zu formulieren, sie zu transformieren, seine Autonomie zu suchen, auch wenn er dann in Ihrem pseudoengagierten Kreis nichts mehr zu suchen hat. Es sei denn, dass er sich gleich am Eingang als gescheiterter Leidenspatron zu erkennen gibt. Aber da haben Sie sich sehr verrechnet !   Ich habe doch selber während der Extremphasen nach Literatur und Aufzeichnungen gesucht ! Nach Notizen von jemandem, der diese Frage nach Gott, nach dem Arzt, nach dem Vorgang der Behandlung usw. möglichst sachlich mitteilt. Warum also nicht mal direkt nachfragen? Warum geben Sie ihr Minibudget nicht endlich mal dafür aus, dass Sie Kranke besuchen,

177

178

Wunde der (Im)perfektion

dass Sie Fragen zur Gesundheitsreform stellen. Mal was zur Einsamkeit fragen. Bei dem, der seinen Job verloren hat, keine Familie besitzt und kaum Freunde hat und dann auch noch gegen weiße Flecken im Körper als stumme Todesboten zu kämpfen hat. Was sagt der über so einen Scheißkommentar ? [ …] Meine verbliebene Lunge, rechte Seite, ist wieder voller Metastasen.   Was nun? Schnauze halten? Größe zeigen und Schnauze halten, wie Sie fordern? Ich denke gar nicht daran ! Ich werde bis zum letzten Moment von dem erzählen, was Sie sich nicht vorstellen können.131

Wunde der ( Im )perfektion Gerade mit Blick auf die politische Dimension und den ästhetischen Widerstand gegenüber Ausschlüssen und Tabuisierungen des Kranken von der Sphäre des öffentlich Sicht-, Hör und Wahrnehmbaren ist es wichtig hervorzuheben, dass die Wunde nicht auf die Krebskrankheit beschränkt bleibt. Die Verwundbarkeit kann als eine conditio humana begriffen werden. In dieser alle betreffenden Eigenschaft wird sie bei Schlingensief mit der Imperfektion kurzgeschlossen. So steht das Zeigen der Wunde bei ihm auch für einen offensiven und produktiven künstlerischen Umgang mit Krankheit, Schwäche und Imperfektion132 überhaupt. Sie fungiert hier auch als Symbol der von einer persönlichen Unzulänglichkeit und Imperfektion ausgehenden Ethik des Aufeinanderverwiesenseins und Voneinanderabhängigseins, die in Schlingensiefs Arbeit und seinen künstlerischen Weltzugriffen immer eine wesentliche Rolle gespielt haben. Wenn Schlingensief die Bühne für Menschen mit unterschiedlichen Formen körperlicher und geistiger Behinderung und deren ( Im)perfektion133 öffnet und zusammen mit verschiedenen prominenten professionellen Schauspieler *innen und Sänger *innen auf dem Berliner Theatertreffen oder im Wiener Burgtheater auftreten lässt, wovon sie an-

131

132

133

3.   September 2009, Kommentar von Christoph Schlingensief auf der Internetseite des Freitags zitiert aus: Schlingensief, Ich weiß, ich war’s, a.  a. O., S.  21  f. Siehe zur Imperfektion als ästhetisches Parameter in der Aufführung Kolesch, Doris, »Imperfekt : Zur Ästhetik anderer Körper auf der Bühne«, in: Huber, Jörg ( Hg.), Einbildungen ( Interventionen 14 ), Zürich  / Wien / New York: Springer, 2005a, S. 193  ‒ 206. Siehe zum Begriff der ( Im)perfektion im Kontext von Behinderung auch Macho, Thomas / Lutz, Petra et.  al. ( Hg.), Der [im]perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung, Köln : Böhlau, 2003. Siehe zu Schlingensiefs Umgang mit Menschen mit Behinderung in Freakstars 3000 auch Kroß, »Christoph Schlingensief ’s Freakstars 3000«, a.  a. O.

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

sonsten ausgeschlossen sind,134 dann verschiebt er damit die Parameter derjenigen normativen Ordnung, welche Zugänge zu bestimmten öffentlichen, gesellschaftlichen Feldern und Orten, in diesem Fall dem Theater, regulieren und begrenzen, und macht sie als bestehende Ordnung von Ein- und Ausschlüssen reflektierbar und hinterfragbar. Das Theater ist dabei nicht nur ein öffentlicher Ort, der wie jeder andere auch funktioniert. Denn es ist zudem ein Ort, welcher andere gesellschaftliche Felder und Orte spiegelt, reflektiert, verfremdet und kritisiert, ein Ort der gesellschaftlichen Selbstverständigung sowie der Aushandlung solcher Selbstverständnisse und Vorstellungen. »Das Problem ist«, notiert Schlingensief selber, »dass nicht alle die Chance dazu haben, dass nicht alle die Flächen zur Verfügung haben, um sich selbst auf die Bühne und ins Leben zu bringen.«135

134

135

Mittlerweile gibt es immer wieder Beispiele auch von anderen Künstler *innen, die mit (im)perfekten Menschen arbeiten und damit von der Documenta, über die Ruhrtriennale, zum Theatertreffen sowie zahlreichen anderen Festivals touren, wie etwa das jüngste Beispiel, Jérôme Bels Disabled Theater ( 2012 ), in dem er mit Menschen aus dem Theater für Menschen mit ›Behinderung‹ , HORA in Zürich, ein Tanzstück einstudierte, in dem die Tänzer *innen in dem für Bel typischen Setting der schwarzen leeren Bühne einen kleinen Teil ihrer Arbeitsbiografie erzählen und eine von ihnen selbst entwickelte Choreografie zu einem von ihnen ausgewählten Stück tanzen. Gerade an der hieran entfachten Diskussion, ob dies nun Ausstellung und Bevormundung oder Inklusion und Kunst seien, zeigt sich, dass eine solche Praxis nicht üblich ist und einen Punkt berührt, an dem die bestehende »Aufteilung des Sinnlichen« ( Racière ), die Regulierung der Teilhabe und des Sichtbaren an einem bestimmten und zugleich unbestimmt allgemeinen gesellschaftlichen Feld, hier dem Theater und dem Tanz im Besonderen, infrage gestellt und verschoben wird. Interessant ist auch, dass Bel mit dem Titel einen ganz ähnlichen Zugriff in der Auseinandersetzung mit Krankheit, Behinderung und Kunst vorschlägt, wie Schlingensief in Kunst und Gemüse und deren Slogan »Theater ALS Krankheit«. In beiden Fällen wird zunächst einmal – und hier sind beide durchaus im Geist der historischen Avantgarden verankert – die bestehende Praxis als obligatorischer Normalfall infrage gestellt und selbst als nicht-selbstverständlich, dysfunktional, behindert oder krank aufgefasst, sofern sie jene, die damit stigmatisiert werden, aus sich ausschließt. Auch im Fall von Bels Arbeit wird deutlich, dass ein Kampffeld der bürgerlichen Öffentlichkeit im Tanz auf besondere Weise virulent wird, weil der Körper der Tänzer *in klassischer Weise ein virtuoser ist, der ohne Einschränkung, federleicht sich anmutig zu bewegen imstande sein muss – ein Ideal, das mit dem dekonstruktiven, modernistischen Tanz der Avantgarden und Neoavantgarden gleichfalls erschüttert wird. Vgl. zu dieser Arbeit und die von ihr ausgelösten Diskussion Umathum / Wihstutz ( Hg.), Disabled Theater, a.  a. O. Schlingensief, Ich weiß, ich war’s, a.  a. O., S.  57  f.

179

180

Wunde der (Im)perfektion

Wie Carl Hegemann anmerkt, geht es nicht darum, die (im)perfekten Akteur *innen als die grundsätzlich Verschiedenen gegenüber den professionellen und ›gesunden‹ übrigen an der Aufführung Beteiligten gegenüberzustellen, sondern vielmehr darum, alle Anwesenden auf ihre persönlichen Behinderungen und Krankheiten aufmerksam zu machen, die jeder teilt und die jeden betreffen.136   Wie der Begriff des »(Im)perfekten« oder der Terminus des »( im )perfekten Menschen« bereits andeuten, geht es in der Inszenierung um das Aufzeigen des Gemeinsamen, da keine Existenzweise in Perfektion aufgeht. Denn der »Ausdruck verweist auf etwas Nicht-Perfektes, etwas Unvollkommenes, das von den Idealen der Perfektibilität abweicht«, schreibt Kati Kroß. »Anders als die dichotome Unterscheidung zwischen behindert /  nicht-behindert zeigt das ( Im )perfekte keinen völligen Gegensatz zum Perfekten an, sondern kündet vielmehr vom Widerspruch, vom Widerstand gegen das Perfekte«137, folgert sie in diesem Sinn. Auch für die Inszenierung, die Schlingensief von sich als Kranken vornimmt, in der er auf seinem Recht besteht, seine Erfahrungen auf der Bühne mitzuteilen und darzustellen und dabei markiert, dass der Status des Kranken ein potenziell alle betreffender, ein geteilter ist, ist diese Dimension der ( Im)perfektion wesentlich. Die Genealogie des grundlegenden Ausschlusses der als ›geisteskrank‹ bzw. heute eher als ›geistig behindert‹ Stigmatisierten leitet Thomas Anz aus der Psychologie- und Medizingeschichte her, in der sich die »Ordnung des vernünftigen Diskurses«138 gegen Störungen durch die »Sprache des Wahnsinns«139, also die Sprache der für ›wahnsinnig‹ und ›geisteskrank‹ Erklärten, zu sichern versucht, indem sie den Be- vielmehr Getroffenen jede Vernunft abspricht und sie von jeglicher Beteiligung an Kommunikation ausschließt : »Der Abbruch des Dialogs mit dem Kranken wird zum therapeutischen Gebot. […] Mit dem ›Wahnsinnigen‹ ist nicht zu rechten, nur über ihn.«140 Gegen solche Entmündigungen und Isola-

136

137

138 139 140

Carl Hegemann im Gespräch zu »Schlingensiefs Theaterfamilie«, in Kovacs / Janke ( Hg.), Der Gesamtkünstler, a.  a. O., S.  269  ‒ 282, S.  270. Kroß, Kati, Freaks Versehrte Idioten Behinderte. Die fotografische Repräsentation des (im) perfekten Menschen, Masterarbeit verfasst 2010 am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin, unveröffentlicht, S.  6. Anz, Gesund oder krank ?, a.  a. O., S.  29. Ebenda. Ebenda S.  31, Herv.  i.  O. Auch für den Krebs beschreibt Susan Sontag eine Tradition im medizinischen Diskurs, die weit ins 20. Jahrhundert hineinreicht, wonach die Krebspatient*in bevormundet werde und mit der Begründung der Schwere der Diagnose und ihrer Folgen gar nicht rational darüber aufgeklärt, sondern im Ungenauen und Unwissen über ihre eigene existenzielle Situation gehalten werde. Hierin drücke sich einerseits ein modernes Verdrängungsverhältnis zum Tod aus und anderseits eine anti-moderne

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

tionen der als ›geistig behindert‹ Stigmatisierten, die im Akt dieser Benennung ausgeschlossen werden, während die Ausschlussoperation verdeckt wird, richtet sich Schlingensiefs Arbeit generell. In seinem Team spielen die ( im)perfekten Akteur *innen Kerstin Grassmann, Achim von Paczensky, Horst Gelonnek, Norbert Müller, Mario Garzaner, Klaus Beyer u. v. m. eine wesentliche Rolle. Ihrer Bevormundung wird in den Arbeiten auch entgegengewirkt, indem sich ihre Auftritte nicht in vorgegebenen Fremdtexten und Choreografien erschöpfen, sondern auf ihre Improvisationen hin angelegt sind. In ihren Auftritten und Darstellungen lässt Schlingensief ebenso Platz für ihre Biografien und ihre nicht-repräsentierten alltäglichen Lebenswelten, wie er zugleich ihre Stärke und ihren Charme sowie ihre idiosynkratrischen Rhythmisierungen inszenatorisch zu nutzen weiß. Die Dynamiken ihrer Auftritte sind in gewisser Hinsicht auch paradigmatisch für bestimmte Dynamiken in Schlingensiefs Arbeiten insgesamt: die gesteigerten Kontingenzen in der Aufführungssituation, das ( Im)perfekte, das Unabgeschlossene, das sich zu den Ereignissituationen und -konstellationen hin Öffnende. Für die Inszenierung der Möglichkeit dieses Alternativvorschlags einer, mit Jacques Rancière zu sprechen, anderen »Aufteilung des Sinnlichen«, welche »zugleich die Existenz eines Gemeinsamen aufzeigt wie auch die Unterteilungen, durch die innerhalb dieses Gemeinsamen die jeweiligen Orte und Anteile bestimmt werden«141, nutzt die Inszenierung gleichermaßen die konkrete, phänomenale Theatersituation, die sich im Hier und Jetzt der leiblichen Ko-Präsenz von Akteur *innen und Publikum realisiert, wie ihre symbolischen, tradierten, institutionellen und normativen Einschreibungen.142 So lässt sich das Theater als ein Ort bestimmen, in dem im Rahmen einer normativen Aufteilung des Sinnlichen bestimmt, aber eben auch potenziell verhandelbar ist, »wie ein Gemeinsames sich der Teilhabe öffnet, und wie die einen und die anderen daran teilhaben.«143

141 142

143

negative Mystifizierung des Krebses: »Krebspatienten werden nicht nur deshalb belogen, weil die Krankheit ein Todesurteil ist (oder doch für eines gehalten wird ), sondern weil sie als obszön empfunden wird – im ursprünglichen Sinne des Wortes : als unter einem bösen Omen stehend, abscheulich, abstoßend für die Sinne.« Sontag, Krankheit als Metapher, a.  a. O., S. 10  ff., S. 12  f. Rancière, »Die Aufteilung des Sinnlichen. Ästhetik und Politik«, a.  a. O., S.  25. Vgl. hierzu auch Wihstutz, Der andere Raum, a.  a. O., S.  9  ‒ 28 sowie mit Blick auf Schlingensiefs Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir: ebenda, S.  266  ‒ 278. Wihstutz bezeichnet diese Verfasstheit des Theaters als »Janusköpfigkeit«, aufgrund derer das »das Ästhetische, das Soziale und das Politische im Theaterraum immer schon aufs Engste ineinander verwoben sind.« Ebenda, S. 15, 18. Rancière, »Aufteilung des Sinnlichen«, a.  a. O., S.  26. »Die Aufteilung des Sinnlichen macht sichtbar, wer, je nachdem, was er tut, und je nach Zeit und Raum, in denen

181

182

Wunde der (Im)perfektion

Judith Butler hat in ihren jüngeren Studien zum Krieg, zur Repräsentation und Betrauerbarkeit von Leben die existenziellen Verschränkungen von Leben, Macht und Repräsentation entschieden auf den Punkt gebracht. »Die epistemologische Fähigkeit zur Wahrnehmung eines Lebens hängt in Teilen davon ab«, schreibt Butler, »dass dieses Leben gemäß Normen hervorgebracht wird, die es allererst als Leben oder überhaupt als Teil des Lebens qualifizieren.144  […] Die Rahmen oder Raster [ frames ], mittels welcher wir das Leben anderer als zerstört oder beschädigt […] wahrnehmen oder eben nicht wahrnehmen«145, so Butler weiter, seien politisch mitbestimmt. Sie sind »ihrerseits schon das Ergebnis zielgerichteter Verfahren der Macht. Zwar entscheiden sie nicht allein über die Bedingungen der Wahrnehmbarkeit, aber es geht in ihnen doch um die Begrenzung der Sphäre des Erscheinens als solcher.«146 Es stelle sich hier ein ontologisches Problem, nämlich die Frage: »Was ist überhaupt ein Leben?«147 »Das ›Sein‹ des Lebens selbst verdankt sich ganz bestimmten Vorentscheidungen«, schreibt sie weiter, »daher können wir von diesem ›Sein‹ nicht sprechen, ohne von vornherein die Operation der Macht im Blick zu haben, und wir müssen die spezifischen Mechanismen der Macht offen legen, durch welche das Leben als solches erst hervorgebracht wird.«148 »Ob und wie wir auf das Leiden anderer reagieren, wie wir zu moralischer Kritik gelangen«, schreibt Butler an anderer Stelle, »all das hängt von einem bestimmten bereits existierenden Feld wahrnehmbarer Realität ab. Innerhalb dieses Feldes wahrnehmbarer

144 145 146 147 148

er etwas tut, am Gemeinsamen teilhaben kann.« Ebenda. Es lässt sich festhalten, dass zentrale Stränge in Schlingensiefs Arbeit generell an dem Zusammenhang von Tätigkeit, Sichtbarkeit, Verortung und öffentlicher Teilhabe rütteln und ihn zu verschieben versuchen. Man denke etwa an die arbeitsübergreifende Programmatik, den von Schlingensief immer wieder als »6 Millionen Arbeitslose« An- und Aufgerufenen, die aufgrund ihrer Nicht-Betätigung im Prinzip von aller öffentlichen Teilhabe ausgeschlossen sind, eine neue Sichtbarkeit zu verleihen sowie ihnen mittels der Kunst Selbstermächtigungsstrategien an die Hand zu geben. Aber auch die sie feiernde Inszenierung von (im)perfekten Menschen auf den deutschsprachigen Stadttheaterbühnen, ihre Zusammenführung mit professionellen Schauspieler *innen sowie die Inszenierung von z.  T. Sterbenskranken, die mit Blick auf eine potenzielle Nicht-Betätigung auch vom Gemeinsamen ausgeschlossen werden, wie in Kunst und Gemüse, A. Hipler ( 2004 ), und schließlich von sich selbst in den hier diskutierten späten Arbeiten sind diesem ästhetischen und politischen Programm verpflichtet. Butler, Raster des Krieges, a.  a.  O., S.  11. Ebenda, a.  a. O., S.  9. Ebenda. Ebenda. Ebenda.

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

Realität ist festgelegt, was ein anerkennungswürdiger Mensch ist und was nicht als anerkennungsfähiger Mensch bezeichnet oder betrachtet werden kann, was also als Figur des Nichtmenschlichen zu gelten hat, von welcher her ex negativo das anerkennbar Menschliche festgelegt und zugleich auch infrage gestellt wird.«149 Dieses Feld wahrnehmbarer Realität, das mitbestimmt, ob und wie wir auf das Leiden anderer reagieren, versucht Schlingensief mit seiner öffentlichen, künstlerischen Inszenierung von sich als Krankem und Sterbenden zu verändern und zu erweitern und berührt dabei, wie die öffentlichen kritischen, man könnte hier auch sagen: repressiven Stimmen, auf die er in dem vorgestellten Zitat reagiert, zeigen, zunächst einmal einen Bereich, der von diesem Feld des öffentlich Wahrnehmbaren bislang ausgegrenzt ist. Zwar operiert das »Fluxus-Oratorium« in der Darstellung von Krankheit nicht primär mit der Unterscheidung von menschlich / unmenschlich, aber es führt den Diskurs über den Kranken sowie den ›behinderten Menschen‹ als Chronologie des Absprechens ihrer Rechte, ihrer Mündigkeit und Bürgerlichkeit, schließlich: ihrer Menschlichkeit, implizit mit. Gerade auf dem europäischen Theater als tradiertem Ort der ›Menschendarstellung‹, der Charakterporträts, der Studien zur menschlichen Natur, als das sich das europäische Theater spätestens seit dem 18. Jahrhundert als Geburtsstunde des bürgerlichen, dramatischen Theaters selbst versteht150 und bis heute immer wieder verstehen will und verstanden wird, ist die in Schlingensiefs Arbeit sich ereignende Gegendarstellung und Verschiebung des Anerkennungswürdigen, des ›Menschlichen‹, wirkungsvoll zugespitzt. Schlingensiefs öffentliche Auseinandersetzung mit seiner Krankheit richtet sich in ihren alterierenden Darstellungspraktiken und Neuaufteilungen gegen alltäglich dominante soziale und kulturelle Platzierungen, Anordnungen und Ausschlüsse. In dem Bruch, den sie vollziehen, werden die vorherrschenden Darstellungs- und Besetzungspraktiken als soziale Praktiken mit politischen Implikationen erkennbar und zugleich auf dieser Basis anders politisch gewendet. Durch die differierende Darstellung von Krankheit und Behinderung, exemplarisch im »Fluxus-Oratorium«,

149 150

Ebenda, S.  65  f. Dieses Verständnis zeichnet sich etwa in den Diskussionen der Theatertheoretiker und -dramatiker des 18. und 19.   Jahrhunderts ab, die über die Frage debattieren, was die Schauspieler *innen zu fühlen und wie sie zu handeln hätten, um die menschliche Natur der jeweiligen Figuren der Dramen glaubhaft und das heißt in diesem Fall ›der menschlichen Natur‹ entsprechend darstellen zu können. Siehe hierzu z.  B. den Reader von Roselt, Jens ( Hg.), Schauspieltheorien. Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock bis zum postdramatischen Theater, Berlin: Alexander Verlag , 2005, insbesondere S.  96  ‒ 251. Siehe hierzu außerdem weiterführend : Fischer-Lichte, Erika, »Entwicklungen einer neuen Schauspielkunst«, in: Dies., Kurze Geschichte des deutschen Theaters, a.  a. O., S. 115  ‒141.

183

184

Theatralität des Todes

wird die Normativität und damit auch Relativität von Normalität, von Gesundheit, von Menschlichkeit und schließlich des Lebens überhaupt erst zur Wahrnehmung gebracht und damit zugleich als verhandelbar und veränderbar dargestellt. Die Theater-Aufführung als Totenmesse und die Theatralität des Todes »wie läßt sich da ein Tod denken, den wir uns teilen?« Jean-Luc Nancy 151

Schließlich läuft Schlingensiefs Verhandlung seiner lebensbedrohlichen Krankheitserfahrungen im Spätwerk auch auf eine Auseinandersetzung mit dem Tod hinaus. Auch dafür bespielt er Spezifika der Aufführung auf dem Theater, wie die strukturelle Nähe zum Ritual, die flüchtige und prozessuale Materialität sowie die leibliche Ko-Präsenz.152   Das ethische Moment der Erfahrung von intersubjektiver und sozialer Verwobenheit, das zuvor entlang der Anerkennungsfigur erörtert wurde, die sich im Motiv des Wunde-Zeigens offenbart, spitzt sich an diesem Punkt noch einmal zu und geht buchstäblich auf Leben und Tod. So möchte ich zeigen, dass hier Szenen des Todes auf die Bühne gebracht werden, die den Tod nicht länger als finale Einsamkeit darstellen, sondern im Rahmen theatraler Praktiken einen Tod vorstellbar zu machen versuchen, den wir uns, im Sinne Nancys, »teilen«. Der Tod wird hier nicht länger als Figur unendlicher Einsamkeit dargestellt, sondern als Ausgangsszenario eines Ingemeinschaftstehens, das über das Leben hinausgeht und sich gerade in seinem Angesicht offenbart. Die flüchtige und transitorische Materialität der Aufführung weist, so lässt sich behaupten, eine strukturelle Nähe zum Leben und zugleich zum Sterben auf. Christel Weiler hat darauf hingewiesen, dass Aufführungszeit immer auch Lebenszeit bedeutet und dass wir im Verlauf der Aufführung den Akteur *innen auf der Bühne beim Sterben zusehen. Dabei kommen wir zugleich auch unserem eigenen Ende ein Stück weit näher.153 Hans-Thies Lehmann verweist auf die Tradition

151 152

153

Nancy, singulär plural sein, a.  a. O., S. 170. Wie dies entlang der Spezifika der anderen Medien und Künste verhandelt wird, wird in den anderen Kapiteln zu den jeweiligen Künsten analysiert. Hier nun soll es wesentlich darum gehen, welche Rolle die Aufführung auf dem Theater für die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Leben und Tod spielt. Weiler, Christel, »Nichts zu inszenieren. Arbeit am Unsichtbaren«, in: Fischer-Lichte, Erika / Schouten, Sabine / Gronau, Barbara / Weiler, Christel ( Hg.), Wege der Wahrnehmung.

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

der Verwandtschaftsbestimmung zwischen Theater und Aufführung, Zeremonie und Messe gerade und vor allem im Hinblick auf das Sterben und den Tod. So erinnert er daran, dass Jean Genet das »Theater als Zeremonie« und die Messe als höchste Form des Dramas bestimmt habe. So seien der eigentliche Ort des Theaters für ihn die Friedhöfe und vor allem die »Totenmesse«.154 Ebenso wie für Heiner Müller sei für Genet das Theater wesentlich ein Dialog mit den Toten. Und wenn Müller nun das antike Theater als Totenbeschwörung begreife, in der die Zeremonie ( gegenüber der Fabel ) das entscheidende, die Grundstruktur bildende Element sei, bedeute das mithin eine Besinnung auf eine Tradition von Theater, die das neuzeitliche europäische dramatische Theaterverständnis grundlegend infrage stelle.155 Lehmann stellt schließlich heraus, dass die Hinwendung und Besinnung des ( postdramatischen ) Theaters auf seine Analogien, Funktionen und Qualitäten zu und als Messe, Zeremonie und Ritual auch auf einen Impuls der frühen Moderne rekurrierten.156   Parallel hierzu notiert Alain Badiou am Ende seines Wagner-Buches im Rekurs auf Mallarmé, dass es das zentrale Movens der Musik-, Opern- und Theater-Aufführungen der Moderne sei, eine Zeremonie ohne Transzendenz zu realisieren.157 Hierum geht es nach Badiou wesentlich auch in Wagners »Weltabschiedswerk«, dem Parsifal, mit dem Schlingensief im Rahmen seiner Bayreuther Inszenierung 2004 konfrontiert ist. Diese Begegnung schreibt sich schließlich maßgeblich in Schlingensiefs künstlerische Auseinandersetzungen mit seiner eigenen Krankheit und seinem nahenden Tod in den letzten Arbeiten ein.158 Überhaupt sind seine späten Arbeiten auf dem Theater wesentlich von zere-

154 155 156

157

158

Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater, Berlin: Theater der Zeit, 2006, S.  58  ‒ 70. Lehmann, Postdramatisches Theater, a.  a. O., S. 116. Ebenda, S. 116  f. Ebenda. Interessant ist, dass Lehmann diese Stelle bringt, nachdem er auf die Entkernung, die das postdramatische Theater vornimmt, hingewiesen hat, bei der alle konkreten religiösen Referenzen entfernt und noch Strukturprinzipien der Zeremonie oder des Rituals übernommen und auf Bewegungsabläufe oder Raumstrukturen bezogen und angewendet würden. Bei Schlingensief scheint es nun genau umgekehrt zu sein, wenn er geradezu überdeutlich römisch-katholische Formen und Praktiken aufruft und zitiert, die dabei aber nun im Theater aufgebrochen und mit Versatzstücken der Kunst transformiert werden. Dieser Impuls rührt wiederum von den Neoavantgarden und insbesondere von den in Schlingensiefs Arbeit mannigfaltig referenzierten Wiener Aktionisten um Hermann Nitsch und Günter Brus. Vgl. Kap. I. Badiou, Alain, Fünf Lektionen zum ›Fall‹ Wagner, Berlin / Zürich: diaphanes, 2012, S. 147  ‒160. Siehe hierzu weiter Kapitel IV.

185

186

Theatralität des Todes

moniellen Zügen geprägt. Hier gehen Musik, Aufführung, Ritual, aber eben auch Film und Installation mit den existenziellen Themen der Arbeit Verbindungen ein, die sich nicht mehr ausschließlich auf einen Theaterbegriff bringen lassen. Dabei scheinen sie Anleihen bei der Tendenz des modernen ( Musik-)Theaters zum Rückbezug auf seine rituellen Ursprünge zu nehmen, gerade in der Auslotung der Beziehung des Theaters zum Tod, ohne aber vollkommen darinnen aufzugehen oder bruchlos daran anzuschließen. Den strukturellen Bezug des Theaters zu Zeremonie und Totenmesse bespielt Schlingensief im »Fluxus-Oratorium« auf plastische Weise. Neben dem Spiel mit Rhythmen, Stimmungen, Bildern, Ritualen, Räumen und Klängen der Zeremonie und der Messe, setzt Schlingensief gegen Ende der Aufführung eine FluxusTotenmesse für den immer wieder so bezeichneten und adressierten »zukünftig Verstorbenen« in Szene. Und diese unterschiedlichen ästhetischen Szenarien des »zukünftig Verstorbenen« verhandeln, so möchte ich zeigen, einen im Verhältnis von Leben und Tod begründeten ethischen Grundzusammenhang. Diesen werde ich im Folgenden unter Rekurs auf Judith Butlers Überlegungen zur ethischen Dimension des Todes und der Trauer erörtern, nachdem ich die Gestaltung der Fluxus-Totenmesse für den »zukünftig Verstorbenen« kurz darstelle. Die Messe ereignet sich zum Ende der Aufführung und wird durch die Prozession des Ensembles in die Kirche eingeleitet, die von einem Kinder- und einem Gospelchor begleitet wird. Als alle am Altar versammelt sind, schlagen lauter Metronome im Takt eines Herzschlags, und der Schauspieler Stefan Kolosko, der in der Aufführung immer wieder Schlingensief spielt, eröffnet die Messe mit dem leitmotivischen Satz des Spätwerks: »Wer seine Wunden zeigt, wird geheilt, wer sie verbirgt, wird nicht geheilt.« So wird das Movens der Arbeit noch einmal markiert und auch für die Totenmesse in Anschlag gebracht. Das Zeigen der Wunde und der Verwundbarkeit als Ausgangsszenen der ästhetischen Erfahrung existenzieller gemeinschaftlicher Verflechtung werden nun auch auf den Umgang mit Sterblichkeit und Tod übertragen. Über der Bühne wird auf der mittleren Leinwand die Monstranz projiziert, in deren Fenster der Brustkorb mit dem entfernten Lungenflügel als Röntgenbild leuchtet. Das Bild ist nun animiert, sodass Blütenblätter von der Monstranz hinabfallen, womit ein klassisches Memento Mori-Motiv aufgerufen wird. Die Szene ist überhaupt gespickt mit Zeit- und Todessymboliken. So wird uns die Vergänglichkeit vor Augen geführt, die uns alle im Moment der gemeinsam verbrauchten Lebenszeit in der Aufführung berührt und die Frage in den Raum gestellt, wieviel Zeit für jeden von uns bleibt. Unter reflexivem Rekurs auf die Spezifik der Aufführungssituation zirkuliert die Frage zwischen Künstler, Akteur *innen und Publikum, sodass die Konfrontation mit Sterblichkeit und Tod als Gemeinsamkeit ›der Gemeinde‹ der Aufführung in Szene gesetzt wird. Kolosko leitet die Messe in der Aufführung weiter ein, indem er den zukünftig Verstorbenen einführt : »Wir

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

gedenken des zukünftig Verstorbenen, der vieles leisten wollte, kaum, dass er schon wieder weg war. Ein Mensch wie wir, wie du, wie ich, wir alle und damit auch besonders. Er war der, der er war, mehr nicht. Aber immerhin, wer kann das schon von sich sagen. Viele sind tot, viele sind untot, uns hat man jedenfalls noch nicht beerdigt.«159 In seiner folgenden kurzen ›Predigt‹ wechselt er die Personalform und spricht nun aus der Ich-Perspektive, in der Verkörperung des Künstlers als zukünftig Verstorbenem. Dabei spricht er von einem Moment vor dem Tod als Moment des Verlassenseins von Kirche, Glauben und Familie. Im weiteren Verlauf der Messe wiederholen sich solche Konstellationen auf immer andere Weise und unter personellem Wechsel. Auch Margit Carstensen oder der Schauspieler / Musiker Komi Mizrajim Togbonou, der nun zum ersten Mal auftritt, sprechen in der ersten Person Textpassagen aus Schlingensiefs Krankentagebuch, die eine akute Todesnähe beschreiben und die damit verbundenen Gedanken und Gefühle schildern. Der Topos des zukünftig Verstorbenen wird somit polyvalent und fluide und zirkuliert interpersonell, auch wenn er zugleich in der Inszenierung immer an Schlingensief rückgebunden bleibt. Beides umso mehr, als Schlingensief selber als dieser zukünftig Verstorbene am Ende der Messe erscheint, als der er nun schon vielfach verkündet wurde. Bevor er erscheint, werden weiße Kindersärge mit schwarzen Fluxus-Aufschriften in den Saal getragen und im Altarraum aufgestellt, Kerzen brennen, künstliche Blumengestecke schmücken die Szenerie. Das Licht verdunkelt sich und vor dem Altar erscheint eine Projektion eines in weißer Farbe gezeichneten menschlichen Skeletts mit Tierschädel, das auf da Vincis vitruvianischen Kreis gezeichnet ist und hier das Ideal menschlichen Ebenmaßes der Kunst der Neuzeit subvertiert. Der Ort der Lunge, die Wunde, ist rot ausgemalt. Jede Handlung, jedes Bild, jedes Wort und jedes Symbol wirkt in dieser Szene enorm aufgeladen. Das Spannungsverhältnis von An- und Abwesenheit im Leben und Sterben als Analogon zur Aufführungssituation, das Paradox der Präsenz des Abwesenden als zukünftig Verstorbener sowie das in dieser Situation als Futur II zur Erfahrung gebrachte Verstorben-Sein-Werden des Künstlers werden in diesem Moment auf die Spitze getrieben, und der Aufführungsraum wird von einer Anspannung dominiert, die Schlingensiefs leibhaftigen Auftritt bereits vernehmen lässt. Auf dem Triptychon über der Bühne wird eine Kreuzigung projiziert. In flackernden Schwarzweiß-Aufnahmen, die aus Schlingensiefs Film Fremdverstümmelung stammen, vergeht hier ein krummer, dünner Leib, mit den Wundmalen am Kreuz und schreit vor Schmerz stumm in die Kamera, dem Publikum entgegen – als zukünftig Verstorbener und zugleich als christliche Urszene des Schreckens und zugleich des Trostes aller zukünftig Verstorbenen. Der Darsteller verleiht der Ikone des am Kreuz sterbenden Sohn Gottes hier einen ›krüppeligen‹ Leib unter

159

Transkription.

187

188

Theatralität des Todes

der Inschrift »Inri«.160 Mit der Kreuzigung wird jene fortwährend dargestellte und erzählte Szene reinszeniert, in der sich die christliche Idee des Lebens und Sterbens, ja der christliche Glaube selbst begründet. Die Aufführung schreibt sich in sie ein und damit ihre Darstellungsgeschichte potenziell anders fort. So wird die christliche Symbolik des Leidens und Sterbens auf die reale Situation des Sterbens des Künstlers bezogen und die Frage aufgeworfen, wie sich Erfahrungen des Sterbens verhandeln lassen, jenseits der dafür etablierten Deutungs- und Kommunikationsstrukturen und zugleich immer mit ihnen: Wie lässt sich das Leiden des Sterbens nicht nur religiös überhöht und verklärt als Erlösung fassen und darstellen, und wie lässt sich doch damit trösten ? Wie lässt sich folglich dieser Trost auch ( anders ) gestalten ? Dabei wird die christliche Repräsentationsfigur, die der Opferung eingeschrieben ist, wonach einer für die Gemeinschaft der Gläubigen leidet und stirbt, von Schlingensief in seinem darauffolgenden Auftritt vehement zurückgewiesen. Während am Altar alle um sie versammelt sind, kündigt Angela Winkler den zukünftig Verstorbenen mit den Worten Heiner Müllers an: »Das wesentlich ist die Verwandlung. Das Sterben. Und die Angst vor dieser letzten Verwandlung ist allgemein, auf die kann man sich verlassen, auf die kann man bauen. Und das ist auch die Angst des Priesters und die Angst der Gemeinde. Und das Besondere ist eben nicht die Anwesenheit des lebenden Priesters oder des lebenden Gottesdienstbesuchers, sondern die Anwesenheit des potenziell Sterbenden.«161 In der Figur des zukünftig Verstorbenen tritt der Künstler in Erscheinung, wie Sandra Umathum es beschreibt, »der seinen eigenen Tod thematisch werden lässt – und zwar nicht in seinem womöglich erst in unbestimmter Ferne liegenden Tod, sondern […] als eine Gegebenheit, deren Nähe und baldiges Eintreten Wahrscheinlichkeit beanspruchen. Kunst wird hier zum Ort der Auseinandersetzung mit der eigenen Vorbereitung auf den Tod, dem eigenen Prozess des Abschiednehmens oder anders gesagt zum Schauplatz des Höchstpersönlichen und gleichsam der existenziellen Bedrohung : den finalen Selbstverlust und mithin jenem Moment, in dem man

160

161

Togbonou spricht nun hierzu weiter ins Mikrophon auf der Bühne: »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?‹, diesen Satz hat Jesus am Kreuz nicht gesagt, davon bin ich fest überzeugt. Das ist einfach Quatsch. Das ist nicht das Zeichen: Ja, ich bin auch so schwach wie ihr. Ich glaube, er ist einfach ganz still da oben gehangen, hat Aua gesagt und was weiß ich, aber hat nie den Vorwurf gemacht, dass man ihn verlassen hat. Er hat einfach gesagt: Ich bin autonom.« Togbonu spricht damit die gleichen Worte, die kurz darauf Schlingensief selbst, wie er leibhaftig als »zukünftig Verstorbener« am Altar erscheint, sprechen und dementieren wird. Transkription. Herv. S.   R. Quelle : Müller, Heiner, »Verwandlung«, in: Ich bin ein Landvermesser. Gespräche mit Alexander Kluge, Hamburg : Rotbuch, 1996.

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

als Subjekt aufhört, noch länger Subjekt zu sein.«162  Ich möchte dem hinzufügen, dass es in der Inszenierung des Sterbens und des Todes des Künstlers und speziell auch in der vielfach aufgerufenen Figur des zukünftig Verstorbenen nicht primär darum geht, den Tod als letztgültiges Ende des Einzelnen und die Isolation, die davon ausgeht, darzustellen, sondern besonders auch darum, den Tod in seiner alle betreffenden und damit in seiner intersubjektiven und vereinenden Dimension in Szene zu setzten. Wir alle können als die zukünftig Verstorbenen gelesen werden und treten darin potenziell an die Stelle des Künstlers. Darüber hinaus geht es, so möchte ich im Folgenden zeigen, auch darum, hier Bilder und Szenen des Todes zu zeichnen, anhand dessen eine Subjektivität hervortritt, die jenseits von Intersubjektivität und Alterität nicht existiert und die nicht mit dem Tod endet, sondern hieran besonders offenbar wird. Eine solche Lesart des Todes schlagen auf unterschiedliche Weise Judith Butler und Jean-Luc Nancy vor, und ich möchte ihre Lektüre im Folgenden mit Schlingensiefs Inszenierung des Sterbens und des zukünftig Verstorbenen zusammenführen. Doch zunächst zurück zum Szenenende. Nach einem dunklen Donner, der die Chöre durcheinander über die Bühne laufen lässt, erscheint aus diesem Durcheinander heraus Schlingensief leibhaftig am Altar. Umgeben von seinen ›Jüngern‹ als Teil einer kommunitären Plastik zitiert er aus dem Johannesevangelium.163 In seiner Ansprache weist Schlingensief den christlichen Opferungsgedanken zurück und negiert die Vorstellung, ein Einzelner könne in seinem Leiden das Leiden aller auf sich nehmen. Entsprechend könne die christliche Opferung keine Erlösung sein, und deswegen solle man sogar im Angesicht des Todes nach Selbstbestimmung streben. In diesem Sinn habe sich Jesus am Kreuz, anders als die Überlieferung es will, nach Schlingensief nicht von Gott verlassen gefühlt, sondern gesagt »Es ist gut, ich bin autonom«164 – und seine Repräsentationsfunktion abgelehnt. Diese Autonomieforderung wird zwar mit Blick auf die christliche Repräsentationsfigur des Leidenden und Sterbenden signifikant. Sie darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass in diesen multiplen, heterogenen szenischen Auseinandersetzungen mit dem Tod eine ethische Beziehung verhandelt wird, die sich anhand des Todes auf besondere Weise zeigt. Denn als zukünftig Verstorbener verkörpert der Künstler eine allem Leben eingeschriebene Grundbedingung. Diese universelle Repräsentationsfigur ist hier nicht in einem christlichen Kontext zu begreifen, sondern verweist auf eine existenzielle Gemeinsamkeit aller, allen Lebens, die mit dem Tod zusammenhängt.

162 163 164

Umathum, »Die Kunst des Abschiednehmens«, a.  a. O., S.  253. Siehe zu Schlingensiefs leibhaftigem Auftritt weiter Kapitel I, »Aufruf zur Autonomie «. Transkription.

189

190

Theatralität des Todes

Indem die christliche Stellvertreterfunktion von Leiden und Sterben von Schlingensief vehement negiert wird, wird damit zugleich eine andere ethische Dimension anvisiert, die sich im Tod offenbart. Diese beschreibt Jean-Luc Nancy folgendermaßen: »Wenn es wahr ist […], daß ich nicht anstelle des Anderen sterben kann, so ist es doch nicht weniger wahr und von derselben Art Wahrheit, daß der Andere als mit mir Seiender stirbt, und daß wir füreinander geboren werden und sterben, daß wir, ein-ander, uns dabei exponieren und jedes Mal nicht exponierbare Singularität des Ursprungs sind.«165 Geburt und Sterben sind nach Nancy existenziell theatral. Wir leiden und sterben nicht anstelle von jemandem, also nicht repräsentativ, sondern wir sterben füreinander, und darin offenbart sich unsere fundamentale Aufeinanderbezogenheit, unsere Verwobenheit. »Im Französischen sagt man ›mourir à‹ – an der Welt, am Leben [zugrunde gehen] – ebenso wie ›naître à‹ [erweckt werden zu]. Der Tod gehört zum Leben [la mort est à la vie ] – was etwas anderes ist als die Negativität zu sein, die das Leben durchläuft, um aufzuerstehen. […] Der Tod als fruchtbare Negativität ist derjenige eines einzigen Subjekts ( als Individuum oder Art ).«166 Dem entgegen der »Tod, der zum Leben gehört«167 und den Schlingensief hier in Stellung bringt, »die Ex-position als solche (das Ex-ponierte als Exponiertes = was sich zur Welt hin dreht, was in der Welt Kreise zieht, das nihil der ›Schöpfung‹ selbst) kann nur mit sein, singulär plural«168. Leben, Sterben, Welt und Existenz ereignen sich bei Nancy wie auf einer Bühne, immer in Exposition, die zu jemand anderem führt und zu den anderen hin, in einem unendlichen Füreinander-Dasein, das auch im Tod Bestand hat. Die Aufführung ist mit Nancy die Schöpfung der Welt, der Existenz. Die Aufführungsstruktur der Existenz und die Schöpfungsstruktur der Aufführung steigert Schlingensief in der Schöpfung der Existenz in der Aufführung. In welchen Kontexten und mit welchen Konsequenzen diese sich insgesamt im Spätwerk ereignet, wird uns bis zum Schluss dieser Untersuchung beschäftigen. Ausgehend von der Motivik von Sterben und Tod in der Fluxus-Totemesse, verhandelt Schlingensief in seinem Spätwerk die Erfahrung eines Mit- und Füreinander-Seins, die, wie Nancy es beschreibt, im Tod des anderen offenbar wird und uns unsere Verbundenheit auf Leben und Tod vor Augen führt. Ganz ähnlich wie Nancy und zugleich in eine andere Richtung führend denkt Judith Butler die Zusammengehörigkeit von Leben und Tod anhand einer expositionalen und, wenn man so will, theatralen Struktur der menschlichen Existenz. In diesem Sinne formuliert Butler einen Begriff des Lebens und Sterbens, der diese wesentlich als

165 166 167 168

Nancy, singulär plural sein, a.  a. O., S. 137  f. Ebenda S. 138, Herv.  i.  O. Ebenda. Ebenda, Herv.  i.  O.

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

soziale Determinanten begreift und ihre konstitutive Verflechtung als fundamentale zwischenmenschliche Verwobenheit fasst. Gerade im Moment des Verlustes des anderen und in der Trauer um ihn oder sie erfahren wir nach Butler unsere existenzielle gegenseitige Verbundenheit. So schreibt sie: »Wenn wir bestimmte Menschen verlieren, oder wenn uns ein Ort oder eine Gemeinschaft genommen wird, empfinden wir vielleicht nicht mehr, als daß wir etwas Vorübergehendes durchmachen, daß die Trauer vorbei sein wird und eine gewisse Wiederherstellung der früheren Ordnung zustande kommen wird.«169 Allerdings, so fährt Butler fort, könnten wir in der Trauer um den anderen etwas über uns erfahren, nämlich, dass wir mit dem anderen verwoben sind und die Relationen zu den anderen uns letztlich ausmachen. »Wenn wir so etwas durchleben«, notiert sie über Verlust und Trauer, »wird jedoch vielleicht auch etwas von dem enthüllt, wer wir sind, etwas, das die Bindungen beschreibt, die wir an andere haben, was uns zeigt, daß diese Bindungen das darstellen, was wir sind, Bindungen oder emotionale Bande, die uns ausmachen. Es ist nicht so, als ob hier auf dieser Seite ein ›Ich‹ unabhängig existiert und dann schlicht ein ›Du‹ als Gegenüber verliert, besonders dann nicht, wenn die Zuneigung zu dem ›Du‹ ein Teil von dem ausmacht, wer ›ich‹ bin.«170 Der Verlust des anderen, so Butler, bedeutet zugleich den Verlust meiner selbst, insofern mich die Beziehung zum anderen begründet, ohne dabei mit mir identisch zu sein: »Wenn ich dich unter diesen Umständen verliere, betrauere ich nicht bloß den Verlust, sondern werde mir selbst unergründlich. Wer bin ›ich‹ ohne dich? Wenn wir einige dieser Bindungen verlieren, durch die wir konstituiert sind, wissen wir nicht wer wir sind oder was wir tun sollen. Auf der einen Ebene denke ich, ich habe ›dich‹ verloren, nur um dann zu entdecken, daß ›ich‹ mir selbst ebenfalls abhanden gekommen bin.«171 In der grundlegenden intersubjektiven Verflechtung, die unsere Existenz auszeichnet und die wir in der Trauer um jemanden erfahren, sieht Butler die Grundlage für Gemeinschaft und ethische Ordnungsbildung, für Politik. So konstatiert sie : »Viele Menschen glauben, große Trauer wirke privatisierend, sie führe uns in eine einsame Situation zurück und sei in diesem Sinne entpolitisierend. Ich denke jedoch, sie gibt uns ein Gefühl für politische Gemeinschaft einer komplexeren Ordnung. Sie tut das zunächst einmal, indem sie die Beziehungsbande zum Vorschein bringt, die für die theoretische Erfassung der grundlegenden Abhängigkeit und ethischen Verantwortung nicht unerheblich sind.«172   Und sie schließt : »Wenn mein Schicksal ursprünglich oder letztlich von deinem nicht zu trennen ist, dann

169 170 171 172

Butler, »Gewalt, Trauer, Politik«, a.  a. O., S.  39. Ebenda. Ebenda. Ebenda.

191

192

Theatralität des Todes

ist das ›wir‹ von einer Beziehungsförmigkeit durchwoben, gegen die wir kaum argumentieren können; oder genauer gesagt, wir können zwar dagegen argumentieren, aber wir würden damit etwas grundlegendes an den sozialen Voraussetzungen unserer Formierung leugnen.«173 Während Nancy versucht, der Heidegger’schen Philosophie des Todes als letztgültiger Einsamkeit und alle Einsamkeit der Existenz begründende Instanz veränderte Vorzeichen zu verleihen,174 indem er ihn zu einer Erfahrung des Ingemeinschaftstehens und des Füreinanderdaseins und -sterbens werden lässt, geht Butler noch einen Schritt weiter und unterstreicht die Sozialität von Leben und Tod, die zuvor unter Rekurs auf Nancy im Hinblick auf die Krankheit175 herausgearbeitet wurde. »Gegenüber der existenzialistischen Konzeption der Endlichkeit, die unseren Bezug zu Leben und Tod singularisiert«176, schreibt Butler, »verdeutlicht das Konzept des Gefährdetseins unsere radikale Ersetzbarkeit und Anonymität sowohl in Bezug auf bestimmte gesellschaftlich geförderte Weisen von Tod und Sterben als auch in Bezug auf andere gesellschaftlich bedingte Weisen des Bestehens und Gedeihens.«177 In diesem Sinn geht es in Schlingensiefs Inszenierung des eigenen Sterbens und der Aufführung seiner Totenmesse als zukünftig Verstorbener nicht um eine Auseinandersetzung mit dem Tod, die diesen singularisiert. Auch geht es nicht um eine christlich gedachte Stellvertreterfunktion des Leidenden und Sterbenden als Märtyrer. Denn wenn, wie Nancy es formuliert, ich ohnehin nicht anstelle eines anderen sterben kann, dann geht es hier doch viel eher darum, auszuloten, wie ein Tod aussieht, »den wir uns teilen«178. Schlingensief teilt seine Sterbeerfahrungen zunächst einmal, indem er sie personell aufteilt und in der Aufführung dem Publikum mitteilt. Allgemeiner gesprochen, geht es in dieser Aufführung und Mitteilung des Todes darum, die Sozialität und intersubjektive Dimension des Todes ins Spiel zu bringen. Entsprechend signifikant ist hierfür auch die Inszenierung der Trauerfeier für den zukünftig Verstorbenen. Noch einmal mit Rekurs auf Butler lässt sich eine Zeitstruktur der Figur des zukünftig Verstorbenen erörtern, welche Leben und Tod in eine Beziehung setzt, die in Schlingensiefs Arbeit auf der Bühne

173 174

175 176 177 178

Ebenda. Nach Heidegger ist die grundlegende Gemeinsamkeit des Seins des Menschen das so genannte »Sein-zum-Tode«, also die von allen geteilte Bezogenheit des eigenen Daseins auf den Tod, der wiederum als nicht-erfahrbare und nicht mit-teilbare Individuation par excellence begriffen wird. Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen : Niemeyer, 1984, S.  260  ‒ 267. Siehe in diesem Kapitel »Krebskrankheiten und das fundamentale In­gemeinschaftstehen«. Butler, Raster des Krieges, a.  a. O., S.  22. Ebenda. Nancy, singulär plural sein, a.  a. O., S. 170.

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

verhandelt wird. Aus der grundsätzlichen Gefährdetheit ( precariousness ) des Lebens resultiert nach Butler eine potenzielle Trauer, von der man in der Gegenwart des Lebens weiß, dass sie dem Leben gälte, wenn es verloren wäre. Die Gewissheit der Trauer um ein Leben im Moment des Todes macht nach Butler den sozialen Wert des Lebens erst aus.179 Einen solchen konstitutiven Zusammenhang von Leben und Tod, der die Existenz von deren Beginn, von der Geburt an begleitet und sich in der potenziellen Trauer, der Betrauerbarkeit eines Lebens offenbart, inszeniert Schlingensief in seiner eigenen Totenmesse für sich als zukünftig Verstorbenen. Er visioniert selbst die Betrauerbarkeit um sein Leben als zukünftig Verstorbener im Moment akuter Gefährdung in der Aufführung. In einer bestimmten filmischen Sequenz zu Beginn der Fluxus-Totenmesse markiert er zudem den Zusammenhang von gefährdetem Leben und Betrauerbarkeit, wie er von der frühen Kindheit an virulent wird. Denn während Stefan Kolosko am Altar die Totenmesse für den zukünftig Verstorbenen eröffnet und in der Verkörperung Christoph Schlingensiefs als dieser selbst spricht, erscheint auf dem Triptychon über der Bühne der junge Schlingensief im Kindesalter, der sich vor dem flächigen Hintergrund gefliester Badezimmerwände einseift und wäscht. Die beiden seitlichen Leinwandbilder sind dabei synchron, das mittlere Bild zeigt einen etwas näheren Ausschnitt des sich waschenden Kinderkörpers.180 Der »zukünftig Verstorbene«, der in dieser Fluxus-Totenmesse betrauert wird, erscheint hier in der Gegenwart der Aufführung zu einem vergangenen Zeitpunkt, noch ziemlich zu Beginn seines Lebens, das nun akut bedroht wird. Butler schreibt zur Gleichzeitigkeit von Leben, Gefährdung, Tod und potenzieller Trauer, aus der wiederum eine existenzielle soziale Verwobenheit des Einzelnen erfahrbar wird, Folgendes : »Wir werden nicht zunächst geboren und sind irgendwann später gefährdet ; vielmehr ist das Gefährdetsein als solches mit der Geburt koextensiv ( die Geburt ist per definitionem eine Gefährdung  ), was bedeutet, dass es darauf ankommt, ob dieses neue Wesen überlebt oder nicht und dass sein Überleben von einem, wie wir sagen könnten, sozialen Netz helfender Hände abhängt. Eben weil ein lebendiges Wesen sterben kann, muss man sich

179

180

Vgl. Butler, Raster des Krieges, a.  a. O., S.  20  f. Auch wenn Butlers Ausführungen sich auf einen anderen Kontext beziehen, nämlich der Medialisierung von Krieg und Krisen und der hierin virulent werdenden Unterscheidung von betrauerbarem und verkanntem Leben, die durch die Aufteilung des Sinnlichen, des Sichtbaren und unsichtbar und unkommunizierbar Gehaltenen strukturiert wird, so sind ihre Ausführungen (wie immer ) so allgemein und grundlegend gehalten, dass sie bestimmte fundamentale Zusammenhänge in unserem sozial strukturierten Sein freizulegen vermögen und sich als solche gut aus jenem Kontext herauslösen und auf Schlingensiefs Arbeit beziehen lassen. Siehe hierzu Kap. III, »Triptychon des Lebens«.

193

194

Theatralität des Todes

um es kümmern, wenn es überleben soll. Nur in Verhältnissen, in denen sein Tod von Bedeutung ist, kann der Wert dieses Lebens zutage treten. Betrauerbarkeit ist somit Voraussetzung dafür, dass es auf ein bestimmtes Leben ankommen kann.«181 Die Wertschätzung eines Lebens durch andere oder auch durch die Allgemeinheit ist nach Butler damit verknüpft, ob der Verlust dieses Lebens für andere und /oder für die Allgemeinheit einen Verlust darstellt: »[ E ]in Säugling kommt zur Welt und wird in und durch diese Welt bis zum Erwachsenwerden und dann bis ins Alter am Leben erhalten, um schließlich zu sterben. Wir stellen uns vor, dass die Ankunft des Kindes gefeiert wird, sofern es sich um ein gewolltes Leben handelt. Eine solche Feier ist jedoch ohne ein implizites Verständnis der Betrauerbarkeit dieses Lebens, das heißt ohne das Wissen um die Tatsache nicht möglich, dass wir um den Verlust dieses Lebens trauern würden und dass dieses futurum exactum von Anfang an Bedingung dieses Lebens ist.«182 Die Trauer um ein Leben, um das Leben eines anderen, führt Butler weiter aus, beziehe sich nicht erst auf das bereits vergangene Leben im Stadium des Todes, sondern muss zugleich als Potenzialität der Gegenwart begriffen werden, als eine latente und potenzielle Trauer in der Gegenwart, die sich auf das gegenwärtige Leben des anderen richtet und die sich aus dem Wissen darum speist, dass dieses Leben zu Ende gehen wird. »In der Alltagssprache gilt die Trauer dem Leben, das vorüber ist ; dieses Leben ist als vergangenes Gegenstand der Trauer«, fasst Butler zusammen und setzt ihren Begriff von Trauer dagegen, welcher dem Leben von Beginn an eingeschrieben ist und zu dessen Bedingung und Schutz wird: »Nach der Struktur des gleichfalls zur Alltagssprache gehörenden futurum exactum ist Betrauerbarkeit Möglichkeitsbedingung der Entstehung und Erhaltung von Leben. Das futurum exactum ›Ein Leben wird gelebt worden sein‹ ist schon zu Beginn eines gerade erst begonnenen Lebens vorausgesetzt.«183  Dieses von Butler beschriebene futurum exactum als Grundstruktur der Existenz verkörpert der von Schlingensief in Variationen auf die Bühne gebrachte zukünftig Verstorbene. Und seine Variabilität zeigt dabei auch die personelle Zirkulation und die darin sich offenbarende existenzielle Gemeinsamkeit dieses futurum exactum an. »Anders gesagt«, wendet Butler ihre Überlegung noch einmal, »charakterisiert die Aussage ›Dies ist ein Leben, das einmal gelebt worden sein wird‹ das Leben als betrauerbares, womit gesagt ist, dass dieses Leben eines sein wird, das als Leben gelten und angesichts dieser Geltung erhalten werden kann.«184   In der Konsequenz hängt die Anerkennung des Lebens als solches ( durch den anderen / durch die Gemeinschaft ) von seiner potenziellen Betrauerbarkeit ab : »Ohne Betrauerbar-

181 182 183 184

Butler, Raster des Krieges, a.  a. O., S.  22. Ebenda, Herv. i.  O. Ebenda. Ebenda.

II. Die Ethik der Theater-Aufführung

keit gibt es kein Leben, oder vielmehr : Wer nicht betrauerbar ist, lebt außerhalb des Lebens. Das ist ›ein Leben, das niemals gelebt worden sein wird‹, das durch keine Geltung erhalten wurde, das durch nichts bezeugt wird und um das nicht getrauert wird, wenn es verschwindet. Die Wahrnehmung der Betrauerbarkeit geht der Wahrnehmung des Gefährdetseins des Lebens vorher und ermöglicht diese Wahrnehmung erst. Die Betrauerbarkeit geht der Wahrnehmung und der Wahrnehmbarkeit des Lebendigen als Lebendem vorher, das von Anfang an dem Nicht-Leben ausgesetzt ist.« 185 Die Betrauerbarkeit des Lebens als Bedingung der Wahrnehmung des Lebens als Leben setzt Schlingensief in seiner Totenmesse für den zukünftig Verstorbenen in Szene. Den verfremdeten Szenen seines künftigen Begräbnisses in der FluxusTotenmesse, die sich unter seiner Gestaltung ereignet, stellt er lange Sequenzen von Kindheitsbildern gegenüber, die ihn mit seinen Eltern zeigen, als primäre Personen, die dieses Leben mit dem Moment seiner Geburt und noch davor als ein potenziell Betrauerbares feiern, schützen, erhalten und lieben. So veranschaulicht sich hierin die Anerkennung des Lebens in der Zusammengehörigkeit von Leben und Sterben, von Betrauerbarkeit und Wertschätzung. Auf diese Weise setzt er nicht nur das persönliche Szenario seiner eigenen Existenz in Szene, sondern führt es uns als von uns geteilte und uns existenziell auf Leben und Tod verbindende Seinsbedingung vor Augen. Die Wundmale und die akute Gefährdung Schlingensiefs fungieren so auch als Mahnmal, als memento mori, das uns an unsere Verwundbarkeit und an unsere Sterblichkeit, welche uns verbinden, erinnert. Ein Erfahrungsraum der Existenz entsteht, indem die Grenzen von Leben und Tod in Bewegung versetzt werden, indem das eine als Bedingung des anderen erscheint und das Sterben des anderen unsere fundamentale Verflechtung miteinander hervortreten lässt. Wie exemplarisch anhand des »Fluxus-Oratoriums« gezeigt wurde, vermag es Schlingensief mittels unterschiedlicher medienreflexiver Inszenierungsstrategien, die im Besonderen den spezifischen Möglichkeitsraum der Aufführungssituation auf dem Theater vermessen, unsere existenzielle Verbundenheit, welche vor dem Tod nicht Halt macht, sondern sich hier aufs Letzte verdeutlicht, in Erfahrung zu bringen. In der aufführungsbasierten theatralen Auseinandersetzung mit Leben, Krankheit und Sterben wird uns so entlang der Spezifika der Aufführungssituation auf dem Theater unsere grundlegende soziale Verwobenheit vor Augen geführt und deutlich gemacht, dass wir an andere gebunden sind, um zum Leben zu kommen. Und dies verdeutlicht sich besonders im Hinblick auf den Tod. Wenn, wie wir am Ende des letzten Kapitels ( I ) gesagt haben, Theatralität zur entscheidenden Figur wird, anhand derer paradigmatisch in ATTA ATTA die strukturimmanente Beziehung der Kunst zum Publikum reflektiert und in Szene

185

Ebenda, S.  22  f.

195

196

Theatralität des Todes

gesetzt und diese theatrale künstlerische Reflexion der Theatralität der Kunst wiederum in der Geschichte der Kunst verortet wird, lässt sich nun am Ende dieses Kapitels zur Aufführung auf dem Theater festhalten, dass Schlingensief hier diese konstitutive strukturelle Verwebung von Kunst und Publikum auf Leben und Tod zuspitzt. Er bezieht hier die theatrale Grundstruktur der Kunst auf die Struktur der Existenz und bringt sie als solche zur Aufführung. Juliane Rebentisch hat mit Umberto Eco gezeigt, dass der produktionsästhetisch offensive Umgang mit der Theatralität der Kunst, also mit ihrem konstitutiven Rezeptionsbezug, ein Signum der Kunst der Moderne ist, der an der Schwelle zum 20.   Jahrhundert seinen Ausgangspunkt nimmt, in den künstlerischen Entwicklungen der Künste der 60er und 70er Jahre maßgebliche graduelle Steigerungen erfährt und die Gegenwartskunst bis heute entscheidend prägt.186   Daran anknüpfend lässt sich für Schlingensiefs Arbeit sagen, dass er am Beginn des 21.   Jahrhunderts diese Entwicklung, der in der Produktion reflexiv werdenden Theatralität der Kunst, fortschreibt und in ihren existenziellen ethischen Konsequenzen weiterdenkt. Im Folgenden Kapitel zum Film ( III ) wird es nun darum gehen, gesondert in den Blick zu nehmen, was für Bilder und Erfahrungsräume des Lebens und des Todes anhand der Spezifika des Films gezeichnet werden und wie dafür auch das Motiv der Wunde noch einmal von einer anderen Seite her aufgerollt wird.

186

Vgl. Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst, a.  a. O., S.  27 ‒  40. Siehe weiter Eco, Umberto, Das offene Kunstwerk, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1998. Gleichwohl geht Eco von einer in den Kunstwerken angelegten Schließbarkeit durch die Rezipient*in aus, die mit Blick auf Schlingensiefs Arbeiten nicht zu teilen ist, sondern die vielmehr auf eine kollaborative Realisierung, die keine Abschließung, keine Komplettierung eines Werkes darstellt, anspielen.

III. Der nomadische Film als ästhetisches Analogon des Lebens »Seit etwa 120 Jahren rattern unaufhaltsam die Kino-Projektoren. Das ›Prinzip Kino‹ selbst ist älter als die Lichtspielhäuser. Es ist so alt wie das Licht der Sonne und die Abbilder von hell und dunkel in unseren Köpfen.«1 Alexander Kluge

Was Christoph Schlingensiefs guter Freund und Kollege, der Filmemacher und Schriftsteller Alexander Kluge hier eingangs beschreibt, ist ein allgemeines Prinzip des Kinos, das nicht auf ein technisches oder räumliches Dispositiv beschränkt ist. Zum Erfassen dessen, als was Kino grundlegend zu begreifen ist, setzt er bei zwei von ihm bestimmten Elementen an: dem Licht und den sich in Kontrasten abzeichnenden Abbildern in unserer Sinneswahrnehmung, um so zu einem allgemeinen, grundsätzlichen und existenzialen Prinzip des Kinos vorzudringen. Schlingensief selbst wiederum beschreibt seine eigene vielschichtige filmische Praxis als Suche danach, »was die Filmtechnik mit dem Leben zu tun haben könnte« 2. Entsprechend spielen in seinem Spätwerk diverse filmische Praktiken eine wesentliche Rolle für die künstlerische Inszenierung des Lebens und Sterbens. Durch den Einsatz filmischer Praktiken, so möchte ich im Folgenden zeigen, werden bestimmte ästhetische Erfahrungsräume der Existenz überhaupt erst generiert und ermöglicht. Mit diesen entwickelt sich so insbesondere in den Aufführungen ein komplexes Geflecht unterschiedlicher Zeiten und Räume, Körper und Leben, Wirklichkeiten und Möglichkeiten, An- und Abwesenheiten sowie eine ästhetische Spannung zwischen Glauben und Evidenz. Nachdem im vorangegangenen Kapitel (II)

1 2

Kluge, Alexander, Geschichten vom Kino, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 2007, S. 10. Schlingensief, Ich weiß, ich war’s, a.  a. O., S.  217.

198

Inszenierungsformen des Films

untersucht wurde, welche Szenen des Lebens und des Sterbens als Existenzzusammenhang entlang der Spezifik der Aufführung auf dem Theater auf die Bühne gebracht werden, möchte ich im Folgenden beschreiben, wie diese Szenen anhand der Spezifika des Films diesseits und jenseits von Aufführungen in Schlingensiefs späten Arbeiten verhandelt werden. Dabei gilt es auch zu beobachten, welche Kontinuitäten und welche Differenzen zwischen Theater und Film in der Inszenierung des Lebens und Sterbens erkennbar werden. Während im ersten Kapitel ( I ) die Filme im Fluxus-Oratorium vor allem motivisch in ihrem Bezug zu den Neoavantgarden in der Auseinandersetzung mit der Existenz untersucht wurden, möchte ich die Frage nach dem Verhältnis von Film und Existenz nun stärker medientheoretisch perspektivieren. Dies erscheint auch deswegen relevant, weil der Film auch in seiner Theoriegeschichte aufgrund seiner medialen Spezifika immer wieder in Analogie und Differenz zu Leben und Tod gedacht und konzeptualisiert wird und in ebendieser Hinsicht in Schlingensiefs Spätwerk paradigmatisch wird.3   Schließlich möchte ich zeigen, inwiefern der Film in der Auseinandersetzung mit der Existenz einen qualitativen Shift erfährt und schließlich zur Ausdifferenzierung neuer Werkformen führt. Inszenierungsformen des Films Wie bereits deutlich wurde, ereignet sich die ästhetische Auseinandersetzung mit der Existenz und den Beziehungsförmigkeiten von Leben und Tod im »FluxusOratorium« und überhaupt in Schlingensiefs Spätwerk maßgeblich auch entlang filmischer Praktiken, Medien, Strategien und Strukturen. So prägen die Aufführungen nicht nur die wiederholte, immer wieder verschieden ausgestaltete Projektion unterschiedlichen Film- und Videomaterials auf wechselnde Leinwände und sonstige Projektionsflächen, sondern – damit verknüpft und gleichwohl darüber hinausgehend – kennzeichnet sie wesentlich eine filmische, filmspezifische Organisation des ästhetischen Materials, die ich im Folgenden darlegen möchte. Auf einer Vielzahl von Leinwänden und Projektionsflächen, die über den gesamten Aufführungsraum verteilt sind, wird während der Aufführungen unterschiedliches Bild- und Filmmaterial zum Erscheinen gebracht, das verschiedene Bilder des Lebens und Sterbens ineinander verwebt. Neben autobiografischem Film- und Videomaterial, medizinischen Körperbildern und Visualisierungsmustern wird im »Fluxus-Oratorium«, wie im ersten Kapitel ( I ) geschildert, verschie-

3

Ich werde mich im Folgenden in dieser spezifischen Hinsicht mit Schlingensiefs Filmen befassen. Für eine detaillierte Studie des filmischen Werks siehe Seeßlen, Der Filmemacher Christoph Schlingensief, a.  a. O.

III. Der Nomadische Film

denes Material aus anderen Arbeiten gezeigt, etwa der verwesende Hase aus Parsifal oder die Kreuzigungsszene aus der Oper Freax, die allesamt um Motive und Symboliken des Lebens, Sterbens, des Todes und der Existenz zirkulieren. Ähnliches gilt auch mit Blick auf die speziell für die Aufführung hergestellten Fluxus-Filme sowie für die filmischen Reenactments der Neoavantgarden.4 Immer wieder wird im Verlauf der Aufführung von Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir ein halbtransparenter Vorhang, der an Brechts Halbgardine erinnert, vor die Bühne gezogen, auf den verschiedenes Filmmaterial projiziert wird. Dabei wirkt seine Materialität einerseits manifest genug, damit die projizierten Bilderflüsse auf ihm haften bleiben, zugleich ist er aber nicht opak, sodass er auch während den Projektionen durchlässig und durchsichtig bleibt und den Blick auf die hinter ihm liegenden Szenerien freigibt, auf die Körper, Objekte und Räume auf der Bühne, auf welche die projizierten Bilder durch den Vorhang hindurch in Form bunten Lichts treffen. Das projizierte Filmmaterial wird so zugleich in seiner Bildlichkeit wahrnehmbar und darin immer wieder in den Raum hinein aufgelöst. So erscheint es als Licht- und Farbenspiel, das eine visuelle Schicht über die Bühne, die Requisiten und die Körper der Akteur *innen legt. Des Weiteren wird das Filmmaterial auch gänzlich ohne Leinwand oder Vorhang auf die Bühne projiziert, sodass es sich überall dort zeigt, wo es haften bleiben kann, wo es Objekte, Körper und Räume findet, die es tragen und übertragen. Verstärkt wird dieser Eindruck, indem die kleine Drehbühnenkonstruktion im Zentrum des Altarraums, der Bühne, in eine langsame Drehbewegung versetzt wird, sodass je temporäre Verbindungen entstehen, die sich zu immer neuen, fließenden und fragmentarischen Bildern, Körpern und Skulpturen für den Moment ihres gemeinsamen Erscheinens fügen. Die Akteur *innen sowie die Objekte und Requisiten auf der Bühne werden auf diese Weise auch in ihrer Doppelfunktion als Zeichenträger wie Projektionsflächen plastisch reflektiert. Barbara Beyer spricht über diese bereits in vorangegangenen Arbeiten sich abzeichnende filmische Bühnenpraxis von »palimpsestartigen Überschreibungen  [des Bühnenmaterials] mittels Videoprojektionen«5, und man müsste hier die Filmprojektionen anfügen. Die Überlagerung von Bildern ist anhand projektiver Verfahren des analogen und digitalen Films aufgrund ihrer Lichtbasiertheit und ihrem daraus resultierenden Spannungsverhältnis von Opazität und Transparenz auf besondere Weise möglich und wird, wie im Folgenden dargelegt werden soll, zum bestimmenden Prinzip der Bühnenorganisation in der Verhandlung der Existenz im Spätwerk.

4 5

Vgl. hierzu Kap. I »Im Zeichen der Neo-  /Avantgarden«, »Das Filmmaterial«. Beyer, Barbara, »Schlingensief und die Oper«, in: Janke / Kovacs ( Hg.), Der Gesamtkünstler, a.  a. O., S. 151‒163, S. 157.

199

200

Inszenierungsformen des Films

Der Film als existenzielles Analogon entfaltet sich wesentlich auch als räumliches Phänomen. Zwar kommt im Vergleich zu Arbeiten wie AttabambiPornoland, Parsifal oder auch Mea Culpa im »Fluxus-Oratorium« nur eine kleine Drehbühnenkonstruktion zum Einsatz, dennoch spielt sie, spielt das Prinzip der Drehbühne generell, für die Funktion und Gestalt des Films in der Aufführung eine maßgebliche Rolle. Die Drehbühne nimmt hier nur einen geringen Teil des Bühnen- bzw. Altarraums ein, auf dem vom Krankenhauszimmer, über das Atelier zum Altar wechselnde Dekors in der fließenden und manchmal auch stockenden Bewegung der Drehbühne ineinander übergehen. Franziska Schößler schreibt zur Drehbühne in den späten Arbeiten, insbesondere mit Blick auf Mea Culpa, dass die »intermediale Bildästhetik Schlingensiefs« sich auch als »Übersetzung von Filmgesetzen auf die Bühne beschreiben«6 lasse. Für diese intermediale Translation sei die Funktion der Drehbühne von zentraler Bedeutung, da sie die Beziehungen von Bild und Raum strukturiere, ausweite und flexibilisiere: »Grundbestandteil der Bühnenarrangements ist häufig die Drehbühne, die in einzelne Segmente parzelliert werden kann. […] Diese Bühne mit ihren Leinwänden und Räumen, zudem mit einer beweglichen Halbgardine, wie sie Brecht eingeführt hat«7, ermögliche es, so Schößler weiter, »die Bühnenoberfläche in diverse Bildräume zu untergliedern, deren Größe veränderbar ist – es gibt die Totale, also das Bild, das sich über den gesamten Bühnenraum erstreckt, und die kleineren Bilder, die noch dazu als Inserts ineinander eingetragen werden können.«8 Auf diese Weise entstehe nun der Eindruck, »einem sich langsam bewegenden Film zu folgen, dessen Bilder aneinander anschließen, teilweise aber auch statisch (und damit nur in sich bewegt ) nebeneinander stehen.« 9 In der Auseinandersetzung mit der Installation im letzten Kapitel ( V  ) wird noch ausgeführt werden, welche zentrale Rolle der Einsatz der Drehbühne, begriffen als filmisches Prinzip des Lebens ( und Sterbens ) für die Entwicklung von Schlingensiefs Arbeiten seit Parsifal spielt und wie ein ästhetischer Erfahrungsraum der Existenz werkgeschichtlich sukzessive ausdifferenziert wird, der entlang der Über- und Freisetzung filmischer Apparaturen zu der Verselbständigung einer neuen installativen Form in Schlingensiefs Werk führt. Bevor ich mich der aus werkgeschichtlicher Perspektive signifikanten Entwicklung dieser in Schlingensiefs Arbeit vielschichtig sich ereignenden bildlichen Übermalungs- und Überlagerungspro-

6

7 8 9

Schößler, Franziska. »Intermedialität und ›das Fremde in mir‹. Christoph Schlingensiefs ReadyMadeOper Mea Culpa«, in: Janke / Kovacs ( Hg.), Der Gesamtkünstler, a.  a. O., S. 117  ‒135, S. 121. Ebenda. Ebenda. Ebenda.

III. Der Nomadische Film

zesse zuwende, möchte ich zunächst noch einmal auf das »Fluxus-Oratorium« zurückkommen und anhand einer, meines Erachtens, paradigmatischen Szene für das gesamte Spätwerk analysieren, wie genau filmische Apparaturen und mediale Spezifika des Films in Szene gesetzt werden, um einen spezifisch filmischen Erfahrungsraum der Existenz auf die Bühne zu bringen. TRIPTYCHON DES LEBENS Mediale Szenarien der Existenz zwischen An- und Abwesenheit Die Sequenz, der ich mich im Folgenden analytisch zuwenden möchte, steht am Anfang des »Fluxus-Oratoriums« und damit am Anfang der öffentlichen Auseinandersetzung Schlingensiefs mit seiner Krebserkrankung und dem nahenden Tod. Zu Beginn der Aufführung, nachdem das Publikum als Gemeinde auf den Kirchenbänken Platz genommen hat, setzt über der Bühne die Montage einer audiovisuellen Sequenz ein, in der das Panorama des Lebens, der Krankheit und des Sterbens entfaltet wird, das in diesem Kunstereignis verhandelt wird. Es erscheint ein Triptychon des Lebens: In einer kurzen Eingangssequenz ertönt disharmonische, atonale, elektronische Orgelmusik, die mit einem bedrohlichen Rauschen unterlegt ist und immer wieder durch experimentelle, futuristische Soundelemente aufgehellt wird, während auf drei Leinwänden über der Bühne blauweiß-schwarze Animationen von Zellbewegungen und Zellteilungen sowie von einer aktiven Lunge projiziert werden. Diese momenthaft in den Experimentalfilm gewendeten medizinischen Bildsequenzen und Ansichten des menschlichen Körpers, der Anatomie, der Krankheit, des Lebens und Sterbens als in den Zellen und Organen verankerte Prozesse werden auf den vertikal gehängten seitlichen Leinwänden mit Röntgenbildern einer Lunge überblendet, deren einer Lungenflügel fehlt, während auf der großen, horizontal und mittig über der Bühne hängenden Leinwand ein Filmloop abläuft, der einen kleinen Jungen beim Einseifen in einer grün gekachelten Dusche zeigt, den alle, die mit seinem Antlitz vertraut sind, als den jungen Schlingensief wiedererkennen können. Schließlich werden die drei Bildsequenzen durch projizierte weiße Bildtafeln überblendet, auf denen in großen schwarzen Lettern »EXIT«10 geschrieben steht, und darauf folgend erscheint das Gesicht des erwachsenen Schlingensief in einer pixelig-unscharfen, graustufigen und leicht aufsichtigen Nahaufnahme. Überdeutlich und laut erklingt eine klagende, jammernde, flehende, weinende Stimme über Lautsprecher : »Nicht berühren, bitte nicht berühren.«11 Im Anschluss erlischt die Projektion auf dem Leinwandtrip-

10 11

Sie entstammen George Brechts Fluxfilm Nr. 10 Entrance to Exit (1965 ). Transkription.

201

202

Triptychon des Lebens

tychon über der Bühne, und auf dem großen, transluziden Vorhang , der vor die Bühne gezogen ist, erscheint die lange Filmsequenz, die Schlingensief als Kind mit seinen Eltern am Strand spielend zeigt, während seine erwachsene Stimme ertönt und von seiner soeben erhaltenen Krebsdiagnose und den Therapievorschlägen des Arztes erzählt.12 Bereits in dieser knapp zweiminütigen audiovisuell ausgestalteten Eingangssequenz offenbart sich, so möchte ich im Folgenden ausführen, wie Schlingensief in seiner künstlerischen Auseinandersetzung mit der Existenz den Film als ethischästhetisches Prinzip in seine ästhetische Praxis einlässt, ihn als ästhetisches Prinzip des Lebens lanciert und durch seine Arbeiten wuchern sowie umgekehrt die Arbeiten anhand des Films weiterentwickelt und expandieren lässt. Zugleich kann hieran veranschaulicht werden, wie Schlingensief die medialen Spezifika des Films auszuloten versteht, um so ein vielschichtiges, ästhetisches und filmspezifisches Gewebe des Lebens, des Sterbens und des Todes sowie einen ästhetischen Erfahrungsraum ihrer Verwobenheit und ihres wechselseitigen Aufeinanderbezogenseins zu schaffen. Zunächst werden die zum Auftakt der Aufführung in Szene gesetzten unterschiedlichen Bilder und Bildtypen des Lebens und Sterbens bereits durch ihre Anordnung als Triptychon mit der christlichen Ikonografie assoziiert. Auch die gezeigte Waschung referenziert ein christliches Motiv. So wäscht Jesus in der neutestamentarischen Überlieferung den Jüngern die Füße, nach dem letzten Abendmahl,13 das schon gänzlich im Zeichen seines Todes, aber auch seiner darauf folgenden Auferstehung steht. Die Fußwaschung ist Teil jenes Abendmahls, in dem Jesus die christliche Transsubstantiation formuliert, nach der Brot und Wein zum Zeichen seines Leibes, Leidens und Blutes werden. Das Ritual der Fußwaschung wird damit auch als ein Ritual angeführt, das den Übergang von Leben und Tod markiert. Es stellt eine Vorbereitung auf den bevorstehenden Tod dar, der eine Reinigung der lebendigen Körper erfordert, damit die Transformation des Sterbenden wie seine Wiederauferstehung gelingen können.14 Schlingensief verdeutlicht diese existenzielle Funktion der Fußwaschung auf plastische Weise, indem er die Fußwaschung seiner kindlichen Gestalt auf dem Bewegtbild auf die mittlere Leinwand projiziert

12

13

14

Siehe zur Analyse dieser Sequenz auch Zorn, Sterben lernen, a.  a. O., »Protokoll einer Selbstbefragung«. Vgl. Das Evangelium nach Johannes, 13,3, in: Die Bibel oder die ganze heilige Schrift des alten und neuen Testaments, nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart: Württembergische Bibelanstalt Stuttgart, 1965. Auch Joseph Beuys greift dieses Ritual in seiner Aktion Celtic+~~~ (1971) auf, wo er es zum Auftakt am Publikum durchführt. Eine dezidierte Beschreibung und Analyse dieser Aktion findet sich in Gronau, Theaterinstallationen, a.  a. O., S.  58  ‒  97.

III. Der Nomadische Film

und sie links und rechts durch die Projektion zweier Schrifttafeln flankieren lässt, auf den auf schwarzem Grund in weißer Schrift »Exit« geschrieben steht. In dieser kontextuellen Klammer wird der Schrei »Bitte-nicht-berühren« zum Schrei des Sterbenden, und die unterschiedlichen visuellen Gestalten werden als Bildnisse dieses Sterbenden lesbar, der sich als solcher in einem Zwischenraum von Leben und Tod befindet. In ihrer Anordnung als kinematografisches Installativ über der Bühne, das von hier aus den gesamten Aufführungsraum zu erleuchten, zu bescheinen und in einen illuminierten, funkelnden, zellular in Bewegung versetzten und versetzenden auratischen Sog einzutauchen vermag, tragen die bewegten Bildsequenzen zugleich eine sakrale Anmut wie einen zeitgenössischen Look. Die animierten, immens vergrößerten Zellteilungen sowie die Röntgenbilder der Lunge stellen einen medizinischen Bildtypus und eine ebensolche Anschauung zentraler vitaler organischer Prozesse dar, welche ›den Kern des Lebens‹ bilden, und erscheinen zugleich durch ihre ästhetische De- und Rekontextualisierung als vieldeutige Bilder, die ihrer herkömmlichen Funktion und Bezeichnungsstruktur enthoben als etwas anderes, als etwas unheimlich Unbekanntes erscheinen. Dabei verweisen sie zugleich immer auch auf ihren ›ursprünglichen‹ medizinischen Verweisungs- und Verwendungszusammenhang, indem sie einen bestimmten Blick, eine bestimmte Visualisierung und Konzeptualisierung des Körpers, des Lebens und des Sterbens repräsentieren.15 In ihrer ästhetischen Transformation, die sich in dem verschobenen Kontext, der neuen Konstellation und Situation und den veränderten, nämlich ästhetischen Weisen der Erscheinung sowie der Bezugnahme begründet, werden diese Bilder und Bildsequenzen gleichzeitig zu multiplen, ambivalenten Bildern des Begreifens und Denkens des Körpers und seiner Teile, der Prozessualität von Leben und Sterben. Gerade auch weil Schlingensief selbst kaum unmittelbar anwesend ist und stattdessen mittels medienreflexiver Strategien polyphone, flüchtige, fragmentarische, medien- und kunstspezifische Spuren seiner selbst, seines Körpers, seiner Krankheit und seiner Erfahrungen evoziert, werden die Bilder zu Spuren von Schlingensiefs Person, zu Momenten seiner abwesenden Anwesenheit wie anwesenden Abwesenheit, die sich allein in der medialen Spezifik des Films zu realisieren vermögen.

15

Siehe zum historischen Wandel medizinischer Visualisierungen des Körpers und der Krankheit Foucault, Die Geburt der Klinik, a.  a. O.

203

204

Zeugnis der Existenz

Die Ontologie des fotografischen Bildes und das Zeugnis der Existenz Dieses mediale Spiel mit vieldeutigen Erscheinungsweisen und dem Mannigfaltigwerden des Subjekts ereignet sich, so möchte ich nun zeigen, speziell auf der Grundlage der Genese des fotografischen Bildes, die hier strategisch zum Einsatz kommt. Wenn in der Eingangssequenz des »Fluxus-Oratoriums« eine Nahaufnahme von Schlingensiefs Gesicht erscheint, streift er mit dieser medialen Form des eigenen Erscheinens den Diskurs der Ontologie des fotografischen Bildes, welche mit seinem spezifischen Vergangenheits- und Wirklichkeitsverhältnis begründet wird.16 Das Spezifikum des Films wird in den tradierten Diskursen der Filmtheorie mit dem spezifischen Verhältnis seines Basiselements, des fotografischen Einzelbildes, zu seinem Referenten begründet,17 als dessen Index das fotografische Bild begrif-

16

17

Zwar handelt es sich bei der Nahaufnahme von Schlingensiefs Gesicht um digitale Videobilder, die im Unterschied zu fotografischen Bildern auf der Grundlage von Datenberechnungen, also Ähnlichkeits- und Wahrscheinlichkeitskalkulationen, generiert werden. Allerdings sind Produktion und Rezeption von Videobildern maßgeblich durch jene der Fotografie und des Films geprägt. Die sich in ihrem Abdruckverhältnis und ihrem mimetischen Vermögen zur fotografierten oder gefilmten Welt begründenden Realismuskonzepte werden quasi auf die bildgestalterische und rezeptorische Praxis von Videobildern übertragen, wenngleich es dabei in beiden Fällen immer künstlerische Praktiken gibt, die diese Strukturen irritieren und dekonstruieren und sie als normative Konstruktion zur Wahrnehmung bringen oder auch mit anderen Bildtypen und -praktiken arbeiten als mit ›realistischen‹. Ein Großteil des übrigen autobiografischen Filmmaterials und der Erscheinungen Schlingensiefs im Bewegtbild, die in der Aufführung und in der hier geschilderten Szene gezeigt werden, besteht allerdings ohnehin aus Super 8- bzw. 16-mm-Filmmaterial. Vgl. Tedjasukmana, Chris, Mechanische Verlebendigung. Ästhetische Erfahrung im Kino, Paderborn: Fink, 2014, S. 161  f. Vgl. zum Wirklichkeitsverhältnis und Realismuskonzepten zum fotografischen Bild Dubois, Philippe, Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv. Amsterdam / Dresden: Verlag der Kunst, 1998, S.  31‒  57. Sowie Bazin, André, »Ontologie des photographischen Bildes«, in: Ders., Was ist Film, Berlin: Alexander Verlag, 2004, S.  33  ‒  42. Für eine umfassende Auseinandersetzung mit digitalen Bildern im Unterschied zu analogen siehe Stewart, Garret, Framed Time. Toward a Postfilmic Cinema, Chicago / London: Chicago University Press, 2007; Rothöler, Simon, High Definition. Digitale Filmästhetik, Berlin: August Verlag, 2013 ; Koch, Gertrud / Pantenburg, Volker / Rothöler, Simon ( Hg.), Screen Dynamics. Mapping of Borders of Cinema, Wien: Synema, 2012. Siehe insbesondere Bazin, »Ontologie des photographischen Bildes«, a.  a. O., S.  33  ‒  42. Sowie Dubois, Der fotografische Akt, a.  a. O., S.  49  ‒ 56.

III. Der Nomadische Film

fen wird. Das Sichabzeichnen, Sichabdrücken, Sichablagern des Referenten, des fotografierten Objekts auf lichtempfindlichen Papier, im fotografischen Bild wird zum zentralen Kriterium seiner Spezifik, seinem »Noema«18, wenn man so will: seiner Ontologie.19   Trotz aller Codierung (und Kontingenz ) des Aufnehmens wie des Wahrnehmens muss der Referent da gewesen sein, im Hier und Jetzt des Moments der Aufnahme. Das fotografische Bild fungiert quasi als der Beweis seiner Existenz, auf die es nun verweist. Auf dem fotochemischen Papier lagert sich der Abdruck des fotografierten, also belichteten Objekts, des Ausschnitts der Welt ab und ist hier als dessen Abdruck, als dessen Spur 20, die seine einstige Präsenz, seine vergangene Gegenwärtigkeit, seine Existenz bestätigt, gespeichert.21 Der Abdruck verweist auf das Dagewesensein des Referenten, des Objekts, des Menschen, des Gesichts, des fotografierten Weltausschnitts und vergegenwärtigt sie im Moment der Projektion und Rezeption als diese, als Dagewesene.22 Für Roland Barthes birgt diese Struktur des fotografischen Bildes die Bedingung der Möglichkeit, die Toten im Antlitz ihrer Fotografie für einen subjektiven Moment als präsent, als lebendig zu erfahren. So schreibt Barthes über das Vergangenheits- und Wirklichkeitsverhältnis des fotografischen Bildes : »Es heißt oft, die Maler hätten die PHOTOGRAPHIE erfunden […]. Ich hingegen sage : nein, es waren die Chemiker. Denn der Sinngehalt des ›Es-ist-so-gewesen‹ ist erst von dem Tage an möglich geworden, da eine wissenschaftliche Gegebenheit, die Entdeckung der Lichtempfindlichkeit von Silbersalzen, es erlaubte, die von einem abgestuft beleuchteten Objekt zurückgeworfenen Lichtstrahlen einzufangen und festzuhalten. Die PHOTOGRAPHIE ist, wörtlich verstanden«, so Barthes, »eine

18

19 20

21

22

Barthes, Roland, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1985, S.  87. Vgl. Dubois, Der fotografische Akt, a.  a. O., S.  49  ‒ 56. Die Spur ( lat. vestigium, vom althochdeutschen »spor« meint ursprünglich Fußabdruck ) hat einen breiten Fassungsrahmen und eine alltägliche, eine ästhetische und eine philosophische Konnotation. Die Spur bezieht sich immer auch auf das Spüren als rezeptionsästhetischer Akt des Spuren-Lesens, Suchens etc. Zum Begriff und zur Bedeutung von Spur vgl. Krämer, Sybille, »Was also ist eine Spur ? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle ? Eine Bestandsaufnahme«, in: Dies. / Kogge, Werner / Grube, Gernot ( Hg.), Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 2007, S. 11‒  36. »Die Existenz des photographierten Gegenstands ist, wie ein Fingerabdruck, Teil der Existenz des Modells«, schreib André Bazin in seiner Bestimmung des Films auf der Grundlage der Ontologie des fotografischen Bildes. Siehe Bazin, »Ontologie des photographischen Bildes«, a.  a. O., S.  39. Siehe ebenda, S.  37  f.

205

206

Zeugnis der Existenz

Emanation des Referenten. Von einem realen Objekt, das einmal da war, sind Strahlen ausgegangen, die mich erreichen, der ich hier bin; die Dauer der Übertragung zählt wenig; die Photographie des verschwundenen Wesens berührt mich wie das Licht eines Sterns.« 23 Im Moment der Projektion in der Aufführung, wenn Schlingensiefs weinendes Antlitz als unscharfe Nahaufnahme über der Bühne und über dem Altar schwebt, erscheint er hier in der Gegenwart der Aufführung präsent, aber eben nicht unmittelbar, sondern in der Gestalt eines Dagewesenen, als Lichtstrahl eines »verschwundenen Wesens«, der uns im Moment der Projektion und Rezeption berührt und ihn uns vergegenwärtigt. Die Bilder bezeugen quasi seine Existenz, und zugleich lassen sie diese als eine Vergangene erscheinen, die nur im Moment der Projektion präsent wird. Die absorbierende und immersive Kraft des Kinoraumes, mit der der bühnenbildliche Kirchenraum verschränkt wird, fungiert hier als medialer Möglichkeitsraum für die auch über Imagination sich realisierende Einbeziehung, Einfühlung und Überwindung raumzeitlicher Grenzen und Differenzen zwischen Publikum und den ästhetischen Phänomenen und Subjekten. Ästhetisch ist die Kluft, der Abstand, der zwischen der Vergangenheit, dem fotografierten Moment, dem Objekt oder Körper und der Präsenz von deren technischer Reproduktion in der Projektion sowie den Rezipient*innen, die diese Vergegenwärtigungen und mechanischen Verlebendigungen erfahren, auch deswegen, weil es dabei eben nicht um ein Einheitlich- und Deckungsgleichwerden zwischen diesen Instanzen gehen kann, sondern hierbei Verschiebungen und Freiräume entstehen, die immer wieder neu zwischen den historischen, sozialen, situativen, subjektiven und kontingenten Koordinaten der Wirklichkeit emergieren. Wie ein Index 24 verweisen fotografische Bilder auf ihren Ursprung, auf den Grund, aus dem sie entsprungen sind, sie legen eine Spur zu der raumzeitlichen Situation, von der sie rühren, aber sie werden nie mit ihr deckungsgleich. Sie ereignen sich immer in einer anderen raumzeitlichen Situation und sind immer schon etwas anderes, als was und wen sie zeigen, auf was und wen sie verweisen. Ihre ästhetische Kraft entfaltet sich in Relationalität und Medialität, und diese Ver-

23 24

Barthes, Die helle Kammer, a.  a. O., S.  90. Herv. i.  O. Der Index ist in erster Linie ein zeichentheoretischer Begriff, der insbesondere von dem Semiologen Charles Sanders Peirce geprägt wurde. Indexikalische Zeichen haben demnach eine ›reale‹ Beziehung zu ihrem Referenten. Der Index kann als Symptom umschrieben werden, wie der Rauch, der auf ein Feuer verweist, oder dunkle Wolken, die Regen ankündigen. Pape, Helmut, »Fußabdrücke und Eigennamen: Peirces Theorie des relationalen Kerns der Bedeutung indexikalischer Zeichen«, in: Krämer / Kogge / Grube ( Hg.), Spur, a.  a. O., S.  37 ‒ 54.

III. Der Nomadische Film

hältnismäßigkeiten variieren mit jeder Bezugnahme auf spezifische Weise. Für die Aufführung heißt das, dass die Relationen, die in unserer ( ästhetischen ) Erfahrung zwischen dem Bild bzw. der audiovisuellen Erscheinung des Gesichts sowie der Stimme Christoph Schlingensiefs und seiner Person bzw. der ursprünglichen Situation, aus der Stimme und Bild herrühren, entstehen, je nach Kenntnis der Kontexte von Rezipient*in zu Rezipient*in variieren, aber nie miteinander identisch werden. Denn das, was uns in der Präsenzsituation der Aufführung in Erscheinung tritt und erklingt, sind medialisierte und fragmentarische, in Bild und Ton transformierte Träger des Ausschnitts und Abbilds einer Situation und Person, von der sie losgelöst sind, aber zugleich einen Bezug zu ihnen herstellen, der wiederum im Modus der Wahrnehmung immer wieder neu variiert und aktualisiert wird. Das fotografische Bild als Index weist mithin der Betrachter *in eine besondere Rolle zu : Sie ist die Spurenleser *in, die sich mit jedem Akt der Rezeption der Bilder auf die Suche nach der verlorenen Zeit begibt. Mediale Konstellationen der haptischen Berührung und intersubjektiven Übertragung im Medium der Stimme Das den Auftakt des »Fluxus-Oratoriums« bildende mediale Spiel zwischen Anund Abwesenheit, Vergangenheit und Gegenwart, Leben und Tod ist nicht allein ein visuelles, sondern auch ein akustisches. Nicht nur Schlingensiefs visuelle Gestalt erscheint hier und immer wieder im Verlauf der Aufführung, sondern auch seine aufgezeichnete und über Lautsprecher eingespielte Stimme erklingt in diesen Momenten und bildet über die gesamte Aufführung hinaus ein dominierendes inszenatorisches Element, das Schlingensief abwesend anwesend sein lässt und das Publikum unmittelbar einbezieht, intersubjektive Transfers, Relationen und Öffnungen generiert und raumzeitliche Differenzen zu überwinden, zu transzendieren vermag. Stimme und fotografisches Bild werden im Hinblick auf deren indexikalische Struktur, die ein bestimmtes Spannungsverhältnis von An- und Abwesenheit des Subjekts ermöglichen, auf das sie als Spur verweisen, analogisiert. Daher möchte ich hier auch die indexikalische Struktur der Stimme kurz erörtern, um die Funktions- und Wirkungsweisen der Inszenierung des Künstlers auf der Schwelle von Leben und Tod anhand filmischer und fotografischer Verfahren noch tiefgreifender nachvollziehbar zu machen. Wenn Schlingensiefs weinende, wimmernde Stimme erklingt, und »Bitte nicht berühren« fleht, wird hier zwar zunächst auf semantischer Ebene eine Berührung versagt, aber zugleich eine andere Form, eine andere Praxis der Berührung gene-

207

208

Mediale Konstellationen der Berührung

riert, die ein Anrühren herstellt.25 »›Berühre mich nicht‹ ist ein Satz, der berührt, der, selbst wenn er von jedem Kontext losgelöst ist, nicht nicht berühren kann«, bekräftigt Jean-Luc Nancy.26 »Noli me tangere« heißt in der Luther’schen Übersetzung ins Deutsche im Johannesevangelium »rühre mich nicht an«, so dass »rühren« nicht nur als Konjugation des Berührens, sondern auch des Anrührens lesbar wird.27 Hierin drückt sich eine emotionale, nicht notwendig haptisch verfasste Dimension der Berührung, des Kontakts und der Beziehungsstiftung aus, die in der Aufführung auch aufgrund der besonderen Verfasstheit der Stimme virulent wird. Das Vermögen der Stimme, nicht-haptische Berührungen zu evozieren, ist ihrer indexikalischen Struktur geschuldet. Aufgrund ihrer flüchtigen, unsichtbaren und ungreifbaren Materialität ermöglicht die Stimme bestimmte Formen der Berührung, die nicht haptisch strukturiert sind und sich auch ohne die leibhaftige Anwesenheit des Künstlers ereignen können. So schreibt Dieter Mersch über die Möglichkeit der Berührung qua Stimme: »Der Stimme haftet etwas Taktiles an: Sie stiftet dadurch einen direkten Kontakt mit dem Sprechenden. Der Kontakt hat, qua Berührung , einen leiblichen Impuls.« 28 Die Stimme wird in einem Körper erzeugt, tritt sogleich aus diesem heraus und erreicht, unsichtbar und unhaltbar, einen anderen Körper, den sie ›berührt‹. Doris Kolesch bestimmt, an Roland Barthes’ Überlegungen zur Stimme 29 anknüpfend, eine indexikalische Struktur der Stimme, die stets auf den Körper verweise, von dem sie hervorgebracht werde.30 Nicht nur aber verweise sie auf einen lebendigen Körper, sondern sie sei zugleich die Exten-

25

26 27

28 29

30

Damit sind zwei verschiedene Formen der Berührung gemeint, die die Stimme auszulösen vermag. Einerseits handelt es sich um eine physische Berührung, die durch die akustische Übertragung, bei der Schallwellen in den Gehörgang gelangen, bestimmte physische Reaktionen wie Erschaudern, eine Gänsehaut bzw. Reizung oder Abwehr hervorrufen können. Andererseits ist damit die emotionale Berührung gemeint, die das Stimme-Hören auszulösen vermag. Nancy, Jean-Luc, Noli me tangere, Berlin / Zürich: diaphanes, 2008, S. 19. Nancy verweist darauf, dass noli (nolo) die verneinte Form von volo »wünschen, begehren, mögen« ist und damit auch für »du mögest mich nicht berühren« steht, als Befehl. Es bedeutet so aber auch, »wünsche nicht, mich zu berühren«. Vgl. Nancy, Noli me tangere, a.  a. O., S.  49. Mersch, »Präsenz und Ethizität der Stimme«, a.  a. O., S.  212. Barthes, Roland, »Die Rauheit der Stimme«, in: Ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1990, S.  269  ‒ 278. Sowie Ders., »Zuhören«, in: ebenda, S.  249  ‒ 263. Kolesch, Doris, »Die Spur der Stimme. Überlegungen zu einer performativen Ästhetik«, in: Epping-Jäger, Cornelia ; Linz, Erika ( Hg.), Medien / Stimmen, Köln: Dumont, 2003, S.  267  ‒ 191.

III. Der Nomadische Film

sion von diesem : »Die Stimme gilt als Symbol und zugleich als Index, als Spur des Lebendig-Seins.«31 Die gehörte Stimme ist stets nicht mehr die gesprochene oder gesungene Stimme. Eine Konzeption der Stimme als Spur des Körpers schließt zwangsläufig die Dimension der Rezeption ein. Denn für die Hörenden verweist die Stimme auf den Körper, aus dem sie hervorgeht. Somit wird die Stimme zum Medium einer Übertragung, einer Berührung, die zugleich keine ist. Das Erklingen der Stimme kann mit Barthes als ein grundlegend appellatives und elementar intersubjektives Moment begriffen werden. »Die Aufforderung zum Zuhören«, schreibt er, »ist das vollständige Ansprechen eines Subjekt : Sie stellt den gleichsam körperlichen Kontakt zwischen diesen zwei Subjekten (durch die Stimme und das Ohr ) über alles: Sie schafft die Übertragung : ›Hör mir zu‹ heißt : Berühre mich, wisse, daß ich existiere.« 32 Das Erklingen des »Bitte-nicht-berühren« zu Beginn der Aufführung demonstriert in diesem Zusammenhang einen Akt der existenziellen Stimmerhebung, der aufzeigt, woran das Publikum teilhaben und wovon es Teil wird : Es erlebt ein existenzielles Stimme-Erheben des Künstlers Christoph Schlingensief, der vor dem Hintergrund einer lebensbedrohlichen Erkrankung an seine Existenz erinnert, die von der Anerkennung durch andere abhängig ist. Durch die technische Konservierung und die Reproduktion der Stimme 33, die aufgezeichnet und über Lautsprecher eingespielt im Verlauf der Aufführung immer wieder erklingt, wird der Grad der Entfernung und der Abwesenheit noch potenziert. Stimmproduktion und Rezeption werden räumlich und zeitlich getrennt, doch trotz dieser Unterbrechung der autopoietischen Feedback-Schleife34 richtet sich die vom Körper abgetrennte Stimme dennoch an die Hörer *innen. Die Körperlichkeit der Stimme verschwindet nicht einfach in der technischen Reproduktion, sondern wird in der Imagination der Hörenden mit einem Körper verbunden.

31 32 33

34

Kolesch, »Die Spur der Stimme«, a.  a. O., S.  267. Barthes, »Zuhören«, a.  a. O., S.  255. Dass die Stimme reproduziert und nicht live in ein Mikrofon gesprochen wird, kann man, ohne Kontextinformationen, nicht an allen Stellen sicher wissen. Allerdings konnte man vorab aus Besprechungen der Arbeit in verschiedenen Feuilletons und von der Homepage Schlingensiefs erfahren, dass von ihm vorher ( im Krankenhaus ) in ein Diktiergerät gesprochene Gedanken, Ängste, Sorgen und Erfahrungen in den Aufführungen als akustisches Material verwendet würden. Der Begriff wurde wesentlich von Erika Fischer-Lichte geprägt, die diesen hinsichtlich der konstitutiven leiblichen Ko-Präsenz von Akteur *innen und Zuschauer *innen in Theateraufführungen und den daraus resultierenden reziproken Wirkungen anwendet. Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, a.  a. O., S.  63  ‒ 127.

209

210

Noli me tangere

»Die akusmatische  35 Stimme ist eine scheinbar unbegrenzte, allmächtige oder gar wissende Stimme, die gerade so wirkungsvoll und faszinierend ist, weil sie die Imagination der Hörenden anregt […]« 36, so Doris Kolesch und Annette Jael Lehmann. Die Abtrennung der Stimme vom Körper in der technischen Reproduktion vermag deshalb die Körperbezogenheit und die Körperlichkeit von Stimme nicht gänzlich zu eliminieren. Denn der Ausdruckswert der Stimme »jenseits einer semiotischen Funktion«, werde nämlich, so die Autorinnen weiter, »zum zentralen Ort der leiblichen Präsenz des Künstlers. Die Stimme verleiht dem Künstler, dem abwesenden Körper mediale Präsenz und suggeriert eine physische Kontaktaufnahme.« Mit Blick auf die Selbstinszenierungen des Performancekünstlers Vito Acconci schließen sie : »Die performative Selbstinszenierung gewinnt erst durch dieses Spannungsverhältnis von körperlicher An- und Abwesenheit Kontur,« 37 was sich als Phänomen und Prinzip durchaus auf die Rolle und Funktion der aufgezeichneten und immer wieder über Lautsprecher eingespielten Stimme Schlingensiefs im »Fluxus-Oratorium« übertragen lässt. NOLI ME TANGERE Der ungläubige Thomas: Die Berührung der Lebenden und der Toten Wenn die Röntgenbilder, die Zellanimationen und die Waschungssequenz des jungen Schlingensief durch die »EXIT«-Tafeln abgelöst werden, die unscharfe und pixelige Nahaufnahme von Schlingensiefs weinendem Gesicht erscheint und seine klagende, jammernde, flehende Stimme über Lautsprecher erklingt : »Nicht berühren, bitte nicht berühren, es soll mich jetzt keiner mehr berühren !« 38, enthält

35

36

37 38

Die akusmatische Stimme ist eine körperlose Stimme, eine Stimme, deren Quelle nicht offenbar ist, wie es häufig beim Voice Over und Off-Stimmen im Film der Fall ist. So hat die akusmatische Stimme auch eine göttliche Konnotation, sie ist eine Stimme ohne Bild, ohne Bildnis. Zur akusmatischen Stimme siehe Chion, Michel, »Das akusmatische Wesen. Magie und Kraft der Stimme im Kino«, in: Meteor. Texte zum Laufbild 6, 1996. Kolesch, Doris / Lehmann, Annette Jael, »Inter /Aktionen? Selbstinszenierung und Medialisierung bei Bruce Nauman, Joan Jonas und Vito Acconci«, in: Clausen, Barbara ( Hg.), After the Act. Die (Re)Präsentation der Performancekunst, Wien: MUMOK 2005b, S.  69  ‒  82, S.  78  ff. Ebenda. Eigentlich stammt diese Aufnahme aus Bayreuth, wo Schlingensief diese Aufnahme während der Probenzeit nach einer Konfliktsituation mit der Wagner-Familie von sich im Hotel gemacht hat. In dieser Aufführungssituation im »Fluxus-Oratorium« erscheint sie

III. Der Nomadische Film

diese mediale Szenerie eine das Spannungsverhältnis von Präsenz und Absenz noch potenzierende Dimension. So entfaltet das eindringliche Erklingen des »Bitte nicht berühren«, welches das verschwommene Erscheinen von Schlingensiefs Antlitz als überlebensgroßes und unscharfes Bewegtbild begleitet, sogleich die Spannung zwischen An- und Abwesenheit im Panorama medialer Körperlichkeit, zwischen immaterieller, akustischer Berührung und Haptik, der Taktilität des Akustischen sowie der Überwindung raumzeitlicher Differenzen des audiovisuellen Materials, die doch nie ganz aufgehoben werden können. Denn wie könnten wir, das Publikum, als die hier Angesprochen, Angerufenen, Beschworenen Schlingensief schließlich berühren, wo er doch audiovisuell medialisiert, transformiert und fragmentiert und als Ausschnitt, Abbild und Spur einer anderen raumzeitlichen Situation zu uns hinüber scheint und damit quasi immateriell, nicht physisch anwesend und doch visuell und akustisch präsent ist, also nicht greifbar, nicht berührbar sein kann? Ich möchte mich im Folgenden einer Antwort annähern, indem ich den ikonografischen Kontext erörtere, in den sich diese Sequenz mit Blick auf den inszenatorischen Gesamtzusammenhang der Arbeit einschreibt. Wenn Schlingensiefs Stimme den Raum erfüllend erklingt und das Publikum bis ins Mark zu erschüttern vermag, es also haptisch treffen, ja berühren kann, sein Antlitz, seine Stimme uns dagegen anfleht : »Bitte nicht berühren, es soll mich keiner mehr berühren !«, so spricht er hier ein leicht modifiziertes Zitat aus der Bibel, genauer aus dem Johannesevangelium, das Jesus am Ostermorgen seiner Auferstehung äußert, als er sich Maria aus Magdala als Auferstandener offenbart. »Rühre mich nicht an ! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater« 39, spricht Jesus zu Maria von Magdala und weist ihre Berührung zurück, hält sie sich buchstäblich vom Leibe. Sie soll und kann ihn nicht berühren, da er sich in einem Zwischenstadium befindet : auferstanden, aber noch nicht hinaufgefahren in den Himmel, wo er sitzen wird »zur Rechten Gottes« und von wo er richten wird über die Lebenden und die Toten. Er gehört nicht mehr dem Reich der Lebenden an, auch nicht mehr dem der Toten und auch noch nicht gänzlich dem Himmel, dem Gottesreich. Er ist noch nicht Teil des göttlichen Prinzips und diese letzte Transformation, die Reise ins ewige Leben, könnte durch eine irdische Berührung, durch den physischen Kontakt mit einem irdischen Leib gestört, beeinträchtigt werden. »Was nicht berührt werden darf, ist der auferstandene Leib. […] Er ist nicht zu berühren. […] Sein Sein und seine Wahrheit als Auferstandener finden sich in diesem Entzug, in

39

freilich in einer gänzlich verschiedenen Funktion und Bedeutung, zumal davon auszugehen ist, dass kaum einer aus dem Publikum über den Entstehungskontext des Videos ›im Bilde‹ ist. Zitiert aus: Das Evangelium nach Johannes, 20,17, a.  a. O.

211

212

Noli me tangere

diesem Rückzug, der allein das Maß der Berührung gibt, um die es sich handeln muss – ohne diese Körper zu berühren, an seine Ewigkeit rühren. Ohne in Kontakt mit einer manifesten Präsenz zu treten, zu einer wirklichen Präsenz zu gelangen, die aus seinem Fortgang besteht« 40, so umschreibt Nancy diese Situation. Zwischen der leiblichen und irdischen Sphäre der Lebenden und jener der Toten, der Auferstandenen und noch nicht dem Himmel Angehörenden kann im Christentum keine tatsächliche, profane, haptische Berührung stattfinden, aber die Berührung und Begegnung dieser Sphären vermag sich im Glauben zu ereignen. Der Glaube setzt dort ein, wo sinnliche, faktische, empirische Gewissheit und Evidenz aufhören. Als Glaube an die Ereignisse und die Existenz jenseits der Evidenz wird er zur Grundbedingung einer Gemeinschaft, einer Gemeinschaft der Gläubigen, die sich zu diesem Glauben rituell wie kollektiv bekennen muss. Dieses Prinzip des Glaubens verdeutlicht die Geschichte des Thomas, die im Johannesevangelium auf jene von Maria von Magdala folgt und deren Lektüre für die paradigmatische Eingangssequenz des »Fluxus-Oratoriums« und mit Blick auf das inszenatorische und mediale Panorama der vom Verschwinden bedrohten Existenz des Künstlers erhellend ist und hier als Hintergrundfolie durchscheint. Als Jesus an eben jenem Ostermorgen seiner Auferstehung vor die Jünger tritt und sich durch das Zeigen seiner Hände »und seiner Seite« 41 – seiner Wundmale – als er selbst ausweist, und sich damit als Auferstandener offenbart 42, zweifelt Thomas, der bei der Offenbarung nicht dabei gewesen war, an deren Wahrhaftigkeit. Er zweifelt daran, dass es sich bei der Gestalt, die sich den übrigen Jüngern offenbarte, tatsächlich um jene Jesu gehandelt haben kann. Er könne nicht glauben, so Thomas wörtlich, »wenn ich nicht in seinen Händen sehe die Nägelmale und lege meinen Finger in die Nägelmale und lege meine Hand in seine Seite«43. Mit anderen Worten, er kann erst glauben – glauben, dass es sich tatsächlich um Jesus, der das Leid am Kreuz getragen hat und daran gestorben ist und damit um ihn als Auferstandenen handelt, glauben damit an das ewige Leben, an den Heiligen Geist, an Jesus als Sohn Gottes: an den christlichen Glauben – wenn er den Finger in die Wunde 44 legt, wenn er sich durch den körperlichen Kontakt und das Fassen

40 41 42 43 44

Nancy, Noli me tangere, a.  a. O., S.  21  f. Zitiert aus: Das Evangelium nach Johannes, 20,19  ‒  23, a.  a. O. »Nehmet hin den heiligen Geist«, Das Evangelium nach Johannes, 20, 22, a.  a. O. Das Evangelium nach Johannes, 20, 25, a.  a. O. Die Wunde fungiert als Zeichen seiner Leibhaftigkeit, die aber schon eine andere, eine in ihrer Materialität transformierte, eine auferstandene, eine nicht mehr lebendige und doch auch nicht tote geworden ist. Siehe zur Geste der Berührung in der Geschichte des ungläubigen Thomas auch Kolesch, Doris, »Die Geste der Berührung«, in: Fischer-Lichte, Erika / Wulf, Christoph ( Hg.), Gesten, München, Fink, 2010, S.  225  ‒ 241, S.  230  f.

III. Der Nomadische Film

des Fleisches, der Wunde als Index des Leidens fühlen und spüren und sich so sinnliche Gewissheit verschaffen kann.45  Nach acht Tagen zeigt sich Jesus Thomas und fordert ihn auf, sich zu überzeugen, dass er es wirklich sei, der sich da kundtue : »Reiche deinen Finger her und siehe meine Hände und reiche Deine Hand her und lege sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig !«46 Ob Thomas die Berührung Jesu tatsächlich vollzieht, ist im Johannesevangelium nicht expliziert, sie wurde erst nachträglich in der bildenden Kunst des Christentums realisiert und in die christliche Ikonografie eingetragen.47  Im Johannesevangelium, dem einzigen Evangelium, das diese Geschichte überhaupt enthält, liest sich die Stelle so, als glaube Thomas Jesus bereits durch die Aufforderung und durch sein Erblicken von Jesu Gestalt. Denn direkt auf die zitierte Aufforderung heißt es : »Thomas antwortete und sprach zu ihm : Mein Herr und mein Gott !«48 So aber, lehrt Jesus hier Thomas, funktioniere der christliche Glaube nicht, denn er konstituiere sich im Vertrauen, vielmehr : im Glauben an ein Fortleben nach dem Tod, an die KoExistenz der Lebenden und der Toten, der eine Lebenshaltung und -praxis bilde, die eben gerade nicht der sinnlichen Gewissheit bedürfe : »Weil Du mich gesehen hast, Thomas, so glaubst du. Selig sind die, die nicht sehen und doch glauben«49, lehrt ihn Jesus. Im Zentrum des Glaubens steht hier also der Glauben an das Leben der Toten (an das Jenseits ), für das es keine sinnliche Gewissheit, keine Evidenz geben kann – und dennoch scheint Berührung möglich, Übertragung, nur anders: im Glauben. Der Glaube entspringt dem Prinzip der Verwobenheit der Sphären der Lebenden und der Toten, die sich wiederum im Glauben an die Auferstehung begründet, an das ewige Leben im Reich Gottes. Der christliche Glaube wird folglich zu einer Praxis der Lebenden, die die Toten präsent hält, sie fortlebend glaubt. »Die Toten

45

46 47

48 49

»In der christlichen Kultur ist die Wunde ›Identifikationsmerkmal und zugleich das äußere Zeichen der Differenz zwischen dem auferstandenen Gottmenschen und dem krank zurückbleibenden Menschen. Die Wunden sind […] dem ungläubigen Thomas die Zeugnisse dafür, dass der auferstandene Gott identisch ist mit dem Menschen Jesus Christus.‹« Mühlemann, Christoph Schlingensief und seine Auseinandersetzung mit Joseph Beuys, S.  96. Zitiert hier Blume, Eugen, »zeige deine Wunde«, in: Blume / Nichols, ( Hg.), Beuys. Die Revolution sind wir, a.  a. O., S.  77. Das Evangelium nach Johannes, 20, 27, a.  a. O. Siehe hierzu : »Der ungläubige Thomas«, in: Schiller, Gertrud, Ikonographie der christlichen Kunst, Bd.  3, Die Auferstehung und Erhöhung Christi, Gütersloh: Gerd Mohn, 1971, S. 108  ‒114. Das Evangelium nach Johannes, 20, 28, a.  a. O. Das Evangelium nach Johannes, 20, 29, a.  a. O.

213

214

Noli me tangere

sind tot«, schreibt Nancy, »aber als Tote hören sie nicht auf uns zu begleiten, und wir hören nicht auf, mit ihnen fortzugehen.« 50 In der programmatischen filmischen Eröffnungssequenz des »Fluxus-Oratoriums« wird das Motiv der Wunde in dem Appellieren des »Noli me tangere« aufgerufen und als filmspezifische Medialitätsfrage verhandelt. Die Wunde wird in der Referenz auf den ungläubigen Thomas als Index des Menschen dargestellt. Die Berührung der Wunde würde den menschlichen Leib und seine Versehrung bezeugen, aber sie ist dieser Referenz entsprechend in der Aufführung und in Schlingensiefs gesamten künstlerischen Projekt nicht faktisch berührbar, sondern erfordert eine Einlassung und Involvierung des Publikums, konstituiert sich ästhetisch immer als Relationalität. Die nicht-haptische Berührung der Wunde, der Versehrung und des Versehrten, die sich aber doch als Berührung zu ereignen vermag, spiegelt sich in der Medialität filmischer Bilder und Stimmen, die als solche nicht berührbar sind und doch Berührung und intersubjektive Beziehung evozieren. Somit wird dem Motiv der Wunde eine ästhetische Dimension immaterieller und zugleich medienspezifischer Relationalität hinzugefügt, die nur auf der Grundlage der Spezifik der filmischen Inszenierung hervortritt und die ohne deren Einsatz in der Aufführung nicht zu offenbaren wäre. Ich möchte nun ausführen, welche Rolle diese Figur des existenziellen Glaubens, des Glaubens an eine Existenz, über die keine sinnliche Gewissheit besteht, so wie sie in der Referenz auf den ungläubigen Thomas signifikant wird, in Schlingensiefs Inszenierung von sich als Sterbendem spielt. Wenn Schlingensiefs Antlitz von der Leinwand am oberen Bühnenrand als visuelle Gestalt auf das Publikum hinunter scheint und fordert, es solle ihn niemand mehr berühren, so schreibt sich diese Szene in den Kontext der Geschichte des ungläubigen Thomas ein. Schlingensief bemächtigt sich inszenatorisch eines Moments der Zukunft, des Futur II des Gestorbenseinwerdens, und wirft die Frage nach dem Fortleben im Tod auf, dessen Möglichkeit und Antwort als in den Händen der anderen, der Lebenden, des Publikums liegend zur Anschauung gebracht wird. So werden diese Fragen anhand medienreflexiver Strategien in Verbindung mit religiösen Kontexten in den Raum hineinprojiziert : Welche Verbindungen zwischen den Lebenden und den Toten gibt es, sind möglich und denkbar ? Wie kann die Kunst sie wahrnehmbar machen ? Praktizieren ? Diese Verbindung gestalten und beleben ? Und: Welchen Glauben schenken wir den Bildern? Insbesondere den fotografischen, den Film- und Videobildern ? Was haben sie mit unserer Existenz zu tun ? Mit unserem Leben ? Mit dem Tod ? Wie verweisen sie auf beide ? Wie setzen sie sie zueinander in Beziehung ? Wie verhalten sie sich zur Leiblichkeit, zu unseren Körpern ?

50

Nancy, Noli me tangere, a.  a. O., S.  52.

III. Der Nomadische Film

Die Inszenierung plädiert, versinnbildlicht in dieser exemplarischen audiovisuellen Sequenz, für die Bewusstwerdung und Ausgestaltung der Möglichkeiten dieser Beziehungsförmigkeiten zwischen der Welt der Lebenden und der Toten und dafür – im Rahmen der Kunst – ihre Trennlinien nicht als letztgültig, ihre Sphären nicht als dichotomisch zu begreifen, sondern als einander konstitutiv bedingend, miteinander verwoben, ineinander hinübergehend. In diesem Sinn sind die Schwellenzustände, in denen Jesus sich befindet, als er spricht : »Berühre mich nicht !«, zu begreifen. Programmatisch für das gesamte Spätwerk schwebt über der Inszenierung mithin die Frage, dem die hier geschilderte, audiovisuelle Eingangssequenz ein mediales Szenario wie eine ästhetische Anschauung verleiht, welche Möglichkeiten der Berührung und des Zusammendenkens und -praktizierens des Lebens und des Todes generierbar sind und welche Konstruktions-, Fassungsund Ausdrucksvermögen die einzelnen Künste und Medien dabei einnehmen können. Die Arbeit wählt mit dieser Szene einen strukturellen, formalen und thematischen Ausgangspunkt in der Unmöglichkeit der sinnlichen Gewissheit, der Unerfahrbarkeit des Todes (und des Lebens nach dem Tod ) und kann dabei auf das Paradox einer jahrhundertealten Repräsentation in der Geschichte der Kunst zurückgreifen. Wenn zu Beginn der Aufführung eine pixelige, nahe Schwarzweißaufnahme von Schlingensiefs Angesicht über der Bühne projiziert wird und seine Stimme dazu verzweifelt wimmert, es solle ihn niemand mehr berühren, dann inszeniert er sich unter den Vorzeichen des christlichen Motivs des Noch-nichtGestorbenen als ein Gefangener zwischen dem symbolischen und dem realen Tod. Als solcher verlangt er, alle Berührung einzustellen und rekurriert dabei auf dem »Noli me tangere«, mit dem Jesus als Gestorbener, aber Noch-nicht-Auferstandener sich der irdischen Berührung der Maria von Magdala verwehrt, und ebenso auf das Taktilitäts- und Visualitätsprinzip des ungläubigen Thomas. Denn indem Schlingensief hier sein Bild projiziert, potenziert er einerseits seine Unberührbarkeit, seine materielle Transformation, die raumzeitliche Differenz zwischen seinem leibhaftigen Sein und seinem visuellen Erscheinen. Andererseits inszeniert er das Potenzial der Kunst, aus diesen existenziellen Paradoxien, aus der Unfasslichkeit der sinnlichen Evidenz des Seins und des Todes ein Spiel der Repräsentationen zu initiieren und hieraus spezifische Formen sinnlicher Ambivalenz zu generieren. Durch die Reflexion der medialen Spezifika seiner Inszenierungsformen ist es Schlingensief möglich, sich als (noch) Lebendiger in dem christlichen Paradox des Erscheinens aber schon Nicht-mehr-Daseins und anders Woanders-Seins ins Spiel zu bringen. Die Auferstehung, die dem »Bitte nicht berühren« inhärent ist, »ist die unendliche Verlängerung des Todes, die alle Werte von Anwesenheit und Abwesenheit, von Belebtem und Leblosen, von Seele und Leib verschiebt und außer Kraft

215

216

Mechanische Apparaturen zwischen Leben und Tod

setzt. Die Auferstehung ist die Ausdehnung eines Körpers im Maße der Welt und des Nebeneinander aller Körper«51, so formuliert es Nancy. Fotografie und Film: mechanische Apparaturen zwischen Leben und Tod Ein weiteres elementares Moment, anhand dessen die Beziehungen von Leben und Tod entlang des Films in Schlingensiefs Arbeit ausgelotet werden, sind die filmischen und fotografischen Apparaturen selbst. Ihre Inszenierung nimmt im »Fluxus-Oratorium« auch gegenüber den anderen späten Arbeiten eine besondere Position ein und begründet auch den spezifisch installativen Charakter der Arbeit, der im abschließenden Kapitel zur Installation ( V ) noch einmal gesondert in den Blick genommen werden soll. Wie eingangs geschildert 52, wird man als Zuschauer *in bereits beim Betreten des Aufführungsraumes von einem auratischen Sog erfasst, der wesentlich auch mit der Gestaltung des Kirchenraums in Analogie zu einem Kino- und Installationsraum sowie mit der Inszenierung der filmischen Apparaturen zusammenhängt. Die maschinellen Gestalten und Klänge der entlang der Seitenwände des Raumes von der Decke hängenden 16mm-Projektoren, welche wechselndes Filmmaterial auf die Seitenwände projizieren, prägen maßgeblich die Erscheinungsweise des Raumes und wirken auf die Stimmung des Publikums ein. Der maschinelle, mechanische Klang der Filmprojektoren lässt in Wechselwirkung mit ihrem Strahlenwerfen, mit ihrem Erscheinenlassen der Abdrücke und Spuren von Bildern des Lebens in bewegten Lichtspielen ein Moment einer anorganischen, mechanistisch-ästhetischen Inszenierung des Lebens erwachen und erklingen. Das Schlagen der Kirchenglocke wird hier zum Surren der Projektoren, das ihre Aktivität bekundet, mit der sie aufgezeichnete Bilder vom Leben und Sterben in der Projektion mechanisch verlebendigen. Die Inszenierung der Projektoren, die nicht nur Bilder des Lebens und Sterbens auf die Flächen, Wände und Körper im Raum werfen, sondern auch in ihrem eigenen Erscheinen und Erklingen in Lebens- und Todesnähe inszeniert werden, ruft eine Diskurstradition hervor, in welcher die mechanische Film- und Fototechnik ( Kamera wie Projektoren ) häufig in Beziehung zu Leben und Tod bestimmt und unterschieden wurden. Ich möchte im Folgenden diese Diskurs­ tradition kurz beleuchten, um die Verdichtung des Einsatzes filmischer Verfahren, Techniken und Apparaturen in Schlingensiefs Auseinandersetzung mit Leben und Sterben im Spätwerk in ihren weitreichenden Konsequenzen verstehbar zu machen.

51 52

Nancy, Noli me tangere, a.  a. O., S.  59. Siehe Kap.  I, »Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir. Zum Raum«.

III. Der Nomadische Film

Wie Chris Tedjasukmana in seiner Studie über die Mechanische Verlebendigung  53, für die er die historischen Diskussionen zur Frage nach den Beziehungen von Film, Leben und Tod erneut konsultiert hat, deutlich macht, werden Fotografie und Film in ihrer Diskurs- und Theoriegeschichte immer wieder in ihrem Verhältnis zum Leben bzw. zum Tod begriffen und differenziert. Hierbei ist stets die Frage entscheidend, inwiefern die fotografische bzw. filmische Apparatur in der Lage ist, Welt und Leben zu erfassen, zu speichern und wiederzugeben.54 Dabei werden beide zunächst in ihren Anfängen im späten 19.   Jahrhundert im Kontext naturwissenschaftlicher Bestrebungen in den Dienst einer möglichst exakten, (maschinell ) objektiven, technizistischen Erfassung des Lebens genommen, etwa in den berühmten filmischen Bewegungsstudien, den Chronophotographien, Étienne-Jules Mareys.55  Dem liegt ein Verständnis des Lebens zugrunde, das den Organismus in Analogie zur Maschine begreift, insofern er allein physikalischen Gesetzen unterliegt. Entsprechend wird seine Ontogenese als mittels technischer Verfahren erfassbar angenommen. Wie Tedjasukmana herausstellt, lässt sich dieser mechanistische Diskurs des Lebens bis ins 17.  Jahrhundert zurückverfolgen, wo er von Descartes’ »Metapher des Organismus als einer mechanischen Maschine« herrührt und gegen »die an Leibniz anschließende vitalistische Behauptung einer nicht-mechanischen Lebenskraft« 56 gerichtet ist. Während also Fotografie und Film vom naturwissenschaftlichen Mechanismus emphatisch zur Erfassung und Analyse 57 des Lebens aufgenommen wurden, wurden sie, wie Tedjasukmana zeigt, seitens vitalistischer Diskurse angegriffen. Der Vitalismus geht davon aus, dass das

53 54

55

56

57

Tedjasukmana, Mechanische Verlebendigung, a.  a. O. Ebenda, S.  39  ‒  95. Wie Avanessian, Menninghaus und Völker in ihrem Band Vita aesthetica deutlich machen, verlaufen die Entstehung der Ästhetik und der Biologie historisch parallel und formieren sich um unterschiedliche Konzepte und Begriffe des Lebens. Die Ästhetik verhält sich im Folgenden in Anlehnung oder Abgrenzung zum biologischen Begriff des Lebens in ihren Bezügen und Formen. Siehe Avanessian / Menninghaus /  Völker, »Einführung«, in: Dies. ( Hg.), Vita aesthetica, a.  a.  O., S.  7 ‒ 11, S.  9. Vgl. ebenda, S.  81  ff. Sowie weiterführend Braun, Marta, Picturing Time. The Work of Étienne-Jules Marey (1830  ‒1904 ), Chicago: Chicago University Press, 1992. Tedjasukmana, Mechanische Verlebendigung, a.  a. O., S.  80. Siehe weiterführend Leibniz, Gottfried Wilhelm, Monadologie, hg. v. Hubertus Busche, Berlin: Akademie Verlag , 2009. Tedjasukmana verweist darauf, dass der Begriff der Analyse etymologisch von »analysein« herrühre, also dem Auflösen des Ganzen in seine Teile. Dies sei es, was mechanische und technisch-naturwissenschaftlich ausgerichtete ( Lebens-)Diskurse an fotografischen und filmischen Techniken schätzen und nutzen, während vitalistische Diskurse es als den eigentlichen Kern des Lebens, die Lebenskraft, verfehlend verwerfen. Tedjasukmana, Mechanische Verlebendigung, a.  a. O., S.  82.

217

218

Mechanische Apparaturen zwischen Leben und Tod

Leben nicht in den Gesetzen der Mechanik aufgeht. Der vitalistischen Kritik nach sind Fotografie und Film entsprechend nicht in der Lage, das Leben zu erfassen. Sie zerlegten es vielmehr in nicht-organische, technische Einzelteile und zerstückelten es damit zunächst, um es in den Fotogrammen und, im Fall des Films, in der Projektion (der Filmstreifen ) mittels technisch illusionärer Verfahren wieder zusammenzusetzen. Auf diese Weise generierten sie technisch eine visuelle Illusion von Welt und Leben, gedacht als umfassender Bewegungszusammenhang.58 Fotografie und Film selektieren und abstrahieren einen Ausschnitt von Welt, speichern ihn mittels chemischer Prozesse und vergegenwärtigen ihn in der Projektion (oder auf Fotopapier )59 für die Rezipient*innen. Für den Film gilt dies in gesonderter Weise, insofern er von fließenden Bewegungsabläufen und -prozessen permanent Einzelbilder aufnimmt, sie also isoliert und parzelliert und in der Projektion die Einzelbilder so rasch wiedergibt, dass er dabei die Trägheit des Auges überwindet60 und quasi als ›ursprünglichen Bewegungsfluss‹ wiedergibt. Dass dahinter die destruktive und konstruktive Leistung der Apparaturen, die sich dazwischen schieben, in der Wahrnehmung der Rezipient*innen verschwinden kann, ist ein zentraler Aspekt der vitalistischen Kritik.61 Mit Deleuze führt Tedjasukmana dagegen eine Position ins Feld, welche die federführend durch Henri Bergson vorgetragene Kritik der Verfehlung des Lebens durch filmische Technologien in einer Re-Lektüre revidiert, mit dem Einwand, die

58

59

60

61

Tedjasukmana führt hier insbesondere Bergsons Position ins Feld. Siehe ebenda, S.  40  ff. Sowie weiterführend Bergson, Henri, Schöpferische Entwicklung, Hamburg : Meiner, 2013. Die Mediendifferenz zwischen Dia- und Filmprojektion und des Fotoabzugs auf Papier ist freilich enorm, der Eindruck mechanischen Verlebendigung sowie die evozierten Präsenzeffekte ganz verschiedene. Mit Blick auf Schlingensiefs Aufführungen spielen auf Papier abgezogene Fotografien allerdings kaum eine Rolle und können an dieser Stelle vernachlässigt werden. Das menschliche Auge kann bis maximal 17 Einzelbilder pro Sekunde unterscheiden. Ab 18 Bildern pro Sekunde kann es den Wechsel nicht mehr verfolgen, sondern nimmt die Einzelbilder als Fluss, als Bilderstrom wahr. Hier, bei 18 Bildern pro Sekunde, liegt der Einsatzpunkt des Films, die er so als fließenden Bewegungsstrom erscheinen lässt. Für Schlingensiefs war dieses Verhältnis von Sehorgan und filmischer Apparatur sehr bedeutend. Gerade gegen Ende seines Arbeitens und Lebens hat er immer wieder betont, dass ihn zunehmend die Dunkelphasen zwischen den Einzelbildern interessierten und der Film diese in sich reflektiere, als ein ästhetisches Prinzip des Lebens, das mit dem Tod zusammenhängt. »Bei 25 Bildern ist das Ganze schon über-flüssig, das heißt, dass man die Dunkelphase überhaupt nicht mehr wahrnehmen kann. Die ist aber entscheidend«, notiert Schlingensief in Ich weiß, ich war’s, a.  a. O., S.  218. Tedjasukmana, Mechanische Verlebendigung, a.  a. O., S.  40  ff.

III. Der Nomadische Film

Wirklichkeit, Welt und Leben seien immer schon parzelliert, diskontinuierlich und nie in einem Ganzen gegeben. Um eine Synthese könnten Welt und Leben durch die filmischen Apparaturen, Kamera und Projektor nicht beraubt werden, da sie nie über sie verfügten oder aus ihr hervorgingen.62 Die mechanischen Bild(re) produktionsapparaturen verdoppelten nach Deleuze hingegen gerade in der Parzellierung, Simultanität und Diskontinuität ein Wirklichkeits- und Existenzprinzip.63 Schlingensief selbst kommt, nach Problemen mit den bei der klassischen Spielfilmnarration zu vermeidenden Anschlussfehlern in den Anfängen seiner Filmarbeit, zu demselben Schluss : »Denn dieses verzweifelte Beschwören der Kontinuität, der Geradlinigkeit, des Eins-nach-dem-Anderen ist ja eigentlich viel absurder als die absurdesten Anschlussfehler. Im Film wie im Leben. Durch die Probleme bei der Filmerei habe ich wahrscheinlich ziemlich früh begriffen, dass wir es auch im Leben permanent mit Diskontinuität, mit Brüchen und Fehlern, mit drohender Instabilität und Chaos zu tun haben.« 64 Diese Erkenntnis wird in Schlingensiefs filmischer Praxis im Radius der Existenz einmal mehr dringlich. Die vitalistisch argumentierenden Diskurse zum Film bergen, wie Tedjasukmana demonstriert, zugleich eine Perspektive für die Ästhetik, den Film aus einer ausschließlich naturwissenschaftlich-rationalistischen Klammer zu befreien und für die nicht vollkommen intelligiblen Momente zu öffnen, die mit der Poetik des Lebens als offenem, kontingentem und autopoietischem Prozess jenseits der Gesetze der Mechanik parallelisiert werden.65 Dies ist auch für den hiesigen Untersuchungszusammenhang wichtig, und doch geht es dabei nicht um eine Opposition zwischen Vitalismus und Mechanismus, Wissenschaft / Technik und Poetik. Vielmehr, so scheint mir, werden in Schlingensiefs fotografischer und filmischer Inszenierung des Lebens und des Todes immer beide Dimensionen zugleich in einer oszillierenden Reibung in Szene gesetzt, so etwa in der Poetisierung der endoskopischen Körperbilder oder in den Kindheitsfilmen, deren mechanische Konstitution, die sich in der Körnigkeit des Bildes oder dem leichten Flackern der Projektionsbewegung abzeichnet, als filmische Poetik der Nostalgie des Lebens ins Spiel gebracht wird.66 So oder so, ein Abdruck der Welt wird durch Licht übertragen, lagert sich auf lichtempfindlichen, fotochemischen Papier ab und wird in der Projektion reproduziert. Dazwischen sind immer die Maschinen. Ob dies in Analogie zum Leben

62

63 64 65 66

Ebenda, S.  42  ff. Siehe weiter Deleuze, Gilles, Das Bewegungs-Bild. Kino  1, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1989, S.  88, S. 10  f. Ebenda. Schlingensief, Ich weiß, ich war’s, a.  a. O., S.  200. Vgl. Tedjasukmana, Mechanische Verlebendigung, a.  a. O., S.  87  ff. Ebenda, S.  92  ff.

219

220

Mechanische Apparaturen zwischen Leben und Tod

begriffen wird oder nicht, hängt vom Begriff des Lebens ab. »Das Leben beginnt im Kino vom Ende her«, schreibt Tedjasukmana, der »mechanischen Verlebendigung des Films geht die Stillstellung voraus. Im analogen Film stellt die Kamera die Welt still, indem sie eine Serie von Einzelbildern auf einen Filmstreifen aufnimmt, der entwickelt und montiert in der Projektionsmaschine in Bewegung gesetzt wird und ein ephemeres Bewegungsbild hervorbringt. Ähnliches gilt für den digitalen Film, der ebenfalls erst am Ende des Produktionsprozesses als lebendiger Fluss erscheint.«67 Aufgrund ihrer Abdruck-, Speicher- und Reproduktionsfunktion vermögen Fotografien wie Filme vergangene Momente und Szenen, Augenblicke, erloschene partikulare Wirklichkeiten und Welteindrücke sowie singuläre Eindrücke vergangenen Lebens, verstorbener Personen zu speichern und technisch zu aktualisieren, zu vergegenwärtigen, zu verlebendigen. Gleichwohl ereignen sich die technischen ›Wiederbringungen‹ und Vergegenwärtigungen nicht nur doppelt maschinell vermittelt, sondern auch in jedem Moment ihrer jeweiligen Projektion aufs Neue, in immer neuen Gegenwärtigkeiten, die sich ihrerseits in die Gestalten und Erfahrbarkeiten des Materials, der aufgezeichneten Personen, Objekte und Weltausschnitte mit einschreiben. Sie werden so immer auch von den Subjektivitäten ihrer Rezipient*innen mitbestimmt und verlebendigen sich in der Relation zu ihnen und zur filmischen Apparatur in der Materialität des Films. Für jeden bedeuten sie etwas anderes, lösen sie andere Affekte und Assoziationen aus. Diese Wirkungen ereignen sich in einem Zwischen aus Fotografien und Film, den Welteindrücken, die sie aktualisieren und vergegenwärtigen, den Situationen, in denen sie erscheinen und den Rezipient*innen, denen sie erscheinen. Das mediale Potenzial, mit Fotografien und Film vergangene Momente und Situationen zu speichern und mechanisch zu vergegenwärtigen, produziert eine spezifische Durchlässigkeit zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Leben und Tod, die immer zugleich eine maschinell vermittelte ist. Diese Beziehungen setzt Schlingensief hier entlang filmischer Szenarien des Sterbens in Szene und verschränkt sie mit den hierfür emblematischen neutestamentarischen Sterbeszenen Jesu. Leben und Tod, Vergangenheit und Gegenwart werden dabei an der Schnittstelle technischer Maschinen denkbar und nicht im Gegensatz zu ihnen. Indem die maschinellen Gestalten und mechanischen Klänge der Projektoren die auratische Wirkung der Aufführung bereits beim Betreten des Aufführungsraumes sowie ihren gesamten weiteren Verlauf prägen, werden von Anfang an diese existenzialen Spuren und technisch-anthropomorphen Vermögen des Films orchestriert. Die technischen Apparate und Filmprojektoren werden sowohl in einer Todesnähe inszeniert, als auch als Möglichkeitsräume etabliert, in denen vergangenes Leben gespeichert und in Momenten, technisch vergegenwärtigt, in die leibhaftige,

67

Ebenda, S.  161  f.

III. Der Nomadische Film

lebendige Gegenwartserfahrung der Rezipient*innen eingetragen werden kann. Sie offerieren damit Möglichkeitsraume alternierender und medienspezifischer Lebendigkeit, in denen andere Relationen von Leben und Sterben denkbar werden. In seiner Bestimmung der »Ontologie des photographischen Bildes« 68 sieht André Bazin das psychologische Grundmotiv der bildenden Kunst überhaupt in der Konservierung des Lebens und dem Entreißen des Lebens aus dem Strom der Zeit, aus der Vergänglichkeit.69  Den »Ursprung von Malerei und Skulptur« lokalisiert er in der Mumie 70 und vergleicht ihre auf Konservierung des Lebens ausgerichteten Praktiken mit der Einbalsamierung des Leichnams. Die Fotografie ist ihm zufolge wie kein anderes Medium für dies existenzielle Movens, für die Speicherung und Aufbewahrung des Lebens, für das Entreißen des Lebens aus dem Strom der Vergänglichkeit geeignet. Nach Bazin ist ihre Entstehung das wichtigste Ereignis in der Geschichte der bildenden Kunst, weil Skulptur und Malerei durch sie von der Konservierung des Lebens und der Vergangenheit im Realismus befreit würden.71 Diese lebenskonservierende Funktion des fotografischen Bildes als Speichermedium und Balsamierung der Toten bespielt Schlingensief in seiner fotografischen und filmischen Inszenierung des Todes auf verschiedene Weise und befragt es aufs Neue auf seine diesbezüglichen Kapazitäten. Das Motiv der Mumie als fotografierte filmische Figur zwischen konservierter Leiche und lebendiger Skulptur taucht in der Günther Brus-Referenz in dem Filmmaterial, das während der Aufführung wiederkehrend über die Bühne projiziert wird, buch­stäblich auf. 72 Roland Barthes rückt in seiner einflussreichen Auseinandersetzung mit der fotografischen Apparatur diese weniger in die Nähe des Lebens als in die des Todes: »Was ich letztlich auf der Photographie suche, die man von mir macht« schreibt Barthes, »ist der Tod: Der TOD ist das eidos dieser PHOTOGRAPHIE vor meinen Augen.«73 Das Geräusch der Apparatur im Moment der Aufnahme wird für Barthes zum eigentlichen Moment des Lebendigen und eben nicht die fotografierte Lebendigkeit : »Für mich ist das eigentliche Organ des PHOTOGRAPHEN nicht das Auge (es erschreckt mich ), sondern der Finger : das was unmittelbar mit dem Klicken des Auslösers zu tun hat, mit dem metallischen Gleiten der Platten […]. Diese mechanischen Geräusche liebe ich auf eine fast wollüstige Art, als wären sie an der PHOTOGRAPHIE genau das eine – und nur dies eine –  , was meine

68 69 70 71 72 73

Bazin, »Ontologie des photographischen Bildes«, a.  a. O., S.  33 ‒  42. Ebenda, S.  33  f. Ebenda, S.  33. Ebenda, S.  40. Vgl. hierzu weiter Kap. I, »Das Filmmaterial«. Barthes, Die helle Kammer, a.  a. O., S.  24, Herv.   i.  O.

221

222

Mechanische Apparaturen zwischen Leben und Tod

Sehnsucht zu wecken vermag : dies kurze Klicken, welches das Leichentuch der Pose zerreißt.«74  Der Moment des Fotografiertwerdens, des Aufgezeichnetwerdens als Moment der Lebendigkeit der Maschine bildet für Barthes den Tod des fotografierten Subjekts : »In der Phantasie stellt die PHOTOGRAPHIE […] jenen äußerst subtilen Moment dar, in dem ich eigentlich weder Subjekt noch Objekt, sondern vielmehr ein Subjekt bin, das sich Objekt werden fühlt: ich erfahre dabei im kleinen das Ereignis des Todes ( der Ausklammerung  ): ich werde zum Gespenst.« 75 Zum einen lässt sich mit Barthes sagen, dass sich in der Projektion filmischer und fotografischer Bilder von Schlingensief selbst dessen Oszillation und Transformation als Subjekt und Objekt, dessen Objektivierung in der eigenen Arbeit als Tod reflektiert und doppelt und zugleich ein Moment von Wiederkehr, Auferstehung und Re-Subjektivierung markiert. Wenn Schlingensief sich und seinen Körper als filmische Bilder, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten aufgenommen wurden und verschiedene Zeitpunkte und Phasen seines Lebens in verschiedenen Bildtypen und -genesen zeigen, vergegenwärtigt, birgt dies darüber hinaus im Sinne Barthes auch ein mediales Szenario des Todes und dessen paradoxalen Zeitstrukturen mit Blick auf das Leben: Der zum Zeitpunkt der Aufnahmen Lebendige vermag im Moment der Aufnahme ein Momentum des Todes erfahren ; die Gestalt, die hier aufgezeichnet und potenziell für die Ewigkeit konserviert wird, ist in der jeweiligen Gegenwart, in der sie wieder in Erscheinung tritt, stets bereits verloren und wird doch im Moment der Projektion verlebendigt. Auch an den anderen filmischen Gestalten, die zu einem wesentlichen Teil zudem leibhaftig auf der Bühne stehen, entfaltet sich im »Fluxus-Oratorium« ein mediales Szenario von Leben und Tod, von Diesseits und Unterwelt. Sie erscheinen auf den Leinwänden und als filmische Projektionen durch den Raum aus einer anderen Raum-Zeit-Relation in der Gegenwart der Aufführung wie Geister, die zugleich als lebendige Menschen auf der Bühne stehen und mit ihren Körpern den Raum erfüllen und warmhalten. Hierin wird eine mediale Differenz zwischen Aufführungssituation auf dem Theater und dem Film als Teil der Aufführungssituation selbst verhandelt. Lebendigkeit und Leiblichkeit als Konstituenten der Aufführungssituation werden mit der mechanischen Lebendigkeit zwischen An- und Abwesenheit, mit den maschinellen Physiologien der Fotografierten kontrastiert, erweitert und in die Aufführungssituation eingetragen als verschiedene Modi der Lebendigkeit, die einander nicht ausschließen, sondern zusammengehören.

74 75

Ebenda, Herv.   i.  O. Ebenda, S.  22.

III. Der Nomadische Film

Ein weiteres prägnantes filmisches Motiv, das im »Fluxus-Oratorium« zum Anfang und zum Ende die Aufführung rahmt, ist die Projektion von 8-mm-Farbaufnahmen auf den großen Vorhang vor der Bühne, die Schlingensief als Kind mit seinen Eltern am Strand zeigen. Am Beginn der Aufführung wird die Projektion von Schlingensiefs über Lautsprecher eingespielter Stimme begleitet, die von seiner Krebsdiagnose spricht, am Ende der Aufführung kehren die Bilder noch einmal stumm zurück. Abermals kommen hier die besondere Zeitstruktur fotografischer Bilder und ihr spezifisches Vermögen zum Tragen, einem existenziellen Spannungsverhältnis von An- und Abwesenheit sowie der Simultanität unterschiedlicher Zeit­ebenen, die sich in der Konfrontation mit dem Tod zuspitzen, einen ästhetischen Erfahrungsraum zu offerieren. Die Bilder erwecken die Szenerie der Kindheit für den Moment der Projektion zum Leben. Sie bestätigen das Dagewesensein des Kindes, der Eltern, der Kleinfamilie, der Situation eines optimistischen Blicks in die Zukunft, Momente des Glücks, des Zusammenseins. Sie bieten es zugleich als ein vergangenes, ein verlorenes Dasein dar, das sie im Moment der Projektion und Rezeption vergegenwärtigen. Barthes beschreibt die Qualität fotografischer Bilder, sinnliche Erinnerungen an die Kindheit hervorzurufen, und erinnert damit an Marcel Prousts Eröffnungsszene seines epischen Projekts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, in der auch Proust die Wirkung eines Index’ beschreibt, hier den Geruch der Madeleine, der den Protagonist Marcel immer wieder an seine vergangene, verlorene Kindheit erinnert, sie ihm für einen Moment vergegenwärtigt. So liest sich Barthes in seinen Notationen zum fotografischen Bild, als wäre man in Prousts Roman: »[ Das] Betrachten eines Photos, auf dem die Mutter mich als Kind an sich drückt, [ kann] die zerknitterte Zartheit des Crêpe de Chine und den Duft des Reispuders in mir wachrufen«.76 Die projizierten Filmbilder im »Fluxus-Oratorium« 77 entfalten das mediale Szenario der verlorenen Kindheit des Künstlers, das im Hier und Jetzt der Aufführung wieder erscheint. Die parallel dazu erklingende eingespielte Stimme stellt aus der Perspektive der Bilder die Zukunft dar, die in der Aufführung Vergangenheit und Gegenwart ist, welche nun die Existenz des im Bild noch Kind Seienden gefährdet. Die audiovisuelle Kontrastierung des Kindes in den Bildern und des verzweifelten, vom Tode bedrohten Erwachsenen, der hier auf akustischer Ebene als solcher vernehmbar wird, evoziert einen gemeinsamen Schmerz, der sich zwischen Bühne und Publikum, im gesamten Aufführungsraum entfaltet und ausbreitet.78

76 77 78

Barthes, Die helle Kammer, a.  a. O., S.  75. Sie erscheinen auch in Der Zwischenstand der Dinge. Siehe zu dieser Figur intersubjektiver Übertragung Schaub, Miriam ( Hg.), Ansteckung. Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips, Paderborn / München: Fink, 2005.

223

224

Mein erster Film

Zum Ende der Aufführung erklingt noch einmal im klagenden Tonfall Schlingensiefs aufgezeichnete Stimme mit den Worten »Nicht berühren, bitte nicht berühren«. Im Anschluss daran werden abermals die Kindheitsfilme projiziert, nun aber viel kürzer und mit einer Schlusspointe, die in der Eröffnungssequenz ausgespart geblieben ist: Der kindliche Schlingensief zielt mit einem Spielzeuggewehr und wird im Gegenschuss der folgenden Einstellung selbst von der imaginären Kugel getroffen. Taumelnd spielt er zu sterben und setzt damit den Schluss der Arbeit, mit dem er seinen Tod als »Medienphantasie« 79 symbolisch selbst bestimmt. Es erklingt das rhythmische Schlagen zahlreicher Metronome, die in das maschinelle Surren der Filmprojektoren einstimmen. Die Zeit verstreicht, die Vergangenheit ist nicht einzuholen, sondern nur erinnerbar: alleine, zusammen, in Gemeinschaft. Mein erster Film Kurz möchte ich einen groben zeitlichen Sprung machen und dabei doch in der filmischen Achse des Lebens bleiben, auf der wir uns gerade befinden. Denn indem Schlingensief am Ende seines Lebens und Arbeitens, in der Konfrontation mit dem Tod, die Filmbilder seiner Kindheit wieder in seine Arbeit einlässt, kehrt er damit auch an den Anfang seines Schaffens zurück. Dies verhält sich wiederum parallel zu der filmspezifischen Zeitschleife, die er innerhalb des »Fluxus-Oratoriums« bespielt. Wie Christoph Schlingensief selbst und nahezu alle, die über ihn schreiben oder sprechen, nicht müde werden zu betonen, beginnt Schlingensief seine künstlerische Arbeit als Filmemacher, und seine filmische Arbeit, sein künstlerischer Bezug zur Welt mit und durch Film, prägen maßgeblich die verschiedensten Arbeiten. Dieser wesentliche Bezug zum Film bleibt dabei nicht auf Experimentalund Kinofilm beschränkt, sondern spielt auch in seinen Fernseharbeiten, in den Aufführungen auf dem Theater, in den Aktionen und Installationen sowie in den Opern eine zentrale Rolle. Schon im Alter von 8 Jahren dreht Schlingensief seine ersten ( Kinder-)Filme; als Jugendlicher hat er bereits eine Filmografie von circa 15 Kurzfilmen vorzuweisen, mit Tunguska – Die Kisten sind da  80 stellt er 1984, im Alter von 24 Jahren, seinen ersten Langfilm fertig, und in den folgenden 20 Jahren dreht er mehr als

79

80

Siehe zum Schießen als filmspezifisches Szenario in der Kunst Bormann, Hans-Friedrich, »›He got Shot for his Art‹. Tod als Medienphantasie in der Performance Art«, in: FischerLichte et.   al. ( Hg.), Ritualität und Grenze, a.  a. O., S.  91‒107. (1984, 16 mm, Farbe, 71'   ). Uraufgeführt bei den Hofer Filmtagen am 25. 10. 1984.

III. Der Nomadische Film

10 weitere Langfilme, zahlreiche Kurzfilme sowie kleine und größere Fernsehbeiträge.81 Bereits seine ersten ( Kinder-)Filme zeichnen sich dabei trotz aller kindlicher Gestaltungsweisen durch einen reflexiven und spielerischen Umgang mit dem Medium des Films aus, indem Schlingensief auslotet, welche Möglichkeiten der Darstellung und medienspezifischen Kommunikation sich durch die Bedingungen und Möglichkeiten des Mediums als Material eröffnen, wie man diesen reflexiven Umgang mit dem Medium präsent halten und selbst bespielen kann und wie sich dabei Modi der Zitation und Imitation unterschiedlicher Fernsehformate ergeben, unter deren Eindruck der junge Schlingensief in den späten 1960er Jahren eindeutig zu stehen und selber zu agieren scheint. Um dies zu verdeutlichen und an die Einlassung seiner Kindheitsfilme sowie überhaupt seine filmische Lebens- und Sterbenspraxis im Spätwerk anzuschließen, möchte ich kurz seinen ersten Film etwas näher vorstellen. Schlingensiefs erster Film aus dem Jahr 1968, der den plastischen Titel Mein erster Film trägt, ist eine Montage unterschiedlicher narrativer Teile, die mit »Eine kleine Kriminalgeschichte«, »Kurzer Dreh mit Christoph Schlingensief« und »Allerlei Sachen« betitelt sind. Der Film ist ein von Kindern hergestellter Film, der Momente von Kinderfilmen und -fernsehen aufweist und darüber hinaus generell an Darstellungspraktiken und Diktionen des zum Massenmedium avancierten Fernsehens angelehnt zu sein scheint. Die massive Adressierung des Publikums durch das über das Bildmaterial gelegte Voice Over, das von der kindlichen Stimme Christoph Schlingensiefs gesprochen wird, imitiert den vorgeblich partizipativen Impetus von Unterhaltungsshows. Der Film spielt alle möglichen Szenarien vom Banküberfall und der dazugehörigen Verfolgungsjagd mit der Polizei, über Rateund Suchspiele für das Publikum zum verspielten Experimentieren mit technischen Bildverfahren als Unterhaltungstricks durch. Dabei werden die technischen Möglichkeiten des Mediums auf vielfache Weise genutzt, um einerseits Narration und andererseits explizite Kommunikationen und Adressierungen des Publikums zu generieren. Das Material lässt sich insofern als amateurhaft bezeichnen, als Bild und Ton oftmals nicht synchron sind, die Kamera unkontrolliert wackelt, die Bilder generell grobkörnig und die Aufnahmen häufig unscharf sind. Zugleich aber werden diese technischen und professionellen Mängel im Film selbst aufgegriffen und kommentiert, sodass schließlich ein kohärenter Eindruck erzeugt wird.82

81

82

Eine umfassende Filmografie von Christoph Schlingensief findet sich z.  B. in dem Band Biesenbach / Gebbers / Pfeffer ( Hg.), Christoph Schlingensief, Ausstellungskatalog, a.  a. O., S.  533  f. Außerdem wurde der Film erst Jahrzehnte nach seiner Entstehung durch die Filmgalerie 451, die auch der Verleiher aller Filme Schlingensiefs ist, veröffentlicht. Hierbei hätten grobe technische Unzulänglichkeiten in einer erneuten Postproduktion behoben werden

225

226

Mein erster Film

Bereits nach dem ersten Teil »Eine kleine Kriminalgeschichte« werden in einer verspielt improvisierten Form des Abspanns die (  Vor-)Namen der kindlichen Akteur *innen genannt, indem entsprechend angeordnete Magnetbuchstaben auf einer Hauswand abgefilmt werden. Zwischen den einzelnen Namen werden die Genannten in einer nahen oder einer halbnahen Einstellung gezeigt, verbeugen sich, blicken in die Kamera oder laufen ihr entgegen. Das den ganzen Film begleitende, ihn strukturierende und rahmende kindlich hohe, manchmal piepsende oder kreischende Voice Over, spricht die Namen dazu noch einmal aus und versieht sie mit einem kommentierenden, erläuternden, animierenden, das Publikum involvierenden Duktus. »Jetzt haben wir uns einen ganz besonderen Witz einfallen lassen«, spricht Schlingensiefs kindliche Stimme als Voice Over, während nur die Lettern »C-H-R-I-S-T« auf der Hauswand zu lesen sind. »Wir haben Buchstaben hingeschrieben. Bitte helfen Sie uns mit, ihn zu buchstabieren ! C-H-R-I-S-T [werden die Buchstaben nacheinander einzeln aufgezählt, S.   R .] – und was kommt nun?« / [Schnitt] / »O-P-H, CHRISTOPH !« 83, ruft er freudig aus. Indem hier das Publikum aufgefordert wird, den Namen »Christ« zu einem »Christoph« auszubuchstabieren, bedient sich der junge Schlingensief eines Repertoires öffentlicher Darstellungs- und Kommunikationsformen aus unterschiedlichen Medien und Genres. So nutzt er nicht nur die vorgeblich partizipativen Kommunikationsstrukturen des Fernsehens und die darin angelegte offensive Adressierung des Publikums aus Unterhaltungsshows, Glücks- und Gewinnspielen sowie die Rolle und Funktion des Moderators, die im gesamten Film auf die Herstellung von Dramaturgie und Kohärenz ausgeweitet werden und so im Medium des Films wiederum neue Möglichkeiten des Erzählens und der Involvierung eröffnen. Er greift darüber hinaus auch mediale Bedingungen von Aufführungen auf und lotet sie im Film aus, wenn er etwa eine Gleichzeitigkeit von Moderation, Regieperspektive und Zuschauer *innenrezeption suggeriert oder nahelegt, dass das Publikum aktiv auf das Bildgeschehen Einfluss nehmen könne. Wenngleich es bei einer Aufforderung bleibt – erledigt doch das Voice Over gleich selbst die an das Publikum gestellte Aufgabe –  , so wird das Publikum hier zur tatsächlichen Aktion ausdrücklich aufgefordert, zum Ausbuchstabieren des Namens derjenigen Person, die laut Zwischentitel »Regie und Kamera« hatte. Die Selbstinszenierung als Regisseur fungiert hier unter Einbettung und Einbeziehung des Publikums, das die Namensnennung und Personifizierung vollziehen und komplettieren soll. Die Persona des Künstlers und Regisseurs als Urheber des filmischen Ereignisses wird als eine Konstitution zur

83

können. Die Tatsache, dass dies offenbar nicht der Fall ist, lässt auf eine konzeptionelle Entscheidung schließen, die sich in bestimmte Arbeitsprinzipien Schlingensiefs generell einordnen lässt. Transkription.

III. Der Nomadische Film

Anschauung gebracht, die sich nur unter konstruktivem Einbezug des Publikums vollziehen kann. So wird schon hier, in Schlingensiefs erster verzeichneter Arbeit, auf einen konstitutiven Zusammenhang von Künstler und Publikum verwiesen, in dem die Etablierung der Künstlerposition der an Fremdwahrnehmung gebundenen, theatralen Situation bedarf. Bereits in dieser frühen Arbeit zeichnet sich also eine explizite Bezugnahme auf das Publikum ab, die Schlingensiefs Arbeiten fortan prägen wird und die Georg Seeßlen in ihrer Funktion folgendermaßen beschreibt : »Ich glaube, wir können Christoph Schlingensiefs Filme verstehen«, schreibt er mit Blick auf Schlingensiefs filmische Praxis insgesamt, »indem wir sie als lebendige Wesen wahrnehmen, einschließlich der Möglichkeit, sich zu verändern, mal etwas abwesend zu sein, verloren zu gehen und wiedergefunden zu werden, Spuren zu hinterlassen und so weiter. Sie spiegeln also die Zeit auf andere Weise wider, nicht in sich selbst, sondern in ihrem Verhältnis zum Betrachter.« 84 Die Filme reflektieren nach Seeßlen in sich selbst ihr Verhältnis zum Publikum, in deren Perspektive sich ihr Welt- und Zeitbezug permanent verändert. Mit der hier umschriebenen Performativität der Filme Schlingensiefs, die Seeßlen als Form ihrer Lebendigkeit begreift, unterstreicht er zudem die eingangs mit Kluge und Schlingensief selbst angestellten Überlegungen zum Lebensbezug der filmischen Praxis und fügt ihm eine reflexive Dimension hinzu, indem er die Filme, aufgrund ihres konstitutiven Bezugs zum Publikum, in stetiger Veränderung dem Leben verwandt selbst als lebendige Wesen auffasst. Allerdings haben die vorangegangenen Analysen zu den Funktionsweisen des Film in Schlingensiefs künstlerischer Auseinandersetzung mit Leben und Tod im Rahmen von Aufführungen auf dem Theater gezeigt, dass hier die Differenzen und Spezifika filmischer Praktiken und Apparaturen gegenüber dem organischen Leben und Sterben mindestens eine genauso große Rolle spielen, um einen Kunstraum der Existenz zu eröffnen, welcher dem ›analogen‹, organischen Leben und Sterben andere Zeit- und Bildräume und somit auch eine anders gedachte Lebendigkeit an die Seite zu stellen vermag, die so nur der Film zu offerieren imstande ist. Das Exempel von Mein erster Film verdeutlicht, dass bereits in der ersten Arbeit Schlingensiefs eine Reihe von Merkmalen zu finden sind, die sein gesamtes Werk im späteren Verlauf durchziehen und kennzeichnen werden, wie etwa die Verquickung von verschiedenen Modi der Selbstinszenierung mit medienreflexiven Entgrenzungsbewegungen. Indem Schlingensief hier mit der etymologischen Verbindung seines Namens zu »Christ« und »Christus« spielt, nimmt er einen autobiografischen Kontext vorweg, den er im Verlauf seiner Arbeiten immer wieder aufrufen, durchspielen und in dem er sich immer wieder ( anders ) inszenieren wird, der schließlich in der Auseinandersetzung mit Leben und Sterben in seinen

84

Seeßlen »Radikale Kunst«, a.  a. O., S.  85.

227

228

Film und Theater

letzten Arbeiten in unterschiedlichen Facetten aufs Neue existenziell wird. Das autobiografische Narrativ des gläubigen Katholiken, des kindlichen und jugendlichen Messdieners, aber auch des zweifelnden, zaudernden, kritischen und selbstironischen Christen dienen in allen möglichen Varianten als Folie für Selbstinszenierungen, die dabei zugleich verfremdet, gebrochen und in andere Kontexte gehoben werden, sodass sie als Versatzstücke, als fragmentierte Rollen und Identitäten, aufgeführt werden, deren signifizierendes Spiel grenzenlos erscheint. So reicht das christliche Rollenrepertoire des Christoph Maria Schlingensief, wie der volle Name des Künstlers lautet, vom Messdiener über den Prediger zum Papst bis hin zur zentralen Figur des neutestamentarischen Christentums überhaupt, zu Jesus. Diese figurative Analogie zieht sich durch sein Werk und wird, wie gezeigt wurde, an seinem Lebensende erneut virulent. Film und Theater Die bereits in Mein erster Film markanten Elemente und Prinzipien der Selbstinszenierung, der Medienreflexion und medienspezifischen Kommunikation, der offensiven Adressierung des Publikums sowie der als solchen markierten Zitationen bestimmter Formen und Formate prägen fortan die filmische Produktion85 Schlingensiefs und werden schließlich bei seiner erster Arbeit auf dem Theater auf dieses übertragen. Film und Theater gehen in Schlingensiefs Arbeit eine fortwährende Beziehung wechselseitiger Beeinflussung und Erweiterung ein. Themen, Motive, Stoffe und Formen werden aus den Filmen mit in das Theater hineingenommen und Inszenierungsstrategien, Darstellungs- und Kommunikationsprinzipien auf es angewendet und mit Blick auf seine Spezifika fortgeschrieben. So wie die ersten Theaterarbeiten die Themen, künstlerischen Strategien und ästhetischen Prinzipien der filmischen Praxis fortsetzen, so weisen die Filme gleichsam immer schon Theaterbezüge auf.86

85

86

Siehe die vollständige Filmografie in Biesenbach / Gebbers / Pfeffer ( Hg.), Christoph Schlingensief, a.  a. O., S.  533  f. So schreibt Diedrich Diederichsen über den Theaterbezug der Filme: »In den Filmen wurde ein einziger Abgrund – Terror ! Hitler ! Deutschland ! – vorausgesetzt : aber in diesem wechselten die Tonarten, die Schauspielstile, die Identifizierbarkeit von Folgerichtigkeiten zwischen grotesken und ernsten, lächerlichen und gothic-frommen Zuständen […] um Eindeutigkeit der Stimmung, der Bezugspunkte, der Register gar nicht erst aufkommen zu lassen. Die Mittel dafür waren schon damals theaternah.« Diederichsen, »Diskursverknappungsbekämpfung und negatives Gesamtkunstwerk«, a.  a. O., S.  63.

III. Der Nomadische Film

Georg Seeßlen sieht in Schlingensiefs gesamter filmischer Arbeit eine wesentlich ethisch-ästhetische und anthropologische Dimension und begreift die Entwicklung von Schlingensiefs Filmästhetik im Rahmen von Aufführungen auf dem Theater als Konsequenz daraus. Wer es schaffe, »einmal von den dargestellten ›Ungeheuerlichkeiten‹ abzusehen und von den pathetischen Textstellen und Dialogen abzuhören, die immer ganz woanders hinführen, um sich dem Rhythmus der Montage zuzuwenden, der Komposition der Einstellungen zueinander, der Musikalität der Bewegungen von Darstellern, Kamera und Licht« 87, der merke schon, »dass da jemand am Werke ist, der sich aufs Filmemachen versteht« 88. Der Schnitt in seinen Filmen sei keiner der »fließenden Übergänge«, sondern ein »schmerzhaftdialektische[r]« 89, führt Seeßlen weiter aus. Diese schmerzhafte Dialektik, welche durch das Prinzip der Montage, das eben nicht auf den Film beschränkt bleiben muss, sondern etwa auf das Theater und die Gestaltung von Bühne und Bühnengeschehen übertragbar ist und in Schlingensiefs Bühnenarbeiten auf unterschiedliche Weise transferiert und anders fortgeführt wird, ließe sich, so Seeßlen »ganz einfach empfinden« 90. »Und von hier aus« – und dies ist der Punkt der Übertragung filmischer Prinzipien auf Theater, Aktionen, Aufführungen als Fortführung seiner filmischen Arbeit – lohne sich die Überlegung, so Seeßlen, »wie viel Kino noch in den Bühnen und Sozialperformances von Christoph Schlingensief steckt« 91. Anstelle einer filmischen Praxis, die sich an bestimmten Konventionen wie narrativer und stilistischer Geschlossenheit orientiere und hierzu je Film ›interessante neue Zutaten‹92 aufaddiere, um so, wie Seeßlen es beschreibt, Teil des betrieblichen Apparats zwischen Filmförderung, Festivalteilnahmen, Kino-Verleih und schließlich Filmgeschichtsschreibung zu werden, entstand in Schlingensiefs filmischer Praxis »ein ganz eigener filmischer Kosmos, vielleicht sogar etwas wie eine eigene Film-Sprache, auf jeden Fall eine eigene Antwort auf die ewige Frage: Was zum Teufel ist eigentlich das Kinematografische, und was kann man damit, in die Bilder hinein und in die Gesellschaft hinein, anfangen ?« 93 Schlingensief habe, so Seeßlens Einschätzung, von dessen filmischer Praxis, »von Anfang an an einem Projekt der Befreiung der Kino-Bilder aus einem narrativen und ikonographischen

87

88 89 90 91 92 93

Seeßlen, Georg, »Über die Filme, das Theater und die Talkshow«, http://www.schlingensief.com/bio_seesslen.php  , [19.  12. 2018 ]. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Seeßlen, »Radikale Kunst«, a.  a. O., S.  77. Ebenda.

229

230

Film und Theater

Gefängnis der Konventionen gearbeitet.« 94 In seinen Filmen und darüber hinaus allgemein in Schlingensiefs filmischer Praxis als transferierbarem Prinzip sähen wir als Publikum »womit ein Film gemacht ist.« Wesentlich entspinne er sich im Netz dieser Vektoren: »Raum, Zeit und Subjekt. Subjekt nicht im Sinne eines Themas oder Motivs, sondern ganz im grammatischen Sinne : Was ist Ich ? Wie konstruieren wir ein Wir ?« 95  Wir könnten seine Filme »als Modelle dafür betrachten, wie der Raum Subjekte konstruiert.«96 Die Filmzeit sei »reine Gegenwart«: »Das ist die Zeit in einem Schlingensief-Film: Etwas geht vor sich. Immer jetzt.« 97 Den Grund für die Flexibilität von Schlingensiefs filmischer Praxis sieht Seeßlen in ihrem konstitutiven Bezug zu Welt und Leben und beschreibt sie in diesem Zusammenhang als eine »nomadische Geste« .98 Der Film bei Schlingensief falle stets aus dem Rahmen, sei auch dort noch Film, wo eigentlich kein Film mehr erkennbar sei, und dies deswegen, weil der Film, die filmische Praxis Schlingensiefs, so Seeßlen, stets »nach dem Leben greift« 99. In der Auseinandersetzung mit Leben und Lebenswelt verlasse Schlingensiefs filmische Praxis dort, wo es nötig sei, wo Welt und Leben dies notwendig erscheinen ließen, den Film, ohne dabei notwendig aufzuhören, Film zu sein. Ich möchte mich hier diesem Verständnis Seeßlens von Schlingensiefs filmischer Praxis als flexible, als »nomadische« 100 Kunstform anschließen, denn sie erscheint für die Analyse der Rolle und Funktion des Films in der Auseinandersetzung mit Leben und Sterben im Spätwerk nur plausibel, handelt es sich doch um eine Expansion filmischer Formen und Inszenierungen auf dem Theater und nicht um geschlossene Filme. Wie dargelegt wurde, versteht es Schlingensief auf seiner künstlerischen Suche nach den Verbindungen und Analogien von Film und Leben, die filmische Praxis zu flexibilisieren, auf andere ästhetische Praktiken auszuweiten und auch dort einen Film entstehen zu lassen, wo eigentlich kein (mehr ) Film ist. Zugleich wurde im Vorangegangen aber auch deutlich, inwiefern Schlingensief es aufs Genaueste begreift, die in filmtheoretischen Diskursen als »ontologisch« gefassten medialen Spezifika des Films sehr genau auszuloten, zu bespielen und zu inszenieren, um so bestimmte ästhetische Modi der Existenz im Spannungsfeld von An- und Abwesenheit, Leben und Tod, Glaube und Evidenz überhaupt erst generieren zu können.

94 95 96 97 98

99 100

Ebenda. Ebenda, S.  84. Ebenda. Ebenda, S.  84  f. Seeßlen, »Kunst im Film. Nein. Kunst als Film«, in: Gaensheimer ( Hg.), Christoph Schlingensief. Deutscher Pavillon 2011, a.  a. O., S.  331‒  337, S.  335. Ebenda. Seeßlen, »Radikale Kunst«, a.  a. O., S.  76.

III. Der Nomadische Film

Indem Schlingensief seine filmische Praxis als Suche danach beschreibt, »was die Filmtechnik mit dem Leben zu tun haben könnte«101, und sie nicht nur in Analogie zum Leben, sondern selbst als »lebendiges Wesen« ( Seeßlen) bzw. als ästhetische Praxis begreift, die es vermag, die ästhetischen Formen, Zusammenhänge und Situationen, in denen sie wirkt, zu verlebendigen, sie organisch werden, sie atmen zu lassen, docken diese Überlegungen an filmtheoretische Diskurse an, die beinahe so alt sind wie die Filmtechnik selbst und die diese in ihrem Bezug zum Leben, zum Organischen zu bestimmen oder zu unterscheiden suchen. Schlingensief berührt dabei stets beide Positionen zugleich. Der Bezug des Films zum Leben und Sterben wird nicht identisch mit ihnen, er kann aber paradigmatisch für ihre Zusammenhänge werden oder ihnen neue, filmspezifische Dimensionen hinzufügen und die Möglichkeiten ihrer Erfahrung damit erweitern und verändern. Abschließend möchte nun kurz darstellen, wie sich Schlingensiefs Filmpraxis auf der Bühne aus werkgeschichtlicher Perspektive ausdifferenziert. Denn diese Genealogie führt zu einem zentralen Scheidepunkt, an dem der Film auf der Bühne, wie er in den letzten, um Schlingensiefs eigenen Tod kreisenden Arbeiten eingesetzt wird, einen qualitativen Shift erfährt. Und zwar gerade da, wo die Frage nach dem Zusammenwirken der Künste in Kontext der Existenz programmatisch wird. Werkentwicklung – Film auf der Bühne Die Projektion von filmischem Material auf der Bühne begleitet die Gestalten von Schlingensiefs Theaterarbeiten von Anfang an. Seit seiner ersten Bühnenarbeit 100 Jahre CDU (1993) wird während der Aufführungen auf unterschiedlichen Leinwänden und Fernsehbildschirmen über, neben und auf der Bühne diverses Film- und Videomaterial projiziert, das sich häufig aus Archivmaterial, Fernsehfootage sowie Ausschnitten aus Filmmaterial von Schlingensief selbst oder anderen zusammensetzt. Dabei steht es mal mehr, mal weniger im Fokus der Inszenierungen, es hat mal mehr und mal weniger mit den aktuell auf der Bühne verhandelten, aufgegriffenen und abgerissenen Themen zu tun. Tendenziell bilden die Projektionen heterogenen Film- und Videomaterials eher ein Flimmern und Rauschen im Hintergrund, das die auf die Bühne gebrachten Themen und Formen in ihren Wirkungen verstärkt oder bricht. Dabei ›bebildert‹ oder veranschaulicht es gleichwohl nie, sondern bewahrt eine (un)bestimmte Autarkie, eine Eigen- und Widerständigkeit, bleibt Reizfläche, die eher für Momente der Störung, des Inkommensurablen und Unheimlichen stehen. Die Differenzen der filmischen Maschinen gegenüber

101

Schlingensief, Ich weiß, ich war’s, a.  a. O., S.  217.

231

232

Werkentwicklung – Film auf der Bühne

dem restlichen Bühnengeschehen, ihre Weise des Zur-Erscheinung-bringens des Bildmaterials, das nicht a priori mit der Inszenierung selbst zu tun hat oder sich in ihrem Gesamtzusammenhang deutlich erschließen lassen würde, sind bereits hier präsent und bestimmen Gestalt und Wirkung der Aufführungen mit. Sie sind aber noch nicht wesentlich. Der paradigmatische Einsatz ihrer medialen Spezifika und schließlich auch ihre ›Verselbständigung‹ in Schlingensiefs Werk diesseits und jenseits der Bühne wird aus werkgeschichtlicher Perspektive, so möchte ich Folgenden zeigen, erst in dem Moment in Gang gesetzt, als eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Existenz programmatisch wird. In ihrem Aufsatz über Schlingensief und die Avantgarden skizzieren Evelyn Deutsch-Schreiner und Katharina Pewny eine Entwicklung der Filmgestaltung auf der Bühne in Schlingensiefs Arbeit, in der sie dessen Bayreuther Parsifal-Inszenierung als einen besonderen Punkt für die Entwicklung der filmischen Praxis auf der Bühne markieren: »Hatte Schlingensief anfangs, etwa 1995 in Graz bei Jesus ein Hochkampf, nur eine Leinwand an der Rückwand der Bühne gehabt, gab es in Bambiland drei Leinwände, auf die Filme geworfen wurde n; in Parsifal 2004 in Bayreuth schließlich überlagerten Filmprojektionen oder Lichtspiele den gesamten Bühnenraum«102. Parsifal wird hier als werkgeschichtlicher Einsatzpunkt beschrieben, an dem der Film nicht länger auf räumlich klar zu differenzierenden Leinwänden oder Bildschirmen quasi im Hintergrund erscheint, sondern auch direkt auf die Bühne, den Raum, die Körper projiziert wird. Im Kontext von Parsifal wird der Film mit Bühne und Bühnengeschehen auf eine neue Weise verwoben. Der Dramaturg Jörg van der Horst beschreibt ein »Aufbrechen des Projektionsfeldes in großformatige, multiple, simultan den ganzen Raum einbeziehende Projektionen.«103 In den folgenden Kapiteln zur Oper ( IV ) und zur Installation ( V ) wird es gesondert um die Fragen gehen, welche räumlichen Effekte die Film- und VideoProjektionen in und seit Parsifal auszulösen imstande sind, wie genau hier ein filmisches Prinzip in ein räumliches übersetzt wird und welche Konsequenzen sich daraus für die weitere Werkentwicklung ergeben. An dieser Stelle ist zunächst einmal zentral, dass mit der Parsifal-Inszenierung Film und filmische Prinzipien in Schlingensiefs Arbeit einen neuen Grad der Verdichtung und Ausdifferenzierung auf der Bühne erlangen. Und dies hängt mit der Auseinandersetzung mit der Existenz – hier in Form des durch die Oper vorgegeben allgemeinen und noch nicht autobiografischen Stoffes – sowie mit der durch den Wagner- / Opern-Kontext aufgerufenen Frage nach dem Zusammenwirken der Künste und Medien innerhalb der Aufführungen zusammen.

102 103

Deutsch-Schreiner / Pewny, »›Avant-garde ! Marmelade !‹«, a.  a. O., S.  243. Jörg van der Horst zitiert aus Berka, Christoph Schlingensiefs Animatograph, a.  a. O., S. 23.

III. Der Nomadische Film

Für die Inszenierung von Parsifal haben Schlingensief und sein Team nach Formaten und einer ästhetischen Aufführungspraxis gesucht, die ihr als Oper Rechnung trägt, also ihren gattungsgeschichtlichen Stand in sich verarbeitet und dabei zugleich in Frage stellt und fortzuschreiben sucht. Zudem haben sie für die existenziellen Motive des Stoffes und der Musik der konkreten Oper Parsifal ästhetische Entsprechungen der Produktion, der Wahrnehmungs- und Erfahrungsgestaltung zu evozieren versucht. Hierbei nun kommt dem Film eine entscheidende Rolle zu. So schreibt Carl Hegemann über Schlingensiefs Bayreuther Parsifal-Inszenierung: »Die Inszenierung rekonstruiert, besser gesagt : präkonstruiert mit film-, kunstund zeitgeschichtlichen Elementen, die den Regisseur bewegen und ihm nahe gehen, ganz naiv, wie wohl ein Film aussehen könnte, der in unser Todesstunde abläuft. Jeder wird einen Film sehen.«104 Hegemann beschreibt hier die ganze Inszenierung als Auslotung und Konstruktion eines Films, der als Szenario des Sterbens aufgefasst wird. Damit greift er den in diesem Kapitel verfolgten Faden der Analyse der paradigmatischen Funktion des expansiven und nomadischen Films in der Auseinandersetzung mit Leben und Tod in Schlingensiefs Arbeit auf und siedelt dessen Ursprung im Parsifal an. Diesen Gedanken möchte ich aufnehmen und darlegen, inwiefern Parsifal für die Expansion des Films als Existenzprinzip in Schlingensiefs Arbeit ausschlaggebend ist und das Spätwerk damit paradigmatisch einleitet. Schlingensiefs Bayreuther Parsifal -Inszenierung kann motivisch in vielfacher Hinsicht als Einsatzpunkt für die umschriebene Entwicklung des Films auf der Bühne begriffen werden. Werkgeschichtlich beginnt sie aber einen Moment früher, nämlich mit der ATTA-Trilogie. Franziska Schößler notiert : »Während Schlingensief die Bühne in Atta Atta, eine serielle ›Variation‹ von Bambiland und Attabambi Pornoland, stark in Einzelbilder aufgliedert und in Attabambi Pornoland total und unablässig mit Projektionen übermalt, zeichnet sich in Mea Culpa eine Verbindung von Bewegung und Segmentierung ab.«105  Der Film spielt in ATTA ATTA und Bambiland zwar schon eine wesentliche Rolle, aber er ist als Einzelelement noch deutlich zu unterscheiden.106  In Attabambi-Pornoland  hingegen wird, ähnlich wie in Parsifal, unterschiedliches Filmmaterial direkt in und auf das Bühnengesche-

104

105 106

Hegemann, Carl, »›Alles schreit‹. Notizen zu Christoph Schlingensiefs Parsifal-Inszenierung anläßlich der Premiere am 25. Juli 2004« , http://www.schlingensief.com/projekt. php?id=t044&article=hegemann , [19. 12. 2018 ]. Schößler, »Intermedialität und ›das Fremde in mir‹«, a.  a. O., S. 121. In ATTA ATTA wird er auf eine Leinwand über der Bühne projiziert. Der Film läuft stumm und vollkommen parallel zur Aufführung. Erst am Ende fällt er mit der Aufführung zusammen, als die Protagnist*innen vom Brandenburger Tor vor der Volksbühne ankommen und Herbert Fritsch quasi ›aus dem Film steigt‹ und die Bühne betritt.

233

234

Werkentwicklung – Film auf der Bühne

hen projiziert, sodass es als Teil des Gesamtzusammenhangs konstitutiv darin verflochten wird, Konstellationen eingeht, die das Bühnengeschehen und -setting zu transformieren imstande sind und neue Formen und Formationen, Phänomene und Erfahrungen initiiert. Allerdings muss diese Gestalt und Entwicklung von Attabambi-Pornoland deutlich im Licht ihres Status’ als Vorarbeit zu Parsifal, in deren Vorbereitungszeit die Arbeit entsteht und schon Themen, Formen, gar musikalische Passagen daraus variiert und antizipiert, gesehen werden. Die Ausdifferenzierung der filmischen Praxis auf der Bühne im Rahmen von Aufführungen ist schließlich eng mit der Organisation des Raumes verschränkt, die in den späteren Arbeiten seit der ATTA-Trilogie und hier vor allem seit Attabambi-Pornoland zunehmend installativ wird, wie im letzten Kapitel ( V ) zur Installation eingehend dargelegt werden wird. In dem installativen Organisationsprinzip des Materials wird die Apparatur des Films flexibilisiert, in Bewegung gesetzt und so ihrerseits zum Organisationsprinzip des heterogenen ästhetischen Materials. Georg Seeßlen beschreibt diese Freisetzung und Flexibilisierung der filmischen Praxis sowie die Prinzipwerdung der filmischen Apparatur in Schlingensiefs Arbeit als ein Moment der Realisierung von dessen ›filmischen Streben‹ insgesamt : »Das Kino ist nicht nur zu eng, es ist auch zu isoliert, ja es ist ein Medium der Isolation, solange es in den traditionellen Formen von geschlossenem Raum, Zuschauer-Organisation, Zeitvorgabe etc. bleibt. So scheint es nur logisch, dass man das expanded cinema vom Kinosaal auf die Straße bringt und schließlich nicht mehr Schauspieler, sondern ein Segment der Wirklichkeit, der Welt als Inszenierungsmaterial benutzt.«107   Und, so führt Seeßlen verknüpfend aus : »Wenn wir Film als bewegliche Form dessen auffassen, was Joseph Beuys ›Soziale Plastik‹ genannt hat, dann erkennen wir in Christoph Schlingensiefs Filmen nicht nur Arbeiten und Aussagen, sondern auch, was wieder Beuys die ›nomadische Geste‹ genannt hat.«108 Jeder Film von Christoph Schlingensief ist nach Seeßlen »Film und Antifilm zugleich«109. Denn : »Wir sehen, dass der Impuls, mehr als ein Film zu sein, den Rahmen oder Kader zu verlassen oder zu zerstören, das Tote des Films zu überwinden, zugleich ein selbstzerstörerischer Impuls ist. […] Ein Film lebt, weil er zugleich etwas erschafft und etwas zerstört. Illusion, Teilhabe, Rhythmus, Struktur, Komposition, Kohärenz – das lebende System zeichnet sich dadurch aus, dass es sich mir offenbart, aber sich nicht mir zur Verfügung stellt.«110 Die späten, um Krankheit, Leben und Sterben kreisenden Arbeiten müssen im Licht der ausgeführten Entwicklung des Films in Schlingensiefs Werk begriffen

107 108 109 110

Seeßlen, »Radikale Kunst«, a.  a. O., S.  82. Ebenda, S.  87. Ebenda. Ebenda.

III. Der Nomadische Film

werden. Die komplexe Ausdifferenzierung des Films auf der Bühne hat sich zum Zeitpunkt der Entstehung der Arbeiten aus werkgeschichtlicher Perspektive bereits vollzogen. Sie manifestiert sich nun in den mannigfaltigen Erscheinungsweisen des Films und des Filmischen in den Aufführungen, in denen sie als existenzielle und gleichwohl ästhetische Dimensionen ausgelotet werden. In Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir sowie in Der Zwischenstand der Dinge ( in reduzierterer Form und mit etwas weniger Material ) dominieren autobiografisch konnotierte Filmbilder des Lebens sowie ganz verschieden gelagerte Bilder der Krankheit und des Sterbens, die mit fantastischen und kunstgeschichtlichen Motiven vermengt werden, welche bereits im ersten Kapitel ( I ) zu den Avantgardebezügen vorgestellt wurden. Mea Culpa weist einerseits noch solches filmisches Material auf, leitet aber andererseits schon in die Folgearbeit, Via Intolleranza II, über, wo vermehrt dokumentarisches Material aus vergangenen Dreh- und Probearbeiten sowie Film- und Fotomaterial zum Operndorf gezeigt und projiziert werden. Die Kindheitsfilme fehlen hier ganz. In beiden Arbeiten wird dennoch mit Projektionen auf und über der Bühne gearbeitet. Besonders in Mea Culpa kommen auch die Drehbühne und räumlich strukturierte Bewegtbilder als Filmanalogien zum Einsatz. Es fehlt hier aber doch wesentlich die Präsenz filmischer Apparaturen und Projektoren, mit der im Fluxus-Oratorium der Nexus von Leben, Sterben, Tod, Film, Bild, Technik und Maschine, Präsenz und Absenz, Lebendigkeit und Reproduktion verhandelt wird, der in diesem Kapitel analysiert wurde. Wie dargelegt, geht der Film in seinen unterschiedlichen Erscheinungsweisen und Praktiken temporäre und oszillierende Verbindungen mit den anderen Darstellungsebenen und den übrigen medialen Spezifika ein, die im Rahmen der Aufführung koexistieren und zusammenwirken. In dieser Zusammenführung und ihrem Zusammenwirken werden aber gerade ihre jeweiligen Differenzen und Spezifika ausgespielt und zur Grundlage der ästhetischen Operation, zur Generierung eines ästhetischen Erfahrungsraums, der Strukturen des Heterogenen, Simultanen, Dialektischen eröffnet und so strukturelle Analogien wie ästhetische Transpositionen der Existenz evoziert. Auf bestimmte Weise wirkt der Film in den späten Arbeiten immer in zweierlei Dimensionen: einerseits metaphorisch als intermediale, nomadische künstlerische Praktik, welche sich in Raumgestaltung und Erscheinungsweisen der Körper, in den Gebrauch und Weltbezug der anderen Künste sowie von Schlingensiefs Kunst insgesamt einschreibt und diese wesentlich prägt; und andererseits wird der Film mit Blick auf seine medialen Grundfasern, entlang seiner einmaligen medialen Spezifika, seiner Indexikalität, seiner Technizität und technischen Apparatur, seinen maschinellen Eigenschaften, seinen bewegten Bildwelten im Spannungsfeld von An- und Abwesenheit, von Leben und Sterben eingesetzt. Dabei werden Differenzen in der ästhetischen Erfahrung der Existenz evoziert, die nur der Film aufgrund seiner ihm eigenen und einmaligen medialen Vermögen imstande ist zu offenbaren.

235

236

Werkentwicklung – Film auf der Bühne

In den folgenden beiden Kapiteln zur Oper (  IV  ) und Installation (  V  ) wird der Film weiterhin eine zentrale Rolle spielen. Dabei soll nachvollzogen werden, inwiefern seine Diversifizierung und Überlagerung auf der Bühne zunächst Schlingensiefs wesentlicher Einsatzpunkt in der Arbeit an und in der Oper bei den Bayreuther Festspielen ist und wie in einem weiteren Schritt die Transposition des Films als räumliches Organisationsprinzip der Künste maßgeblich zu Ausdifferenzierung der Installation in Schlingensiefs Arbeit führt und hierdurch noch mal eine neue Dimension in seinem Existenzbezug freigesetzt wird.

IV. Die Relationalität der Künste    im Paradigma der Oper und die    ( historische ) Idee des Gesamtkunstwerks

Für die Untersuchung des Zusammenwirkens der Künste in der Auseinandersetzung mit Leben und Sterben in Christoph Schlingensiefs Werk spielt seine Bayreuther Parsifal-Inszenierung von 2004 eine wesentliche Rolle. Sie ist maßbeglich für die Gestalten der späten Arbeiten sowie für die Beziehung von Ethik und Ästhetik in seinem Spätwerk und die Auseinandersetzung mit seinem eigenen Leben und Sterben darin. Hier in seiner Parsifal-Inszenierung, so möchte ich nun zeigen, begründet sich die Systematik jenes Zusammenhangs in seinem Werk und wird, versehen mit entschiedenen Differenzen, um die es hier auch gehen soll, in den nachfolgenden Arbeiten fortgeschrieben. Zum einen handelt es sich bei Parsifal um Schlingensiefs erste dezidierte Operninszenierung, bei der er mit der Institution Oper und den dort – in Bayreuth in gesonderten Maße – geltenden Konventionen der Aufführungspraxis und des Werkbezugs konfrontiert ist, die in den von ihm bis dato bespielten Theatern so nicht ( mehr) existierten. Zum anderen wird er hier mit einem zentralen historischen Scheidepunkt im Nachdenken über das Zusammenwirken der Künste, auch vor dem Hintergrund einer existenziellen Motivik, konfrontiert. Denn Wagners hier verankertes Gesamtkunstwerk bildet wohl die prominenteste Position im Nachdenken über das Zusammenwirken der Künste und ist gleichzeitig an bestimmte Korrelationen von Subjektivität und Gemeinschaft gekoppelt. In Parsifal werden diese Relationen an die letzten Größen – Leben, Sterben, Leiden, Erlösung –

238

Im Paradigma der Oper

angebunden1; Wagners letzte Oper, sein »Weltabschiedswerk«, schreibt er selbst im Angesicht einer lebensbedrohlichen und finalen Krankheit.2 Wie im Folgenden dargelegt werden soll, bildet Schlingensiefs Bayreuther Parsifal -Inszenierung ebenso eine Zäsur, wie maßgebliche Entwicklungen von Schlingensiefs Werk hier zusammenlaufen und sich im Anschluss daran radikalisieren, potenzieren und existenzialisieren. In seinem Aufsatz Diskursverknappungsbekämpfung und negatives Gesamtkunstwerk bestimmt Diedrich Diederichsen Schlingensiefs »seinerzeit skandalumwitterte und vom Wagner-Clan bald bekämpfte Inszenierung des Parsifal in Bayreuth« als ersten Auftritt eines »negativen Gesamtkunstwerkes : einer Inszenierung der Dissonanz, der Nicht-Versöhnung der Künste und der Künste mit ihrer Umwelt« 3. Diese »Nicht-Versöhntheit« der Künste avanciere bei Schlingensief in Bayreuth, »am Stammsitz des Gesamtkunstwerks«4, zum erklärten »Arbeitsgebiet« 5. Das von Diederichsen konstatierte »negative Gesamtkunstwerk«, mit dem Schlingensief hier quasi auf Wagners Gesamtkunstwerk antworte, entfalte sich in einem Gegeneinander der Künste. Dieses Gegeneinander der Künste realisiert sich Diederichsen zufolge in einem qualitativen Shift in der Organisation des künstlerischen Materials, das von einem Nach- bzw. Nebeneinander in ein Übereinander wechselt : »Zuvor in den Filmarbeiten gab es auch schon verunklarende Kommentare, Stilmittel wie Nahaufnahmen, anschwellende Musik, die gegen ihre normale Funktion im narrativen Film eingesetzt wurden«, notiert Diederichsen, »aber die Organisation war weniger eine der Überlagerung, als eine des Nacheinanders.« 6 Mit Parsifal wird, so Diederichsen, das vorherige Nacheinander der Künste in Schlingensiefs Arbeit zu ihrem Über- und Gegeneinander. Zwar möchte ich mich der Auffassung anschließen, dass aus werkgeschichtlicher Perspektive Parsifal tatsächlich einen Shift in der Organisation der Künste in Schlingensiefs Arbeit herbeiführt, der zu einem Übereinander wird und darin immer wieder auch zu einem Gegeneinander

1

2 3 4 5 6

Die Oper wird um das Motiv der Wunde des Gralskönigs Amfortas konzipiert. Diese wurde ihm von dem aus dem Kreis der Gralsritter verbannten Klingsor mit dem heiligen Speer zugefügt, den er bei diesem Kampf verloren hat. Sie kann nur durch den heiligen Speer wieder geheilt werden. Der namensgebende Held Parsifal wird diesen Speer zurückerobern, in dem er mitleidsfähig, »durch Mitleid wissend«, wird und damit Amfortas von seinem Leiden zu erlösen vermag und ihn zugleich als Gralskönig beerbt. Siehe Fath, »Parsifal«, a.  a. O. Siehe Bermbach, Udo, Mythos Wagner, Berlin: Rowohlt, 2013, S. 194  ‒ 200. Diederichsen, »Diskursverknappungsbekämpfung«, a.  a. O., S.  67. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S.  63.

IV. Im Paradigma der Oper

werden kann. In der Parsifal -Inszenierung selber aber, so meine These, ist das Organisationsprinzip der Künste das ihres Nebeneinanders, auch wenn es auf den ersten Blick als ein Übereinander erscheinen und erklingen mag. Das Gegeneinander im Nebeneinander der Künste erschließt sich vollkommen erst, so denke ich, unter Rekurs auf Wagners eigenes Ideal des Zusammenwirkens der Künste. Es wird im nachfolgenden Kapitel ( V  ) zur Installation eingehend dargelegt werden, welche räumlich fundierten Strukturveränderungen sich aus werkgeschichtlicher Perspektive durch Schlingensiefs Parsifal -Inszenierung für seine Arbeit insgesamt (vorher und nachher ) ergeben und welche intermedialen Transformationen das Nebeneinander als räumliches Organisationsprinzip der Künste dabei freizusetzen vermag. Die Parsifal -Inszenierung selbst allerdings, so möchte ich behaupten, ist durch ein geradezu paradigmatisches Nebeneinander der Künste gekennzeichnet. Der Eindruck der Überlagerung wird hier zwar durch das Arrangement besonders von Film-Bild und Raum vermittelt, schaut man aber auf die Organisation der Künste insgesamt in dieser Inszenierung, so entsteht der Eindruck eines in Schlingensiefs Arbeit geradezu irritierenden Nebeneinanders der Einzelkünste. Dieses Nebeneinander lässt sich meines Erachtens insofern als ein Gegeneinander begreifen, als es Wagners Ideal des Zusammenwirkens der Künste im Gesamtkunstwerk widerspricht. Im Folgenden sollen diese Zusammenhänge auch anhand einer Relektüre von Wagners Gesamtkunstwerk eingehend untersucht werden. Dabei wird Schlingensiefs Parsifal -Inszenierung als wesentlicher Punkt einer Werkentwicklung insgesamt betrachtet, die bereits vorher einsetzt und sich nachher fortsetzt. Deswegen möchte ich zunächst in aller Kürze Schlingensiefs Opernpraxis insgesamt skizzieren, um mich dann der Parsifal -Inszenierung im Besonderen zuzuwenden. Anschließend werde ich die auf Parsifal folgende Inszenierung, Kunst und Gemüse, A. Hipler ( 2004 ), näher in den Blick nehmen, weil hier Schlingensiefs WagnerPosition an der Berliner Volksbühne noch einmal programmatisch nachverhandelt wird und deshalb für die Schlingensief-Wagner-Relation in besonderem Maße erhellend ist. Denn hierfür bringt Schlingensief die ästhetische Moderne der Musik, wie sie sich zu Beginn des 20.   Jahrhunderts herausgebildet hat, ins Spiel. Noch einmal verdeutlicht sich hier die elementare Funktion der Avantgarde-Ästhetik in Schlingensiefs Arbeit, die er jetzt im Gegenzug zu Wagners Position des Nachdenkens über die Künste und ihren Subjektivitäts- und Weltbezug entfaltet. Schließlich soll ausblickend festgestellt werden, wie sich diese Entwicklung in den letzten Arbeiten, hier exemplarisch in Mea Culpa, fortsetzt und weiterschreibt.

239

240

Oper, Theater und andere Künste

Oper, Theater und andere Künste Ein Großteil der Arbeiten Schlingensiefs,7 die sich auf die Oper berufen, mit ihr spielen, sie zitieren und sich in Bezug auf sie konstituieren, ereignen sich nicht zwangsläufig als Opern in Opernhäusern, sondern vor allem auf dem Theater sowie im Rahmen von Aktionen und Installationen. Dabei sprengen sie tradierte Begriffe und Praktiken der Oper ebenso wie die des Theaters bzw. lassen die Frage nach deren Beziehungsförmigkeiten, nach der Relevanz und den Möglichkeiten ihrer Begriffe, Traditionen und medialen Spezifika für eine informierte und reflektierte Ästhetik und Kunstpraxis der Gegenwart virulent werden. Dementsprechend hält Barbara Beyer fest: »Wenn wir über Schlingensief und die Oper sprechen, bedeutet dies, über seine Theaterkunst überhaupt zu sprechen« 8, und fährt an anderer Stelle fort: »Schlingensief setzt die Opernwerke auch als Ganzes ins Verhältnis zu ihrem Rahmen, dem Ort des Theaters.« 9 Die Auseinandersetzung mit der Oper in Schlingensiefs Arbeit, die durch das Engagement in Bayreuth systematisch wird und durch den hiesigen Wagner’schen Gesamtkunstwerk-Kontext10 an die historische wie programmatische Frage nach dem Zusammenwirken der Künste ( in Aufführungen ) gebunden ist, ist nicht auf die Oper als Form oder Institution begrenzt. Sie löst sich vielmehr gerade auch dort ein, wo die Aufteilungen und Funktionalisierungen der einzelnen künstlerischen Praktiken und Medien stärker umzumodellieren, auszureizen und zu provozieren sind, dort, wo sich die Musik anhalten lässt, wo sie beliebig de- und rekontexualisiert werden kann, wo sie sich scheinbar unendlich mit anderer Musik und anderen audiovisuellen Elementen demontieren und remontieren lässt und ihre Gestalt, die an sie gestellten Anforderungen und Erwartungshaltungen stärker umgelenkt und zur Disposition gestellt werden können. Schlingensiefs Opernpraxis realisiert sich auch und vor allem dort, wo die Frage, was denn die

7

8 9 10

So zum Bespiel Schlacht um die Oper ( Berlin 2001); Die Wagnerrallye ( Recklinghausen 2004  ); die Animatographen ( 2005 ) oder die Theateroper Kunst und Gemüse, A. Hipler ( Berlin 2004  ). Beyer, »Christoph Schlingensief und die Oper«, a.  a. O., S. 155. Ebenda. Wagner strebt mit dem Gesamtkunstwerk die Überwindung der zu seiner Zeit vorherrschenden Oper an, das Gesamtkunstwerk meint keine Oper im klassischen Sinn, sondern ein »Musikdrama«. Dabei räumt Wagner der Musik einen Sonderstatus ein und die künstlerischen Realisierungen seiner Musikdramen werden heute wieder als Opern rezipiert und programmiert. Siehe hierzu weiter: Wruck, Eva, »›Jetzt spielt der Wahnsinnige auch noch bei verdunkeltem Raume!‹ Zu Richard Wagners Bühnenästhetik«, in : wagnerspectrum 2 ( 2014  ), »Wagner und die bildende Kunst«, S. 13  ‒ 33.

IV. Im Paradigma der Oper

Ästhetik der Oper eigentlich kennzeichnet und bestimmt, stärker als offene Frage und Entwicklung in den Raum gestellt und verhandelt werden kann, so wie dies in zahlreichen Aufführungen, die sich im Rahmen des Theaters ereignen, wie etwa die Krankheitstrilogie, Schlingensiefs Bayreuth-Verarbeitung Kunst und Gemüse, A. Hipler ( 2004  ) oder die Luigi Nono Variation Via Intolleranza II ( 2010 ), aber auch in den auf Bayreuth folgenden Installationen11 der Fall ist. Mit anderen Worten: die Art und Weise, wie Schlingensief die Künste in Relation zum Wagner’schen Gesamtkunstwerk arrangiert und wie er Oper in Szene setzt und in Relation zu anderen Künsten zur Aufführung bringt, hat auch mit den jeweiligen Aufführungsorten und Institutionen zu tun. Dabei sind im Theater, zumal etwa in der Volksbühne, im Wiener Burgtheater, auf der Ruhrtriennale oder auf dem belgischen Kunstenfestivaldesarts, wo diese Arbeiten produziert werden, andere Parzellierungen, Brüche und Montagen möglich, als das in Bayreuth der Fall ist. ›Das Werk‹ ist an diesen Orten auf ganz andere Weise zersetzt und dekonstruiert, seiner Autorität und dominanten Organisationsfunktion enthoben, als das bei den Bayreuther Festspielen der Fall ist, wo die Herrschaft der Partitur, ›des Werkes‹ und ›seines Schöpfers‹ zumindest ideell ( denn zweifellos ereignet sich jede Aufführung und musikalische Realisierung in variierenden Konstellationen und Interpretationen je unterschiedlich ) unangefochten bleibt.12 Schlingensief selbst beschreibt in den posthum veröffentlichten arbeitsbiografischen Notizen, Ich weiß, ich war’s, die Unmöglichkeit, angesichts des den ›Wagner’schen Geist und seine Partituren‹ protektorierenden Regimes Wolfang Wagners, die Musik anzuhalten, zu unterbrechen und sie durch andere Musiken und Motive aufzubrechen13 – eine Arbeitsweise, die für Schlingensiefs Kunst aber wesentlich ist. Neben Parsifal bilden Inszenierungen wie Der fliegende Holländer im Rahmen des XI. Festival Amazonas de Ópera im Teatro Amazonas in Manaus 2007 sowie Jeanne D’Arc ( 2008 )14 an der Deutschen Oper Berlin weitere Operninszenierungen im engeren Sinne, die sich in einer Operninstitution und einem Opernhaus ereignen und von den dort geltenden Aufführungskonventionen mitbestimmt werden.

11

12

13 14

Z.  B. die Animatographen ( 2005 ) oder die Theaterinstallation Area 7 ( Burgtheater Wien 2007 ). Siehe hierzu wie zur Werktreue in der Oper Weber, Horst ( Hg.), Oper und Werktreue, Stuttgart / Weimar : Metzler, 1994, S. 1‒17. Außerdem Voss, Egon, »Werktreue und Partitur«, in: wagnerspectrum 2005 (2 ), »Regietheater«, S. 55 ‒  67. Schlingensief, Ich weiß, ich war’s, a.  a. O., S. 145. Die Fertigstellung dieser Inszenierung konnte Schlingensief selbst allerdings nicht mehr leisten, da er während der Vorbereitungen zu der Arbeit bereits in die Krebsbehandlung musste. Sie wurde durch ein Regieteam nach seinen Plänen realisiert. Vgl. Schlingensief, Christoph, So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein, a.  a.  O., 2009, S.  25  f.

241

242

Oper, Theater und andere Künste

Schlingensiefs Opernpraxis beginnt nicht erst mit dem Engagement in Bayreuth und ist damit keineswegs abgeschlossen, setzt weit vorher ein und dauert im Prinzip bis zu seiner letzten vollendeten Inszenierung , Via Intolleranza II ( 2010 ), wenige Monate vor seinem Tod an. Bereits 1999 veranstaltet er im Rahmen des Langzeitprojekts Deutschlandsuche  ’99 eine Theatertournee mit dem Titel Wagner lebt ! Sex im Ring. 2001 organisiert Schlingensief an der Volksbühne eine Schlacht um die Oper, den Ersten Imaginären Opernführer  15 und im Mai 2004, zwei Monate vor der Parsifal-Premiere, richtet er erneut eine weitere Wagnerrallye 16 auf den Ruhrfestspielen in Recklinghausen aus. Auch nach der Parsifal -Inszenierung tragen zahlreiche Theateraufführungen sowie Installationen, von Kunst und Gemüse, A. Hipler, über Trem Phantasma. Erster Prototyp einer Operngeisterbahn17, zu Mea Culpa und Via Intolleranza II formale, motivische und systematische Züge der Oper. Sofern Wagner in den Parsifal vorangegangenen, frühen und früheren Arbeiten Schlingensiefs immer wieder eine Rolle spielt, geschieht dies in freien Bezügen und Formen auf dem Theater oder vorzugsweise in aktionistischen Formaten im öffentlichen Raum. Dies ist besonders der Fall in seiner Deutschlandsuche ’99, wo Schlingensief sich »auf die Suche nach einem neuen Siegfried« begibt. In dieser ersten Fassung der Wagnerrallye tourt Schlingensief mit einem Ensemble quer durch Deutschland und beschallt den öffentlichen Raum mit Wagner Musik, liest mit seinem Ensemble Textpassagen aus Wagner-Opern auf der Straße vor und sucht mit Passanten nach »Überlebensstrategien für das Deutschland des 21. Jahrhunderts«.18 Schließlich spielt er, im Rahmen des Projekts, auf einer Tour durch die namibische Wüste Seerobben Wagners Musik mit einem tragbaren CDPlayer vor. Wagner taucht hier als zu entweihender deutscher Nationalheld auf, den es in Schlingensiefs Kunst-Kosmos immer wieder aufs Neue zu enthaupten gilt ( Sex im Ring ). Dazu gehört auch, sich keiner Nomenklatur künstlerischer Realisierung und Inszenierung unterzuordnen. Die Formate, in denen Wagner in Schlingensiefs Arbeit auftaucht, können gar nicht frei genug gewählt sein und müssen jede Zerstückelung, Fragmentierung und Frechheit zulassen. Zutragen soll sich dies möglichst jenseits geschlossener Theatersäle im öffentlichen Raum, und wenn doch in ihnen, dann am besten in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, wo in der Zeit von Schlingensiefs dortigem künstlerischen Schaffen Riskanteres, Experimentelleres, Kritischeres und Neueres möglich war als auf den allermeisten anderen (deutschsprachigen ) Bühnen. Mit dem Bayreuther Parsifal zieht Schlingensiefs

15 16 17 18

Uraufgeführt am 16. 02. 2001 an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. 01.‒  09. 05. 2004 Ruhrfestspiele Recklinghausen. 22. 11.‒  03.  12.  2007 São Paulo. http://www.schlingensief.com/projekt.php?id=t031 , [19.  12. 2018].

IV. Im Paradigma der Oper

Wagner-Arbeit dann nicht nur in den geschlossenen Theatersaal ein, sondern in ein Opernhaus, dessen symbolische Aufladung kaum höher sein könnte. Aus werkgeschichtlicher Perspektive lässt sich feststellen, dass die Frage, was Kunst und Leben miteinander zu tun haben, wie sie aufeinander bezogen und beziehbar sind, schon immer ein Movens in Schlingensiefs Arbeit ist, diese aber zunächst vor allem über Entgrenzung und die Ausweitung des Kunstfeldes in Alltagswelten und den öffentlichen Raum bearbeitet wird. In dem Moment, in dem sich diese Leitfrage mit Bayreuth historisch wie systematisch aufdrängt, wird der Zusammenhang von Kunst und Leben im Zusammenwirken der unterschiedlichen Künste und Medien auf gewisse Weise zu einer kunstimmanenten Frage. Als solche zielt sie dennoch auf die Beziehungsförmigkeiten der Existenz und wirkt in diesem Sinne fundamental entgrenzend bzw., von der anderen Seite beobachtet, sie sucht die Grenze zwischen Kunst und Leben aufzuheben, indem sie sie stabilisiert und auf die Spezifik der Kunst abhebt. Und gerade dabei vermag sie sich scheinbar paradoxer Weise am deutlichsten der Existenz anzunähern. Dieser Effekt von Bayreuth setzt dabei nicht unbedingt erst mit Bayreuth ein, sondern beginnt spätestens in der ATTA-Trilogie ( 2003  ‒ 2004 ), die bereits im Zeichen der Vorbereitungen zu Parsifal entsteht und schon zahlreiche Elemente daraus antizipiert und variiert. Hier allerdings steht die formale Frage nach dem Zusammenwirken der Künste weitgehend ohne die existenzielle Motivik im Vordergrund und wird auf systematische Weise mit den historischen und den Neo-Avantgarden verquickt.19 Erst mit Parsifal rückt der existenzielle Stoff und die Frage nach dem ( Zusammen-)Wirken der Künste als existenzielle Kategorie systematisch auf den Plan von Schlingensiefs Arbeit. Entsprechend möchte ich nun im Folgenden diese Arbeit mit Blick auf die dargelegten, für diese Untersuchung wesentlichen Zusammenhänge näher untersuchen. Parsifal und das Nebeneinander der Künste Schlingensiefs Interventionsfläche in der Bayreuther Parsifal-Inszenierung ist zunächst einmal beschränkt auf die visuelle und die räumliche Organisation des künstlerischen Materials. Die Inszenierung arbeitet lose an das Libretto angelehnt mit wenigen zentralen räumlichen Motiven: der Gralsburg ( Montsalvat  ), dem Zauberschloss und -garten. Sie werden allerdings nicht in Gänze gezeigt und bespielt, sondern vielmehr in Umrissen und Fragmenten aufgerufen und anzitiert, sodass sie sich wechselseitig im Verlauf der Aufführung überlagern. Ein Großteil des

19

Siehe hierzu ausführlich Kap. I, »Kunst und Künste im Zeichen der Avantgarden und Neoavantgarden«.

243

244

Parsifal und das Nebeneinander der Künste

hochragenden und komplexen Bühnenaufbaus wird über weite Teile im Dunkeln gehalten und immer nur in Ausschnitten ausgeleuchtet und sichtbar. Besonders im zweiten Aufzug, in Klingsors Schloss und Garten, werden in den spärlichen Passagen, in denen die Bühne für Momente gänzlich ausgeleuchtet wird, Bühnenaufbauten sichtbar, die als solche klar markiert sind, indem etwa ihre Gerüststruktur nicht verkleidet ist. Sie verfolgen keinen mimetischen Darstellungsanspruch. Eine enorme Materialdichte kennzeichnet zudem immer wieder das Erscheinungsbild der Bühne. Nachdem sich das Vorspiel im Dunkeln zuträgt, also allein dem Hören zugeordnet wird und sich keinem Blick freigibt, erleuchten gegen sein Ende die Sterne am Bühnenhimmel über den sich in Schattenumrissen abzeichnenden Außenmauern der Gralsburg, während hier ihr langsam das Morgenrot anbricht. Als der Morgen voranschreitet, erlöschen die Sterne, und die Bühne wird, immer noch fast im Dunkeln belassen, in Drehbewegung versetzt, sodass die Gralsburg als dunkler Schattenumriss rotiert. An ihrem unteren Ende vorne auf der Bühne tritt in sehr schwachem Licht Gurnemanz zum ersten Mal auf. Als Kundry zu ihm tritt, wird der untere vordere Bühnenteil für einen Moment stärker ausgeleuchtet, sodass man ein abgezäuntes Areal erblickt, durch das die Gralsritter ziehen. In ihm ist ein kleines, kastenförmiges Nebengebäude errichtet, welches mit den für Schlingensiefs späte Arbeiten typischen großen weißen Schriftzügen, die auf schwarzem Grund erscheinen (»RUNEN GOTT« ), bemalt ist. Für einen kurzen Augenblick wird der Treppenaufgang zur Gralsburg erkennbar. Im Anschluss wird die Bühne wieder verdunkelt, und nur ein Spot beleuchtet die beiden Sänger  *innen ausschnitthaft in der vorderen Bühnenmitte. Gleichzeit wird auf sie und hinter ihnen digitales, grafisches Bildmaterial projiziert. Dieser Auftakt ist insofern exemplarisch für die Inszenierung, als die verschiedenen Schauplätze meistens lediglich in Ausschnitten zur Erscheinung gebracht werden und das Licht nur selten das Ganze der Bühne erhellt und den Blick hierauf freigibt. Vielmehr wird mit Spots gearbeitet, durch die einzelne Teile und Orte der Bühne erscheinen, während andere im Dunkeln liegen, wodurch ein Spiel mit Vorder- und Hintergründen, Fokussierungen, Rändern und Übersichten entsteht, in dem Eindrücke von Flächen und Tiefen, Nähe und Distanzen als bildräumliche Relationen entstehen. Hier wird mit Bildgebungsverfahren gearbeitet, die nicht nur der bildenden Kunst entstammen, sondern in ihrer Lichtbasiertheit in besonderem Maße das ›Lichtspielhaus‹, das Kino aufrufen. Diese visuellen Spiele erschöpfen sich dabei keineswegs in ihrer Relation zur Narration oder zur jeweils parallel erklingenden Musik, sie verfahren immer wieder auch in einer eigenen Logik, die sich weder allein aus der Partitur noch aus dem Libretto erschließen ließe. Wenn wenige Male in der Aufführung der gesamte Bühnenraum durch eine volle Beleuchtung sichtbar wird, dann erscheint er so komplex und in sich zerteilt, dass sich dabei nie alles bzw. ein einheitlicher Eindruck oder ein einheitlicher Bild-

IV. Im Paradigma der Oper

raum den Blicken des Publikums eröffnet. Es gibt dennoch auch hier in manchen Passagen ein Spiel mit tradierten Bildstrukturen der Theaterbühne sowie barocken Landschaftsarchitekturen, etwa wenn der Raum zentralperspektivisch von hinten nach vorne kegelförmig geöffnet wird und so den Weg in den Garten darstellt. Hierbei handelt es sich allerdings durchgängig um einzelne Momente in der Aufführung, die rasch wieder durch einen deutlichen Lichtwechsel aufgelöst werden und das Groß des Bühnenaufbaus wieder ins Dunkel hüllen, damit die zahlreichen Projektionen des heterogenen digitalen und filmischen Materials auf der Bühne umso stärker wirken können. Indem der Bühnenraum oftmals zu großen Teilen im Dunkeln liegt, lässt er nicht nur viel Raum für die Film- und Videoprojektionen sowie für die Bühnenbild gestaltung mittels lichtbasierter Anordnungsverfahren, sondern auch für die Immersion und Absorption des Publikums, das selbst in den Bühnenraum hineinprojizieren kann. Zugleich wird es dabei von einer geschlossenen Repräsentation und einer allzu plastischen und aufdringlichen Bühnendarstellung befreit, um so auch die Möglichkeit zu haben, die Einzelkünste unterscheiden zu können und sich in Momenten etwa ganz dem Hören hingeben zu können, trotz und gerade wegen eines komplexen visuellen Bühnenarrangements. Die omnipräsenten digitalen und filmischen Projektionen changieren zwischen Bemalung, Konkretion und Rätselhaftigkeit, wenn sie entweder die Einzelszenen narrativ oder symbolisch unterstützen oder unverbunden, aus einem ganz anderen Kontext herrührend, erscheinen. Ihre zersiedelten Landschaften, streunende Tiere, kriechende Käfer, parareligiöse Symbole usw. legen sich immer wieder über die Dekors und parzellieren und vervielschichtigen sie. Zwar bekommen die Projektionen manchmal einen bebildernden Touch, den Schlingensief eigentlich unbedingt verhindern möchte – »meine Bilder bebildern nicht« 20 – aber zugleich bleiben sie dem anderen künstlerischen Material auffallend verschieden und fremd. Afrikanische Landschaften, herumstrolchend spielende Kinder, Seerobben, Hasen, Insekten, Wolkenformationen, religiöse Symbole und bildnerische Grafiken bespielen Vorder- und Hintergründe, Seitenränder, Körper und Objekte, ohne sich dabei je eindeutig auf das simultan Gesungene oder Gespielte beziehen zu lassen. Die mannigfachen Projektionen sowie der vielmals parzellierte und teilweise überfrachtete Raum erscheinen hier in einer Größe, Dichte und Vielfältigkeit, die so zuvor in Schlingensiefs Werk noch nicht dagewesen sind, wenngleich sie bereits in den kleineren Formaten der vorangehenden ATTA-Trilogie sukzessive vorbereitet werden, sich abzeichnen und dann in den späteren Arbeiten nachhallen, indem sie deren Erscheinungsweisen prägen.

20

Ebenda.

245

246

Parsifal und das Nebeneinander der Künste

In diesem komplexen Arrangement von Bühnenbauten, Requisiten und Lichtorganisation sowie Film- und Videoprojektionen erscheinen die Sänger und Sängerinnen häufig ganz klein und wirken wie aufgestellt. Ihr Bewegungsradius ist reduziert, auch keine großen Gesten fordert Schlingensief von ihnen ein. Die Präsenz ihrer Stimmen treten in einen Kontrast zu der inszenatorischen Dezentrierung ihrer leiblichen und figürlichen Erscheinungen auf der Bühne, wodurch sie aber umso stärker zu wirken vermögen und der Gesang als ›Einzelkunst‹ rezipierbar bleibt. In dieser ästhetisch-formalen Modulation greift Schlingensief bereits das Thema des menschlichen Verschwindens in den Objektwelten, den transzendenten wie profanen Bildwelten und ihren Apparaturen auf, das in den der Parsifal-Inszenierung nachfolgenden Installationen weiter zugespitzt wird.21  Schlingensief selbst beschreibt die visuellen Erscheinungsweisen der Körper auf der Bühne sowie in den sie überlagernden analogen und digitalen Filmprojektionen und Bildwelten als installative Objektwerdungen. Sie wirken in dieser Organisation des Bühnenaufbaus ihm nach »wie Ornamente, wie kosmische Objekte, die in einem Riesenobjekt dastehen.« 22 Und schließlich ist da die Musik: Auf ihre Gestaltung hat Schlingensief freilich den geringsten Einfluss. Sie wird unter der Leitung von Pierre Boulez im Orchestergraben erzeugt, der vor dem Schlingensief ’schen Wagnerkosmos auf der Bühne liegt, strömt von dort in den Saal aus und affiziert die Körper aller in der Aufführung Anwesenden in unterschiedlichem Maße und auf unterschiedliche Weise. Sie erklingt als eine weitere Dimension der Aufführung, zu und neben der die anderen Künste, das übrige künstlerische Material, erscheinen, ohne dass sie sich dabei notwendig zu einem synthetischen Gesamteindruck fügen. Dies sagt aber nichts über die Qualität der Musik aus, im Gegenteil. Dieses Nebeneinander von Erscheinen und Erklingen der Künste unterstreicht vielmehr die Interpretation des Dirigenten. Die Inszenierung selbst hält sich in dieser Geste zurück und gibt der Eigenleistung von Orchester und Dirigenten buchstäblich Raum. Wie der Musikwissenschaftler Wolfgang Rathert notiert, habe mit Boulez 1966 ein führender Dirigent und Komponist in Bayreuth Einzug gehalten, der Wagner fortwährend aus dem Geist der Avantgarden heraus dirigierte. Und eben dieser Wagner-Zugriff, aus dem Geist der Avantgarden kommend, den Boulez musikalisch realisiert, lässt sich, so möchte ich es im Folgenden darlegen, auf Schlingensiefs Wagner-Zugriff für die übrigen inszenatorischen, visuellen und räumlichen Parameter übertragen. Die unterschiedlichen künstlerischen Ebenen durchdringen sich hier unheimlich

21 22

Siehe hierzu weiter Kapitel V zur Installation. Schlingensief, »›Ich habe immer versucht, ihre Texte in Bilder zu übersetzen.‹ Christoph Schlingensief im Gespräch mit Teresa Kovacs«, a.  a. O., S. 18.

IV. Im Paradigma der Oper

wenig, obwohl sie dem Augenschein nach unmittelbar aufeinandergelegt werden, also zum Beispiel die Projektionen direkt auf den Körpern der Sänger *innen erscheinen. Sie bleiben einander merkwürdig äußerlich und wirken nicht wie von einem sie aufeinander abstimmenden und durchdringenden Impuls organisiert, auch wenn natürlich Gesang und Orchestermusik aufeinander abgestimmt sind und die Zeitpunkte der Bewegungen, die Cues, die Raum- und Lichtwechsel vereinbart und arrangiert sind. Schlingensief webt die unterschiedlichen künstlerischen Materialebenen auf verblüffende Weise wenig ineinander, lässt sie nicht expressiv kollidieren oder sich wechselseitig kontaminieren. Gerade weil er sie dabei übereinanderlegt, ohne dass sie sich dabei inszenatorisch zu jedem Zeitpunkt durchdringen würden, treten sie in ein programmatisches Nebeneinander. Dagegen würde ein Gegeneinander der Künste ein viel stärkeres Aufeinanderbezogensein erfordern, auch wenn dies ein Kampf wäre. Schlingensief lässt Wagners Musik, die Narration, die ( Kunst- ) Religion auf fast irritierende Weise ›unangefasst‹, er stellt sie auf und stellt sie hin, vielleicht ein bisschen ehrfürchtig, vielleicht aber auch wie einen Fremdkörper, den er nicht gleich durch seine Handschrift gehen lässt, die er in seiner Arbeit als etwas anderes und seine Arbeit als etwas anderes markiert, die er allein auf der filmischen, bildlichen, räumlichen Ebene überhaupt gestaltet, hier interveniert. »Es wird nicht die Musik Wagners zugänglich und anschaulich gemacht, sondern sie wird im Status des Urinoirs von Duchamp als ein Ready-Made in einer Installation verwendet« 23, beschreiben der Parsifal-Dramaturg Carl Hegemann und Boris Groys in ihrem Gespräch zur Inszenierung dieses Verfahren. Groys und Hegemann formulieren hier Schlingensiefs künstlerische Strategie im Umgang mit Wagner, mit der Partitur, mit der Musik und Narration des Parsifal als eine avantgardistische.24 Der Readymade-Bezug unterstreicht die beschriebe Juxtaposition der unterschiedlichen Materialebenen in Schlingensiefs Parsifal, in der sie einander nur punktuell durchdringen und aufeinander abgestimmt werden. Wagners Vorlage wird als Entität behandelt, der Schlingensiefs Bezug insofern äußerlich bleibt, als er nicht alle anderen künstlerischen Ebenen darunter subsumiert und jede Intervention durch sie verbürgen lässt. Das Nebeneinander des Materials erweist sich hier als eine Strategie der Montage, welche die unterschiedlichen Elemente und Künste wechselseitig konfrontiert, ohne sie einander anzugleichen, sondern als Konvergenzeffekt eine produktive, reflexive ästhetische Reibung entstehen lässt. Diese Strategie steht, wie im Folgenden ausgeführt werden soll, Wagners Vorstellung

23

24

Groys, Boris / Hegemann, Carl, »Der erweiterte Wir-Begriff«. Gespräch erschienen im Nordbayrischen Kurier, http://www.schlingensief.com/projekt.php?id=t044&article=groy shegemann , [19.  12. 2018 ]. Siehe auch Knapp, Formen des Kunstreligiösen, a.  a. O., S.  204  ‒ 216.

247

248

Das organische Kunstwerk

einer Synthese der Künste im Gesamtkunstwerk entgegen und rührt vielmehr aus dem Geist der Avantgarden her. Hier lohnt ein Blick auf die Art und Weise, wie Wagner das Gesamtkunstwerk konzipiert, um zu verdeutlichen, wie Schlingensiefs künstlerische Position sich dazu verhält. Gerade weil Schlingensiefs inszenatorischer Einsatzpunkt gegenüber Wagners Oper zunächst einmal auf der visuellen Ebene und der bildräumlichen Gestaltung der Aufführung angesiedelt ist, erscheint der Gesamtkunstwerk-Bezug wesentlich. Denn hier ist es, wo Wagner sich zu diesen ästhetischen Parametern im Zusammenspiel mit Musik und Libretto positioniert. Und hier ist es auch, wo Schlingensief zunächst am meisten Gestaltungsraum hat, da er auf Musik und Libretto erst einmal wenig Einfluss üben kann. Das Gesamtkunstwerk berührt im besonderen Maße die Frage nach dem Zusammenkommen der unterschiedlichen Künste, und genau auf dieser Ebene agiert und positioniert sich Schlingensief gegenüber Wagner, während Musik und Erzählung erst einmal von ihm unberührt gelassen werden (müssen). Das organische Kunstwerk: Richard Wagners Gesamtkunstwerk Roger Fornoff legt in seiner umfassenden Gesamtkunstwerk-Studie eingehend dar, dass die unterschiedlichen Gesamtkunstwerk-Konzepte gerade in ihrer anthropologischen Dimension einen anti-modernen Impuls gemein haben. Die Partikularisierungserfahrungen, die mit der Moderne und ihren Prozessen der Technisierung, Industrialisierung sowie funktionalen Differenzierung einhergehen, begreifen sie als Verlust des Menschen von seiner ursprünglichen Einheit, die es durch die Kunstgestaltung und -erfahrung wieder herzustellen gelte.25 Vor diesem Hintergrund entwirft auch Richard Wagner sein Gesamtkunstwerk-Ideal, das große »Kunstwerk der Zukunft« 26. In der gleichnamigen reformerischen Schrift von 1849 diagnostiziert Wagner den Künsten seiner Zeit, dass sie ihre ›ursprüngliche Einheit‹ verloren hätten, die Wagner in der hellenischen Antike ausmacht.27 Die Künste stagnierten in einer allgemeinen Differenzierungsprozessen geschuldeten Vereinzelung und fielen daher unter ihr jeweiliges Potenzial, das sich nur in ihrer Vereinigung realisieren ließe, zurück.28

25

26

27 28

Siehe Fornoff, Roger, Die Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk. Studien zu einer ästhetischen Konzeption der Moderne, Hildesheim / Zürich: Olms, 2004, S. 13  ‒ 24, S.  239  f. Wagner, Richard, »Das Kunstwerk der Zukunft«, in: Dichtungen und Schriften, Bd.  6. Reformschriften 1849  ‒1852, hg.  v. Dieter Borchmeyer, Frankfurt a.  M.: Insel, 1983. Ebenda, S.  29  ‒ 32, S.  36. Ebenda, S. 13  ‒ 29.

IV. Im Paradigma der Oper

Für den Entwurf des Gesamtkunstwerks unterscheidet Wagner entsprechend nicht länger zwischen den Gattungen wie Literatur, Theater, Oper, Tanz und Musik, sondern bestimmt Lyrik, Tanz und Tonkunst in Anlehnung an antike Aufführungspraktiken als die drei fundamentalen, ihm nach »rein-menschlichen« 29, Größen der Kunst. Mensch und Kunst werden bei Wagner der Natur untergeordnet. Die ursprüngliche Einheit der Künste entspricht einer Einheit des Menschen mit sich selbst, und das ist letztlich eine Einheit mit der Natur.30  Die Unterscheidung von Mensch und Natur dient nach Wagner nur der Erkenntnis der Natur als solcher und verschiebt sich ihm zufolge im fortschreitenden Zivilisationsprozess zu einer falschen Vorrangstellung des Menschen gegenüber der Natur.31 Entsprechend kann es für Wagner nur eine korrektive Richtung geben: »Der Mensch wird nicht eher das sein, was er sein kann und sein soll, als bis sein Leben der treue Spiegel der Natur, die bewußtlose Befolgung der einzig wirklichen Notwendigkeit, der inneren Naturnotwendigkeit ist« 32. In dieser Naturabhängigkeit, die für Wagner letztlich die einzig wahre Freiheit ist, steht auch die Kunst, sie muss sich aus der inneren Naturnotwendigkeit des menschlichen Lebens ableiten: »Ebenso wird nun auch die Kunst nicht eher das sein, was sie sein kann und sein soll, als bis sie das treue, bewußtseinverkündende Abbild des wirklichen Menschen und des wahrhaften, naturnotwendigen Lebens der Menschen ist oder sein kann, bis sie also nicht mehr von den Irrtümern, Verkehrtheiten, und unnatürlichen Entstellungen unseres modernen Lebens die Bedingungen ihres Daseins erborgen muß.« 33 Um den Menschen seine Einheit mit sich und der Natur erkennen zu lassen und sie ihm zurückgeben zu können, müssen die drei ursprünglichen, das heißt »reinmenschlichen« 34 Künste, Dichtkunst, Tanzkunst und Tonkunst, zu ihrem »ursprünglichen Vereine« 35 zurückfinden. Sie korrelieren bei Wagner mit den von ihm unterschiedenen drei menschlichen Vermögen Verstand, Leib und Gefühl.36 Der Tanz entspricht dem »Leibesmenschen«, die Musik dem »Gefühlsmenschen«, die

29 30 31 32 33 34 35 36

Ebenda, S.  36. Ebenda, S.  9  ff. Ebenda, S.  9  f. Ebenda, S. 10. Ebenda, S. 11. Ebenda, S.  36. Ebenda. »Jene drei künstlerischen Hauptfähigkeiten des ganzen Menschen haben sich zum dreieinigen Ausdrucke menschlicher Kunst unmittelbar und von selbst ausgebildet, und zwar im ursprünglichen, urentstandenen Kunstwerke der Lyrik, sowie in dessen späterer bewußtvoller, höchster Vollendung, dem Drama.« Ebenda, S.  36, Herv.  i.  O.

249

250

Das organische Kunstwerk

Dichtkunst dem »Verstandesmenschen«.37 Und die Vereinigung der Einzelkünste im Gesamtkunstwerk entspricht, schließt Erika Fischer-Lichte, der »Vereinigung des Leibes- mit dem Gefühls- und Verstandesmenschen« 38. »Im Gesamtkunstwerk könnte so der ›ganze‹ Mensch zum Ausdruck kommen«, so Fischer-Lichte weiter, »und in seiner Rezeption der Zuschauer sich als ›ganzer‹ Mensch erfahren.« 39 Die einzelnen Künste sprechen bei Wagner die unterschiedlichen Sinne des Menschen bzw. unterschiedliche menschliche Vermögen an, die sich schließlich als verschiedene Dimensionen eines ›ganzen Menschen‹ im Zusammenwirken der Künste im Kunstwerk der Zukunft wieder vereinigen sollen.40 Wo es dem »unmittelbarsten und doch sichersten Ausdruck des Höchsten, Wahrsten, dem Menschen überhaupt Ausdrückbaren gilt, da muß eben auch der ganze, vollkommene Mensch beisammen sein, und dies ist der mit dem Leibes- und Herzensmenschen in innigster, durchdringendster Liebe vereinigte Verstandesmensch, – keiner aber für sich allein« 41, wie Wagner es formuliert. Die Erfahrung dieser ›Ganzheit‹ ist in einem zweiten Schritt auch die Erfahrung der Einheit der ›Volksgemeinschaft‹. Der Mensch findet »sein Verständnis, seine Erlösung und Befriedigung, gleichfalls nur in einem Höheren ; dieses Höhere ist aber die menschliche Gattung, die Gemeinschaft der Menschen, denn es gibt für den Menschen nur ein höheres als sich selbst : die Menschen.« 42 Die Synästhesieerfahrung als Erfahrung der Gemeinschaft der Menschen stellt sich letztlich über das Gefühl her, zu welchem die Tonkunst eine besondere Verbindung unterhält: »Unmittelbar teilt sich aber der innere Mensch dem Ohre mit, und zwar durch den Ton seiner Stimme. Der Ton ist der unmittelbare Ausdruck des Gefühls, wie es seinen physischen Sitz im Herzen, dem Punkte des Ausganges und der Rückkehr der Blutbewegung hat.« 43   Um die große ästhetische wie ethische Einheit im Kunstwerk der Zukunft wieder erlangen zu können, müssen die Künste an die menschliche Natur rückgebunden werden und dafür in ihrem Zusammenkommen und -wirken verschmelzen.44 »Tanzkunst, Tonkunst, Dichtkunst heißen die drei ungeborenen Schwestern […]. Sie sind ihrem Wesen nach untrennbar.« 45 Die ursprüngliche und

37 38

39 40 41 42 43 44 45

Ebenda, S.  32  ff. Vgl. Fischer-Lichte, Erika, »Interart-Ästhetiken«, in: Brosch, Renate ( Hg.), Ikono / Philo / Logie: Wechselbeispiele von Texten und Bildern, Berlin, trafo, 2004b, S.  25  ‒  43, S.  35. Ebenda. Wagner, »Das Kunstwerk der Zukunft«, a.  a. O., S.  32  ‒  91. Alles ebenda, S.  34. Ebenda, S.  37. Herv.  i.  O. Ebenda, S.  32. Herv.  i.  O. Ebenda, S.  32  ‒ 36. Ebenda, S.  36.

IV. Im Paradigma der Oper

wiederzuerlangende Beziehung der Künste zueinander beschreibt Wagner als familiär, als verschwistert. Sie liebkosen einander zärtlich und reichen sich wechselseitig die Hand, um ihre jeweiligen Grenzen und Begrenzungen überwinden zu können. Analog dazu verhält sich das von Wagner als ›ursprünglich‹ beschriebene Verhältnis der von ihm ausgemachten menschlichen Vermögen. »Brust an Brust, Glied an Glied in brünstigem Liebeskusse zu einer einzigen, wonniglebendigen Gestalt zu verwachsen« 46, können sich die drei Kunstarten in ihrem Zusammenwirken gänzlich entfalten. »Der süß und stark bewegende Drang in jenem Reigen der Schwestern, ist der Drang nach Freiheit  ; der Liebeskuß der Umschlungenen, die Wonne der gewonnenen Freiheit. Der Einsame ist unfrei, weil beschränkt und abhängig in der Unliebe; der Gemeinsame frei, weil unbeschränkt und unabhängig durch die Liebe.« 47 Die an der Oper beteiligten Einzelkünste bilden im Gesamtkunstwerk eine neuartige Synthese, in der sie sich als Einzelkünste übersteigen und ihre Differenzen transzendieren. Sie verschmelzen zu einem organischen Gesamtzusammenhang, der eine große Einheitserfahrung des Menschen mit sich, der ›menschlichen Gattung‹ 48 und des Menschen mit sich und der Natur ermöglichen soll. Die Kunstgattungen als einzelne müssen überwunden werden, als Mittel sind sie verbraucht und deswegen »zu vernichten zu Gunsten der Erreichung des Gesamtzwecks aller, nämlich der unbedingten, unmittelbaren Darstellung der menschlichen Natur« 49. Und »dieses große Gesamtkunstwerk erkennt er [der Künstler, S.  R .] nicht als die willkürlich mögliche Tat des Einzelnen, sondern als das notwendig denkbare gemeinsame Werk der Menschen der Zukunft.« 50 Das Zusammenwirken der Einzelkünste im Gesamtkunstwerk ist bei Wagner organisch gedacht, ein organischer Mechanismus, dessen einzelne Glieder »sich gegenseitig so bedingen, ergänzen und tragen müssen, wie die organischen Glieder des menschlichen Leibes, der dann ein vollkommener, lebendiger ist, wenn er aus allen Gliedern, die ihn durch gegenseitiges Sichbedingen und Ergänzen ausmachen, besteht, keine ihm fehlen, keine ihm aber auch zu viel sind.« 51 In seiner Parsifal -Inszenierung schließt Schlingensief an einige Grundzüge von Wagners Nachdenken über das Zusammenwirken der Künste an, wendet sich aber zugleich davon ab. Wagners Emphase auf die Klang farbe als räumlich-bildliche Dimension der Musik kann als Intermedialitätsbestrebung aufgefasst werden,

46 47 48 49 50 51

Ebenda. Ebenda, S.  37. Herv.  i.  O. Wagner, »Das Kunstwerk der Zukunft«, a.  a. O., S.  35. Ebenda, S.  29. Herv.  i.  O. Ebenda. Wagner, Richard, »Oper und Drama«, in: Dichtungen und Schriften, Bd .  7, hg.  v. Dieter Borchmeyer, Frankfurt a.  M.: Insel, 1983, S. 196.

251

252

Das organische Kunstwerk

die später von den Avantgarden der neuen Musik fortgeschrieben wird.52 Mit seiner maßgeblich visuellen Herangehensweise an Wagners Parsifal greift Schlingensief dieses Motiv auf und aktualisiert es. Indem das visuelle Material aber nie eins zu eins auf Musik und Narration abgestimmt wird, vor allem auch Differenzen produziert und sowohl der Musik als auch der Narration in gewissem Maße äußerlich und fremd bleibt, indem er es also in einem Nebeneinander zur Musik organisiert, unterläuft er zugleich Wagners Vorstellung eines Über- und Ineinander der Künste, welche sie in einem unzertrennbar verschwisterten, bruch- und lückenlosen Harmoniezusammenhang realisieren soll. Wie Erika Fischer-Lichte ausführt, entwirft Wagner das Gesamtkunstwerk gerade auch in Opposition zu einem von ihm diagnostizierten ›Nebeneinander der Künste‹ in der Oper seiner Zeit, die es um jeden Preis zu verhindern gelte. »An der Großen Oper, der zu seiner Zeit populärsten Form der Oper, kritisiert Wagner, daß sie nichts als eine bloße Addition der Künste darstelle« 53, so Fischer-Lichte. Dagegen proklamiere er eben die »Vereinigung der Künste als ihre vollkommene Fusion, ihre Verschmelzung.« 54 Diese Gegenposition des Nebeneinander der Künste im Unterschied zu Wagners Gesamtkunstwerk reaktiviert Schlingensief gewissermaßen in seiner Bayreuther Parsifal -Inszenierung. Allerdings tut er dies auf ganz andere Weise als es im 19. Jahrhundert der Fall war, sondern nun unter Hinzuziehung von Aspekten des Nebeneinanders und der Montage des in und an sich Unverbundenen, die von den historischen Avantgarden herrühren. In seiner Organisation des künstlerischen Materials in einem strukturellen und paradigmatischen Nebeneinander, das sich auch als Übereinander darstellen kann und sich besonders in Bezug zur Relationalität der Künste in Wagners Gesamtkunstwerk als ein Gegeneinander lesen lässt, werden die unterschiedliche Künste und Aufführungsebenen auch in einer gegenseitigen Fremdheit und Äußerlichkeit gekennzeichnet. Ihre unterschiedlichen Kontexte und Werkzugänge berühren sich nicht notwendig und werden nicht füreinander aufgeschlossen, indem sie in einem bestimmten Leitmotiv oder Darstellungsparadigma zusammengeführt werden. Wagner schreibt, dass »alles aus seinem Zusammenhange Gerissene, Einzelne, Egoistische, in Wahrheit unfrei, d.  h. abhängig von einem ihm Fremdartigen werden muß«55. Dieser Vorstellung widersetzt sich Schlingensief unter Rekurs auf

52

53 54 55

Siehe hierzu Trippett, David, Wagner’s Melodies. Aesthetics and Materialism in German Musical Identity, Cambridge : Cambridge University Press, 2013 sowie Bermbach, Udo / Dieter, Borchmeyer et.  al. ( Hg.), wagnerspectrum 2 ( 2010 ), »Wagner und die neue Musik«, Würzburg : Königshausen und Neumann. Fischer-Lichte, »Interart-Ästhetiken«, a.  a. O., S.  34. Ebenda. Kontextgebundenheit und Autonomie gehen bei Wagner eine merkwürdige Verbindung

IV. Im Paradigma der Oper

die Avantgarden. Denn in seiner Inszenierung arbeitet er an keinem organischen Gesamtzusammenhang, sondern deutet bereits hier, in Bayreuth, eine Fragmentierung und Montage der sich dabei ›fremd‹ und wechselseitig undurchdrungen bleibenden Fragmente an, die er in seinen an Parsifal anschließenden und diese Inszenierung variierenden späteren Arbeiten noch weiter radikalisiert. Wie dies geschieht und was für ein ästhetischer Welt-, Subjekt- und Gemeinschaftsbezug dabei verhandelt wird, gerade auch in Relation zu Wagners Gesamtkunstwerk, darum geht es im Folgenden. Ein Großteil der anschließenden, sich in Aufführungen auf dem Theater oder der Oper ereignenden Arbeiten variiert Versatzstücke der Bayreuther Parsifal -Inszenierung und versieht diese Variationen mit unterschiedlichen programmatischen avantgardistischen Referenzen: ein »Fluxus-Oratorium«, eine »ReadyMadeOper«, eine Schönberg Variation ( Kunst und Gemüse, A. Hipler  ), eine Walter BraunfelsOper (    Jeanne d’Arc. Szenen aus dem Leben der heiligen Johanna  ) und schließlich eine Luigi Nono-Reminiszenz (Via Intolleranza II    ). Kunst und Gemüse, A.  Hipler – Ein Volks-Parsifal und die Avantgarde(n) der Musik Für die weiterführende Untersuchung der Frage, wie Schlingensief seine Arbeit auch im Zeichen der Avantgarden zu Wagners Gesamtkunstwerk ins Verhältnis setzt, ist eine weitere Arbeit von erheblichen Aufschluss, die unmittelbar auf die Bayreuther Parsifal -Inszenierung folgt und nur wenige Monate danach im selben Jahr, am 17. 11. 2004 in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz zur Uraufführung gebracht wird. Schlingensief selbst bezeichnet diese Arbeit als einen »VolksParsifal« 56. Die Arbeit fungiert gewissermaßen als ein kritisches Echo gegenüber der vorangegangenen Parsifal -Inszenierung. Er verarbeitet hier seine Bayreuther Erfahrungen, eine Pressekonferenz mit der Wagner-Familie wird abgehalten, deren

56

ein, sodass er die von ihm befürwortete »Eigentümlichkeit« nur noch in Volks- und Nationalkunst findet: »Die Tanzkunst war eine vollkommen eigentümliche, solange sie aus ihrem innersten Wesen und Bedürfnisse die Gesetze zu erzeugen vermochte, nach denen sie zur verständigungsfähigen Erscheinung kam. Heutzutage ist nur noch der Volks-, der Nationaltanz eigentümlich, denn auf unnachahmliche Weise gibt er aus sich, wie er in die Erscheinung tritt, sein besonderes Wesen in Gebärde, Rhythmus und Takt kund, deren Gesetze er unwillkürlich selbst schuf, und die als Gesetzte erst erkennbar, mitteilbar werden, wenn sie aus dem Volkskunstwerke, als sein abstrahiertes Wesen, wirklich hervorgegangen sind.« Wagner, »Das Kunstwerk der Zukunft«, a.  a. O., S.  48. Herv.  i. O. Vgl. Berka, Christoph Schlingensiefs Animatograph, a.  a. O., S.  22.

253

254

Kunst und Gemüse, A. Hipler

Vornamen (»Wolfgang«) gleichgeblieben sind, während der Nachname Wagner in »Bach« übergegangen ist. Ein Verschlag auf der Bühne, der nach oben durch Stacheldraht abschließt und dessen Eingang durch Brechts Halbgardine führt, ist als »Wolfgang Bach Festspielhaus« überschrieben. Es wird ein Brief von Wolfgang Bach vorgelesen, in dem er Schlingensief aufklärt, wie er sich bei den Festspielen zu verhalten habe und wie welche Töne gesungen werden müssten. Der Name Bach wird von Kerstin Grassmann wiederholt aus tiefstem Rachen herausgehustet, aus- und abgestoßen, sodass man beim Zuhören meint, den Namen Wagner zu vernehmen. Fotos der Wagner-Familie am grünen Hügel schmücken das Dekor. Die Referenzen sind so plastisch und drastisch, dass sie darin wieder verfremdet und gebrochen erscheinen. Überhaupt finden sich zahlreiche Bühnenmotive aus der Parsifal-Inszenierung hier wieder : die multiplen Projektionen auf die Drehbühne, die dicke, nackte Frau, die ›Urmutter‹ Parsifals, die bewegten Tableaus eines überfüllten Nebeneinanders von Menschen, Tieren, Dingen und großformatigen Schriftbildern. Das Motiv des Leidens und der Wunde des Amfortas’ erfährt nun in Schlingensiefs Arbeit den ersten existenziell autobiografischen Shift, hier zunächst in der Protagonistin Angela Jansen, der sich dann bis zu seinen letzten Arbeiten durchzieht und auf seine eigene Person übergeht. Jansen ist an dem Nervenleiden ALS ( Amyotrophe Lateralsklerose ) erkrankt und als Folgeerscheinung vollständig körpergelähmt. In der Aufführung ist sie in einem Krankenhausbett im Publikumsraum installiert und kommuniziert über das Kommunikationssystem Eye-Gaze, welches per Lasersignal ihre Augenbewegung erfasst, mit der sie eine virtuelle Tastatur bedient und so den Text produziert, den sie mitteilen möchte. Ihr Gesicht wird bei diesem ungewöhnlichen Schreibprozess gefilmt und zusammen mit dem dabei entstehenden Text auf die Bühne projiziert. Auf diese Weise partizipiert und lenkt sie das Bühnengeschehen mit. Damit wird hier ein lebendiges Bild in Szene gesetzt, das Mensch und Maschine existenziell verwebt und Leben und Krankheit an deren Schnittstelle ansiedelt. Für den musikalischen Leitrahmen dieses selbsterklärten »Volks-Parsifals« treffen Schlingensief und sein Team eine etwas kontraintuitiv anmutende Wahl, wenn sie sich für Arnold Schönbergs Opern-Einakter Von heute auf morgen von 1928  / 29 entscheiden, welche als erste Zwölfton-Oper überhaupt angesehen wird.57   Wie im

57



Siehe auch Kalchschmid, Klaus, »Zwölf Töne gegen die Mode. Zur Musik-Dramaturgie in Schönbergs erster Zwölfton-Oper«, in: Volkmer, Klaus / Kalchschmid, Klaus / Primavesi, Patrick ( Hg.), Schönberg / Blonda / Huillet /  Straub. Von heute auf morgen. Oper / Musik / Film, Berlin: Vorwerk 8, 1997, S.  73 ‒  85. Tatsächlich hoffte Schönberg mit dieser Oper ein breiteres Publikum zu erreichen, ähnlich wie seiner Tage Kurt Weil in Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht für die Dreigroschenoper (1928 ) oder das Mahagonny Songspiel (1927 ) oder auch Ernst Krenek mit

IV. Im Paradigma der Oper

Weiteren dargelegt werden wird, ist diese Referenz allerdings äußerst programmatisch, besonders auch für die Frage nach Schlingensiefs Wagner-Bezug. Schönbergs Oper fungiert zunächst als musikalischer und motivischer Leitrahmen und wird als solcher immer wieder auch fallengelassen und durch andere Musiken, Stoffe, Themen und Formen aufgebrochen. Sie wirkt als ein Motiv unter anderen, mit denen sie in der Gegenwart von Schlingensiefs Arbeit verwoben, neben- und gegeneinandergestellt wird. Die beiden Protagonist*innen aus Schönbergs Oper, der Ehemann und die Ehefrau, werden von Irm Hermann und Udo Kier gespielt. Ihr Gesang ist Playback. Live gesungen werden die Schönberg-Passagen durch die beiden Sänger *innen Ulrike Bindert und Maximilian von Mayenburg. Die musikalische Anordnung, eine Fragmentierung und musikalische Überschreibung von Schönbergs Oper, ist wesentlich von Arno Waschk in Zusammenarbeit mit Schlingensief erarbeitet.58 Das verdoppelte Ehepaar aus Schönbergs Oper ist beide Male in Abendkleid und Frack kostümiert und in einem biederen 50er Jahre Wohnzimmer lokalisiert, das als offenes Bühnenfragment unabgeschlossen in den restlichen, divers vollbeladenen Bühnenaufbau eingespeist ist. Auch das Rollenspiel und die Narration sind fragmentarisch gehalten, kehren fortwährend zurück und verlieren sich wieder im übrigen Aufführungsgeschehen. Dekor und Kostüm der Opernszenen weisen deutliche Bezüge zu dem gleichnamigen Film von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub aus dem Jahr 1996 zu Schönbergs Oper Von heute auf morgen auf und erscheinen teilweise als direkte Zitate.59 Zu Beginn der Aufführung hält Waschk als musikalischer Leiter des Abends, der den Verlauf der Aufführung am Klavier musikalisch ( live) zusammen mit einigen anderen Musiker *innen ( an Klarinette und Posaune ) gestalten wird, eine kleine Ansprache und führt in das Programm ein. Er stellt sich selbst als Prof. Theodor W. Adorno vor und erläutert, inwiefern Schönbergs Oper nicht nur als musikalisches Thema in der Aufführung aufgegriffen wird, sondern auch strukturell für die Arbeit prägend ist. Die Referenz auf Schönberg erscheint dabei ebenso paradigmatisch wie, dieser Verabsolutierung entgegenwirkend, ironisch gebro-

58

59

Johnny spielt auf (1927 ), was sich aber nicht einstellte. Die Oper gehört in eine Phase der 20er Jahre, in der die »Krise der Oper« viel diskutiert war und man versuchte, durch aktuelle Stoffe, humoristisch verarbeitet, ein breiteres Publikum anzusprechen. Siehe weiter Arnold Schönberg Center, http://www.schoenberg.at/index.php/de/joomla-licensesp-1943310035/rvon-heute-auf-morgenl-op-32-1928-1929, [ 06. 12. 2018 ]. Unter dem Inspizienten von Uwe Altmann, der alle nicht-live Musik einspielt und mit Schlingensief zusammengestellt hat. Siehe hierzu weiter Volkmer / Kalchschmid / Primavesi ( Hg.), Schönberg / Blonda / Huillet / Straub. a.  a. O.

255

256

Kunst und Gemüse, A. Hipler

chen. Alle Protagonist*innen der Aufführung werden in dieser Eröffnungsszene als Repräsentanten eines Halbtons der Zwölftonleiter vorgestellt. Wie Adam Czirak konstatiert, überträgt Schlingensief die »Logik der Zwölftonmusik zugleich auf visuelle Darstellungsstrukturen, indem er das Prinzip der Gleichrangigkeit und ausnahmslosen Berücksichtigung aller zwölf Töne einer Oktave auf die schauspielerische Inszenierungsordnung der zwölf Bühnenakteure anwendete.« 60 Auf die Figur der intermedialen Übertragung der ästhetischen Struktur der Zwölftonmusik auf die Organisation der ästhetischen Materials der Inszenierung insgesamt möchte ich später noch einmal zurückkommen. Das Programm des Abends wird präsentiert als zwölf Variationen, den Geburtstag des Schauspielers Johannes Heesters 61 zu feiern, und gleichzeitig als die Suche nach dem »modernen Menschen«.62   Was hier ironisch anklingt, ist dennoch nicht unerheblich für die Frage nach den Relationen ästhetischer Subjektivitätserfahrungen, welche die produktiv bruchvolle Achse Wagner / Schönberg / Schlingensief in ihren Materialarrangements organisiert. Schönbergs Oper wird konstitutiv für andere Werke, Personen, Stoffe, Narrationen, Zeiten und Räume geöffnet. Die Musik wird angespielt und fallengelassen, so wie sie ihrerseits andere Musiken, Sounds, Sprechen und Spiel, Filme und Räume unter- und aufbricht. Diese für Schlingensief und seinen Umgang mit anderen Werken signifikante Arbeitsweise ließ sich, wie bereits erwähnt, in Bayreuth aufgrund der Übermacht bestimmter Regulatoren so nicht durchhalten.63  Strukturell analog zur Referenzierungsweise gegenüber Schönbergs Oper, wenn auch, wie eingangs angerissen, etwas plastischer und drastischer in der Ausführung , verhält es sich hier, in Kunst und Gemüse, mit der Referenzierung auf Wagner und Bayreuth. Die Fragmente werden nicht notwendig durchgearbeitet und einem übergeordneten ( melodischen, narrativen ) Organisationsprinzip untergeordnet und angeglichen, sondern sie werden als Versatzstücke einer anderen Produktionswirklichkeit belassen und darin einander fremd und widersprechend montiert. Solcherlei Ver-

60 61

62

63

Czirak, Partizipation der Blicke, a.  a. O., S.  39. Dessen Karriere unter den Nationalsozialisten einsetzte. Vgl. Trimborn, Jürgen, Der Herr im Frack – Johannes Heesters, Berlin : Aufbau-Verlag, 2005. Schönbergs Oper handelt von einem Ehepaar, das in eine Krise gerät, weil der Mann sich begeistert zeigt von aktuellen Moden und seine Frau demonstriert ihm, indem sie sich diesen anverwandelt, wie verführerisch und wie trügerisch sie letztlich ins Unglücklichsein führen. Arnold Schönberg Center, http://www.schoenberg.at/index.php/de/joomlalicense-sp-1943310035/rvon-heute-auf-morgenl-op-32-1928-1929 , [ 06. 12. 2018]. Siehe auch Schönberg, Arnold, »Einführung«, in: Volkmer / Kalchschmid / Primavesi ( Hg.), Schönberg / Blonda / Huillet / Straub, a.  a. O., S.  7  ff. Vgl. Schlingensief, Ich weiß, ich war’s, a.  a. O., S. 145.

IV. Im Paradigma der Oper

fahren der Fragmentierung und Montage, die mit Blick auf die Parsifal -Inszenierung in dem Nebeneinander der Künste angedeutet wurden und sich hier auf dem Theater noch einmal anders realisieren und radikalisieren, beinhalten einen Angriff auf die Originalität und Integrität des Kunstwerks wie des Künstlers, der zutiefst in den Avantgarden verwurzelt ist. In diesem Sinne werden sie von Peter Bürger in der Theorie der Avantgarde als Strukturmerkmale avantgardistischer Kunst gegenüber einem klassischen Kunstbegriff bestimmt.64 Das avantgardistische Kunstwerk In seiner Theorie der Avantgarde wendet Peter Bürger den aus dem Barock hergeleiteten Allegorie-Begriff  Walter Benjamins auf die Kunst der Avantgarden und die Struktur des avantgardistischen Kunstwerks an, das im Gegensatz zum klassischen Kunstwerk und insbesondere zur Kunst der Romantik steht.65 Entsprechend entwirft Bürger das avantgardistische Kunstwerk als ein per se nicht-organisches.66 Benjamins Allegorie-Begriff avanciert bei Bürger zur zentralen Kategorie einer Theorie des avantgardistischen Kunstwerks. Wie der Allegoriker reiße der Avantgardist ( emblematisch: Marcel Duchamp ) »ein Element aus der Totalität des Lebenszusammenhangs heraus. Er isoliert es, beraubt es seiner Funktion. Die Allegorie ist daher wesenhaft Bruchstück«, schlussfolgert Bürger, »und steht im Gegensatz zum organischen Symbol.« 67 Der Allegoriker füge, führt Bürger weiter aus, »die so isolierten Realitätsfragmente zusammen und stiftet dadurch Sinn. Dieser ist gesetzter Sinn, er ergibt sich nicht aus dem ursprünglichen Sinn der Fragmente.« 68 Diese Vorgänge fasst Bürger als Verfahren der Montage.69 »Eine Gegenüberstellung von organischem und nicht-organischem ( avantgardistischem ) Kunstwerk unter produktionsästhetischen Gesichtspunkt findet einen wesentlichen Anhaltspunkt darin, daß die ersten beiden Elemente des Benjaminschen Allegoriebegriffs mit dem übereinstimmen, was man unter Montage verstehen darf« 70, so Bürger. »Der ein organisches Kunstwerk produzierende Künstler ( wir nennen ihn im Folgenden Klassiker ohne damit einen Begriff vom klassischen Kunstwerk einführen zu wollen ) behandelt sein Material als etwas Lebendiges, dessen aus konkreten Lebenssi-

64 65 66 67 68 69 70

Bürger, Theorie der Avantgarde, a.  a.  O. Ebenda, S.  92  ‒ 98. Ebenda, S.  92  f. Ebenda, S.  93  f. Ebenda, S.  94. Ebenda, S.  95. Ebenda.

257

258

Das avantgardistische Kunstwerk

tuationen entstandene Bedeutung er respektiert.« 71 Dem Avantgardisten dagegen sei »das Material nur Material ; seine Tätigkeit besteht zunächst in nichts anderem als darin, das ›Leben‹ des Materials zu töten, d.  h. es aus seinem Funktionszusammenhang zu reißen, der ihm Bedeutung verleiht.« 72  Der Klassiker behandele sein Material als »Ganzheit« 73, der Avantgardist breche das seine aus der »Lebenstotalität« heraus und isoliere, fragmentiere es.74 Während der Klassiker ein »lebendiges Bild der Totalität« 75 herzustellen suche, werde das Werk des Avantgardisten nicht mehr aus organischen Elementen zusammengesetzt, sondern aus Fragmenten – und ist damit eben auch kein Werk im klassischen Sinn mehr. Das organische Kunstwerk sucht nach Bürger »die Tatsache seines Produziertseins« zu verdecken, um den (im Sinne Kants ) schönen Schein von Natur zu wecken. Das Gegenteil gelte für das avantgardistische Kunstwerk: »Es gibt sich als künstliches Gebilde, als Artefakt zu erkennen.« 76   Daraus folgert Bürger, dass »die Montage als Grundprinzip avantgardistischer Kunst« gelten kann. »Das ›montierte‹ Werk weist darauf hin, daß es aus Realitätsfragmenten zusammengesetzt ist; es durchbricht den Schein von Totalität.« 77 Diese Differenz bezieht Bürger schließlich auch auf die Rezeptionsästhetik. Während das organische Kunstwerk auf einen ganzheitlichen Eindruck gerichtet sei, insofern »seine Einzelmomente nur in Bezug zum Werkganzen Bedeutung haben« 78 und auch einzeln wahrgenommen stets auf das Werkganze verwiesen blieben, hätten die Einzelmomente im avantgardistischen Kunstwerk eine »viel höhere Selbstständigkeit« 79, sie könnten rezipiert werden, ohne dass das »Werkganze« überhaupt erfasst werden müsste. Diese Unterscheidung Bürgers zwischen dem klassischen und dem avantgardistischen Kunstwerk ist für die Untersuchung dessen, was Wagner im Kunstwerk der Zukunft als Kunstideal formuliert, und dem, wie Schlingensief gerade mit Blick darauf, aber auch darüber hinaus künstlerisch operiert, enorm aufschlussreich. Wie in der Darlegung von Wagners Gesamtkunstwerk-Vorstellungen deutlich geworden sein sollte, versucht Wagner, womöglich das Ende des klassischen Kunstwerkes sowie das Ende der Romantik schon kommen sehend, die Kunst noch einmal umso stärker an das organische Ideal zurückzubinden. Seine Kritik richtet sich gegen die

71 72 73 74 75 76 77 78 79

Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S.  97. Ebenda, S.  97  f. Ebenda, S.  98. Ebenda.

IV. Im Paradigma der Oper

›Entfremdung‹ der Kunst und des Menschen von der Natur, die er der Gegenwart diagnostiziert und vor deren Hintergrund er das Gesamtkunstwerk entwirft. Wie kaum ein anderer Kunstbegriff beschwört das Wagner’sche Gesamtkunstwerk die Rückbindung der Kunst in einen großen Natur- und Lebenszusammenhang. Einzelkünste als Einzelmomente, wie Bürger sie nennt, haben nur eine Berechtigung mit Blick auf den Gesamtzusammenhang, in dem sie erscheinen ; an sich und für sich allein sind sie bedeutungs- und wirkungslos. Das Gesamtkunstwerk soll dem Menschen die große Einheits- und Zusammenhangserfahrung schlechthin ermöglichen, als utopische ›Rettung‹ dessen, was sich am Horizont (der ausgehenden Romantik ) als längst verloren anzeigt.80 Auf beispiellose Weise versteht es Schlingensief in seiner Kunst hingegen mit der Fragmentierung zu arbeiten. Die »Einzelmomente«, die unterschiedlichen Motive, Medien und Künste kommen in hochgradigem Eigenwert und Selbstständigkeit zum Einsatz, es ist hier geradezu paradigmatisch, dass das »Werkganze« nicht erfasst werden muss, nicht zu erfassen, vielleicht sogar inexistent ist. Die Selbstständigkeit der Teile und Künste gerade in Schlingensiefs späten Arbeiten, die mit diesen deutlichen Wagner- und Gesamtkunstwerk-Bezügen arbeiten, zeigt sich auch daran, dass Schlingensiefs Arbeiten so gut in Gattungstransformationen und anderen institutionellen Rahmungen funktionieren, wie beim Installativwerden von Theaterinszenierungen81, der Objekthaftigkeit der Bühnenräume und Requisiten sowie beim eigenständigen ›Funktionieren‹ der Filme jenseits der Bühne. Schließlich gilt diese Parzellierung, das ›Herausreißen‹ aus dem Kontext sowie deren Eigenständigkeit und nicht immer deutlich zu erkennende oder bestimmte Funktion in einem (neuen ) Gesamtzusammenhang sogar für seine Wagner- und Schönberg-Referenzierungen selbst. Schlingensiefs Umgang mit der Montage als ästhetischem Organisationsprinzip geht aber auch über die von Bürger für die Avantgarden herausgearbeitete Monta-

80

81

In seinem Versuch über Wagner zieht Adorno stark in Zweifel, dass ihm das gelingt, er konstatiert eher das Gegenteil: »Das gestische Element bei Wagner ist nicht, wie es prätendiert, Äußerung des ungespaltenen Menschen, sondern der Reflex, der ein Verdinglichtes, Entfremdetes imitiert.« Adorno, Theodor W., Versuch über Wagner, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1952, S.  39 sowie weiter S.  40, S.  43 usf. Zum Gesamtkunstwerk : »Vielmehr klaffen die Organe, disparat in ihrer Entwicklung, am Ende weit auseinander, als Konsequenz der anwachsenden Vergegenständlichung der Realität ebenso wie des Prinzips der Arbeitsteilung, das nicht nur die Menschen voneinander trennt, sondern jeden einzelnen in sich nochmals zerlegt. Daher mißlingt es dem Musikdrama, den einzelnen Medien sinnvolle Funktionen zuzuweisen. Es ist die Form der falschen Identität.« Ebenda, S. 129. Siehe hierzu ausführlich Kap.  V.

259

260

Schönberg und das Nebeneinander in der Musik

ge-Praxis hinaus. Wie bereits im ersten Kapitel ( I ) zu Schlingensiefs Avantgardebezügen herausgestellt wurde, geht es bei ihm nicht lediglich darum, »das Leben des Materials zu töten« und es »aus dem Funktionszusammenhang zu reißen, der ihm Bedeutung verleiht« 82, wie Bürger es beschreibt. Vielmehr geht es in Schlingensiefs ästhetischen Verfahren der Montage, der De- und Rekontextualisierung der Teile, Stoffe und Formen, der Werke und Künstler, der Ideen und Programme, der Zeiten und Räume auch darum, ihre vorangegangenen Kontexte weiter mitlaufen zu lassen, sie als produktive Assoziationsräume zu bespielen. Als solche verweben sie sich mit den neuen Kontexten und Materialien, sodass die Verdichtung und Komplexität der möglichen Zusammenhänge und Zusammenhangsbildungen freigelegt wird, die nicht mehr nur einen ›Ursprungskontext‹ kennt. Schließlich ist Schlingensiefs Montage immer auch in Analogie zur filmischen Montage gedacht, die unterschiedliche Zeiten und Räume miteinander zu verbinden versteht, wenngleich Schlingensief auch hier immer gegen ein organisches Montageprinzip arbeitet, das die Differenzen verschmelzt, sondern für Brüche und Schocks, für kontingente Konvergenzen und unvorhergesehene Zusammenhänge öffnet, die nur das Material selbst in seiner scheinbaren Unverbundenheit freizulegen vermag. Schönberg und das Nebeneinander in der Musik Welche Rolle spielt nun Schönberg hierbei, den Schlingensief mit Kunst und Gemüse programmatisch in seine Parsifal -Arbeit nachträgt ? In seiner Philosophie der neuen Musik analysiert Adorno, dass es Schönberg sei, der die Struktur des klassischen musikalischen Kunstwerks dekonstruiert, das sich tradiert in der Zeit als Werk entfaltet,83 also als eine »Zeitkunst« im Lessing’schen Sinn zu begreifen ist. Er kündige die tradierten musikalischen Parameter »Werk, Zeit und Schein« 84 auf, indem er das musikalische Material in einem Prinzip des Nebeneinander organisiert und es damit dem Prinzip der »Raumkunst«, der bildenden Kunst, annähert und somit der Intermedialität in der Musik den Weg freiräumt. Von diesem fundamentalen Strukturprinzip der Intermedialität spricht die Figur des Gurnemanz in Parsifal mit dem berühmten Satz : »Zum Raum wird hier die Zeit«, der in Schlingensiefs Arbeit, wie im Folgekapitel ( V ) zur Installation ausgeführt werden wird,

82 83

84

Bürger, Theorie der Avantgarde, a.  a. O., S.  95. Siehe hierzu ausführlich im nächsten Kapitel zur Installation ( V ) »Raumkünste und Zeitkünste«. Adorno, Theodor W., Philosophie der neuen Musik, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1978, S.  43.

IV. Im Paradigma der Oper

entscheidend für die Frage nach der Organisation des künstlerischen Materials in Bezug auf Wagners Gesamtkunstwerk ist.85 Adorno erklärt Schönberg zum Vollender der Rationalisierung des musikalischen und künstlerischen Materials, die er mit Wagners Gesamtkunstwerk einsetzen sieht: »Sie hatte schon am Wagnerischen Gesamtkunstwerk teil; verwirklicht wird sie von Schönberg. In seiner Musik sind nicht bloß alle Dimensionen gleich entwickelt, sondern alle derart auseinander produziert, daß sie konvergieren.« 86 Wie Klaus Kalchschmid zeigt, nimmt Schönberg dabei tatsächlich in Von heute auf morgen ganz dezidiert auf Wagners Parsifal Bezug, wo er »das Kunststück vollführt«, ein Wagner-Zitat aus Parsifal ( 3.   Akt, Gralsburg, »Zum letzten Mal« ) in die Zwölftonordnung zu transferieren.87   Diesen Pfad schreibt Schlingensief nun in seiner Bezugnahme auf Wagner im Zeichen der Avantgarden fort und macht ihn für seine Werkgenealogie produktiv. Das paradigmatische Nebeneinander, das Adorno für die Elemente in der Musik Schönbergs beschreibt, begriffen als epistemisch-ästhetischer Bruch, aktualisiert Schlingensief in seiner Parsifal -Inszenierung durch die Organisation des übrigen künstlerischen Materials in einem Nebeneinander der Künste. Während er dort das von Wagner proklamierte synthetische Zusammenkommen der Künste durch eine Inszenierungsordnung des Nebeneinanders subvertiert, erzeugt er in Kunst und Gemüse mit der Referenz auf Schönbergs Dodekaphonie die Juxtaposition durch die Ausdifferenzierung und Autonomwerdung der einzelnen Teile. Sie unterstehen dabei in ihrem Zusammenwirken nicht mehr einer Leitmotivik oder einem anderen Ordnungsprinzip, das ihre Konvergenzen regelt. Stattdessen werden sie durch das Material selber in Teilordnungen und Kontingenzen strukturiert. Schönbergs musikalische Arrangements räumten, Adorno zufolge, mit historisch falschen Relationen, schlechtem Kontrapunkt, der die Simultanität der verschiedenen, autonomen Stimmen ignoriert, wie mit einer überkommenen, harmonischmelodischen Komposition endgültig auf.88 In seinem Versuch über Wagner liest Adorno Wagner mit und gegen ihn und beschreibt das Gesamtkunstwerk als hochgradig differenziert, auf strengster Arbeitsteilung basierend, gekennzeichnet durch eine nicht-organische Mechanisierung, welche der großen Geste der Differenzen

85

86 87 88

Es ist nicht zuletzt diese grundlegende Intermedialität, die auf viele der auf Wagner folgenden Avantgarden eine große Faszination für das Gesamtkunstwerk ausübt, wenngleich sie in andere künstlerische, soziale und historische Kontexte einbetten. In diesem Sinn ist auch der musikalische Symbolismus zu begreifen, der eine Raumkunst in einer Zeitkunst zu erfassen sucht. Adorno, Philosophie der neuen Musik, a.  a. O., S.  56. Kalchschmid, »Zwölf Töne gegen die Mode«, a.  a. O., S.  83. Adorno, Philosophie der neuen Musik, a.  a. O., S.  56.

261

262

Schönberg und das Nebeneinander in der Musik

transzendierenden Synthese des Gesamtkunstwerks zuwiderläuft.89 Nach Adorno löst Schönberg diese im Gesamtkunstwerk (unfreiwillig ) aufscheinende Tendenz gänzlich ein, indem er das musikalische Material so organisiert, dass jede einzelne Dimension gleichberechtigt und autonom ausdifferenziert und so »derart auseinander produziert« wird, dass sie als Effekt, den sie dabei selbst erzeugen, konvergieren. Die Zwölftonmusik wird zu einer Chiffre für die avantgardistische Organisation des Materials in einer Integration des Nicht-Verbundenden.90 Diese Chiffre ist auch für Schlingensiefs Organisation des künstlerischen Materials erhellend, besonders in der Relation zu Wagners Gesamtkunstwerk. Wagners Ideal einer Zusammenführung der Einzelkünste, in der sie auf ungekannte (und in Schlingensiefs Fall auch : unberechenbare ) Weise einen neuen ästhetischen Wirkungszusammenhang bilden, prägt Schlingensiefs Arbeit in der Konfrontation mit dieser Utopie im Verlauf seiner Bayreuther Parsifal-Inszenierung. Zugleich evoziert er dabei maßgebliche Differenzen. Die Integration des Nicht-Verbundenen, das hierin nicht gleichgemacht wird, sondern differenziell bleibt, sowie die in den einzelnen Dimensionen autonome und nicht-hierarchische Organisation des künstlerischen Materials kennzeichnen Schlingensiefs Arbeitsweise in entscheidendem Maße. Es gibt hier keine hierarchische, narrative oder formale Ordnungsstruktur, welche die Einzelkünste, Stoffe und -Formen organisieren würde, es lässt sich keine verschmelzende Synthese feststellen, und wenn ihr Eindruck entstehen sollte, so wird er im nächsten Moment auf das Deutlichste zerstört. Die Beziehung der Künste ist nicht in Wagners Sinn eine unendlich harmonische, sondern darf immer auch eine Störung, ein Widerspruch, ein Kampf sein. Jeder Sound wird durch einen anderen unterbrochen, jede Musik durch eine andere gestört und in etwas anderes hinein geöffnet, Kontexte werden fallen gelassen, verlieren sich. Stimmungen werden durchkreuzt und irritiert. Das Gleiche gilt für die übrigen Narrative, Motive, Szenen, Bilder, Räume und Körper. Stellt sich ein Eindruck oder ein Sinnzusammenhang her, wird er im nächsten Moment in etwas anderes gekippt. Wird etwas zu rhythmisch, zu groß, zu harmonisch oder zu plausibel, wird es im nächsten Moment zertrümmert werden, ohne Vorwarnung, als Schock. Dies hat entsprechende Konsequenzen für die Verlässlichkeit der Welteindrücke, die Dis-Kontinuität der Erfahrung, die zur Erfahrung gebrachten Subjektivitäten und Relationalitäten diesseits und jenseits der Bühne.

89 90

Adorno, Versuch über Wagner, a.  a. O., S. 138  f. Vgl. hierzu Adorno, Philosophie der neuen Musik, a.  a. O., S.  52.

IV. Im Paradigma der Oper

An-  / organisches Leben in der Kunst Wagners von Liebe getriebene, harmonische Verschmelzung der Künste im Gesamtkunstwerk soll eine ästhetische Einheitserfahrung freilegen, in der sich der Mensch als eins mit sich, eins mit der Natur und eins mit der Gemeinschaft erlebt. Das durch die Musik getriggerte Gefühl gibt hierfür den entscheidenden Anstoß. Schlingensiefs dissonante und widerspruchsvolle Organisation der Künste korreliert dagegen mit einer ( ästhetischen ) Subjektivitäts- und Welterfahrung, die sich hier in Abhängigkeit der jeweiligen medienreflexiven Inszenierungszusammenhänge ereignet und dabei vielfach gespalten, überfordert, geöffnet, zerfetzt, delokalisiert und heteronom ist. Bei Wagner muss sich der Künstler im Kunstwerk wiederfinden »wie der vollkommene Mensch sich in der Natur wiederfindet« 91, das Leben ist Unmittelbarkeit, Natur, Notwendigkeit. Das Kunstwerk muss »unmittelbarer Lebensakt« 92 sein. Bei Schlingensief ist das Leben in der Kunst mittelbar, es interferiert mit den Dynamiken der Kunst und Künste und diese stehen wiederum in keinem Unmittelbarkeitsverhältnis gegenüber der Natur. Leben zeigt sich und wird erfahrbar in Abhängigkeit von den ( historisch ausdifferenzierten ) Spezifika und Eigendynamiken der jeweiligen Künste und Medien sowie der von ihnen verarbeiteten Begriffe und Visionen des Lebens. Wagner verneint die Möglichkeit der wissenschaftlichen Figuration und Inskribierung des Lebens. Ihm zufolge ist alles der Natur nachgeordnet.93 Schlingensief hingegen setzt in seinem Spätwerk Szenarien und ästhetische Konstellationen der Existenz, von Leben und Sterben in Szene, die sich in Abhängigkeit von den jeweiligen Künsten und als Kunst zeigen. Zugleich markiert er darin die sozio-historische Prägung und Figuration von Leben, Körper, Krankheit und Sterben, die zuvor mit Jean-Luc Nancy beschrieben wurde, der aber auch Foucault, Butler oder Canguilhem ihre Arbeit gewidmet haben.94 Das Leben zeigt sich hier im Sinne des Kunstwerks der Avantgarden als keinem originären und in diesem Sinne organischen Zusammenhang entsprungen.95 Wie

91 92 93 94

95

Wagner, »Das Kunstwerk der Zukunft« , a.  a. O., S. 13. Ebenda. Ebenda. Siehe hierzu Kap.  II, »Die ( Krebs-)Krankheit als ›das Fremde in mir‹«. Sowie weiter Muhle, Maria, Eine Genealogie der Biopolitik. Zum Begriff des Lebens bei Foucault und Canguilhem, Bielefeld : transcript, 2008; Foucault, Die Geburt der Klinik, a.  a. O.; Nancy, Der Eindringling, a.  a. O.; Canguilhem, Georges, Krankheit – eine Frage der Philosophie, Berlin: Merve, 2004 ; Ders., Das Normale und das Pathologische, hg.  v. Maria Muhle, Berlin: August, 2013. Es sei hier auch an die Projekte der Theateravantgarden, allen voran Antonin Artauds, erinnert, der an einem organlosen Körper auf der Bühne arbeitet; eine Figur, welche

263

264

An- / organisches Leben in der Kunst

Avanessian, Menninghaus und Völker festhalten, ist es gerade Benjamins Allegoriebegriff, der aus historischer Perspektive erstmalig von einem organischen Begriff des Lebens in der Ästhetik abrückt und einen spezifisch ästhetischen Begriff der Lebendigkeit vorbringt, der sich an der Morphologie der Dinge orientiert.96 In der Auseinandersetzung mit der Installation wird deutlich werden, wie ein solcher Begriff von Lebendigkeit, der sich an den Dingen, Formen und Werken selbst ausrichtet, in Schlingensiefs weiterer Werkentwicklung immer bedeutsamer wird. In der Übermalung von Wagners organischem Kunst- und Lebensideal durch Verfahren der Montage, des Readymades und der Collage im Zeichen der Avantgarden findet er in Schlingensiefs Parsifal -Inszenierung seinen Ausgangspunkt. Adorno analysiert, inwiefern Schönberg mit der Tradition des Expressiven, des Ausdrucks eines konstruierten Subjekts und seiner Sentiments und Passionen, wie Schönberg also mit der Jahrhunderte alten symbolischen Ordnung musikalischer Repräsentation bricht.97 Schock, Trauma und Schmerz werden nun allein in den Eigendynamiken des Materials selbst verhandelt und nicht länger durch ein Leitmotiv, eine Leitmelodie oder Narration strukturiert und repräsentiert.98 Nur so gelänge es Schönberg, sich den atonalen Logiken der Realität anzunähern und sie



96

97 98

Gilles Deleuze und Felix Guattari in ihrer Philosophie fortschreiben, um der organischen Funktionslogik zu entkommen. Artaud, Antonin, Das Theater und sein Double, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1979. »Es wird uns langsam klar«, konstatieren Deleuze / Guattari in ihrem anarchisch-epochalem Text Kapitalismus und Schizophrenie, »dass der oK [organlose Körper, S.  R.] keineswegs das Gegenteil der Organe ist. Die Organe sind nicht seine Feinde. Der Feind ist der Organismus. Der oK widersetzt sich nicht den Organen, sondern jener Organisation der Organe, die man Organismus nennt. […] Der Organismus ist keineswegs der Körper, der oK, sondern eine Schicht auf dem oK, das heißt ein Phänomen der Akkumulation, der Gerinnung und der Sedimentierung, die ihm Formen, Funktionen, Verbindungen, dominante und hierarchisierte Organisationen und organisierte Transzendenzen aufzwingt, um daraus eine nützliche Arbeit zu extrahieren. […] Betrachten wir die drei großen Schichten, die uns betreffen, das heißt diejenigen, die uns am direktesten binden, den Organismus, die Signifikanz und die Subjektivierung. Die Oberfläche des Organismus, der Angelpunkt der Signifikanz und der Interpretation, der Punkt der Subjektivierung oder Unterwerfung. Du wirst organisiert, du wirst zum Organismus, du musst deinen Körper gliedern – sonst bist du nur entartet.« Deleuze, Gilles / Guattari, Felix, Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, Berlin: Merve, 1992, S.  218  f. Siehe Avanessian / Menninghaus / Völker, »Einführung«, in: Dies. ( Hg.), Vita aesthetica, a.  a. O., S.  7 ‒11, S.  9. Adorno, Philosophie der neuen Musik, a.  a. O., S.  44. Ebenda.

IV. Im Paradigma der Oper

nicht ideologisch zu verstellen. Damit verhandelt Adorno zufolge die Musik die Differenz zwischen sich und dem realen Schmerz und verklärt sie nicht länger als bruchlos in der Ordnung der Repräsentation.99 Die Frage des Leidens und Schmerzes, die im Zentrum von Parsifal steht und hier maßgeblich christlich-religiös konnotiert ist, übersetzt Schlingensief bereits in seiner Inszenierung primär in eine Materialfrage. Er lotet aus, welche Möglichkeiten der Film, das Bild und die installative Verräumlichung der Materialorganisation haben, um etwas darüber in Erfahrung zu bringen, das zugleich an die jeweilige mediale Spezifik gebunden bleibt. In Kunst und Gemüse, A. Hipler wird diese Tendenz zunächst radikalisiert, durch die autobiografische Umklammerung des Leidenstopos’ in der Protagonistin Angela Jansen, die hier gleichwohl nicht als ›zu Erlösende‹, sondern als eindrucksvolle Fassung von Vitalität und Mortalität in Szene gesetzt wird und in den wuselnden antagonistischen Corpus eingespeist wie daneben aufgestellt wird. Eine materialgebundene Auseinandersetzung mit Leiden, Schmerz, Leben und Sterben, welche tradierte Ordnungen ihrer symbolischen Repräsentation durch- und aufbricht ( wenngleich sie damit spielt ), ist insbesondere für die nachfolgenden Arbeiten Schlingensiefs maßgeblich, die um die eigene Krankheit und das damit verbundene Leiden sowie die Frage nach Erlösung kreisen. Badious Wagner-Lektionen In seinen Fünf Lektionen zum ›Fall ‹Wagner unterzieht Alain Badiou Adornos Negative Dialektik einer Relektüre, um nach der Position Wagners in der Philosophie zu suchen. Zwar geht es in der Negativen Dialektik an keiner Stelle explizit um Wagner und auch kaum um kunsttheoretische Fragen, aber Badiou sieht hierin den philosophischen, systematischen und ethischen Kern von Adornos Wagner-Verständnis und -Aversion und darüber hinaus von dessen Kunstbegriff im Allgemeinen sowie seines Musikbegriffs im Besonderen. Nach Badiou ist es Adornos großes sozialphilosophisches Projekt, eine Argumentation gegen das Identitätsprinzip zu entwickeln, das die Grundannahme des Aufklärungsrationalismus sei, der im deutschen Idealismus auf der Achse Kant / Hegel seinen »spekulativen Höhepunkt« erreicht habe.100 Die Negative Dialektik könne nach Badiou »als gewaltige Streit-

99 100

Ebenda, S.  45. Badiou, Fünf Lektionen zum ›Fall‹ Wagner, a.  a. O., S.  38  ff. Adorno verbinde Kants Kritik der Vernunft mit Hegels dialektischer Negativität, wobei er diese aus ihrer »affirmativen Absolutheit« herauslöse und sie als »rein negative« bewahre. »Es geht also darum, diesen Zusammenhang von Kant und Hegel gleichzeitig zu überwinden und zu bewahren, um

265

266

Badious Wagner-Lektionen

schrift gegen die allgemeinen Konsequenzen des Identitätsprinzips und gleichzeitig als Analyse seiner Funktion innerhalb des westlichen Rationalismus«101 gelesen werden, in der die »Notwendigkeit, die Differenzen zu würdigen, die Achtung der Alterität, das Verbrecherische der identitären Nichtachtung der Unterschiede und das unvermeidliche, gewaltsame Verlangen nach universeller Gleichheit«102 die zentralen Motive seien. Die wesentliche Kritik am Identitätsprinzip ist schließlich die, dass es »zwangsläufig zur Vernichtung des Anderen in der Gestalt des Nationalsozialismus«103 geführt habe, dessen wesentlicher Kern nach Badiou für Adorno das »auf die Spitze getriebene Identitätsprinzip«104 sei. Der Ort der Kunst müsse für Adorno deshalb zugleich ein Nichtort sein, sie sei nur dort lokalisierbar, wo ihr Begriff (noch ) nicht sein kann.105 Eine Ästhetik müsse sich bei Adorno dem Identitätsprinzip ( also auch Begriffen, Konventionen, Gattungen, Erwartungshaltungen ) grundsätzlich entziehen und widersetzen; die »Kunst der Gegenwart, die Musik der Zukunft« bildeten für Adorno das, »was der Identität zu entgehen vermag«106. Dreh- und Angelpunkt einer Ethik und Ästhetik nach Auschwitz sei das Differenzprinzip, »ein Denken des Nichtidentischen oder ein Telos der Nichtidentität, der programmatischen und ethischen Differenz.«107

101 102 103 104 105

106 107

zu einem rein negativen Denken zu gelangen […] [und] auf der Grundlage des Deutschen Idealismus, als dem Höhepunkt der Aufklärung, eine negative Dialektik zu betreiben, die auf neuen Voraussetzungen beruht.« Ebenda, S.  39. Siehe auch Adorno, Theodor W., Negative Dialektik, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 2013, S.  384. Die Philosophie Adornos suche vor dem Hintergrund des Geschichtsbruches Auschwitz nach einem negativen Denken, welche »das kritische Erbe Kants und das dialektische Erbe Hegels aufnimmt, gleichzeitig aber radikal von dem abtrennt, wodurch Auschwitz entstehen konnte, nämlich einer die Rationalität selbst übersteigernden Identitätsbehauptung«. Badiou, Fünf Lektionen zum ›Fall‹ Wagner, a.  a. O., S.  40. Ebenda, S.  40. Ebenda, S 41. Ebenda. Ebenda. Zitat Adorno: »Was anders wäre, hat noch nicht begonnen.« Adorno, Negative Dialektik, a.  a. O., S. 148. Entsprechend geht es in diesem Projekt auch um das Denken des vom Denken unterschiedenen, was sich nach Badiou für Adorno im Leiden ( des Anderen ) offenbare. Vgl. dazu Badiou, Fünf Lektionen zum ›Fall‹ Wagner, a.  a. O., S.  47  f. Ebenda, S.  42. Ebenda, S.  43. Auschwitz steht hier auch als a-Signifikant für das nicht repräsentierbare unendliche Leiden, für das sich die Kunst als nicht in ihr Repräsentiertes und Repräsentierbares offenhalten und das in ihr als Unmöglichkeit der Repräsentation und fundamentale Alterität in der Form selbst zu Bewusstsein gebracht werden müsse. Siehe Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 355 ff.

IV. Im Paradigma der Oper

Was Adorno nun nach Badiou an Wagners Musik, die hier den repräsentativen Kulminationspunkt einer bestimmten Ästhetik darstellt, prinzipiell ablehne und wogegen er anarbeite und anschreibe, sei eine Ästhetik, die nach Vereinheitlichung, nach Form- und Identitätsstiftung, nach Komplettierung und Schließung, nach Verabsolutierung strebe.108  Für Schlingensiefs Wagner-Arbeit allgemein, aber auch für seine Kunst insgesamt ist die Bewegung einer permanenten Öffnung in Richtung dessen, was sie ( noch ) nicht ist, sowie ein reflexiver Einschluss gegenüber dem Ausgeschlossenen, das dabei nicht eliminiert und assimiliert wird, wesentlich. Seine sich auch in Bezug zur Oper ausdifferenzierenden Arbeiten wirken durch eine heterogene und heteronome Ästhetik gekennzeichnet, die sich, im Sinne von Badious Adorno-Lektüre, »direkt gegen Identitätszwang richtet«, die eine ständige »Entvereinheitlichungsoperation« vollzieht, an einer »Konstruktion, die zugleich Destruktion« ist, arbeitet und sich als »formales ›Schaffen‹, das zugleich Abschaffung der Form ist, eine Form, die zugleich Deformation […], also die Bekämpfung des Identitätszwangs« ist, begreifen lässt.109 Hierin findet sich auch die Bewegung der anfangs von Elfriede Jelinek umschriebenen negativen Gattungsästhetik von Schlingensiefs Arbeiten wieder, die sich auf Gattungen, Formen und Institutionen beziehen, aber zugleich nicht in deren Begriffen und Konventionen aufgehen.110 Schließlich lässt sich die Denkbewegung der negativen Dialektik, wie Badiou sie hier fasst, auch auf Schlingensiefs Wagner-Zugriff und seine negative Arbeit am Gesamtkunstwerk beziehen, in der er es öffnet, für das, was es wesentlich nicht ist und kategorial ausschließt. Am Ende seiner Wagner-Lektionen ist Badiou bemüht – und in diesem Bemühen ist er nicht alleine –  , Wagner von der Kritik durch Nietzsche, Lacoue-Labarthe und Adorno und den von ihnen erhobenen Totalitarismus-Vorwürfen freizusprechen. Er liest in Wagners Musik eine Bewegung »gegen die Identitäten«, eine »Spaltung des Subjekts« im unaufhebbaren Konflikt des Leidens, Kompositionen der nicht aufgelösten Differenzen.111   Ob man hier mitgehen möchte oder nicht, sei an diesem Punkt dahingestellt; letztlich wäre diese Frage immer wieder auch an die Musik selbst und damit auch in Zusammenarbeit mit der Musikwissenschaft zu

108

109 110 111

Wenn man in Adornos Schriften selbst liest, so scheinen seine Wagner-Rezeptionen doch noch weitaus differenzierter auszufallen und sich auch nicht in ethischer und ideologischer Kritik zu erschöpfen, vielmehr ist diese eingehend entlang des Materials selbst begründet. Siehe Adorno, Versuch über Wagner, a.  a. O. Sowie Ders., Philosophie der neuen Musik, a.  a. O., z.  B. S.  31, 50, 56. Badiou, Fünf Lektionen zum ›Fall‹ Wagner, a.  a. O., S.  58. Siehe hierzu Einleitung, »negative Gattungsästhetik«. Badiou, Fünf Lektionen zum ›Fall‹ Wagner, a.  a. O., S. 77‒135, S.  92, 96.

267

268

Mea Culpa

stellen sowie in Bezug zu den Brüchen in der neuen Musik des 20. Jahrhunderts zu untersuchen. Wagners Schriften, seine hier niedergelegte Kunst-Philosophie und -Ideologie sprechen eine andere Sprache. Das wiederkehrende Bemühen, Wagners Musik eine dialektische und anti-identitäre Öffnung nachzutragen, belegt zumindest, dass man im ›Fall Wagner‹ stets auch mit einer ideologischen Frage konfrontiert ist. Mea Culpa. Eine »ReadyMadeOper« Franziska Schößler geht dieser Lesart Wagners durch Badiou nach, um sie für Schlingensiefs »ReadyMadeOper« Mea Culpa fruchtbar zu machen, welche Schlingensiefs vorletzte Parsifal -Variation darstellt. Dabei überträgt sie Badious WagnerInterpretation entlang der Relation von Subjekt und Leiden quasi eins zu eins auf die intermediale Ästhetik von Mea Culpa, welche ihr zufolge der Lesart von Wagners Parsifal durch Badiou entspreche.112 Eine durch das Leid verursachte »Fragmentarisierung des Ich«113 sieht Badiou in Wagners Musik eingelassen. Die technisch verfremdete und ›enthumanisierte‹, von Schößler als »monströs« bezeichnete Stimme, wie sie in Mea Culpa zum Einsatz kommt, artikuliert nun ihr nach jene Erfahrung, die Badiou »als Fundament des Wagnerschen Subjektbegriffs deutet : dessen leidendes Subjekt ist auf grundlegende Weise gespalten Sinne einer nicht dialektischen, nicht heilbaren Wunde«, so Schößler.114  Zwar halte ich gerade Schößlers Ausführungen zur Funktion der technisch verfremdeten Stimmen, die in Mea Culpa ein zentrales Inszenierungsmerkmal darstellt, für erhellend, dem im Folgenden weiter nachgegangen werden soll. Es erscheint mir allerdings gerade auch vor dem Hintergrund der hier entfalteten Werkgenealogie, in der Mea Culpa steht, fragwürdig, dass sich die intermediale Gestalt der Arbeit allein durch Badious Wagner-Lektüre verbürgt und der Funktion von Leid und Wunde in Wagners Opern entspricht oder auch deren ›unmittelbarer Ausdruck‹ wäre. Zumal sich Badious Lesart einer gespaltenen Subjektivität im Leiden, die er in Wagners Musik am Werk sieht, komplementär zu den christlichen Implikationen des Wagner’schen Leid- und Mitleidsbegriffs in seinen Musikdramen und besonders im Parsifal verhält.115 So verdeutlicht eine Diskussion zwischen dem Philosophen

112 113 114 115

Schößler, »Intermedialität und ›das fremde in mir‹«, a.  a. O., S. 128. Ebenda. Ebenda. Als solcher entspricht er auch den Einheits- und Gemeinschaftserfahrungen, die Wagner im Kunstwerk der Zukunft als produktionsästhetisch anzusteuernde ästhetische Erfahrungen im Gesamtkunstwerk propagiert.

IV. Im Paradigma der Oper

Kurt Hübner und Dieter Borchmeyer, dass sich der Wagner’sche Leid- und Mitleidsbegriff in dessen Musikdramen, und zwar besonders in Parsifal, auch als durch und durch und christlich hören und lesen lässt.116 Badious im Leiden gespaltenes Subjekt ist gleichfalls christlich konnotiert, wie es als solches auch und gerade in dieser Spaltung im Leiden zu sich und ( im Mitleiden ) zu den Anderen kommen kann. Damit steht es auch keiner ästhetischen Einheit und Vereinigung im Wege, wie sie Wagner etwa im Kunstwerk der Zukunft als höheres Ziel seiner Kunst formuliert. Es ist genau diese Kontrapunktion der Dialektik, die Badiou hier vollzieht, und die letztlich in einer positiven Bestätigung des zu Negierenden mündet, gegen die sich Adorno mit der Negativen Dialektik 117 richtet. Entsprechend würde ich behaupten, dass Schlingensief in Mea Culpa über diese Dualität von Einheit und Spaltung des Subjekts im Leiden grundsätzlich hinausgeht. Darüber hinaus ziehe ich in Zweifel, dass die ganze Arbeit wesentlich um das im Leiden gespaltene Subjekt kreist, sondern ganz unterschiedliche formale und motivische Stränge verhandelt, die entsprechend verschiedene Konstellationen von Subjektivität, Intersubjektivität, Leben und Sterben, Gemeinschaft und Ökologie sowie, korrelierend, von Oper, Theater, Installation und Film immer wieder neu und anders in Szene setzt und damit auch programmatisch in Aussicht stellt. Dies möchte ich im Folgenden auch im Vergleich zu Parsifal und Kunst und Gemüse darlegen. Mea Culpa weist deutliche Bezüge zur Bayreuther Parsifal-Inszenierung auf. Schößler und Claus Philipp verweisen beide darauf, dass sich Mea Culpa als Variation auf Schlingensiefs Parsifal -Inszenierung begreifen lässt. Philipp konstatiert gar, die Arbeit bestünde zu »Dreiviertel aus Versatzstücken«118 aus Parsifal, was in dieser Proportionierung allerdings etwas übertrieben ist. Die so titulierte »ReadyMadeOper« Mea Culpa ist der dritte Teil der Krankheitstrilogie, in der Christoph Schlingensief seine existenziellen Krankheitserfahrungen zum Ausgangspunkt seiner ästhetischen Operationen werden lässt. In vielerlei Hinsicht setzt Mea Culpa thematische wie formale Stränge der beiden vorangegangenen Teile Eine Kirche der Angst vor dem fremden in mir und Der Zwischenstand der Dinge fort und nimmt dabei immer wieder auch Bezug auf frühere Arbeiten. Ebenso wie die beiden vorangegangenen Teile der Trilogie kennzeichnet die Arbeit ein vielschichtiges mul-

116

117

118

»Parsifal – christlich oder buddhistisch? Ein Briefwechsel des Philosophen Kurt Hügner mit Dieter Borchmeyer«, in: wagnerspectrum 1 ( 2008 ), S.  209  ‒ 222. Die Negationsbewegung muss entsprechend immer wieder selbst negiert und geöffnet werden in Richtung dessen, was sie nicht ist und enthält. Adorno, Negative Dialektik, a.  a. O., S. 17. Vgl. Schößler, Franziska, »Intermedialität und ›das Fremde in mir‹« , a.  a. O., S. 117  ‒134, S. 117.

269

270

Mea Culpa

timediales Geflecht und ein komplexes intertextuelles Gefüge. Die expliziten und impliziten Verweise sind zahlreich und liefern den Formen-Rahmen für die theatrale Auseinandersetzung mit den andauernden und fortschreitenden Krankheitserfahrungen Schlingensiefs. Mea Culpa ist in die drei Akte, »Ein Blick aus dem Jenseits ins Diesseits«, »Jenseits der Grenze« und »Blick ins Jenseits« unterteilt, wobei alle drei Akte von sich überlagernden Spiel-, Sing- und Tanzszenen, auf die zudem Film- und Videomaterial projiziert wird, durchzogen sind. Erneut wird hier mit den rituellen und religiösen Bezugsstrukturen der Aufführung gespielt, wenn die »ReadyMadeOper« als Akt der Beichte überschrieben wird, wobei der Geständnisbezug nur implizit und nicht prinzipiell verhandelt wird. Die Titulierung seiner autobiografischen Post-Wagner-Oper als Readymade formuliert programmatisch die Herangehensweise an die Oper als primärem künstlerischen Referenzrahmen im Zeichen der Avantgarden. Noch einmal wird hier explizit auf die künstlerische Strategie im Umgang mit der Oper im Allgemeinen sowie mit Wagner und Wagners Oper im Besonderen rekurriert. Die Oper und ihre werkgeschichtlichen Referenzen innerhalb und außerhalb von Schlingensiefs Werk werden zunächst als Fremdkörper und als in sich geschlossene Artefakte behandelt, die aus ihrem Ursprungskontext herausgelöst werden, der dabei als historisches und institutionelles Sediment zugleich an ihnen haften bleibt. Als solche werden sie nicht a priori dem übrigen Material angeglichen und mit Blick auf eine vorstehende Narration oder ein anderes formales künstlerisches Leitmotiv durchgearbeitet. Denn gerade aus der in der Montagepraxis begründeten Alterität entfaltet sich in Wechselwirkung mit dem übrigen künstlerischen Material eine ästhetische Spannung. In diesem Sinne liest auch Schößler die inter- und multimediale Gestalt von Mea Culpa als eine Komposition »die […] in hohem Maße heterogen und unrein ist ( im Sinne von hybrid  ) – als Gegenentwurf zur vordergründigen Reinheitsobsession der Wagner-Opern –  , die sich mit ihren eigenen Grenzen, ihrer eigenen Andersheit konfrontiert […], die für Desidentifikation und Unreinheit steht und damit dem Anderen, dem Fremden (in mir) einen Ort einräumt«.119 Der besondere Twist ist hier, so möchte ich anfügen, dass Schlingensief  Wagners Oper selbst in der Montage als Alterität erscheinen und erklingen und sie sich dadurch selbst fremd werden lässt. Verstärkt wird in Mea Culpa mit einander abwechselnden SprechtheaterPassagen und Operngesang gearbeitet, der zu einem Großteil aus Wagner-Opern stammt. Die Aufführung ist durch musikalische und klangliche Flächen, Passagen und Szenen bestimmt. Immer wieder werden Arien, Duette und Chorgesang aus Parsifal gesungen, eingespielt und umgedichtet. Sie werden fortlaufend unterbrochen und mit anderen akustischen, visuellen und schauspielerischen Sequenzen

119

Ebenda, S. 131.

IV. Im Paradigma der Oper

verflochten. Noch viel stärker als dies in Eine Kirche der Angst vor dem Fremden der Fall gewesen ist, wird in Mea Culpa auf Wagner konfrontativ variiert, indem die Stimmen immer wieder in technische Verzerrungen geführt werden, die ihnen einen unheimlichen, enthumanisierten Touch verleihen. In dieser interpersonellen und transsubjektiven Zirkulation sieht Schößler die technisch verfremdete Stimme als »Pendant des Krebses als Fremdes im Selbst und als Perforierung identitärer Bedeutungskonstruktionen. […] Die monströse Stimme verweigert sich der Bedeutung, lässt eine Kluft im Selbst spürbar werden und perforiert die Grenze zwischen Leben und Tod.«120 Wie bereits mit Blick auf die Spezifik der Aufführungssituation und des Films, wie er in den Aufführungen zum Einsatz gebracht wird, deutlich wurde,121 versteht es Schlingensief, die Gewissheit der Grenze von Leben und Sterben in medienreflexiven, ästhetischen Szenarien der Instanz des anderen aufzuweichen und zu destabilisieren. Das Krebsgeschwür wird in Mea Culpa als eine trashige Plastik zur Anschauung gebracht, in die der Protagonist einzusteigen, in sie einzutauchen und in ihr zu verschwinden vermag. Der Krebs erscheint »als begehbare Skulptur, als solides Objekt, in das sich der Kranke ›inkorporieren‹ kann, sodass Innen und Außen, Subjekt und Objekt ihren Platz tauschen«122, so noch einmal Schößler. Die Struktur des »Readymades« wird so auch auf die Krankheit angewendet, die als dekontextualisierte und alteritäre entäußerte Gestalt erscheint. Zudem markiert das Readymade und seine unauflösliche Verknüpfung mit seinem ›Erfinder‹ Marcel Duchamp hier einmal mehr die kunsthistorisch programmatische Infragestellung der Originalität und der Instanz des Künstlers und Regisseurs als Urheber und Schöpfer, denn, so Duchamp : »Das Ready-Made wählt Sie, sozusagen. […] Das ist nicht der Akt des Künstlers […].«123 Außerdem werden durch die Etikettierung als »ReadyMadeOper« auch die konstitutiven und multidimensionalen Bezugsstrukturen markiert, welche die Aufführung kennzeichnen. Viele philosophische und künstlerische Referenzen werden für die Aufführung ins Spiel gebracht 124 und

120 121 122 123

124

Ebenda, S. 128. Siehe hierzu Kap.  III. Ebenda, S. 130. Marcel Duchamp zitiert nach dem Programmheft Mea Culpa. Eine ReadyMadeOper, a.  a. O., S.  9  f. Siehe zum Readymade ausführlich Kap.  I, »Die Krankheit als Readymade«. So lautet die programmatische Ankündigung auf den Plakaten im Burgtheater und auf der Rückseite des Programmheftes »MEA CULPA. Ein Blick aus dem Jenseits mit : Christoph Schlingensief, Johann Wolfgang Goethe, Wolfgang Wolter, Jörg Immendorf, Carl Hegemann, Marcel Duchamp, Sheryl Crow, Elfriede Jelinek, Jean-Luc Nancy, Richard Wagner, Slavoj Žižek, Andrea Walds / Veronika Maurer, Leonard Cohen, Paul Thek, Derek Jarman,

271

272

Mea Culpa

führen durch den Abend voller Gedanken über den Tod, das Leben, die Angst, die Krankheit, das Jenseits, die Religion und die Existenz. Auch auf formaler und gestalterischer Ebene nutzt Schlingensief das Sich-in-Bezug-setzen, nutzt er verschiedene Formen und Möglichkeiten der Zitation, Formationen der Übertragung und Parallelisierung ebenso wie die Montage bereits bestehender eigener Arbeiten, aber auch solcher anderer Künstler *innen. So finden sich erneut zahlreiche Elemente der Inszenierung, wie Textpassagen, Lieder, Darsteller *innen, Gestaltungsprinzipien und -strukturen, die bereits in den vorangegangenen zwei Teilen der Trilogie verarbeitet wurden, wieder. Mea Culpa vollzieht nicht mehr so vehement wie die beiden vorangegangenen Teile eine Reflexion des Künstlers auf den Verlauf seines Lebens, in dem dieses von der Kindheit bis zum Tod in unterschiedlichen medialen Szenarien durchgespielt wird. Die Kindheitsfilme tauchen nicht mehr auf, und die autobiografischen Tagebuchpassagen werden nicht mehr vorgetragen, sondern in gekürzten Fassungen als kleine Szenen mit unterschiedlichen Rollen gespielt. Sie wiederholen sich so in transformierter Gestalt als andere Gewordene. Die autobiografische Perspektive fokussiert hier stärker den Prozess der Genesung, die Zeit nach dem Entfernen des Lungenflügels, den szenisch und künstlerisch verfremdeten Aufenthalt in einer ayurvedischen Rehabilitationsklinik sowie den Blick auf die Zukunft, die Pläne für kommende künstlerische Projekte, die von der Aura der Frage, wie die eigene Kunst nach dem Tod des Künstlers weiterleben könnte, bestimmt sind. Ebenso kehren die Diagnoseszenarien und die Selbstmordgedanken, die in den ersten beiden Teilen verhandelt wurden, auf andere Weisen wieder, werden insbesondere als Szenen gespielt, die unmittelbar einsetzen und abrupt durch etwas anderes, wie Projektionen, Singszenen oder andere Spielszenen, die keinen unmittelbaren Anschluss generieren, unterbrochen werden. Auch Afrika als Sehnsuchts- und Arbeitsort spielt in dem biografischen Kontext eine wesentliche Rolle. Während im »Fluxus-Oratorium« erstmals die Äußerung des dort erst im Entstehen begriffenen Gedankens an ein Operndorf in Afrika formuliert wird, als Möglichkeit, den Lebensabend dort zu verbringen, dort zu sterben und zugleich der eigenen Arbeit eine sinnvolle wie sinnliche Essenz zu verleihen und daraus etwas zu bilden, was das persönliche Leben überdauert und über es hinauswirkt, sich mit der Welt verwebt und von ihr weiter gesponnen wird, spielen in Mea Culpa die ersten konkreten Erfahrungen der strategischen Planung des Operndorfes bereits eine wesentlich größere Rolle. Sosehr Schlingensief sich für den Mythos und Wahnsinn ›Deutschland‹ interessiert und sich daran abgearbeitet hat, sosehr hat er sich auch für transkulturelle Fragen interessiert und sich insbesondere mit dem afrikanischen Kontinent in seiner Arbeit (und seinem Bob Flanagan, Boris Groys, Joseph Beuys, Friedrich Nietzsche, Christoph Menke«, auch wenn diese in der Aufführung z.  T. gar nicht explizit vorkommen.

IV. Im Paradigma der Oper

Leben ) befasst.125 In Bayreuth ruft er ein ganzes Arsenal transkultureller Symbole, Körper und Topografien auf, um dem historisch symbolisch aufgeladenen Ort in diese Richtung etwas entgegenzusetzen.126 Die werkgeschichtliche Spur der Verhandlung einer grundsätzlichen Verflechtung von Kulturen, die sich letztlich bis in die Filme zurückverfolgen lässt, wird in Mea Culpa teilweise in direkten Referenzen zu Schlingensiefs Parsifal-Inszenierung aufgegriffen und verhandelt, als Möglichkeit und Hoffnung der Heilung, der Aussöhnung, der Sinnstiftung und des ( auch künstlerischen ) Fortlebens und -wirkens nach dem womöglich nahenden Tode. Sie führt auch szenisch aus den konkreten weltlichen Krankheits- und Heilungserfahrungen heraus. Grundlage für die heterogene und simultane Anordnung der Szenen bildet erneut die Drehbühnenkonstruktion, auf der eine riesige Holzinstallation errichtet wurde, die an das Bühnenbild aus Parsifal erinnert. Das mehrstöckige Gebilde ist aus unbehandelten Holzplatten errichtet und schachtelt zahlreiche nach vorne und ineinander geöffnete Räume ineinander. Sie alle sind einem Turm untergeordnet, der an die Gralsburg aus Schlingensiefs Bayreuther Parsifal -Inszenierung denken lässt. Die jeweils in den Publikumsraum gedrehten Räume sind nur teilweise für das Publikum einsichtig, sodass ihm stets etwas verborgen bleibt und der totale Blick, die Übersicht der perspektivisch ausgerichteten Guckkastenbühne, nicht ermöglicht wird. Die Bühnenbildinstallation127 stellt gleichzeitig Vorder- und Rückseite dar, sie ist nicht illusionistisch abgeschlossen, ihre Konstruktion ist immer sichtbar. Dabei changieren ihre Materialien und Signifikanten zwischen Burg und Wellblechhütte, zwischen Krankenzimmer, Ayurvedaklinik und Atelier. Die Handlungs- und Schauplätze auf der Bühne überlagern sich und changieren beharrlich zwischen Konkretion und Abstraktion. Im Verlauf der Aufführung wird die Drehbühne immer wieder angehalten, wenn sich in bestimmten Räumen einzelne Szenen zutragen, die dann jeden Moment abrupt abreißen und abgedreht werden können. Es gibt keinen einheitlichen Fluss oder keine klare Dominanz einzelner Elemente und Körper, sondern alles erscheint und erklingt immer in einem simultanen multimedialen und -direktionalen ästhetischen Gesamtzusammenhang, der als solcher dennoch nie einheitlich wahrnehmbar ist und keine einheitliche Wirkung

125

126

127

Siehe zum Inter- und Transkulturalismus in Schlingensiefs Opern auch Beyer, »Christoph Schlingensief und die Oper«, a.  a. O., S. 157  ff. Siehe hierzu weiterführend Lehmann, Fabian / Siegert, Nadine / Vierke, Ulf ( Hg.), Art of Wagnis. Christoph Schlingensief ’s Crossing of Wagner and Africa, Wien : Verlag für Moderne Kunst, 2017. Inwiefern die Bühnenraumgestaltung mit und seit Parsifal sich der Installation annähert, siehe im Folgekapitel »Die Installation als ästhetischer Erfahrungsraum der Existenz«.

273

274

Konstellative Existenzen

entfaltet, sondern immer wieder aufgebrochen und zersetzt wird. Während einige Schauspieler *innen eine kleine Sequenz spielen, halten sich andere im Nebenraum auf, agieren an anderen Schauplätzen, in den unterschiedlichen Bühnenparzellen und -orten, die für das Publikum immer nur bedingt einsehbar, visuell und akustisch erfassbar sind. Dabei wird permanent unterschiedliches Filmmaterial auf Flächen, Räume und Körper über und auf der Bühne projiziert, das ebenso nie gänzlich fassbar wird, nie in ›Reinform‹ in Erscheinung tritt, sondern immer schon mit den Materialien, Räumen und Körpern, auf und mit denen es erscheint, als Zusammenhang, als Wechselwirkung, als hybride Form auftaucht. Sie lassen sich dabei weder in ihre Einzelteile zerlegen, auf sie reduzieren und zurückrechnen, noch verschmelzen sie einheitlich mit den übrigen Elementen, sondern sie reiben sich aneinander und treten in wechselseitige, reflexive Spannungsverhältnisse. Gemeinsam evozieren Film- und Videobilder, Musik und Ton, Stimmen und Körper, Text und Sprache, Räume und Bilder eine unendliche ästhetische Situation der Existenz, des Krankseins und Leidens, des Lebens und Sterbens, des Spielens und Hoffens, des Erinnerns und Zweifelns, des Entscheidens und Bestimmtwerdens, des Hellen und des Dunklen, die nicht auf einzelne Akteure oder Akteurinnen beschränkt bleibt, sondern sich als ein permanenter konstellativer Prozess ereignet, der sich im Zusammenkommen und -wirken aller Elemente im Raum realisiert. Dieser erscheint so als potenziell unendliche, unüberblickbare, simultane und heterogene Konstellation der Koexistenz. Konstellative Existenzen Wenn die einzelnen Künste und künstlerischen Praktiken in Schlingensiefs Arbeiten vom »Fluxus-Oratorium« zur »ReadyMadeOper« und weit darüber hinausgehend keine Einheit bilden, zu keiner Symbiose oder Synthese verschmelzen, keine eindeutige Funktion im Gesamtgefüge einnehmen, sondern im Widerstreit zueinander stehen, sich reiben und widersprechen, sich kontrastieren und stören und dabei entsprechende simultane, verschiedenartige, partielle und temporäre Wirkungszusammenhänge eingehen und auslösen, dann korreliert dies auch mit bestimmten Körperbildern und Existenzräumen: Der Körper im »Fluxus-Oratorium« Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir sowie in der »ReadyMadeOper« Mea Culpa ist ein zerstückelter, parzellierter, multipler, der auf keine Einheitlichkeit, keinen ursprünglichen Einheitszustand, keine individuelle Personalisierung zurückzuführen ist. Die Rolle des Kranken und Sterbenden, die autobiografischen Erfahrungen des Künstlers zirkulieren zwischen Schlingensief und den anderen Akteur *innen auf der Bühne; die Frage von Kunst und Existenz wird in der Kunst-, Theater- und Operngeschichte ebenso verwurzelt wie in der Philosophie, sie wird aber auch als Raum- und Bildfrage in Szene gesetzt und auf die Bühne gebracht.

IV. Im Paradigma der Oper

Die Erfahrungen von Schmerz, Angst und Leid trennen sich von einem einheitlichen Ursprungsreferenten und bleiben immer an ihrem jeweiligen Medium haften, erscheinen und erklingen in konstellativen Formen, die in Korrelation zu den jeweiligen medialen Bedingungen stehen, durch die sie realisiert werden. Lunge und Zellen sind hier filmische, medizinische, unheimliche, fremdgewordene Bilder und Bildwelten, die sich mit den anderen Materialien, Körpern, Räumen und Klängen verbinden, ohne ineinander aufzugehen, die sich dabei auch stören und widersprechen, unkalkulierbare und selbstreferenzielle Wechselwirkungen und Zusammenhänge formen und wieder zersetzen. Die verhandelten Subjektivitäten und Kommunitäten entstehen dabei ebenso interpersonell und konstellativ zirkulierend, wie sie in Bruchstücken dinghaft, zeichenhaft sowie symbolisch werden und ihre Materialitäten wechseln können. Das, was dabei etwa im Film zur Erfahrung und Anschauung gebracht wird, kann in Spannung und Widerspruch zu den jeweiligen existenziellen Erfahrungsräumen stehen, welche die übrigen Künste und Medien offenbaren. Der Mensch ist hier kein harmonisches, grundsätzlich einheitliches Wesen, sondern vielmehr ein Mutant, der in seine Umwelt, ihre Objekte, ihre Dingwelten, aber auch die Natur, die Tierwelt usw. eingewoben ist, die ihrerseits nicht für sich alleinstehen, sondern ebenso in diesen heterogenen, ›unreinen‹, unendlich uneinheitlichen Kosmos eingelassen sind. Im folgenden abschließenden Kapitel ( V  ) soll an diese Beobachtung anschließend untersucht werden, wie insbesondere über die Installation Momente einer ›posthumanen Kunst‹ realisiert und so Dimensionen des Eigen- und Nachlebens der Kunst nach dem Tod des Künstlers auf formaler und gattungsbezogener Ebene verhandelt werden. Aus werkgeschichtlicher Perspektive ist Schlingensiefs Beschäftigung mit der Oper und die konkrete Arbeit an der Oper im Kontext seiner Bayreuther ParsifalInszenierung ein zentraler Scheidepunkt, an dem Schlingensief Formen entwickelt, welche zunächst der Bühne zunehmend installativen Charakter verleihen, wie dies etwa für Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir und insbesondere in Mea Culpa beschrieben wurde. Im Folgenden rücken nun die Rolle und Funktion der Installation, die nicht mehr nur auf das Theater beschränkt bleibt, in den Fokus, um zu erörtern, was durch sie schließlich über den Zusammenhang von Kunst, Leben und Sterben, von Kunst und Existenz in Aussicht gestellt wird.

275

V. Die Installation – ein Kunstraum der Existenz. Zum Zusammenwirken   der Künste aus räumlicher Perspektive

»Bayreuth war trotz der ganzen Probleme eine echte Befreiung«, notiert Christoph Schlingensief und umschreibt damit insbesondere einen räumlichen Shift seiner Arbeit, der sich im Anschluss an seine Bayreuther Parsifal -Inszenierung ausdifferenziert und zu einem Verlassen der geschlossenen Theater- und Opernsäle führt. Der Animatograph, so beschreibt er seine auf Parsifal folgenden installativen Arbeiten weiter, »mit der Drehbühne, auf der man rumlaufen konnte, war so was wie eine Umarmung, ein ›Alle-nehmen-teil‹ -Prozess, die Leute, der Film, die Oper, die Musik usw. Raus aus dem Theaterbunker, rein in den Keller oder den Bunker, nur mit dem Unterschied, dass der dann echt war und irgendwo in der Gegend stand – in Island, in Neuhardenberg oder eben in Namibia.« 1 Diese grundsätzliche räumliche Veränderung seiner Arbeit, die Freisetzung der installativen Form selbst, sieht er – auch aus strukturellen Gründen – in seiner Parsifal -Arbeit einsetzen: »Bayreuth war also der Vorabend, die Ursuppe«, schreibt er, »danach konnte sich die Verwandlung ›Zum Raum wird hier die Zeit‹ nicht mehr im geschlossenen Theaterraum vollziehen. Das war schon klar. In Island und Neuhardenberg oder Afrika war der Animatograph als Organismus den kosmischen Strahlungen ausgeliefert. Danach war er so aufgeladen, dass er auch wieder ins Burgtheater gehen konnte.« 2   Im folgenden Kapitel ( V ) möchte ich diese installative Entwicklung in Schlingensiefs Arbeit von Parsifal ausgehend nachvollziehen und dabei untersuchen, inwiefern dieses primär räumliche und installative Ordnungsprinzip seiner späten

1 2

Schlingensief, Ich weiß, ich war’s, a.  a. O., S. 151. Ebenda, S. 151  f.

278

Die Installation

Arbeiten auf eine strukturelle Hinausrechnung seiner Person sowie der Performanz menschlicher Akteure überhaupt hinausläuft. Mit Blick auf die Bühnenraumgestaltung von Parsifal ( ähnlich wie bereits in der ›Vorarbeit‹ Attabambi-Pornoland    ) lässt sich aufgrund von Drehbühne, Materialdichte, Überlagerungen, Schichtungen zunächst einmal eine in der Tendenz eher installativ angelegte Bühnenraumgestaltung konstatieren als eine bühnenbild nerische, eine an einem einheitlich erfassbaren Raumeindruck im Bild ausgerichtete Anordnung. In Parsifal bleibt das installative Organisationsprinzip des Materials auf der Bühne, wie im vorherigen Kapitel ( IV  ) bereits dargelegt wurde, dabei noch auf den Bühnenraum beschränkt. Es realisiert sich noch nicht als Installation, sondern deutet diese an, ohne dass sie schon für das Publikum zugänglich wäre. Entsprechend ist das Material auch noch nicht 360° im Raum angeordnet, sondern auf die Publikumsperspektive gerichtet, aber schon nicht mehr durchgehend und ausschließlich. Ein installativer Charakter des Bühnenraumes avanciert dann allerdings in den auf Parsifal folgenden Arbeiten, den sogenannten Animatographen, zum Leitrahmen. Die Animatographen bezeichnen im engeren Sinn eine Serie ortsspezifischer Installationen, die in drei Editionen zunächst in Reykjavik, dann in Lüderitz in Namibia und schließlich in Neuhardenberg 2005 produziert wurden. Im weiteren Sinne werden von Schlingensief und Jörg van der Horst von Parsifal ( als »Ursuppe« der Animatographen ) bis Mea Culpa all jene Arbeiten als »Animatographen« gefasst 3, für die ein installativer Charakter maßgeblich ist und die sich häufig durch komplexe, multimediale Drehbühnenkonstruktionen und Raumstrukturen innerund außerhalb von Theater- und Opernsälen auszeichnen. Nach der Freisetzung und dem Prozess der Verselbstständigung der installativen Form in den Animatographen-Editionen ereignen sich die Installationen später auch wieder auf dem Theater, sind aber nun deutlich von einer potenziellen ›Autonomwerdung‹ des Materials geprägt, welche sich in den installativen Formaten selbst und, wie hier gezeigt werden soll, in der Bezugnahme auf die bildende Kunst begründet. Wenn Schlingensief im Eingangszitat davon spricht, dass der Animatograph schließlich »als Organismus« so mit »kosmischer Strahlung« aufgeladen gewesen sei, dass er wieder in den geschlossenen und implikationsreichen Theaterraum Einzug halten konnte, bezieht sich dies auf die beiden expliziten, nun den gesamten Theatersaal umfassenden Theaterinstallationen Area 7 ( 2006, Burgtheater Wien ) sowie Kaprow City ( 2006, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz ). Es gilt aber auch für die installativen Züge der späten Arbeiten von Eine Kirche der Angst bis Mea Culpa, die von zentralen Charakteristika der Animatographen nach wie vorgeprägt sind. Für Roman Berka stellt das Display des Bühnenbildes von Eine Kirche der Angst

3

van der Horst, Jörg, »Der Animatograph – eine ›Lebensmaschine‹ von Christoph Schlingen-­ sief«, http://www.schlingensief.com/projekt.php?id=t052&article=theorie , [19 .12. 2018].

V. Die Installation

vor dem Fremden in mir im deutschen Pavillon der Venedig Biennale von 2011 den Höhepunkt dieser Werkentwicklung hin zur Installation dar.4 Die Untersuchung dieses Displays wird auch am Schluss dieses Kapitels zur Rolle und Funktion der Installation in Schlingensiefs Spätwerk stehen. Die bühnenräumliche Gestalt dieser zu installativen Formaten tendierenden Arbeiten zeichnet sich, wie dies in den vorangehenden Kapiteln beschrieben wurde, durch materiale Überlagerungen, multipel geschichtete Bilder und Bildräume, filmische und fotografische Projektionen, Schriftbilder und -tafeln, Körper und Objekte aus, die sich miteinander verweben, sich gegenseitig stören, durch die Rotation der Bühne permanent in Bewegung versetzt werden und sich so immer wieder den Blicken des Publikums entziehen. Die insbesondere im Kontext von Parsifal wuchernden Bühnenbilder und darauf gelagerten Filmprojektionen korrelieren auf visionäre Weise mit Bildmetaphern des Krebses als krankhafte Wucherung des menschlichen Zellgewebes.5   Als solche werden sie in Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir und Mea Culpa dann mithilfe digitaler Bildgebungsverfahren zur Anschauung gebracht und besonders in Mea Culpa auf die gesamte Bühnen-Bild-Raum-Gestaltung übertragen. »Krebs ist eine Krankheit des Wachsens«, schreibt Susan Sontag, »eines abnormen, tödlichen Wachsens.« 6 Auch die vorrangig räumliche Organisation des künstlerischen Materials in Schlingensiefs späten Arbeiten, ihr Installativwerden, korreliert mit der Metaphorik des Krebses: »Metaphorisch gesehen ist Krebs nicht eine Krankheit der Zeit als eine Krankheit oder Pathologie des Raumes. Seine hauptsächlichen Metaphern beziehen sich auf die Topologie ( Krebs ›breitet sich aus‹, ›wuchert‹ oder ›dehnt sich aus‹ ; Geschwülste werden chirurgisch ›entfernt‹)«.7 Doch nicht zuletzt weil die installative Werkentwicklung bereits in der ATTATrilogie in Vorbereitung auf Parsifal und damit vor Schlingensiefs eigentlicher Konfrontation mit der Krebskrankheit ihren Ausgangspunkt nimmt, erschöpft sie sich keineswegs in dieser Analogie zur Topografie von Krebsmetaphern. Sie hat vielmehr grundlegende intermediale Beweggründe, die ihrerseits in Korrelation zu bestimmten Existenzfragen zu begreifen sind und als solche im Folgenden erörtert werden sollen. Werkgenealogisch lässt sich der Schritt zur intermedialen Verräumlichung zunächst formal so beobachten, dass das Material auf der Bühne in der ATTA-

4 5 6 7

Berka, Christoph Schlingensiefs Animatograph, a.  a. O., S. 15  f. Vgl. Sontag, Krankheit als Metapher, a.  a. O., S. 13  ff. Ebenda, S. 15. Ebenda, S. 17.

279

280

Die Installation

Trilogie 8 sukzessive verdichtet und komplexer arrangiert wird.9 Innen- und Außenräume verschachteln sich immer stärker ineinander und entziehen sich zudem durch die Rotation der Bühne wiederholt dem Blick des Publikums. »Man muss den Raum selbst besuchen und zwischen den dort angeordneten Gegenständen

8

9

In ATTA ATTA ( 2003 ) wird das Material noch weitgehend nebeneinander arrangiert: drei Leinwände über der Bühne, wechselnde Dekors auf der Bühne, vom dreiteiligen White Cube, zum elterlichen Wohnzimmer über ein Camping Environment zu einem Dirigententurm, der schon die Gestalt der parsifalschen Gralsburg erahnen lässt. Dagegen erscheinen im dritten Teil der Trilogie, Attabambi-Pornoland, welche direkt vor der Parsifal-Produktion am Zürcher Schauspielhaus zur Uraufführung gebracht wurde, das audiovisuelle Material, die Filme, die Bilder, die Töne, Objekte, Skulpturen, Lichter und Körper auf eine andere Weise miteinander verwoben zu sein, indem sie stärker räumlich geschichtet und überlagert, noch stärker vervielfacht und verdichtet werden, nicht mehr als gerahmtes Bild dem Publikum gegenüber errichtet sind, sodass alle einzelnen Elemente gut sichtbar sind. Sie erscheinen nun eher wie ein Schneckenhaus, spiralförmig konzipiert und in sich hineingedreht. Sie werden dergestalt um die innere Achse in Drehbewegung versetzt, sodass sich vieles dem Blick des Publikums entzieht und stärker wechselseitig auf sich selbst und in selbstbezüglichen räumlichen Modulationen und Dynamiken organisiert zu sein scheint. Die Gesamtkunstwerk-Frage schreibt sich mit Blick auf die Relationalität der Künste in diese Arbeit bereits maßgeblich ein und wird, wie im ersten Kapitel ( I ) ausgeführt, hier in Relation zu den Neoavantgarden und der hiesigen performativen Öffnung der Künste aufeinander verhandelt. Es vollzieht sich hier bereits in der ATTA-Trilogie, in Vorbereitung auf die Parsifal-Inszenierung, die hier schon vielfältig spielerisch antizipiert wird, ein räumlicher Shift hin zu maßgeblich installativ funktionierenden Bühnenräumen. Gerade im Vergleich zu Attabambi-Pornoland verdeutlicht sich in Parsifal das strukturelle Nebeneinander der Künste, das durch die Projektionen und Bildraumgestaltung zunächst als Übereinander erscheint, als Differenz. Mit Bayreuth entsteht auch ein neuer Grad der Monumentalität in Schlingensiefs Arbeit, den aus Kostengründen überhaupt nur noch die Großen Häuser realisieren können. »Erst die technischen Möglichkeiten von Bühne, Licht und Ton von großen Theatern, wie dem Burgtheater, dem Festspielhaus in Bayreuth, und ihre enormen Geldmittel machten die Grenzüberschreitungen in verschiedene Künste auf diesem hohen Niveau möglich«, schreiben Deutsch-Schreiner und Pewny. »In einer Zeitschrift berichtet der Multimediaspezialist des Burgtheaters stolz über den ungeheuren Aufwand und die logistische Herausforderung, die das Burgtheater für Area 7 auf sich nahm : 17 Projektoren, 24 LCD Displays, 28 TV-Geräte, 58 DVD-Player.« Deutsch-Schreiner / Pewny, »›Avant-garde ! Marmelade !‹«, a.  a. O., S.  244. Sowie Ryba, Andreas, »Area 7 – Matthäusexpedition von Christoph Schlingensief. Eine Herausforderung für die Burg«, Prospect 3 ( 2006 ), S. 32‒34, S.  32.

V. Die Installation

spazieren gehen, um all die Videos und Gegenstände genau betrachten zu können wie in einer Installation«10, schreibt Boris Groys über die installative Bühnenraumgestaltung in Schlingensiefs Parsifal. Darum sei der »szenische Raum einerseits eine Einladung, weil man ohne in die Szene einzusteigen, sie auch nicht wahrnehmen kann und andererseits wird man durch die Konvention des materiellen Raumes [ gemeint ist hier die Trennung von Bühnen- und Publikumsraum im tradierten Theater- bzw. Opernsaal, S.  R .] gleichzeitig ausgeladen. Man ist also gleichzeitig ein- und ausgeladen, und es entsteht eine Mischung aus Versprechen und Frustration, die wir Verführung nennen. Denn die Verführung ist nichts anderes als eine Einladung Räume zu besuchen, die sich dann als versperrt erweisen.«11 Während das Publikum in Attabambi-Pornoland, Parsifal und Kunst und Gemüse, A. Hipler, wie Groys es hier beschreibt, rein visuell eingeladen wurde, die BühnenAnimatographen zu erfassen, gerade weil sie sich in ihrer multiplen Schichtung und Verschachtelung einem Überblick entziehen und damit also diese AnimatographenVariationen noch nicht ›real‹ für das Publikum begehbar waren, es noch nicht physisch Teil von ihnen wurde, wird dies mit dem Verlassen der Theater- und Opernsäle und der Verselbständigung der Animatographen in den genannten Editionen nun möglich. Die Besucher *innen können hier ihre Wege und Blickpunkte, ihre dort verbrachte Dauer selbst wählen und werden dabei zugleich selbst Teil der Animatographen. »Betritt der Betrachter die Drehbühne«, so van der Horst, »wird er selbst zur Projektionsfläche, er wird zum integralen Bestandteil des Animatographen und nimmt wahr, wie sich durch die permanente Drehbewegung und die sich überlagernden Projektionen alles in ständiger Veränderung befindet, ›ohne ein Endziel anzuvisieren‹.«12 Eine räumliche Distanz, wie sie von Parsifal bis Mea Culpa durch die räumliche Trennung von Bühne und Publikumsraum strukturiert wird, wird in der Installation potenziell aufgehoben. Arbeiten wie Schlingensiefs Animatographen, die sich außerhalb von Theaterräumen ereignet haben, aber auch die Theaterinstallationen wie Kaprow City oder Area 7, die in Theatersälen zwischen Bühne und Publikumsraum eingerichtet wurden, vermögen diese räumliche Trennung aufzuheben und fordern das Publikum auf, sie zu begehen und entsprechend Distanz und Überblick zu verlieren, nicht mehr alles mitzubekommen und wahrnehmen zu können ( was bereits in den Bühnenbildinstallationen der Fall war ), dabei auch Vereinzelungserfahrungen zu machen, Gefahr zu laufen, sich

10

11 12

Groys, Boris / Hegemann, Carl, »Der erweiterte ›Wir‹-Begriff«, in: http://www. schlingensief.com/projekt.php?id=t044&article=groyshegemann  , [19.  12.  2018  ]. Ebenda. van der Horst, Jörg , »Der Animatograph – eine ›Lebensmaschine‹ von Christoph Schlin­gen­sief«, http://www.schlingensief.com/projekt.php?id=t052&article=theorie  , [19. 12. 2018 ].

281

282

Die Installation

gerade für die ›falsche‹ Stelle, den ›falschen‹ Ort entschieden zu haben und möglicherweise nicht in genau dem Moment an dem Ort zu sein, wo Schlingensief und sein Team auftauchen, wo beispielweise eine filmische Formation sich zeigt, wo ein Tier erscheint etc. Das Installativwerden von Schlingensiefs Arbeiten bedeutet zunächst mal einen räumlichen Shift, der sich in der Komplexität der Materialanordnung selbst begründet. Durch ihn wird es möglich, das Publikum stärker als bei den vorangegangenen Bühnenarbeiten räumlich einzubeziehen und es plastisch Teil der Arbeiten werden zu lassen. Zugleich, so möchte ich im Folgenden darlegen, impliziert dieses Installativwerden auch einen gewissen Grad der ›Verselbständigung‹ der Arbeiten von den beteiligten menschlichen Akteur *innen und öffnet alterierende zeitliche und ko-präsentische Momente des Kunstereignisses und seiner ästhetischen Erfahrung. Der Begriff der Installation13 bezeichnet Raumpraktiken seit den 1960er Jahren vornehmlich aus der bildenden Kunst kommend, in denen das Verhältnis von Objekten und Betrachter*innen neu verhandelt wird. Die Grenzen zwischen Kunstwerk, seinem Ausstellungskontext und -raum, seiner Umwelt und den Betrachter *innen dynamisieren sich. Dabei antizipieren die Installationen produktionsästhetisch, dass ihre ästhetische Erfahrung nun noch stärker abhängig ist von den jeweiligen Bewegungen und Positionen im Raum, welche die Rezipient*innen individuell und in Gemeinschaft vollziehen. Die Animatographen Christoph Schlingensiefs können sich als multimediale, ortsspezifische Installationen einerseits dezidiert als Aufführungen ereignen, bei denen ein Publikum zu einem bestimmten Zeitraum eintrifft und Akteur *innen die Installationen mit ihnen gemeinsam bespielen. Andererseits werden sie aber auch wie Ausstellungsobjekte im Raum installiert und dann individuell von den Ausstellungsbesucher *innen begangen und erfahren. Oder sie drehen sich ganz ohne die Ko-Präsenz menschlicher Akteur *innen – für sich, mit sich und um sich selbst. Bevor im Folgenden untersucht werden wird, inwiefern ausgerechnet die Bayreuther Parsifal-Inszenierung, also die Arbeit an einer Oper und damit einer primär musikalischen Gattung, in Schlingensiefs Werk zur Ausdifferenzierung der aus dem Kontext der bildenden Kunst herrührenden Installation als einer primär räumlichen Praxis geführt hat, sollen die weitreichenden Dimensionen und Implikationen der Installation in und für Schlingensiefs Werk freigelegt und verhandelt werden. Dafür werden zunächst die Animatographen näher vorgestellt, um ein deutliches Bild der Gestalten und Funktionsweisen dieser installativen Arbeiten zu vermitteln.

13

Siehe Stahl, Johannes, »Installation«, in: Butin, Hubertus ( Hg.), DuMonts Begriffslexikon der zeitgenössischen Kunst, Köln: Dumont, 2002, S.  122  ‒126. Weiterführend und aus philosophischer Perspektive: Rebentisch, Ästhetik der Installation, a.  a. O.

V. Die Installation

Schließlich soll gezeigt werden, wie und warum die ›installative Wende‹ in Schlingensiefs Arbeit zudem ein Moment der Abkehr von den menschlichen Akteur *innen, eine ästhetische Hinwendung zu den Objekten und Dingen einerseits, zu anderen Lebewesen und Ökologien der Existenz andererseits hervorruft und damit die Frage nach dem Leben der Kunst nach dem Ableben des Künstlers verhandelt. Animatographen Die erste Realisation des Animatographen, die Island Edition – House of Obsesssion, kam im Mai 2005 durch den Auftrag der Stiftung »Thyssen-Bornemisza Art Contemporary« ( T-B A 21) zustande und wurde im Kunst- und Kulturzentrum »Klink & Bank« in Reykjavik errichtet. Weitere Stationen und Variationen des Animatographen waren Lüderitz in Namibia mit dem Titel Afrika Edition – The African Twintowers ( 09.‒  23. 10. 2005 ) und Neuhardenberg mit dem Titel Odins Parsipark / Götterdämmerung (19. ‒  21. 08. und 26.‒   28. 08. 2005 ).14 Das Fundament der Animatographen bildet der Drehbühnengrund. Auf einem leicht erhöhten Rund, in einem Durchmesser von 3 bis 8 Metern, das durch einen technischen Mechanismus in Rotation versetzt wird, sind verschiedene ineinander verschachtelte und geöffnete Raumparzellen errichtet. Die parzellierten Räume werden durch eine Fülle heterogenen Materials, das von Objekten über menschliche und tierische Körper zu verschiedensten Schriftbildern reicht, sowie mit unterschiedlichen Projektionen bespielt. Mit Blick auf die im Vergleich zum Theater anders ausdifferenzierten Möglichkeiten der Materialmodulation im Ausstellungskontext und gegenüber Schlingensiefs Bayreuther Parsifal radikalisieren sich in den Animatographen Elemente der Verwebung und Schichtung, der Störung und Reibung, der Unübersichtlichkeit und Fragmentierung. Die Größe, die Mehrdimensionalität, das Aufgebot der Künste, die bröckelnde Monumentalität rühren allerdings bereits von Parsifal  her. Insofern die Animatographen formal wie thematisch aus der Arbeit an Parsifal hervorgehen und seine erste Station Island ist, versucht Schlingensief die in Wagners Musikdramen gefeierten germanischen Sagen sowie deren christliche Motive mit unterschiedlichen altisländischen Sagen zu verweben. Später, in der Namibia-Edition, werden sie wiederum mit unterschiedlichen Stoffen und Motiven afrikanischer Naturreligionen konfrontiert.15 Die wagnerianischen Motive kehren also in den einzelnen Animatographen-Editionen wieder und werden durch

14

15

Siehe ausführlich zu den Animatographen sowie zu den einzelnen Editionen: Berka, Christoph Schlingensiefs Animatograph, a.  a. O. Siehe hierzu weiter Berka, Schlingensiefs Animatograph, a.  a. O., S.  32.

283

284

Animatographen

die lokalen Mythen, Stoffe und jeweiligen Gegenwärtigkeiten, mit denen sie hier kollidieren über- und fortgeschrieben. Quasi schon als Teil seiner Installierung und Realisierung unternehmen Schlingensief und sein Team an den jeweiligen Orten des Animatographen Dreharbeiten, in denen diese unterschiedlichen Motive mit den lokalen Topografien interferieren. Das hierbei entstehende Material wird dann in Form multipler Projektionen, die auf das sich drehende Gebilde gebeamt oder auf Bildschirmen wiedergeben, die in den einzelnen Parzellen aufgestellt sind. Die auf die sich drehende Skulptur geworfenen Projektionen bilden hier eine fluide, sich permanent in Bewegung und Transformation befindliche Lichtbildgestalt, die mit dem übrigen Material, den Flächen und Körpern, auf die sie treffen, temporäre Zusammenhänge bilden und wieder auflösen, sodass der Eindruck einer ständig in Bewegung und Veränderung begriffenen, durchlässigen Schichtung der Bild-, Ton und Materialebenen entsteht.16 Entscheidend bei den Animatographen ist, dass sie an die filmische Apparatur angelehnt sind und in ihrer Struktur filmische Mechanismen nachahmen. Wie bereits im Film-Kapitel ( III ) geschildert wurde, werden Drehbühne und die auf ihr generierten wie auf sie projizierten Bilder, Bildräume und -konstellationen in Analogie zum filmischen Bewegungsfluss der Bilder gesetzt. Die Animatographen werden direkt als filmische Maschinen konzeptualisiert und dabei zugleich als »Lebensmaschinen«17 begriffen. Damit wird wiederum eine Brücke zu der historischen Parallelisierung von Film(-Maschine ) und Leben geschlagen, die die Entwicklung des Films seit seinen Anfängen begleitet hat. »Anima« ist die Seele, der Animatograph ein »Seelenscheiber«18. Dementsprechend wird hier ein technisches Medium als ästhetisches Analogon der Sinneserfahrungen und ihrer seelischen Einschreibungen begriffen und gestaltet. Der Animatograph wird mit der Seele verknüpft und vermag, so die Suggestion, ihre Informationen aufzuzeichnen. Zugleich impliziert dieser Mechanismus die Beseelung der Maschine. Damit wird hier erneut ein vitalistisches Moment der Maschine entscheidend, ihr mechanisches Existenzanalogon zentral gemacht. In Anlehnung an Experimentalfilmpraktiken parallelisiert Schlingensief den Animatographen mit dem menschlichen Auge: »Der Animatograph ist kein künstliches Auge, keine Kamera, sondern ein menschliches Sehorgan. Es ist der Betrachter, wie er sich selbst sieht und dabei Spuren hinterlässt, so wie die Bilder Spuren auf unserer Netzhaut hinterlassen.«19 Der

16

17

18 19

Siehe zu den Animatographen auch Seeßlen, Der Filmemacher Christoph Schlingensief, a.  a. O., S. 147  f. Diesen Begriff hat van der Horst geprägt. Vgl. »Der Animatograph – eine ›Lebensmaschine‹«, a.  a. O. Schlingensief zitiert nach Berka, Schlingensiefs Animatograph, a.  a. O., S.  22. Schlingensief zitiert nach ebenda, S.  23.

V. Die Installation

Animatograph aktualisiert zudem eine frühe Filmmaschine, deren Entwicklungsund Begriffsgeschichte auf ihren historischen Kontext und die mechanische Verschränkung von Filmtechnik und Leben verweist. Als »Animatograph« wird einer der ersten Filmprojektoren bezeichnet, der von Robert William Paul entwickelt wurde. Wie Roman Berka ausführt, gilt Paul als einer der wichtigsten Filmpioniere, der zunächst, im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, »wissenschaftliche und elektrische«20 Geräte herstellte.21 Paul entwickelte einen Projektor, den er zuerst »Theatographen« nannte.22 Kurz darauf benannte er ihn um, da ihm diese Bezeichnung »nicht zukunftsweisend genug erschien.« 23 Denn sein Ziel war es nicht, »das alte Theater durch den neuen Film zu reformieren ; sein Ziel war ein medienübergreifender Kulturapparat, der nicht nur auf die statische Bühne, sondern aus den Scheinwelten heraus auf die tatsächliche Weltbühne projizierte.« 24 Also betitelte er die neue filmische Apparatur als »Animatographen.« 25 Schließlich enthalten die Animatographen deutliche Referenzen auf die theaterreformatorischen Projekte unterschiedlicher Theaterpraktiker, von Friedrich Kieslers »Raumbühne« zu Erwin Piscators Drehscheibe-Bühnen mit Filmprojektionen.26 Der Film in seinen unterschiedlichen Ebenen und Erscheinungsweisen gelangt in Schlingensiefs Werk in diesen in Bewegung versetzten, prozessualen Tableaus zu einem neuen Grad der Ausdifferenzierung und Komplexität, ob im Rahmen von Aufführungen auf dem Theater, in der Oper, der Galerie oder den Environments der (nicht primär ) kunstinstitutionell gerahmten Umwelt, wie z.  B. in der Afrika

20 21

22

23 24 25 26

Berka, Schlingensiefs Animatograph, a.  a. O., S.  24. 1894 wurde er mit dem Nachbau des »Edisonschen Kinetoskop« beauftragt, das noch nach dem Guckkastenprinzip funktionierte: Die Filme wurden durch ein Okular in der Apparatur angeschaut. Da Paul und sein Kollege Birt Acres an die aufgrund eines Monopols einzig erhältlichen Filme nicht herankamen, entwickelten sie selbst eine Kamera und drehten damit Filme. Siehe ebenda. Vgl. ebenda. Siehe weiterführend Low, Rachel / Manvell, Roger, The History of the British Film 1896  ‒1906, London: George Allen & Unwin, 1972, S.  23  f.  u. 113; vgl. auch Barnes, John, The Beginnings of Cinema in England 1894  ‒1901, Exeter : University of Exeter Press, 1998. Berka, Schlingensiefs Animatograph, a.  a. O., S.  24. Ebenda. Ebenda. Siehe zum Vergleich zwischen den Animatographen und Friedrich Kieslers Raumbühne: Kovacs, Teresa, »Theater, Raum, Bewegung. Von Kieslers Railway-Theater zu Schlingensiefs Opern-Geisterbahn«, in: Knapp et.  al. ( Hg.), Schlingensief und die Avantgarde, a.  a. O. Sowie weiter zu Kiesler : Lesák, Barbara, Die Kulisse explodiert. Friedrich Kieslers Theaterexperimente und Architekturprojekte 1923  ‒1925, Wien: Löcker, 1988.

285

286

Animatographen

Edition des Animatographen. Der installativ angelegte Bühnenraum ermöglicht den unterschiedlichen filmischen Dimensionen und Phänomenen eine buchstäblich räumliche Entfaltung. Zugleich bewirken sie durch ihre multiplen Gestalten ihrerseits die Ausdifferenzierung des installativen Raumes. Die filmischen Projektionen und Phänomene entziehen sich dabei aufs Deutlichste einem sie vollkommen erfassenden Zugriff und Blick. Sie verschmelzen auch nicht lediglich mit dem Rest der Bühnenräume und -bilder, sondern ko-existieren. Sie dienen nicht lediglich als Requisiten oder Kulissen, die einer bestimmten Darstellung zur Anschauung verhelfen sollen. Die diversen Filmprojektionen vollziehen in ihren auf die verschiedenen Oberflächen, Körper und Räume fallenden Lichtspielen und -partikeln eine Bewegung des Wucherns, in der sie wie Mikroorganismen unter dem Mikroskop erscheinen. Tatsächlich versammeln die Projektionen von Parsifal bis Mea Culpa Bilder menschlicher Zellen, Lungenbläschen oder Aufnahmen einer Herde von Robben, die zu einer wabernden, wuchernden organischen Masse werden; eine überlebensgroße Heuschrecke, welche die Erscheinung des riesigen Bühnenaufbaus der Gralsburg dominiert, rückt die Sphären nichtmenschlichen Lebens überdeutlich ins Licht. »Wenn sich die im Vergleich mit der großen Bildfläche klein erscheinenden Figuren in eine Seehundpopulation einpassen, ist die Grenze zwischen Zwei- und Dreidimensionalität, Skulptur und Bild, zwischen Tier und Mensch aufgehoben« 27, schreibt Franziska Schößler. »Die Projektionen entwirklichen die Bühnengestalten, doch arrangieren sie zu neuen Formationen, zu entgrenzten sozialen Skulpturen, die auch das Nicht-Menschliche integrieren beziehungsweise die Grenze des Menschlichen in die Bilder eintragen« 28, so Schößler weiter. Diese Markierung nichthumaner Lebendigkeit wird in der filmischen Projektion nicht nur als eine organische, sondern auch als eine technische, maschinelle Form der Lebendigkeit in Erscheinung gebracht, die nicht nur menschliches Leben, sondern überhaupt organisches Leben zu überdauern, zu überleben vermag. Damit wird hier ein nichtlinearer, nichtkausaler Zusammenhang der Lebewesen und Phänomene der Lebenswelt angedeutet, der in einen heterogenen Formenpluralismus transferiert wird. Dieser Seinszusammenhang verläuft nicht nur, wie Schlingensief selbst und Autor *innen, die sich darauf beziehen,29 es immer wieder betonen, entlang der von Deleuze und Guattari in die Philosophie des 20.   Jahrhunderts eingetragenen Denk- und ( Un-)Ordnungsfigur des Knollengewächses Rhizom,30 das als Gegenmodell zum tradierten ( angeblich ) linearen Wissensmodell des Baumes fungiert. Die in jenen installativen Tableaus sich

27 28 29 30

Schößler, »Intermedialität und ›das Fremde in mir‹«, a.  a. O., S. 131. Ebenda. Vgl. Berka, Schlingensiefs Animatograph, a.  a. O., S.  31. Deleuze, Gilles / Guattari, Felix, Rhizom, Berlin: Merve, 1977, S.  34  f.

V. Die Installation

durch permanente Rotation ergebenden Ko-Existenzen verschiedenster Lebens-, Bild- und Dingwelten lassen sich darüber hinaus wie eine zeitgenössische Allegorie des Darwin’schen Stammbaums, wie Philipp Sarasin ihn ausdeutet, lesen. Sarasin zufolge zeigt Darwins Stammbaum nicht nur eine Asymmetrie und Kontingenz der Genealogien der Wesen, sondern er ordnet auch den Menschen in die Genealogie der Wesen allgemein ein. Der Mensch erscheint hier als eine Verästelung in der Genese des Lebens wie jede andere auch, die ebenso hätte abbrechen können. Folglich nimmt er hier keine Vormachtstellung oder privilegierte Position ein.31 In den Rotationen der Bühne in Schlingensiefs Arbeiten werden Tiere und Menschen zu skulpturalen Figurationen innerhalb der sich aus der Perspektive des Publikums immer wieder (de-)stabilisierenden Tableaus. Ihr Status erscheint gegenüber den übrigen ästhetischen Objekten und Phänomenen gleichwertig. »Zum Raum wird hier die Zeit« /  Raumkünste und Zeitkünste Wie eingangs geschildert, wird die Bayreuther Parsifal-Inszenierung von Jörg van der Horst sowie von Schlingensief selbst als »Ur-Animatograph« beschrieben. Dabei hat es das Drehbühnenprinzip, die Materialdichte und die Simultanität heterogenen Materials sowie den parallel zum Bühnengeschehen auf der Bühne ablaufenden Film bereits in zahlreichen Arbeiten Schlingensiefs zuvor gegeben. Schon in seiner ersten Theaterarbeit 100 Jahre CDU ist eine kleine Drehbühne errichtet, in Rosebud ( Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, 2001) ist die Drehbühne ein wesentliches Bühnenbildelement, das für fließend wechselnde Dekors, für dynamisierte Bilder und Bildprozesse auf der Bühne sorgt. Wie Berka bemerkt, ist auch die an der Volksbühne produzierte Fernsehtalkshow Talk 2000 (1997  ) ebenso wie ihre Variation Die Piloten. 10 Jahre Talk 2000 ( 2007  ) wesentlich durch die Bewegung einer Drehbühne bestimmt, auf der die Talkgäste Platz nehmen.32 Gleichsam führt der Einsatz der Drehbühne insbesondere in den früheren Theaterarbeiten nicht zu derselben Verdichtung, dem selben Grad der Ausdifferenzierung des ästhetischen Materials und nicht zu einer räumlich sich begründenden materialen Expansion der Arbeiten wie in den späten. »An Häusern wie der Volksbühne Berlin oder dem Burgtheater Wien«, schreibt Berka, »hatte Schlingensief schon auf Drehbühnen inszeniert, auch der Einsatz von Projektionen war dort ein von ihm längst verwende-

31

32

Vgl. Sarasin, Philipp, Darwin und Foucault: Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 2009, S.  37  ff., S.  89  f., S.  94. Darwin, Charles, Die Abstammung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, Leipzig : Reclam, 1995. Vgl. Berka, Schlingensiefs Animatograph, a.  a. O., S.  21.

287

288

Raumkünste und Zeitkünste

tes Stilmittel, dennoch gab der Parsifal seiner Arbeit eine neue Richtung.« 33 Erst die Auseinandersetzung mit der dreidimensionalen räumlichen Expansion der Malerei in den 1960er Jahren in der ATTA-Trilogie 34 sowie deren Verquickung mit dem skizzierten Kontext des Gesamtkunstwerks und stofflichen Motiven der Existenz in Schlingensiefs Bayreuther Parsifal -Inszenierung vermögen die potenzielle Kraft und Qualität der Drehbühne in Schlingensiefs Arbeit gänzlich freizusetzen. Gleichwohl mag es zunächst einmal unwahrscheinlich anmuten, dass ausgerechnet die Arbeit mit und an der Oper den Ausgangspunkt für eine im Wesentlichen räumliche Veränderung in Schlingensiefs Werk liefert. Das ist insofern bemerkenswert, als sich annehmen ließe, dass die Gattung der Oper eine primär musikalische Organisation des künstlerischen Materials erfordere, unter welche die übrigen beteiligten Medien und künstlerischen Praktiken subordiniert würden – gerade so, wie Wagner es in seiner Konzeption des Musikdramas als Medium, in dem sich das »Kunstwerks der Zukunft«, das »große Gesamtkunstwerk« realisieren würde, vorgesehen hatte.35   Erinnert sei an dieser Stelle noch einmal an die Aussage von Groys und Hegemann, Schlingensief veranschauliche in seiner Parsifal -Inszenierung nicht Wagners Musik, sondern würde sie vielmehr als Readymade in einer Installation erfassen.36 Denn hiermit beschreiben sie den grundlegenden Zugriff Schlingensiefs auf Wagners Musik als einen räumlichen. Das avantgardistische Verfahren des Readymades, das auf Wagners Vorlage angewendet wird, realisiert sich primär als installative Form und Praktik. Mit anderen Worten: Die große neue Konstante, die sich mit Parsifal als solche herausbildet und die folgenden Arbeiten strukturiert, ist die primär räumliche Organisation des ästhetischen Materials, das nun in besonderem Maße durch Überlagerungen, Verdichtungen und Wucherungen organisiert wird. »Zum Raum wird hier die Zeit« lautet einer der zentralen formalen wie motivischen Leitsätze aus Parsifal, und er bekommt in Schlingensiefs (  Wagner-)Arbeit eine paradigmatische Funktion. In der zum Raum werdenden Zeit reflektiert sich auch die Verräumlichung der Zeitkunst Film, wie sie sich in Schlingensiefs Arbeiten seit Attabambi Pornoland und mit Parsifal immer wieder ereignet. Figurative

33 34

35 36

Ebenda, S.  21. Roman Berka notiert : »Die Idee zu einem groß angelegten, mehrteiligen Projekt war Christoph Schlingensief im Verlauf seiner Inszenierungen Atta Atta – Die Kunst ist ausgebrochen an der Volksbühne Berlin ( 2003 ) und Bambiland von Elfriede Jelinek am Burgtheater Wien (2003) gekommen und nahm anlässlich der Arbeiten zum Bühnenbild für Richard Wagners Parsifal bei den Bayreuther Festspielen ( 2004 ) Gestalt an.« Berka, Christoph Schlingensiefs Animatograph, a.  a. O., S. 17. Vgl. Kap.  IV, »Das organische Kunstwerk«. Groys / Hegemann, Der erweiterte Wir -Begriff, a.  a. O.

V. Die Installation

Metamorphosen wie die zum Raum werdende Zeit oder der zum Raum werdende Film implizieren einen Kristallisationspunkt intermedialer Transfers, der in der Kunstkomparatistik eine weitreichende Tradition aufweist. Der Film transformiert sich in Schlingensiefs Bühnen- und Rauminstallationen von einem zeitbasierten Medium in eine Raumkunst, bleibt aber zugleich in den Projektionen als Zeitkunst bestehen, da er in seiner transformierten räumlichen Gestalt zugleich auch Strukturen der Zeit, der Dauer und Erfahrung ausgesetzt ist. Die Animatographen als Figurationen der Verräumlichung filmischer Prinzipien in Schlingensiefs Arbeit zu begreifen, heißt auch, sie in einem kunsthistorischen Kontext zu verorten, der für das Zusammenwirken der Künste in seiner Arbeit auf unterschiedliche Weise immer wieder virulent wird. Nach Juliane Rebentisch wird seit den 1970er Jahren die zeitliche Inkongruenz ästhetischer Erfahrung, also die Diskrepanz zwischen der konkreten Dauer einer Theateraufführung , eines Konzerts, einer Lektüre oder eines Films und die Zeitlichkeit ihrer ästhetischen Erfahrung in Zeitschleifen, Stillstellungen, nichtlinearen Intensitäten usw., zum Gegenstand der Kunstproduktion selbst. Dies habe wiederum zur Ausdifferenzierung der Installationskunst bzw. zur »intermediale [n] Annäherung an Prinzipien der Raumkunst« 37 durch die Zeitkünste, wie sie sich in den Animatographen ereignet, geführt. Ich möchte im Folgenden einen kurzen Einblick in den komparatistischen Diskurs der Unterscheidung von Raum- und Zeitkünsten geben, um Schlingensiefs intermediale Strategie hierin verankern zu können. Lessing – Laokoon Die zum Raum werdende Zeit, wie sie sich in Schlingensiefs Arbeiten seit Parsifal darstellt, berührt eine zentrale Frage der kunstkomparatistischen Tradition. Wie Erika Fischer-Lichte darlegt, begründet der antike Dichter Simonides von Keos mit seiner Bestimmung der Malerei als »stumme Poesie« und der Dichtung als »redende Malerei« 38 jene komparatistische Methode, welche »die einzelnen Künste im Hinblick auf ihre spezifische Leistungskraft miteinander« vergleicht und nach den Möglichkeiten und Grenzen fragt, »das mit einer Kunst gegebene Potential [der Welterfassung und -darstellung, S.  R .] auf andere zu übertragen und auf diese Weise die Grenze zwischen den Künsten zu überschreiten.« 39 Lessing knüpft in seinem kanonischen Laokoon-Text an dieses Unterfangen an, trennt dabei allerdings die Künste mit Blick auf deren jeweiliges Raum- und

37 38 39

Rebentisch, Ästhetik der Installation, a.  a. O., S. 151. Fischer-Lichte, »Interart-Ästhetiken«, a.  a. O., S.  25 ‒  42. Ebenda, S.  25.

289

290

Lessing – Laokoon

Zeitverhältnis kategorisch voneinander. Am Beispiel der späthellenischen LaokoonSkulptur ordnet er die Malerei einem räumlichen Darstellungsprinzip zu, da die Zeichen der Malerei simultan im Raum erscheinen. Entsprechend sei es ihre Bestimmung, einen konkreten Moment darzustellen, den von Lessing so bezeichneten »fruchtbaren Augenblick«. Dieser muss so gewählt sein, dass sich sowohl das diesem Moment vorangegangene als auch das ihm nachfolgende in diesem Ausschnitt gleichsam offenbart und sich in der Imagination der Rezipient *in entfalten kann.40   So schreibt Juliane Rebentisch: »Gelungen ist die Raumkunst der Malerei Lessing zufolge nämlich erst dann, wenn das absolut Gleichzeitige sich in seiner Wirkung zur Zeit hin transzendiert, wenn das im Nebeneinander Dargestellte wie ein Handlungsverlauf erscheint, der gewissermaßen den Atem anhält.« 41 Die Poesie hingegen, und darunter fasst Lessing alle darstellenden Künste, kategorisiert er als Zeitkünste, sofern sie ihre Zeichen zeitlich anordnen und entsprechend Handlungen, Handlungsabläufe und fortlaufende Prozesse darzustellen hätten. Den Maßstab bildet dabei aus produktionsästhetischer Sicht die illusionistische Nachahmung der außerkünstlerischen Wirklichkeit. Damit die von den einzelnen Künsten verwendeten Zeichen ein »bequemes« Verhältnis zu den von ihnen dargestellten Gegenständen unterhielten, müssten sie ebensolche Gegenstände darstellen, die ihnen strukturell, d.  h. gemäß der ihnen immanenten Prinzipien von Raum und Zeit, entsprächen. »Gegenstände, die nebeneinander oder deren Teile nebeneinander existieren, heißen Körper« 42, schreibt Lessing. »Folglich sind Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften die eigentlichen Gegenstände der Malerei. Gegenstände, die aufeinander, oder deren Teile aufeinander folgen, heißen überhaupt Handlungen. Folglich sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie« 43, bestimmt er weiter. Erika Fischer-Lichte macht in ihrer Laokoon-Studie deutlich, dass es Lessing in seiner Unterscheidung keineswegs nur um die produktionsästhetische Frage nach dem Verhältnis von Gegenstand und den materialen, medialen und semiotischen Bedingungen der jeweiligen Künste geht, sondern dass darin auch eine wesentliche rezeptionsästhetische Dimension steckt. Die Konzeption der Malerei, darunter fasst er stellvertretend alle bild-ende Kunst 44, als Raumkunst, welche ihre Zeichen als simultanes Nebeneinander ordnet, um entsprechend Gegenstände des Nebeneinander bzw. Körper darzustellen, korreliert mit einem bestimmten menschlichen

40

41 42 43 44

Lessing, Gotthold Ephraim, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei, Stuttgart : Reclam, 1964, S. 115. Rebentisch, Ästhetik der Installation, a.  a. O., S. 147. Lessing, Laokoon, a.  a. O., S. 114. Ebenda. Ebenda, S.  6.

V. Die Installation

Sinnesorgan, nämlich dem Auge, welches nach Lessing auf die Wahrnehmung »des Dinges als Ganzes« 45 zielt. Zwar würden wir, ihm zufolge, in der Situation der Wahrnehmung bzw. der ästhetischen Erfahrung zunächst die einzelnen Teile, dann ihre Verbindung und schließlich das Ganze wahrnehmen. Allerdings verliefen diese unterschiedlichen Stadien so schnell, dass wir sie als einzelne nicht wahrnehmen würden, da die »Schnelligkeit […] unumgänglich notwendig« ist, wenn »wir einen Begriff von dem Ganzen, welcher nichts mehr als das Resultat von den Begriffen der Teile und ihrer Verbindung ist, bekommen sollen.« 46 Seine Konzeption der Poesie 47 als Zeitkunst, welche ihre Zeichen in einer Ordnung des Nacheinander strukturiert, prädestiniert diese entsprechend, Gegenstände des Nacheinanders also Handlungen, darzustellen. Dies korreliert nach Lessing wiederum mit der Wahrnehmungsweise des menschlichen Ohres, welches der gemächlichen und deutlich wahrnehmbaren Sukzession der Wahrnehmung der einzelnen Teile bedürfe. Die akustische Erfahrung als ästhetische Erfahrung der Handlung ereigne sich in und durch die zeitliche Abfolge der einzelnen Teile ( der Handlung  ) und nicht in der Simultanität des Ganzen.48 Fischer-Lichte folgert : »Das heißt, das bequeme Verhältnis, welches die Zeichen zu dem von ihnen Bezeichneten einnehmen sollen, drückt sich auch darin aus, daß das Dargestellte – durch die Art seiner Darstellung – befähigt wird, die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf einen Augenblick zu konzentrieren und auf diese Weise seine Einbildungskraft in Bewegung zu setzten.« 49 Wie Fischer-Lichte weiter mit Bezug auf Lessings Hamburgische Dramaturgie hervorhebt, bestimmt Lessing Kunst hier als diejenige Praxis, welche uns ermöglicht, einzelne Zusammenhänge, Erscheinungen sowie Details zu fokussieren und bewusst wahrzunehmen. »Die Bestimmung der Kunst ist«, so Lessing, »uns in dem Reiche des Schönen dieser Absonderungen zu überheben, uns die Fixierung unserer Aufmerksamkeit zu erleichtern.« 50 Diese Fokussierung in der ästhetischen Erfahrung steht hier im Unterschied zu den unendlichen Zusammenhangsbildungen und unüberblickbaren Prozessualitäten der Natur, deren Mannigfaltigkeit nur »der unendliche Geist« wahrzunehmen in der Lage sei, die aber den menschlichen, den »endlichen Geist« überfordern, welcher künstliche Begrenzungen benötigt und setzen muss, um überhaupt Wahrnehmun-

45 46 47 48 49 50

Fischer-Lichte, »Interart-Ästhetiken«, a.  a. O., S.  28. Lessing, Laokoon, a.  a. O., S. 123. Hier bezieht er sich insbesondere auf mündlich vorgetragene Poesie. Vgl. ebenda, S. 123. Fischer-Lichte, »Interart-Ästhetiken«, a.  a. O., S.  29 f. Lessing, Gotthold, Ephraim, Hamburgische Dramaturgie, 70.  Stück , Stuttgart : Reclam, 1981, S. 361.

291

292

Lessing – Laokoon

gen machen und Unterscheidungen treffen zu können.51 Die Kunst ermöglicht nach Lessing die gewünschte »Absonderung« einzelner »Gegenstände oder der Verbindung einzelner Gegenstände«52, die uns in der Natur so nie in Erscheinung treten würden und für uns so nicht erfahrbar wären. »Ästhetische Erfahrung nimmt in diesem Sinne immer, d.  h. in allen Künsten«, so Fischer-Lichte, »von der Fokussierung der Aufmerksamkeit auf ein Objekt, auf einen Augenblick seinen Ausgang.«53 Damit, so schließt sie, vergleiche Lessing nicht einzelne Merkmale der Künste, sondern untersuche »das jeweilige wechselseitige Bedingungsverhältnis zwischen Materialität, Medialität, Semiotizität und Ästhetizität in den Künsten«54, danach, wie es ästhetische Erfahrung ermöglicht.55 Ähnlich wie Fischer-Lichte es sieht, konstatiert Rebentisch in ihrer LaokoonStudie eine schon bei Lessing implizit angelegte, strukturelle Gemeinsamkeit der von ihm anhand ihres jeweils verschiedenen Raum- und Zeitbezugs abgegrenzten Künste, die in der ästhetischen Erfahrung begründet liegt. Denn was die Raumund die Zeitkunst, die Malerei und die Poesie teilten, sei die Inkongruenz zwischen der erzählten Zeit, der dargestellten Zeit, der Zeit der Erfassung des Gegenstandes und dem seiner ästhetischen Erfahrung. »Die strukturelle Unabschließbarkeit dieses spezifisch ästhetischen Prozesses einer sowohl wechselseitigen Steigerung als auch Bestreitung von Sehen und Hinzudenken«, schreibt Rebentisch, »korrespondierte übrigens nicht zuletzt auch [mit ] Lessings Anspruch an das Kunstwerk, daß dieses dafür da sein solle, ›lange und wiederholtermaßen betrachtet zu werden‹.«56 Die einzelnen Elemente konstituierten sich als solche, »das heißt in ihrer Signifikanz überhaupt nur in einem potentiell endlosen Verweisungsgeschehen, im Prozeß des Ein- und Übergehens in immer neue Zusammenhangsbildungen, in einer

51 52 53 54 55

56

Ebenda. Ebenda. Fischer-Lichte, »Interart-Ästhetiken«, a.  a. O., S.  30. Ebenda. Entsprechend schlägt Fischer-Lichte ästhetische Erfahrung als Ausgangspunkt des Vergleichs der einzelnen Künste vor, die Frage also, durch welches Wechselverhältnis von je spezifischer Materialität, Semiotizität und Medialität ästhetische Erfahrung ermöglicht wird und, in einem zweiten Schritt, wie diese so provozierte und generierte ästhetische Erfahrung beschaffen ist. »Sind es nicht nur historische und kulturelle Bedingungen, die eine je andere Artikulation und Verwirklichung von ästhetischer Erfahrung ermöglichen, sondern auch die verschiedenen Künste und ihre je unterschiedlichen historischen und kulturellen Erscheinungsformen«, formuliert sie vor diesem Hintergrund als für die Kunstkomparatistik relevante Fragen. Fischer-Lichte, »Interart-Ästhetiken«, a.  a. O., S.  31. Rebentisch, Ästhetik der Installation, a.  a. O., S. 149, Herv.  i.  O. Rebentisch zitiert Lessing, Laokoon, a.  a. O., S.  23.

V. Die Installation

intern zeitlich strukturierten Dynamik, die das Kunstwerk ist.« 57  Dabei dürfe diese spezifische Zeitlichkeit weder mit der historischen oder narrativen Zeit noch mit der Dauer des Erfassens des Kunstwerks verwechselt werden. »Denn die Zeitlichkeit, um die es hier geht, bezieht sich auf die prozessuale Verfaßtheit des Kunstwerks selbst, seine Konstitution in den prinzipiell unabschließbaren Prozessen der ästhetischen Erfahrung.« 58 Diese zeitliche Inkongruenz gilt nach Rebentisch für die Raumkünste, die bildende Kunst ebenso wie für die Zeitkünste, die Poesie, die Musik, den Film, die Aufführung, die in den intermedialen und entgrenzenden Kunstpraktiken seit den ausgehenden 1960er Jahren zum Gegenstand der Kunst selbst und zur Ausdifferenzierung der Installationskunst als genuin intermedialer Gattung führe.59 Mit den Animatographen seit Parsifal und ihren Parametern der zum Raum werdenden Zeit, der Verräumlichung des Films als Zeitkunst, vollzieht sich in Schlingensiefs Werk ein intermedialer Transfer im Sinne der Kunstkomparatistik, der Lessings kategoriale Unterscheidung aufgreift wie überschreitet. Bei diesem Transfer künstlerischer Prinzipien und Strukturen allerdings, so erscheint es, werden die Differenzen und jeweiligen Spezifika nicht einfach durchgestrichen, sondern bleiben für das Funktionieren der Arbeiten und ihrer ästhetischen Erfahrung wesentlich.

57 58 59



Rebentisch, Ästhetik der Installation, a.  a. O., S. 150, Herv.  i.  O. Ebenda. In dem künstlerischen Ausagieren der Differenz von Dauer und ästhetischer Erfahrung von Kunstwerken und -ereignissen liest Rebentisch schließlich einen Widerstand gegen »einen objektivistischen Begriff von Kunst und ihrer Erfahrung, gegen den Topos »des synchronen Mitvollzugs.« Ebenda, S. 151. In seiner Theatralitätskritik an der Minimal Art wirft Michael Fried jener vor, sie öffne im Prinzip die bildende Kunst als Raumkunst dem Theater als Zeitkunst, indem sie es nun an die Dauer der Erfahrung der Rezipient*in binde, womit nicht die Zeit der ästhetischen Erfahrung, sondern des Erfassens des Objekts bzw. Kunstwerks gemeint ist. Dagegen hält Fried an der Lessing’schen Bestimmung der Raumkunst fest, welche simultan im Raum erscheint und im Moment des fruchtbaren Augenblicks die epische Dauer zu transzendieren vermag, indem sie diese in einem einzigen Augenblick erscheinen lässt. Dieses Vermögen sieht er durch die Annäherung von Zeit- und Raumkünsten, hier der Raumkunst an die Zeitkunst, gefährdet. Die Bestimmung der Raumkunst im Moment der Augenblicklichkeit ist für ihn schließlich die Bestimmung der Kunst selbst: Alle Kunst, die Kunst sein will, muss sich an das die Zeit transzendierende Prinzip der Raumkunst annähern, das gilt auch für Tanz und Musik. Fried, »Theatralität und Objekthaftigkeit«, a.  a. O., S.  364  ff. Mit ihrer Bestimmung der ästhetischen Erfahrungszeit als ein die lineare Dauer überwindendes Zeitprinzip rettet Rebentisch die Zeitkünste gewissermaßen vor der Fried’schen ›Entkunstung‹.

293

294

Negative Synästhesien

Negative Synästhesien Die Verräumlichung der Zeit sowie der Zeitkünste, die Verräumlichung filmischer, musikalischer, theatraler Prinzipien in den Animatographen sowie ihre Schichtungen, Überlagerungen und Brüche als Arbeit mit nicht linearen, simultanen Handlungsfragmenten korreliert mit der Ausrichtung auf eine anders gefasste Rezipient*innen-Subjektivität und damit auch auf eine andere ästhetische Erfahrung, als Lessing sie im Sinn hatte. Das Transferieren medialer, semiotischer, materialer und medialer Prinzipien einer Kunst bzw. künstlerischen Praktik auf eine andere scheint zugleich eine andere ästhetische Synästhesie zu suchen, in der die Sinnesleistungen einerseits als flexibilisierte adressiert werden und zugleich klare Korrelationen zwischen Sinneswahrnehmung und Materialität, Semiotizität wie Medialität des Kunstwerks irritiert, gestört oder negiert werden. Mit Blick auf die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem, die bei Lessing eine »bequeme Beziehung« zur Ordnung der Rezeption unterhält, zielt die Kunst der ästhetischen Moderne und insbesondere der historischen Avantgarden nicht auf eine harmonische und organische Kunst- und Selbst-Erfahrung ab, sondern vielmehr auf die Irritation und Überforderung der Sinne. Die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem, Medialität, Materialität und Semiotizität wirkt hier nicht (mehr ) reibungsfrei illusionär bzw. ist nicht länger an diesem Ideal ausgerichtet, sondern stellt ihre Unbequemlichkeit, ihre Konflikthaftigkeit und Reibung, ihre ›Verfehlung der Realität‹ in der Darstellung und der hierin sich begründenden selbstreflexiven Hinwendung der Kunst zur Kunst selbst in den Mittelpunkt von Produktion und Rezeption. Diese ›unbequemen‹, dissonanten Relationen, welche die Zeichen zu dem Bezeichneten unterhalten, werden in heterogenen künstlerischen Praktiken des 20. und 21.   Jahrhunderts experimentell ausgelotet. In Schlingensiefs Bühnenräumen, in der Neigung zur installativen ›Verräumlichung‹ seiner Kunst in und seit Attabambi Pornoland gibt es keinen Überblick, kein blitzartiges Nacheinander, das zu einem Nebeneinander, einem Erfassen des Ganzen wird. Viel eher werden die von Rebentisch diagnostizierten unendlichen Bezüge der ästhetischen Erfahrung plastisch nachvollzogen und selbst schon zum Gestaltungsprinzip. Weit eher als eine im Gegensatz zur Unendlichkeit der Verbindungen und Transformationen der Natur begriffene Fokussierung im Sinne Lessings scheinen diese unendlichen Bezüge der ästhetischen Erfahrung in Schlingensiefs Arbeit ein künstlerisches ( wenn auch nicht-organisches ) Analogon zu finden. Ähnliches gilt in der Relation zu Richard Wagners Nachdenken über das Zusammenwirken der Künste im Gesamtkunstwerk, das in der zum Raum werdenden Zeit mitschwingt und in bestimmter Hinsicht die entgegengesetzte Position gegenüber der Lessing’schen einnimmt. »Zum Raum wird hier die Zeit« suggeriert quasi die Aufhebung der klassischen Lessing’schen Unterscheidung von Raum und Zeit und damit korrelierend von Raum- und Zeitkünsten.

V. Die Installation

Die Flexibilisierung medialer und ästhetischer Eigenschaften der Künste kann als wegweisend für Wagners Nachdenken über die klassischen Gattungsgrenzen in der Oper und deren praktischer Aufhebung aufgefasst werden. Doch ist die Abstraktion bestimmter Eigenschaften und Qualitäten, die ursprünglich bestimmten Künsten zugeordnet wurden und ihrer Übertragung als ›organische‹ Elemente, die in dem ›Gesamtorganismus‹ Musikdrama jenseits dieser Gattungsspezifik wirken, um den ›ganzheitlichen Menschen‹ 60 zu erfassen und ihn als solchen erfahrbar werden zu lassen, ganz anders gelagert, als das in Lessings Welt-Kunst-MenschRelation gedacht ist. Ihre Funktionsweise differiert zugleich aber auch gänzlich von ihrem Einsatz in Schlingensiefs Arbeiten. Wagner blickt auf die Spezifika der Einzelkünste, um jene an bestimmte (spekulative ) ›anthropologische‹ Eigenschaften anzuknüpfen und sie so in das Gesamtkunstwerk einfließen zu lassen, dabei ihre Differenzen zugunsten einer großen Einheitserfahrung aufzuheben.61 Entsprechend bestimmt er diese, ähnlich wie Lessing, mit Blick auf die ästhetische Erfahrung, welche sie auszulösen vermögen,62 bindet sie dabei allerdings an bestimmte ›Menschentypen‹ bzw. ›menschliche Vermögen‹ (  Tanz / Leibesmenschen, Musik / Gefühlsmensch, Dichtkunst / Verstandesmensch ) rück, welche sie je auf besondere Weise zu affizieren und anzusprechen vermögen.63 Im Gesamtkunstwerk sollen die einzelnen Einheiten sich nicht mehr als solche bestimmen lassen und nicht mehr in Zuordnung zu einer bestimmten Kunstgattung dechiffrierbar sein, weswegen andere Kategorien gebildet werden. Diese formuliert Wagner als »organische Glieder«64, die in einem konstitutiven Verhältnis des gegenseitigen Sich-Bedingens und -Ergänzens stehen. Damit wird, wie Erika Fischer-Lichte verdeutlicht, bei Wagner auf »jene kleineren Einheiten zurückgegangen […], in die sich die einzelnen Künste zerlegen lassen, wie die Tonfolge, die Gebärde, der sprachliche Ausdruck.« 65 In ihrem Zusammenwirken fusionieren diese Einheiten wiederum zu einzelnen »organischen Gliedern« und sind als differenziale Kategorien nicht mehr wahrnehmbar, sondern transformiert. Wenn die Animatographen das parsifalsche Prinzip »Zum Raum wird hier die Zeit« aufgreifen, und diese Adaption in Schlingensiefs Arbeit und Arbeitsweise einen räumlichen Shift zu evozieren vermag, ist dies ein Anschluss an Wagners Nachdenken über das Zusammenwirken der Künste im Gesamtkunstwerk, das

60

61 62 63 64 65

Wagner, »Das Kunstwerk der Zukunft«, a.  a. O., S.  32 ‒  91. Siehe hierzu auch FischerLichte, »Interart-Ästhetiken«, a.  a. O., S.  34  f. Ebenda, S.  34  f. Ebenda, S.  36. Wagner, »Das Kunstwerk der Zukunft«, a.  a. O., S.  32  ff. Wagner, »Oper und Drama«, a.  a. O., S. 196. Siehe Fischer-Lichte, »Interart-Ästhetiken«, a.  a. O., S.  35.

295

296

Negative Synästhesien

dabei zugleich wesentliche Differenzen beinhaltet. Exemplarisch für Schlingensiefs späte Arbeiten wird in den Animatographen plastisch, wie hier die den einzelnen Künsten klassischer Weise zugeordneten medialen, materialen, semiotischen und ästhetischen Spezifika auf die jeweils anderen künstlerischen Praktiken übertragen werden, um deren Grenzen als ontologische zu verneinen und sie, im Gegenteil, sich wechselseitig erweitern, umschreiben und neu denken zu lassen. Das geschieht etwa, wenn der Film als Zeitkunst einerseits transformiert und als Raumkunst buchstäblich genommen, er in eine mobile und flexible Statik übersetzt und als gestalterische Struktur in ›harte‹ Materialien wie Holz oder Stahl transferiert wird und wenn andererseits seine medialen Spezifika, wie die Transluzidität, die visuelle, nichthaptische Materialität der Projektion sowie sein Vermögen raumzeitlicher Sprünge und Synchronisationen von Asynchronitäten, in den multiplen Film- und Video-Projektionen eingesetzt und ausgespielt werden.66 Das Material der Aufführung wird hier gleichermaßen in der Struktur musikalischer Prinzipien und Ordnungsschemata denkbar wie in bildnerischen, bewegt-bildnerischen und filmischen Figurationen.67 Zugleich schreiben sich in Aufführungs- und Ausstellungssituationen diesseits und jenseits des Theaters dessen historisch und institutionell sedimentierte Funktionsweisen, wie etwa die leibliche Ko-Präsenz, die begrenzte Dauer, die ›Festlichkeit‹, in die Erscheinungs- und Rezeptionsweisen der Arbeiten ein. Anders als bei Wagner und Lessing sind die einzelnen Eigenschaften der Künste so nicht ›an sich‹ bestimmbar, sondern werden immer schon mit Blick auf ihre etwaigen institutionellen Bedingungen und historischen Konventionen ins Spiel gebracht. Bei der Übertragung und Interferenz der jeweiligen künstlerischen Spezifika werden folglich, anders als bei Wagner, nicht die jeweiligen Differenzen verschmolzen und synthetisiert, sondern treten vielmehr als Differenzen und Spezifika zutage. Es handelt sich bei ihnen nicht um ausschließliche, absolute, isolierte Kategorien, sondern vielmehr um Phänomene, die stets in Zusammen-

66 67

Siehe hierzu Kap.  III. Georg Seeßlen beschreibt die grundlegende Flexibilität sowie prinzipielle Inter- und Transmedialität von Schlingensiefs Arbeiten folgendermaßen: »Da geschehen einerseits auf der Leinwand Dinge, die man aus dem Kino kennt, manchmal sogar in Form sehr direkter Zitate, aber sie geschehen auf eine andere Weise, als man sie kennt, oder aber es geschehen Dinge, die man im Kino nicht kennt, aber sie geschehen auf sehr kinematografische Weise«, so Seeßlen. »Und auch das habe ich immer wieder erlebt, dass diese Ästhetik der Öffnung jenen sich am schnellsten erschließt , die zum Beispiel auch in den musikalischen Präferenzen jenseits traditioneller Song-Strukturen zu denken gewohnt sind, in avanciertem Heavy-Metal etwa, oder in Übergängen von der puren Beschleunigung und Reduktion im Punk zu freieren Formen des Post-Punk.« Seeßlen, »Radikale Kunst«, a.  a. O., S.  78. Siehe auch Diederichsen, »Diskursverknappungsbekämpfung«, a.  a. O., S.  67.

V. Die Installation

hangsbildungen, in Interferenzen mit anderen Künsten und Medien in Erscheinung treten und die Gestalt des jeweils anderen mitgestalten. Deshalb geht es nicht wie im Wagner’schen Gesamtkunstwerk darum, die Künste in vermeintlich ›anthropologischer Analogie‹ in kleinere Einheiten zu zerlegen, um diese dann ›organisch‹ miteinander in ›Einklang‹ zu bringen. Die scheinbaren Eigenschaften der einzelnen Künste werden nicht als etwas ihnen Eignendes inszeniert, sondern als etwas Geteiltes und Teilbares, das in dieser Teilung mit Blick auf die jeweilige Materialität, Medialität, Semiotizität und Ästhetizität differenziert und heteronom spezifisch bleibt. Auf unterschiedliche Weise binden Lessing und Wagner ihr Kunst-Ideal an ein organisches. Während Lessing ein analytisch-systematisches Verhältnis von Kunstwerk und /  als Organismus auszubuchstabieren sucht, geht es bei Wagner um eine romantische Konzeption der Einheit von Mensch, Natur und Kunst, die es wiederzufinden gelte. In Schlingensiefs Kunst am Beginn des 21.   Jahrhundert existiert diese organische Relationalität der Künste und der Subjekte nicht länger. Auch fungiert die Natur nicht als Ursprungszusammenhang und idealistische Hintergrundfolie der ästhetischen Operationen. Die Künste operieren vielmehr entlang ihrer jeweiligen Genealogien. Um noch einmal auf Peter Bürgers Unterscheidung zwischen dem klassisch-organischen und dem avantgardistischen Kunstwerk zurückzukommen, kennen die Künste und Phänomene in Schlingensiefs Arbeit keinen ursprünglichen Zusammenhang mehr, so wie auch die korrelierenden Subjektivitäten an keine Einheit gebunden sind, weder mit sich noch mit der Natur. Sie werden in diesem Sinne überhaupt nicht als organische verhandelt, sondern als prinzipiell fragmentarische und konstellative. An die Stelle der Ordnung der Natur treten in Schlingensiefs späten Arbeiten die Ordnungen der Künste, der Medien, der Geschichte, des Sozialen, des Diskurses, die hier gleichwohl auf kunstimmanente Weise verhandelt werden. Die Diffusion und Störung einer Ordnung der Sinne spielt in den Animatographen (und letztlich immer in Schlingensiefs Arbeiten ) auch mit der Unkalkulierbarkeit und Unbeherrschbarkeit des künstlerischen Materials, dessen Wirkung in den Situationen und Konstellationen ästhetischer Erfahrung ›eigensinnig‹ bleibt. Das, was in den Animatographen wahrzunehmen, zu erfahren, zu deuten, zu begreifen, zu sehen, zu hören, zu fühlen und zu assoziieren ist, steht ebenso wenig a priori in der und durch die Werkproduktion fest, wie das Wie dieser Erfahrungsprozesse. Bedeutungen und Wirkungen des Materials können durch das Material und seine Produktion nicht definiert werden. Sie sind gleichwohl nicht willkürlich, sondern wiederum im Material verankert und von den Situationen und Konstellationen ästhetischer Erfahrung sowie durch die jeweilige Gesellschaftlichkeit, Geschichtlichkeit und Individualität der Rezipient*innen geprägt. Nur lassen sich diese Determinanten nicht aufeinander zurückrechnen, gehen nicht ineinander auf, sondern produzieren Überschüsse, ästhetische Überschüsse. So argumentiert

297

298

O’Doherty – Die umgekehrte Räumlichkeit

Juliane Rebentisch, »daß Kunstwerke den rezipierenden Subjekten nur in und durch spezifische Erfahrung der selbstreflexiv-performativen Konstitution von Zusammenhängen zugänglich sind ; eine Erfahrung, die eben deshalb prinzipiell unbeendbar ist, weil solche Zusammenhänge nie durch die Kunstwerke selbst verbürgt werden können.« 68 In ihrer Auseinandersetzung mit Lessings Laokoon-Text macht Rebentisch deutlich, dass die kontingenten, unkalkulierbaren und potenziell unendlichen Zusammenhangsbildungen, die Kunstwerk und Kunstereignis provozieren, deswegen nicht als bloße Projektionen und Imaginationen zu begreifen sind, sondern durch die Materialität der jeweiligen Kunst initiiert und damit auf seine Materialität verwiesen bleiben, »die ihm ( dem Betrachter, S.  R . ) ebenfalls als solche nicht evident ist.« 69 Diese Diffusion und Eigenständigkeit der ästhetischen Erfahrung, in der sich Kunst als Kunst ereignet und die Verfügungsmacht des Künstlers, der Mitwirkenden wie der Rezipient*innen übersteigt, lässt sich in der Arbeit Christoph Schlingensiefs als ein grundlegendes Prinzip der künstlerischen Gestaltung selbst begreifen. Der Animatograph potenziert dieses Prinzip insofern, als er das potenzielle Zurücktreten des Künstlers hinter sein künstlerisches Material durchspielt. Die Wider- und Eigenständigkeit der Kunst gegenüber individuellem Willen und Intentionen wurde zuvor besonders auch im Medium von Schlingensiefs Person und der direkten personellen, verbalen Kommunikation verhandelt, wenn er sich für die jeweiligen sozialen und künstlerischen Situationen geöffnet, sich darinnen auf Spiel gesetzt und ins Spiel gebracht hat. Inwiefern nun das personelle Zurücktreten des Künstlers in den Animatographen in der Genese der Installation selbst begründet liegt und sich so nur in ihr und durch sie ereignen kann, soll nun im Rekurs auf ein geschichtliches Moment der bildenden Kunst sowie die formale Genealogie der Installation mit einigen Ausführungen von Brian O’Doherty und Susan Sontag erhellt werden. O’Doherty – Die umgekehrte Räumlichkeit der modernen Kunst Das systematische Installativwerden in Schlingensiefs Arbeiten korrespondiert nicht nur mit dem parsifalschen Leitsatz »Zum Raum wird hier die Zeit«. Zudem muss für die Analyse dieser werkimmanenten Intermedialitätsstruktur ein weiterer wichtiger Punkt Berücksichtigung finden, der noch einmal zurück zum ersten Kapitel ( I ) und zu den Neo- / Avantgarden führt. Denn vor diesem Hintergrund ist der räumliche Shift in Schlingensiefs Arbeit seit Attabambi Pornoland in Vorbereitung auf Parsifal auch als strukturelle Bezugnahme auf eine räumliche

68 69

Rebentisch, Ästhetik der Installation, a.  a. O., S. 116. Ebenda, S. 149.

V. Die Installation

Entwicklungsgeschichte der Malerei zu begreifen, in der diese sich in den Betrachter *innenraum hinein verlängert und sich mit ihm und in ihm als heterogener, parzellierter, geöffneter Bildraum realisiert. Die Malerei bzw. die bildende Kunst allgemein potenziert damit auf plastische Weise ihre Lessing’ sche Bestimmung als Raumkunst und sprengt zugleich diese kategoriale Bestimmung, indem sie nicht nur Zeitkünste wie Film, Schauspiel, Poesie in sich aufzunehmen vermag, sondern auch das Verhältnis zur Betrachter *in maßgeblich verschiebt. Sie dringt nun physisch in deren Raum ein, kündigt das »bequeme Verhältnis« zum Auge auf, verwehrt ihr den Überblick, das Erfassen des Ganzen, wie Lessing es vorgesehen hatte. In seiner Textsammlung In der weißen Zelle, die drei 1976 in der KunstkritikZeitschrift Artforum publizierte Essays bündelt, befasst sich Brian O’Doherty mit zentralen Paradigmenwechseln der Raumgestaltung der bildenden Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, in deren Genealogie er die zum Zeitpunkt seines Schreibens gerade etablierte Installationskunst verortet. Die Geschichte der modernen Kunst fasst er dabei gewissermaßen als Umkehrung der Verräumlichung des Bildes.70 Der in der Malerei seit etwa der zweiten Hälfte des 19.   Jahrhunderts einsetzende Zusammenbruch der im Zuge der Renaissance etablierten zentralperspektivischen Organisation des Bildes, welche die illusionistische Kreation dreidimensionaler Bildräume ermöglicht, begründet nach O’Doherty zwei zentrale Etappen räumlicher Erneuerungen in der bildenden Kunst. Im Zuge der modernen Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche und der Autonomwerdung und modernistischen Selbstreflexion der Kunst sowie technischer Neuerungen wie der Fotografie, die viel besser in der Lage zu sein scheint, ›Wirklichkeit abzubilden‹, verliere die Malerei ihre Abbildungsfunktion von Relationen außerhalb des Bildes liegender optischer Erscheinungen der Welt. Nachdem die Bilder ihre optische Tiefe, die aus dem realen Raum der Betrachtung und des Bildes hinauszuführen scheint, verlören, entdecke die Malerei der Moderne die ihr spezifische Flächigkeit, die Zweidimensionalität der Leinwand, die sie zunächst zum zentralen Gegenstand von Bildproduktion wie Rezeption werden lasse. Während in der Tafelmalerei des 19. Jahrhunderts der Bildrahmen noch als stabile Grenze fungiere und sich im Bild keine Anzeichen eines ihm vorgelagerten Raums außerhalb des Gemäldes – den Raum der Betrachter *in – befänden, tauchten in der Landschaftsmalerei des 18. und 19.   Jahrhunderts »sporadisch« Hinweise auf diesen Raum außerhalb und vor dem Bild auf. Strenge perspektivische Bildkompositionsweisen würden hier aufgegeben zugunsten einer »mehrdeutige[n] Oberfläche, die nur an einem Element noch, nämlich am Horizont, Halt hat.« 71 Solche Bilder – wie von Courbet bis

70

71

O’Doherty, Brian, »Die weiße Zelle und ihre Vorgänger«, in: Ders., In der weißen Zelle / Inside the White Cube, Berlin: Merve, 1996, S. 7 ‒ 33, S. 16. Ebenda, S. 15.

299

300

O’Doherty – Die umgekehrte Räumlichkeit

Caspar David Friedrich – oszillierten zwischen »unendlicher Tiefe und Flächigkeit und neigen dazu, als Muster gelesen zu werden. Die starke Horizontlinie durchstößt dabei sehr leicht die Begrenzung des Raumes.«72 Der erste konsequente bildräumliche Shift ereignet sich nach O’Doherty dann mit den Impressionisten, die nicht nur ihren Gegenstand ›vernachlässigten‹, ihn nicht mehr exakt nachzuahmen suchten, sondern ihn in einem flüchtigen und subjektiven Eindruck des Vorübergehens darstellten, indem sie die Tiefe des Bildraums in einen »Vorhang aus Farbe«73 hüllten. Diese Entwicklung der modernen Malerei und bildenden Kunst evoziere zudem eine Neujustierung, -positionierung und -aktivierung der Betrachter *innen, deren Ausgangspunkt O’Doherty gleichfalls in der impressionistischen Malerei lokalisiert. Indem hier mit neuen Formen der Flächigkeit des Bildes experimentiert würde, hätten die impressionistischen Bilder ihre Betrachter *innen aufgefordert, ihre Positionen zu verändern und je nach ihren Bewegungen und Blickrichtungen etwas anderes zu sehen.74 »Der Betrachter wurde gezwungen, vor- und zurückzugehen, um einiger Inhaltsbruchstücke teilhaftig zu werden, bevor sie sich auflösten. Das Bild war nicht länger ein passives Objekt, sondern erteilte Anweisungen. […] Fragen des Verhaltens begleiten seitdem die Geschichte der modernen Kunst.«75 Mit dem Einsatz der Collage einige Jahrzehnte später vollzieht sich nach O’Doherty ein weiterer zentraler räumlicher Shift in dem von ihm skizzierten ›Turnover des Bildraumes‹ der modernen Kunst. Denn hier würden nicht nur heterogene ( Bild-)Gegenstände zusammengebracht, sondern der Bildraum dringe nun quasi ›real‹, plastisch-dreidimensional in den Raum der Betrachter *innen ein. »In dem zu engen Raum war es nicht länger möglich, den Bildgegenstand zusammenzuhalten ; die verschiedenen Fluchtpunkte des analytischen Kubismus verteilen sich über den Raum des Betrachters, und sein Blick wandert zwischen ihnen« 76, analysiert er den Schritt von Kubismus zur Collage. »Aus dem Paradies des Illusionismus vertrieben, von der reinen Bildfläche ferngehalten, verstrickt sich der Betrachter zwischen den verwirrenden Anforderungen, die die Moderne an das Sinnesverhalten erhebt« 77, so Doherty weiter über dieses Verhältnis, von dem eben bereits mit Blick auf die Beziehungen der Künste bei Lessing, Wagner, den Avantgarden und Christoph Schlingensief die Rede war. »Der unreine Raum, in dem er

72 73 74

75 76 77

Ebenda, S. 15. O’Doherty, »Das Auge und der Betrachter«, a.  a. O., S.  36. Ebenda, S.  65. Auf gewisse Weise machen sie dadurch bereits die Betrachter *innen auf ihren Akt der Betrachtung aufmerksam und operieren in diesem Sinne theatral. Ebenda, S.  65. Ebenda, S.  37. Ebenda.

V. Die Installation

steht, hat sich radikal verändert. Die Ästhetik des Diskontinuierlichen manifestiert sich in veränderten Raum-Zeit-Verhältnissen: die Autonomie der Teile, der Aufstand der Objekte und die Leerstellen werden zu produktiven Kräften in allen Künsten.«78 In dieser Schilderung steckt schon eine große Schnittmenge von dem, was die so dargestellte Entwicklung der modernen Kunst mit der Ästhetik von Christoph Schlingensiefs ( späten ) Arbeiten allgemein und seinen Installationen im Besonderen gemein hat bzw. worauf diese bezogen und in welcher Genealogie sie zu begreifen sind: die verwirrenden Anforderungen an das Publikum, die Ästhetik des Diskontinuierlichen, die sich ( nicht nur ) in veränderten Raum-Zeit-Verhältnissen manifestiert, die (umgekehrte ) Verräumlichung der Malerei, die Autonomie der Teile im Sinne von Bürgers avantgardistischem Kunstwerk, der Aufstand der Objekte und die Leerstellen als produktive Kräfte. O’Doherty verortet die transatlantische Ausdifferenzierung der Installationskunst in den 1960er Jahren entlang dieser Entwicklungsgeschichte vom Bruch der tradierten perspektivisch-illusionistischen Bild-Raum-Konzeption und der Reflexion auf das primäre künstlerische Material ( Leinwand, Farbe, Pinsel ), der hiermit verknüpften ( gestischen ) Arbeit an der Zweidimensionalität und Flächigkeit des Bildes, der damit einhergehenden Neujustierung und -positionierung der Betrachter *in und schließlich des konkreten ( physischen ) Eintritts des Bildes in den Raum der Betrachter *in und des konkreten Einbezugs der Betrachter *in sowie des Raumes, der sie beide einschließt und zusammenführt. Die frühen Installationen, Environments, Happenings, Collagen und Tableaus von Künstler *innen wie z.  B. Lucas Samaras ( Bedroom, 1964 ), Edward Kienholz (The Beanery, 1965 ), John de Andrea (Installation, 1974 ) oder diverse Arbeiten von Allan Kaprow, in denen Spannungsverhältnisse zwischen lebendigen Körpern als Ausstellungsobjekte und -subjekte und den Körpern ihrer Rezipient*innen virulent würden, ließen die Betrachter *innen selbst zu »einer Art von Collage« bzw. Teil solcher Collagen werden, »indem sie [sie] über das Innere des Geschehens verteilten.« 79 Die Betrachter *innen begreift O’Doherty in diesem kunsträumlichen Kontext als lebendige Ausdehnungen der Collage in ihren ›eigenen‹, ihnen dabei ›uneigen‹ gewordenen Raum hinein.80

78 79 80

Ebenda. Ebenda, S.  50. Als frühen Vorläufer, der sich als Installationskunst, Environments, Happenings etc. herausbildenden Kunstpraktiken der 1960er und 70er Jahre, sieht er schließlich Kurt Schwitters »Merzbau« (1923  ‒1943 ), dessen räumliche Struktur er so beschreibt, dass sich auch hier Assoziationen zu den Räumen der Bühneninstallationen und Animatographen seit Parsifal von Christoph Schlingensief aufdrängen. »Der Merzbau hat etwas vom Eingerollten eines Schneckenhauses an sich. Sein Konzept förderte eine Form von Verschrobenheit,

301

302

Rotierende Tableaus

Rotierende Tableaus und eine künstliche Ökologie des Nebeneinanders Die Drehbühnen von Attabambi-Pornoland, Parsifal, Kunst und Gemüse, A. Hipler sowie den Animatographen bilden vielschichtige in Rotation versetzte Tableaus, voller heterogener Materialen, diverser filmischer und digitaler Projektionen, in denen häufig Menschen, ob als mitspielende oder stumm dastehende Akteur *innen, mit dem Ein- und Abdrehen der Bühne als Teil dieses Materialkosmos in Erscheinung treten. Wie zuvor bereits in Parsifal, taucht auf diese Weise in Kunst und Gemüse, A. Hipler eine beleibte, nackte Frau auf und verschwindet wieder. Wie auf dem übrigen Material reflektieren auf ihrem Körper die Projektionen. Auch Tiere, wie z.  B. ein Huhn im Käfig und ein angeleinter Esel, werden auf diesen Bühnen ein- und abgedreht, in sie hineinmontiert, während sich die Montage vor unseren Augen als Fluss der Bewegung des Raumes darstellt. Dabei erfüllen diese animalischen Protagonisten keine weitere narrative Funktion, sind in keinen erzählerischen Strang oder übrigen Handlungsvollzug auf der Bühne eingebunden. Sie erscheinen hier vielmehr gemeinsam mit dem übrigen Material in einem dreidimensionalen Bild-Raum, der permanent in Bewegung wie Veränderung begriffen ist, und bilden so lebendige Bild-Räume und temporäre Tableaus auf der Bühne. »Die Integration der Figuren in die Bilder, in die Projektionen führt zu skulpturalen Neukonstellierungen nicht nur mit anderen Menschen, sondern auch mit Dingen und Tieren«, notiert Franziska Schößler mit Blick auf die vielfachen Bühnenprojektionen seit Parsifal.81  Diese Erscheinungsweisen in Zusammenhang mit dem übrigen Material, Objekten, Schriftzügen, Gestellen, Projektionen und anderen Akteur *innen kommunizieren eine Gleichrangigkeit, eine Ordnung des Neben-, Über- und Miteinander des Seins und Erscheinens. Darinnen treten sie aber nicht als demselben Ordnungsprinzip Zugehörige auf, gleichen sich weder aneinander an noch werden sie einander angeglichen. Sie werden keinem übergeordneten Sinn untergeordnet, wirken nicht füreinander und für die Umwelt durchlässig, verstehbar, kommensurabel, sondern zugleich in sich geschlossen, rätselhaft, differenziell, unbestimmt, widerständig. Dabei findet diese Form der Materialgestaltung, das Collagieren heterogenen Materials, das nicht per se durch einen übergeordneten Darstellungszweck füreinander durchdrungen und aufeinander abgestimmt wird,

81

die einige Besucher indirekt feststellten, indem sie einen Mangel an Exzentrik hervorhoben. Seine dialektische Grundstruktur, die sich zwischen Dada und Konstruktivismus, Struktur und Erfahrung, Organik und Archäologie, Stadt und Innenraum bewegt, hat ein theoretisches Zentrum, das sich mit dem Begriff Transformation-Verwandlung umschreiben läßt.« Ebenda, S.  47, Herv.  i.  O. Schößler, »Intermedialität und ›das Fremde in mir‹«, a.  a. O., S. 131.

V. Die Installation

einerseits ihren Ausgangspunkt in der mit O’Doherty skizzierten Entwicklung der bildenden Kunst seit den ausgehenden 1950er Jahren, und andererseits deutet sie auf eine künstlerische Ökologie, in der Menschen, Dinge und Tiere in ihrem Status als ›autonomes‹ Material gemeinsam erscheinen.82 Während das Tableau vivant 83 seit dem 18.  Jahrhundert im Theater »prägnante Momente« der Aufführung markiert und als eine Schnittstelle im Sinne Lessings zwischen der gesprochenen Poesie als Zeitkunst, dem Schauspiel als »transitorische Malerei« 84 und der Malerei »als Abbildung einer im Moment des fruchtbaren Augenblicks anhaltenden Szene« 85 fungiert, sind die Schlingensief ’schen Tableau vivants nicht den Ökonomien der Narration, der Imagniation oder der Dramatik untergeordnet, sondern evozieren vielmehr in ihren Erscheinungsweisen einen heterogenen, künstlerischen und kunstspezifischen Erfahrungsraum von ( Um-)Welt und Existenz, der nicht allein auf die menschliche beschränkt bleibt. Die künstlerische wie kunstreflexive Auseinandersetzung mit den Beziehungsförmigkeiten der Künste und Medien läuft in Schlingensiefs Arbeit, wie erörtert wurde, über eine Reflexion auf die bildende Kunst und ihre Geschichte der Entgrenzung und Loslösung von Gattungsdefinitionen und Darstellungskonventionen. In den unterschiedlichen Figurationen des differenziellen und teils auch dialektischen Ineinanderwebens verschiedener künstlerischer Praktiken und ästhetischer Wahrnehmungsfelder in den attaistischen Arbeiten stehen die Beziehungsförmigkeiten von Bild und Bühne, von bildender Kunst und Aufführung, von Kunst als Aufführung und Theater als Praxis bildender Kunst im Fokus. Auf diese Weise differenziert sich die plastische Skulpturalität der ästhetischen Wirkungszusammenhänge in den späten Arbeiten heraus. Die Auseinandersetzung wird als eine Raumfrage inszeniert, die immanent auf das Publikum bezogen ist. Wie bereits erläutert wurde, wirft Michael Fried der Minimal Art als historischem Einsatzpunkt der Installationskunst in seiner kanonischen Theatralitätskritik 86 vor, sie würde Autonomie und Integrität des Kunstwerks verraten, indem sie es konstitutiv an die Erfahrung und Handlung des Publikums, der Reziptient*innen ausliefere 87 und damit auch kein Kunstwerk im klassischen Sinn mehr sei. In

82

83

84 85 86

87

Siehe zu Künsten und Ökologie Hahn, Daniela / Fischer-Lichte, Erika ( Hg.), Ökologie und die Künste, Paderborn: Fink, 2015. Siehe ausführlich zum Tableau vivant, Brandl-Risi, Bettina, Tableaux vivants zwischen bildender Kunst, Theater und Literatur im 19. Jahrhundert, Freiburg i.  Br.: Rombach, 2013. Lessing, Hamburgische Dramaturgie, a.  a. O., 5.  Stück, S.  37. Fischer-Lichte, »Interart-Ästhetiken«, a.  a. O., S.  32. Fried, »Theatralität und Objekthaftigkeit, a.  a. O. Siehe zu einer ausführlichen Auseinander­ setzung mit Frieds Theatralitätskritik Rebentisch, Ästhetik der Installation, a.  a. O., S.  25 ‒ 81. Fried, »Theatralität und Objekthaftigkeit«, a.  a. O., S.  359  f.

303

304

Rotierende Tableaus

Schlingensiefs Arbeit zieht dagegen mit der Installation nicht nur das räumlichphysische Zuteilwerden des Publikums gegenüber den Arbeiten ein. Sie markiert hier zugleich, so meine These, den Einsatzpunkt einer hermetischen Dimension der Arbeiten sowie eine ›Autonomie‹ und Widerständigkeit des Materials gegenüber den menschlichen Akteur *innen und Rezipient*innen, die wiederum aus dem Kontext der bildenden Kunst herrühren. Die Spezifität der Schlingensief ’schen Installationen entfaltet sich gerade in einem Spannungsverhältnis von Einbeziehung und Abweisung, von Performativität, ›Inklusion‹ und Hermetik. Der Aspekt des Ausschlusses des Publikums wie teilweise auch der Akteur *innen auf der Bühne, denen hier auch Blick- und Bewegungsmöglichkeiten verstellt werden, scheint mir wesentlich für das installative Moment von Schlingensiefs Arbeiten diesseits und jenseits der Bühne zu sein. In jenen Arbeiten, die tatsächlich begehbar sind, wie die Animatographen, die filmische Installation 18 Bilder pro Sekunde im Haus der Kunst in München oder auch die Theaterrauminstallation Area 7, können die Zuschauer *innen sich zwar flexibel bewegen, die Perspektive selbst stärker selektieren, wodurch die individuelle Variation ihrer ästhetischen Erfahrung in den Vordergrund tritt – dennoch bleiben ihnen einzelne Teile, Objekte, Materialien, Projektionen, Klänge, Konstellationen verschlossen, zeigen sich ihnen gar nicht, existieren für sie nicht, existieren so ›für sich‹. Dieses Moment von Abweisung und Verschließung der Installationen und ihres Materials gegenüber den Betrachter *innen beschreibt O’Doherty mit Blick auf die Installationen des Künstlers George Segal und setzt es in Bezug zu einer Todesnähe der Arbeiten. »Der Betrachter eines Tableaus fühlt, daß er irgendwie nicht dazu gehört« 88, schreibt O’Doherty. »Am deutlichsten wird das bei Segal. Seine Objekte weisen Spuren früheren Gebrauchs auf […] Ihre Vertrautheit wird durch den Kontext der Galerie und durch die Art und Weise, wie die Gipsfiguren von ihnen Besitz ergreifen, verfremdet. […] Weil das Environment schon besetzt ist, ist auch unsere Beziehung zu ihm durch die Figuren schon teilweise voreingenommen, durch Figuren, welchen der letzte Funken Leben entzogen worden ist. Schon durch ihre Machart weisen sie sich als Simulakren der Lebenden aus, und sie ignorieren uns mit der irritierenden Gleichgültigkeit der Toten.« 89 Diese Spielart der Installation, in der die Betrachter *innen sich zwar bewegen, räumlich Teil von ihr werden können, zugleich aber durch deren objekthafte Renitenz ausgeschlossen und abgewiesen werden, sowie die Todesnähe der Arbeiten und ihr struktureller Abgesang auf organisches Leben erscheinen für Schlingensiefs Arbeit besonders mit Blick auf ihren Ausgang signifikant. Als solche soll sie nachfolgend in diesen Zusammenhängen in den Blick genommen werden. Dafür lohnt es sich,

88 89

O’Doherty, In der weißen Zelle, a.  a. O., S.  55  f. Ebenda, S.  55  f.

V. Die Installation

eine weitere historische kunsttheoretische Position zur strukturellen räumlichen Expansion der Malerei sowie der Performativierung der bildenden Kunst, ihrer häufig als solche rezipierte Annäherung an Prinzipien des Theaters bzw. der Situation der Aufführung in den 1960er Jahren aufzugreifen, die ein etwas anderes Licht auf diese Situation wirft. Hier wird noch einmal verdeutlicht, inwiefern sich das Installativ- und Performativwerden der bildenden Kunst nicht nur als ein Impuls der Verlebendigung des Materials begreifen lässt, sondern auch als eine Materialwerdung menschlichen und überhaupt organischen Lebens, dessen privilegierter Status ins Wanken gerät, indem eine alternierende ›Lebendigkeit‹ des Materials gleich- und gegenübergestellt wird. Hiermit kann nun im Anschluss an die im ersten Kapitel ( I ) erörterte Rolle und Funktion der Neo- / Avantgarden in Schlingensiefs Arbeit mit Blick auf das Installativwerden seit und mit Parsifal noch eine neue Dimension hinzugefügt werden, was den Einzug der bildenden Kunst in sein Werk anbelangt. In diesem Bezug geht es nicht mehr nur um die Emphase des Aufführungscharakters der bildenden Kunst und damit auch der Aufwertung der ( Ko-) Präsenz menschlicher Akteur *innen darinnen, einer von kritischer Seite postulierten etwaigen ›Humanisierung‹. Vielmehr lässt sich nun auch die Abwendung der Produktion und Aufführungssituation von den menschlichen Akteur *innen in Schlingensiefs Werk in dem strukturellen Bezug der Arbeiten zur bildenden Kunst verankern. Sontag – Kunst des Radikalen Nebeneinanders In ihrer Auseinandersetzung mit dem zu diesem Zeitpunkt scheinbar noch kategorielosen, nicht als eigenständiges Genre ausdifferenzierten Phänomen des Happenings notiert Susan Sontag einige Merkmale, die Schlingensiefs Animatographen in einer bestimmten strukturellen Verwandtschaftsbeziehung zum Happening erscheinen lassen.90 Das Happening setzt Sontag wiederum in Relation zu der US-amerikanischen Malerei der ausgehenden 1950er Jahre, wie sie in dem künstlerischen und kunsthistorischen Reenactment in ATTA ATTA. Die Kunst ist ausgebrochen in Schlingensiefs Arbeit referenziert wird.91 Wenn die Verwandtschaftsbeziehung der Animatographen zum Happening nicht sogleich ins Auge fallen mag, so gibt Schlingensief, indem er die vorerst letzte Station des Animatographen im Theatersaal der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-

90

91

Siehe zu den folgenden Ausführungen: Sontag, Susan, »Happenings. Die Kunst des radikalen Nebeneinanders«, in: Dies., Geist als Leidenschaft. Ausgewählte Essays zur modernen Kunst und Kultur, Leipzig / Weimar: Kiepenheuer, 1989, S.  73 ‒ 85. Siehe hierzu Kap.  I, »ATTA ATTA«.

305

306

Sontag – Kunst des Radikalen Nebeneinanders

Platz als Kaprow City ( 2006  ) betitelt, selbst explizit diesen Hinweis. Er weist den Animatographen dadurch als Reminiszenz an die Arbeit Alan Kaprows aus, der als Gründungsfigur des Happenings gilt, und auf deren Erfahrung sich Sontag in ihrem Aufsatz Happenings. Die Kunst des radikalen Nebeneinanders bezieht. Das Happening ist nach Sontag strukturell mit dem Theater ebenso verwandt wie mit der Malerei.92 In ihm ließe sich ein starker Materialfokus erkennen, der sich aus der Malerei und der bildenden Kunst allgemein herleite.93 Dieses Material, häufig Abfälle der modernen Großstadt, würden in scheinbar kontingenter Weise angehäuft, der jeweilige Raum mit ihm geradezu überfüllt ; es habe keinen festen, vorherbestimmten, durch Konventionen gesicherten Platz und kehre hier als sich selbst fremd gewordenes Material wieder, das, seiner herkömmlichen Funktionalität entledigt, auf alteritäre Weise erfahrbar würde.94 Es gibt nach Sontag keine hierarchische Ordnung zwischen Körpern, Kostümen, Kulisse, Narration,95 sondern ein gleichberechtigtes, diffuses Nebeneinander, wie ich es zuvor mit Blick auf die Materialordnungen in den unterschiedlichen Animatographen beschrieben habe. Somit käme, so Sontag weiter, dem Material ein gleichwertiger Status wie den Akteur *innen zu. Menschen, Akteur *innen wie Publikum, würden im Happening häufig so eingesetzt und ausstaffiert, dass sie wie Gegenstände wirkten.96 Nicht nur würde das Publikum häufig durch Materialgebrauch und -anordnung provoziert, sondern ihm würde dadurch auch jegliche Möglichkeit des Überblicks und (narrativen ) Durchblicks verwehrt.97 Die Abwendung der Geschehnisse vom Publikum in der Zuwendung zum übrigen Material und deren nicht-hierarchische Juxtaposition wertet Sontag als strukturellen Zug der bildenden Kunst, hier der Malerei.98 Sontags Lesart des Happenings als Attackierung des Publikums und Negation seiner Vormachtstellung durch die gleichberechtigte Nebeneinanderstellung mit dem übrigen Material entspricht dabei gerade nicht der verbreiteten Rezeptionsweise des Happenings als Einsatzpunkt der frenetischen Feier der Präsenz der Zuschauer *in oder Betrachter *in in der bildenden Kunst. Insofern sie die Happenings als »lebende Bilder, lebende Collagen« begreift, die darin in unverkennbarer Beziehung zu der ihnen unmittelbar vorangegangenen Malerei der 50er Jahre in den USA stünden, kommt Sontag schließlich zur Bestimmung einer ganz

92 93 94

95 96 97 98

Sontag, »Happenings«, a.  a. O., S.  74. Ebenda. Ebenda, S.  74. Dieses Prinzip ähnelt der Transformation der Objekte im und als Readymade, wie sie zuvor mit Rebentisch beschrieben wurde. Ebenda, S.  78. Ebenda, S.  74  f., S.  77  f. Ebenda, S.  75. Ebenda, S.  77.

V. Die Installation

ähnlichen immanenten Entwicklung der bildenden Kunst wie Brian O’Doherty. Andere Materialien als bloß Farbpigmente, die zunächst noch auf der Leinwand haften geblieben seien und dann in den Raum hereinragen würden, seien hier in die Malerei eingeführt worden.99 Die Tendenz der Malerei, sich in den Raum hinein zu projizieren, werde durch das Happening nun gänzlich eingelöst.100 Bezogen auf Christoph Schlingensiefs Arbeit und seine Referenzierung der Entwicklungen der bildenden Kunst seit den ausgehenden 1950er Jahren (insbesondere in Westeuropa und den USA ) mit der ATTA-Trilogie, die die Entwicklung zu den Animatographen bedingt und ermöglicht, verstärkt Sontags Lektüre des Happenings die zuvor dargelegte These von der tendenziellen Abkehr gegenüber den menschlichen Akteur *innen in Schlingensiefs Werk, die mit der geschilderten Aufwertung und Neuordnung des Materials verbunden ist. Ebenso wie die Animatographen die Einladung an das Publikum bedeuten, die Distanz zu überwinden und physisch Teil von ihnen zu werden, laden sie durch ihre überbordende Materialität in Bewegung, im Sinne Sontags und O’Dohertys, wieder aus und weisen sie ab. Die Animatographen seit Parsifal und seinem Vorläufermodell in Attabambi Pornoland mobilisieren die Verselbständigung des ästhetischen Materials, das Spiel mit einer ›andersartigen‹ und anorganischen Lebendigkeit der Dinge. In ihrem strukturellen Filmbezug legen sie die Emphase auch auf die Lebendigkeit der Technik und Maschinen, auf ihr technisches Vermögen der Konservierung von Leben, ihre Mechanismen maschineller Verlebendigung ebenso wie auf ihre gleichzeitige Todesnähe. Die Voraussetzung dafür wird allerdings früher gelegt, und zwar in der Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst seit den ausgehenden 50er Jahren in der ATTA-Trilogie, mit der das Material, die Dinge und Objekte einen neuen Grad der Verdichtung und Signifikanz in Schlingensiefs Werk erhalten. Dieser höherstufige Komplexitätsgrad begründet sich wiederum aus dem Kontext der bildenden Kunst, wenn das Material und die Objekte im Vergleich zu dem ›Sekundär-Status‹ der Requisiten des Theaters, die zuvor in Schlingensiefs Arbeit eher einer Trash-Ästhetik zugehörig anmuteten, in historischer Sedimentierung extrem verdichtet und aufgeladen erscheinen. Dabei wird aber, wie im ersten Kapitel (I) gezeigt wurde, das Trashige nicht einfach behoben, sondern bleibt zunächst in den durch die Aktionen auf der Bühne entstehenden Bildern erhalten. Der MaterialStatus der bildenden Kunst und des Theaters kreuzen sich. Der Kontext des Wertes, der Verdichtung und Signifikanz wird aus dem Feld der bildenden Kunst als Referenzrahmen in das Theater eingeführt, wodurch eine ästhetische Aufladung

99 100

Ebenda, S.  78  f. Wie schon O’Doherty begreift auch sie den Merzbau von Kurt Schwitters als einen frühen Vorläufer dieser Art der raum-bildnerischen Materialanordnung.

307

308

Sontag – Kunst des Radikalen Nebeneinanders

zwischen beiden entsteht. Ähnlich beschreibt es Susan Sontag, wenn sie die Happenings Allan Kaprows zwischen bildender Kunst und Theater ansiedelt und dabei den Materialfokus der Arbeiten, der selbst das Publikum umfasst, in der bildenden Kunst verankert. Die Objekte der Happenings ( insbesondere ) von Kaprow vermögen durch den Kontext der bildenden Kunst industrielle Abfälle der Stadt zu auratisch aufgeladenen, inkommensurablen Kunst-Objekten zu transformieren, die ihr Publikum ebenso abweisen können wie sie ihm räumlich neben und hierarchisch gleichgestellt erscheinen. Hierbei, ganz ähnlich wie das bei Schlingensief der Fall ist, bespielen und destruieren sie den Referenzrahmen der bildenden Kunst, wie sie ihn dabei schließlich ausweiten. Auch wenn Schlingensiefs Animatographen meistens noch locker an Aufführungssituationen geknüpft sind, es Momente der leiblichen Ko-Präsenz von Akteur *innen und Publikum geben kann, so scheinen sie doch eine Phase einzuleiten, in der Schlingensief die eigene leibhaftige Anwesenheit, die bis dahin für seine Arbeiten kennzeichnend ist, herauszurechnen beginnt. Die in ihren jeweiligen Spezifika inszenierten Künste und Medien scheinen nun in ihrem bruchstückhaften und heteronomen Zusammenwirken immer stärker zu wuchern und sich gegenüber den menschlichen Akteur *innen und ihren generierenden Kräften stärker zu verschließen, sie auszuschließen; sie werden hermetischer und formieren zugleich doch kunstspezifische Analogien der Existenz. Die Zurücknahme der persönlichen Initiationskraft in der Rolle des Autors und Regisseurs in seinen Arbeiten sowie deren Übertragung auf Material und technische Maschinen formuliert Schlingensief selbst so: »Mit dem ›Animatographen‹ hat sich in meiner Arbeit eine große Freiheit entwickelt. […] Er ist eine Schleuder, eine Schnittmaschine, die ich nicht reguliere, sondern die mich reguliert. Er ist das Kino der Zukunft.«101 Berka bezeichnet die Animatographen als werkgeschichtliches Einstiegsmoment Schlingensiefs in die bildende Kunst102 und beschreibt, wie »blutleer« die ausgestellten Arbeiten ohne die sonst für sie zentralen Interventionen durch humane Akteur *innen auf ihn wirken.103 Sosehr von Schlingensief und seinem Team allerlei Lebensmetaphern für die Animatographen bemüht werden, so scheint es doch offenbar, dass diese multimedialen künstlerischen Maschinen zugleich nicht-humane, nicht-organische Modalitäten von Lebendigkeit generieren. Der Eintritt in die bildende Kunst impliziert in Schlingensiefs Arbeit zugleich eine Aufwertung der Objekte, die sich dem Publikum ebenso zu öffnen vermögen wie sie zugleich verschlossen,

101

102

103

Schlingensief, Christoph, »Ein ganz großes Ja zum Leben«, Interview, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.  01.  2006. Wie gezeigt wurde, beginnt dieser Einstieg in die bildende Kunst schon früher, systematisch aber mit der ATTA-Trilogie. Berka, Schlingensiefs Animatograph, a.  a. O., S. 16.

V. Die Installation

widerspenstig wirken und ein nicht-human und nicht-organisch zu begreifendes ›Eigenleben‹ zu beanspruchen scheinen. In den rhizomatischen, also nicht-hierarchischen, unvorhersehbaren und nicht-konventionalisierten Querverbindungen des multiplen ästhetischen Materials in den späten Arbeiten, besonders in Gestalt der Animatographen, offenbart sich eine Zuwendung zu anders funktionierenden Formen der Lebendigkeit, des Lebens, der Existenz, die nicht organisch angelegt sind, und Tiere und Pflanzen ebenso einschließen wie Dimensionen unbelebter Materie, Objekte und Dingwelten. Wenn das Installativwerden von Schlingensiefs Arbeiten mit den Animatographen zugleich als Einsatzpunkt einer Abwendung von einem humanistischen Vitalismus als Konstituens der Kunstereignisse gelesen werden kann, so ist diese Entwicklung wesentlich für die letzten Arbeiten, die um die Krebserkrankung und das nahende Lebensende kreisen und die Frage nach dem Leben der Kunst nach dem Tod des Künstlers umschreiben und weiterschreiben, ja, wie ihr Vorbote wirken. Daher lohnt es sich, abschließend auf das posthume Display 104 des Bühnenbildes des »Fluxus-Oratoriums« Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir auf der Venedig Biennale von 2011 zu blicken. Vor dem Hintergrund der hier dargestellten Werkgenealogie soll Licht auf die Frage geworfen werden, inwiefern das »Fluxus-Oratorium« bereits installativ angelegt und als Teil der skizzierten Entwicklung zu begreifen ist. So kann das posthume Display, auch in dem personellen Transfer der ›Autorschaft‹, der sich mit der Einrichtung durch Susanne Gaensheimer und Aino Laberenz ergibt, als ein Fluchtpunkt jener Entwicklung gedacht werden, den Schlingensief bereits als mediales Szenario in den vorangegangenen Arbeit visioniert und in diesem Sinn werkgenealogisch für den Fall seines Todes ›vorgesorgt‹ hat.

104

»Unter dem Begriff Display lassen sich daher zugleich die Aktivität des Zeigens beziehungsweise Ausstellens, der Zustand der Sichtbarkeit von etwas und das oder die Mittel, mit denen etwas gezeigt wird, erfassen.« vgl. McGovern, Fiona, »Display«, in: McGovern, Fiona, »Display«, in: Jörn Schafaff, Nina Schallenberg und Tobias Vogt ( Hg.), Kunst – Begriffe der Gegenwart, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König , 2013, S.  43  f. sowie weitergehend in ihrer Auseinandersetzung mit dem Begriff McGovern, Fiona, Die Kunst zu zeigen. Künstlerische Ausstellungsdisplays bei Joseph Beuys, Martin Kippenberger, Mike Kelley und Manfred Pernice, Bielefeld: transcript, 2014.

309

310

Das posthume Display

Das posthume Display des »Fluxus-Oratoriums« Abschließend möchte ich nun auf das posthume Display des »Fluxus-Oratoriums« Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir zu sprechen kommen, das bei der Venedig Biennale von 2011 zu sehen war. Im Frühjahr 2010 war Schlingensief von der Kommissarin für den Deutschen Pavillon, Susanne Gaensheimer, eingeladen worden, den Pavillon zu gestalten. Nachdem er im August des selben Jahres verstarb und lediglich rudimentäre Pläne für die Ausstellung hinterlassen hatte, beschloss Gaensheimer zusammen mit seiner Witwe Aino Laberenz den Pavillon posthum mit dessen Arbeiten zu bespielen und dabei vor allem fertig gestellte Werke als Ausstellungsobjekte aufzubereiten.105 Im linken Seitenbereich des Pavillons werden vor allem Videos, Fotos und Skizzen zum Operndorfprojekt ausgestellt. In einer Black Box auf der rechten Seite werden Filme von Schlingensief gezeigt, darunter Menü Total (1985  ‒1986  ), Egomania. Insel ohne Hoffnung (1986  ), 100 Jahre Adolf Hitler. Die letzte Stunde im Führerbunker (1988  ‒1989 ), Das deutsche Kettensägenmassaker. Die erste Stunde der Wiedervereinigung (1990 ), Terror 2000. Intensivstation Deutschland (1992 ) und United Trash (1995 ).106 Für den Hauptraum des Pavillon-Gebäudes haben sich Gaensheimer und Laberenz für ein Display des Bühnenraums des »Fluxus-Oratoriums« Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir entschieden, auf das sich meine Ausführungen im Folgenden beschränken werden. Dabei soll abschließend untersucht werden, wie sich dieses Display des Bühnenraums zu den ihm vorangegangenen Aufführungen, das es im doppelten Wortsinn fort-setzt, verhält. Wie verschieben sich die Modi der Kunsterfahrung hier ? Was für ein Erfahrungsraum der Existenz, des Lebens und des Sterbens entsteht ? Wie gliedert sich schließlich diese posthume Transformation der Bühne als eigenständige installative Form in die skizzierte Genealogie der Installation in Schlingensiefs Spätwerk ein? Der Einsatz des Pavillons, die in ihm vorgenommene Einrichtung des Bühnenraumes als Display scheint dabei der hier skizzierten Entwicklung in und von Schlingensiefs Arbeit zu entsprechen, in der diese installativ wird und sich dabei zugleich von der Abhängigkeit menschlicher Aktivität und ›Belebung‹ loszulösen

105

106

Deutscher Pavillon, Biennale di Venezia 09.‒10.  08.  2011. Siehe hierzu den Ausstellungskatalog Gaensheimer ( Hg.), Christoph Schlingensief. Deutscher Pavillon 2011, a.  a. O., S. 15  f. Für mehr Informationen zum gesamten Pavillon siehe ebenda.

V. Die Installation

beginnt und sich in Richtung einer posthumanen Ästhetik des Lebens,107 der Lebendigkeit, der Existenz bewegt. In dieser für eine Theaterinszenierung ziemlich einmaligen Bewegung und Transformation hin zu einer einen ganzen Ausstellungsraum um- und erfassenden Installation im Rahmen einer der größten und bedeutsamsten Kunstausstellungen verdeutlicht sich eine grundsätzliche Tendenz in Schlingensiefs Arbeit, die mit ihrer Entwicklung hin zur Installation diesseits und jenseits von Aufführungen auf dem Theater oder der Oper aufs Engste verquickt ist. Im Fall des posthumen Displays des Bühnenraumes von Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir handelt es sich nicht um einen unmittelbar von ihm selbst eingerichteten und bespielten Raum, sondern um eine sich in der Ausstellungspraxis realisierende Aus- und Umdeutung, Fortschreibung und Modellierung einzelner Teile von Schlingensiefs Arbeiten und seines künstlerischen Archivs durch Dritte, aus dem er selbst Zeit seines künstlerischen Schaffens immer wieder geschöpft, variiert und dabei Neues generiert hat. Dies bedeutet zum einen eine nicht zu verkennende personelle wie künstlerische Differenz. Zum anderen aber scheint sich hier etwas einzulösen, das in Schlingensiefs Arbeit spätestens mit dem Installativwerden der Arbeiten ab der ATTA-Trilogie, mit Parsifal über die Animatographen und schließlich auch den letzten Arbeiten implizit ist, weil darin der Tod des ›Autors‹, ›Urhebers‹ und Künstlers bereits antizipiert und die Frage nach einem Fortleben und Fortdauern seiner Kunst nach seinem persönlichen Lebensende buchstäblich in den Raum gestellt wird. Zudem muss berücksichtigt werden, dass Schlingensiefs Arbeiten sich immer schon in zahlreichen, kontinuierlichen Kooperationen und Ko-Autorschaften ereigneten, ohne die sie kaum denkbar und realisierbar gewesen wären. Jedoch schien Schlingensief die entscheidende personelle Schnittstelle zu sein, um die Versammlung und Kollaboration dieser ganz unterschiedlichen Personen und Künstler *innen produktiv zu machen und in eine singuläre ästhetische Praxis zu überführen. Umso mehr stellt sich somit die Frage, wie Status und Funktion der ästhetischen Objekte, des künstlerischen Materials nach dem Tod des Künstlers zu bestimmen sind, der sie zuvor im ästhetischen Gefüge situativ arrangiert und variiert hat und sie Teil von prozessualen ästhetischsozialen Konstellationen, wenn man so will : »sozialen Plastiken«, hat werden lassen.

107

Siehe zum Posthumanismus Braidotti, Rosi, Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen, Frankfurt am Main: Campus, 2014. Zum Theater: Egert, Gerko / Apostolou-Hölscher, Stefan / Haas, Maximilian / Diagne, Mariama / Hagemann, Simon / Hahn, Daniela, »Bühnen des Nicht-Menschlichen«, in: Haß, Ulrike et.  al. ( Hg.), Episteme des Theaters. Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit, Bielefeld: transcript, 2016, S. 193  ‒216.

311

312

Das posthume Display

Mit der Entscheidung Gaensheimers und Laberenz’, den Hauptraum des Pavillons mit dem Bühnenraum des »Fluxus-Oratoriums« zu gestalten, wird die Arbeit einem signifikanten formalen und kontextuellen Transfer unterzogen und zugleich um eine neue existenzielle Konnotation erweitert. Fungierte die Arbeit als Aufführung zu Lebzeiten Schlingensiefs als Antizipation der Zukunft des Künstlers als Gestorbenem, der sich hierin dem Zustand seines Gestorben-Seins, seines Todes mittels der Kunst gestalterisch zu bemächtigen versucht, wird ihm nun eine neue ( zeitliche ) Konnotation als Denkmal und Andachtsort zugefügt, der auf die Gegenwart als Zustand des Todes des Künstlers wie auf die Vergangenheit der Aufführung verweist, in der Schlingensief die damalige Zukunft, sein zukünftig Gestorbenseinwerden, künstlerisch zu antizipieren suchte. Im Fall des »Fluxus-Oratoriums« Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir handelt es sich mit Blick auf die Raumgestaltung um einen besonderen Fall, als es hier Schlingensiefs Idee war, den Innenraum der Oberhausener Kirche Herz Jesu, die für seine Kindheit und Jugend prägend war, nachzubilden. Der Hauptraum des Deutschen Pavillons in Venedig ist dabei deutlich kleiner als die ursprünglichen Aufführungsräume in der Duisburger Gebläsehalle bei der Ruhrtriennale und auf der Rückseite des Hauses der Berliner Festspiele beim Theatertreffen. Die den ganzen Raum umfassende Gestaltung des Bühnenraums des »Fluxus-Oratoriums« wurde hier an die Gegebenheiten des Ausstellungsraumes angepasst und seiner veränderten Funktion als Exponat einer Ausstellung entsprechend leicht modifiziert, wenngleich im Großen und Ganzen weitgehend belassen. Die Ausstellungsfläche wird nach hinten von einem Halbrund abgeschlossen. In dieses Halbrund hinein ist die Rückwand des Bühnenbildes als Rückwand des Altarraums mit den langen künstlichen sakralen Mosaikfenstern gesetzt. Es bildet den Bug des Kirchenschiffes und umfasst den auf einer fünfstufigen, kreisförmigen Empore aus Marmor, die Teil der Architektur des Pavillons ist, errichteten Altarraum. Der Altar, der wie in der Aufführung aus einer großen schwarzen Holzkiste besteht, wird von einem großen Leuchter, welcher von der Deckenkonstruktion hinuntergelassen ist, an dem ein Duzend Glühbirnen befestigt sind, erhellt. Auf ihm thront, wie in der Aufführung, die Skulptur eines Hasen. Im Altarraum leuchtet wieder die Tafelansicht von Schlingensiefs Röntgenbildern als illuminierte Collage : die medizinischen Bildnisse seines von Krankheit befallenen Körpers, deren Evidenzstatus aus dem Kontext der Medizin in ihrer hiesigen De- und Rekontexualisierung einer künstlerischen Transformation unterzogen wurde und doch gleichwohl auf unheimliche Weise auf einen dagewesenen Corpus verweist, dessen Status allerdings ungeklärt ist. Das Krankenhausbett, in dem in der Aufführung Margit Carstensen lag und Texte aus Schlingensiefs Tagebuch las, ist an den Rand gestellt. Der Hochsitz, auf dem Karin Witt als Päpstin thronte, steht funktionslos hinter dem Altar; die Sedia gestatoria und das Rednerpult, von dem aus Carstensen und Mira Partecke in der Aufführung re-zitierten und predigten, stehen skulptural und scheinbar selbstre-

V. Die Installation

ferenziell geworden an den Stufen der Empore ; übereinander geklappte, in die Ecke des Altarraums gestellte Holzstühle, auf denen ein Trauerkranz abgelegt ist, wirken hier als ihrer Funktionalität und Sinnstruktur enthobene Überreste, als Reliquien der Aufführung. Die Empore des Altarraums ist durch ein zweistufiges Plateau von dem ebenerdigen Publikumsraum abgesetzt. Am linken und rechten Seitenrand sind aus Holzgerüsten zwei Kanzeln errichtet, auf dem linken Gerüst ist die Monstranz in einem rot erleuchteten Holzkasten aufgestellt, in deren Mittelpunkt, wie schon in der Aufführung, ein Miniaturröntgenbild einer Lunge mit nur einem Lungenflügel leuchtet. Hinter der rechten spartanischen Holzkanzel ist die Beuys’sche Fettecke aus der Aufführung installiert, deren zwei Holzspanplatten, die in einem rechten Winkel zueinander montiert sind und so die Ecke bilden, in welcher die Überreste des künstlichen Hasenfells mit Wachs montiert und bedeckt sind, auch hier durch eine von der Decke hängende Glühbirne erleuchtet werden. An beiden Seiten sind zudem Röhrenfernseher ausgestellt, auf denen projizierte Texttafeln ins Englische übersetzt werden. Der Publikumsraum ist auch hier wieder der Raum der Gemeinde und grenzt frontal an den Altarraum. Er ist mit fünf Reihen kurzer, hölzerner Kirchenbänke ausgestattet, die links und rechts mit circa anderthalb Metern Abstand zu den Seitenwänden stehen und in der Raummitte von einem Zwischengang geteilt werden, der mit einem roten Teppich ausgelegt ist und vom Eingang zum Altar führt. Anders als in der Aufführung ist der gesamte Altarraum hier durch eine rote Absperrkordel vom Publikumsraum abgetrennt, die ihm den Zutritt versagt. Diese Absperrung evoziert eine museumsähnliche Stimmung wie Anordnung. Sie reguliert die physische Grenze zwischen Altarraum und Publikum und hält dieses hier buchstäblich auf Distanz. Damit widerspricht sie dem Installationsprinizip innerhalb der Installation selbst, welches ja gerade die Trennung von Objekt und Betrachter aufzuheben, zumindest neu zu justieren sucht, indem sie die Betrachter *innen umgibt und einschließt, sie ihr Nähe-Distanz-Verhältnis selbst regulieren lässt oder ihnen die Distanz verweigert. Einerseits unterstreicht und verstärkt die Absperrung des Altarraums eine Trennung, die jener im Kirchenraum und jener zwischen Bühne und Publikumsraum entspricht. Andererseits wird im Unterschied dazu in den Aufführungen die Grenze zwischen diesen unterschiedlichen Raumteilen durch die Bewegungen der Akteur *innen, ihr Ein- und Ausziehen durch den Publikumsraum, aufgebrochen. Zumal hier, wie in Kapitel II gezeigt wurde, gerade anhand eines reflexiven Spiels mit den Spezifika der Aufführungssituation ausgelotet wird, welche Möglichkeiten der existenziellen Verwobenheit, der ethischen Beziehung zwischen Akteur *innen und Zuschauer *innen ästhetisch zur Erfahrung gebracht werden können. Im Pavillon nun fehlt die ›Belebung‹ des Bühnen- / Altarraums durch die Akteur *innen sowie ihr Aufweichen einer räumlichen Trennung zwischen Publikum und Bühne. Gerade die Absperrung scheint es hier zu sein, die den Altarraum nicht nur sakralisiert und auratisiert, insofern

313

314

Das posthume Display

ihm nicht näher zu kommen ist, er nah erscheint und doch ›unerreichbar‹ bleibt, sondern ihn auch mit einer gewissen Stumpfheit, einem Flair des Angestaubten, Abgestorbenen versieht, und zwar auch deshalb, auch weil die ausgestellten Relikte nicht als in sich spannungsgeladene, verdichtete Einzelobjekte im Sinne von Kunstwerken erscheinen, sondern hier ihren profanen Status als Requisiten nie so ganz abzulegen vermögen und zumindest zwischen Aufladung und Entladung von Bedeutung oszillieren. Auch im Pavillon sind die Seitenwände mit Leinwänden und Bannern unterschiedlichen Formats behängt, welche Fluxus-Aufschriften tragen, rote Farbflächen, die wie die Spuren eines in Farbe getränkten Körpers, der über die Leinwand gezogen wurde, anmuten und Assoziationen an einen blutenden Körper wecken, womit sie das Motiv der Opferung aufrufen. Erneut tritt damit in diesem Ausstellungskontext auch die Referenz auf kunstgeschichtliche Adaptionen des christlichen Motivs auf den Plan, wie die ›Opferungsgemälde‹ aus Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater. Außerdem zeigen die seitlich entlang des gesamten Raumes gehängten Leinwände den vergrößerten Druck des Röntgenbildes eines Brustkorbs. Auf die Wirbelsäule ist mit grobem schwarzem Filzstift eine Skizze von Jesus am Kreuz gezeichnet. Aus einem medizinischen Bild, der ausschnittartigen Ansicht des Körpers entspringt hier die ikonische Figur des christlichen Kreislaufs der Existenz zwischen Leid, Opferung, Erlösung, Auferstehung. Eine noch stärker vergrößerte, horizontal gehängte Röntgenansicht des Brustkorbs ist in dem totalen Zoom als solche gar nicht mehr klar zu erkennen, sondern lässt den Blick der Betrachter *in sich verlieren, im flüchtigen Weiß der Flächen der Knochen oder dem Schwarz ihrer Zwischenräume. Wiederum auf diese vergrößert-verfremdete Röntgenansicht ist die an Beuys’ Skizze zum sozialen Organismus angelehnte Zeichnung gelegt, durch deren Zentrum eine »Lebenslinie« führt, die nach oben und unten flankiert von einem »oberen« bzw. »unteren Toleranzgürtel« wird. Der »Tumor« ist mit 2008 markiert, ein Pfeil zeigt auf Bayreuth »ca. 2003 /  2004«. »Gott will Dich achten«, steht hier als Überschrift, »aber wer ist Gott ?«. Eine kleinere schwarze Fläche ist eingekreist und mit »Urknall« bezeichnet, ein kleiner schwarzer Fleck darunter mit »schwarzes Loch Universum«. Eine größere schwarze Fläche am unteren Bildrand, dort wo der Lungenflügel fehlt, ist mit »rechte Lunge« beschrieben. In roter Tusche steht rechts »Sein« und »Erinnern heißt vergessen« und auf dem fehlenden Lungenflügel »Wirhoffensbereich«. Es offenbart sich ein skizzenhaftes Schriftbild von Schlingensiefs Krebsgeschichte – von Bayreuth zum Tumor – als eine Anschauung der Existenz und ihrer (sinnlosen ) Sinnzusammenhänge. Außerdem sind, wie in der Aufführung, etwa auf Augenhöhe des Publikums entlang der Seitenwände Fotografien im A3-Format angebracht, die sowohl in Farbe und als auch in Schwarzweiß die Protagonist*innen aus den für die Theaterproduktion gedrehten FluxusFilmen, darunter Kerstin Grassmann, Norbert Müller und Achim von Paczensky, in den Kulissen des Ruhrpark-Geländes zeigen. Vor den Fotografien sind Kerzen

V. Die Installation

aufgestellt, als handele es sich um die Bilder von Toten. Sie rufen zugleich eine Praxis des Gedenkens auf, die hier auf die Vergangenheit der Aufführung bezogen wirkt, die wie ein Geist über der Ausstellung zu schweben scheint. Im Pavillon spielt im Vergleich zu dem vollkommen abgedunkelten, vom Tageslicht abgeschirmten Aufführungsraum im Haus der Berliner Festspiele beim Berliner Theatertreffen das permanent wechselnde Tageslicht eine weitaus wirkungsvollere Rolle, so wie es hier durch die hoch oben an den Seitenwänden sich befindenden Fenster fällt, die mit bunten, sakralen Papiermosaiken beklebt sind, welche das Licht wie in einem Kirchenbau farbig filtern. Zum Einsatz kommt hier auch dasselbe Filmmaterial wie in der Aufführung, das über die verschiedenen Projektoren auf die unterschiedlichen Bildträger projiziert wird: die Kinderfilme von Schlingensief ( die Waschung, der Strandspaziergang mit den Eltern, die Kinderspiele /-schießerei ), die Fluxus-Filme, die Prozession, die Reenactments von Beuys- und den Wiener Aktionisten-, die schwarzweißen Animationen der Zellen und der Lunge, die Hasenverwesung. Auch die gleiche Musik und dieselben Tonbandaufzeichnungen von Schlingensief werden dazu eingespielt, außerdem einige aufgezeichnete und technisch modulierte Sprechpassagen ebenso wie unterschiedliche Gesänge aus der Aufführung. Nahezu alles akustische und visuelle Material, das bereits in der Aufführung technisch reproduziert wurde, erklingt und erscheint hier im Pavillon in der Reihenfolge der Aufführung, die hier nur um das live generierte Material gekürzt ist. Ton- und Bildspur laufen im Pavillon im Loop täglich von 10 bis 18 Uhr ununterbrochen durch. Wenn bereits in der Aufführung die ( autobiografischen) Bewegtbilder der Vergangenheit in der Reproduktion im Moment der Projektion in unsere Gegenwart hinüberscheinen, um ein sich medienreflexiv entfaltendes, virtuos ausgespieltes Spannungsverhältnis von An- und Abwesenheit zu evozieren, so potenziert sich dieses in der Konstellation des Pavillons. Filmbilder wie Tonbandaufzeichnungen verweisen nun nicht mehr nur auf die in ihnen eingeprägten Situationen und Personen, sondern auch auf die vorangegangenen Aufführungen, in denen sie in anderen räumlich-zeitlichen Konstellationen, Situationen und Funktionen erschienen und erklangen, von denen aus sie nun in die neuen Gegenwärtigkeiten des Pavillons ›hinüberwirken‹: geisterhaft, wie Erinnerungen, deren Ursprungsreferenten Teil des Imaginären der anderen werden. Ihnen haftet eine Vergangenheit an, die nicht mehr unmittelbar ausgedrückt werden kann. Effekte wie die Verzerrung der Stimmen, die in den Aufführungen aufgezeichnet hier im Pavillon reproduziert werden, akzentuieren und verstärken den Eindruck einer geisterhaften Vergangenheit der Objekte und Materialien; einer Vergangenheit, die sie den Besucher *innen voraushaben, die sie mit den Ereignissen, von denen sie herrühren auf spezifische Weise verknüpft, womit eine Verbindung evoziert wird, von der die Besucher *innen auf gewisse Weise ausgeschlossen sind. Die Aufführung wirkt als auratischer Bezugspunkt, der über der Installation kreist, ähnlich wie ihr Künstler und ›Schöp-

315

316

Das posthume Display

fer‹, Christoph Schlingensief selbst. Beide sind abwesend anwesend, fungieren als zentrale Referenz und Referenzrahmen und sind zugleich unwiederbringlich verloren, von der Position der Installation aus unerreichbar. Aus dieser Kluft entsteht eine ästhetische Spannung, in der Akte der Rezeption jene imaginär wie assoziativ zu überbrücken versuchen, ohne dass dies je gelingen könnte. Die unterschiedlichen medialen Szenarien des Todes, die Schlingensief im »Fluxus-Oratorium« initiiert, die medienspezifischen Spielformen des Gestorbenseinwerdens, sind nun in der posthumen Situation des Künstlers in der Gegenwart des Pavillons eingelöst. Sie sind Wirklichkeit und Gegenwart geworden und nicht mehr Teil einer medial und virtuell erfahrbar gemachten Zukunft (des Unerfahrbaren ). Weitaus stärker, als dies in der Aufführung der Fall war, wirkt das Display des Bühnenraumes des »Fluxus-Oratoriums« als ein Grabmal-als-Kunst. Als Kunst bedeutet zugleich aber auch, dass es nicht auf diese Funktion reduziert ist, sondern als mannigfaltige Gestalt in Erscheinung tritt und zur Wahrnehmung gebracht wird, die eine Vielzahl an Anschlüssen, Deutungen und Wirkungen zulässt und ›in sich‹ und ›für sich‹ funktionierend in eine komplexe Umwelt eingelassen ist, auf die sie sich bezieht und beziehen lässt. Die Installation erschöpft sich weder in der Singulärreferenz auf die Aufführung noch auf die autobiografischen Implikationen des Künstlers. Dies wird auch daran deutlich, dass das Publikum der Venedig Biennale sich wesentlich internationaler zusammensetzt, als dies bei den Theateraufführungen der Fall ist, und es teilweise gar nicht vertraut mit Christoph Schlingensiefs Arbeit und seiner Geschichte ist und dementsprechend die Pavillongestaltung- und -erfahrung gar nicht auf seine Persona, seine Krankheit und seinen Tod zurückführen kann. Der Pavillon, die Bühnenrauminstallation des »FluxusOratoriums« Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir, arbeitet mit allgemeinen Zeichen, Symbolen und Materialien; sie spielt mit den ausdifferenzierten Konstruktionsprinzipien und Formbildungen der Gegenwartskunst und verquickt sie mit christlichen Motiven und Stoffen, um so einen künstlerischen Erfahrungsraum der Existenz zu ermöglichen. Indem sie darin bestimmten Zusammenhängen von Leben, Krankheit und Sterben eine ästhetische Anschauung verleiht, trägt sie sich einerseits als Kunst Rechnung und markiert zugleich die mannigfaltige Gesellschaftlichkeit des Gegenstandes. Mit den Besucher *innen des Pavillons und ihren heterogenen Horizonten, mit denen sie ihn erleben, zeigt sich ein weiterer Gesichtspunkt, der für das Verhältnis von Aufführung und Installation wesentlich ist. Anders als in der Aufführung, wo alle Besucher *innen gemeinsam zu einem bestimmten Zeitpunkt für eine bestimmte Dauer zusammenkommen und gemeinsam die Bespielung des Raumes durch die Akteur *innen und Materialien erfahren, kommen die Besucher *innen des Pavillons zu unterschiedlichen Zeitpunkten und bestimmen die Dauer ihres Aufenthalts selbst. Sie können sich setzten und verweilen, stehenbleiben und im Raum umherschauen, gerade so, wie man es bei einer Kirchenbesichtigung tut, um

V. Die Installation

die Decken- und Wandgemälde betrachten zu können, oder sie gehen im Raum umher, um sich Details aus der Nähe anzuschauen, Perspektiven zu wechseln, beweglich sich selbst als Teil der Installation zu erfahren und wahrzunehmen. Zwar könnte man auch in der Aufführung, besonders vor oder nach dem zentralen Bühnengeschehen und der Bespielung des Raumes durch die Akteur *innen, ähnlich durch den Raum ziehen, Nähe und Distanz der Betrachtung modellieren, Details wahrnehmen und studieren, Perspektiven wechseln usw. Doch zeigt meine Beobachtung, dass nur die Wenigsten diese Möglichkeit wählen, zu der die umfassende Gestaltung des Aufführungsraumes eigentlich einlädt, weil das Dispositiv der Theater- oder auch Opernaufführung als ( unausgesprochene ) Verhaltensanleitung stärker wirkt. Sie scheint zu suggerieren, dass nachdem die Akteur *innen von der Bühne abgegangen sind und der Applaus abgeebbt ist, die Aufführung beendet ist und alle den Raum zu verlassen haben, es nichts mehr zu sehen, nichts mehr zu erfahren gibt, was Teil des Kunst-Ereignisses, Teil des Programms wäre. Mithin erfahren die Besucher *innen die Bühnenrauminstallation auf sehr unterschiedliche Weise und in unterschiedlichen Intensitätsgraden. Ein weiterer zentraler Unterschied zwischen Aufführung und installativem Display liegt schließlich auch in dem Umstand, dass in Letzterem keine Akteur *innen auftreten, ihn bespielen und beleben und die Wahrnehmungen des Publikums steuern oder dirigieren würden. Sie geben den Dingen keinen zuvor erprobten und in den Gesamtzusammenhang eingeordneten Sinn, betten sie nicht in ihre Handlungen und körperlichen Vollzüge, Texte, Stimmen, Klänge usw. ein. Die menschlichen Akteur *innen sind hier die Besucher *innen, die den Raum mit Stimmungen und Wärme, mit wechselnden Atmosphären füllen und ihn in diesem Sinne ›beleben‹. Die körperliche, szenische, figurative sowie narrative Verflechtung des Raums und der Objekte in der Aufführung bildet einen deutlich spürbaren Unterschied zu deren Wirkung und Funktion in der Installation. Die Objekte, Skulpturen, Filme und Bilder bespielen nun alleine den Raum und offerieren in ihrem konstellativen und situativen Zusammenwirken, in ihrem Zusammentreffen mit dem Publikum, die Möglichkeiten ästhetischer Erfahrungen. Gerade darin wird eine Differenz zur Raum- und Objektwirkung in den szenischen Zusammenhängen der Aufführung erfahrbar, die mit Leben und Tod verwoben ist. Die Objekte, Skulpturen, Filme, Klänge, die technisch konservierten und reproduzierten Stimmen, die Bilder und das übrige Material erscheinen hier in der Installation im Pavillon schließlich doch von einer anderen Starre, von einer Stumpfheit, Ruhe und Unbeweglichkeit, ja sie scheinen einer anderen Sphäre anzugehören als derjenigen lebendiger Menschen. Sie vermögen aus anderen Konstellationen der ko-existenten Lebendigkeit, in denen sie zuvor verwendet und gestaltet wurden, von denen sie Teil waren, fortdauern und Teil von neuen Konstellationen werden, in denen ihre bereits historisch gewordenen Verwendungszusammenhänge an ihnen haftenbleiben und an die vergangenen Situationen wie an die verschwundenen, verstorbenen Personen

317

318

Das posthume Display

erinnern, auf die sie wie Grabmale verweisen. In ihrer Starre bilden sie zugleich einen mit dem Tod assoziierten Aggregatzustand, treten in eine materiale Analogie zu ihm ein, wie dies bei O’Doherty und auf andere Weise bei Sontag für die Installation und das Happening generell beschrieben wurde. Besonders wenn man als Besucher *in der Installation zuvor als Zuschauer *in Mitglied der Aufführungen sein konnte, sie erleben, Teil eines lebendigen Zusammenhangs werden konnte, stellt sich bei einem ausführlichen Besuch des Pavillons ein fahler Beigeschmack ein, ein kaltes, starres Körpergefühl, das von den Dingen im Raum, von der Installation, von der man hier schließlich Teil wird, auf einen einzuwirken scheint. Steht man nach Verlassen des Pavillons schließlich wieder in Venedigs zarter Herbstsonne, mag es notwendig sein, sich erst einmal in eine einsame Ecke hinter dem Pavillon zurückzuziehen und aufs Meer zu schauen, so sehr scheint die Erfahrung im posthumen Display des »Fluxus-Oratoriums« einer anderen Zeit und Logik zu entsprechen als der mondänen Leichtlebigkeit der Giardini vor seinen steinernen Toren – der des Todes.

Am Ende – Kunst und Existenz

Resümierend In den vorangegangenen Kapiteln wurde sukzessive die Funktionsweise der jeweiligen Künste für die Auseinandersetzung mit Leben und Sterben in Christoph Schlingensiefs Spätwerk untersucht. Dabei wurde im ersten Kapitel ( I ) die Rolle der historischen Avantgarden und Neoavantgarden analysiert, die hier besonders für eine programmatische wie reflexive Öffnung der Künste zueinander stehen. ( Kap.   I.  KUNST UND KÜNSTE ) In der künstlerischen Bezugnahme auf die als solche begriffenen historischen Vorläufer*innen der Neo- / Avantgarden erhält zudem das Ausloten der Grenze von Kunst und Leben, das sich in Schlingensiefs Spätwerk existenziell verschärft, seine kunsthistorische Verankerung, die dabei ihrerseits wiederum künstlerisch aktualisiert und auf andere Weise fortgeschrieben wird. ( Kap. I.  KUNST UND LEBEN ) Diese im Spätwerk sich zuspitzende Bezugnahme auf die Avantgarden und Neoavantgarden markiert zudem aus systematischer wie werkgeschichtlicher Perspektive die Hinwendung der Arbeit Christoph Schlingensiefs zur bildenden Kunst. Die ubiquitäre Referenzierung der künstlerischen Programme der Avantgarden und Neoavantgarden sowie der damit verknüpfte paradigmatische Einzug der bildenden Kunst in Schlingensiefs Werk prägen zudem seine Auseinandersetzung mit Richard Wagner und dessen Oper Parsifal sowie mit der Oper im Allgemeinen ( Kap.   IV  ). Sie bereiten darüber hinaus strukturell den Weg für das Installativwerden der Arbeiten im Anschluss an Parsifal ( Kap.  V  ) vor. In der Reflexion auf den Status des Materials im Bezugssystem der bildenden Kunst ereignet sich hier eine kunstspezifische Oszillation zwischen Tod und Lebendigkeit, zwischen menschlichen und generell organischem Leben sowie nicht-organischer Materialität, Dingen und Objekten. Der Status humaner Lebendigkeit in Opposition zu toter Materie gerät ins Wanken, und eine potenziell anorganische Lebendigkeit

320

Kunst und Existenz

betritt die Bühne. Entsprechend erfolgt hier eine Abwendung von der Emphase auf die leibliche Ko-Präsenz und überhaupt auf menschliche Akteur*innen, womit zugleich die Frage nach dem Nach-Leben der Kunst jenseits des Künstlers verknüpft wird. Im II.   Kapitel wurde die Rolle der Aufführungssituation auf dem Theater für die Auseinandersetzung mit Leben und Sterben untersucht. Dabei standen die ethischen Dimensionen, welche die Theateraufführungssituation aufgrund ihrer spezifischen Medialität, Performativität, Semiotizität und Ästhetizität hierfür eröffnet, im Fokus. Das sich zwischen Referenzen auf das Christentum, Richard Wagner und Joseph Beuys aufspannende Thema des Wunde-Zeigens avanciert in den späten, um Schlingensiefs Krankheit und Sterben kreisenden Arbeiten zum emblematisch theatralischen Leitmotiv eines existenziellen Miteinanderverwobenseins gerade auch im Zeichen des Todes. Es wird hier in der künstlerischen Reflexion auf die spezifische Aufführungssituation im Theater ausgespielt und formiert sich in dieser potenzierten Theatralität zum Existenzprinzip. Entsprechend wurde hieran anschließend auch die Rolle des Films auf der Bühne für ein medienspezifisches und künstlerisches Experimentieren und Verschieben der Relationalitäten zwischen Leben, Sterben und Tod im Gewebe der ( künstlerischen ) Existenz beleuchtet. Der Einsatz des Films in Schlingensiefs späten Arbeiten diesseits und jenseits der Bühne entfaltet sich dabei nicht nur als räumliches Prinzip, sondern wird in möglichen Analogien und Differenzen zur Existenz inszeniert, insbesondere mit Blick auf die Simultanität unterschiedlicher Zeiten und Räume, die der Film eröffnet, dem Spannungsverhältnis zwischen An- und Abwesenheit, visueller Evidenz, Projektion und Glauben. Am Beispiel des Films verdeutlicht sich in besonderem Maße, wie Schlingensiefs grundsätzlich ethischer Zugriff auf Film wie Kunst im Allgemeinen sich in einem reflexiven Experimentieren und Spielen mit den Spezifika und Differenzen der jeweiligen Künste und Medien begründet. ( Kap.   III ) Die Frage nach dem Zusammenwirken der Künste im Horizont der Existenz tritt aus werkgeschichtlicher Perspektive mit der Bayreuther Parsifal -Inszenierung auf den Plan und potenziert sich und differenziert sich (schließlich unter autobiografischen Vorzeichen ) bis zu Christoph Schlingensiefs Tod immer weiter aus. Der romantische Kontext des Gesamtkunstwerks bildet einen nicht unwichtigen historischen (und ideologischen ) Bezugspunkt im künstlerischen Ausloten dieser ethisch-ästhetischen Interrelationen. Allerdings, so wurde es im Kapitel zur Oper ( Kap. IV  ) gezeigt, verhält sich Schlingensiefs Kunst hierzu wesentlich kontrapunktisch, ja dialektisch. Seine Opernarbeit im Wagner’schen Kosmos wird als avantgardistische, also anti-organische Praktik ausgewiesen. Die Differenzialität, Reibung und wechselseitige Störung der Einzelkünste in den jeweiligen Arbeiten wird nicht in ihrem Zusammenspiel aufgehoben, sondern als Prinzip der polyphonen Dissonanz produktiv gemacht. Die Wagner’sche Superiorität der Gefühle und

Kunst und Existenz

ihres Dompteurs, der Musik, zerschellt in Schlingensiefs Kunst ebenso an Schönbergs Zwölftonmusik wie an den harten Montagen der Bilder, Töne, Körper und Zeichen, der Installation und dem Film als Raum- und Lebensprinzip. Erben. Remdoogo – Ein Operndorf bei Ouagadougou, Burkina Faso und die Frage nach dem künstlerischen Erbe, dem Leben der Kunst nach dem Tod des Künstlers Das Operndorfprojekt, Operndorf Afrika, das schließlich in der Nähe von Ouagadougou in Burkina Faso seinen Ort ( Village-Opéra) findet und das Schlingensief vor dem Hintergrund seiner tödlichen Krebserkrankung ins Leben ruft, konnte in dieser Untersuchung keinen eigenen Gegenstandsbereich mehr bilden. Dies liegt in erster Linie in der Limitierung des Umfangs, weil das Projekt, so meine ich, noch einmal ganz andere Fragen aufwirft und Kontextanalysen evoziert hätte, die den Rahmen dieser Studie gesprengt hätten. Das Projekt liegt zudem schon lange Zeit nicht mehr in Schlingensiefs Händen; es wird unter der Leitung von Aino Laberenz1 und den Mitarbeiter*innen des Operndorfs sowie zahlreichen Untersützer *innen, Berater*innen sowie Künstler *innen, Lehrer *innen, Schüler *innen, Ärzt *innen u.  v.  m. von überall aus der Welt und vor allem von der lokalen Bevölkerung vor Ort unterstützt, getragen und belebt.2  Es ist mithin permanent in Wandel und Bewegung begriffen. Zudem gibt es mittlerweile einige Forschungsprojekte, die sich dem Operndorf gesondert zuwenden.3  Nichtsdestotrotz ist das Operndorf eng mit dem hier diskutierten Untersuchungszusammenhang verknüpft, denn es entsteht aus dem hier untersuchten Spätwerk heraus. Deswegen möchte ich, zum Ende kommend, in aller gebotenen Kürze in Aussicht stellen, inwiefern das Operndorf-Projekt mit der hier primär anhand von Schlingensiefs Spätwerk entwickelten Ethik und Ästhetik zusammengeht und zusammenhängt. Die Frage nach seinem künstlerischen Erbe stellt Schlingensief selbst, konfrontiert mit dem nahenden Lebensende, bereits zu Lebzeiten und be-

1 2 3

Geschäftsführende Gesellschafterin Festspielhaus Afrika GmbH. Siehe zum Operndorf  http://www.operndorf-afrika.com/ , [ 09. 06. 2019 ]. So forscht Sarah Hegenbart derzeit unter dem Titel From Bayreuth to Burkina Faso: Christoph Schlingensief ’s Opera Village Africa as postcolonial Gesamtkunstwerk ? im Rahmen einer Dissertation über die Bezüge zwischen dem Operndorf und Wagners Gesamtkunstwerk. Siehe z. B. Hegenbart, Sarah, »A New Idea of Art – Christoph Schlingensief and the Opera Village Africa«, The White Review 5, August 2012, S.  27‒ 35. Siehe außerdem Niermann, Jan Endrik, Schlingensief und das Operndorf Afrika. Analysen der Alterität, Wiesbaden: VS Springer, 2013.

321

322

Erben

antwortet sie mit der Idee für ein Operndorf, das zunächst noch nicht näher bestimmt in Afrika errichtet werden soll, wo er leben, arbeiten und sterben möchte, und das später tatsächlich konkrete Gestalt in der Nähe von Ouagadougou annehmen wird. Zeit seines künstlerischen Schaffens hat ›Afrika‹ als ›Sehnsuchtsort‹ Christoph Schlingensiefs immer wieder eine Rolle gespielt, vor unterschiedlichen Hintergründen und mit wechselnden Motiven, und zwar nicht nur als auf der Weltkarte der Macht und des Reichtums marginalisierter, ausgebeuteter und unterdrückter Kontinent, sondern auch begriffen und bespielt als ›Ort der Wärme‹, der warmen, stets den Aggregatzustand wechselnden Materialien und Farben, des anders sich organisierenden Pluralismus jenseits eines eurozentrischen Weltbildes. Afrika hat in Schlingensiefs Arbeit kontinuierlich-diskontinuierlich als Chiffre für einen Zufluchtsort fungiert, um dem ›Deutschnationalismus‹, der ihn in seiner Arbeit umgetrieben, an dem er sich immer wieder spielerisch und experimentell, kritisch und verzweifelt abgearbeitet hat, zu entkommen und ihn mit anderen Wirklichkeiten zu konfrontieren. Gleichwohl hat ihn jener in den unterschiedlichen afrikanischen Ländern, die er aufsuchte, nie losgelassen, ihn dorthin in seiner hässlichen Fratze verfolgt und weiter umgetrieben. So dokumentiert es etwa das Video-Footage des Films The African Twintowers und der Namibia-Edition des Animatographen, das in der ehemaligen deutschen Kolonie Lüderitz gedreht wurde. Es zeigt Schlingensiefs Kämpfe mit seinen ihm vor Ort falsch erscheinenden Ideen sowie mit dem Versuch, sich selbst, seine Arbeit, sein Team an dem von der Geschichte des deutschen Kolonialismus gezeichneten Ort und seinen hierin sich mitbegründenden Widersprüchlickeiten und Konfliktsituationen der Gegenwart zu öffnen, um sie alle sich darin verlieren, wiederfinden und verweben zu lassen. An diesen werkgeschichtlichen Strang knüpft das Operndorfprojekt an und schlägt dabei doch zugleich einen anderen Ton an. Vor dem Hintergrund der konkreten Gefährdung des eigenen Lebens erscheint Schlingensief die europäische Hochkultur, welche die ( Wagner’sche ) Oper für ihn emblematisch verkörpert, stagniert, gar ›tot‹. Entsprechend gelte es nun, von Afrika ›Kultur‹ wieder neu zu erlernen. Im Zuge seiner Erkrankung konkretisiert sich sukzessive der Wunsch, der eigenen Arbeit noch einmal eine andere Stoßrichtung zu geben. Nicht nur untertönig schwingt hierbei auch die leise Hoffnung mit, dabei möglicherweise auch zu einem höheren Sinn zu gelangen. Überall, wo Schlingensief fortan auftritt, und bei jedem Projekt, das er bis zu seinem Tod 2010 macht, wirbt er für sein Operndorfprojekt, sammelt Spenden und öffentliche Gelder, sucht und findet zusammen mit dem burkinischen Architekten Francis Kéré den passenden Ort, plant mit dortigen Politkern, Geschäftsleuten und lokalen Anwohner *innen. Dabei stellt er sein Vorhaben, dessen Realisierungsschritte sowie überhaupt die grundsätzliche Möglichkeit und Richtigkeit des ihm vorschwebenden regenerativen kulturellen Transfers immer wieder in

Kunst und Existenz

Zweifel und zur Disposition. Er nutzt seine Auftritte fortan aber auch als Anlass, sich als Instanz zu zeigen, die sich adressieren lässt, die einlädt und involviert und die gleichzeitig überfordert, machtlos und zerrissen ist, nicht nur aufgrund seines körperlichen Zustands, sondern vor allem angesichts der Komplexität des Projekts und all seinen Implikationen und Problematiken. In Via Intolleranza II   4, wo die bereits konkretisierten, mit dem Operndorf gemachten Erfahrungen, die Bekanntschaften und Freundschaften, die Erkundungen und Verabredungen, aber immer noch auch die allgemeinen Überlegungen, Reflexionen, Fragen und Probleme zum Operndorf den Ausgangspunkt der Inszenierung bilden, tritt Schlingensief auch wieder selber auf. Er sitzt wie schon in Mea Culpa an einem Pult am vorderen rechten Bühnenrand vor einer riesigen Leinwand, die das Tief der Bühne bedeckt, und zeigt Fotos und Videos vom Operndorf und der Suche danach. Schlingensief beschreibt die damaligen Situationen und Zustände ebenso wie die Produktionsbedingungen der Inszenierung und die Fehler und Irrwege des Operndorfprojektes. Er scheint alles offenlegen zu wollen und in der Aufführung durch die Teilhabe und Teilung seiner Erfahrungen diese beschreibbar, beobachtbar, kritisierbar zu machen und herauszufinden, wo und wie sie anders gemacht werden könnten, zu anderen Zeitpunkten, in anderen Kontexten, von anderen. Seiner Verletzbarkeit, seiner sichtbaren Versehrung durch die Krebserkrankung und seinem Selbstzweifel steht die Kraft des heterogenen Teams aus Burkina Faso zur Seite und zugleich entgegen, dessen Mitglieder ihre Alltagssituationen ebenso wie ihre Zusammenarbeit mit Christoph Schlingensief für diese Produktion verhandeln. Sie berichten von verschiedenen Diskriminierungserfahrungen im täglichen Leben und schlagen dagegen einen kämpferischen Ton an, der die Zerrissenheit und verzagten Selbstzweifel Schlingensiefs zu übertönen vermag. Wie in den Rollenspielen von Joachim Meyerhoff und Stefan Kolosko in den vorangegangenen Inszenierungen kündigt sich hier ein sukzessives Zurücktreten Christoph Schlingensiefs aus seiner Arbeit an, mit dem er noch im Leben stehend und schon im Sterben begriffen seinen zukünftigen Tod antizipiert. Zugleich wird seine Arbeit, ihr Nachleben, aber auch das Nachleben der Person Christoph Schingensief in die Hände und Existenzen der jeweiligen Schauspieler *innen gegeben, und es wird, im übertragenen Sinne, zugleich in das Operndorf gelegt, das nun von Aino Laberenz und ihrem Team geleitet sowie durch die lokalen Akteur *innen vor Ort gelebt und gestaltet wird. Wenn Stefan Kolosko nach Schlingensiefs Tod dessen Rolle in Via Intolleranza II übernimmt, beginnt in dieser Konstellation wiederum etwas, das sich in dem Operndorf-Projekt noch einmal zuspitzt : die endgültige und konstitutive Abwesenheit Schlingensiefs, die aber nicht absolut ist, weil dessen Ideen und vormalige tatsächliche Präsenz immer noch Antriebsfeder

4

Eine Variation des Titels von Luigi Nonos Oper Intolleranza 1960.

323

324

Erben

von künstlerischer und sozialer Produktivität sind. Daran ändert die Tatsache, dass Schlingensief gestorben ist und das Projekt nicht selber vollständig realisieren konnte, wenig – im Gegenteil: gerade diese konstitutive Abhängigkeit des Projekts von anderen, von dem Ort, an dem es entsteht, die Vervollkommnung durch die Umwelt, in der es sich ereignet, diese konstitutive Öffnung steht emblematisch für eine dezentrierte und dezentrierende Ästhetik, für eine Ästhetik der situativen, konstellativen und intersubjektiven wie sozialen Öffnung, eine Ästhetik des existenziellen Verwobenseins, die Schlingensiefs Arbeit schon immer gekennzeichnet hat und die hier anhand von seinem Spätwerk dargelegt wurde. Und zugleich liegen die personellen Differenzen und die durch das Fehlen seiner Person entstehende Kluft vollkommen offen dar.

Kunst und Existenz

Schließlich, Ethik In der ihr eigenen Theatralität führt uns Christoph Schlingensiefs Kunst Leben und Sterben als theatrale Praktiken auf der Bühne des Möglichen, dem Theater der Existenz, auf. Die fundamentale und existenzielle Verwobenheit, die uns in unserem Sein konstituiert und sich über den Tod hinaus erstreckt, wird in Schlingensiefs um Leben, Krankheit und Sterben kreisenden Spätwerk auf kunstspezifische Weise, als ästhetische Kategorie auf und in den unterschiedlichen Ebenen und Dimensionen der Arbeiten verhandelt. Diese elementare Verflechtung erschließt sich hier unter den jeweiligen Bedingungen und Möglichkeiten der einzelnen Künste, künstlerischen Praktiken und Medien, welche dabei ihrerseits in ihren Möglichkeitsräumen erweitert und unter existenziellen Vorzeichen fortgeschrieben werden. Die ethischen Fragen sind bei ihm nicht ohne die ästhetischen zu haben. Und dies nicht etwa, weil sie mit unseren Existenzweisen nichts zu tun hätten und allein selbstreferenziell fungierten, im Gegenteil. Gerade in ihrer je spezifischen Theatralität vermögen es die Künste, so führt es uns Schlingensief vor und auf, etwas über die Fasern unserer intersubjektiven, gemeinschaftlichen und sozialen Existenz zu offenbaren, in der die Scheidung von Leben und Tod durchlässig erscheint, indem sie unsere Verbundenheit entwerfen als etwas, das über den Tod hinaus fortdauert. Sie wird hier zur Wahrnehmung gebracht als ästhetischer Erfahrungsraum der Existenz, als ein fundamental oszillierender Raum, ein situativer Zwischenraum, zwischen Nähe und Distanz, An- und Abwesenheit, Öffnung und Schließung, Bedeutung und Präsenz, Verfügung und Entzug, sinnlicher Gewissheit und Glauben, Leben und Tod. In seinen späten Arbeiten, die allesamt um die persönlichen Krankheitserfahrungen und die Konfrontation mit dem eigenen Sterben kreisen, verschiebt Schlingensief noch einmal das Verhältnis von Kunst und Leben. Der Auftrag der Kunst wird existenziell, er lehrt uns sterben und kündet von unserer konstitutiven sozialen Verwobenheit mit unserer Umwelt und den anderen. In einer sich im Antlitz des Todes zuspitzenden Theatralität der Existenz erfahren wir in der Kunst Christoph Schlingensiefs unser Ausgesetztsein in der Welt, wird unser Leben als in den Händen der anderen liegend wahrnehmbar.

325

Literatur

Abramović, Marina, 7 Easy Pieces, mit Fotografien von Attilio Maranzano und Filmstills von Babette Mangolte, Mailand: Charta, 2007. Aczel, Richard, »Subjekt und Subjektivität«, in: Nünning, Angar ( Hg.), Metzler Lexikon, Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart / Weimar : Metzler, 2004, S.  637  f. Adorno, Theodor W., Versuch über Wagner, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1952.  — Negative Dialektik, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 2013.  — Ästhetische Theorie, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1970.  — Philosophie der neuen Musik, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1978.  — »Die Kunst und die Künste«, in: Ders., »Ob sich nach Auschwitz noch leben lasse«. Ein philosophisches Lesebuch, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1997, S.  411‒  433. Adriani, Götz / Konnertz, Winfried / Thomas, Karin, Joseph Beuys. Leben und Werk, Köln: DuMont, 1994. Altenberg, Theo / Oberhuber, Oswald ( Hg.), Gespräche mit Joseph Beuys. Joseph Beuys in Wien und am Friedrichshof, Klagenfurt : Ritter, 1988. Annuß, Evelyn, »Christoph Schlingensiefs autobiografische Inszenierungen«, in: Janke, Pia /  Kovacs, Teresa ( Hg.), Der Gesamtkünstler Christoph Schlingensief, Wien: Praesens, 2011, S.  291‒  304. Anz, Thomas, Gesund oder krank ? Medizin, Moral und Ästhetik in der deutschen Gegenwartsliteratur, Stuttgart: Metzler, 1989. Arbeitsgruppe München, »Kunst und Todesritual. Handeln auf der Grenze zwischen Leben und Tod«, in: Fischer-Lichte, Erika / Horn, Christian / Umathum, Sandra / Warstat, Matthias ( Hg.), Ritualität und Grenze, Tübingen / Basel: Francke, 2003, S.  69 ‒  90. Artaud, Antonin, Das Theater und sein Double, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1979. Asholt, Wolfgang, »Avantgarde«, in: Nüning, Ansgar ( Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart / Weimar: J.   B. Metzler, 2004, S.  40  ff. Austin, John L., Zur Theorie der Sprechakte. ( How to do things with Words ), Stuttgart : Reclam, 2007.

328

Theatralität der Existenz

Avanessian, Armen / Menninghaus, Winfried / Völker, Jan ( Hg.), Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, Berlin / Zürich: diaphanes, 2009. Avanessian / Menninghaus / Völker, »Einführung«, in: Dies. ( Hg.), Vita aesthetica, a.  a. O., S.  7 ‒11. Badiou, Alain, Fünf Lektionen zum ›Fall‹ Wagner, Berlin / Zürich : diaphanes, 2012. Badura-Triska, Eva, »Die Erweiterung der Malerei. Vom Tafelbild zur Aktion«, in: Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien / Badura-Triska, Eva / Klocker, Hubert ( Hg.), Wiener Aktionismus. Kunst im Aufbruch im Wien der 1960er Jahre, Köln: Walther König, 2012, S.  31 ‒ 34. Barnes, John, The Beginnings of Cinema in England 1894  ‒1901, Exeter : University of Exeter Press, 1998. Barthes, Roland, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1985.  — »Zuhören«, in: Ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays, Bd.  3, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1990, S.  249  ‒ 263.  — »Die Rauheit der Stimme«, in: ebenda, S.  269  ‒ 278. Bazin, André, »Ontologie des photographischen Bildes«, in: Ders., Was ist Film ?, Berlin: Alexander-Verlag, 2004, S.  33  ‒  42. Belting, Hans, »Der Werkbegriff der künstlerischen Moderne«, in: Klinger, Cornelia / MüllerFunk, Wolfgang ( Hg.), Das Jahrhundert der Avantgarden, München: Fink, 2004, S.  65‒  80. Benjamin, Walter, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: Ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1972, S.  7‒  65.  — Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1978. Bergson, Henri, Schöpferische Entwicklung, Hamburg : Meiner, 2013. Berka, Roman, Christoph Schlingensiefs Animatograph. Zum Raum wird hier die Zeit, Wien / New York : Springer, 2011. Bermbach, Udo, Der Wahn des Gesamtkunstwerks: Richard Wagners politisch-ästhetische Utopie, Frankfurt a.  M.: Fischer, 1994.  — / Dieter, Borchmeyer et.  al. ( Hg.), wagnerspectrum 1 ( 2008), »Der Gral«, Würzburg : Königshausen und Neumann.  — Mythos Wagner, Berlin: Rowohlt, 2013. Beuys, Joseph, »Heute am Telefon: Joseph Beuys« – Interview, in: Kölner Stadtanzeiger, 14.  /15. Juni 1968.  — Über das eigene Land sprechen, Wangen: FIU, 1995. Beyer, Barbara, »Christoph Schlingensief und die Oper«, in: Janke / Kovacs ( Hg.), Der Gesamtkünstler, a.  a. O., S. 151‒163. Biesenbach, Klaus / Gebbers, Anna-Catharina / Pfeffer, Susanne ( Hg.), Christoph Schlingensief, Ausstellungskatalog , London: Koenig Books, 2013. Block, René ( Hg.), 1962 Wiesbaden Fluxus 1982. Eine kleine Geschichte von Fluxus in 3 Teilen, Wiesbaden / Berlin: Harlekin Art, 1982.

Literatur

Blume, Eugen / Nichols, Catherine ( Hg.), Beuys. Die Revolution sind wir, Katalog zur Ausstellung im Hamburger Bahnhof vom 03. 10. 2008  ‒25. 02. 2009, Göttingen: Steidl, 2008. Blunck, Lars, »›Die Erhebung des Zufälligen zum Wesentlichen‹. Fluxus avant Fluxus : Cage, Kaprow, Brecht«, in: Graulich, Gerhard / Uhl, Katharina ( Hg.), Die Revolution der Romantiker. Fluxus Made in USA, Nürnberg : Verlag für moderne Kunst, 2014, S. 133  ‒163. Borchmeyer, Dieter / Hügner, Kurt, »Parsifal – christlich oder buddhistisch? Ein Briefwechsel des Philosophen Kurt Hügner mit Dieter Borchmeyer«, in: wagnerspectrum 1 ( 2008 ), S.  209  ‒ 222. Bormann, Hans-Friedrich, »›He got Shot for his Art‹. Tod als Medienphantasie in der Performance Art«, in: Fischer-Lichte et.  al. ( Hg.), Ritualität und Grenze, a.  a. O., S.  91‒107. Braidotti, Rosi, Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen, Frankfurt am Main: Campus, 2014. Brandl-Risi, Bettina, Tableaux vivants zwischen bildender Kunst, Theater und Literatur im 19. Jahrhundert, Freiburg i.  Br.: Rombach, 2013. Brandstetter, Gabriele, »Dies ist ein Test. Theatralität und Theaterwissenschaft«, in: FischerLichte, Erika / Horn, Christian / Umathum, Sandra / Warstat, Matthias ( Hg.), Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften, Tübingen / Basel: Francke, 2004, S.  27‒  42. Brandt, Susanne / Dammert, Rike / Jurack, Brigitte et.  al. ( Hg.), Joseph Beuys und die Fettecke. Eine Dokumentation zur Zerstörung der Fettecke in der Kunstakademie Düsseldorf, Heidelberg : Staeck, 1987. Braun, Marta, Picturing Time. The Work of Étienne-Jules Marey (1830  ‒1904 ), Chicago: Chicago University Press, 1992. Brucher, Rosemarie, Durch seine Wunden sind wir geheilt. Selbstverletzung als stellvertretende Handlung in der Aktion von Günther Brus, Wien: Löcker, 2008. Brus, Günter, »Malerei, Selbstbemalung, Selbstverstümmelung«, Sonderausgabe der Zeitschrift Le Marais zur gleichnamigen Ausstellung in der Galerie Junge Generation, (2 ) 1965. Bubner, Rüdiger, Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1989. Bürger, Peter, Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1974. Burgtheater ( Hg.), Mea Culpa. Eine ReadyMadeOper, Programmheft (194 ), Wien, 2009. Butler, Judith, Das Unbehagen der Geschlechter Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1991.  — Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1997.  — Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence, London / New York : Verso, 2004.  — Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 2005.  — »Gewalt, Trauer, Politik«, in: Dies., Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 2005, S.  36  ‒  68.  — Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 2006.  — Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt a.  M. / New York : Campus, 2010. Canguilhem, Georges, Krankheit – eine Frage der Philosophie, Berlin: Merve, 2004.  — Das Normale und das Pathologische, hg. v. Maria Muhle, Berlin: August, 2013.

329

330

Theatralität der Existenz

Caprow, Allan, Essays on the Blurring of Art and Life, Berkeley : University of California Press, 2003. Cavell, Stanley, »Ending the Waiting Game : A Reading of Beckets Endgame« in: Ders., Must we mean what we say ? A book of Essays, Cambridge: Cambridge University Press, 1966, S.  115  ‒162.  — »Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen«, in: Ders., Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen und andere philosophisches Essays, Frankfurt a.  M.: Fischer, 2002, S.  76  ‒110. Chion, Michel, »Das akusmatische Wesen. Magie und Kraft der Stimme im Kino«, in: Meteor. Texte zum Laufbild 6 (1996 ), S.  48  ‒ 58. Czirak, Adam, Partizipation der Blicke. Szenarien des Sehens und Gesehenwerdens in Theater und Performance, Bielefeld: transcript, 2012. Dahlhaus, Carl / Eggebrecht, Hans Heinrich ( Hg.), Brockhaus Riemann Musiklexikon, Bd.  2, Wiesbaden / Mainz : Schott’s Söhne, 1979. Damus, Martin, »Ready-made«, in: Berg, Hubertus van den / Fähnder, Walter ( Hg.), Metzler Lexikon Avantgarde, Stuttgart / Weimar: Metzler, 2009, S.  276  f. Danto, Arthur, Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1984. Darwin, Charles, Die Abstammung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, Stuttgart : Reclam, 1995.  — »Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen«, in: Ders., Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen und andere philosophisches Essays, Frankfurt a.  M.: Fischer, 2002, S.  76  ‒110. Deleuze, Gilles / Guattari, Felix, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve, 1992.  — Guattari, Felix, Rhizom, Berlin: Merve, 1977.  — Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1989. Descartes, René, Meditationes de Prima Philosophia. Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg  : Meiner, 1992. Deutsche Oper Berlin ( Hg.), Jeanne D’Arc – Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna, Programmheft, Berlin, 2008. Deutsch-Schreiner, Evelyn / Pewny, Katharina, »›Avant-garde ! Marmelade ! Avant-garde ! Marmelade !‹ Schlingensief und seine Verortung in den Avantgarden«, in: Janke / Kovacs ( Hg.), Der Gesamtkünstler, a.  a. O., S.  236  ‒ 248. Diederichsen, Diedrich, »Diskursverknappungsbekämpfung und negatives Gesamtkunstwerk: Christoph Schlingensief und seine Musik«, in: Janke / Kovacs ( Hg.), Der Gesamtkünstler, a.  a. O., S.  60  ‒  68.  — »Diskursverknappungsbekämpfung, Vergebliche Intention und negatives Gesamtkunstwerk: Christoph Schlingensief und seine Musik«, in: Gaensheimer ( Hg.), Christoph Schlingensief. Deutscher Pavillon 2011, a.  a. O., S. 184  ‒190. Diekmann, Stefanie ( Hg.), Theaterfeindlichkeit, München: Fink, 2012. Dittrich, Sigrid und Lothar, »Hase und Kaninchen«, in: Dies., Lexikon der Tiersymbole, Tiere als Sinnbilder der Malerei des 14.‒17. Jahrhunderts, Petersberg : Michael Imhof Verlag, 2004, S. 194 ‒ 206.

Literatur

Douglas, Mary, Reinheit und Gefährdung, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1988. Dreher, Thomas, Performance Art nach 1945. Aktionstheater und Intermedia, München: Fink, 2001. Dubois, Philippe, Der Fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv. Amsterdam /  Dresden: Verlag der Kunst, 1998. Eco, Umberto, Das offene Kunstwerk, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1998. Egert, Gerko /  Apostolou-Hölscher, Stefan / Haas, Maximilian / Diagne, Mariama / Hagemann, Simon / Hahn, Daniela, »Bühnen des Nicht-Menschlichen«, in: Haß, Ulrike et. al. ( Hg.), Episteme des Theaters. Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit, Bielefeld : transcript, 2016, S. 193  ‒ 216. Ehrlicher, Hanno, Die Kunst der Zerstörung. Gewaltphantasien und Manifestationspraktiken europäischer Avantgarden, Berlin: Akademie Verlag, 2001. Eiermann, André, Postspektakuläres Theater. Die Alterität der Aufführung und die Entgrenzung der Künste, Bielefeld : transcript, 2009. Emmett, Williams, My Life in Flux ‒ and Vice Versa, London: Thames and Hudson, 1992. Ermen, Reinhard, Joseph Beuys, Reinbek : Rowohlt, 2007. Ernst, Jutta, »Modernismus«, in: Nünning, ( Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, a.  a. O., S.  470  ‒  472. Erstic, Marijana / Schuhen, Gregor / Schwan, Tanja ( Hg.), Avantgarde, Medien, Performativität. Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Bielefeld: transcript, 2005. Eue, Ralph / Gass, Lars Henrik ( Hg.), Provokationen der Wirklichkeit. Das Oberhausener Manifest und die Folgen, München: text  +  kritik, 2012. Fath, Rolf, »Parsifal«, in: Reclams Opernführer, Stuttgart : Reclam, 2002, S.  327 ‒ 332. Fischer-Lichte, Erika, »Zwischen Differenz und Indifferenz. Funktionalisierungen des MontageVerfahrens bei Heiner Müller«, in: Dies. / Schwind, Klaus ( Hg.), Avantgarde und Postmoderne. Prozesse struktureller und funktioneller Veränderungen, Tübingen: UTB, 1991, S.  231‒  245.  — Die Entdeckung des Zuschauers. Paradigmenwechseln auf dem Theater des 20. Jahrhunderts, Tübingen: Francke, 1997  — Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen / Basel : Francke, 1999.  — »Ritualität und Grenze. Einleitung«, in: Dies. / Horn, Christian / Umathum, Sandra / Warstat, Matthias ( Hg.), Ritualität und Grenze, Tübingen / Basel : Francke, 2003, S. 11‒  30.  — Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 2004a.  — et.  al. ( Hg.) Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften, a.  a. O.  — »Interart-Ästhetiken«, in: Brosch, Renate ( Hg.), Ikono / Philo / Logie: Wechselspiele von Texten und Bildern, Berlin: trafo, 2004b, S.  25  ‒  42.  — / Kolesch, Doris / Warstat, Matthias ( Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart / Weimar : Metzler, 2005.  — »Inszenierung«, in: Dies. et.  al. ( Hg.), Theatertheorie, a.  a. O., S. 146  ‒153.  — Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die Grundlagen des Faches, Tübingen: Francke, 2010.

331

332

Theatralität der Existenz

Focke, Ann-Christin, Unterwerfung und Widerstreit. Strukturen einer neuen politischen Theaterästhetik, München: Utz, 2011. Földényi, László F., »Das zwiespältige Erbe der Romantik«, in: Klinger / Müller-Funk, Das Jahrhundert der Avantgarden, a.  a. O., S.  53  ‒  62. Fornoff, Roger, Die Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk. Studien zu einer ästhetischen Konzeption der Moderne, Hildesheim / Zürich : Olms, 2004. Forrest, Tara / Scheer, Anna Teresa ( Hg.), Christoph Schlingensief. Art without Borders, Bristol / Chicago: intellect, 2010.  — »From Information to Experience. Christoph Schlingensief ’s Quiz 3000«, in: Forrest /  Scheer ( Hg.), Christoph Schlingensief. Art without Borders, a.  a. O., S. 194  ‒ 212.  — »Productive Discord: Schlingensief, Adorno, and Freakstars 3000«, in: Forrest / Scheer ( Hg.), Christoph Schlingensief. Art without Borders, a.  a. O., S. 123  ‒137. Foucault, Michel, Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 2007.  — Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt a.  M.: Fischer, 2008a.  — Sexualität und Wahrheit, Bd.  1‒  3, in: Ders., Die Hauptwerke, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 2008b, S. 1021‒1582. Frank, Manfred, ›Unendliche Annäherung‹. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1997. Freud, Sigmund, Totem und Tabu, hg.  v. Herman Westerink, Göttingen: V & R University Press, Vienna University Press, 2013. Fried, Michael, »Kunst und Objekthaftigkeit«, in: Stemmrich, Gregor ( Hg.), Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden / Basel: Verlag der Kunst, 1995, S.  334  ‒ 375. Gaensheimer, Susanne ( Hg.), Christoph Schlingensief. Deutscher Pavillon 2011, Publikation zur 54. Internationalen Kunstausstellung, La Biennale di Venezia, 4. Juni bis 27. November 2011, Köln : Kiepenheuer & Witsch, 2011. Gebauer, Gunter / Wulf, Christoph, Mimesis. Kunst – Kultur – Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg: Rohwolt, 1992. Gennep, Arnold van, The Rites of Passage, London: Routledge, 2004. Girshausen, Theo, »Mimesis«, in: Fischer-Lichte / Kolesch / Warstat ( Hg.), Theatertheorie, a.  a. O., S.  201‒  208. Gronau, Barbara, Theaterinstallationen. Performative Räume bei Beuys, Boltanski und Kabakov, München: Fink, 2010. Hadot, P. / Guggenberger, A., »Existenz«, in: Ritter, Joachim ( Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.  2 D ‒ F, Basel: Schwabe & Co, 1972, S.  854  ‒ 860. Hahn, Daniela / Fischer-Lichte, Erika ( Hg.), Ökologie und die Künste, Paderborn: Fink, 2015. Harlan, Volker / Rappmann, Rainer / Schata, Peter ( Hg.), Soziale Plastik. Materialien zu Beuys, Wangen: Achberger, 1984.  — ( Hg.), Was ist Kunst ?  Werkstattgespräch mit Joseph Beuys, Stuttgart : Urachaus, 1986. Hecken, Thomas, Avantgarden und Terrorismus. Rhetorik der Intensität und Programme der Revolten von den Futuristen bis zur RAF, Bielefeld: transcript, 2006.

Literatur

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Phänomenologie des Geistes, Hamburg : Meiner, 1988. Hegemann, Carl ( Hg.), Ausbruch der Kunst. Politik und Verbrechen II, Berliner: Alexander Verlag, 2003.  — »›Alles schreit‹. Notizen zu Christoph Schlingensiefs Parsifal-Inszenierung anläßlich der Premiere am 25. Juli 2004«, http://www.schlingensief.com/projekt.php?id=t044& article=hegemann , [19. 12.  2018 ].  — ( Hg.), Kunst und Gemüse, Theater ALS Krankheit, Berlin: Alexander Verlag , 2004.  — im Gespräch zu »Schlingensiefs Theaterfamilie«, in Kovacs / Janke ( Hg.), Der Gesamtkünstler, a.  a. O., S.  269  ‒ 282. Hegenbart, Sarah, »A New Idea of Art – Christoph Schlingensief and the Opera Village Africa«, The White Review 5, August 2012, S.  27  ‒ 35. Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer, 1984. Heineke, Thekla / Umathum, Sandra ( Hg.), Christoph Schlingensiefs Nazis rein. Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 2002. Heraklit, Fragmente, griechisch und deutsch, hg.  v. Snell, Bruno, Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1976. Hieber, Lutz / Moebius, Stephan ( Hg.), Avantgarden und Politik. Künstlerischer Aktivismus von Dada bis zur Postmoderne, Bielefeld: transcript, 2009. Honneth, Axel, Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 2010. Jäger, Joachim / Nationalgalerie Staatliche Museen zu Berlin ( Hg.), Paul McCarthy – The Box, Ostfildern: Hantje Cantz, 2012. Jahraus, Oliver, Die Aktion des Wiener Aktionismus. Subversion der Kultur und Dispositionierung des Bewusstseins, München: Fink, 2001. Janke, Pia / Kovacs, Teresa (  Hg.), Der Gesamtkünstler Christoph Schlingensief, Wien: Praesens, 2011. Jelinek, Elfriede, Bambiland. Babel. Zwei Theatertexte, Reinbek : Rohwolt, 2004.  — »Assistent des Verschwindens«, Theater der Zeit (10 ), 2010, S. 13  ‒15. Kalchschmid, Klaus, »Zwölf Töne gegen die Mode. Zur Musik-Dramaturgie in Schönbergs erster Zwölfton-Oper«, in: Volkmer, Klaus / Kalchschmid, Klaus / Primavesi, Patrick ( Hg.), Schönberg / Blond / Huillet / Straub. Von heute auf morgen. Oper / Musik / Film, Berlin: Vorwerk 8, 1997, S. 73  ‒  85. Kellein, Thomas, Fluxus, London: Thames and Hudson, 1995. Kemp, Wolfgang , »Hase«, in: Kirschbaum, Engelbert ( Hg.), Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd.  2, Freiburg i. Breisgau / Basel u.  a.: Herder, 1970, S.  221‒225. Klein, Ernest ( Hg.), A Comprehensive Etymological Dictonary, Bd. 1, A‒ K, Amsterdam / London / New York : Elsevier, 1966. Klinger, Cornelia / Müller-Funk, Wolfgang ( Hg.), Das Jahrhundert der Avantgarden, München: Fink, 2004.  — »Die Utopie der Versöhnung von Kunst und Leben. Die Transformation einer Idee im 20.

333

334

Theatralität der Existenz

Jahrhundert. Vom Staat als Kunstwerk zum life-style des Individuums«, in: Klinger / Müller-Funk ( Hg.), Das Jahrhundert der Avantgarden, a.  a. O., S.  211‒ 245. Klocker, Hubert ( Hg.), Wiener Aktionismus 1960  ‒1971, Bd.  2, Der zertrümmerte Spiegel. Günter Brus, Otto Mühl, Hermann Nitsch, Rudolf  Schwarzkogler, Klagenfurt : Ritter, 1989. Kluge, Alexander, »On New German Cinema, Art, Enlightenment, and the Public Sphere. An Interview with Alexander Kluge«, October 46 (1988), S.  23  ‒ 59.  — Geschichten vom Kino, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 2007. Knapp, Lore, Formen des Kunstreligiösen. Peter Handke – Christoph Schlingensief, München: Fink , 2015.  — / Lindholm, Sven / Pogoda, Sarah ( Hg.), Christoph Schlingensief und die Avantgarde, Paderborn: Fink, 2019. Knappstein, Gabriele, »Fluxus«, DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, hg.  v. Hubertus Butin, Köln: DuMont, 2002, S.  86  ‒  90. Koch, Gertrud / Pantenburg, Volker / Rothöler, Simon ( Hg.), Screen Dynamics. Mapping of Borders of Cinema, Wien: Synema, 2012. Koegel, Alice / König, Kasper ( Hg.), AC: Christoph Schlingensief – Church of Fear, Köln: Walther König , 2005. Kolesch, Doris, »Die Spur der Stimme Überlegungen zu einer performativen Ästhetik«, in: Epping-Jäger, Cornelia / Linz, Erika ( Hg.), Medien / Stimmen, Köln: Dumont, 2003, S.  267 ‒191.  — / Lehmann, Annette Jael, »Inter / Aktionen? Selbstinszenierung und Medialisierung bei Bruce Nauman, Joan Jonas und Vito Acconci«, in: Clausen, Barbara ( Hg.), After the Act. Die (Re)Präsentation der Performancekunst, Wien: MUMOK 2005b, S.  69 ‒  82.  — »Imperfekt: Zur Ästhetik anderer Körper auf der Bühne«, in: Huber, Jörg ( Hg.), Einbildungen ( Interventionen 14 ), Institut für Theorie und Gestaltung Zürich / Wien / New York : Springer, 2005a, S. 193  ‒ 206.  — / Krämer, Sybille ( Hg.), Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 2006.  — »Die Schmerzen Anderer betrachten«, in: Caduff, Corina / Wälchli, Tan ( Hg.), Schmerz in den Künsten, Zürich : Zürcher Hochschule der Künste, 2009, S.  88  ‒101.  — »Die Geste der Berührung«, in: Fischer-Lichte, Erika / Wulf, Christoph ( Hg.), Gesten. Inszenierung, Aufführung , Praxis, München: Fink, 2010, S.  225  ‒241. Kovacs, Teresa, »›60 Sekunden im Krieg‹. Christoph Schlingensiefs Umgang mit Bildern des Irakkriegs in Elfriede Jelineks Bambiland«, in: Elfriede Jelinek-Forschungszentrum ( Hg.), JELINEK [  JAHR] BUCH, Wien: Praesens, 2001, S.  207 ‒  219.  — »Theater, Raum, Bewegung. Von Kieslers Railway-Theater zu Schlingensiefs Opern-Geisterbahn«, in: Knapp et.  al. ( Hg.), Schlingensief und die Avantgarde, a.  a. O. Krämer, Sybille, »Was also ist eine Spur ? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle ? Eine Bestandsaufnahme«, in: Dies. / Kogge, Werner / Grube, Gernot ( Hg.), Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 2007, S. 11‒ 36.

Literatur

Kreuder, Friedemann, »Gesamtkunstwerk«, in: Fischer-Lichte, et.  al. ( Hg.), Theatertheorie, a.  a. O., S. 127  ‒129. Kristeva, Julia, Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1990. Kroß, Kati, »Christoph Schlingensief ’s Freakstars 3000: › … Consistently Abused and Forced to Portray Disability !‹«, in: Umathum, Sandra / Wihstutz, Benjamin ( Hg.): Disabled Theater, Berlin, Zürich: diaphanes, 2015, S. 167 ‒185.  — Freaks Versehrte Idioten Behinderte. Die fotografische Repräsentation des (im) perfekten Menschen, Masterarbeit verfasst 2010 am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin, unveröffentlicht. Kümmel, Peter, »Ihn brennt der Tod«, in: DIE ZEIT 40, 25. 09. 2008, http://www.zeit.de/ 2008/40/Ruhrtriennale?page=1; [19. 12.  2018 ]. Kultur Ruhr GmbH ( Hg.), Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir, Fluxus-Oratorium von Christoph Schlingensief, Programmheft, Gelsenkirchen, 2008. Langston, Richard, Visions of violence: German avant-gardes after fascism, Evanston: Northwestern University Press, 2008.  — »Schlingensief ’s Peep Show: Postcinematic Spectacles and the Public Space of History«, in: Halle, Randall / Steingröver, Reinhild ( Hg.), After the Avant-Garde. Contemporary German and Austrian Experimental Film, Rochester / New York : Camden, 2008, S.  204  ‒224. Lehmann, Annette Jael, »Spuren der Präsenz, Spuren der Absenz – Performativität und Erinnerung im Zeitalter von AIDS«, in: Paragrana. Theorien des Performativen 9/2 ( 2000 ), S.  217–  236. Lehmann, Fabian / Siegert, Nadine / Vierke, Ulf ( Hg.), Art of Wagnis. Christoph Schlingensief ’s Crossing of  Wagner and Africa, Wien: Verlag für Moderne Kunst, 2017. Lehmann, Hans-Thies, Postdramatisches Theater, Frankfurt a.  M.: Verlag der Autoren, 2005. Leibniz, Gottfried Wilhelm, Monadologie, hg.  v. Hubertus Busche, Berlin: Akademie Verlag , 2009. Lejeune, Philippe, Der autobiographische Pakt, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1999. Lesák, Barbara, Die Kulisse explodiert. Friedrich Kieslers Theaterexperimente und Architekturprojekte 1923  ‒1925, Wien: Löcker, 1988. Lessing , Gotthold Ephraim, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, Stuttgart : Reclam, 1964.  — Hamburgische Dramaturgie, Stuttgart: Reclam, 1981. Lévinas, Emmanuel, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, La Haye : Martinus Nijhoff, 1978.  — Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg / München: Alber, 1992. Lilienthal, Matthias / Philipp, Claus ( Hg.), Schlingensiefs »Ausländer Raus ! Bitte liebt Österreich«, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 2000.  — »›Der Provokateur‹. Gespräch mit Stefanie Carp, Matthias Lilienthal, Armin Thurner, moderiert von Pia Janke und Teresa Kovacs«, in: Janke / Kovacs ( Hg.), Der Gesamtkünstler, a.  a. O., S.  472  ‒  484.  — »Achtzig Prozent Eigendynamik. Matthias Lilienthal im Gespräch mit Franz Wille«, in: Gaensheimer ( Hg.), Christoph Schlingensief. Deutscher Pavillon 2011, a.  a. O., S.  259  ‒ 265.

335

336

Theatralität der Existenz

Lochte, Julia / Schulz, Wilfried ( Hg.), Schlingensief    ! Notruf für Deutschland. Über die Mission, das Theater und die Welt des Christoph Schlingensief, Hamburg : Rotbuch, 1998. Loers, Veit, »Als die Bilder laufen lernten. Zur Ästhetik des frühen Wiener Aktionismus«, in: Museum Fridericianum Kassel et.  al. ( Hg.), Wiener Aktionismus, Bd.  1, Klagenfurt : Ritter, 1988, S. 11‒ 25. Low, Rachel / Manvell, Roger, The History of the British Film 1896  ‒1906, London: George Allen & Unwin, 1972. Lücke, Bärbel, »›Zwei Vermischungskünstler‹. Über Texte Jelineks für Schlingensief«, in: Janke / Kovacs ( Hg.), Der Gesamtkünstler, a.  a. O., S.  377  ‒ 392. Luhmann, Niklas, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1997.  — »Das Medium der Kunst«, in: Ders: Aufsätze und Reden, hg.  v. Oliver Jahraus, Stuttgart: Reclam, 2001, S. 198  ‒ 218. Macho, Thomas / Lutz, Petra ( Hg.), Der (im) perfekte Mensch: Metamorphosen von Normalität und Abweichung, Köln: Böhlau, 2003. Maffei, Giorgio / Peterlini, Patrizio ( Hg.), Fluxusbooks. Fluxus Artist Books. From the Luigi Bonotto Collection, Mailand: Mousse, 2015. Man, Paul de, »Autobiographie als Maskenspiel«, in: ders., Die Ideologie des Ästhetischen, hg.  v. Christoph Menke, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1993, S. 131‒146. Matzke, Annemarie Mieke, Testen, Spielen, Tricksen, Scheitern. Formen szenischer Selbstinszenierung im zeitgenössischen Theater, Hildesheim: Olms, 2005. McCarthy, Paul, Brain Box. Dream Box, hg.  v. Van Abbemuseum Eindhoven, Düsseldorf, Richter, 2004. McGovern, Fiona, »Display«, in: Jörn Schafaff, Nina Schallenberg und Tobias Vogt ( Hg.), Kunst – Begriffe der Gegenwart, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 2013, S.  43  f.  — Die Kunst zu zeigen. Künstlerische Ausstellungsdisplays bei Joseph Beuys, Martin Kippenberger, Mike Kelley und Manfred Pernice, Bielefeld: transcript, 2014. Meier, Albert /  Alessandro, Costazza / Laudin, Gérad ( Hg.), Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept in seiner historischen Entfaltung, Bd. 1, Der Ursprung des Konzepts, Berlin / New York : de Gruyter, 2011.  — Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept in seiner historischen Entfaltung, Bd.  2, Die Radikalisierung des Konzepts nach 1850, Berlin / New York : de Gruyter, 2012. Meifert, Franziska, »Zweimal Geborene. Der Wiener Aktionismus im Spiegel von Mythen, Riten und Geschichten«, in: protokolle. Zeitschrift für Literatur und Kunst (1), 1990. Menke, Christoph, Die Souveränität der Kunst: Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1988.  — / Rebentisch, Juliane ( Hg.), Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin: Kadmos, 2010. Mersch, Dieter, »Präsenz und Ethizität der Stimme«, in: Kolesch / Krämer ( Hg.), Stimme, a.  a. O., S.  211‒  235. Mertes, Klaus, »Requiem für Christoph Schlingensief, Oberhausen, 30. August 2010«, Trauerrede, in: Gaensheimer ( Hg.), Deutscher Pavillon 2011, a.  a. O., S.  279  ‒282.

Literatur

Metscher, Thomas, »›Seine Dramen sind Weltexperimente‹. Zum 400. Todestag von William Shakespeare. Ein Gespräch mit Thomas Metscher«, in: Junge Welt (103 ), 03.  05.  2016, S. 12  f. Most, Glenn W., ›Der Finger in der Wunde‹. Die Geschichte des ungläubigen Thomas, München: C.  H. Beck Verlag , 2007. Mühlemann, Kaspar, Christoph Schlingensief und seine Auseinandersetzung mit Joseph Beuys, Frankfurt a.  M.: Peter Lang , 2011. Müller, Heiner, »Verwandlung«, in: Ich bin ein Landvermesser. Gespräche mit Alexander Kluge, Hamburg: Rotbuch, 1996. Müller, Michael, »Avantgarde, Subjekt und Massenkultur«, in: Klinger / Müller-Funk ( Hg.), Das Jahrhundert der Avantgarden, a.  a. O., S. 171‒180. Müller-Funk, Wolfgang, »Prophetie und Ekstase. Avantgarde als Erweckungsbewegung«, in: Klinger / Ders. (Hg.), Das Jahrhundert der Avantgarden, a.  a. O., S.  27‒  52. Muhle, Maria, Eine Genealogie der Biopolitik. Zum Begriff des Lebens bei Foucault und Canguilhem, Bielefeld: transcript, 2008. Mukherjee, Siddharta, Der König aller Krankheiten. Krebs – Eine Biografie, Köln: Dumont, 2012. Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien ( Hg.), Yves Klein, Wien / New York : Springer, 2007. Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien / Badura-Triska, Eva / Klocker, Hubert ( Hg.), Wiener Aktionismus. Kunst im Aufbruch im Wien der 1960er Jahre, Köln: Walther König, 2012. Nancy, Jean-Luc, Der Eindringling. Das fremde Herz, Berlin: Merve, 2000.  — Corpus, Berlin / Zürich: diaphanes, 2003.  — singulär plural sein. Berlin / Zürich: diaphanes, 2004.  — Noli me tangere, Berlin / Zürich: diaphanes, 2008. Niermann, Jan Endrik, Schlingensief und das Operndorf Afrika. Analysen der Alterität, Wiesbaden: VS Springer, 2013. Nietzsche, Friedrich, »Der Fall Wagner«, in: Ders., Nietzsche’ s Werke, Bd.  4, Leipzig: Kröner 1919, S. 1‒  58.  — »Nietzsche contra Wagner«, in: Ders., Nietzsche’ s Werke. a.  a. O., S. 183  ‒ 212. o.  A., »Fluxus« in: Klein, Ernest ( Hg.), A Comprehensive Etymological Dictonary, Volume I  A ‒ K, Amsterdam / London / New York: Elsevier Publishing Company, 1966, S.  605. o.  A., »flux, fluere« Walde, A. / Hofmann, J.  B. ( Hg.), Lateinisches Etymologisches Wörterbuch, Band I A‒ L, Heidelberg : Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung, 1938, S.  519. O’Doherty, Brian, »Die weiße Zelle und ihre Vorgänger«, in: Ders., In der weißen Zelle / Inside the White Cube, Berlin: Merve, 1996, S.  7 ‒  33.  — »Das Auge und der Betrachter«, in: Ders., In der weißen Zelle, a.  a. O., S.  34 ‒  69. Pape, Helmut, »Fußabdrücke und Eigennamen. Peirces Theorie des relationalen Kerns der Bedeutung indexikalischer Zeichen«, in: Krämer, Sybille / Kogge, Werner / Grube, Gernot ( Hg.), Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 2007, S.  37 ‒ 54. Phelan, Peggy, Unmarked. The Politics of Performance, London: Routledge, 1993.  — Mourning Sex. Performing Public Memories, London / New York : Routledge, 1997.

337

338

Theatralität der Existenz

Philipp, Claus, »Brief an die Burg«, in: Area 7 – Eine Matthäusexpidition, Programmheft, Wien, 2006. Plessner, Helmuth, »Zur Anthropologie des Schauspielers«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd.  7, hg.  v. Günter Dux / Odo Marquard / Elisabeth Ströker, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1982, S.  399  ‒  418.  — »Soziale Rolle und menschliche Natur«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10, hg.  v. Günter Dux / Odo Marquard / Elisabeth Ströker, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 1985, S.  227 ‒ 240. Rancière, Jacques, »Die Aufteilung des Sinnlichen. Ästhetik und Politik«, in: Ders. Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin: b_books, 2006, S.  21‒  75. Rathert, Wolfgang, »Offene Feinde und heimliche Freunde. Ursprünge und Motive des AntiWagnerianismus in der Moderne«, in: wagnerspectrum 2 ( 2010 ), »Wagner und die neue Musik«, S. 17 ‒   41. Raunig, Gerald, Kunst und Revolution. Künstlerischer Aktivismus im langen 20.   Jahrhundert, Wien: Turia + Kant, 2005. Rebentisch, Juliane, Ästhetik der Installation, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 2003.  — Theorien der Gegenwartskunst. Zur Einführung, Hamburg : Junius, 2013. Reckwitz, Andreas, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 2012. Renn, Wendelin ( Hg.), Der unbekannte Fontana, Ostfildern-Ruit: Hantje Cantz, 2003. Ritter, Joachim et.  al., »Ethik«, in: Ders. ( Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.  2 D ‒ F, Basel: Schwabe & Co, 1972, S.  759  ‒ 809. Roamn, David, »Performing all our Lives: AIDS, Performance, Communitiy«, in: Roach, Joseph / Reinelt, Janelle ( Hg.), Critical Theory and Performance, Ann Arbor: University of Michigan Press, 1992, S.  208  ‒ 221. Romain, Lothar / Wedemeyer, Rolf, Über Beuys, Düsseldorf: Droste, 1972. Roselt, Jens,  »Big Brother. Zur Theatralität eines Fernseheignisses«, in: Lilienthal / Philipp ( Hg.), Schlingensiefs »Ausländer raus !«, a.  a. O., S.  70  ‒ 78.  — ( Hg.), Schauspieltheorien. Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock bis zum postdramatischen Theater, Berlin: Alexander Verlag, 2005.  — / Otto, Ulf ( Hg.), Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld: transcript, 2012. Rossmann, Andreas, »Heile, heile, Angst«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.  09. 2008, S.  35. Rothöler, Simon, High Definition. Digitale Filmästhetik, Berlin: August Verlag, 2013. Ryba, Andreas, »Area 7 – Matthäusexpedition von Christoph Schlingensief. Eine Herausforderung«, in: Prospect 3 ( 2006 ), S.  32  ‒ 34. Sarasin, Philipp, Darwin und Foucault : Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie, Frankfurt a. M: Suhrkamp, 2009. Schaub, Miriam ( Hg.), Ansteckung. Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips, Paderborn / München: Fink , 2005.  — »Sich in den Weltzusammenhang hineindrehen. Schlingensiefs Animatograph, mit Aristoteles und Hegel gelesen«, in: Janke / Kovacs ( Hg.), Der Gesamtkünstler, a.  a. O., S. 177 ‒182.

Literatur

Schiller, Gertrud, Ikonographie der christlichen Kunst, Bd.  3, Die Auferstehung und Erhöhung Christi, Gütersloh: Gerd Mohn, 1971. Schlingensief, Christoph / Hegemann, Carl, Chance 2000 – Wähle Dich selbst, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1998a.  — et.  al., Talk 2000, Wien / München: Deuticke, 1998b.  — »Wir sind zwar nicht gut, aber wir sind da«, aufgezeichnetes Gespräch mit Julia Lochte und Wilfried Schulz, in: Dies. ( Hg.), Schlingensief   ! Notruf für Deutschland, a.  a. O., S. 12  ‒ 39.  — »Ein ganz großes Ja zum Leben«, Interview, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. 01.  2006.  — So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein. Tagebuch einer Krebserkrankung, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2009.  — »›Ich habe immer versucht, ihre Texte in Bilder zu übersetzen.‹ Christoph Schlingensief im Gespräch mit Teresa Kovacs«, in: Elfriede Jelinek-Forschungszentrum ( Hg.): JELINEK [ JAHR ] BUCH, Wien: Praesens, 2010, S. 15  ‒ 29.  — Ich weiß, ich war’s, hg.  v. Aino Laberenz, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2012. Schmid, Eva Verena, Oratorium und Musikfest. Zur Geschichte des Oratoriums in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Göttingen: Hainholz, 2012. Schneede, Uwe M., Joseph Beuys. Die Aktionen, Kommentiertes Werkverzeichnis mit fotografischen Dokumentationen, Stuttgart: Gerd Hatja, 1994. Schneider, Alexandra, ›Die Stars sind wir‹. Heimkino als filmische Praxis, Marburg : Schüren, 2004. Schößler, Franziska, »›Intermedialität‹ und ›das Fremde in mir‹. Christoph Schlingensiefs ReadyMadeOper Mea Culpa«, in: Janke / Kovacs ( Hg.), Der Gesamtkünstler, a.  a. O., S.  117‒135. Schott, Anselm ( Hg.), Das vollständige Römische Messbuch, lateinisch und deutsch, Freiburg: Herder, 1958. Seeßlen Georg, »Radikale Kunst. Schlingensiefs Ästhetik der Öffnung«, in: Janke / Kovacs ( Hg.), Der Gesamtkünstler, a.  a. O., S.  76  ‒ 87.  — »Kunst im Film. Nein. Kunst als Film«, in: Gaensheimer ( Hg.), Christoph Schlingensief. Deutscher Pavillon 2011, a.  a. O., S.  331‒337.  — Der Filmemacher Christoph Schlingensief, Berlin: getidan, 2015.  — »Über die Filme, das Theater und die Talkshow«, http://www.schlingensief.com/bio_ seesslen.php  , [19. 12.  2018 ]. Sollich, Robert, »Montage«, in: Fischer-Lichte / Kolesch / Warstatt ( Hg.), Theatertheorie, a.  a. O., S.  208  f. Sontag, Susan, »Happenings. Die Kunst des radikalen Nebeneinanders«, in: Dies., Geist als Leidenschaft. Ausgewählte Essays zur modernen Kunst und Kultur, Leipzig / Weimar : Kiepenheuer, 1990, S.  73  ‒ 85.  — Krankheit als Metapher. Aids und seine Metaphern, München: Hanser, 2003. Spangenberg, Peter M. »Aura«, in: Barck, Karlheinz ( Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Stuttgart / Weimar : Metzler, 2000, S.  400  ‒  416. Staatsoper Unter den Linden ( Hg.), Metanoia, Programmheft, 2010. Stahl, Johannes, »Installation«, in: Butin, Hubertus ( Hg.), DuMonts Begriffslexikon der zeitgenössischen Kunst, Köln: Dumont, 2002, S. 122  ‒126.

339

340

Theatralität der Existenz

Stewart, Garret, Framed Time. Toward a Postfilmic Cinema, Chicago / London: Chicago University Press, 2007. Tedjasukmana, Chris, Mechanische Verlebendigung. Ästhetische Erfahrung im Kino, Paderborn: Fink, 2014. Tholl, Egbert, »Alle sollen es wissen«, in: Süddeutsche Zeitung, 23.  09.  2008. Trimborn, Jürgen, Der Herr im Frack – Johannes Heesters, Berlin: Aufbau-Verlag, 2005. Trippett, David, Wagner’s Melodies. Aesthetics and Materialism in German Musical Identity, Cambridge: Cambridge University Press, 2013. Ullrich, Wolfgang, »Kunst / Künste / System der Künste«, in: Barck et.  al. ( Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, a.  a. O., S.  556  ‒ 616. Umathum, Sandra, »Avantgarde«, in: Fischer-Lichte / Kolesch / Warstat ( Hg.), Theatertheorie, a.  a. O., S.  26  ‒ 30.  — Kunst als Aufführungserfahrung. Zum Diskurs intersubjektiver Situationen in der zeitgenössischen Ausstellungskunst. Félix González-Torres, Erwin Wurm und Tino Sehgal, Bielefeld: transcript, 2011.  — »Theater der Selbstbefragung: Rocky Dutschke, ’68 oder die Kinder der Revolution«, in: Gaensheimer, Susanne ( Hg.), Christoph Schlingensief. Deutscher Pavillon 2011, a.  a. O., S.  341‒ 349.  — »Die Kunst des Abschiednehmens. Überlegungen zu Christoph Schlingensiefs Inszenierung vom eigenen Sterben und Tod,« in: Bachmann, Michael Kreuder, Friedemann / Pfahl, Julia / Volz, Dorothea ( Hg.): Theater und Subjektkonstitution, Bielefeld: Transcript, 2012, S.  253  ‒ 262.  — »Seven Easy Pieces oder die Kunst, die Geschichte der Performance Art zu schreiben«, http://www.academia.edu/4483224/Seven_Easy_Pieces_oder_von_der_Kunst_die_ Geschichte_der_Performance_Art_zu_schreiben , [19. 12.  2018 ]. Ursprung, Philip, Grenzen der Kunst. Allan Kaprow und das Happening ; Robert Smithson und die Land Art, München: Schreiber, 2003. Valérien, Harry, Olympia  ’68: Die Jugend der Welt in Grenoble und Mexiko-City, München: Süd-West Verlag, 1968. van der Horst, Jörg, »Der Animatograph – eine ›Lebensmaschine‹ von Christoph Schlingensief«, http://www.schlingensief.com/projekt.php?id=t052&article=theorie [19. 12.  2018 ]. Voss, Egon, »Werktreue und Partitur«, in: wagnerspectrum 2005 (2 ), »Regietheater«, S.  55 ‒  67. Wagner, Richard, »Das Kunstwerk der Zukunft«, in: Dichtungen und Schriften, Bd.  6. Reformschriften 1849  ‒1852, hg.  v. Dieter Borchmeyer, Frankfurt a.  M.: Insel, 1983.  — »Oper und Drama«, in: Dichtungen und Schriften, Bd.  7, a.  a. O. Wangemann, Otto, Geschichte des Oratoriums. Von den ersten Anfängen bis zur Gegenwart, Leipzig : Kiesler, 1973. Warstat, Matthias, »Ritual«, in: Fischer-Lichte / Kolesch / Warstat ( Hg.), Theatertheorie, a.  a. O., S.  274  ‒ 278.  — Krise und Heilung. Wirkungsästhetiken des Theaters, München: Fink, 2011. Weber, Horst ( Hg.), Oper und Werktreue, Stuttgart / Weimar: Metzler, 1994, S. 1‒17.

Literatur

Weibel, Peter, »Zur Aktionskunst von Günter Brus«, in: Museum moderner Kunst Wien, Amanshauser, Hildegund / Ronte, Dieter ( Hg.), Günter Brus. Der Überblick, Salzburg : Residenz, 1986, S.  33  ‒ 49. Weiler, Christel, »Nichts zu inszenieren. Arbeit am Unsichtbaren«, in: Fischer-Lichte, Erika / Schouten, Sabine / Gronau, Barbara / Weiler, Christel ( Hg.), Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater, Berlin: Theater der Zeit, 2006, S.  58  ‒70. Wenzel, Anna-Lena, Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst. Ästhetische und Philosophische Positionen, Bielefeld: transcript, 2011. Wessel, Klaus, Der Sieg über den Tod. Die Passion Christi in der frühchristlichen Kunst des Abendlandes, Berlin: Evangelische Verlags-Anstalt, 1956. Wihstutz, Benjamin, Der andere Raum. Politiken sozialer Grenzverhandlung im Gegenwartstheater, Berlin / Zürich: diaphanes, 2012. Wolfsteiner, Andreas, Sichtbarkeitsmaschinen. Zum Umgang mit Szenarien, Berlin: Kadmos, 2018. Wruck, Eva, »›Jetzt spielt der Wahnsinnige auch noch bei verdunkeltem Raume !‹ Zu Richard Wagners Bühnenästhetik«, in: wagnerspectrum 2 ( 2014 ), »Wagner und die bildende Kunst«, S. 13  ‒ 33. Zima, Peter V., Theorie des Subjekts, Tübingen / Basel: Francke, 2007. Zorn, Johanna, Sterben lernen. Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes, Tübingen: Narr Francke Attempto, 2017.

341

Danksagung

Bedanken für die Unterstützung an diesem Buch möchte ich mich bei: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat, Sandra Umathum und Adam Czirak, dem Graduiertenkolleg InterArt der Freien Universität Berlin und der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie Felicitas Zeeden, Kati Kroß, Valeria Gordeev, Martin Müller, Frieder Schlaich und Aino Laberenz ; Ulla Ralfs und ganz besonders bei Max Linz.

Theater- und Tanzwissenschaft Gabriele Klein (Hg.)

Choreografischer Baukasten. Das Buch (2. Aufl.) Februar 2019, 280 S., kart., Klebebindung 29,99 € (DE), 978-3-8376-4677-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4677-5

Manfred Brauneck

Die Deutschen und ihr Theater Kleine Geschichte der »moralischen Anstalt« – oder: Ist das Theater überfordert? 2018, 182 S., kart., Klebebindung 24,99 € (DE), 978-3-8376-3854-7 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3854-1 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3854-7

Wolfgang Schneider, Anna Eitzeroth (Hg.)

Partizipation als Programm Wege ins Theater für Kinder und Jugendliche 2017, 270 S., kart., Klebebindung 29,99 € (DE), 978-3-8376-3940-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3940-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater- und Tanzwissenschaft Adam Czirak, Sophie Nikoleit, Friederike Oberkrome, Verena Straub, Robert Walter-Jochum, Michael Wetzels (Hg.)

Performance zwischen den Zeiten Reenactments und Preenactments in Kunst und Wissenschaft Februar 2019, 296 S., kart., Klebebindung, 31 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4602-3 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4602-7

Ingrid Hentschel (Hg.)

Die Kunst der Gabe Theater zwischen Autonomie und sozialer Praxis Januar 2019, 310 S., kart., Klebebindung, 6 Farbabbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4021-2 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4021-6

Olivia Ebert, Eva Holling, Nikolaus Müller-Schöll, Philipp Schulte, Bernhard Siebert, Gerald Siegmund (Hg.)

Theater als Kritik Theorie, Geschichte und Praktiken der Ent-Unterwerfung 2018, 578 S., kart., Klebebindung, 11 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4452-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4452-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de