Patristik und Resilienz Frühchristliche Einsichten in die Seelenkraft 9783050055503, 9783050059365

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Patristik und Resilienz Frühchristliche Einsichten in die Seelenkraft
 9783050055503, 9783050059365

Table of contents :
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII
Einleitung: Altchristliche Resilienzlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Clemens Sedmak, Małgorzata Bogaczyk-Vormayr
Resilienz nach den Schriften der ersten Christen . . . . . . . . . . . . . . . 11
Wilhelm Blum
„Vita Antonii“ des Athanasius aus der Perspektive des Resilienzbegriffes . . 31
René Roux
Von der Kraft der Seele und der Spannkraft des Körpers nach den
ägyptischen Wüstenmönchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
Barbara Müller
Reiche meinen Worten die Hand – Der Umgang mit der traurigen Verdrossenheit.
Die Sichtweisen des Johannes Chrysostomus in seinen
Briefen an Olympias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Udo Manshausen
Von der Widrigkeit zum Altruismus und darüber hinaus. Johannes
Cassianus greift dem Resilienzprozess vor . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
Justine Allain Chapman
Resilienz gegen Ende des Lebenslaufs. Oder: Woher kam die Kraft? . . . . 121
Burkhard Pechmann
Über Frida Kahlo zu Augustinus. Anmerkungen zu Resilienz und Patristik 139
Linda van der Zijden
Lachen und Weinen als Resilienzfaktoren und als Beschreibung des
Resilienzprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
David Lang
In die Wüste, in die Welt. Über die altchristliche Lehre von der Seelenkraft 179
Małgorzata Bogaczyk-Vormayr
Die Seele als Dynamis bei Gregor von Nyssa. Überlegungen zur Schrift
„De anima et resurrectione“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
Johannes Zachhuber
Krisenerfahrung in der Zeit der Völkerwanderung: Paulinus von Pella und
sein Lebensbericht („Eucharisticos Deo sub ephemeridis meae textu“) . . . 233
Josef Rist
Strukturen der Widerstandskraft in der „Philokalia“ . . . . . . . . . . . . 255
Clemens Sedmak
Autoren und Autorinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

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Clemens Sedmak, Ma∏gorzata Bogaczyk-Vormayr (Hg.) Patristik und Resilienz

Clemens Sedmak, Ma∏gorzata Bogaczyk-Vormayr (Hg.)

Patristik und Resilienz Frühchristliche Einsichten in die Seelenkraft

Akademie Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Akademie Verlag GmbH, Berlin Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe www.akademie-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Einbandgestaltung: hauser lacour Satz: Werksatz Schmidt & Schulz GmbH, Gräfenhainichen Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN eISBN

978-3-05-005550-3 978-3-05-005936-5

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

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Einleitung: Altchristliche Resilienzlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Clemens Sedmak, Małgorzata Bogaczyk-Vormayr

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Resilienz nach den Schriften der ersten Christen . . . . . . . . . . . . . . . Wilhelm Blum

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„Vita Antonii“ des Athanasius aus der Perspektive des Resilienzbegriffes . . René Roux

31

Von der Kraft der Seele und der Spannkraft des Körpers nach den ägyptischen Wüstenmönchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Barbara Müller Reiche meinen Worten die Hand – Der Umgang mit der traurigen Verdrossenheit. Die Sichtweisen des Johannes Chrysostomus in seinen Briefen an Olympias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Udo Manshausen Von der Widrigkeit zum Altruismus und darüber hinaus. Johannes Cassianus greift dem Resilienzprozess vor . . . . . . . . . . . . . . . . . . Justine Allain Chapman Resilienz gegen Ende des Lebenslaufs. Oder: Woher kam die Kraft? Burkhard Pechmann

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Über Frida Kahlo zu Augustinus. Anmerkungen zu Resilienz und Patristik Linda van der Zijden Lachen und Weinen als Resilienzfaktoren und als Beschreibung des Resilienzprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . David Lang

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95 121 139

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Inhaltsverzeichnis

In die Wüste, in die Welt. Über die altchristliche Lehre von der Seelenkraft Małgorzata Bogaczyk-Vormayr

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Die Seele als Dynamis bei Gregor von Nyssa. Überlegungen zur Schrift „De anima et resurrectione“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Zachhuber

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Krisenerfahrung in der Zeit der Völkerwanderung: Paulinus von Pella und sein Lebensbericht („Eucharisticos Deo sub ephemeridis meae textu“) . . . Josef Rist

233

Strukturen der Widerstandskraft in der „Philokalia“ Clemens Sedmak Autoren und Autorinnen

. . . . . . . . . . . .

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Vorwort

Das Internationale Forschungszentrum für soziale und ethische Fragen (ifz) in Salzburg hat in den Jahren 2009–2011 ein interdisziplinäres Schwerpunktprojekt „Resilienzforschung und altchristliche Literatur“ realisiert. Die Idee dieses Projekts bestand darin, sich in der altchristlichen Literatur umzusehen und herauszufinden, ob sich hier Anstöße und Einsichten in die Stärkung der Widerstandskraft von Menschen finden würden. Diese Fragestellung wurde von zwei Umständen motiviert: Zum einen stand das Leben der frühen Christinnen und Christen, gerade auch in der Wüste, vor bemerkenswerten Herausforderungen und Widrigkeiten, was die Herausbildung von Widerstandskraft in Zeiten von Anfechtungen notwendig machte. Zum anderen wurde in den letzen Jahren der Beitrag der Altväter und Wüstenväter zur heutigen Lebenspraxis aufgezeigt: Anselm Grün und Michael Cornelius beschreiben in ihren Büchern die Bedeutung der Spiritualität und der Lebenskunst der ersten Eremiten für die heutige Zeit, Daniel Hell zeigt die Relevanz der Lehre der Wüstenväter für die Depressionsforschung auf, Udo Manshausen stellt die Weisheit der Altväter als zeitlose Praxis der Seelenführung vor. So war es durchaus nahe liegend, sich der Frage nach der Relevanz der frühchristlichen Literatur für die Resilienzforschung zu stellen. Dieses Projekt fügte sich zudem gut in die Linie des Internationalen Forschungszentrums ein, das christliche Tradition mit Gegenwartsdiskursen zu verbinden sucht. Das Projekt war als interdisziplinäres Forschungsvorhaben angelegt und umfasste eine Kooperation zwischen Theologie, Philosophie, Altphilologie, Sozialanthropologie und Psychologie. Höhepunkt dieses Projekts war ein patristisches Kolloquium, das im November 2010 in Salzburg abgehalten wurde. Als Vortragende konnten Wilhelm Blum, Thomas Böhm, Barbara Müller, Josef Rist und René Roux, Johannes Zachhuber gewonnen werden. Die Vorträge finden sich auch in diesem Band. So danken wir herzlich den Vortragenden und allen Autorinnen und Autoren, die zu diesem Band beigetragen haben. Auf diese Weise ist ein breiter Themenbogen entstanden. Ermöglicht wurde dieses Projekt durch den „Verein zur Förderung des ifz“, dem Altabt Odilo Lechner vorsteht. Die notwendigen Finanzmittel wurden von

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Vorwort

diesem Verein aus dem Nachlass von Frau Christine Spann zur Verfügung gestellt. Wir sind Altabt Odilo und Frau Christine Spann, als Gönnerin des ifz, zu großem Dank verpflichtet. Salzburg, im April 2011

Clemens Sedmak, Ma Łgorzata Bogaczyk-Vormayr

Einleitung: Altchristliche Resilienzlehre

1. Resilienz als Seelenkraft „Resilienz“ kann als die Fähigkeit, auch unter widrigen Umständen gedeihen zu können, verstanden werden. Corinna Wustmann charakterisiert Resilienz als die Fähigkeit, erfolgreich mit belastenden Lebensumständen und mit den negativen Folgen von Stress umzugehen – „Resilienz meint damit eine psychische Widerstandsfähigkeit von Kindern gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken.“1 Die Kraft zum „guten Widerstand gegen Widrigkeiten“ hat erstmals Emmy Werner mit einer Langzeitstudie auf Hawai untersucht.2 Ihre Forschungen gingen der Frage nach, warum sich Kinder selbst bei ähnlichen Ausgangsbedingungen ganz unterschiedlich entwickeln: Manche schaffen es, trotz ungünstiger Bedingungen erstaunlich zu blühen, andere nicht. Manche Menschen brechen nach einem Schicksalsschlag zusammen, andere richten sich – wie ein Stehaufmännchen – wieder auf. Eine Fülle von Faktoren, die seitdem die Literatur beschäftigen, ist dafür verantwortlich. Zur Verdeutlichung der Fragestellung, um die es in diesem Band geht, seien drei Anstöße aus der Resilienzforschungsliteratur angeführt: Frederic Flach hat die resiliente Persönlichkeit als eine Persönlichkeit charakterisiert, die die Fähigkeit hat, immer wieder Gleichgewicht herzustellen.3 Eine resiliente Persönlichkeit hat bestimmte Eigenschaften – wie Kreativität, Leidensfähigkeit, Selbsterkenntnis und Selbsteinschätzung, Lernfähigkeit und Freundschaftsfähigkeit. In der Stärkung von Resilienz geht es offensichtlich darum, die Entwicklung dieser Eigenschaften zu fördern; also Strategien zur Vertiefung der 1

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Corina Wustmann, Die Blickrichtung der neueren Resilienzforschung, „Pädagogik“, 51, 2 (2005), S. 192–206. Emmy E.Werner, Overcoming the odds: High risk children from birth to adulthood, Ithaca, New York 1992; E. E. Werner, Ruth S. Smith, Vulnerable, but invincible, New York 1998; Eaedem, Journeys from childhood to midlife. Risk resilience and recovery. Ithaca, New York 2001. Frederic Flach, Resilience. How to bounce back when the going gets tough, Hatherleigh, New York 1997.

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Clemens Sedmak/Małgorzata Bogaczyk-Vormayr

Selbstreflexion und der Verarbeitung von feedbacks zu entwickeln, „lernen zu lernen“ und sich damit „Fähigkeiten zweiter Ordnung“ anzueignen (also die Fähigkeit, mit Fähigkeiten umzugehen), Selbstmitleid zurückzudrängen, Kreativität zu stärken. Hier kann sich die Resilienzforschung mit der Kreativitätsforschung oder auch mit Lerntheorien ebenso treffen wie mit den klassischen sokratischen Instrumenten der Selbsterkenntnis. Der 1937 geborene französische Psychologe Boris Cyrulnik soll unser zweiter Auskunftgeber sein.4 Cyrulnik, der eine schwere Kindheit hinter sich brachte (seine Eltern wurden deportiert, seine Stiefeltern misshandelten ihn, als Siebenjähriger engagierte er sich in der Résistance), positioniert Resilienz als „Sweater“, der aus verschiedenen Strängen gewebt ist – aus Entwicklungsfaktoren, aus emotionalen Faktoren, aus sozialen Faktoren. Resilienz ist nach seinen Forschungseinsichten keine „Substanz“, die man entweder hat oder nicht hat, sondern eine Mixtur aus vielen Faktoren und Zutaten, die nicht nach dem „alles oder nichts“-Prinzip, sondern im Sinne eines Kontinuums mehr oder weniger gegeben ist. Resilienz wird von Cyrulnik als „Antifatalismus“ verstanden, als Widerstand gegen Schicksalhaftes. Menschen, die sich als Gestalter/innen ihres Lebens verstehen, Menschen, die sich nicht in einer Opferrolle positionieren, Menschen, die den Lauf der Dinge nicht für unabänderlich halten – haben bessere Voraussetzungen, in einer bestimmten Situation resilient aufzutreten. Dieser Aspekt der Selbstverortung und Identität ist zu ergänzen um den Aspekt des Rahmens: Nach Cyrulniks Forschungen ist ein entscheidender Punkt im Aufbau von Resilienz der Interpretationsrahmen und die gewählte Sprache: Wie wird eine erfahrene Situation interpretiert? Cyrulnik führt Péguys berühmtes Beispiel von den drei Steineklopfern an, die auf die Frage nach ihrem Tun, der Reihe nach antworteten: „Ich klopfe Steine“, „Ich ernähre meine Familie“ und: „Ich baue eine Kathedrale“. Das ist offensichtlich eine Frage der Rahmung. Eine entsprechende Rahmung kann ganz entscheidend zur Stärkung von Resilienz beitragen. Einsichten in die Resilienzforschung können wir schließlich von Pauline Boss gewinnen. Boss sieht Realismus und Akzeptanz als resilienzstärkende Faktoren, also eine realistische Einschätzung von Situationen.5 Unrealistische Erwartungen und nicht fundierte Hoffnungen wirken resilienzhemmend und nicht resilienzstärkend. Resilienz wird weiters durch die Fähigkeit verstärkt, mit Unsicherheit zu leben. Menschen, die ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Eindeutigkeit und Sicherheit haben, werden sich schwerer tun, Resilienz zu entwickeln. Drittens wird Resilienz durch einen Sinn für „Handlungsmacht“ und „Handlungsmächtigkeit“ („agency“) gestärkt. Dies deckt sich selbstredend mit den eben referierten Einsichten von

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Boris Cyrulnik, Parler d’amour au bord du gouffre, Odile Jacob, Paris 2004; Idem, Resilience, Penguin, London 2009. Pauline Boss, Verlust, Trauma und Resilienz, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2008.

Einleitung

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Boris Cyrulnik. Menschen, die einen Sinn für ihren Gestaltungsspielraum haben, können resilienzfördernde Ressourcen aktivieren. Diese Ressourcen werden leichter von Menschen mit einem größeren Verhaltensrepertoire und Handlungsreservoir kultiviert. Viertens wird Resilienz durch einen „Sinn für Sinn“ vertieft, durch eine Grundeinstellung der Sinnhaftigkeit und Fruchtbarkeit des eigenen Tuns. Menschen, die eine „Lebenstheorie“ haben, wie man das nennen könnte, eine Theorie über die Welt und die eigene Person, die eigene Position im Kosmos, werden sich leichter tun, resilient zu sein als Menschen, die mit Identität und Sinn hadern. Hier kann man natürlich an Brücken zwischen Resilienzforschung und logotherapeutischem Diskurs denken. Schließlich soll von Pauline Boss noch der Hinweis referiert werden, dass Resilienz gerade nicht die Fähigkeit ist, den ursprünglichen Zustand wieder herzustellen. Im Unterschied zum ursprünglichen Sprachgebrauch in der Physik (Resilienz als Fähigkeit eines Materials, sich in die Ausgangslage zurückzubiegen) gilt für den Bereich des Menschlichen und Zwischenmenschlichen gerade nicht die Restitution des alten Zustands als Resilienzkriterium. Resilienz ist die Fähigkeit, in einer Krise und durch eine Krise zu wachsen, also nicht an einen Ausgangspunkt zurückzukehren. Damit ist Resilienz auch verbunden mit Entwicklungsfähigkeit. Resiliente Menschen sind nicht die, die angesichts des Gegenwindes stehen bleiben (vielleicht ein Verständnis von „Resistenz“), sondern diejenigen, die angesichts eines Sturms gehen, wenn auch vielleicht in eine neue Richtung. Was hat dies mit der altchristlichen Literatur zu tun? Grundsätzlich kann man in der Resilienzforschung innere und äußere Faktoren unterscheiden; resilienzfördernde Aspekte, die in der Person liegen und solche, die im Umfeld zu verorten sind. Die angeführten Faktoren – Lernfähigkeit, Handlungsfähigkeit, Reflexionsfähigkeit, Fähigkeit, eine Einheit aus dem Lebensfluss herzustellen, die Fähigkeit, mit Unsicherheit zu leben – sind stark mit dem „Inneren“ eines Menschen verbunden, mit der Frage nach der Fähigkeit zum inneren Wachstum. Eben dies hat die altchristliche Literatur, die sich in vielen Facetten Gedanken über das innere Wachstum und die geistig-geistliche Entwicklung von Menschen gemacht hat, reflektiert. Bei diesen Überlegungen kommt der menschlichen Seele eine besondere Bedeutung zu. So können wir fragen: Welche Kräfte wirken in der menschlichen Seele? Wie wird die innere Struktur der Seele konzipiert? Woraus speist sich die Seelenkraft? Gerade die Seele ist in der altchristlichen Literatur der Ort von Anfechtungen und Versuchungen. Hier sind Krisen und die Erfahrung von Widrigkeit zu verorten. Hier ist auch der Kern dessen, was man den „Charakter“ eines Menschen nennen könnte, anzusiedeln. Themen wie Krise, Trost, Tapferkeit, Kampf, Hoffnung und Widerstand kommen zur Sprache. Wir wollen also der Frage nachgehen, inwieweit die Charakter- und Tugendlehre der Kirchenväter philosophische Impulse für die moderne Resilienzforschung und für die heutige philosophische Reflexion enthält. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass innere Faktoren von

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Clemens Sedmak/Małgorzata Bogaczyk-Vormayr

Resilienz auch mit geistlichen Aspekten zu tun haben. Craig Steven Titus definiert in seiner umfassenden Studie über Resilienz und die „fortitudo“ bei Thomas von Aquin den Begriff der spirituellen Resilienz als „the capacity, when faced with hardship and difficulty to cope actively using religious resources, to resist the destruction of one’s spiritual competencies, and to construct something positive in line with larger theological goals“ 6. Diese Faktoren werden, so unser Eindruck, in der psychologischen Resilienzforschung nicht immer entsprechend gewürdigt. In diesem Sinne bietet dieser Band Einsichten in das, was wir „patristische Resilienzlehre“ nennen wollen – also die Einsichten der altchristlichen Literatur in die Seelenkraft, in das Gedeihen der Seele und in die Kraft zum guten Widerstand gegen Widrigkeit. Dass dabei einige „Caveats“ zu beachten sind, liegt auf der Hand: (i) Die altchristliche Literatur interessiert sich für das Seelenheil des Menschen mit Blick auf das ewige Leben und hat deswegen einen besonderen Begriff von „Gedeihen“ und „Wachstum“; (ii) die altchristliche Literatur operiert im Rahmen einer bestimmten Ontologie, in der Dämonen eine prominente Rolle spielen (freilich: es ist nahe liegend, diese Entitäten als Kräfte, die in der Seele wirken, zu verstehen); (iii) der Begriff des „Widrigen“ kann in der altchristlichen Literatur nicht von der Theologie der Versuchung oder Anfechtung abgetrennt werden, was auch das Verständnis des je Adversen prägt. Es bleibt daher zu fragen, ob die Kategorien der psychologischen Resilienzforschung dem, was in der patristischen Literatur an Reflexionsleistung erbracht worden ist, so ohne weiteres entsprechen. Der vorliegende Band, dessen Inhalt nun in einem Überblick vorgestellt werden soll, will jedenfalls die Fruchtbarkeit des Dialogs dieser beiden sehr unterschiedlichen Gesprächspartner aufweisen. Der Boden wird von den Schriften der frühen Christen bis hin zu Schriften in der Spätphase der Patristik gespannt. Mögen die Texte, die ihrerseits auch kritische Metareflexionen enthalten, für sich selbst sprechen.

2. Überblick über den Band Der erste Text dieses Bandes gibt den Leserinnen und Lesern die Möglichkeit, etwas über die Anfänge der altchristlichen Literatur aus der Sicht der Resilienzproblematik zu erfahren und bietet somit einen guten Einstieg in das allgemeine Thema Patristik und Resilienz. Wilhelm Blum (München) formuliert im Aufsatz Resilienz nach den Schriften der ersten Christen seine Absicht, womit wir auch den gesamten Band überschreiben könnten: „Wie wollten in diesem Beitrag die Alten Christen zu uns sprechen lassen, wir wollen auf die Worte der ersten schreibenden Christen hören, wir wollen von ihnen Antworten erhalten zum Problem der Re6

Craig Steven Titus, Resilience and the Virtue of Fortitude: Aquinas in Dialogue with the Psychosocial Sciences, CUA Press, Washington D.C. 2006, p. 28.

Einleitung

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silienz. Das bedeutet: Wir nehmen den Inhalt und die Aussagen der Väter des Glaubens ernst und wollen von ihnen etwas lernen für das Leben in unserer Zeit“. Blum widmet sich den Briefen der Apostolischen Väter des 1. und 2. Jahrhunderts, dem sog. Quadratus-Fragment sowie dem apokalyptischen Hirten des Hermas. Schon in diesem ersten Aufsatz kommt eine bemerkenswerte Erscheinung zur Sprache, auf welche wir auch in einigen weiteren Beiträgen immer wieder stoßen werden: die altchristliche Briefkultur. Die altchristlichen Texte dienen dem Dialog, sie sollen eine Botschaft bringen, eine Belehrung anbieten und Trost spenden. Die Briefe der ersten Christen werden hier aber auch als Dokumente der Überlieferung angesehen, als Lebens- und Werkzeugnisse, welche ihre Lebenskraft und Lebenskrisen illustrieren. Blum weist auf die verschiedenen Ausformungen einer Krise und die Motive des menschlichen Innenlebens hin, die aus diesen Texten sprechen: die Akedie als Trübsinn, die Geduld, die Demut und die Liebe. Schließlich erstellt der Autor, modern gesagt, einen Katalog von Resilienzfaktoren nach dem Vorbild Cyprians von Karthago (ca. 200 –258). Mit dem nächsten Aufsatz Vita Antonii des Athanasius aus der Perspektive des Resilienzbegriffes von René Roux (Erfurt) wird das Thema des Tröstens in der Zeit seelischer Beschwerden sowie die Thematik der Haltung zur Überwindung von existenziellen Widrigkeiten weitergeführt. Roux versteht unter menschlicher Resilienz die Seelenstärke, und die Resilienzlehre demzufolge als Lehre zur Stärkung der Seele. So wird der ägyptische Asket Antonius der Große (ca. 251–356) als „lebendes Beispiel“ für Resilienz dargestellt. Er gilt nicht nur als Einsiedler, sondern auch als Vorbild und Meister für die jungen Mitbrüder – er könnte in einem modernen Sinne als Berater und Seelsorger verstanden werden. Roux beleuchtet als Aspekt der Resilienzlehre das menschliche Streben nach Erkenntnis – Erkenntnis Gottes, der Welt, des Selbst. Diese zwei Motive aus der Vita Antonii, die bei Roux stark betont werden – die Beratung der Hilfesuchenden und die Erforschung der eigenen Seele – werden im anschließenden Artikel von Barbara Müller (Hamburg) zu Zentralthemen erweitert. Barbara Müllers Text Von der Kraft der Seele und der Spannkraft des Körpers nach den ägyptischen Wüstenmönchen vermittelt die Wüstenpsychologie, die psychosomatische Lehre und zielführende Praktiken einiger Altväter und Altmütter aus dem 4. und 5. Jahrhundert. Im Mittelpunkt stehen hier die Lehre der Mutter Theodora über die Hesychia, die Herzensruhe, und ihre Vorschläge zur Stärkung der Seelenkraft. Müller analysiert das Phänomen des Kellions (Behausung, Höhle, Klosterzelle), die Erfahrung der Einsamkeit, welche zu Konzentration, Meditation und Selbsterforschung hinführt. Für die Resilienzforschung ist dies ein sehr relevantes Thema – das Erleben von Abgeschiedenheit, von Privatsphäre, von „Heimat“ im weitesten Sinne als Basis für eine Konfrontation mit sich selbst. Bemerkenswert ist, dass man beim Thema Resilienz häufig bei den Wüstenvätern Anleihen nimmt, das Bild der Wüste fungiert gewissermaßen als Synonym

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Clemens Sedmak/Małgorzata Bogaczyk-Vormayr

für Krisenerfahrung, für die unverfälschte Realität des Leidens – der Weg in die Wüste als eine echte Möglichkeit zur Erneuerung. So sehen es auch mehrere Autorinnen und Autoren dieses Bandes (Roux, Chapman, Bogaczyk-Vormayr u. a.). Einen besonderen Stellenwert bekommt dabei Evagrios Pontikos (ca. 345–399) mit seinem Akedia-Begriff. Müller beispielweise führt Hilfsmittel gegen die Akedia als Gleichgültigkeit an: ein „geregelter Alltag als wirksame Prävention“ oder die heilende Kraft des Weinens als „Geschehen des Durchbruchs“. Die tiefe, dauerhafte Traurigkeit (eine weitere Bedeutung von Akedia), welche man aus der Sicht der Resilienzforschung in den breiten Begriff der Depression eingliedern könnte, ist Thema in Briefen und Predigten eines weiteren Wüstenvaters, Johannes Chrysostomos (ca. 346–407), und so auch ein Thema des Beitrags von Udo Manshausen (Niederkassel). In seinem Aufsatz Reiche meinen Worten die Hand – Der Umgang mit der traurigen Verdrossenheit begibt sich Manshausen auf die Spur jener Sorge, jenes Rates und Trostes, die allesamt aus den Briefen des Chrysostomos an seine Freundin, die Diakonin Olympias von Konstantinopel (ca. 368–407) sprechen. Der Brief wird hier wiederum zum Instrument des Dialogs und der Therapie. Die Traurigkeit bildet bei Chrysostomos einen Modus des Daseins, aus welchem jedoch der Mensch sich im Zuge seiner geistigen und sozialen Entwicklung stets aufs Neue befreien soll. Manshausen analysiert aus der Sicht der Resilienzforschung sowie als erfahrener Berater die konkrete Strategie, welche Chrysostomos als Seelsorger Olympias gegen die „Härte der traurigen Verdrossenheit“ vorschlägt. „Die Stärke entsteht durch die Bewältigung des Schweren“ – in einem solchen Resilienzprozess, den Chrysostomos hier schildert, bekommt die Thematisierung der Krisensituation einen besonderen Stellenwert, innerhalb der die Ehrlichkeit mit sich selbst die wichtigste Voraussetzung bildet. Ein ähnliches Konzept des Umgangs mit einer Krise findet man bei einem weiteren Kirchenvater, bei Johannes Cassianus (ca. 360–435), der darauf seine Lehre zur Seelenstärkung aufbaut. Davon berichtet Justine Allain Chapman (Kent) im Aufsatz Von der Widrigkeit zum Altruismus und darüber hinaus. Johannes Cassianus greift dem Resilienzprozess vor. Cassianus beschreibt in den Unterredungen mit den Vätern, die uns einmal mehr auf die heilende Kraft des Gespräches aufmerksam machen, wie der Mensch von der konsequenten Selbstbetrachtung zur Rücksicht auf sich selbst, zur Selbstachtung und zur gesunden Selbstliebe kommt. Für das Erreichen dieses resilienten Zustandes postuliert Chapman die Realisierung des von Cassianus empfohlenen Perspektivenwechsels – in der Resilienzforschung als „refraiming“ bekannt. Die Autorin geht auf dessen Entwurf eines „Programms für Wachstum“ ein, um daraus Implikationen für die heutige Seelsorge abzuleiten. Mit konkreten Berichten aus seiner eigenen Praxis illustriert Burkhard Pechmann (Hannover) im folgenden Text die Lehre von Evagrios Pontikos – Resilienz gegen Ende des Lebenslaufs. Oder: Woher kam die Kraft? Der Verfasser stellt hier die Frage nach den Möglichkeiten einer resilienten Kraftentfaltung. In zwölf von

Einleitung

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ihm entworfenen Thesen führt Pechmann die Leserinnen und Leser zu den Themen der Resilienzforschung, welche eine Antwort auf die im Titel gestellte Frage geben sollen. Es sind Themen wie Lebenswille, Glaube, Erinnerung, Einsamkeit. Pechmann zeigt den Übergang von Pontikos’ Forderung der Selbstbetrachtung hin zum Sinn eines Beratungsgesprächs bzw. der Beichte, in welchen Schuld, Wünsche, Enttäuschungen sowie Hoffnungen formuliert werden. Wie Müller zeigt auch Pechmann die stärkende Rolle des Kellions auf: Er beschreibt die Erfahrungen alter Menschen in Bezug auf das eigene Zimmer im Pflegeheim als Ort des Rückzugs. Linda van der Zijden (Wien) widmet sich dem Zusammenhang von Psychologie und Resilienzforschung aus psychologischer Sicht. Ihr Artikel Über Frida Kahlo zu Augustinus. Anmerkungen zu Resilienz und Patristik liefert einen Abriss über die Entwicklung der Resilienzforschung, vermittelt verschiedene Definitionen von Resilienz und gibt einen Überblick über verschiedene Resilienzmodelle. Sie erwähnt die Zeugnisse zweier Persönlichkeiten – Augustinus (354–430) und Kahlo (1907–1954) –, um zwei Arten von „Bekenntnissen“ darzustellen, die beide einen Einblick in einen Resilienzprozess gewähren. Van der Zijden betrachtet das Konzept der Selbsterkenntnis bei Augustinus und situiert die augustinischen Reflexionen im Kontext des Begriffes „ego resiliency“, den sie mit dem Leben und Werk Kahlos illustriert. Aus der Perspektive der Psychologie und philosophischen Anthropologie argumentiert David Lang (Salzburg) mit seinem Text Lachen und Weinen als Resilienzfaktoren und als Beschreibung des Resilienzprozesses. Lachen und Weinen werden als zwei Arten der menschlichen Exzentrität sowie als dem Menschen natürliche Modi des Seins dargelegt. Die Betrachtung des Weinens als Faktor, welcher schließlich zur Stärkung der eigenen Person beitragen kann, beginnt Lang mit dem Hinweis auf die Tradition des Penthos (Traurigkeit, Unglück u. Ä.) und der Akedia bei den Wüstenvätern. Unter den diversen Konzepten über das Weinen und Lachen sind für Lang das Werk Helmuth Plessners Lachen und Weinen sowie der Begriff der „psychischen Homöostase“ von Frederic Flach ganz zentral. Auf patristische Autoren wie Evagrios, Chrysostomos, Augustinus, Basilius der Große sowie auf zeitgenössische Philosophen wie J. Pieper, K. Jaspers, und E. Lévinas bezieht sich Malł gorzata Bogaczyk-Vormayr (Salzburg), mit dem Ziel, die altchristliche Problematik in ihrer Wirkungsgeschichte herauszuarbeiten. In ihrem Aufsatz In die Wüste, in die Welt. Über die altchristliche Lehre von der Seelenkraft thematisiert sie die Weg-Erfahrung – Wüste wird hier zur Metapher. Sie entwirft eine Linie von den altchristlichen Schilderungen des Auf-dem-WegeSeins über den Begriff des homo viator bis hin zu den Formeln „In-der-Welt-Sein“ bzw. „In-die-Zukunft-Sein“. Das Auf-dem-Wege-Sein führt sie u. a. als Äquivalent für einen Resilienzprozess an. Dabei berührt sie die Freiheitsproblematik und beschreibt das Phänomen des Gebets, das sie als Instrument der Selbsterforschung, somit also als notwendiges Element eines Seelenstärkungsprozesses ansieht.

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Clemens Sedmak/Małgorzata Bogaczyk-Vormayr

Der von Bogaczyk-Vormayr betonte Aspekt der Seele als Dynamis – Seele in ständiger Bewegung, mit ihrer Potentialität zur Veränderung und Transzendierung – wird zum Thema des nachfolgenden Aufsatzes: Die Seele als Dynamis bei Gregor von Nyssa. Überlegungen zur Schrift „De anima et resurrectione“ von Johannes Zachhuber (Oxford). Hier sind wir tief in der theologischen Darstellung eines Seelenkonzeptes. Es wird das Leib-Seele-Problem und die Problematik der Erkenntnisfunktionen der Seele erwähnt und überhaupt die Frage nach der Seele, nach dem Bedeutungsgehalt dieses Begriffes gestellt. Aus der Sicht der Resilienzforschung erscheinen folgende Aspekte der Seelenlehre Gregors von Nyssa (ca. 340– ca. 394) als bedeutsam: die Seele als „Wirkmacht“, der Umgang mit dem Tod, und eine Weltsicht, die sich an der Analogie von Mikro- und Makrokosmos orientiert. Die Auffassung von der Seele als Kraft, als Wirkfähigkeit des Menschen führt – so Zachhuber – Gregor dazu, eine positive Sichtweise des Todes zu formulieren. Diese entspringt u. a. aus seiner eigenen Erfahrung des Verlustes eines geliebten Menschen – Basilius des Großen. Der nächste Aufsatz ist hingegen historisch und philologisch geprägt und bewegt sich zudem im Kontext tiefgehender, psychologischer Ausführungen: Krisenerfahrung in der Zeit der Völkerwanderung: Paulinus von Pella und sein Lebensbericht („Eucharisticos Deo sub ephemeridis meae textu“) von Josef Rist (Bochum). Das Schicksal und die Lebensgeschichte des Paulinus von Pella (ca. 377– ca. 465) könnte man in der Resilienzforschung wohl als Illustrierung eines langen, aber erfolgreichen Resilienzprozesses verstehen. Rist erzählt die Geschichte eines gutsituierten Aristokraten bis hin zur unausweichlichen Tragödie seines Volkes und seiner Stadt, in der es zum Verlust seines gesamten Besitzes und schließlich seiner Familie kommt. Paulinus, so schildert es Rist, schafft es, sich aus der „Ruine seiner Existenz“ wieder aufzurichten, weil er sich an Gott wendet. Aus Dankbarkeit darüber, dass er jetzt den Sinn seiner Existenz zu erfassen vermag und sein Leben neugestalten kann, schreibt Paulinus im Alter von 83 Jahren sein Dankgedicht an Gott – Eucharistikos. Wie bei Pechmann lesen wir auch im Aufsatz von Rist über die Themen der Erinnerung und der Versöhnung mit sich selbst im Alter. Rist zeigt auf, wie die Verschriftlichung von Meditationen und Gebeten zum Ausdruck von Selbsterkenntnis wird. Die Autobiografie fungiert hier auch als Dokument eines Resilienzprozesses (vgl. z. B. Van der Zijden). Über die Möglichkeit eines Neubeginns und über die „Affirmation der Bedrängnisse“ als Chance zu Selbsterkenntnis und Selbstüberwindung hören wir schließlich bei Clemens Sedmak (Salzburg/London) im letzten Aufsatz dieses Bandes: Strukturen der Widerstandskraft in der „Philokalia“. Er verweist auf die Autoren aus dem 5. Jahrhundert – Isaiach der Anachoret, Markos der Asket, Hesychios der Priester – und beschreibt ausführlich deren Verständnis von Krisensituationen als „Werkzeuge und Meilensteine auf dem Weg zum Inneren“. Sedmak nennt als Bedeutungen einer Krisenerfahrung unter anderem: die Selbstoffenbarung, die Prüfung des Grades des inneren Wachstums sowie die Förderung. Das Lernen aus

Einleitung

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der Krise fördert die Widerstandskraft und Handlungsfähigkeit, die Agency, sagt Sedmak im Sinne der modernen Handlungs- und Resilienzforschung. In diesem Aufsatz wird in abgeänderter Form nochmals das Thema der Erinnerungskraft (vgl. z. B. Manshausen), das Erlebnis des Gebetes, das auf Vertrauen und Verbindlichkeit basiert (vgl. Bogaczyk-Vormayr) sowie die Lehre vom rechten Maß (vgl. Müller) bearbeitet. Zum Dialog von Resilienzproblematik und altchristlicher Lebenslehre schreibt Sedmak: „Die Einsicht, dass sich Widrigkeiten dadurch einordnen und relativieren lassen, dass man das Leben als Ganzes in den Blick nimmt, verbindet das Gedankengut der Philokalia mit der modernen Resilienzforschung. Die Fähigkeit zu Reflexion und ein ‚Sinn für Sinn‘, ein Sinn für Wesentliches und Richtungweisendes, werden als zentrale Faktoren angesehen, die die Widerstandskraft stärken.“ Diese Worte stellen einen Rückbezug auf die Idee der Herausgeber und auf das Bemühen der Autorinnen und Autoren dieses Bandes dar. Die Interdisziplinarität und die vielfältige und offene Kontextualität der Auseinandersetzung mit dem Thema Patristik und Resilienz sollen diesem Band nützen. Wir hoffen, einerseits den an Resilienz Interessierten einige Hinweise auf bemerkenswerte patristische Texte gegeben und andererseits die Theologen und Philosophen auf die Relevanz ihrer Disziplinen für die Resilienzforschung aufmerksam gemacht zu haben.

Wilhelm Blum

Resilienz nach den Schriften der ersten Christen

A) Das Wort „Resilienz“ Das Wort „Resilienz“ ist im Deutschen so wenig bekannt, dass es im Fremdwörter-Duden gar nicht verzeichnet ist. Dieses Wort ist ohne Zweifel lateinischen Ursprungs: Das Verbum „resilire“ ist ein Kompositum von „salire“ (springen, hüpfen) und hat die Bedeutung „zurückspringen, abprallen, abspringen, sich verkürzen“. Doch alle diese genannten Bedeutungsvarianten sind hier nicht gemeint, denn das Wort „Resilienz“ ist nicht eine Übernahme aus dem Lateinischen, sondern aus dem modernen Englisch. Hier bedeutet das Substantiv „resilience“ (oder auch, wenn auch seltener, „resiliency“) „Spannkraft“ oder „Unverwüstlichkeit“. Hilfreich ist die Erklärung eines einsprachigen Lexikons 1, in dem die Resilienz in einer doppelten Weise erklärt wird: – the ability of people or things to feel better quickly after something unpleasant, such as shock, injury etc., – the ability of a substance to return to its original shape after it has been bent, stretched or pressed. Somit könnte man die Resilienz mit Bezug auf das Verhalten des Menschen definieren als – die Fähigkeit, sich trotz aller Widrigkeiten des Lebens wohl zu fühlen und dankbar zu sein; – die Kunst, sich immer wieder aufzurichten; – die Widerstandskraft ohne Zorn gegenüber Vergangenem; – der fröhliche Blick nach vorne, mithin der Wille, die Zukunft nicht nur passiv zu bestehen, sondern aktiv zu meistern. In dem angegebenen Sinne wird in den folgenden Seiten von Resilienz gehandelt. Deren Kern ist nicht nur die Bewältigung von Krisen aller Art, sondern auch und

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„Resilience“ in: Oxford Advanced Learner’s Dictionary, Eighth Edition, Oxford 2010, S. 1300.

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gerade die Nutzbarmachung solcher Krisen für die (persönliche oder auch allgemein geschichtliche) Zukunft.

B) Die Schriften und Autoren der frühen Christenheit (1. und 2. Jahrhundert) 1. Die sogenannten Apostolischen Väter Unter der Bezeichnung „Apostolische Väter“ benennen wir heute jene Schriftsteller der frühesten Christenheit, die sich in Stil, Form und Inhalt von dem Neuen Testament, insbesondere von den darin enthaltenen Briefen, inspirieren ließen und die zeitlich unmittelbar auf die Verfasser des NT folgen. Alle diese Schriften sind in griechischer Sprache verfasst, also in der damals üblichen Koiné, der „Gemeinsprache“, es handelt sich dabei um die folgenden literarischen Erzeugnisse: a) der Brief des Klemens von Rom; b) die (sieben) Briefe des Bischofs Ignatios von Antiochien; c) der Brief des Bischofs Polykarp von Smyrna; d) das Fragment des Quadratus. a) Klemens war der (dritte oder vierte) Bischof von Rom, also Nachfolger des Apostels Petrus auf diesem Stuhl. Der Klemens-Brief stammt wahrscheinlich aus dem Jahre 96, er stellt sich dar als ein Brief des Vorstehers der Gemeinde von Rom – von einem „Papst“ können wir hier noch nicht sprechen – an jenen von Korinth; der Vorsitzende der römischen christlichen Gemeinde schreibt an die Christengemeinde von Korinth, die sich zu heftigen Streitigkeiten hatte hinreißen lassen. Wieder einmal war es um persönliche Macht und Einfluss gegangen – und zwar im Inneren der christlichen Kirchengemeinde von Korinth! –, hatten sich doch jüngere Mitglieder gegen die älteren Presbyter gewandt und diese gegen deren Willen aus dem Amt gedrängt; und der Kirchenvorsteher von Rom ermahnt die Christen im griechischen Osten zu Frieden und Eintracht. b) Ignatios – der Name hängt zusammen mit jenem des Egnatios, nach dem die berühmte Via Egnatia benannt ist – war Bischof im syrischen Antiochien, er dürfte um 110 gestorben sein. In seiner Heimatstadt war er zum Tode verurteilt worden, aber zur Vollstreckung des Todesurteils wurde er nach Rom überstellt. Während seiner Reise als Gefangener verfasste er sieben Briefe, vier in Smyrna, dem heutigen Izmir, und drei in Troas. Seine Mahnungen zu Frieden, Eintracht und (innerer wie äußerer) Einheit sind höchst beeindruckend, ganz besonders bemerkenswert ist seine Bitte an die Gemeinde von Rom, sie dürfe ja nichts unternehmen, was sein Martyrium verhindern könne, also seinen Tod durch die wilden Tiere in der Arena (im Kolosseum von Rom, dem Amphitheatrum Flavianum).

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c) Polykarp hat, wie uns glaubwürdig berichtet wird, den Apostel Johannes noch persönlich gekannt, er war von diesem, dem Lieblingsjünger Jesu, zum Bischof von Smyrna gemacht worden. Von ihm ist ein Brief an die Gemeinde von Philippi erhalten, und das Martyrium Polycarpi aus der Feder eines gewissen Markion ist der erste Bericht über den Tod eines christlichen Blutzeugen, der uns überliefert ist. Den Tod des Polykarp hat man mit guten Gründen auf den 23. Februar 156 datiert. d) Quadratus – in seiner griechischen Muttersprache: Kodratos – ist der Verfasser der ersten und damit ältesten Apologie eines Christen, die an den regierenden Kaiser gerichtet ist. Wir können mit ziemlicher Sicherheit angeben, dass diese Verteidigungsschrift des Quadratus von dem Verfasser persönlich an den Kaiser überreicht wurde: Als Kaiser Hadrian auf seinen Reisen durch das Imperium in Kleinasien weilte, wird ihm Quadratus seine Schrift übergeben haben, also entweder in den Jahren zwischen 123 und 125 oder aber 129.

2. Um die Schriften dieser Apostolischen Väter herum ranken sich noch weitere frühchristliche literarische Erzeugnisse, von denen für den vorliegenden Beitrag die folgenden von Bedeutung sind: a) Die Didaché (Doctrina Apostolorum) stammt wohl aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts, sie ist wahrscheinlich in Syrien entstanden, genauer: im syrischen Palästina. b) Der Brief des Barnabas ist in die Jahre zwischen 115 und 140 zu datieren. Verfasser ist sicher nicht der Apostel Barnabas, der eigentliche Verfasser ist nicht mehr zu ermitteln. Erstaunlich und völlig singulär unter allen hier genannten Schriften ist der unbändige Judenhass, von dem der Verfasser durchdrungen ist. c) Der sogenannte Zweite Klemens-Brief stammt sicher nicht von Bischof Klemens von Rom, er dürfte kurz vor 150, und zwar in Korinth, von einem uns nicht bekannten Autor verfasst worden sein. Von größter Bedeutung ist er für uns deswegen, weil es sich in diesem Schriftstück, das gerade nicht ein Brief ist, um die erste überlieferte christliche Predigt handelt. d) Der Brief an Diognet ist eine Apologie in Form eines Briefes, der an den Heiden Diognetos gerichtet ist; dieser hatte dem Verfasser einige ihn interessierende Fragen vorgelegt. e) Die sogenannten Papias-Fragmente stammen von Papias, dem Bischof von Hierapolis in Phrygien, also dem heutigen Pamukkale. Papias hatte, nicht anders als Polykarp, den Apostel Johannes noch gekannt; seine Schriften, von denen nur einige weitere Fragmente erhalten sind, wird man wohl in die Jahre um 130 datieren. f) Der Hirt des Hermas ist eine Apokalypse: Visionen, Offenbarungen, Gleichnisse, sie alle künden von dem Auftrag der Kirche wie auch von dem Auftrag

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des Menschen in dieser Welt. Der Mensch soll Buße tun und umkehren, mit reinem Herzen soll er über die Erde wandeln bis hin zu der dauernden Seligkeit – nach dem Tode – im Paradies. Der Hirt des Hermas ist um 150 geschrieben worden, und zwar in griechischer Sprache in der Reichshauptstadt Rom.

3. Von den wissenschaftlichen Ausgaben mit jeweils zitierfähigem Text in den beiden antiken Sprachen wurden die folgenden zwei benutzt: a) Die Apostolischen Väter, herausgegeben von F. X. Funk, Tübingen und Leipzig 1901 (enthält die griechischen und lateinischen Originaltexte); b) Schriften des Urchristentums, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Sonderausgabe, 2006: Band 1: Die Apostolischen Väter, eingeleitet, herausgegeben, übertragen und erläutert von Joseph A. Fischer; Band 2: Didaché, Barnabas-Brief, Zweiter Klemens-Brief, Schrift an Diognet, eingeleitet, herausgegeben, übertragen und erläutert von Klaus Wengst; Band 3: Papiasfragmente, Hirt des Hermas, eingeleitet, herausgegeben, übertragen und erläutert von Ulrich H. J. Körtner und Martin Leutzsch. (Diese drei Bände enthalten jeweils die griechischen oder lateinischen Originaltexte sowie die deutsche Übersetzung.) c) Prinzip und Ziel dieses Beitrags Der vorliegende Aufsatz ist nicht philologisch orientiert. Der Verfasser anerkennt – und kennt – die bisherigen philologischen Bemühungen um die gültige Textkonstituierung, und er huldigt der Überzeugung, dass der vorhandene Text in der jeweiligen Ursprache echt und zutreffend ist und deshalb zitiert werden darf. Wenn wir zitieren, so zitieren wir in deutscher Übersetzung, wobei alle diese Übersetzungen vom Verfasser stammen. Wir wollen in diesem Beitrag die Alten Christen zu uns sprechen lassen, wir wollen auf die Worte der ersten schreibenden Christen hören, wir wollen von ihnen Antworten erhalten zu dem Problem der Resilienz. Das bedeutet: Wir nehmen den Inhalt und die Aussagen der Väter des Glaubens ernst und wollen von ihnen etwas lernen für das Leben in unserer Zeit, im heutigen 21. Jahrhundert nach Christus. d) Frühchristliche Anleitungen zur Resilienz Nach genuin christlicher Überzeugung sind die tiefsten Gründe für Krisen aller Art die folgenden drei: I. Krisen sind Folgen der Sünde des einzelnen Menschen; II. Krisen sind (ganz allgemein) Folgen der Erbsünde; III. Krisen sind Folgen einer Prüfung des Menschen durch Gott.

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I. Was die Sünde ist, braucht hier nicht definiert zu werden, umrisshaft weiß das ein/e jede/r. Nur ein Faktum sei besonders betont: Jede Sünde entsteht aus dem Hochmut, dem Stolz, der Superbia2. Mit diesem hochmütigen Stolz will sich der Mensch, das Geschöpf, der Liebe Gottes, des Schöpfers, verweigern, in seiner Superbia trotzt der Mensch auf gegen Gott und lehnt jeden Strahl der Liebe Gottes ab. Daher – um nur ein Beispiel aus sicherlich Tausenden zu zitieren, aber doch ein sehr eindrucksvolles – konnten die Johanniter im syrischen Krak des Chevaliers um 1200 die folgende Erkenntnis in Stein meißeln und in einer Säule eingravieren: Sit tibi copia, sit sapientia, formaque detur: Inquinat omnia sola superbia, si comitetur. Wohlstand und Weisheit, Anmut und Schönheit, dies sei dir geschenket: Alles macht ungut einzig der Hochmut, sofern der dich lenket! II. „Die Erbsünde ist eine wahre Sünde, wenn auch keine sündige Tat, sondern eine zuständliche Sündhaftigkeit. Sie wohnt in jedem Menschen kraft seiner Abstammung von Adam inne“ 3, ihre schlimmsten Folgen für uns Menschen sind Tod, Leid und Angst 4. Gegen den Tod sind wir machtlos 5, gegen Angst und Leid aber soll und kann der Mensch resilient werden; zumal den Christen kann so manches resilient machen, also widerstandsfähig, ein Faktum, das höchst eindrucksvoll die Blutzeugen der ersten drei Jahrhunderte des Christentums beweisen. III. Sinn und Zweck sowie Existenzgrund und Ziel aller Bosheit und eines jeden Bösen sind selten klarer und einprägsamer beschrieben worden als von Augustinus in seiner Abhandlung zum 54. Psalm 6: „Glaubet ja nicht, die Bösen seien umsonst in dieser Welt und Gott wolle nicht etwas Gutes mit ihnen tun: Jeder Böse ist deswegen im Leben, dass er gebessert wird, oder er lebt zu dem Zweck, dass durch ihn der Gute einer Prüfung unterzogen wird.“ So gibt es also durchaus die Möglichkeit, dass der Gute nach Gottes Heilsplan geprüft wird; diese Prüfung ist von Gott nicht nur zugelassen, sondern ausdrücklich gewollt. Es ist der Wunsch Gottes,

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Vgl. Thomas Aquinas, Summa Theologiae II-2, quaestio 162, artt. 6–8. Michael Schmaus, Katholische Dogmatik, Bd. 2, Teil 1, München 1954, S. 372, unter Verweis auf die Aussagen des Zweiten Konzils von Orange vom Jahre 529 (Denzinger-Schönmetzer Nr. 371 und 372) und jene des Konzils von Trient im Jahre 1546 (Denzinger-Schönmetzer Nr. 1513). M. Schmaus, w. o. Anm. 3, S. 387. Es sei verwiesen auf das Buch des Verfassers: Wilhelm Blum, Letzte Worte, Aisthesis Verlag, Bielefeld 2007. Augustinus, Enarrationes in Psalmos 54, 4.

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dass der Mensch diese Prüfung besteht – dank der Gnade ist ein solches Bestehen der Probe möglich – und Christus hatte die ihm vom Vater zuerkannte Prüfung bestanden und konnte deshalb zu Recht sagen7: „Wenn einer mir dienen will, so folge er mir nach, und da wo ich bin, da wird auch mein Diener sein.“ Aus dieser vorgestellten Dreizahl von Gründen für Krisen aller Art ergibt sich die Gliederung des Hauptkapitels dieses Beitrags, nämlich: I. Der einzelne Mensch in seiner Resilienz gegenüber selbst verschuldeten Anfeindungen oder Anfechtungen und Krisen aller Art; II. Krisen objektiver Natur, die von dem einzelnen Menschen nicht verschuldet sind, und deren Bewältigung; III. Das Ertragen von Prüfungen des Menschen durch Gott8.

I. Krise als Folge der Sünde des Menschen 1. Die Lasterkataloge Den wahrlich klassischen Lasterkatalog hat Evagrios Pontikos (ca. 345–399) vorgelegt, der erste schreibende Mönch und damit der erste Intellektuelle unter den (zumeist analphabetischen) Wüstenvätern. Evagrios nennt die folgenden acht Hauptsünden in seiner Mahnschrift an die Mönche 9: a) Gefräßigkeit, Völlerei; b) Unzucht, Unkeuschheit, Geilheit; c) Habsucht, Geldgier; d) Traurigkeit, Selbstmitleid; e) Zorn, Jähzorn; f) „acedia“: im Grunde unübersetzbares griechisches Wort (das ja eben nicht einmal ins Lateinische übersetzt wird) in der Bedeutung von: geistliche und geistige Langeweile, Trägheit, Burnout, Antriebsgehemmtheit, Überdruss bis hin zur Verzweiflung am Sinn des Lebens, Krise des Herzens und des Gemüts10; g) eitle, sinnlose Ruhmsucht; h) Stolz und Hochmut, Superbia. 7 8

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NT: Evangelium des Johannes 12, 26. Das berühmteste Beispiel hierfür dürfte der Job (Hiob) aus dem Alten Testament sein, dessen Grundhaltung die folgende ist: „Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen, der Name des Herrn sei gepriesen!“ (Job 1, 21). Evagrios Pontikos, Lógos Praktikós, K. 6 (Évagre le Pontique: Traité Pratique ou Le Moine, T. II: Edition critique du texte grec, traduction, commentaire et tables par Antoine Guillaumont et Claire Guillaumont, Seuil, Paris 1971 = Sources Chrétiennes, Vol. 171). Zur Bedeutung von „acedia“ vergleiche man den Sprachgebrauch bei Thalassios, Centuria 3, 51: Migne, Patr. Graeca 91, 1453 A; Nilus von Ancyra: Migne, Patr. Graeca 79, 1157 C; Johannes Climacus, Scala Paradisi: Migne, Patr. Graeca 88, 860 A.

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Die allerfrühesten Christen hatten ihrerseits Lasterkataloge entworfen, allerdings noch nicht auf dem hohen Niveau des Evagrios Pontikos. Solche Lasterkataloge kennen wir aus den Briefen des Apostels Paulus im Neuen Testament11, und die frühen Christen haben mit ihren Lasterkatalogen den Apostel erfolgreich nachgeahmt. Das beginnt mit dem Klemens-Brief 12, in dem unter anderem aufgeführt werden: Verleumdungen, verwerfliche (weil widernatürliche und deswegen schmutzige) Umarmungen, Trunksucht, Ehebruch und eine Form von Hochmut, vor der man nur Ekel und Abscheu empfindet, sowie Habsucht, Streitsucht, Hinterlist, wirklicher Hass auf Gott, Überheblichkeit und prahlerische Angeberei. Das geht weiter mit der Aufstellung der Laster in der Didaché13, wo wir unter anderem lesen von sündigen Haltungen wie Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, Götzendienst, Giftmischerei, Heuchelei, bösartigem Trug, hochmütiger Selbstverliebtheit, Eifersucht und Prahlerei. Und das endet mit dem Lasterkatalog im Hirten des Hermas14: Hier hören wir unter anderem von Unglaube, Unbeherrschtheit, Selbstmitleid, Lüge und Hass. Gegen alle diese Laster soll der Gläubige, der Christ, ankämpfen; würde er einem von ihnen oder gar allen verfallen, so hätte er seinen Auftrag verfehlt und die Prüfung eben nicht bestanden. Es gilt also, diesen verwerflichen Haltungen gegenüber Widerstand zu leisten, resilient zu sein. 2. Der Aufruf zur Umkehr Im 10. Jahrhundert wird Nikon in Sparta auf der Peloponnes ein Kloster gründen, doch berühmt wird er werden wegen seines ununterbrochen wiederholten Aufrufs zu Umkehr und Buße, weswegen er den Beinamen „Nikon Metanoeite“ („Nikon Tuet Buße“) erhalten wird. Der Aufruf zur Änderung des Lebens aber ist uralt, er wird schon im Urchristentum häufig ausgesprochen. Roms Bischof Klemens schreibt nach Korinth15 unter Berufung auf das Alte Testament, das Volk solle umkehren und Buße tun, es solle16 „gehorsam dem erhabenen und glänzenden Willen“ Gottes sein und daher ablegen „allen Streit und jede Eifersucht, denn diese führt direkt zum Tode“. Wir wollen17 „uns vor dem Herrn auf die Knie werfen und ihn unter Tränen bitten, dass er uns gnädig sei und sich aufs Neue mit uns versöhne“. Dazu noch sollen wir, so mahnt uns Polykarp18, „nachahmen die

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Vgl. Paulus, Röm. 1, 29–32; 1 Kor. 6, 9–10; Gal. 5, 19–21 („die Werke des Fleisches“); Kol. 3, 5–8; 2 Tim. 3, 2–5. 1 Clem. 30, 1 u. 35, 5. Didaché 5, 1. Hermas, Similitudo IX 15, 3. 1 Clem. 8, 3. Der Satz beginnt mit dem Imperativ: „Tut jetzt Buße, kehret sofort um“. 1 Clem. 9,1. 1 Clem. 48, 1. Brief des Polykarp 8, 2.

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Geduld Christi“, denn Christus hatte19 „all sein Leid um unsertwillen auf sich genommen, damit wir in ihm das Leben haben“. Der Verfasser des sogenannten Zweiten Klemens-Briefes, immerhin der ersten christlichen Predigt überhaupt, mahnt uns20: „Weil wir und solange wir hier auf Erden sind, sollen wir umkehren und Buße tun“. Diese Buße, diese Umkehr aber besteht im Letzten darin21, dass „alle die, die da voll des Glaubens sind, dem Teufel voller Kraft Widerstand leisten“. Der Hirt des Hermas erklärt also an dieser Stelle die Umkehr und die Buße genauestens als die Resilienz! 3. Die acedia Das Wesen der acedia haben wir schon erklärt als eine „Krise des Herzens und des Gemüts“. Die Kirchenväter vom 4. bis zum 6. Jahrhundert werden die acedia zu der spezifischen Versuchung der christlichen Mönche erklären22, doch es haben schon die allerersten Christen die Gefahr der acedia erkannt. Diese ist eine Gefahr für alle Menschen, daher auch für alle Christen, keineswegs nur für die christlichen Mönche (die es übrigens im 2. Jahrhundert noch gar nicht gab). Der Hirt des Hermas verwendet für den Sachverhalt der acedia das Wort „l˘pe“, das wir übersetzen dürfen mit „Selbstmitleid“, er schreibt 23: „Selbstmitleid ist die schlimmste unter allen Haltungen der Seele, Selbstmitleid ist das Gefährlichste für die Diener Gottes, Selbstmitleid vertreibt den Heiligen Geist“. Von dieser falschen Haltung, von dieser Fehlentwicklung soll sich der Mensch frei machen, er soll statt dieser Fehlhaltung mit 24 „der inneren Fröhlichkeit, der Heiterkeit der Seele“ sich kleiden. Der selbe Hermas ermahnt uns, seine Leser des 21. Jahrhunderts, in seiner dritten Vision25: „Wie die alten Männer, die keinerlei Hoffnung mehr auf Jugend besitzen, einzig und allein auf ihr Wegsterben warten, so habt auch ihr euch verweichlichen lassen durch die Sorgen des Alltags, ihr habt euch ausgeliefert dem Trübsinn (= acedia), daher habt ihr eure Sorgen nicht auf den Herrn geworfen“26, und er spricht ein weiteres Mal von den Alten, die da ohne Hoffnung sind: „Ihr habt euch in eurem Sinn entmutigen lassen und so seid ihr gealtert in eurem Trübsinn“. Hilfe gegen die Fehlhaltung, die in der acedia beschlossen liegt, bietet der

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Brief des Polykarp 8, 1. 2 Clem. 8, 1. Hermas, Mandatum XII 5, 4. Z. B. Johannes Climacus: Migne, Patrologia Graeca 88, 860 A. Hermas, Mandatum X 1, 2. Hermas, Mandatum X 3. Hermas, Visio III 11, 3. „Wirf deine Sorgen auf den Herrn“: So hatte es im Psalm 54 (55), Vers 23, geheißen, ebenso hatte es der Apostel Petrus gesagt (NT: 1 Petr. 5, 7): „Werfet alle eure Sorgen auf ihn, den Herrn, denn ihr seid ihm ein echtes Anliegen“.

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Zweite Klemens-Brief, durch den wir ermahnt werden, „dass wir in unserem Herzen nicht durch viele Zweifel gespalten sind, sondern dass wir voller guter Hoffnung in Geduld und Leidensfähigkeit ausharren“27. Am besten vermag der acedia Widerstand zu leisten, wer 28 „mit Zuversicht gläubig ist und sich in Heiligung selbst zu beherrschen weiß“. Geduld, die Hypomoné, ist gewissermaßen das Urwort, welches der acedia entgegengesetzt ist, einzig die Geduld überwindet die acedia29. 4. Die Tugendkataloge Ähnlich wie wir Lasterkataloge aus den Schriften der ersten Christen kennen, finden wir dort auch mehrere Tugendkataloge. Als der tiefste Kern darin ist der Aufruf zur Demut zu nennen, doch da wir in unserer Systematik von der Demut erst später handeln wollen, sei diese hier nur erwähnt, nicht aber intensiv erörtert. Ganz zu Ende seines Briefes30 liefert Klemens einen solchen Tugendkatalog, indem er Gott darum bittet, er möge seinen Gläubigen schenken „Glaube, Furcht (Gottes), (inneren) Frieden, Geduld und Langmut, Selbstbeherrschung, Keuschheit sowie Zucht und Maß“. Im Brief des Barnabas31 werden ziemlich genau dieselben Tugenden genannt, nämlich „Furcht (Gottes) und Leidensfähigkeit in Geduld, Langmut und Selbstbeherrschung, Weisheit und Verständnis, Wissen und Erkenntnis“. Nicht viel anders ist der Tugendkatalog des Hermas32, in dem genannt werden „Glaube, Furcht des Herrn, Liebe, Eintracht, Worte der Gerechtigkeit, Wahrheit, Geduld“ und „Glaube, Selbstbeherrschung, Kraft, Langmut, Einfachheit, Arglosigkeit, Keuschheit, Fröhlichkeit, Wahrheit, Verständnis, Eintracht und Liebe“. Wir müssen unbedingt auf ein wichtiges Faktum im Zusammenhang dieser altchristlichen Tugendkataloge aufmerksam machen: Niemals wird hier Bezug genommen auf die vier Kardinaltugenden, wie sie seinerzeit Platon eingeführt hatte und wie sie ein jeder in der Antike und Spätantike kannte (Weisheit, Tapferkeit, Zucht und Maß, Gerechtigkeit), sondern es werden ausschließlich spezifisch christliche virtutes (aretai) vorgetragen. Weitere uns überlieferte Tugendkataloge der frühen Christenheit hier aufzuführen lohnt nicht, denn das Prinzip ist klar: Die Tugenden sind es, mithilfe derer der Mensch dem Bösen Widerstand zu leisten vermag, mit denen er inneren wie auch äußeren Herausforderungen und Krisen begegnen soll, durch die er die Resilienz anzuwenden, ja zu leben versteht. 27 28 29

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2 Clem. 11, 5. 1 Clem. 35, 2. Deswegen wird Faust, nachdem er die Hoffnung und den Glauben – nicht aber die Liebe! – verflucht hat, ausrufen: „Fluch vor allen der Geduld“ (J. W. Goethe, Faust I, Vers 1606). 1 Clem. 64. Barnabas 2, 2–3. Hermas, Mandatum VIII 9 und Similitudo IX 15, 2.

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5. Das Prinzip der Ordnung Neben die Tugenden tritt als ganz zentrales Prinzip der Kósmos, die Ordnung. Klemens von Rom ist ein echter Bewunderer der militärischen Ordnung33, aber der von ihm verfochtene Ordnungsbegriff geht weit über das rein Militärische hinaus, denn er spricht zu Ende seines Briefes34 von der „ewig seienden Ordnung der Welt“. Diese Ordnung ist es, die der Einzelne nachahmen soll, indem er seine Seele in Zucht hält, aber auch indem er sich einen Platz in der Welt sucht, der in das hierarchische System von Über- und Unterordnung eingebunden ist. Von dieser Unterordnung des Menschen unter Gott, aber auch unter Kirche und Staat, ist ganz besonders Ignatios, der Bischof von Antiochien, erfüllt und durchdrungen: „Mit einmütiger Unterordnung sollen wir ausgerüstet sein“ und so uns dem Bischof unterwerfen35, wir sollen diese Unterwerfung freien Willens durchführen, also ganz genau so, wie wir uns Christus unterwerfen36. Man sieht: Das Prinzip der Ordnung ist auch ein politisches, aber nicht nur. Der Ordnung bedarf der Mensch zunächst einmal in seinem eigenen Herzen, und diese Ordnung erreicht er in Anerkennung des „allherrschenden, allschaffenden, unsichtbaren Gottes“, dem alles und jedes „freien Willens gehorcht“ und dem „das All unterworfen ist“37. Die Anerkennung Gottes führt zu der richtigen Sicht von der Welt, zu der einzig echten christlichen Weltanschauung. Es ist nur allzu bezeichnend, dass das griechische Wort „Kósmos“ drei voneinander geschiedene Bedeutungen aufweist: Schmuck, Welt, Ordnung, zusammengefasst also die „schmuckvolle Weltordnung“. Auf dieser Grundlage wird Augustinus später, um 420, den Begriff des Friedens mit jenem der Ordnung definieren und sagen38: „Friede, das ist die Ruhe der Ordnung aller Dinge; Ordnung aber ist jene Einteilung, die bei gleichen wie auch ungleichen Dingen einem jeden Ding den diesem und nur diesem zukommenden Platz aufweist“.

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Man vergleiche besonders: 1 Clem. 37, 2–3 und dazu die Ausführungen des Verfassers: Wilhelm Blum, Philosophie und Politik von den Apostolischen Vätern bis zu Origenes, in: Stephan Otto (Hg.), Die Antike im Umbruch, List Verlag, München 1974, S. 19–36, besonders S. 20 –22. 1 Clem. 60, 1. Ignatius, Ep. ad Eph. 2, 2. Ignatius, Ep. ad Trall. 2, 1. Brief an Diognet 7, 2. Augustinus, De civitate dei 19, 13: „Pax omnium rerum tranquillitas ordinis.“

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II. Unverschuldete (objektive) Krisen 1. Die Ordnung Das Prinzip der Ordnung bildet einen passenden Übergang zu diesem neuen Kapitel. Krisen, die völlig unverschuldet sind – die also, um es ein weiteres Mal zu sagen, einzig Folgen der Erbsünde sind –, zu begegnen ist der Mensch aufgerufen, die Ordnung vermag ihn dabei in seiner Resilienz zu unterstützen. Dabei ist in der Hauptsache an jene Ordnung gedacht, die wir am augenfälligsten im Aufbau von Staat und Kirche sehen, an die Hierarchie also, deren Kern die Über- und Unterordnung ist. Eine solche ständische Ordnung wird von Hegel im 19. Jahrhundert als die Vermittlung der Extreme angesehen werden: Zwischen Familie und Staat, die die beiden Extreme darstellen, soll treten die „bürgerliche Gesellschaft“39. Dabei ist es weit mehr das System der dialektischen Vermittlung, welches dem Individuum Halt gibt, nicht so sehr die Gesellschaft als solche. Dieses System der dialektischen Vermittlung ist der Kern von Hegels Lehre, doch es hatte diesen Kern schon die Philosophie der klassischen Antike als das Fundament des Denkens und Seins anerkannt. Platon hatte dazu die Lehre aufgestellt 40: „Der Gott hatte den Wunsch, dass alles gut sei und nach Möglichkeit nichts schlecht […], deswegen brachte er alles, was sich da ohne Ordnung und planlos bewegt, in eine Ordnung“, und das „System“ (der „Zusammenstand“) besteht darin, dass es eine Vermittlung, und zwar eben eine dialektische, geben muss zwischen zwei Extremen, dass also die Extreme jeweils durch ein Mittleres verbunden und versöhnt sind 41. Das ist der zentrale Unterschied zwischen der Lehre Platons und seines Schülers Aristoteles, dass jener die Gegensätze versöhnen, dieser jedoch diese aufheben, vereinnahmen, in der Mitte absorbieren will. Dieses System und diesen Begriff der Ordnung haben die Kirchenväter allesamt aus Platon übernommen, natürlich nicht alle in jener außergewöhnlichen Genialität, wie sie einem Augustinus oder gar einem Pseudo-Dionysios Areopagita (5./6. Jahrhundert) eigen war. Die frühesten Christen sind zumeist einer jeden spekulativen Theorie abhold, sie argumentieren für Sinn und Zweck des Prinzips der Ordnung mit handfesten Beispielen aus der politischen Erfahrung des Alltags. Als Beispiel für diese Denkweise seien einige Zitate aus dem Brief des Klemens nach Korinth angeführt. a) „Ihr zoget es vor, Untertanen zu sein, anstatt andere zu Untertanen zu machen“42;

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Vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (aus dem Jahre 1821), §§ 158–329. Platon, Timaios 30 a. Platon, Timaios 31 c. 1 Clem. 2, 1.

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b) „Jeder Aufruhr und alle Spaltung waren euch ein Gräuel“ 43; c) Ziel ist immer nur eines, „Gerechtigkeit und Friede“ 44; d) Himmel, Erde, Meer und Winde, sie leben und existieren allesamt in Frieden und Eintracht, weil „der große Schöpfer und Herr des Alles, der Allem und Jedem nur Gutes tut, angeordnet hatte, dass das All in Frieden und Eintracht sei“ 45; e) „Wir sollen Alles und Jedes in Ordnung tun“ 46; f) „Dem Oberpriester sind spezielle liturgische Pflichten übertragen, den Priestern ist ein eigener Platz zugewiesen, den Leviten obliegen wiederum spezifische Dienste, und der Laie ist gebunden an die Aufträge für Laien“ 47; g) „Christus kommt von Gott her, die Apostel aber kommen von Christus: So sind beide nach Gottes Willen in bester Ordnung entstanden“48. Die Beispiele ließen sich noch weiter vermehren, doch schon die hier aufgeführten Sätze zeigen überdeutlich, wie sehr Klemens von der Ordnung durchdrungen ist. Die Ordnung ist es nach seiner Meinung, die das beste und mächtigste Bollwerk darstellt gegen den Einbruch des Bösen in der Welt und im Menschen. Um es nun aber mit einem Wort zu sagen: Nach Klemens ist die (äußere wie auch innere) Ordnung die bestmögliche Resilienz, der Mensch muss einzig die Ordnung für sich fruchtbar machen, durch sie ist er wie durch einen Panzer gewappnet gegen alle nur denkbaren Krisen. 2. Die Einheit Was für Klemens die Ordnung ist, nämlich der Grundbegriff seiner Lehre – im 60. Kapitel spricht er von der „ewigen Ordnung der Welt“, im 60. und 61. Kapitel betet er für die staatliche Ordnung, also für Kaiser und Reich 49 –, das ist für Ignatius von Antiochien die Einheit. Die Christen sollen sich in „einträchtiger Unterordnung verbunden“50 wissen, wobei für ihn nicht die Unterordnung (Hypotagé) das Zentrale ist, sondern die Einheit in der Unterordnung. An Polykarp schreibt

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1 Clem. 2, 6. 1 Clem. 3, 4. 1 Clem. 20. 1 Clem. 40, 1. 1 Clem. 40, 5. Diese Stelle ist die erste in der christlichen Literatur, wo das Wort „Laie“ (laikós) verwendet wird. 1 Clem. 42, 2. So konnte Hugo Rahner SJ zu diesem Brief sagen, er sei „der beste Beweis für die grundsätzliche Staatstreue der Urkirche“, H. Rahner, Kirche und Staat im frühen Christentum, München 1961, S. 32. Ign., Eph. 2, 2.

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Ignatius die ganz klare und unmissverständliche Mahnung51: „Kümmere dich um die Einheit, denn diese ist das Beste, was es gibt“. Was passiert, wenn die Einheit verfehlt ist, das schreibt Ignatius an die Gemeinde von Smyrna52: „Meidet jegliche Spaltung, denn eine solche ist der Beginn alles Übels“. Der Brief an die Gemeinde von Magnesia ist derart voll von ununterbrochenen Aufrufen zur Einheit, dass wir ihn getrost als den „Brief der Einheit“ charakterisieren können. Die Forderung nach Einheit ist zunächst eine eminent politische, dann aber auch eine ethische oder gar metaphysische: Einheit ist das Ziel aller Politik, Einheit ist aber auch das Ziel des menschlichen Lebens. Wenn Ignatius davon spricht 53, dass „Christus unser untrennbares Leben“ ist, dann können wir geradezu mit Händen greifen, was sein Rat zur Resilienz ist: Wir sollen uns nach Ignatius von Antiochien Christus angleichen, wir sollen christusförmig werden, wir sollen jenem Christus gleich werden54, der da frei war von jeder Zerrissenheit. So soll Christus unser Vorbild sein, hatte er doch im sogenannten Hohenpriesterlichen Gebet55 darum gebetet, „dass alle eins seien“ – eine Forderung, die der Bildhauer Toni Schneider-Manzell (1911–1996) im Jahre 1971 dem von ihm geschaffenen Bronzetor des Domes zu Speyer eingravieren lassen wird: Ut unum sint56. 3. Der Heilsplan Gottes Nach Ordnung und Einheit muss als dritter zentraler Begriff im Ringen um die Resilienz gegen unverschuldete Krisen kurz gesprochen werden von dem „Heilsplan Gottes“, von dem Ignatius57 ausdrücklich und eindringlich schreibt. Dieser Heilsplan (Oikonomía) Gottes ist uns Menschen naturgemäß unbekannt, aber wir wissen – glauben nicht nur, nein: wir wissen! – von der Existenz dieses Heilsplanes. Drei wichtige Dinge aus Gottes Heilsplan nennt uns Ignatius selbst58 im Anschluss an dessen Erwähnung: – die Existenz des Teufels, des „Herrschers dieser Zeit“, – „die Jungfernschaft wie auch Mutterschaft der Maria“, – „der Tod des Herren“ am Kreuz.

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Ign., Ep. ad Polyc. 1, 2. Ign., Smyrn. 7, 2; vgl. auch Ign., Philad. 7, 2. Ign., Eph. 3, 2. In diesem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass schon Platon die Forderung erhoben hatte, der Mensch solle sich, soweit ihm das möglich sei, an Gott angleichen (Platon, Theaitetos 176 b–c), denn Gott ist übervoll von Gerechtigkeit. NT: Ev. Joh. 17, 21 und 17, 11. Vgl. Philipp Weindel, Das Bronzetor des Speyerer Domes, Pilger Verlag, Speyer 1974. Ign., Eph. 18, 2. Ign., Eph. 19, 1.

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Was aber noch bedeutsamer ist als die Aufführung dieser drei Fakten in Gottes Heilsplan, das ist die von Ignatius an derselben Stelle vorgelegte Überzeugung, dass „diese drei Geheimnisse, die in aller Munde sind“ – die mithin gerade nicht Geheimnisse (Mystéria) sind! –, ausschließlich „in der Ruhe und Stille Gottes Gestalt werden konnten“. Die Stille und das Schweigen soll noch genauer betrachtet werden, aber der Gegensatz von Allbekanntheit historischer Fakten aus Gottes Plan für die Menschen und dem Schweigen und der Stille in Gott soll jetzt schon betont werden. Resilienz, so lehrt uns Ignatius, ist gegeben a) in der Anerkennung von Gottes Heilsplan und in dem tiefen und unerschütterlichen Vertrauen auf die Wahrheit, Wirkkraft und Zielgerichtetheit dieses Planes; b) in der Anerkennung dessen, dass Stille, Ruhe und Schweigen – bis hin zur Wiederkunft Christi zum Jüngsten Gericht, wo Er für jeden sichtbar in Glorie erscheinen wird – die Art und Weise der Erscheinung Gottes in dieser Welt sind; c) in der Anerkennung der Tatsache, dass dem Teufel Widerstand geleistet werden soll in Stille, im Schweigen, in Demut, und eben nicht mit lautem Geschrei oder mit angeberischem Getöse 59. Das Wichtigste, das uns Ignatius lehrt, ist die Mahnung zum Widerstand gegen alles uns Bedrängende, gegen jede Krise, in Stille und Ruhe, denn in dieser Stille liegt die Kraft verborgen, schließlich zeigt 60 sich Gott selbst einzig in der Stille, wie es Elias am Berge Horeb erleben durfte61: Der Herr war nicht im gewaltigen Sturm, nicht im Erdbeben, nicht im Feuer zu sehen, sondern nur in einem „leisen Säuseln“.

III. Die Prüfung des einzelnen Menschen durch Gott 1. Geduld und Schweigen in Christus Das Schweigen, die Ruhe und Stille, bilden den Übergang zum jetzigen Abschnitt. Der Heilsplan Gottes, so haben wir gesehen, wurzelt im Schweigen und in der Stille, und genau so soll der Mensch angesichts Gottes in Dankbarkeit schweigen. Zu der Stille aber soll sich hinzugesellen die Geduld, die Hypomoné. So heißt es im Brief des Barnabas 62: „Helfer unseres Glaubens sind die Furcht (Gottes) und 59 60

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Vgl. die Worte Jesu aus der Bergpredigt: NT: Ev. Mt. 6, 1–6. Deswegen konnte früher in dem Introitus zum Sonntag in der Oktav nach Weihnachten gesungen werden (in Anlehnung an AT: Sap. 18, 14): Dum medium silentium tenerent omnia et nox in suo cursu medium iter haberet, omnipotens Sermo tuus, Domine, de caelis a regalibus sedibus venit: Der ewige Lógos erscheint in der tiefen Nacht! AT: Erstes Buch der Könige 19, 11–12. Barnabas 2, 2.

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die Geduld“; so lesen wir im Zweiten Brief des Klemens 63: „Wir sollen Hoffnung fassen und in Geduld ausharren“, und Polykarp 64 schließlich begründet die Forderung nach Geduld mit dem Verweis auf das Leben Christi: „Wir wollen nachahmen die Geduld Christi“, denn Christus, so der Gedanke, ist unser Vorbild und diesem müssen wir nachfolgen. Die Geduld ist folglich deswegen eine christliche Tugend, weil sie ihr Fundament in Christus hat, weil umgekehrt schon Christus von ihr angefüllt war. Diese Geduld, diese Fähigkeit zum Ertragen und Ausharren, war aber auch den Aposteln Petrus und Paulus eigen, wie Klemens im 5. Kapitel seines Briefes nicht müde wird zu betonen. 2. Die Demut Die Forderung nach Demut ist eine urchristliche, in diesem Aufruf zur Demut unterscheiden sich die frühen Christen so wesentlich von ihrem heidnischen Umfeld und dessen literarischen Vertretern, dass die Demut geradezu zu einem Erkennungszeichen der Christen und ihrer Lehre wurde. Der heilige Benedikt wird zu Beginn des 6. Jahrhunderts im 7. Kapitel seiner Regel von 12 Stufen der Demut (humilitas) sprechen, und der große Bischof Augustinus hat in seiner 142. Predigt 65, die man überschreiben könnte mit „Predigt der Demut“, ganz lapidar ausgerufen: „Gott selbst ist voller Demut, aber der Mensch will immer noch stolz und hochmütig sein“. Die Forderung, dass der Mensch angesichts der Wahrheit Gottes demütig sein soll, wird auch von den ersten christlichen Autoren nahezu ununterbrochen vorgetragen. Einige Stellen aus dem Ersten Klemens-Brief sollen das verdeutlichen: „Legen wir uns an die Eintracht, indem wir voller Demut sind“ 66. Klemens denkt auch in seiner Eigenschaft als Lehrer und Pädagoge an die Kinder: „Unsere Kinder sollen Anteil erhalten an der Bildung, die ihre Wurzeln in Christus hat, und sie sollen lernen, was die Demut bei Gott vermag“67. Der Gedanke des Augustinus von der Demut, die die grundlegende Eigenschaft Gottes ist, bewegt bereits den Bischof Klemens 68: „Wenn schon der Herr in dieser Welt voller Demut war, was sollen dann wir tun, die wir durch ihn unter das Joch seiner Gnade gelangt sind?“. Zu Beginn desselben Kapitels hatte Klemens schon festgestellt 69, dass „Christus einzig ein Besitz derer ist, die da demütig sind“. 63 64 65

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2 Clem. 11, 5. Polykarp 8, 2. Augustinus, Sermo 142, 6: Migne, Patr. Lat. 38, 781. Zu „Gottes Demut“ sei verwiesen auf die wundervolle Meditation von Romano Guardini (1885–1968): R. Guardini, Der Herr, Werkbund Verlag, Würzburg 1951, S. 379–387 u. 430. 1 Clem. 30, 3. 1 Clem. 21, 8. 1 Clem. 16, 17. 1 Clem. 16, 1.

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3. Die Liebe Das Wesen der Demut sowie die Forderung nach Demut sind genuin christlich, und genauso verhält es sich mit dem Aufruf zur Liebe. Ein weiteres Mal soll der begnadete Seelsorger Augustinus zitiert werden70: „Habe die Liebe, dann mache, was du willst: Wenn du schweigst, schweige in Liebe, und wenn du schreist, dann schreie in Liebe; wenn du jemanden durch Strafen bessern willst, dann tu das in Liebe, und wenn du ihn verschonst, dann tu auch das in Liebe. Die Wurzel deiner Liebe sei im Inneren (deines Herzens), einzig und allein aus dieser Wurzel kann das Gute erwachsen“. Von der Liebe als der Grundlage des Verhältnisses von Gott zu Mensch, von Mensch zu Gott, von Mensch zu Mitmensch wie auch des einzelnen Menschen zu sich selbst71 handeln naturgemäß auch alle(!) Autoren der frühesten Christenheit, wie eine kleine Auswahl beweisen kann: a) „Wenn du immerdar an deine eigene Frau denkst, wirst du niemals in Sünde fallen“72, was heißen soll: Wer seiner Frau in echter Liebe zugetan ist, der wird niemals in eine Sünde gegen das Sechste Gebot fallen. b) „Gott der Herr, der Schöpfer des Alls … ist allezeit voller Liebe zu den Menschen gewesen“ 73, die Liebe zu uns ist das Erste, wir aber sollen dieser Liebe Folge leisten in unserer Liebe zu Ihm. c) „Wir wollen einander lieben, damit wir alle in das Reich Gottes gelangen“74. d) „Die Liebe, die erwächst aus Freude und Fröhlichkeit, ist Zeugin für jene Werke, die in Gerechtigkeit vollbracht worden sind“75. e) Bischof Ignatius schreibt über sich selbst an die Gemeinde von Philadelphia76: „Ich zerfließe schon ganz und gar, weil ich euch so sehr liebe“. f) Bischof Klemens fordert nicht nur, dass die Kinder den Wert und die Kraft der Demut lernen77, sie sollen darüber hinaus noch lernen und selber erfahren, „was die reine Liebe bei Gott vermag“78. Diese Beispiele zeigen unmissverständlich, wie sehr die ersten Christen vom Wert wie auch der Notwendigkeit der Liebe durchdrungen waren. Diese Liebe ist das größte Bollwerk gegen eine jede Versuchung, die von den Mächten des Bösen ihren Ausgang nimmt, die Liebe verleiht der Resilienz die nötige Durchsetzungskraft.

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Augustinus, Tractatus VII, in: Epistulam Johannis ad Parthos, Migne, Patrologia Latina 35, 2033.

Vgl. dazu NT: Ev. Mat. 22, 37; Ev. Mk. 12, 30–31; Ev. Lk. 10, 27. Hermas, Mandatum IV 1, 1. Brief an Diognet 8, 7. 2 Clem. 9, 6. Brief des Barnabas 1, 6. Ign., Philad. 5, 1. Anm. 67. 1 Clem. 21, 8.

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Daher will Barnabas79 „nicht als Lehrer, sondern als Liebender, wie das so sein muss“, aufrufen zum Widerstand gegen Ärgernisse (Skándala) in Gegenwart und Zukunft. 4. Fasten und Almosen Seit den frühesten Tagen des Christentums gilt das Verschenken von Almosen als Folge der Liebe, zur Unterstützung der Liebe aber wird immer wieder zum Fasten aufgerufen80. Da ist nun die Reihenfolge von Interesse, die die erste Predigt des Christentums aufstellt81. Das Erste ist „das Gebet aus reinem Gewissen“, das Zweite ist „die Liebe“ – das Gebet steht noch über der Liebe, weil es diese als lebendige Beziehung von Mensch zu Gott begründet –, den dritten Rang hat das Almosen, und dieses wird viertens unterstützt durch das Fasten. Fasten aber soll und darf der Mensch einzig in der rechten Gesinnung, eben jener der demütigen Liebe 82, nicht aber in Hochmut, Selbstgerechtigkeit oder gar Vermessenheit. 5. Das Martyrium Jeder Christ soll Zeugnis ablegen von seinem Glauben an Christus, ein solches Zeugnis aber kann auch einmal das Zeugnis des Blutes sein, der Tod für den Glauben, nicht anders als es Jesus Christus ergangen war, dem Sohne Gottes, der den jammervollen Tod am Kreuze durchzustehen hatte. Ignatius, der Bischof von Antiochien, war bereit, sein Blut für Christus zu vergießen, so wollen wir einige Sätze von diesen Blutzeugen anführen und zur Kenntnis nehmen. a) Er schreibt in Fesseln an die Gemeinde von Ephesos 83, sie solle darum beten, „dass er in Rom des Kampfes mit den wilden Tieren teilhaftig werde“. b) Die Gemeinde von Magnesia bittet er ebenfalls um ihr Gebet 84: „Denket an mich in euren Gebeten, damit ich Gott erlangen kann“; er schreibt diesen Satz im klaren Bewusstsein, dass er in Bälde wird sterben müssen, und zwar als Zeuge für Christus. c) Der Gemeinde in Tralleis gesteht er 85 seine Sehnsucht nach dem Leiden für Christus, fügt aber die bange Sorge hinzu, ob er denn eines solchen Leidens überhaupt würdig sei.

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Brief des Barnabas 4, 9.

Vgl. die Bergpredigt (Ev. Mt. 6, 1–18) und Tobias 12, 8 aus dem Alten Testament. 2 Clem. 16, 4. Vgl. Brief des Barnabas 3, 1–2 u. Didaché 8, 1. Ign., Eph. 1, 2. Ign., Magn. 14, 1. Ign., Trall. 4, 2.

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d) Der Gemeinde der Hauptstadt Rom aber eröffnet er ganz und gar sein Herz, weiß er doch, dass er in dieser Stadt den Bestien im Amphitheater vorgeworfen werden soll. Und so schreibt er nach Rom86: „Möge ich doch Nutzen haben von den wilden Tieren, die für mich bereit stehen […]; ich will sie umschmeicheln, damit sie mich ganz und gar auffressen“. e) In demselben Brief nach Rom spricht er von allen möglichen Arten der Marter, also von den Urformen des Objekts für alle Resilienz: „Feuer und Kreuz, Rudel von wilden Tieren, Zerreißen der Knochen und Zerfetzen der Glieder“, aber all das (und noch mehr) einzig mit dem Ziel, „damit ich Jesus Christus erlange […]“ ich, „der ich jetzt gerade damit beginne, Jünger (Jesu Christi) zu sein“. Die Alte Kirche hatte die Märtyrer immer aufs Höchste geehrt und verehrt. Die ersten Blutzeugen, von denen in lateinischer Sprache berichtet wird – der erste christliche Text in Latein überhaupt –, wurden am 17. Juli 180 in Karthago enthauptet, und einer der Verurteilten hatte als letztes Wort vor Gericht den klassischen Satz gesagt87: „Heute noch sind wir als Zeugen im Himmel, Dank sei Gott“. Ein weiteres Martyrium, wiederum aus der Frühzeit des Christentums in Nordafrika, ist jenes der Vibia Perpetua und ihrer Sklavin Felicitas (wohl im Jahre 203): Aus den uns erhaltenen Akten sei nur ein Satz zitiert, der geradezu als das Urmuster der christlichen Resilienz in Todesgefahr gelten kann88; diesen schleuderten sie dem römischen Richter im Gerichtssaal entgegen: „Sie verurteilen jetzt uns zum Tode, Gott aber wird über sie das Urteil sprechen“. Wie sehr die Christen der Spätantike das Martyrium geehrt und mit welcher Hochschätzung sie immer wieder von den Blutzeugen Christi gesprochen haben, das zeigen unendlich viele Inschriften, das zeigen aber auch literarische Texte wie zum Beispiel der Gedichtzyklus „Peristephanon“ (Siegeskränze) des größten lateinischen Dichters der alten Christenheit Prudentius (ca. 348– ca. 405). Das beweisen weiterhin die Prediger der frühen Christenheit, auch hier wieder soll abschließend aus einer Predigt des Bischofs Augustinus zitiert werden, wobei der Prediger die Wirkung heidnischer Gottheiten mit jener der Blutzeugen Christi vergleicht 89: „Herakles hat besiegt den Cacus 90, den Löwen und den Hund Cerberus, aber Fructuosus ist Sieger über die ganze Welt. Man vergleiche nur einmal den einen Mann mit dem anderen! Agnes, ein Mädchen von 13 Jahren, ist Siegerin über den Teufel: Dieses Mädchen hat den zur Strecke gebracht, der so viele Menschen in Bezug auf Herakles getäuscht und betrogen hat“.

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Ign., Rom. 5, 2–3. Passio Sanctorum Scilitanorum § 15. Passio SS. Felicitatis et Perpetuae 18, 4: Tu nos, te autem Deus. Augustinus, Sermo 273, 6: Migne, Patr. Lat. 38, 1250–1251. Zu diesem feuerspeienden Monster vgl. Vergil, Aeneis 8, 190–267.

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6. Zusammenfassung: Der Christ nach Cyprian Zum Schluss dieses Beitrags soll noch ein weiterer Christ und Martyrer aus Nordafrika zitiert werden, nämlich Bischof Cyprian von Karthago, der am 14. September 258 in dem – heute noch betretbaren – Amphitheater seiner Heimatstadt enthauptet wurde. Dieser Bischof und Seelsorger kannte das Wort „Resilienz“ noch nicht, aber er hat uns Heutigen einen religiösen, ethischen wie auch psychologischen Leitfaden christlichen Lebens an die Hand gegeben, den wir eindeutig als Grundlage aller christlichen Resilienz bezeichnen dürfen91: „Das Folgende bedeutet, Miterbe Christi zu sein sowie das Gebot Gottes und den Willen des Vaters zu erfüllen: a) Demut im täglichen Leben und Lebenswandel; b) Festigkeit im Glauben; c) Sittsamkeit in den Worten; d) und in den Taten Gerechtigkeit; e) Barmherzigkeit in den Werken; f) Zucht im Charakter und im Verhalten; g) Unfähigkeit, Unrechtes zu tun, aber die Bereitschaft, erlittenes Unrecht zu ertragen; h) die Einhaltung des Friedens mit den Mitmenschen; i) die Liebe zu Gott aus ganzem Herzen; j) die Liebe zu Ihm, weil Er der Vater ist; k) die Liebe zum Ihm, eben weil Er Gott ist; l) der Wunsch, niemals je Christus etwas vorzuziehen, weil er niemals uns etwas vorgezogen hat; m) die unverbrüchliche Anhänglichkeit an seine Liebe; n) die starke Treue, mit der wir um sein Kreuz herum stehen; o) die Beharrlichkeit unserer Rede, mit der wir uns immer dann öffentlich zu Christus bekennen, wenn ein Streit über seinen Namen oder seine Ehre anhängig ist; p) das Vertrauen, mit dem wir ein jedes Problem angehen, und schließlich q) die Geduld und das Ausharren im Tode, denn allein durch diese Tugenden erhalten wir die Krone des Lebens“.

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Cyprian, De Dominica Oratione, Kapitel 15.

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Literatur Quellen: Editio Leonina: Sancti Thomae Aquinatis doctoris angelici Opera omnia iussu Leonis XIII. O. M. edita, cura et studio fratrum praedicatorum, Romae 1882 ff. Platonis Opera recogniut Joannes Burnet, 5 Bände, Oxford (1900–1907): Clareudon Press. Fischer, J. et al. (Hg.) (2006), Schriften des Urchristentums, B. 1–3, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Funk von, F. X. (Hg.) (1901), Die Apostolischen Väter, Tübingen/Leipzig: Mohr. Guillaumont, A. et Guillaumont, C. (1971) (trad. et comm.), Lógos Praktikós. Evagre le Pontique: Traité Pratique ou Le Moine, Tome II: Edition critique du texte grec, Sources Chrétiennes, Vol. 171, Paris.

Weitere Literatur: Blum, W. (1974), Philosophie und Politik von den Apostolischen Vätern bis zu Origenes, in: Otto, S. (Hg.), Die Antike im Umbruch. Politisches Denken zwischen hellenistischer Tradition und christlicher Offenbarung bis zur Reichstheologie Justinians, München: dtv – Deutscher Taschenbuch Verlag, S. 19–36. Blum, W. (2007), Letzte Worte, Bielefeld: Aisthesis. Guardini, R. (1951), Der Herr. Betrachtungen über die Person und das Leben Jesu Christi, Würzburg: Werkbund-Verlag. Hegel, G. W. F. (1972), Grundlinien der Philosophie des Rechts. Naturrecht und Staatswissenschaft, hg v. H. Reichelt, Frankfurt am Main: Ullstein. Rahner, H. (1961), Kirche und Staat im frühen Christentum, München: Kösel. Schmaus, M. (1954), Katholische Dogmatik, B. 2, T. 1: Gott der Schöpfer, München: Hueber. Weindel, Ph. (1974), Das Bronzetor des Speyerer Domes, Speyer: Pilger Verlag.

René Roux

„Vita Antonii“ des Athanasius aus der Perspektive des Resilienz-Begriffes

Der heilige Antonius der Große scheint heute in der Volksfrömmigkeit Mitteleuropas in Vergessenheit geraten zu sein1. Trotzdem ist sein Abbild in vielen Kirchen zu sehen, und seine Gestalt konnte Meisterwerke der Kunst, wie das Hildenheimer Retabel in Colmar oder die Malerei von Hieronymus Bosch, und der Literatur, wie Le Tentation de saint Antoine von Gustave Flaubert inspirieren. Die Bedeutung des Antonius für die christliche Tradition ist grundsätzlich einem Werk zu verdanken, nämlichdem Leben des heiligen Antonius (Vita Antonii) des Athanasius von Alexandrien2. In diesem kurzen aber eindrucksvollen Buch beschreibt Athanasius die Lebensentwicklung des Antonius: wie er seine Stadt Alexandrien verließ, um sich in der Wüste einem asketischen Leben zu widmen; wie er gegen Dämonen und Versuchungen aller Art siegreich kämpfte; wie er in Demut und Scheu versuchte, sich der stets größer werdenden Menschenmenge derer, die Rat und Trost brauchten, zu entziehen, in dem er immer weiter weg in die Wüste ging; wie er die Menschen und die Mönche belehrte. Vita Antonii des Athanasius ist dementsprechend Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen, die versucht haben, den ursprünglichen Text durch den Dschungel der antiken Übersetzungen und Rezensionen zu rekonstruieren3, die Einflüsse philosophischer Lehren zu entdecken, die Intentionen des Verfassers zu verstehen, die außerordentliche

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Vgl. Filippo Caraffa, Aurelio Rigoli, Maria Cirmeni Bosi, Antonio Abate, in: Bibliotheca Sanctorum, Bd. 2, Roma 1962, Istituto Giovanni XXIII nella Pontificia Università Lateranense, c. 106–136; Celestino Corsato, Sant’Antonio abate (251–356), Collegio Univerisitario don Nicola Mazza, Padova u. a. 2002. Vgl. Alberto Camplani, Atanasio di Alessandria, in: Angelo Di Berardino (Hg.), Nuovo Dizionario Patristico e di Antichità Cristiane, Bd. 1, c. 614–635, Marietti, Genova u. a. 2006. Vgl. Gerhardus J. M. Bartelink (Hg.), Athanase d’Alexandrie. Vie d’Antoine. Introduction, texte critique, traduction, notes et index, p. 77–108, Du Cerf, Paris 1994.

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Wirkungsgeschichte immer genauer zu beschreiben4, und die Aktualität der im Buch enthaltenen Botschaft neu darzulegen5. Trotz des kontinuierlichen Interesses der Historiker und der Theologen für dieses Werk ist eine Untersuchung im Rahmen der Resilienzforschung noch nicht unternommen worden. Jedoch möchte ich hier den Organisatoren dieser Tagung für die Anregung danken. Schon bei den ersten Versuchen konnte ich feststellen, dass diese innovative Fragestellung einen neuen Zugang zum Werk eröffnet und eine wesentlich treffendere Beurteilung der Intentionen des Verfassers sowie der Wirkungsgeschichte des Werkes ermöglicht. Da dies ein erster Versuch ist, die Vita Antonii im Licht der Resilienzdebatte zu lesen, ist hier notwendig, in einem ersten Schritt die in der Analyse verwendete Methode zu erklären und zu begründen. Im zweiten Kapitel werden die ersten Ergebnisse dieser Untersuchung skizzenhaft aber systematisch dargestellt. Es handelt sich zunächst um einen Versuch, die „Resilienzlehre“ des Athanasius in der Vita Antonii historisch zu rekonstruieren. Im letzten Kapitel wird die Aktualität dieser Lehre in seelsorgerlicher Perspektive hinterfragt.

1. Methodologische Überlegungen Um eine Lektüre der Vita Antonii im Licht der Resilienzproblematik vornehmen zu können, soll zunächst definiert werden, was hier unter „Resilienz“ und „Resilienzlehre“ verstanden wird. Zweitens soll gefragt werden, ob und inwiefern die Vita Antonii für eine solche Analyse geeignet ist. Letztens soll versucht werden, eine systematische Fragestellung zu entwickeln.

1.1. Zum Resilienzbegriff Das Wort „Resilienz“, aus dem Lateinischen resilire, resiliens, bedeutete etymologisch das Zurückkehren, oder Zurückspringen, zu einem ursprünglichen Stand. Mit dem Terminus wurden viele übertragene Bedeutungen verknüpft, so wie beispielweise in juristischem Sinn das Aussteigen aus einem Vertrag oder in der Physik die Fähigkeit bestimmter Substanzen, wie der Metalle, nach einer Dehnung ihre ursprüngliche Form zurück zu erhalten. Infolgedessen bezeichnet das Wort auch die Kraft, die man braucht um solch ein Metallstück zu zerbrechen. Seit dem 4

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Vgl. Theofried Baumeister, Vita, in: Siegmar Döpp, Wilhelm Geerlings (Hgg.), Lexikon der antiken christlichen Literatur, p. 721–724, Herder, Freiburg u. a. 2002. Vgl. z. B. John E. Lawyer, Saint Anthony of Egypt and the Spirituality of Aging, „Cistercian Studies Quarterly“ Vol. 35, No. 1, (2000), p. 55–74; Enrico Dal Covolo, La lotta spirituale di Abba Antonio: dalla pace interiore alla „pace cosmica“, „Nicolaus“, Vol. 34, No. 1 (2007), p. 123–128.

„Vita Antonii“ des Athanasius

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20. Jahrhundert findet der Begriff zunehmend Verwendung. In der Sportmedizin bedeutet Resilienz die Fähigkeit des menschlichen Körpers physischen Anstrengungen zu widerstehen. Im Rahmen der Psychologie hat sich, trotz unterschiedlicher Nuancierungen, der Begriff etabliert, um die Fähigkeit der Psyche zu bezeichnen, auch größeren Schwierigkeiten zu trotzen. In diesem Fall geht es besonders um die Merkmale der Psyche, die sich als „resilient“, das heißt als widerstandsfähig, erweisen6. Welche Faktoren beeinflussen die „Resilienz“ der Seele? Und kann man diese therapeutisch einsetzen? Hinter diesen Fragen verbirgt sich eine Problematik, die schon in der klassischen und christlichen Antike oft behandelt wurde, wenn auch unter einer anderen Terminologie. In dieser Untersuchung wird das Wort Resilienz der Seele als Synonym für Seelenstärke verwendet. Als Resilienzlehre wird die Lehre zur Verstärkung der Seelenkraft bezeichnet. Es wird an dieser Stelle versucht, die Resilienzlehre des Athanasius nach seinem Werk Vita Antonii zu rekonstruieren.

1.2. Vita Antonii als „Handbuch der Resilienzlehre“ Die hier behandelte Fragestellung scheint mir besonders geeignet, um die Ziele der Vita Antonii neu und besser zu verstehen. Die traditionelle Forschung über die Vita Antonii hat bis jetzt grundsätzlich zwei Intentionen in diesem Werk erkannt. Die erste wurde von Athanasius selbst in den Einleitungsworten zur Vita Antonii offen gelegt: er wollte das wunderbare Leben von Antonius des Großen „den Mönchen in der Fremde“ (man denkt zunächst an die interessierten Leserkreise im westlichen Teil des römischen Reiches) bekannt machen und damit das mönchische Ideal verbreiten7. Diesbezüglich hat der Erfolg seiner Schrift die Erwartungen des Athanasius wahrscheinlich sogar übertroffen: die Vita wurde überall übersetzt und gelesen, und wenige Jahre später sagte Gregor von Nazianz in einer Predigt für das Fest des heiligen Antonius, dass die Vita Antonii eine Regel für das mönchische Leben in Form einer biographischen Erzählung darstelle 8. Neben dieser offenkundigen Intention hat die neuere Forschung dem Athanasius eine weitere, religionspolitische Absicht zugeschrieben: indem er Antonius als Verfechter der Orthodoxie und als treuen Untertan der bischöflichen Gewalt darstellt, ist es Athanasius gelungen, die mönchische Bewegung für die Orthodoxie zu

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Einen interessanten Blick in die Geschichte dieses Begriffes bietet u. a. Alain Rey (Hg.), Dictionnaire historique de la langue française, Bd. 3, Dictionnaires le Robert, Paris 1998, p. 3024. Vgl. Athanasius, De vita Antonii, Praefatio, in: Adolf Gottfried, Heinrich Przybyla (Hgg.), Vita Antonii, Benno Verlag, Leipzig 1986, S. 23. Wenn nicht anders vermerkt, verweisen Zitate und Seitenhinweise auf diese Übersetzung. Vgl. Gregorius Nazianzenus, Oratio XXI, 5: Justine Mossay (Hg.), Grégoire de Nazianze. Discours 20–23, Du Cerf, Paris 1980, p. 118.

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gewinnen und ihre permanente Unterstützung für die kirchliche Hierarchie zu sichern9. Wenn auch der Hinweis auf diese zwei Intentionen durchaus gerechtfertigt ist, bleibt meines Erachtens zu hinterfragen, ob diese Erklärungen nicht zu kurz greifen. Erstens: Die Vita Antonii wurde auch von Leuten gelesen, die keine Mönche werden wollten und gar keine Anachoreten sein wollten, wie Antonius es gewesen war. Zweitens: bezüglich des Verhältnisses der Mönche zur kirchlichen Hierarchie ist es fraglich, inwieweit das reine Beispiel eines wie auch immer verehrten Heiligen das Verhalten einer per se eher anarchischen Bewegung dauerhaft beeinflussen kann. Vielmehr können Struktur und Wirkungsgeschichte des Textes erklärt werden, wenn man die Hypothese annimmt, dass Athanasius eine Art christliches Handbuch zur Stärkung der Seelenkraft schreiben wollte. Der heilige Antonius hatte zwar in den Augen des Athanasius das Ideal der Vollkommenheit erreicht, aber seine Lehre und sein lebendes Beispiel (nach dem Modell der antiken rhetorischen Schule: durch praecepta und exempla), dienten einem jeden Leser, der im Text Ratschläge für viele und unterschiedliche Lebenssituationen finden konnte. In diesem Zusammenhang ist die von Antonius verkörperte folgsame Einstellung zur Institution Kirche ein konstitutiver Bestandteil der „Resilienzlehre“. Wie wir sehen werden, geht es um die Einsicht: Nur wer sich der Kirche unterstellt, kann die Wahrheit erlangen, die notwendig ist, um die eigene Seele zu „stärken“. Im Kapitel 87 der Vita beschreibt der Verfasser die Erwartungen und die Reaktionen der vielen Besucher, die zu Antonius pilgerten: „[Antonius] war wie ein Arzt, der Ägypten von Gott geschenkt worden war. Denn wer kam in Trübsal zu ihm und kehrte nicht in Freude zurück? Wer kam in Tränen wegen seiner Verstorbenen und legte nicht sogleich die Trauer ab? Wer kam in Zorn und fand nicht zur Freundschaft zurück? Welcher Arme kam mutlos zu ihm und verachtete nicht den Reichtum, wenn er ihn hörte und sah, und tröstete sich dadurch über seine Armut? Welcher Mönch, der sich vernachlässigt hatte und zu ihm ging, wurde nicht beharrlicher in der Askese? Welcher junge Mann, der auf den Berg gekommen war und Antonius gesehen hatte, sagte nicht gleich von den Sinnenfreuden los und liebte Zucht und Mäßigung? Wer kam zu ihm, weil er von einem Dämon versucht wurde, und fand nicht Frieden? Wer kam, von bösen Gedanken gequält, und wurde nicht ruhig in seinem Denken?“10

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Vgl. David Brakke, Athanasius and the Politics of Asceticism, Clarendon Press, Oxford 1995, p. 266–272; Annette Martin, Athanase d’Alexandrie et l’eglise d’Égypte et les moines: à propos de la „Vie d’Antoine“, „Revue des sciences religieuses“ Vol. 71, No. 2 (1997), p. 171–188. Vita Antonii 87, S. 111.

„Vita Antonii“ des Athanasius

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Athanasius listet hier eine Reihe von seelischen Beschwerden auf, die durch den Kontakt mit Antonius geheilt wurden. Die Lebensweise des Antonius und seine belehrenden Worte hatten also eine therapeutische Wirkung auf die Leute, die ihm begegneten. Interessanterweise wird der menschliche Bedarf nach körperlicher Gesundheit in diesem Zusammenhang nicht erwähnt, obwohl es berichtet wird, dass Antonius solche Wunder wohl vollbracht hat, und dass viele Leute zu ihm gingen, in der Hoffnung, von ihren Krankheiten geheilt zu werden11. In den Augen des Athanasius liegt der Schwerpunkt dieser Wundertätigkeit in der Therapie der Seele. Erinnern wir uns daran, dass das Ziel vieler antiker Biographien nicht die historische Rekonstruktion der genauen Ereignisse war, sondern die Darstellung des Charakters, der Seele eines Menschen mithilfe vielsagender Anekdoten und typischer Reden.12 Daraus können wir schließen, dass Athanasius mit seiner Schrift in erster Linie nicht für eine Lebensform werben wollte, für welche Antonius Beispiel als Ideal gilt, welches allerdings von den Wenigsten realisiert werden konnte, sondern vielmehr wollte er eine Art „Arzneikasten“ für das Leiden der Seele anbieten. Die Wirkungsgeschichte der Vita Antonii scheint diese Interpretation zu bestätigen. Das Werk wurde sofort zum Bestseller: zweimal im Laufe des 4. Jahrhunderts ins Lateinische übersetzt, folgten weitere Übersetzungen ins Syrische, Koptische, Armenische und in die anderen Sprachen des christlichen Orients. Selbst in der griechischen Originalfassung wurde der Text so oft kopiert, dass es bis heute nicht möglich gewesen ist, eine zufriedenstellende kritische Edition anzufertigen13. An Nachahmungen hat es auch nicht gefehlt, wie die romanhaften Heiligenvitae des Hieronymus zeigen. Besonders ein Phänomen der Rezeptionsgeschichte soll aber unseren Blick schärfen. Aus zeitgenössischen Quellen, wie den Confessiones des Augustinus14, wissen wir, dass die Vita Antonii nicht nur von einfachen und ungebildeten Mönchen gelesen wurde, sondern auch das Interesse intellektueller Kreise geweckt hat. Das liegt an der besonderen Kompositionstechnik des Textes, die grundsätzlich verschiedene Lektüreebenen ermöglicht. Einerseits, dank der relativ einfachen Sprache, den zahlreichen Anekdoten und den biblischen Zitaten waren die wichtigsten Inhalte dieser Schrift einem großen Publikum zugänglich, und zwar unabhängig vom Bildungsniveau. Andererseits, durch die in den Mund

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Vgl. Vita Antonii 56–58, S. 82–84; 62, S. 87; 84, S. 107–108. Man kann an die Vitae des Plutarchus denken; vgl. Jean Sirinelli, Plutarque de Chéronée. Un philosophe dans le siècle, Fayard, Paris 2000, p. 270–273. Zu den alten Übersetzungen und der gesamten handschriftlichen Überlieferung vgl. Bartelink, p. 95–101. Augustinus, Confessiones 8,6,14–15 (Aimé Solignac et al. (Hgg.), Œuvres de Saint Augustin 14. Les confessions. Livres VIII–XIII, Études Augustiniennes, Paris 1996, p. 36–42); vgl. auch Ders, De doctrina christiana, Prooemium 4: Madeleine Moreau et al. (Hgg.), Œuvres de Saint Augustin 11/2. La doctrine chrétienne, Études Augustiniennes, Paris 1997, p. 68.

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des Antonius gelegten Reden und durch eine sehr geschickte Einsetzung einer aus der philosophischen Tradition stammenden Terminologie konnte Athanasius in einige wichtige philosophische Debatten über den Gott, die Seele, das Böse und die Wahrheit eingreifen und als Christ dazu Stellung nehmen15. Da die Philosophie der Spätantike eine intime Verbindung zwischen Lehre und Lebensführung vorsah, eignete sich das Leben des Antonius für die Darstellung der christlichen Philosophie. Das bedeutet, dass man in der Untersuchung gegebenenfalls zwei unterschiedliche Rezeptionen des einen Textes berücksichtigen muss, je nachdem, ob der Leser ein Intellektueller war oder nicht. 1.3. Methodologie Aus den oben ausgeführten Problemen ergibt sich die folgende Arbeitsmethode. Bezüglich der Textüberlieferung wurden hier als Grundlage für diese Untersuchung zwei Editionen des griechischen Texts ausgewählt, die von Migne und die von Bartelink, weil beide auf einer breiten Tradition basieren16; sie bezeugen also indirekt eine weite Verbreitung der in ihnen enthaltenen Seelenlehre. Die Frage nach dem historischen Antonius ist für unsere Fragestellung eher sekundär – es handelt sich um die Lehre des Athanasius in der Vita Antonii, und nicht um die Lehre des Antonius. Da die christliche Lehre als wahre Philosophie im Gegenzug zu den Diskussionen der heidnischen Philosophen dargestellt wird, und da die ersten Leser, trotz der Attacken gegen die „Philosophie“, das Werk als intellektuell relevant empfunden haben, scheint es mir den Versuch wert, die Seelenlehre aus der Vita Antonii nach den gewöhnlichen Themenfeldern der Philosophie der Spätantike zu systematisieren. Es wird also nach der Logik, nach der Physik und nach der Ethik gefragt. Die Logik und die Physik stellen Quellen und Inhalte der Seelenlehre dar, und die Ethik gibt die praktischen Hinweise zur Entwicklung der Seelenkraft. In Einzelfällen soll zusätzlich überprüft werden, ob eine unterschiedliche Lektüre je nach dem sozialen Niveau der Leser möglich war.

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Z. B. als Antonius nach 20 Jahren die Höhle verlässt, beschreibt Athanasius den vollkommenen Zustand seiner Seele anhand der stoischen Terminologie (Vgl. Vita Antonii 14, S. 40– 41). Vgl. Patrologia Graeca 26, 835–976; G.J.M. Bartelink, a. a. O. Die Frage, ob es bei den vielen Übersetzungen auch zu für die Seelenlehre relevanten Anpassungen gekommen ist, bleibt offen.

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2. Aspekte der „Resilienzlehre“ in der Vita Antonii 2.1. Die „Logik“: Wie komme ich zur wahren Erkenntnis? Athanasius vermittelt seine „logischen“ oder besser gesagt „erkenntnistheoretischen“ Prinzipien durch zwei Szenen. Die erste Szene 17 zeigt den jungen Antonius, der eifrig in die Kirche geht, um Gottes Wort zu hören. In seinem Herzen behält er die Worte der Heiligen Schriften, als wären sie an ihn persönlich adressiert, und richtet sein Leben danach aus, besonders bei der Entscheidung, sein Vermögen den Armen zu geben, um Christus nachzufolgen. In der zweiten Szene ist der schon ältere Antonius im Gespräch mit den heidnischen Philosophen zu sehen und zu hören.18 Athanasius beschreibt wie manchmal Philosophen zu Antonius gegangen sind, um ihn in die Enge zu treiben und sich über ihn lustig zu machen. Obwohl Athanasius ständig betont, dass Antonius ungebildet war, ist er in der Lage, die Philosophen doch zum Schweigen zu bringen.19 Aus diesen zwei Szenen können wir also den Weg zur wahren Erkenntnis finden. Antonius fragt die Philosophen: „Wie erkennt man die Dinge genau – und besonders meine ich die Gotteserkenntnis: durch die Beweiskraft von Worten oder durch die Fähigkeit zu glauben. Was ist eher da, der Glaube durch die Fähigkeit dazu oder der Beweis durch Worte?“20 Nachdem die Philosophen zugestimmt haben, fügt Antonius hinzu: „Der Glaube kommt von einer bestimmten Grundbefindlichkeit der Seele her; die Dialektik aber fußt auf der Kunst derer, die sie entwickeln. Folglich brauchen die, die die Fähigkeit zum Glauben besitzen, den Beweis durch Worte nicht, oder er ist sogar überflüssig. Denn was wir aus dem Glauben erkennen, das versucht ihr mit Worten zu konstruieren; und oft könnt ihr nicht einmal ausdrücken, was wir erkennen. Die Fähigkeit zu glauben ist daher besser und sicherer als eure sophistische Beweisführung.“21 17 18 19

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Vgl. Vita Antonii 1–3, S. 24–27. Vgl. Vita Antonii 72–80, S. 96–104. Das Problem des Bildungsniveaus des Antonius und die damit verbundene Frage nach der Echtheit der Antoniusbriefe bleiben bis heute umstritten: vgl. Dimitrij Bumazhnov, Visio mystica im Spannungsfeld frühchristlicher Überlieferung. Die Lehre der sogenannten Antoniusbriefe von der Gottes- und Engelschau und das Problem unterschiedlicher spiritueller Traditionen im frühen ägyptischen Mönchtum, Mohr Siebeck, Tübingen 2009, S. 1–17. Der Antonius, welchen wir aus seinen Briefen kennen, scheint in der Philosophie gut ausgebildet zu sein. Vita Antonii 77, S. 101. A. a. O.

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In diesem kurzen Zitat spiegelt sich das Verhältnis zwischen Glaube und Vernunft, so wie die alexandrinische theologische Tradition des Klemens 22 und des Origenes23 es längst definiert hatte: Philosophierende und glaubende Menschen sind beide auf der Suche nach der Wahrheit. In der Philosophie aber bleibt es bei einem reinen menschlichen Versuch. Die unterschiedlichen Lehrmeinungen sind der Beweis dafür, dass das Ziel doch nicht erreicht werden konnte. Im Glauben dagegen hört der Mensch der Wahrheit selbst zu. Dieses Zuhören ist die einzige vernünftige Haltung eines Gläubigen. Wenn man im christlichen Glauben annimmt, dass Gott, die absolute Wahrheit, sich in Jesus Christus enthüllt hat, stellt sich die praktische Frage – wie kann ich dieser sich offenbarenden Wahrheit begegnen? Wie uns die erstgenannte Szene es zeigt, erreicht man es mit der Hilfe der Heiligen Schrift, die in der Kirche zu hören ist. Damit ist natürlich den sog. einfachen Menschen und den Mönchen nicht nur gesagt, dass sie den Lehren der Bischöfe gehorsam sein sollen, sondern vielmehr wird ihnen ein Weg gezeigt, um ein altes erkenntnistheoretisches Problem im Umgang mit göttlichen Offenbarungen zu lösen. In der Antike wurde die Möglichkeit einer direkten Gotteserkenntnis nie prinzipiell abgelehnt. Wie aber die ersten Seiten der Ilias beweisen, wo Zeus mit einem Traum den Agamemnon absichtlich in die Irre führt 24, konnte die rein religiöse Erfahrung nicht per se als echter Weg zur echten Wahrheit angesehen werden. Der Hinweis auf die Kirche spielt also eine doppelte Rolle in der Bewertung des Wahrheitsanspruchs. Durch ihre geografische Verbreitung und zeitliche Dauer konnte man auf einer objektiven Ebene hoffen, dass die von der Kirche verkündigte Botschaft tatsächlich vom höchsten Gott stammt. Anhand der Lehre der Kirche hat man auf einer subjektiven Ebene ein Kriterium, um die Echtheit der eigenen religiösen Erfahrungen zu messen. Deswegen ist die Haltung gegenüber der kirchlichen Hierarchie keine rein kirchenpolitische Angelegenheit oder ein Versuch, Machtpositionen zu befestigen. Es geht hier um ein konstitutives Element der Erkenntnistheorie. In diesem Sinne konnte Athanasius schreiben, dass die Freundschaft und der Umgang mit den Häretikern für die Seele „schädlich und verderblich sind“25, weil sie eben das Wahrheitskriterium nicht erkennen. Zusätzlich soll hier darauf hingewiesen werden, dass diese Lehre den Leuten aus ärmeren Verhältnissen, die von einer höheren Bildung ausgeschlossen waren, einen Weg zur

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Vgl. z. B. Clemens Alexandrinus, Stromata, 1,13, 57: Marcelo Merino Rodríguez (Hg.), Clemente de Alejandría. Stromata I. Cultura y Religión, Editorial Ciudad Nueva, Madrid 1996, p. 196–199. Vgl. Origenes, De Principiis, I, Praefatio, 1–2: Henri Crouzel, Manlio Simonetti (Hgg.), Origène. Traité des principes. Tome I (Livres I et II), Du Cerf, Paris 1978, p. 68–71. Homerus, Ilias, Bd. 1– 46. Vita Antonii 68, S. 93.

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Erkenntnis eröffnete, und so ein Mittel darstellte, um den Neid und den Ärger aus der sozialen Benachteiligung zu überwinden.

2.2. Die „Physik“: Gott, die Seele und das Böse Die Lehre über die „Physik“, so wie sie Athanasius in der Mitte des 4. Jhs. vertreten hat, ist natürlich christlich. Sie wird kurz in den Reden des Antonius dargestellt 26 und bildet die Voraussetzung für die Resilienzlehre im engeren Sinn. Im Folgenden werden nur die Elemente kurz zusammengefasst, die für die Seelenlehre relevant sind. Das Wesen des Evangeliums ist die Botschaft des Himmelreichs. Das Himmelreich ist aber in uns; es beginnt in der Seele 27, so dass die Sorge um die Seele der Weg zum Himmelreich ist. In der Rede über die Begegnung des Antonius mit den Philosophen lehnt Athanasius zwei Theorien über die Seele ab: die Theorie der Metempsychose, und die Theorie der Seele als Teil des Göttlichen 28. Für Athanasius ist die Seele der Teil des von Gott geschaffenen Menschen, mithilfe dessen der Mensch Gott betrachten kann 29. „Die Tugend besteht darin, dass die Seele das Vernünftige besitzt, das mit ihrem eigentlichen Wesen übereinstimmt. In Übereinstimmung damit ist sie aber, wenn sie so bleibt, wie sie geschaffen ist […] das Ebenmäßige der Seele – das ist das Vernünftige, das mit ihrem eigentlichen Wesen übereinstimmt, so, wie sie geschaffen wurde. Ist sie dagegen von der rechten Bahn abgewichen und hat sich von ihrem eigentlichen Wesen abgewendet, dann nennt man das Sündhaftigkeit der Seele.“30 Eine solche Seele strahlt Frieden aus, so dass Dämonen wegrennen31, wilde Tiere und aufgeregte Menschen beruhigt werden32, und die Seele selbst über eine stärkere Wahrnehmungskraft verfügt33. 26 27 28 29

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Vgl. Vita Antonii 16–18, S. 42– 46. Vgl. Vita Antonii 20, S. 47. Athanasius zitiert Lc 17, 21: „Das Himmelreich ist in euch“. Vgl. Vita Antonii 74, S. 97–98. Vgl. Athanasius, Oratio contra gentes 2: „Eine reine Seele ist dazu fähig, Gott in sich selbst wie in einem Spiegel zu schauen“: Uta Heil, Athanasius von Alexandrien: Gegen die Heiden. Über die Menschwerdung des Wortes Gottes. Über die Beschlüsse der Synode von Nizäa, Verlag der Weltreligionen, Frankfurt am Main u. a. 2008, S. 13. Vita Antonii 20, S. 47. Vgl. a. a. O. 50, S. 75–76. Vgl. a. a. O. 50–51, S. 75–77. Außerordentliche Fähigkeiten sollen nicht gesucht werden; doch, „eine Seele, die ganz und gar rein ist und in ihrem natürlichen Zustand verblieben ist, die Dinge durchschaut und mehr und weiter sehen kann, als die Dämonen; hat sie doch den Herrn, der ihr alles enthüllt.“ (Vita Antonii 34, S. 60).

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Das Verhältnis zwischen Körper und Seele mag zunächst paradox erscheinen. Im Kap. 45 schreibt Athanasius: „Sooft Antonius vorhatte, zu essen, zu schlafen und anderen körperlichen Bedürfnissen nachzugehen, schämte er sich, da er an das Geistige der Seele dachte. Oft hatte er zwar die Absicht, mit vielen anderen Mönchen zu speisen, nachdem er sich aber an die geistige Nahrung erinnert hatte, wollte er nicht mehr und ging weit weg von ihnen; denn er meinte zu erröten, wenn er von anderen beim Essen gesehen würde; für sich allein aß er jedoch wegen der körperlichen Notwendigkeit. Oft aß er auch mit den Brüdern; er schämte sich zwar vor diesen, vertraute aber auf den Nutzen seiner Worte. Er sprach davon, dass man all seine Muße mehr der Seele als dem Leib zuwenden müsse; dem Leib müsse man zwar wegen der unumgänglichen Bedürfnisse ein wenig Zeit zugestehen, die übrige Zeit aber der Seele geben, damit sie von den Lüsten des Leibes nicht herabgezogen werde, sondern vielmehr der Leib von der Seele unterworfen werde“ 34. Diese Vorstellung war eigentlich keine christliche Innovation (andere Philosophen 35, beispielweise Philo Alexandrinus 36, hatten Ähnliches gedacht), Athanasius zeigt aber durch zwei folgende Zitate aus dem Lukasevangelium (Lc 12,22 u. 12,29–31) 37, dass Antonius nichts anderes tut, als sich nach den Worten des Herrn zu richten. Für philosophisch gebildete Hörer sollte dieser Abschnitt als weitere Bestätigung der christlichen Lehre dienen; die Tatsache, dass Antonius trotz Schande dann doch mit den Brüdern aß, sollte für einfache Mönche aber als Mahnung zur Mäßigung auch in der Verachtung des Körpers sein. In der Tat (und hier steckt das Paradoxon), wird die Zerstörung des Körpers nicht bezweckt. Eine extreme, gefährliche Askese wird in der Vita Antonii als eine dämonische Versuchung gebrandmarkt 38 und Antonius selbst heilt eine Jungfrau, die Polykratia von Laodikeia, die unten der Folgen übertriebener Askese litt 39. Als Antonius nach zwanzig Jahren Askese aus dem Kastell, wo er quasi begraben gelebt hatte, herausging, war er nicht nur „in die heiligen Geheimnisse eingeweiht und gotterfüllt“ 40, sondern er hatte dazu „die gleiche körperliche Verfassung wie im34 35

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Vita Anatonii 45, S. 70–71. Vgl. Hiamblicus, Vita pitagorica, 24, 107: Maurizio Giangiulio (Hg.), Giamblico. La vita pitagorica, Rizzoli, Milano 1991, p. 252–253; Porfirius, Vita Plotini 8, 20: Giuseppe Faggin (Hg.), Plotino: Enneadi. Porfirio: Vita di Plotino, Rusconi, Milano 1992, p. 16–17. Vgl. Philo Alexandrinus, De vita contemplativa 34–36: François Daumas, Pierre Miquel, Les œuvres de Philon d’Alexandrie 29. De vita contemplativa, Du Cerf, Paris 1963, p. 102–107. Vgl. Vita Antonii 45, S. 70–71. Vgl. a. a. O. 25–26, S. 52–53. Wobei man nicht so genau sehen kann, wie eine weitere Steigerung in der Askese noch möglich ist. Vgl. a. a. O. 61, S. 86–87. a. a. O. 14, S. 40.

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mer; weder war er dick geworden, wie einer, der sich wenig bewegt, noch war er abgemagert vom Fasten und dem Kampf mit den Dämonen – nein, er sah so aus, wie sie ihn kannten, bevor er sich zurückgezogen hatte“ 41. Noch kurz vor seinem Tod, im Alter von 105 Jahren, war er körperlich gesund. Trotz Askese „blieb er in allem ohne Schaden. Denn er hatte tadellose, gesunde Augen und sah gut; auch nicht ein einziger seiner Zähne war ihm ausgefallen, nur am Zahnfleisch waren sie wegen des hohen Alters des Greises schmal geworden. An Füßen und Händen blieb er gesund und erschien insgesamt frischer und rüstiger als alle, die abwechslungsreiche Kost genießen, baden und diverse Kleider tragen“ 42. Von einer Körperfeindlichkeit darf hier also keine Rede sein. Es handelt sich eher um eine Theorie der Genesung und der Entwicklung des Menschen als Ganzes, die eben das vollkommene Wohl des Körpers paradoxerweise als Folge der Seelenkraft betrachtet. Das Böse wird oft in der Vita Antonii durch die Dämonen verkörpert. Diese sind aber nicht allmächtig. Sie sind Geschöpfe Gottes, die durch ihre freie Entscheidung gegen Gott sind und die Menschen hassen. Ihre Macht ist aber begrenzt, besonders nach dem Kreuz Christi.

2.3. Die „Ethik“ Aus dieser Weltanschauung entsteht eine „Ethik“, eine Lehre über das menschliche Handeln. Die Resilienzlehre steht im Zentrum der Ethik in der Vita Antonii. Um einen Überblick zu ermöglichen, kann man diese Lehre unter drei Hauptthemen zusammenfassen: die allgemeine Haltung zur Überwindung existentieller Widerstände, die Dämonenbekämpfung und weitere praktische Hinweise. 2.3.1. Allgemeine Haltung zur Überwindung existentieller Widerstände Unter existentiellen Widrigkeiten verstehen wir die Beeinträchtigungen und die Schwierigkeiten, die aus einem niedrigen sozialen Stand entstehen, besonders Armut und Mangel an Bildung, und sowohl physische Leiden wie Krankheiten oder Schläge von Feinden als auch psychische, wie der Verlust geliebter Menschen. Das Lebensbeispiel des Antonius zeigt den Weg, solche Schicksalsschläge zu überstehen. Seiner christlichen Weltanschauung entsprechend kann Antonius die Angelegenheiten dieser Welt anders bewerten und ihnen gegenüber frei sein. Indem Antonius sein Vermögen den Armen gibt, um in die Wüste zu ziehen 43, zeigt er, dass nicht die Armut, sondern der Reichtum ein Problem für die Seele darstellt. Arme Menschen können in dieser Szene Trost finden, wenn sie begreifen, dass 41 42 43

a. a. O., S. 41. Vita Antonii 93, S. 116–117. Vgl. Vita Antonii 2–3, S. 26–27.

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ihnen nichts Wesentliches fehlt, egal wie arm sie sind. Den Begüterten wird gelehrt, dass sie Herren ihres Reichtums sein sollen, in dem sie von ihm auch für die Bedürftigen abgeben, und nicht Sklaven des Reichtums, indem sie immer mehr haben wollen und Angst haben, etwas zu verlieren. Mangel an Bildung ist kein Nachteil mehr, weil der Zugang zur wahren Erkenntnis nach der Menschwerdung Christi grundsätzlich jedem Mensch offen ist, und sie befindet sich nicht (nur) in den Schulen der Philosophen, wohin nur die „nobiliores“ gelangen können, sondern in den christlichen Kirchen, wohin jeder eingeladen ist. Selbst die Vertiefung der Glaubenslehre geschieht nicht durch dialektisches Denken, das man in den philosophischen Schulen erlernen musste, sondern durch die Reinheit der Seele. Physisches Leiden wird als solches anerkannt und nicht bagatellisiert. Antonius wird sogar als Wundertäter dargestellt 44. Das ist aber nicht seine wichtigste Fähigkeit in den Augen des Athanasius. Die richtige Haltung gegenüber Krankheiten und Wunden seitens der Feinde wird von Antonius gezeigt, als er von den Dämonen fast totgeschlagen wurde und in Ohnmacht fiel. Er wurde durch ein Paar Brüder gerettet, aber sobald es ihm wieder besser ging, kehrte er zu seiner Bleibe zurück, dort wo auch die Dämonen waren 45. Dieser Szene ist die Lehre zu entnehmen, dass man in schwierigster Lage beharren muss, um die Kontrolle über sich selbst nicht zu verlieren: Antonius hat keine Angst vor den Dämonen, so dass er sofort bereit ist, ihnen wieder entgegenzutreten. Auch wenn man durch eine tödliche Krankheit oder eine kriminelle Tat umkommen könnte, sollte man um das Wesentliche nicht Angst haben. Die Szene des Antonius, der ohnmächtig wird und dann wieder gesund, scheint mir in diesem Kontext eine Anspielung auf den Glauben an die Auferstehung zu sein. Letztlich wird von Antonius noch berichtet, dass er trauernde Menschen trösten konnte. Dies geschah unter anderem, weil man in Antonius einen lebenden Beweis des christlichen Glaubens vor Augen hatte. Wenn man weiß und es auch verinnerlicht hat, wie es mit den Menschen und Gott wirklich steht, kann man den Schmerz um den Verlust geliebter Menschen besser bewältigen. 2.3.2. Die Bedeutung der Dämonenbekämpfung innerhalb der Resilienzlehre: Realität oder literarische Fiktion? Athanasius bedient sich gerne der Dämonenmythologie 46, um durch Taten und Worte des Antonius seine Resilienzlehre effektiv darzustellen. Das stellt sich im Vergleich mit den anderen antiken Quellen über den heiligen Antonius deutlich 44 45 46

Vgl. Vita Antonii 57–64, S. 82–88. Vgl. Vita Antonii 8, S. 34–35. Zur komplexen Bedeutung der Dämonenmythologie in der christlichen Antike vgl. Basil Studer, Demone, in: Angelo Di Berardino (Hg.), Nuovo Dizionario Patristico e di Antichità Cristiane, Bd. 1, Marietti 1820, Genova u. a. 2006, p. 1359–1368.

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heraus. In den Apophthegmata und in den Briefen des Antonius spielen die Dämonen längst keine so zentrale Rolle, so dass ihr romanhaftes Erscheinen in der Vita Antonii einer bewussten stilistischen Entscheidung des Athanasius zuzuschreiben ist. Abgesehen von Unterhaltungseffekten hatte die Darstellung der Dämonen, ihrer Angst vor dem Kreuz Christi sowie vor dem Mann Gottes zunächst eine befreiende Funktion. In diesem Kontext werden die Dämonen als echte geistige Wesen wahrgenommen. In einer Umgebung, wo Aberglaube und Furcht vor bösen Geistern und Dämonen aller Art zum Alltag gehörten, musste die Botschaft des Evangeliums vom Kreuz Christi wie eine willkommene Befreiung ankommen, wenn man nur stark genug an das Evangelium glaubte. Gleichzeitig konnte diese Dämonentheorie auch die angeblichen übernatürlichen Phänomene erklären, die mit den heidnischen Tempeln und Gottheiten in Verbindung gebracht wurden. Die Dämonen können auch „Wahrheiten“ aussprechen und gewisse Ereignisse vorhersehen, weil sie über „übermenschliche“ Fähigkeiten verfügen. Jedoch bleibt ihr Ziel immer das gleiche: sie wollen die Menschen betrügen 47. Die Elemente der Wahrheit in den heidnischen Religionen sind nur ein Lockmittel, um das Vertrauen der Menschen zu gewinnen. Antonius lehrt, dass die Dämonen nicht mehr zu fürchten sind und zeigt es mit seinem Leben. In anderen Kontexten aber scheinen die Dämonen, ohne ihre Existenz leugnen zu wollen, eher literarische Gestalten zu sein, um seelische Probleme plastisch darzustellen 48. Das sehen wir besonders klar an den Stellen, wo Athanasius ihre Angriffe systematisch darstellt. Obwohl diese Versuchungen vor allem Mönche und Anachoreten betreffen, leiden alle Christen unter ihnen, sodass diese Lehre allen nützlich ist. Man kann die satanischen Versuchungen in vier Gruppen teilen: .1. Sorgen um den Alltag Die erste Gruppe der sog. satanischen Versuchungen besteht aus übertriebenen Sorgen um das irdische Leben. Diese Versuchung geschieht im Kopf des Antonius in der Form „eines großen Wirrwarrs an Gedanken“ 49. Der Teufel ist neidisch auf Antonius und auf seinen Beschluss, asketisch zu leben und versucht ihn davon abzulenken, „indem er ihn arglistig an seinen Besitz denken ließ, die Sorge um seine Schwester, den vertrauten Umgang mit der Verwandtschaft, das Verlangen nach Geld und Ehre, die vielfältige Lust am Essen und Trinken und die anderen Freuden des Lebens und indem er ihm endlich das Belastende an der Tugend vor Augen stellte und wie große Mühe mit ihr verbunden ist; er hielt ihm auch die

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Vgl. Vita Antonii 26, S. 52–53. Das fällt auf, wenn man Augustinus, Confessiones X, 30,41–39,64 bedenkt. Dort werden ähnliche seelische „Versuchungen“ der Concupiscentia und nicht den Dämonen zugeschrieben! Vita Antonii 5, S. 29.

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Schwäche des Körpers und die Länge der Zeit entgegen“50. Wie man sofort merkt, sind solche Gedanken nur bezüglich des mönchischen Lebens als Versuchungen einzustufen, weil sie eben dazu führen können, das asketische Unternehmen aufzugeben. Jedoch ist die übertriebene Sorge für den Alltag eine Versuchung auch für Christen, die in der Welt leben, und sie wird als solche im Evangelium erwähnt 51. Die Therapie besteht aus „großem Glauben“ und „ständigen Gebeten“ 52. Der christliche Glaube liefert das Kriterium, um den alltäglichen Sachen den richtigen Wert beizumessen. Im ständigen Gebet erhält man die Kraft, sich konsequent daran zu halten. .2. Schmutzige Gedanken Die zweite Art von Versuchungen sind die „schmutzigen Gedanken“, die bei jungen Männern besonders effektiv sind53. Darunter sind alle Formen sexueller Wünsche und Triebe zu verstehen. Der Teufel „ging auf den jungen Antonius los“ mit schmutzigen Gedanken und mit Wollust. Er ging so weit, dass er nachts die Gestalt einer Frau annahm, um Antonius zu verführen. Athanasius wirbt für „zero tolerance“ gegenüber sexueller Lust. In den Briefen des Antonius54 und in den Apophthegmata55 finden wir auch eine Analyse der unterschiedlichen „Bewegungen“ in diesem Bereich: einige kommen von der Natur des Körpers, die kann und muss man ablehnen. Andere werden durch zu viel Essen und Trinken verursacht. Deswegen soll man fasten, um sie zu bekämpfen. Die letzten sind echte dämonische Versuchungen. Dagegen gilt es, mental festzuhalten an der geistlichen Natur der Seele, das Feuer der Hölle zu bedenken, und das Gebet zu pflegen, denn nur Gott kann uns von diesen Versuchungen befreien. In der Vita Antonii finden wir diese detaillierte Aufgliederung nicht. Jedoch sind die Mittel, um die Seele vor diesen Versuchungen zu schützen, genau die gleichen: Glaube, Gebet, Fasten, Betrachtung des Lebens nach dem Tod. Man kann sogar hoffen, aus den erotischen Versuchungen, die vom Teufel verursacht werden, irgendwann von Gott befreit zu werden56. Man soll aber immer wachsam bleiben.

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a. a. O. Vgl. Mt 13,22; Mc 4,18–19; Lc 8,14. Vgl. Vita Antonii 9, S. 35–37. a. a. O. 5, S. 29–30. Vgl. Antonius, Epistula 1,3: Lisa Cremaschi, S. Atanasio. Vita di Antonio. Apoftegmi. Lettere, Edizioni Paoline, Roma 1984, p. 201–202); den georgischen Originaltext hat Garitte veröffentlicht: Gérard Garitte, Lettres de Saint Antoine. Version géorgienne et fragments coptes, CSCO 148, Louvain 1955. Vgl. Apophthegmata Patrum. Alphabeticum 22, PG 65, 77. Vgl. Vita Antonii 6, S. 30–31: der schwarze Junge, Symbol der Unkeuschheit, wird am Ende besiegt und läuft weg.

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.3. Physisches Leiden Nachdem es ihm nicht gelungen ist, Antonius durch körperliche Lust zu schwächen, greift der Teufel zu einer neuen Kategorie von Versuchungen: die physischen Angriffe. Antonius, der in einer Höhle lebt, wird gequält und geschlagen bis zur Ohnmacht 57. Er wird durch einen Freund gerettet, der ihn zufälligerweise am nächsten Tag besucht. Antonius wird zum Dorf gebracht und dort gepflegt. Sobald es ihm wieder gut geht, kehrt er unbeirrt zu seinem Grab zurück, sehr zur Freude der dortigen Dämonen. Zwei Bibelzitate helfen ihm, die Angst zu überwinden: „Nichts kann mich von der Liebe Christi scheiden“ (Röm 8,35) und „Mag ein Heer mich belagern, mein Herz wird nicht verzagen“ (Ps 27,3). Unter der Metapher der physischen Angriffe verbergen sich höchstwahrscheinlich körperliche Krankheiten sowie Wunden, die durch kriminelle Hand oder durch Verfolger zugefügt wurden. In seiner Haltung zeigt Antonius eine innerliche souveräne Indifferenz, die auf dem Glauben an Jesus Christus basiert. Es wird in diesem Kontext, um die Angst zu verjagen, das Singen oder das laute Sprechen der Worte aus der Heiligen Schrift empfohlen. .4. Wahnvorstellungen Die vierte und letzte Gruppe von Versuchungen ist die spektakulärste. Der Teufel attackiert Antonius mit allen möglichen Wahnvorstellungen von gefährlichen Tieren, um ihn wohl in den Wahnsinn zu treiben 58. Gleichzeitig können diese Dämonen auch physischen Schmerz hinzufügen. „Ohne zu zittern“ bleibt Antonius „hellwach in seiner Seele“. Trotz Schmerzen denkt er nüchtern daran, dass die Kraft der Dämonen begrenzt ist, weil sie ihre Ziele nicht erreichen können59. Einerseits kann man hier an die Christenverfolgungen denken: Trotz aller Bemühungen konnten die Feinde des Christentums den Glauben nicht zerstören, weil Gott es nicht erlaubt hat. Auf einer einfacheren Ebene werden Wahnvorstellungen und quälende Gedanken ins Visier genommen. Antonius bleibt standhaft und plötzlich wird ihm vom Herrn geholfen: Schmerzen und Dämonen verschwinden sofort. Dann fragt Antonius die Erscheinung: „Wo warst du, warum bist du nicht gleich zu Anfang erschienen, um meine Qualen zu beenden?“ Da hörte er eine Stimme: „Antonius, ich war hier, aber ich wartete, um deinen Kampf zu sehen. Nun, da du standgehalten hast und nicht besiegt worden bist, werde ich dir immer Helfer sein und deinen Namen überall berühmt machen“. Als er dies gehört hatte, stand er auf und betete; er wurde so stark, dass er geradezu spürte, wie er mehr

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Vita Antonii 8, S. 34–35. a. a. O. 9, S. 35–37. a. a. O.

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Kraft in seinem Körper hatte als zuvor“ 60. Antonius wird hier als Athlet dargestellt. Er ringt gegen die bösen Geister unter den Augen des Herrn, der immer da ist, sich freut über die Erfolge seines Helden und bereit ist, im Notfall zu helfen61. Durch diese Szene soll der Glaube an die Nähe Gottes gestärkt werden, besonders dann, wenn man sich von Gott verlassen fühlt. 2.3.3. Praktische Hinweise In den Reden des Antonius finden wir noch einige praktische Hinweise zur Festigung der Seelenkraft: Die Regeln zur Unterscheidung der Geister, die Hinweise zur Selbstanalyse, und die Bedeutung der Einkehr. .1. Unterscheidung der Geister Schon Paulus hatte sich über die Notwendigkeit der Unterscheidung der Geister geäußert 62. Es ging ursprünglich um außerordentliche Phänomene deren Ursprung und Natur man feststellen wollte. Dieser Bezug auf außerordentliche Ereignisse ist in der Vita Antonii dokumentiert: Antonius will den Mönchen erklären, wie man echte von betrügerischen Visionen unterscheiden kann63. Jedoch erhält das Einsatzfeld der Geister eine wesentliche Erweiterung: Hier zählen sämtliche Gedanken und Eingebungen dazu 64. Das Kriterium der Unterscheidung liegt unter anderem in der Reaktion der Seele. Man muss einfach beobachten, wie die Seele auf die „Geister“ reagiert: „Die Gegenwart von Guten und Bösen zu unterscheiden ist leicht und gut möglich durch Gottes Hilfe. Der Anblick der Heiligen nämlich ist nicht mit Verwirrung und Lärm verbunden: Sie streiten nicht, sie schreien nicht, und niemand wird ihre Stimme hören. Ihr Erscheinen vollzieht sich vielmehr auf so ruhige und sanfte Weise, dass sogleich Freude, Beglückung und Zuversicht in die Seele einkehren; denn mit ihnen ist der Herr, der unsere Freude ist, und die Kraft Gottes des Vaters; die Gedanken der Seele bleiben frei von Beunruhigung und Erregung […] Sehnsucht nach dem Göttlichen und Künftigen kommt über sie […] [ Hingegeben bringt – R. R.] der Ansturm und die

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a. a. O. 10, S. 37. Der Einfluss des Buches Hiob ist hier kaum zu verkennen. Vgl. 1 Cor 12,10; Phil 1,9. Vgl. Vita Antonii 43, S. 68–69; vgl. Gustave Bardy, Discernement des Esprits II. Chez les Pères, in: Dictionnaire de Spiritualité, Bd. 3, Beauchesne, Paris 1957, c. 1247–1254. Vita Antonii 22–23, S. 48–50.

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Erscheinung der bösen Geister […] Verwirrung mit sich und ist mit Getöse, Lärm und Geschrei verbunden wie das Treiben von rüpelhaften Jugendlichen und Straßenräubern. Daraus entsteht sogleich die Furcht in der Seele, Verwirrung und Unordnung in den Gedanken, Niedergeschlagenheit, Hass auf die Asketen, Sorglosigkeit, Trauer, Erinnerung an die Verwandten und Furcht vor dem Tod; und dann Begierde nach dem Bösen, Geringschätzung der Tugend und Charakterlosigkeit.“ 65 Diese Lehre wird zum festen Bestandteil der christlichen geistlichen Tradition, wie ihre Rezeption durch die Exerzitien des Ignatius von Loyola beweist. .2. Seelenerforschung Um die Vollkommenheit zu erreichen, soll die Seele täglich erforscht werden. Athanasius empfiehlt abends die Gewissensforschung. Um eine bessere Kontrolle über die eigenen Gedanken zu erreichen, sollte man sie niederschreiben. „Folgende genaue Beobachtung des Gewissens soll nun noch zur Sicherheit dienen, damit wir nicht sündigen: Jeder von uns soll sein Verhalten und die Regungen der Seele kennzeichnen und aufschreiben, als ob wir dies einander mitteilen wollten; und glaubt zuversichtlich: Da wir uns scheuen, erkannt zu werden, werden wir aufhören zu sündigen, ja überhaupt etwas Schlechtes zu denken. […] Die Niederschrift soll uns auch also an die Stelle der Augen der Mitbrüder treten, damit wir gar nicht erst Schlechtes denken, weil wir schamrot würden, wenn wir so etwas aufschrieben, genauso wie wenn wir gesehen werden würden.“ 66 Dieses Prinzip entspricht der sehr empfohlenen Praxis der Beichte, im Sinne von Offenlegung der Gedanken beim geistlichen Vater: ob der Erfolg wirklich nur dem Schamgefühl zu verdanken ist, wie hier Antonius behauptet, oder eher der Tatsache, dass man durch die schriftliche oder mündliche Ausformulierung der „bösen“ Gedanken, diese besser wahrnimmt, objektiviert, und infolgedessen sich von ihnen distanzieren kann, das bleibt meines Erachtens eine offene Frage 67.

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a. a. O., 36, S. 62. a. a. O., 55, S. 81. Vgl. Jean-Claude Guy, Examen de Conscience II. Chez les Pères de l’Église, in: Dictionnaire de Spiritualité, Bd. 4, Beauchesne, Paris 1960, c. 1801–1807.

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.3. Die Bedeutung der Einkehr Auf die dringende Bitte eines hochrangigen Offiziers hatte Antonius seinen Berg verlassen. Als er dann zurückkehren wollte, bat ihn der Offizier noch länger zu bleiben. Darauf antwortete Antonius: „Wie die Fische verenden, wenn sie eine Zeitlang auf dem trockenen Erdboden zubringen, so verweichlichen Mönche, wenn sie länger bei euch bleiben und mit euch die Zeit hinbringen. Also müssen wir, wie der Fisch ins Meer, schnell auf den Berg zu kommen suchen, damit wir nicht durch langes Ausbleiben die Dinge drinnen vergessen.“ 68 Dieser Spruch ist auch in den Apophthegmata 69 zu lesen und ist mit großer Wahrscheinlichkeit authentisch. Im Kontext der Vita Antonii korrigiert er ein bisschen das Bild der Wüste. Wenn man die Bedeutung der Wüste in der Vita Antonii und in den Apophthegmata vergleicht, wird eine Akzentverschiebung deutlich. In den Apophthegmata ist die Wüste eher der abgelegene und geschützte Ort, wo man sich in Ruhe der Therapie der Seele widmen kann. Im Gegensatz dazu ähnelt die Wüste in der Vita Antonii im Gegensatz einem Boxring, wo die Seele ständig in den Kampf gegen starke Feinde treten muss. Trotz des Hinweises auf die vielen Jünger des Antonius bleibt die Wüste in der Vita ein äußerst unangenehmer Ort. Durch das Gleichnis des Fisches wird hier die positive Funktion der Wüste deutlich: sie ist der Ort, wo die Seele sich finden kann, und noch stärker, wo sie „atmen kann“. Natürlich besteht für den Mönch die Gefahr, geistlich zu „verweichlichen“, wenn er zu lang von der Wüste weg bleibt. Anderseits zeigt gerade dieser Spruch den Ort, wo man sich um seine Seele besser kümmern kann, wenn auch nur für eine kurze Zeit. Die Wüste, und später das Kloster, werden so zu einem Ort stilisiert, wo man eben „aufatmen“ kann. Seit der Vita Antonii findet man das Motiv eines Aufenthalts in mönchischer Umgebung in vielen Biographien christlicher Intellektueller.

2.4. Zusammenfassung In der Vita Antonii finden wir eine christliche Resilienzlehre aus der Spätantike. Athanasius liefert ein allumfassendes und in sich stimmiges christliches Weltbild, in dem das Ziel, das Himmelreich, durch die Vervollkommnung der Seele erreicht wird. In Form von Erzählungen, in denen die Dämonenmythologie eine beachtliche Rolle spielt, und in argumentativen Reden behandelt er die wichtigsten Hindernisse auf dem Weg der Seelenstärkung und gibt theoretische und praktische 68 69

Vita Antonii 85, S. 109. Vgl. Apophthegmata Patrum 10.

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Hinweise zu deren Überwindung. Die Rezeption der Vita Antonii auch außerhalb des Anachoretentums zeigt, dass das Werk gerade aus diesem Grund große Resonanz gefunden hat.

3. Aktualität der Resilienzlehre aus der Vita Antonii In diesem letzten Teil meines Referates möchte ich einige Anmerkungen zur aktuellen Bedeutung der Vita Antonii machen, in der Hoffnung, eine mögliche Debatte einzuleiten. Einige Aspekte der Resilienzlehre des Athanasius scheinen auf jeden Fall eine kritische Überprüfung zu benötigen, selbst innerhalb einer christlichen Weltanschauung. Ich denke hier nicht so sehr an die Haltung gegenüber dem Körper, die, wie wir gezeigt haben, gar nicht „(körper-)feindlich“ ist (der Körper wird auch auf einer physischen Ebene am besten bedient und erreicht eine vollkommene und ausstrahlende Gesundheit nur, wenn er von der Seele gesteuert wird). Ich denke vielmehr an die Haltung gegenüber der menschlichen Liebe und der Sexualität, denen grundsätzlich keine positive Rolle zugeschrieben wird. Angesichts der Tatsache, dass selbst damals – wie die erhaltenen Quellen uns zeigen – eine perfekte Keuschheit nicht immer gelang, frage ich mich, ob die „zero tolerance“ in Sachen Sexualität wirklich so verlangt war. Vielleicht folgte Athanasius in diesem Bereich der Strategie der levantinischen Händler, die zuerst eine übertriebene Summe für ihre Ware verlangen, um sich dann auf einen vernünftigen Preis zu einigen. Eine zweite Problematik hängt mit der Verwendung der Dämonenmythologie zusammen. Abgesehen von den Schwierigkeiten, die diese bildliche Ausdrucksform sogar manchen Theologen (vielleicht aus Unkenntnis) bereitet, scheint mir die Dämonenmythologie für die genaue Unterscheidung bestimmter Probleme und Krankheiten nicht ausreichend. Grundsätzlich ist der heilige Antonius ein gesunder Mensch mit einer gesunden Seele. Er ist mit vielen Problemen, äußerlichen und innerlichen, konfrontiert worden. Er bleibt aber von Anfang an „gesund“. Leider verfügen nicht alle Menschen über eine solche Seele. Teilweise sind die psychischen Beschwerden so problematisch, dass die in der Vita Antonii vorgesehenen Rezepte nicht mehr reichen. Athanasius konnte hoffen, gravierende Persönlichkeitsstörungen durch geglückte Teufelsaustreibungen zu heilen70. Bei ihm scheint die Grenze zwischen „gesund“ und „nicht mehr gesund“ dort zu liegen, wo der Mensch noch sein eigener Herr ist oder nicht. Der Besessene kann von alleine aus seiner Not nicht mehr heraus. Es ist aber zu fürchten, dass die Verwendung der Dämonenmythologie sämtliche Seelenbeschwerden pauschal auf einen einzigen Grund zurückführt, und die Entdeckung der wahren Ursachen, und der entsprechenden Therapie, fast unmöglich macht. 70

Vgl. Vita Antonii 62–63, S. 87–88.

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Drittens, besonders in den 70er und 80er Jahren hat der Mangel an gesellschaftskritischem Engagement der Vita Antonii dazu geführt, dass sie in kirchlichen Kreisen ausgeblendet wurde. Freilich entspricht das Kümmern um die eigene Seele nach der Vita Antonii der Lebenssituation der römischen Spätantike und kann, zugespitzt, auf ein Ideal der fuga mundi hin gedeutet werden. Gerade diese Aspekte können jedoch heute für ein erneutes Interesse an der Botschaft dieses Werkes sorgen. (Athanasius’ Einsatz in Alexandrien und gegenüber den Kaisern verkörpert das philosophische Ideal einer guten Regierung: Derjenige, der die Macht ausübt, sollte vorher die Weisheit erhalten haben.) Die Tatsache, dass ein Mensch aus einfachen Verhältnissen wie Antonius diese Weisheit erreicht hat und in der Lage ist, zumindest ansatzweise, sie ohne Furcht einzusetzen, beweist, dass jeder Christ, unabhängig von seiner sozialen Herkunft, alles hat, was er braucht, um sich als Mensch in höchstem Grad zu entwickeln und um die Entwicklung der Gesellschaft mitzugestalten. Zunächst bietet die Vita Antonii eine allumfassende Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, auf die Frage nach dem Bösen und nach dem Tod und wie man diese Widrigkeiten verstehen oder überwinden kann. Nur innerhalb dieser christlichen Weltanschauung ist Antonius in der Lage, erfolgreich gegen seine Dämonen zu kämpfen. Des Weiteren gehören Gebet und Meditation zu den wichtigsten Mitteln, mit denen Antonius seine Seelenkraft stärkt. Die obengenannten praktischen Hinweise sind weiter aktuell. Ob man nun den Glauben des Antonius teilt oder nicht, jedenfalls bietet die Vita Antonii zwei grundlegende Elemente einer überzeugenden Resilienzlehre: erstens, die Notwendigkeit einer Weltanschauung, die dem Leben einen Sinn gibt; zweitens, dass das Lebensziel für den einzelnen Menschen im Rahmen dessen sein soll, was er von selbst erreichen kann. Athanasius erinnert uns noch an ein drittes Element: die Notwendigkeit, einen „Kontakt“ zur Transzendenz zu pflegen.

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„Vita Antonii“ des Athanasius

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und das Problem unterschiedlicher spiritueller Traditionen im frühen ägyptischen Mönchtum, Tübingen: Mohr Siebeck. Camplani, A. (2006), Atanasio di Alessandria, in: Di Berardino, A. (Hg.), Nuovo Dizionario Patristico e di Antichità Cristiane, Bd. 1, Genova u. a.: Marietti, c. 614–635. Caraffa, F. et al. (1962), Antonio Abate, in: Bibliotheca Sanctorum, Bd. 2, Roma: Istituto Giovanni XXIII nella Pontificia Università Lateranense, c. 106–136. Corsato, C. (2002), Sant’Antonio abate (251–356), Padova et al.: Collegio Univerisitario don Nicola Mazza. Cremaschi, L. (1984), S. Atanasio. Vita di Antonio. Apoftegmi. Lettere, Roma: Edizioni Paoline. Dal Covolo, E. (2007), La lotta spirituale di Abba Antonio: dalla pace interiore alla „pace cosmica“, „Nicolaus“, Vol. 34, No. 1, p. 123–128. Daumas, F., Miquel, P. (Hgg.) (1963), Les œuvres de Philon d’Alexandrie 29. De vita contemplativa, Paris: Du Cerf. Heil, U. (Hg.) (2008), Athanasius von Alexandrien. Gegen die Heiden. Über die Menschwerdung des Wortes Gottes. Über die Beschlüsse der Synode von Nizäa, übers. v. U. Heil, Frankfurt am Main et al.: Verlag der Weltreligionen. Faggin, G. (Hg.) (1992), Plotino. Enneadi. Porfirio. Vita di Plotino, Milano: Rusconi. Garitte, G. (Hg.) (1955), Lettres de Saint Antoine. Version géorgienne et fragments coptes, CSCO 148, Louvain: Secretariat du Corpus. Giangiulio, M. (Hg.) (1991), Giamblico. La vita pitagorica, Milano: Rizzoli. Gottfried, A, Przybyla, H. (Hgg.) (1986), Vita Antonii, übers. v. H. Przybyla, Leipzig 1986: Benno Verlag. Guy, J.-C. (1960), Examen de Conscience II. Chez les Pères de l’Église, in: Dictionnaire de Spiritualité, Bd. 4, Paris: Beauchesne, c. 1801–1807. Lawyer, J. E. (2000), Saint Anthony of Egypt and the Spirituality of Aging, „Cistercian Studies Quarterly“, Vol. 35, No. 1, p. 55–74. Martin, A. (1997), Athanase d’Alexandrie et l’Église d’Égypte et les moines: à propos de la Vie d’Antoine, „Revue des sciences religieuses“, Vol. 71, No. 2, p. 171–188. Merino Rodríguez, M. (Hg.) (1996), Clemente de Alejandría. Stromata I. Cultura y Religión, Madrid: Editorial Ciudad Nueva. Moreau, M. et al. (Hg.) (1997), Œuvres de Saint Augustin 11/2. La doctrine chrétienne, Paris: Études Augustiniennes. Mossay, J. (Hg.) (1980), Grégoire de Nazianze. Discours 20–23, Paris: Du Cerf. Sirinelli, J. (2000), Plutarque de Chéronée. Un philosophe dans le siècle, Paris: Fayard. Solignac, A. et al. (Hgg.) (1996), Œuvres de Saint Augustin 14. Les confessions. Livres VIII–XIII, Paris: Études Augustiniennes. Studer, B. (2006), Demone, in: Di Berardino, A. (Hg.), Nuovo Dizionario Patristico e di Antichità Cristiane, Bd. 1, Genova et al.: Marietti, c. 1359–1368.

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Von der Kraft der Seele und der Spannkraft des Körpers nach den ägyptischen Wüstenmönchen

1. Einleitung Seit dem ausgehenden 3. Jahrhundert wissen wir von Christen – der Kopte Antonios gehört zu diesen Pionieren –, die ein ausschließlich auf Gott ausgerichtetes Leben führen wollten und deshalb das monastische Leben ergriffen, entweder als Anachoreten und damit sozusagen als Einsiedlermönche, oder aber als Mitglieder einer gemeinschaftlich organisierten Klosteranlage.1 Die anachoretischen Mönche sollen im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen. Unter den Anachoreten gab es Mönche, die in völliger Abgeschiedenheit und Einsamkeit lebten. Die Mehrheit selbst der Eremiten lebte jedoch in Eremitenkolonien und damit in lockeren sozialen Verbänden. Das heisst: Die Mönche lebten alleine in einer kleinen Behausung (kéllion), die in ausreichender Distanz zu ihren Nachbarbrüdern angelegt war, um sich im Alltag gegenseitig nicht zu stören.2 Mindestens (einmal) wöchentlich trafen sie sich zum Gottesdienst und zum anschließenden gemeinschaftlichen Mahl.3 Es gab aber auch noch weitere soziale Kontaktpunkte: So hatte jeder Mönch seinen spirituellen Vater, der ihn auf

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Überblicksmäßig zum ägyptischen Mönchtum: James Goehring, Ascetics, society and the desert. Studies in early Egyptian monasticism, Trinity Press International, Harrisburg 1999; Fairy von Lilienfeld, Art. Mönchtum II. Christlich, in: Theologische Realenzyklopädie Vol. 23 (1994), S. 150–193; Samuel Rubenson, Asceticism and monasticism, I: Eastern, in: Augustine Casiday, Frederick W. Norris, The Cambridge History of Christianity, Vol. 2, Cambridge Univ. Press, Cambridge 2007, p. 637–668; Philip Rousseau, Pachomius. The Making of a Community in Fourth-Century Egypt, Univ. of California Press, Berkeley 1999; Malcolm Choat, The Development and usage of terms for “monk” in late Antique Egypt, „Jahrbuch für Antike und Christentum“ Vol. 45 (2002), p. 5–23. Antoine Guillaumont, Geschichte der Mönche in den Kellien, in: Idem, An den Wurzeln des christlichen Mönchtums. Weisungen der Väter 4, Beuroner Kunstverlag, Beuron 2007, S. 11–30. Lucien Regnault, La vie quotidienne des pères du désert en Egypte au IVe siècle, Hachette, Paris 1990, p. 177–188.

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seinem monastischen Weg führte und beriet.4 Dieses therapeutische Verhältnis konnte durch Besuche des Mönchsschülers bei seinem Abbas gepflegt werden.5 Aber wir wissen auch von Verhältnissen, in denen der monastische Schüler in unmittelbarer Nähe seines spirituellen Meisters lebte und ihm im Alltag diente.6 Über das enge Verhältnis zwischen Schüler und Lehrer hinaus gab es noch zahlreiche weitere Kontaktpunkte zwischen den Mönchen, aber auch zu weltlichen Leuten, so dass wir es also auch bei den Anachoreten nicht mit Eremiten im exklusiven Sinne zu tun haben.7 Ich streiche dies heraus, da man sich sonst berechtigterweise fragen könnte, was wir denn von Christen und Christinnen lernen können, die ein völlig abgeschottetes Leben führen, ohne den geringsten Kontakt zu anderen Menschen. Dies war bei den Anachoreten nicht der Fall, sie waren nicht völlig entfernt von allem und allen. Dennoch waren sie dem Trubel der Welt immerhin so weit enthoben, dass in der Leere der Wüste das wenige, was noch von der Welt übrigblieb, wie im Vergrößerungsglas sichtbar wurde. Und dazu gehörten auch die Vorgänge in der eigenen Seele. Zur Veranschaulichung soll eine kleine Unterhaltung zwischen zwei anachoretischen Mönchen dienen. Angeblich fragte Abbas Poimen den Altvater Joseph: „Sage mir, wie ich Mönch werde. Er antwortete: Wenn du Ruhe (a¬nápausin) finden willst, hier und dort, dann sprich bei jeder Handlung: Ich – wer bin ich?, und richte niemand!“ 8

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Fairy Lilienfeld von, Anthropos Pneumatikos – Pater Pneumatophoros. Neues Testament und Apophthegmata Patrum, in: Eadem, Spiritualität des frühen Wüstenmönchtums. Gesammelte Aufsätze 1962–1971, hg. v. Ruth Albrecht, Franziska Müller, „Oikonomia“ 18, Erlangen 1983, S. 1–8. Beispielsweise Apophthegma Agathon 20 (PG 65, 113C–116A), dt.: Bonifaz Miller, Weisung der Väter. Apophthegmata Patrum, auch Gerontikon oder Alphabeticum genannt, Sophia Vol. 6, Trier: Paulinus Verlag. Nr. 102, S. 44 f. Z.B. Apophthegma Isaak 2 (PG 65, 224CD), dt.: Miller, Weisung der Väter, Nr. 373, S. 132; Apophthegma Arsenios 32 (PG 65, 97D–100C), dt.: Miller, Nr. 70, S. 33 f.; Apophthegma Agathon 6 (PG 65, 109D–112A), dt.: Miller, Nr. 88, S. 41 f. Regnault, La vie quotidienne, p. 153–163; Georgia Frank, The Memory of the Eyes. Pilgrims to Living Saints in Christian Late Antiquity, Univ. of California Press, Berkeley 2000. Beispielsweise von einem alljährlichen Besuch dreier Mönche bei Antonios berichtet Apophthegma Antonios 27 (PG 65, 84CD), dt.: Miller, Weisung der Väter, Nr. 27, S. 22. Apophthegma Joseph in Panepho 2 (PG 65, 228C), dt.: Miller, Weisung der Väter, Nr. 385, S. 135. Zur Anapausis vgl. Pierre Miquel, Lexique du désert. Etude de quelques mots-clés du vocabulaire monastique grec ancien, „Spiritualité Orientale 44“, Bégrolles-en-Mauges 1986, p. 73–86.

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Es ging den Wüstenmönchen um Selbsterkenntnis, die allerdings keinen Wert für sich darstellte, sondern relevant war im Hinblick auf das eigentliche Ziel, nämlich die Gotteserkenntnis. Insofern als der Mensch ein Geschöpf Gottes ist und nur in seiner Beziehung zu Gott zu seiner eigentlichen Bestimmung gelangen kann, ist es unbedingt nötig zu wissen, wo man selber steht, wer man selber ist. Nur dann kann die Gottesbeziehung, welche in einem langwierigen Prozess mitzugestalten ist, auch richtig gedeihen. Die Wüstenväter und -mütter bemühten sich somit tagtäglich, eigentlich jede Minute, um Selbsterkenntnis, und sie waren dementsprechend die wohl erfahrensten Psychologen, die man sich vorstellen kann. Dies ist der Grund, weshalb ich hier, um einen Beitrag der christlichen Tradition zum Dialog mit der modernen Psychologie beizusteuern, auf die Lehre der Wüstenväter und Wüstenmütter eingehe. Was sagen die Therapeuten aus der Wüste? – so lautet meine Leitfrage. Entsprechend werde ich mich vornehmlich auf der praktischspirituellen Ebene bewegen.

2. Amma Theodoras Lehre Ich möchte im Folgenden von einem Ausspruch der Amma Theodora ausgehen, den ich im weiteren Kontext der Lehre der Wüstenväter interpretieren werde. Amma Theodora gehört zu den wenigen Frauen, die in den eremitischen Mönchskreisen als spirituelle Meisterinnen verehrt wurden.9 Wann und wo genau sie lebte, insbesondere, ob sie wirklich mitten in der Wüste ein Eremitinnenleben führte, kann man nicht mit endgültiger Sicherheit beantworten. Tatsache ist, dass wir in den Apophthegmata Patrum mehrere Lehrstücke von ihr finden.10 In irgendeiner Weise muss sie also mit dem spätantiken anachoretischen Mönchtum verbunden gewesen sein. Theodoras Lehre unterscheidet sich nicht von den zahlreichen Aussprüchen männlicher Wüstenmönche. Ich habe Theodoras Text also nicht ausgewählt, weil er von einer Frau stammt. Meine Wahl ist darauf gefallen, da er für unsere Themenstellung wichtige Ausführungen in idealtypischer und dichter Weise enthält. „Wiederum sagte sie: Es ist gut, die Herzensruhe zu pflegen (h™sucázein). Ein besonnener Mann nämlich übt die Herzensruhe (h™sucían a¢gei). Gross fürwahr ist die Pflege der Herzensruhe (h™sucázein) für die Jungfrau und den 9

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Zu den asketisch lebenden Frauen: Susanna Elm, „Virgins of God“. The Making of Asceticism in Late Antiquity, Clarendon Press, Oxford 1994; ebenso und mit kritischem Bezug auf Elm: Ewa Wipszycka, Moines et communautés monastiques en Egypte (Ive – VIII e siècles), „The Journal of Papyrology Supplement“ Vol. XI, Warschau 2009, p. 596–606. Apophthegmata Theodora 1–7 (PG 65, 201A–204B), dt.: Miller, Weisung der Väter, Nr. 309– 315, S. 113–315.

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Mönch. Ganz besonders für die Jüngeren. Aber wisse: wenn der Vorsatz auf die Herzensruhe gerichtet ist (h™sucásei), dann kommt sofort der Böse und beschwert die Seele (bareî tæn yucän), in Akedia (e¬n a¬khdíaiv), in Kleinmut (e¬n o¬ligoyucíaiv) und Gedanken (e¬n logismoîv). Er beschwert auch den Leib mit Schwächlichkeit (bareî … tò søma e¬n a¬sjeneíav), Nachlassen der Spannkraft (e¬n a¬tonía), Schlaffheit der Knie und aller Glieder, und er bricht die Kraft der Seele (dúnamin tñv yucñv) und des Leibes; und [er flüstert ein]: ‚Weil ich krank bin, kann ich den Gottesdienst (Súnaxin) nicht besuchen‘. Aber wenn wir wachsam sind (näywmen), dann löst sich das alles auf. Da war ein Mönch, den erfassten, als er in den Gottesdienst gehen wollte, Frösteln und Fieberschauer, und im Kopf spürte er eine Spannung. Da sprach er zu sich: ‚Siehe ich bin krank und es kann sein, dass ich sterbe. Ich will mich aufraffen, ehe ich sterbe, und in die Versammlung gehen‘. Mit diesem Gedanken (logismøı) bezwang er sich (e¬biázeto) selbst und besuchte den Gottesdienst. Als dieser zu Ende war, hörte auch das Fieber auf. Wieder einmal hielt der Bruder diesem Gedanken stand und kam in die Versammlung und besiegte den Gedanken (tòn logismón).“ 11 Um diesen Ausspruch Theodoras in einem ersten Durchgang etwas zu paraphrasieren: Es geht hier also um solche, die die Herzensruhe (h™sucía) pflegen wollen – so wie es jeder vernünftige Mensch tun sollte.12 Damit kann die Ergreifung des monastischen Lebens gemeint sein, mindestens aber eine Lebensweise, in der man selber still wird und auf Gott hören will – ein kontemplatives Leben also. Sobald man sich aber auf diesen hesychastischen Weg begibt, kommt der Böse, also der Teufel, der einen davon und letztlich von Gott abbringen will.13 Er attackiert die Seele und den Leib. Die Seele wird schwach und der Körper krank. Es werden hier zwar Seele und Körper genannt, aber der Seele scheint Priorität und damit auch höhere Anfälligkeit zuzukommen.14 Die Seele wird aufgrund der teuflischen Attacke schwer und empfänglich für dämonische Suggestionen. Als Gegenmittel hilft die Wachsamkeit. Dies zeigte sich am Beispiel eines angefochtenen Mönchs, den die Dämonen, d. h. die verderberischen oder teuflischen Gedanken, schon so weit in ihrer Gewalt hatten, dass er sich krank fühlte und in ihren Vorschlag, dem Gottesdienst fernzubleiben, einwilligte – beinahe; denn er gab sich einen Ruck, indem er sich das eigene Sterben vor Augen hielt, also eine Todesmeditation vornahm. Dies vertrieb den teuflischen Gedanken, der ihn vom Gottesdienstbesuch abhalten wollte. Einmal dort, genas der Mönch an Körper und Seele. 11 12 13

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Apophthegma Theodora 3 (PG 65, 201BD), dt.: Miller, Weisung der Väter, Nr. 311, S. 113 f. Zur Hesychia vgl. Miquel, Lexique du désert, p. 143–180. David Brakke, Demons and the making of the monk. Spiritual combat in early Christianity, Harvard Univ. Press, Cambridge 2006. Vgl. Apophthegma Agathon 8 (PG 65, 112AB), dt.: Miller, Weisung der Väter, Nr. 90, S. 42.

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Das Bezwingen des dämonischen Gedankens, aber vor allem die Gemeinschaft mit Gott und seinen Mitbrüdern im Gottesdienst, führten zu seiner Heilung. Es scheint – aus der Wendung „wieder einmal (pálin)“ zu schließen –, dass dies nicht das erste Mal so geschehen ist. Dieser Mönch scheint anfällig dafür gewesen zu sein, der Synaxis fernzubleiben. Vielleicht war der Weg zur Kirche weit, vielleicht war er gesundheitlich angeschlagen, vielleicht dachte er insgeheim, der Besuch der Synaxis wäre nicht wirklich nötig und nützlich. Man kann sich diverses als Einfallstor für solche Gedanken vorstellen. Insofern als bei der Synaxis in besonderer Weise die Gottesgemeinschaft gepflegt wird, ist die Anfechtung, dieser Zusammenkunft fernzubleiben, allerdings mehr als oberflächliche Bequemlichkeit; vielmehr handelt es sich, was auch die psychosomatischen Symptome des Mönchs bestätigen, um einen Fall von Akedia.

3. Das Ziel des mönchischen Strebens: Hesychia Dieses Apophthegma vor Augen möchte ich nun im Folgenden einige, im Hinblick auf unsere Resilienzthematik auffällige Elemente aufgreifen. Ich beginne mit der Frage nach dem Ziel des mönchischen Strebens: Wohin strebt der Mönch bzw. der Mensch? In diesem Kontext kann man tatsächlich auch fragen: Worin besteht Gesundheit? Gesundheit aber nun nicht im Sinne einer modernen, auf den Körper beschränkten engen medizinischen Sicht verstanden, sondern im Sinne einer umfassenden Lebenslehre, wie sie in der Spätanike Medizin15, Philosophie, aber auch die christliche Lehre lieferten. Amma Theodora nennt die Hesychia als Ziel. In dieser Haltung der Ruhe kommt der Mensch innerlich und äusserlich zur Ruhe und sucht nur noch eines, den Kontaktpunkt mit Gott, welcher traditionellerweise das Herz ist.16 Mit Herz ist ausgehend vom alttestamentlich-biblischen Verständnis das Personenzentrum gemeint. Wenn dieses Zentrum mit Gott verbunden ist, dann ist der Mensch gesund. Die Sprache der Wüstenväter oszilliert zwischen philosophischer und biblischer Terminologie. Dies reflektiert auch der Spruch der Amma Theodora: Einerseits geht es um Herzensruhe, andererseits geht es um die Wirkkraft (dúnamiv) der Seele und damit um ein maßgeblich philosophisches Konzept. Die seelische Entfaltung

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Vgl. Christian Brockmann, Gesundheitsforschung bei Galen, in: Antike Medizin im Schnittpunkt von Geistes- und Naturwissenschaft. Internationale Fachtagung aus Anlass des 100-jährigen Bestehens des Akademievorhabens Corpus Medicorum Graecorum/Latinorum, hg. v. Brockmann et al., „Beiträge zur Altertumskunde“ Vol. 255, De Gruyter Berlin 2009, S. 141–154. Vgl. Thomas Sˇpidlík, La spiritualité de l’Orient chrétien. Manuel systématique, „Orientalia christiana analecta“ Vol. 206, Rom 1978, p. 105–111.

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und seelische Freiheit und damit auch die Kraft decken sich jedoch im ägyptischen Wüstenmönchtum mit der biblisch inspirierten Rede vom Herzen und der Herzensruhe, also Hesychia. Wenn man einige Bedingungen, unter denen die Hesychia gedeihen kann, aufzählen will, dann ist als erstes das Alleinesein zu nennen.17 Der Anfänger wird physisch alleine sein müssen; fortgeschrittene Mönche erreichten den angestrebten Zustand der Konzentration auf Gott auch jenseits physischen Getrenntseins von anderen Menschen.18 Alleinsein meint aber in jedem Fall Alleinsein mit Gott, im Sinne des aus der Vita Benedicti bekannten habitare secum.19 Bei den Wüstenvätern verbindet sich das Ideal und die Praxis der Hesychia oft mit dem Aufenthalt im Kellion und damit einer geschützten äußeren Umgebung, die dem Alleinesein mit Gott förderlich ist.20 Übersetzt auf unsere Frage der Resilienz ist daraus zu folgern, dass so etwas wie ein geschütztes Zuhause oder mindestens eine Rückzugsmöglichkeit dem menschlichen Gedeihen förderlich zu sein scheinen. Weiter gehört zur Hesychia zentral die Stille. Auch hier geht es zuerst um physisches Schweigen.21 Gemeint ist aber im Kern ein Schweigen, das eine Öffnung für die wahre Ansprache bewirkt, nämlich die Kommunikation mit Gott im Gebet. Es geht darum, sich vom Lärm der Welt abzuwenden und seine inneren Sinne empfänglich zu machen für Gott. Bezweckt wird damit eine Dämpfung der äußeren Sinneswahrnehmung zugunsten der Schärfung der seelischen Wahrnehmung.22 Alles, was vom Ziel der liebenden Verbindung mit Gott unnötig ablenkt, wird nach Möglichkeit ausgeblendet. Etwas moderner ausgedrückt praktizierten die Mönche in kontrollierter und radikaler Weise die selektive Wahrnehmung, um sich auf das für sie Wesentliche zu konzentrieren. Das Wesentliche für den Mönch ist seine religiöse Verwurzelung, die man entsprechend im Hinblick auf die Frage nach Bedingungen der Resilienz als Grundbedingung bezeichnen kann. Das Gelingen der Hesychia wird weiter durch Besitzlosigkeit gefördert: Wer nichts oder mindestens nichts Überflüssiges besitzt, der erspart sich viele Sorgen.

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Z. B. Apophthegmata Arsenios 1 f. (PG 65, 88BC), dt.: Miller, Weisung der Väter, Nr. 39 f., S. 25. Z.B. Apophthegma Isidor 8 (PG 65, 221B), dt.: Miller, Weisung der Väter, Nr. 364, S. 129 f. Gregor der Große, Dialogi, II, 3, 5 (Sources chrétiennes Vol. 260, p. 142). Z. B. Apophthegma Serapion 4 (PG 65, 416D– 417A), dt.: Miller, Weisung der Väter, Nr. 878, S. 287, vgl. Franz Dodel, Das Sitzen der Wüstenväter. Eine Untersuchung anhand der Apophthegmata Patrum, Paradosis 42, Universitätsverlag, Freiburg 1997, S. 68–79. Apophthegma Arsenios 1 (PG 65, 88BC), dt.: Miller, Weisung der Väter, Nr. 39, S. 25. Das innere Auge erwähnen z. B.: Apophthegma Dulas 1 (PG 65, 161BC), dt.: Miller, Weisung der Väter, Nr. 194, S. 81; Apophthegma Daniel 7 (PG 65, 157C), dt.: Miller, Weisung der Väter, Nr. 189, S. 79; zur Lehre der spirituellen Sinne vgl. Barbara Müller, Der Weg des Weinens. Die Tradition des „Penthos“ in den Apophthegmata Patrum, „Forschungen zur Kirchenund Dogmengeschichte“ Vol. 77, Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2000, S. 64–66.

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Sorglosigkeit (a¬merimnía) 23 im Hinblick auf nichtige weltliche Güter war ein hohes Ideal der Wüste, das wiederum nicht mit völliger Besitzlosigkeit einhergehen musste.24 Auch die Befreiung von Materiellem ermöglichte – wie das Vermeiden unnötiger äußerer Sinneseindrücke – eine Konzentration auf sich und Gott. Die Resilienz-Therapeutin aus der Wüste würde also raten, sich nicht an vergängliche Dinge zu hängen oder mindestens keine possessive Haltung einzunehmen und sich stattdessen auf das Eine, Wesentliche zu konzentrieren. Hesychia geht idealerweise mit absoluter Stille und reiner Konzentration einher, was aber nur in den seltensten Fällen menschenmöglich ist. Daher ist es förderlich, kontrollierte Handlungen zu vollbringen, die damit aber Nebenhandlungen zu der eigentlichen, wahren Praxis darstellen, der Pflege der Gottesbeziehung. Als solche Nebenhandlungen sind das stetige Wiederholen von Bibelpassagen zu nennen (meléth) – das, was in der lateinischen spirituellen Tradition ruminatio genannt wird. Nicht selten verbindet sich die ruminatio zugleich mit Handarbeit, vor allem dem Flechten von Seilen und damit einer rhythmisch ausgeführten manuellen Tätigkeit.25 Damit sind wir auch bereits bei der physischen Dimension des seelischen Gedeihens angelangt. Der Begriff Hesychia enthält etymologisch die Wurzel h©sjai (sitzen).26 Bereits die sprachliche Ebene weist damit auf die körperliche Dimension hin, welche sich konkret in der sitzend getätigten Meditation manifestiert. Hinweise auf eine solche körperliche Praxis finden wir bereits bei den Wüstenvätern, in elaborierter Weise dann aber bei den mittelalterlichen Hesychasten.27 Auch Amma Theodora geht auf diese körperliche Dimension ein, allerdings in negativer Weise, indem sie die psychosomatischen Leiden des angefochtenen Bruders beschreibt. Diese stehen im Kontrast zu der eigentlich angestrebten Spannkraft des Leibes (tónov). Nicht nur seelische Spannkraft muss der Mönch erwerben bzw. zu erhalten versuchen, sondern auch der Körper muss sich in einer angemessenen Spannung befinden, um den angestrebten Ruhezustand einnehmen zu können. Die Wüstenväter wussten durchaus, dass diese Spannung Schwankungen aufwies, ja sogar aufweisen musste – wie etwa aus einem Ausspruch des Antonius hervorgeht, der erklärt, dass er mit jungen Mönchen ab und zu auch scherzen müsse, um sie so zu entspannen.28

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Abbas Besarion war hierin ein großer Meister, „alle Zeit seines Lebens verbrachte er ohne Beschwerden und ohne Sorgen.“ Apophthegma Besarion 12 (PG 65, 141D), dt.: Miller, Weisung der Väter, Nr. 167, S. 67, vgl. Miquel, Lexique du désert, p. 49–66. Vor allem Bibeln besassen einige Mönche, vgl. Müller, Weg des Weinens, S. 77. Vgl. Guillaumont, Antoine, Die Handarbeit im Alten Mönchtum: Bestreitung und Wertung, in: Idem, Wurzeln, S. 142–153. Zur Etymologie der Hesychia vgl. Dodel, Sitzen der Wüstenväter, S. 4–10. A. a. O., S. 143–155. Apophthegma Antonios 13 (PG 65, 77D–80A), dt.: Miller, Weisung der Väter, Nr. 13, S. 17.

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Bei der Durchsicht der ägyptisch-monastischen Tradition wird ersichtlich, dass das Ziel der Hesychia auch durch physische Anstrengungen und Maßnahmen zu verwirklichen versucht wurde: Von Sitzmeditation mit Handarbeit, hin zu Nahrungsaskese und quasi-sportlichen Leistungen. Dies bedeutet für unsere Frage nach der Aktualisierung der Tradition der Seelenkraft, dass zur Erhaltung der Gesundheit die Pflege und Übung des Körpers mit dazugehören.

4. (Monastisches) Leben und Anfechtung Amma Theodora warnt, dass jeder Mensch, der sich für eine hesychastische, d. h. kontemplative Lebensweise entscheidet, sogleich von den gottfeindlichen Kräften angegriffen wird, von „dem Bösen“, wie sie sagt.29 Man kann dies – und hat damit die gesamte christliche Tradition hinter sich – sogar noch allgemeiner formulieren: Es gehört konstitutiv zum christlichen Leben, sich in einer Situation der Anfechtung zu befinden, unabhängig davon, ob es nun um das monastische Leben geht oder nicht. Etwas moderner könnte man Anfechtung oder Versuchung als Krisenhaftigkeit bezeichnen. Das heisst dann: Krisen lauern stetig und überall. Solange der Mensch auf dieser Welt ist, befindet er sich mitten im kosmischen Drama zwischen Gott und den bösen Mächten. In der Situation der Entscheidung, in der sich der Mensch für das Gute entscheiden sollte, um so der in ihm angelegten Gottebenbildlichkeit nachzuleben, befindet er sich in jeder Minute seines Lebens – so, wie das Abbas Joseph in dem eingangs zitierten Satz „ich – wer bin ich“ ausdrückt: Gehöre ich zu Gott oder zur Welt? 30 Es gehört konstitutiv zum Christ-Sein, Widerstandskraft gegen die ihn von Gott ablenkenden Kräfte aufzubieten. Das heißt nun nicht, dass der Christ spontan ein resilientes, also widerstandsfähiges Wesen ist. Nein, die Widerstandskraft muss sich erst entwickeln; dies ist aber damit gleichsam eine Grundaufgabe des Christen. Die Widerstandkraft oder der Wille zum Heil entwickeln sich paradoxerweise nun aber nicht, weil der Mensch gesund ist und so bleiben möchte, sondern vielmehr weil er krank ist und gesund sein möchte. In der modernen Resilienzforschung wird bisweilen als Gegenteil von Widerstandkraft Vulnerabilität aufgeführt.31 Anders verhält es sich in der christlichen Tradition: Hier wird davon ausgegangen, dass der Mensch gleichsam verwundet und bedürftig geboren wird.

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Apophthegma Theodora 3 (PG 65, 201C), dt.: Miller, Weisung der Väter, Nr. 311, S. 114. Apophthegma Joseph in Panepho 2 (PG 65, 228C), dt.: Miller, Weisung der Väter, Nr. 385, S. 135. Rosmarie Welter-Enderlin, Einleitung: Resilienz aus der Sicht von Beratung und Therapie, in: Rosmarie Welter-Enderlin, Bruno Hildenbrand (Hgg.), Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände, Carl Auer Verlag, Heidelberg 2010, S. 15.

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Allerdings hat er die Chance, im Verlaufe seines Lebens seine angeborene seelische Krankheit zu heilen. Wobei die Heilung und die seelische Gesundheit darin bestehen, dass sich der Mensch Gott zunehmend nähert und von ihm erfüllt wird. Also: Weil der Mensch grundsätzlich angeschlagen und verwundet ist, deshalb ist er dazu aufgerufen, Kräfte zu entwickeln und anzunehmen, die ihn aus diesen Fesseln befreien. Etwa Augustin spricht davon, dass der an sich seelisch kranke Mensch Einsicht in seinen elenden Zustand gewinnen muss, Demut und Tugendhaftigkeit erwerben muss, um so zur Schau Gottes voranzuschreiten, die letztlich auch die Heilung seiner Seele darstellt; dies gelingt, indem der Mensch vor Gott weint und klagt, also betet, und sich so weg von sich selber begibt, hin zu Gott, der in Christus der eigentliche Arzt und Heiler ist.32 Diese Heilung ist nun aber nicht auf einen Schlag zu erreichen. Selbst der Mönch, der ja ein glühender Gottessucher ist, wird sich, wie Theodora weiß, stetig in einer Situation der Anfechtung befinden. Und zwar, indem ihn verderberische Gedanken, sogenannte logismoi, bedrängen. Sie treten von außen an ihn heran und versuchen ihn mit ihrer Suggestionskraft von seinem monastischen Werk abzuhalten. Die von den Dämonen, letztlich vom Teufel, inspirierten Gedanken umschwirren den Mönch stetig und es ist bloß eine Frage der Zeit, bis sie mindestens bei monastischen Anfängern landen und ihre zerstörerische Kraft in deren Innern entfalten können. Was ich damit ausdrücken wollte: In der christlichen Tradition wird der Mensch grundsätzlich als verwundet angeschaut. Das Ideal der Gesundheit ist ein jenseitiges. In eschatologisch-christlicher Perspektive ist im Hier und Jetzt kein reibungslos funktionierendes Leben zu erwarten, was befreiend auf einen allfälligen Leistungs- und auch Gesundheitszwang wirken kann. Schwierige Situationen können so idealerweise relativiert und auch gelassener ausgestanden werden. Diese Haltung der Demut, so würde sie Augustin bezeichnen, kann natürlich im Konkreten auch zu einer problematischen Überspielung von Krisen und damit zu Krankheit führen.

5. Die Akedia und ihre Überwindung Amma Theodora beschreibt den Vorgang der Einwilligung in das suggestive Wirken der Dämonen als Beschwerung der Seele. Die Vorstellung des Beschwerens und der Schwere ist vor dem platonischen Hintergrund zu sehen, wonach die Seele naturgemäß gefiedert ist und entsprechend leicht wie eine Feder nach oben steigen

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Z. B. Augustinus, Enarrationes in Psalmos 83,10, in: Sancti Aurelii Augustini enarrationes in Psalmos LI-C, hg. v. Eligius Dekkers, Johannes Fraipont, CChr. SL 39, Turnholt 1956, S. 1155–1157.

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kann.33 Diese Vorstellung findet man dann auch im Christentum, etwa wenn Johannes Cassian berichtet, dass die Seele emporschwebt, wenn sich der Mensch in einem glühenden Gebet befindet und damit völlig unbelastet ist von seiner eigenen Person.34 Ein anderes Bild ist der Lehmklumpen, der feucht und nass ist und durch Läuterung im Feuer trocken und leichter wird.35 Amma Theodora zählt nun zwei Gedanken auf, welche die Seele beschweren, nämlich die Akedia und der Kleinmut. Bei der Akedia handelt es sich um die Mönchskrankheit par excellence.36 Amma Theodora nannte also keine beliebige Krise, sondern die beschwerlichste von allen. Ich möchte im Folgenden bei der Akedia verweilen, Ihnen allerdings weniger die Gründe und Symptome der Akedia schildern. Vielmehr möchte ich mich auf die Strategien und Maßnahmen, um die Akedia zu vermeiden bzw. zu kurieren, konzentrieren, um so in Erfahrung zu bringen, wie Seelenkraft und Leibesstärke zu gewinnen und zu erhalten sind. Dabei handelt es sich primär und positiv um Anweisungen für ein gelingendes Leben und nicht lediglich um Maßnahmen der Krisenbewältigung. Als erstes: Was ist Akedia? Eine Übersetzung dieses Begriffs ist schwierig. Etymologisch setzt sich der Begriff aus einer Negation von kñdov zusammen, was dann soviel heißt wie „nicht sorgen“. Es ist also eine nicht vorhandene oder falsche Sorge. Man kann Akedia wiedergeben als Überdruss, Unlust, Trägheit, Sorglosigkeit oder Gleichgültigkeit.37 Im Mittelalter wurde aus der frühmonastischen Akedia die Todsünde der Faulheit.38 Aber Faulheit ist nur ein Symptom der tiefer liegenden seelischen Krankheit. Ein von der Akedia ergriffener Mönch oder Mensch hat sein ureigenstes Ziel, d. h. die Bestimmung und Realisierung sei-

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Platon, Phaidros 246a; 248b. „Die Beschaffenheit der Seele wird nämlich nicht unpassend mit feinstem Flaum oder der leichtesten Feder verglichen, welche […] vermöge der Beweglichkeit ihres Wesens beim leichtesten Hauch gleichsam naturgemäß in die Höhen zum Himmlischen emporgehoben werden.“ Johannes Cassian, Conlationes 9,4, in: Cassianus, Conlationes, hg. v. Michael Petschenig, Gottfried Kreuz, CSEL 13, Wien 2004, S. 253 f. Apophthegma Orsisios 1 (PG 65, 316AB), dt.: Miller, Weisung der Väter, Nr. 573, S. 205. Zur Akedia der Wüstenväter vgl. Gabriel Bunge, Akedia. Die geistliche Lehre des Evagrios Pontikos vom Überdruss, Verlag „Der Christliche Osten“, Würzburg 2009; Andrew Crislip, The Sin of Sloth or the Illness of the Demons? The Demon of Acedia in Early Christian Monasticism, „Harvard Theological Review“ 98, 2005, p. 143–169; Lucrèce Luciani-Zidane, L’Acédie. Le vice de forme du christianisme, Éditions du Cerf, Paris 2009, p. 23–72. Berühmt ist Cassians lateinische Übersetzung als taedium sive anxietas cordis: Johannes Cassian, Institutiones 10,1, in: Cassianus, De institutis coenobiorum, de incarnatione contra Nestorium, w. A. 34, S. 173. Vgl. Barbara Müller, Die sieben Todsünden. Von der frühmonastischen Psychologie zur hochmittelalterlichen Volkstheologie, in: Lust und Laster. Die 7 Todsünden von Dürer bis Nauman. Ausstellungskatalog, hg. v. Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul Klee Bern, Ostfildern 2010, S. 25.

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nes Daseins, verloren. Sein Fokus ist nicht mehr auf Hesychia gerichtet. Sein Leben ödet ihn an, was sich darin ausdrückt, dass er niedergedrückt und – heute würde man sagen – depressiv ist.39 Evagrios Pontikos, einer der Meisterpsychologen der ägyptischen Wüste, ein Schüler Gregors von Nazianz, bezeichnete die Akedia auch als den Mittagsdämon, der die Seele mit seiner Glut niederdrückt, aber auch Frustration und Wut bewirkt.40 Die Akedia ist eine dämonische Versuchung, die, wenn man sich ihr hingibt, die Seele nicht nur beschwert, sondern sie auch austrocknet und spröde macht und damit das Gegenteil von der in der Resilienzforschung oft gepriesenen Biegsamkeit bewirkt. Körperlich bewirkt die Akedia Fieber und letztlich Wahnsinn. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird ein von der Akedia Ergriffener, wenn er keine Gegenmaßnahmen ergreift, sein monastisches Leben aufgeben. Neutraler gesagt: Er scheitert an seinem Dasein. – Wie ist das zu vermeiden? Evagrios nennt drei, spezifisch dem Kampf gegen die Akedia förderliche Maßnahmen, die ich Ihnen ausgehend von drei kurzen Kapiteln des Evagrios über Gegenmittel gegen die Akedia präsentieren möchte. Wie gesagt sind solche Ausführungen immer auch als diagnostisch-präventive Texte zu verstehen. Solchermaßen geben sie uns Auskunft darüber, welche Haltungen, Handlungen und Verhaltensweisen der Resilienz förderlich sind. „Wenn wir an den Dämon des Überdrusses (a¬kedíav daímoni) geraten, dann teilen wir die Seele unter Tränen in zwei Hälften, von denen die eine tröstet und die andere getröstet wird, indem wir uns selbst gute Hoffnung säen und uns die zauberischen Worte Davids vorsingen: „Warum bist du bekümmert, meine Seele, warum verwirrst du mich? Hoffe auf Gott, denn ich werde ihn bekennen, das Heil meines Antlitzes und meinen Gott (Ps 41,6).“ 41 Hier wird dem angefochtenen Mönch zu einem milden und liebevollen Umgang mit sich selber geraten. Die mit der Akedia verbundene geistliche Gefühllosigkeit und Verrohung der Seele soll überwunden werden, indem der Mensch sich emotional selber zuwendet. Es geht also darum, mit seinen eigenen Emotionen in Kon-

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Barbara Müller, Akedia, in: Todsünden (1): … dass uns die Lust vergehe, Jahrbuch 2010, Linz 2010, S. 135 f. Evagrios Pontikos, Praktikos, Kap. 12, in: Evagre le Pontique, Traité pratique ou le Moine, hg. v. Antoine Guillaumont, Claire Guillaumont, Sources chrétiennes Vol. 171, Paris 1971, p. 520–526. Zur Biographie des Evagrios siehe: Gabriel Bunge, Einleitung: A. Leben und Persönlichkeit des Evagrios, in: Evagrios Pontikos: Briefe aus der Wüste, hg. v. Gabriel Bunge, Sophia Bd. 24, Trier 1986, S. 17–111. Evagrios, Praktikos, Kap. 27, in: Evagre le Pontique, hg. v. A. Guillaumont, C. Guillaumont, p. 562; dt.: Evagrios Pontikos, Praktikos, hg. v. G. Bunge, S. 140.

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takt zu kommen und sich selber liebende Zuwendung zukommen zu lassen.42 Bei der von Evagrios empfohlenen Trostzusprache handelt es sich um eine Form inneren Dialoges, wie er auch in der modernen Psychotherapie eingesetzt wird, mit dem Ziel, Selbstwahrnehmung, aber auch Selbstkontrolle und Selbststeuerung zu fördern.43 Nach Evagrios soll dieses innerseelische Zwiegespräch zusätzlich unter Tränen geschehen. Es sind damit Tränen gemeint, die vor Gott geweint werden, Tränen, die den menschlichen Hilferuf an Gott begleiten und idealerweise allmählich zu Tränen der Dankbarkeit für den göttlichen Trost und insofern zu Tränen der Freude werden.44 Solche Tränen weichen verhärtete Seelen auf bzw. verhindern ihre Verhärtung. Denn eigentlich sollte der Mönch stetig weinen. Abbas Poimen sagte – „[…] das Weinen ist der Weg, den uns die Schrift überliefert hat und auch unsere Väter, indem sie sagten ‚weinet!’. Einen anderen Weg als diesen gibt es nicht.“45 In der modernen Psychologie wird das Weinen auch als Geschehen des Durchbruchs gedeutet.46 Jemand der weint, hat oder gewinnt den Zugang zu dem, was ihn unbedingt angeht.47 Der Mönch soll weinend Psalmen singen. Dies ist eine Aufforderung zum Gebet – einem ganzheitlichen allerdings. Denn es werden, abgesehen vom Intellekt, der in der Sicht des Evagrios idealerweise alles steuert, mit der Thematisierung des Kummers nicht nur die Emotionen mit einbezogen, sondern auch der Körper – durch das Singen und die Tränen. Alles soll überdies in einer Haltung der Hoffnung, also voller Optimismus, erfolgen. Weiter rät Evagrios: „Man darf zur Zeit der Versuchungen seine Zelle nicht verlassen, so vernünftig die Vorwände auch angeblich sind, die man sich zurechtlegt, sondern man muss drinnen sitzen bleiben und ausharren und mutig alle Angreifer empfangen, vor allem aber den Dämon des Überdrusses, der drückender ist als alle anderen und die Seele im höchsten Grade erprobt macht. Denn

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Einen allerdings unharmonischen inneren Dialog zwischendem logistikón und dem qumóv, also ein inneres Schelten des vernünftigen Seelenteils, schildert Plato – Politeia 440ab. Vgl. Beat Kaufmann, Über den inneren Dialog. Zur existentiellen Bedeutung der Selbst-Kommunikation, Europäische Hochschulschriften Reihe VI: Psychology, Vol. 430, Peter Lang Verlag, Bern 1993. Irénée Hausherr, Penthos. La doctrine de la componction dans l’Orient Chrétien, „Orientalia christiana analecta“ 132, Rom 1944; Barbara Müller, Weg des Weinens. Apophthegma Poimen 119 (PG 65, 353A), dt.: Miller, Weisung der Väter, Nr. 693, S. 235. Viktor Meyer, Tränen fliessen, Tränen versiegen: Freudentränen, Trauertränen. Vortrag gehalten am 21.4.2008 im Rahmen der Lindauer Psychotherapiewochen 2008, in: http://www.lptw. de/archiv/vortrag/2008/meyer_viktor.pdf, S. 8f., 10.1.2011. Vgl. Paul Tillich, Die verlorene Dimension, in: Idem, Gesammelte Werke, Bd. 5: Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften für Religionsphilosophie, hg. v. Renate Albrecht, Evangelisches Verlagswerk, Stuttgart 1964.

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solche Kämpfe fliehen und umgehen lehrt den Intellekt, ungeschickt, feige und ein Ausreißer zu sein.“ 48 Ein geregelter Alltag ist eine wirksame Prävention und ein Hilfsmittel gegen die Akedia – der Mönch soll in seiner vertrauten Umgebung bleiben und weitermachen. Der Gedanke des regelmäßigen Lebensrhythmus nach dem Vorbild der Wüstenväter wurde in der modernen Depressionsforschung bereits notiert. Ich nenne den Psychiater und Depressionsforscher Daniel Hell.49 Evagrios geht es mit seinem Aufruf zum Ausharren nicht um eine zu erbringende Leistung, sondern darum, als Individuum Bodenhaftung zu bewahren. Es geht maßgeblich darum, sich auf seine ureigene Tätigkeit im alltäglichen Kontext zu konzentrieren und sich nicht zu zerstreuen, um so eine Flucht zu vermeiden. Evagrios erwähnt hier als Gefahr das Ausreißen des Intellekts. Aber nicht weniger meint er das physische Ausreißen, also dass der Mönch seine Berufung für das monastische Leben aufgibt. Allgemeiner gesagt, dass er sich von seinem auf Gott konzentrierten Leben abbringen lässt. Noch allgemeiner geht es darum, dass jemand die Beziehung zu sich selber verliert. Das soll aber nicht geschehen, weshalb eine auch äußerliche, räumlich verwirklichte Konzentration aufgesucht wird. Beim Mönch besteht diese darin, sich in seine zweite Haut, die Zelle, zu begeben und darin zu verharren.50 Dieses Verharren ist kein passives Warten auf bessere Zeiten, sondern einerseits eine aktive Auseinandersetzung mit den hinderlichen Einflüssen. Anderseits kann die Aufforderung, im Kellion zu verharren, auch als Schutzmaßnahme gesehen werden. Vor dem Hintergrund nämlich, dass der Mönch seine Gebete mehrheitlich in seiner Zelle vollbringt, ist damit eine Stabilisierung und Vergewisserung der Gottesbeziehung zu sehen und damit eben auch eine Zuflucht im physischen und übertragenen Sinne. Der Mensch braucht offenbar eine Rückzugsmöglichkeit, um sich zu zentrieren. In der Rezeption der evagrianischen Theorie im Westen, wurde aus der Aufforderung zum Ausharren in der Zelle zunehmend ein Lob der Arbeit zur Überwindung der Akedia.51 Der Gedanke, dass eine regelmäßige Beschäftigung auch

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Evagrios, Praktikos, Kap. 28, in: Evagre le Pontique, hg. v. A. und C. Guillaumont, S. 564, dt.: Evagrios Pontikos, Praktikos, hg. v. G. Bunge, S. 140. Vgl. Apophthegma Arsenios 11 (PG 65, 89C), dt.: Miller, Weisung der Väter, Nr. 49, S. 26 f. Daniel Hell, Die Sprache der Seele verstehen. Die Wüstenväter als Therapeuten, Herder Verlag, Freiburg i. Br. 2002, S. 111–141. Vgl. Apophthegma Antonius 10 (PG 65, 77BC), dt.: Miller, Weisung der Väter, Nr. 10, S. 16. Johannes Cassian, z. B. Inst. 10,2: „Ferner macht dieser Geist der Lauheit den Mönch zu jeder Arbeit innerhalb der Umzäunung seines Schlafgemaches träge und ungeschickt.“, in: Cassianus, Institutiones, hg. v. Petschening und Kreuz (CSEL 17), S. 174; vgl. 10,6; 10,8 f.; 10 f.; vgl. Inst. 10,14: „Die Ursache so grosser Geschwüre, welche aus der Wurzel des Müssiggangs (otiositatis) emporschiessen, heilte er [Paulus], wie ein kundiger Arzt, ganz allein durch

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der Seele förderlich sein könnte, ist von Evagrios sicherlich mitintendiert und in der spirituellen Theorie auffällig. Allerdings ist es ein Irrtum, davon abzuteilen, die Arbeit wäre es, welche Gesundheit verschafft.52 Ich denke, dass Amma Theodoras Apophthegma denselben Willen zum auch physischen Ausharren anspricht, wenn sie schreibt, dass der von der Akedia erfasste Bruder sich selber bezwang und aufraffte. Diese Haltung und Praxis wird bisweilen auch mit dem asketischen terminus technicus pónov (Mühe) bezeichnet.53 Gemeint ist damit, dass der Mönch alles ihm nur menschenmögliche unternimmt, um seinem Ziel näherzukommen; gerade auch schier unmenschliche körperliche Anstrengungen.54 Dennoch wird mit diesem Ideal des Mühens nicht ein Superheldentum propagiert. Es geht weniger darum, objektiv viel zu leisten, als vielmehr eine Haltung des kompromisslosen Einsatzes einzuüben. Paradoxerweise erfährt man aber dann gerade in dieser Haltung die Grenzen des menschlichen Mühens und wird damit in radikaler Weise auf das unbedingte Angewiesensein auf Gottes Gnade und Hilfe verwiesen. Als drittes Mittel gegen die Akedia führt Evagrios an: „Unser heiliger und überaus erfahrener Lehrer Makarios der Ägypter hat gesagt: „Der Mönch soll allzeit so bereit sein, als ob er morgen sterben müsse, und sich andererseits seines Leibes so bedienen, als ob er noch viele Jahre mit ihm zusammen leben müsste.“ „Ersteres“, sagte er, „schneidet die Gedanken des Überdrusses (a¬kedíav logismoúv) ab und macht den Mönch eifriger, letzteres hingegen hält den Leib gesund und bewahrt die Enthaltsamkeit stets gleich bleibend.“ 55 In diesem Kapitel hält Evagrios zur meditatio mortis an – so, wie es der von Amma Theodora beschriebene Mönch erfolgreich praktizierte. Dahinter steht die Idee,

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das heilsame Gebot der Arbeit. Denn er weiss, dass die übrigen auf demselben Rasen emporsprossenden Krankheiten alsbald verschwinden müssen, wenn der Ursprung der Hauptkrankheit beseitigt ist.“, in: Cassianus, Institutiones, hg. v. Petschenig und Kreuz (CSEL 17) S. 185, vgl. 2. Kor 10,12. „Nicht durch „Arbeiten“ vernichtet man die Verzweiflung (höchstens das Bewusstsein von ihr), sondern allein durch die klarsichtige Hochgemutheit, die sich das Große des selbsteigenen Daseins zutraut und zumutet, und durch den begnadeten Aufschwung der Hoffnung auf das Ewige Leben.“ Joseph Pieper, Über die Hoffnung, in: Idem, Schriften zur Philosophischen Anthropologie und Ethik: Das Menschenbild der Tugendlehre (Josef Pieper, Werke in acht Bänden, Bd. 4), hg. v. Berthold Wald, Felix Meiner Verlag, Hamburg, S. 282. Miquel, Lexique du désert p. 233–240, vgl. Johannes Kolobos 37 (PG 65, 216CD), dt.: Miller, Weisung der Väter, Nr. 352, S. 125. Vgl. Miquel, Lexique du désert, S. 233–240. Evagrios Pontikos, Praktikos Kap. 29, in: A. Guillaumont C. Guillaumont, Evagre, S. 566–568; dt.: Bunge, S. 142.

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dass sich der Mönch um das ultimativ Wichtige kümmern soll, nämlich die Vorstellung, dass er nach dem Tod für sein Leben Rechenschaft ablegen muss und dabei nichts weniger als sein ewiges Heil auf dem Spiel steht.56 Angesichts des Todes konzentriert man sich auf das Wesentliche; angesichts des Todes ist es vielleicht überhaupt möglich, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterschieden. Weiter werden auch in diesem Stück Wüstenpsychologie Körper und Seele genannt. Übereinstimmend damit erfasst die durch die Akedia entfachte Krise den Körper und die Seele – typischerweise wird bei dem von Amma Theodora beschriebenen Bruder Fieber diagnostiziert.57 Wenn nun der Körper offensichtlich in Mitleidenschaft gezogen wird und sich existentielle Krisen psychosomatisch äußern, dann bedeutet dies aber umgekehrt, dass sie durch den Einsatz sowohl seelischer als auch körperlicher Gegenmaßnahmen zu meistern, aber auch einzudämmen sind. Die Seele muss sensibilisiert werden für das Wesentliche, der Körper muss sorgsam und gut behandelt werden. Letzteres mag aus dem Mund eines überaus ernsthaften Asketen, wie es Makarios, aber auch Evagrios war, vielleicht erstaunen. Wenn man allerdings das Konzept Askese in seiner urtümlichen Idee versteht, nämlich als Übung, dann macht diese Aufforderung des Makarios Sinn: Nur ein gut behandelter und trainierter Körper vermag Kämpfe zu bestehen. Und diese ergeben sich zwangsmäßig. In Theodoras Spruch wird als Pauschalmittel für den Kampf gegen die Akedia die Wachsamkeit genannt – „seien wir wachsam (näywmen)“, rät sie. Hinter dem Begriff „Nepsis“ steht etymologisch „Nüchtern Sein“.58 Wachsam Sein ist das Gegenteil von Betrunkenheit und Schläfrigkeit. Eine Haltung der Nepsis oder Wachsamkeit bedeutet im spirituellen Kontext, dass sich der Mönch insbesondere darauf konzentriert, welche schlechten Gedanken sich seiner bemächtigen wollen, um in ihm Leidenschaften zu entfachen. Insofern als die Wachsamkeit das Eindringen böser Gedanken und die durch sie verursachten Flächenbrände im Menschen potentiell verhindert, ist sie Krisenprophylaxe und Problembewältigung in einem. Abbas Poimen, ebenfalls einer der großen Altmeister der Wüste, sagte entsprechend: „Wir brauchen nichts als einen wachsamen Sinn.“59

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Vgl. Apophthegma Euagrios 1 (PG 65, 173AC), dt.: Miller, Weisung der Väter, Nr. 227, S. 90 f. Ähnlich verlief Evagrios eigene Krise: „Aber Gott […] schlug ihn [Evagrios] mit einem Fieberanfall und einer langen Krankheit; sechs Monate lang ließ er seinen armseligen Leib, durch den er (auf seinem Weg) gehindert wurde, zu gänzlicher Abzehrung kommen.“ Palladius, Historia Lausiaca, Kap. 38, in: The Lausiac History of Palladius, Vol. 2, hg. v. Cuthbert Butler, Olms, Hildesheim 1967, S. 119; dt.: Palladius, Historia Lausiaca. Die frühen Heiligen der Wüste, hg. v. Jacques Laager, Manesse, Zürich 1987, S. 204. Miquel, Lexique du désert, p. 193 f. Apophthegma Poimen 135 (PG 65, 356B), dt.: Miller, Weisung der Väter, Nr. 709, S. 238.

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Wie kann man Wachsamkeit erlernen? Das Erlernen von Wachsamkeit ist ein kontinuierlicher Übungsprozess: Jeden Tag 60, ja sogar jede Stunde61 muss der Mönch damit anfangen, sich auf sich selber und auf Gott zu konzentrieren. Wenn er sich aufmerksam um seinen eigenen Zustand sorgt, dann kann er wahrnehmen, ob und welche seelischen Bewegungen in ihm aktiv sind, insbesondere ob sie ihn zerstreuen und ihn von seinem auf Gott ausgerichteten Leben des Gebets ablenken. Um eine erfolgreiche Selbstanalyse vornehmen zu können, bedarf es allerdings einiger Übung. Denn manchmal kommen die schädlichen Regungen ja auch in einem oberflächlich schönen, häufig auch vernünftigen Gewand daher. Mindestens für den unerfahrenen Mönch kann es dann schwierig sein, die dahinterstehende dämonische Kraft zu entlarven. Unerlässlich, um spirituell voranzuschreiten, war den Wüstenvätern daher die Beziehung zu ihrem spirituellen Vater bzw. der spirituellen Mutter.62 Insbesondere in der Situation der Anfechtung waren es oft diese spirituellen Meister, welche die Anfechtung überhaupt als solche diagnostizieren und in der Folge auch eine Therapie vorschlagen konnten. Um das vollbringen zu können, bedurfte es ihrerseits der sogenannten diákrisiv (Diakrisis) – gemeint ist damit die Unterscheidungsgabe der Geister.63 Insbesondere ging es darum, schädliche logismoi zu erkennen und ein dem Schüler angemessenes Gegenmittel bereitzustellen. Die Wirksamkeit einer solchen Therapie bedingte allerdings die radikale Offenheit (parresía) seitens der Mönchsschüler, die angehalten waren, ihren Vätern jeden Schritt, den sie im Kellion gingen und jeden Gedanken offenzulegen.64 Mit der Hilfe des Abbas oder der Amma war es aber möglich, sowohl Anfechtungen und Krisen zu meistern als auch überhaupt vorwärtszuschreiten auf dem spirituellen Weg, hin zur Hesychia. Diese Beziehung zum spirituellen Vater war daher eine herausragend wichtige soziale Konstante. Daneben war aber, wie von Amma Theodora geschildert, auch eine weitere, umfangreichere Gemeinschaft von Gleichgesinnten, die den Mönch gerade in der Zeit der Anfechtung unterstützte, bedeutsam. Selbst der eremitisch lebende Mönch scheint also auf ein tragendes soziales Umfeld angewiesen gewesen zu sein.

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Apophthegma Poimen 85 (PG 65, 341D), dt.: Miller, Weisung der Väter, Nr. 659, S. 227. Apophthegma Silvanos 11 (PG 65, 412C), dt.: Miller, Weisung der Väter, Nr. 866, S. 283. Irénée Hausherr, Direction spirituelle en Orient autrefois, „Orientalia christiana analecta“ Vol. 144, Rom 1955. Vgl. Müller, Weg des Weinens, S. 229 f. Zur Parrhesia vgl. Miquel, Lexique, S. 201–216.

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6. Bilanz Aus der Analyse der spirituellen Tradition des Mönchtums geht hervor, dass der Mensch im Wesentlichen ein Angefochtener ist und daher die Anpassung an diese konstante Situation der Krise eine menschliche Grundaufgabe darstellt. Oder um es mit einem in der Resilienzforschung häufigen Bild auszudrücken: Der Mensch ist ein Wesen, das aufgerufen ist, im Verlaufe seines Lebens Biegsamkeit zu erlernen. Insbesondere aus der Beschäftigung mit der Akedia resultieren wichtige Strategien der Krisenprophylaxe und Krisenbewältigung. Dazu gehört zuvorderst eine tief verwurzelte Gottesbeziehung, die den Menschen zentriert und schützt. Aus dieser Gottesbeziehung vermag er Hoffnung und Optimismus zu schöpfen. Genährt wird die Gottesbeziehung durch ein intensives Gebetsleben, das die emotionale Empfindsamkeit stärkt, aber auch den Körper miteinbezieht. Weinen zu können und so sein Elend ausschütten zu können, scheint ein wichtiger salutogenetischer Faktor zu sein. Insgesamt ist festzustellen, dass die Lehre und Praxis der Wüstenväter konsequent psychosomatisch orientiert sind: Seelische und körperliche Kraft sind nicht voneinander zu trennen. Auffällig ist der Nutzen einer stabilen Umgebung – räumlich, aber auch die rhythmische Gestaltung des Alltags betreffend. Ein solches, stabiles Umfeld ermöglicht, sich auf die relevanten Ziele zu konzentrieren und Unwichtiges und Schädliches auszublenden. Nicht zu unterschätzen in ihrem Nutzen scheint hierzu eine sinnvolle Tätigkeit, die allerdings nicht zum Selbstzweck werden darf. Weiter war eine soziale Umgebung von Gleichgesinnten dem eigenen monastischen Leben förderlich. Eine unverzichtbare Hilfe, um das monastische Dasein adäquat zu gestalten, waren insbesondere der spirituelle Vater bzw. die spirituelle Mutter, somit die spirituellen Ersatzeltern, die die Gestaltung der wesentlichen Beziehung, diejenige zu Gott, mitformten. Die Beziehung zum persönlichen Therapeuten war die wichtigste von allerdings mehreren; selbst der Eremit scheint auf eine tragende Gemeinschaft Gleichgesinnter angewiesen gewesen zu sein. Der theologische Rahmen all dessen bildet die Gottebenbildlichkeit des Menschen. Der Mensch ist nur dann gesund, wenn seine seelischen und physischen Kräfte auf Gott und die Verwirklichung seiner Gottesbeziehung ausgerichtet sind.

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Reiche meinen Worten die Hand – Der Umgang mit der traurigen Verdrossenheit Die Sichtweisen des Johannes Chrysostomus in seinen Briefen an Olympias 1. Der Tod und die Traurigkeit Wer die These in die Diskussion einbringt, dass der Tod das größte Übel im Kontext des menschlichen Schicksals sei, eröffnet damit das Feld polarisierender Standpunkte, die vehement vertreten werden. Die einen bestätigen ihre Angst vor dem Tod und geben zu, intensive und lähmende Angst davor zu haben; andere verneinen eine solche Angst für sich selbst und beziehen ihre Angst auf das „Wie“ des Sterbens und kennzeichnen damit ihre Sorge im Hinblick auf einen möglichen langen Leidensweg bis zum Tod. Manche sind davon überzeugt, weder das eine noch das andere zu fürchten. Um die Geister neu zu orientieren, kann man die Weisheit geistiger Autoritäten zur Erhellung in die Auseinandersetzung einbringen. Sokrates gibt zu bedenken: „[…] niemand weiß, was der Tod ist, nicht einmal, ob er nicht für den Menschen das größte ist unter allen Gütern. Sie fürchten ihn aber, als wüssten sie gewiss, dass er das größte Übel ist.“ 1 Und es ist in der Tat so, dass gerade das Unbekannte im Hinblick auf den eigenen Tod – niemand weiß, was danach sein wird – große Befürchtungen auslösen kann. Vielleicht ist jedoch der Tod auch ein Gut, und unsere Vorstellungen halten uns davon ab, dies zu erkennen. Der Kirchenlehrer Augustinus weist darauf hin: „Es kann geschehen, dass einer den Tod weniger fürchtet, als er ihn fürchten sollte.“ 2 Die Frage, „Warum sollen wir den Tod fürchten?“, kann die Erörterung erneut kontrovers entfachen. Bei genauer Betrachtung kann man erkennen, dass derartige Argumente im Hinblick auf die größte Sorge des Menschen zwar die Überzeugungen verfeinern, jedoch dadurch kaum etwas an den Überzeugungspunkten der eigenen Einstellung

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Platon, Des Sokrates Verteidigung (Apologia Sôkratous) 29b, in: Platons ausgewählte Werke. Deutsch von Friedrich Schleiermacher. In fünf Bänden, hg. v. H. Conrad, Georg Müller Verlag, München 1918. Thomas von Aquin, Auswahl, Übersetzung und Einleitung von Josef Pieper, Kösel Verlag, München 1957, S. 82.

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verändert wird. Und außerdem hat der Sorglose angesichts seines Todes noch nicht seine größte Angst im Blick. Damit der Mensch mit seiner größten Seelenangst, die jeder für sich benennen sollte, dennoch umgehen kann, sie womöglich hilfreich befrieden und neue Hoffnungen schöpfen kann, soll bedacht werden, ob es ein Lebensphänomen gibt, das mit dem Themenfeld „Tod“ derartig „verwandt“, im gefühlsmäßigen Erleben ähnlich ist oder sogar noch schwerer wiegt als der Tod selbst, so dass nicht nur die drei genannten Überzeugungen darin eine echte Gemeinsamkeit finden können, sondern dass ebenso ein sinnvolles und heilsames Handeln möglich wird. Der Kirchenvater Johannes Chrysostomus sieht in der Traurigkeit, die sowohl mit ihrer zerstörerischen Dynamik als auch mit einer lähmenden tiefen Verdrossenheit auf die Seele gefahrvoll wirken kann, ein schlimmeres Übel als den Tod. Bei den Darlegungen seiner Auffassung beschreibt er auf erhellende und umfassende Weise, welche gewalttätigen Gefühle und Wirkungen mit der Traurigkeit verbunden sein können. Auf der Grundlage dieser Sichtweise entwickelt er Handlungsstrategien, um der tödlichen Verdrossenheit wirkungsvoll begegnen zu können. Im Letzten geht es ihm nicht um eine Definition von Traurigkeit im Sinn eines festgelegten Krankheitsbildes, sondern um die Phänomene des gewaltsamen Trübsinns, die es in der eigenen Seele zu entdecken gilt, um daran anknüpfend Heilmittel zu finden.

2. Johannes Chrysostomus und Olympias Aufgrund seiner Redekunst erhält Johannes von seiner Nachwelt den Beinamen „Goldmund“ (Chrysostomus). Er wurde um 344/354 in Antiochia geboren und erhielt eine christliche Erziehung sowie eine Ausbildung zum Rhetor. Nach sechs Jahren Einsiedlerdasein kehrte er nach Antiochia aus gesundheitlichen Gründen zurück und wurde 386 zum Priester geweiht. Als er im Jahre 398 Patriarch von Konstantinopel wurde, setzte er sich für die arme Bevölkerungsschicht ein, kritisierte den Lebenswandel der Wohlhabenden und forderte diese zudem zu sozialem Engagement auf. Aufgrund seiner unnachgiebigen sittlichen Haltung und seiner religiösen Klarheit im Hinblick auf das Evangelium brachten ihn Intrigen bis zu seinem Lebensende (407) in die Verbannung. Er hinterlässt ein umfangreiches geistiges Werk an Büchern, Homilien und Briefen. Seine Briefe an die Diakonin Olympias von Konstantinopel (auch Olympia oder Olympiada genannt), die er aus seiner Verbannung heraus schreibt, enthalten seine wesentlichen Ansichten über die Traurigkeit und den heilenden Umgang mit ihr. In Konstantinopel ist vor allem Olympias (ca. 368 bis 408) seine religiöse Weggefährtin. Sie stammt aus wohlhabendem Hause und setzt ihr Vermögen ganz im Sinne von Johannes für soziale Projekte ein. Mit gleichgesinnten Frauen gründet sie eine Gemeinschaft, die eine asketische Lebensweise verwirklicht und sich nach christlichen Inhalten ausrichtet.

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Aus den Schreiben an Olympias lässt sich ihre kritische Seelenlage erspüren, die grenzwertig ist. Sie leidet unter dem Schicksal des Johannes und seiner Abwesenheit. Da bei einer Feuersbrunst die Kathedrale und sein Wohnsitz sowie der Palast des Senats einem Feuer zum Opfer fallen, wird Olympias in den Kreis der Verdächtigen gezogen. Hinzu kommen seelische Belastungen aufgrund von religiös-politischen Streitigkeiten, wobei versucht wird, sie auch hier mit hineinzuziehen. Sie verliert ihr seelisches Gleichgewicht und erkrankt. Johannes erkennt die tödliche Gefahr dieser Seelenlage bei Olympias und bringt sich voller Engagement gedanklich ein, um ihre harte Betrübnis zu mildern und ihr seelisch aufzuhelfen.3 Johannes Chrysostomus entwickelt somit seine hilfreichen Beobachtungen und Ideen im Gespräch mit einem konkreten Gegenüber.

3. Die Traurigkeit ist ein schlimmeres Übel als der Tod 3.1. Das Phänomen des Aufgebens und Liegenbleibens Die Wirklichkeit eines persönlichen Aufgebens und dem damit verbundenen Wunsch, einfach liegen bleiben zu wollen, ist mit einer intensiven Energielosigkeit verbunden. Ein solches Phänomen kann in jedem Menschen urplötzlich emporkommen. Dieses erfolgt nicht nur als direkte Reaktion aufgrund eines Schicksalsschlages, sondern eine solche Mattigkeit kann ebenso bei denjenigen auftauchen, die glauben, alles zu haben. Der gewohnte Lebensfluss erhält einen außerordentlichen Stillstand. Dabei geht es nicht um eine momentane Erschöpfung, weil man sich überfordert fühlt, zu wenig Schlaf oder in letzter Zeit kaum auf sich selbst geachtet hat. Diese Kraftlosigkeit ist von einer anderen Natur. Sie zeigt eine Weise der Entkräftung an, die in uns das Gefühl entstehen lässt, nicht mehr aufstehen zu wollen, damit das Leben zu Ende gehe, bevor es letztlich zu Ende ist. Der „matte“ Wunsch nach dem Lebensende ist jedoch Ausdruck einer zunächst verborgenen enormen energiereichen inneren Spannung. Kluge Ratschläge greifen kaum, denn ein solcher Zustand ist vor allem kein Problem des Wissens, sondern eine Befindlichkeit energieloser Lähmung, bei der keine Kraft mehr zur Verfügung steht, wirkungsvoll mit dem Leben weitermachen zu können. Welche Bezeichnung für ein solches Ereignis auch zutreffend sein mag, es handelt sich um eine Traurigkeit jenseits der Tränen, die den Betroffenen eine tiefe

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Vgl. Johannes Chrysostomus. Ausgewählte Schriften Bd. 1, in: Franz X. Reithmayr (Hg.), Bibliothek der Kirchenväter, Bd. 3, Kempten 1869, 1–9; Johannes Chrysostomus. Ausgewählte Schriften Bd. 3, in: Valentin Thalhofer (Hg.), Bibliothek der Kirchenväter, Bd. 63, Kempten 1879, S. 461– 464.

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Verdrossenheit erleben lässt, die gleichermaßen mit dem Begriff des Trübsinns erfasst werden kann.

3.2. Die Härte der traurigen Verdrossenheit Johannes Chrysostomus spiegelt die Inhaltlichkeit seiner seelischen Hilfestellung grundlegend an den biblischen Erzählungen, die er Olympias erinnernd vor Augen führt. Somit stellt er seine Beratung auf den Boden gemeinsamer religiöser Werte, Einstellungen und Bilder. Dabei rückt er die Wirkungen des Todes auf die Seele mit seinem Schrecken, den dieser verbreitet, in den gedanklichen Mittelpunkt seiner Ausführungen, um ihr die tödliche Dimension der traurigen Verdrossenheit, von der sie befallen ist, nahe zu bringen, da diese das Verlangen nach dem Tod auslöst und somit die Angst vor dem Tod zurückdrängt. Um seine Sichtweise deutlich zu machen und zu stützen, bezieht er sich auf eine Begebenheit des Propheten Elias. Als der Prophet Elias die Baalspriester getötet hatte, ließ ihm die Königin Isebel mitteilen, dass sie ihn töten werde. Um sein Leben zu retten, flüchtet er.4 Angesichts dessen weist Johannes in einem Brief Olympias darauf hin: 4

„Elija geriet in Angst, machte sich auf und ging weg, um sein Leben zu retten. Er kam nach Beerscheba in Juda und ließ dort seinen Diener zurück.“ 1 Könige 19, 3, Einheitsübersetzung; 1 Könige 19,1–13: „Ahab erzählte Isebel alles, was Elija getan, auch dass er alle Propheten mit dem Schwert getötet habe. Sie schickte einen Boten zu Elija und ließ ihm sagen: Die Götter sollen mir dies und das antun, wenn ich morgen um diese Zeit dein Leben nicht dem Leben eines jeden von ihnen gleich mache. Elija geriet in Angst, machte sich auf und ging weg, um sein Leben zu retten. Er kam nach Beerscheba in Juda und ließ dort seinen Diener zurück. Er selbst ging eine Tagereise weit in die Wüste hinein. Dort setzte er sich unter einen Ginsterstrauch und wünschte sich den Tod. Er sagte: Nun ist es genug, Herr. Nimm mein Leben; denn ich bin nicht besser als meine Väter. Dann legte er sich unter den Ginsterstrauch und schlief ein. Doch ein Engel rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss! Als er um sich blickte, sah er neben seinem Kopf Brot, das in glühender Asche gebacken war, und einen Krug mit Wasser. Er aß und trank und legte sich wieder hin. Doch der Engel des Herrn kam zum zweiten Mal, rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss! Sonst ist der Weg zu weit für dich. Da stand er auf, aß und trank und wanderte, durch diese Speise gestärkt, vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Gottesberg Horeb. Dort ging er in eine Höhle, um darin zu übernachten. Doch das Wort des Herrn erging an ihn: Was willst du hier, Elija? Er sagte: Mit leidenschaftlichem Eifer bin ich für den Herrn, den Gott der Heere, eingetreten, weil die Israeliten deinen Bund verlassen, deine Altäre zerstört und deine Propheten mit dem Schwert getötet haben. Ich allein bin übrig geblieben und nun trachten sie auch mir nach dem Leben. Der Herr antwortete: Komm heraus und stell dich auf den Berg vor den Herrn! Da zog der Herr vorüber: Ein starker, heftiger Sturm, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, ging dem Herrn voraus. Doch der Herr war nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben. Doch der Herr war nicht im Erdbeben. Nach dem Beben kam ein Feuer. Doch der Herr war nicht im Feuer. Nach dem Feuer kam ein sanftes, leises Säuseln. Als Elija es hörte, hüllte er sein Gesicht in den Mantel, trat hinaus und stellte sich an den Eingang der Höhle.“

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„Elias, dieser große Mann, wurde aus Furcht vor dem Tode ein Flüchtling, ein Auswanderer und Fremdling, nur weil die Drohung […] ihn geängstigt hatte. Er, der […] so große Wunder gewirkt hatte, konnte die Furcht, die ihm jene Worte einjagten, nicht überwinden. Die Furcht vor dem Tode hat seine Seele, die doch schon bis zum Himmel emporragte, dermaßen erschüttert, dass er auf einmal seine Heimat und das große Volk, für welches er sich solchen Gefahren ausgesetzt hat, verlässt, einsam einen Weg von vierzig Tagesreisen zurücklegt und in die Wüste übersiedelt, – und das alles, nachdem er einen solchen Mut, eine solche Unerschrockenheit im Reden, eine solche Herzhaftigkeit bewiesen hat.“ 5 In diesem Zusammenhang greift Johannes nunmehr die Wirklichkeit des Todes an sich auf, nicht nur, um das Verhalten des Elias verständlicher zu machen, sondern auch um diesen Olympias als etwas Schauerliches in Erinnerung zu rufen: „Es ist auch wirklich um den Tod etwas sehr Schreckliches. Jeden Tag macht er auf das menschliche Geschlecht seinen Angriff; und dennoch geraten wir bei jeder Leiche so sehr in Anstrengung, Verwirrung und Niedergeschlagenheit, als ob er uns unerwartet vor Augen träte. Hier vermag weder der Gedanke an die Vergänglichkeit noch die tägliche Gewöhnung an diesen Anblick Trost zu bieten; dieser Schrecken und diese Traurigkeit altert nicht, er bleibt immer neu und immer stark; alle Tage ist ungeschwächt und ungemildert die Furcht, die er einjagt. Wohl begreiflich.“ 6 Gleichsam greift er den gedanklichen Faden im Hinblick auf die Flucht des Elias erneut auf, indem er sie darauf hinweist, dass Elias an seinem Fluchtort von einem Kummer befallen wird, der mit einer ungeheuren Macht wie eine despotische Herrschaft auf ihn gewirkt haben muss, da er sich nach erfolgreicher Flucht den Tod wünscht: „Er selbst ging eine Tagereise weit in die Wüste hinein. Dort setzte er sich unter einen Ginsterstrauch und wünschte sich den Tod. Er sagte: Nun ist es genug, Herr. Nimm mein Leben; denn ich bin nicht besser als meine Väter.“ 7 In der Erläuterung dieses Geschehnisses verknüpft Johannes auf eindringliche Weise die emotionalen Wirkungen des Todes auf den Menschen mit der harten Blickrichtung, die die Traurigkeit auslöst: Elias, so schreibt Johannes, „[…] betet um den Tod, will den Tod als eine Wohltat annehmen, also das Furchtbarste, was es gibt, […] das größte Übel, die Strafe für die ärgsten

5 6 7

Johannes Chrysostomus, Bd. 3, a. a. O., 3. Brief, 515. Ebd. 1 Könige 19,4; Einheitsübersetzung.

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Verbrechen. So wahr ist es, dass die Traurigkeit empfindlicher quält als der Tod. Denn um ihr zu entrinnen, will er dem Tode entgegeneilen […] Wenn der Prophet Elias den Tod für erträglicher hielt als die Traurigkeit, warum hat er denn sein Vaterland und sein Volk verlassen, und sich davon gemacht, um dem Tod nicht zu verfallen? Wie ist es zu erklären, dass er jetzt den Tod herbeiwünscht, während er eben vor dem Tode geflohen ist? Nun, gerade das soll dir recht einleuchtend machen, dass der Kummer ungleich schmerzlicher ist als der Tod. Als ihn nämlich nur die Furcht vor dem Tode ängstigte, tat er begreiflicher Weise alles Mögliche, ihm zu entrinnen. Als sich Traurigkeit bei ihm einstellte und sich ihm in ihrem wahren Lichte zeigte, indem sie ihn erschöpfte, aufrieb und ihm unerträglich ward, da erst sah er das Allerschwerste, den Tod, für leichter an als (die Traurigkeit).“ 8 Um seinen Ansatz, dass die Traurigkeit schwerer zu ertragen ist als der Schrecken des Todes, weiterhin zu erhellen, führt er Olympias weitere Beispiele aus der Bibel vor Augen. Der Prophet Jona kann der göttlichen Berufung nicht folgen und flieht. Dabei gerät er in eine zornige Verdrossenheit, die ihm unerträglich wurde, so dass er Gott um seinen Tod bittet: „Darum nimm mir jetzt lieber das Leben, Herr! Denn es ist für mich besser zu sterben als zu leben.“ 9 In Psalm 39 sieht Johannes sowohl den unsäglichen Schmerz der Traurigkeit, die „ein wahres Feuer und noch schmerzlicher (ist) als Feuer“ 10, beschrieben als auch die Verbindung mit dem Wunsch nach dem Tod: „[…] ich schwieg, vom Glück verlassen, doch mein Schmerz war aufgerührt. Heiß wurde mir das Herz in der Brust, bei meinem Grübeln entbrannte ein Feuer; da musste ich reden: Herr, tu mir mein Ende kund und die Zahl meiner Tage!“11 So sehr verlangt es denjenigen, dessen Gefühle in diesem Psalm beschrieben sind: „[…] nach dem Tode […], dass er auch, ehe der Tod da ist, die Zeit seiner Ankunft zu wissen wünscht – ‚lehre mich mein Ende kennen‘ – um selbst daraus große Freude zu schöpfen. So wird selbst das Schrecklichste ein Gegenstand der Sehnsucht, wegen der Unerträglichkeit der Schmerzen, die aus der Traurigkeit entstehen, und wegen der Feuersglut, die sie im Herzen entzündet. ‚In meinem Nachsinnen‘, heißt es, ‚entzündete sich Feuersglut‘.“ 12 8 9 10 11 12

Johannes Chrysostomus, a. a. O., 3. Brief, 518–519. Buch Jona 4,3; vgl. Johannes Chrysostomus, ebd., 3. Brief, 519 Johannes Chrysostomus, ebd., 519. Psalm 39, 3b–5a. Johannes Chrysostomus, ebd., 519–520.

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Als eine symbolhafte Urgeschichte für das Leid des Menschen kann der Inhalt des Buches Hiob angesehen werden, die deshalb von Johannes ebenfalls benannt wird. Hiob, ein rechtschaffener und frommer Mensch, hat alles verloren, was er je besaß. Zudem leidet er an einer schweren Krankheit. Sein ganzer Körper ist mit Flecken übersät. Die inneren Wirren und qualvollen Stürme, die in ihm getobt haben müssen, sind gut vorstellbar. Seine empfindliche Qual schien ihm schlimmer als die Angst vor dem Tod selbst. Dieses hebt Johannes gegenüber Olympias besonders hervor: „Wie sehr […] die tyrannische Herrschaft des Kummers es an empfindlicher Qual dem Tode zuvortut, das gibt uns auch dieser heilige Mann zu erkennen, indem er den Tod als Ausruhen bezeichnet. Für ihn erscheint der Tod als Rast, wie eine Wohltat, um vom Kummer erlöst zu werden“ 13: „Warum starb ich nicht vom Mutterschoß weg, kam ich aus dem Mutterleib und verschied nicht gleich? […] Still läge ich jetzt und könnte rasten, entschlafen wäre ich und hätte Ruhe.“ 14 Zudem bittet er um den Tod wie um eine Wohltat, um von der Traurigkeit befreit zu werden: „Käme doch, was ich begehre, und gäbe Gott, was ich erhoffe. Und wollte mich Gott doch zermalmen, seine Hand erheben, um mich abzuschneiden. Das wäre doch ein Trost für mich; ich hüpfte auf im Leid, mit dem er mich nicht schont […] Was ist meine Kraft, dass ich aushalten könnte, wann kommt mein Ende, dass ich mich gedulde […] Gibt es keine Hilfe mehr für mich, ist mir jede Rettung entschwunden?“ 15 Johannes überlässt es nicht der Phantasie seiner Seelengefährtin Olympias, die innere Dynamik solcher Geschehnisse zu erfassen. Mit eindringlichen Bildern bringt er ihr das Gefährliche an der Traurigkeit nahe: „Die Traurigkeit ist für die Seele eine schwere Plage, ein unsäglicher Jammer, eine Strafe herber als jede andere Strafe und Züchtigung. Denn sie ist wie ein giftiger Wurm, der nicht nur den Leib, sondern auch die Seele angreift; sie ist wie eine Motte, die sich nicht bloß in die Gebeine, sondern auch in die Seele einfrisst; sie ist ein unermüdlicher Henkersknecht, der nicht etwa die Rippen zerschlägt, sondern sogar die Kräfte der Seele misshandelt; eine fortwährende Nacht, dichte Finsternis, Sturm und Unwetter, ein unsichtbares Fieber, das ärger brennt als jedes Feuer, ein Krieg ohne Waffenstillstand, eine Krankheit, die uns Vieles, was wir sonst sehen mit Finsternis bedeckt; denn selbst die Sonne und die durchsichtige Luft scheint den Menschen bei dieser Stimmung lästig zu werden, und gleicht für sie am 13 14 15

Ebd., 524. Buch Ijob 3, 1.13. Ebd., 6, 8–10a.11.13.

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hellen Mittag der tiefen Nacht. Das deutet auch jener herrliche Prophet (Amos) an, wo er sagt: ‚Untergehen wird ihnen die Sonne am Mittag.‘ 16 Er will nicht sagen, das Tagesgestirn werde verschwinden oder seinen gewohnten Lauf unterbrechen, sondern das hellste Tageslicht komme dem trostlosen Menschen wie nächtliches Dunkel vor. Denn das Dunkel der Nacht ist von derselben Art wie die nächtliche Finsternis der Trauer, die nicht nach den Gesetzen der Natur eintritt, sondern aus der Verdüsterung der Vernunft entsteht. Sie ist fürchterlich und unerträglich, grausamer als irgendein Tyrann und trotzig hart sind ihre Züge. Sie gibt sich so leicht nicht überwunden, wenn man sie zu zertreten sucht; und sie hält die Seele, deren sie sich einmal bemächtigt hat, oft fester als eherne Bande, wenn man nicht mit großer Weisheit gegen sie vorgeht.“ 17 In dieser Erfassung der Wirkweisen der Traurigkeit sind Bilder enthalten, die sich ebenso mit der Wirklichkeit des Todes verbinden lassen. Der Tod verdunkelt unsere Seele und unsere Vernunft, er betrifft unseren gesamten Körper, er bereitet uns intensives inneres Leid und wird als Bestrafung erlebt, die Bedrohung durch den Tod bleibt anhaltend und die Angst vor dem Tod bestimmt das gesamte Leben.

3.3. Die Macht der Traurigkeit angesichts der Trennung von einem geliebten Menschen Ein wesentlicher Leidenspunkt ist für Olympias die Trennung von Johannes, seit er sich in der Verbannung aufhalten muss. Um Olympias die grundlegende Seelenreaktion, die in ihrem Trennungsschmerz verborgen liegt, zu erläutern, verbindet er seine Darlegung mit der ungeheuren Macht der Traurigkeit sowie mit einem religiösen Vorbild, in das sie sich gut einfühlen kann. Aus der Sicht des Johannes ist die wirkliche Liebe zu einem Menschen etwas Seltenes. Von daher ist es für ihn verständlich, dass das Ertragen des Getrenntseins von einem geliebten Menschen einen fast heldenmütigen Kampf erfordert, der keineswegs nur siegreiche Momente hat.18 Als Beispiel führt er den Apostel Paulus an: „Alles vermochte dieser heilige Paulus, als ob er es an einem fremden Leibe erduldete, zu ertragen, Kerker, Verbannung, Geißelstreiche, Drohungen, Tod, Steinigung, Ertränkung, Strafen aller Art: aber als er einmal sich von 16 17 18

Buch Amos 8, 9. Johannes Chrysostomus, a. a. O., 3. Brief, 512. Johannes Chrysostomus, a. a. O., 2. Brief, 502.

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einem geliebten Freunde hatte trennen müssen, da war er so voll Sorge und Angst, dass er sogleich die Stadt verließ, in welcher er den Geliebten zu sehen erwartete und nicht fand. Das mag Troas bezeugen; er kehrte deshalb dieser Stadt den Rücken, weil sie ihm den Freund damals nicht aufweisen konnte.“ 19 Er sagte: „Als ich dann nach Troas kam, um das Evangelium Christi zu verkünden, und mir der Herr eine Tür öffnete, hatte mein Geist dennoch keine Ruhe, weil ich meinen Bruder Titus nicht fand. So nahm ich Abschied und reiste nach Mazedonien.“ 20 Ein solches Verhalten hebt erneut die verheerende Wirkung der Traurigkeit hervor, wenn sie sich der Seele und des Herzens bemächtig hat. Nichts stellte sich der Verkündigung in Troas Paulus in den Weg, alles war gut vorbereitet, damit die Botschaft des Evangeliums wirken konnte. Johannes verdeutlicht Olympias die Seelenlage des Paulus: „Ja, sagt er, Traurigkeit beherrschte mich übermächtig und mein Herz betrübte sich gar sehr wegen der Abwesenheit des Titus; und die Trauer hat mich dermaßen bewältigt und übermannt, dass dies mich zur Abreise gezwungen hat. Denn dass er durch seine Betrübnis dazu kam, das brauchen wir nicht etwa zu mutmaßen, sondern wir erfahren dies von ihm selbst; er fügt ja die Ursache seines Weggehens hinzu mit den Worten: ‚Ich hatte keine Ruhe in meinem Innern, weil ich meinen Bruder Titus nicht vorfand, sondern ich nahm von ihnen Abschied und ging hinweg.‘ “ 21 Seine Stärke nützte ihm in diesem Moment nichts. Sie half ihm nicht vorbeugend. Er war in dieser Situation von machtvoller Traurigkeit und tiefer Unruhe betroffen. In ihm war offenbar ein schmerzliches Feuer entfacht und die Sehnsucht quälte ihn sehr. Der Abschied von einem geliebten Menschen kann uns in der Tat quälend in Aufruhr bringen und uns mit derartiger Mühsal und Beschwerde belegen, dass es uns fast an das vorgestellte Sterben erinnern mag. In solchen Situationen kann auch der Gedanke an den eigenen Tod an die Tür der Seele klopfen. Das weitere Leben kann als sinnlos empfunden und der Schmerz unerträglich werden, wenn wir einen Menschen vermissen.

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Ebd. 2. Brief an die Korinther 2,12–13. Johannes Chrysostomus, a. a. O., 2. Brief, 503.

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3.4. Tödliche Verdrossenheit und Neubeginn Johannes greift mit Absicht in erster Linie die biblischen Erzählungen und Bilder auf, um es Olympias zu ermöglichen, sich mit ihrer Seelenlage darin wiederzufinden. Er erspürt in ihren Briefen, dass sie von ihren Kraftquellen abgeschnitten ist und sich durch übermächtige Gewalten eingeschlossen fühlt, und erwähnt Jona, der von einem riesigen Walfisch verschlungen wurde 22. Er bringt ihr die Geschichte von den drei Jünglingen im babylonischen Feuerofen nahe, die vom brennenden und verzehrenden Feuer eingeschlossen sind 23. Die Geschichte von Daniel in der Löwengrube darf für ihn in diesem Zusammenhang auch nicht fehlen, der sich den wilden Tieren gegenübersieht, die für die zerfleischende Lebensgefahr ein intensiver Ausdruck sind 24. 22

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Buch Jona 2,1–11: „Der Herr aber schickte einen großen Fisch, der Jona verschlang. Jona war drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches und er betete im Bauch des Fisches zum Herrn, seinem Gott: In meiner Not rief ich zum Herrn und er erhörte mich. Aus der Tiefe der Unterwelt schrie ich um Hilfe und du hörtest mein Rufen. Du hast mich in die Tiefe geworfen, in das Herz der Meere; mich umschlossen die Fluten, all deine Wellen und Wogen schlugen über mir zusammen. Ich dachte: Ich bin aus deiner Nähe verstoßen. Wie kann ich deinen heiligen Tempel wieder erblicken? Das Wasser reichte mir bis an die Kehle, / die Urflut umschloss mich; Schilfgras umschlang meinen Kopf. Bis zu den Wurzeln der Berge, / tief in die Erde kam ich hinab; ihre Riegel schlossen mich ein für immer. Doch du holtest mich lebendig aus dem Grab herauf, Herr, mein Gott. Als mir der Atem schwand, dachte ich an den Herrn und mein Gebet drang zu dir, zu deinem heiligen Tempel. Wer nichtige Götzen verehrt, der handelt treulos. Ich aber will dir opfern und laut dein Lob verkünden. Was ich gelobt habe, will ich erfüllen. Vom Herrn kommt die Rettung. Da befahl der Herr dem Fisch, Jona ans Land zu speien.“ Buch Daniel 3,1–97; „Dann ging Nebukadnezzar zu der Tür des glühenden Ofens und rief: Schadrach, Meschach und Abed-Nego, ihr Diener des höchsten Gottes, steigt heraus, kommt her! Da kamen Schadrach, Meschach und Abed-Nego aus dem Feuer heraus. Nun drängten auch die Satrapen, Präfekten, Statthalter und die königlichen Räte herbei. Sie sahen sich die Männer an und fanden, dass das Feuer keine Macht über ihren Körper gehabt hatte. Kein Haar auf ihrem Kopf war versengt. Ihre Mäntel waren unversehrt und nicht einmal Brandgeruch haftete ihnen an.“ (Dan 3,93–94). Ebd., 6,2–19; „Darauf befahl der König, Daniel herzubringen, und man warf ihn zu den Löwen in die Grube. Der König sagte noch zu Daniel: Möge dein Gott, dem du so unablässig dienst, dich erretten. Und man nahm einen großen Stein und wälzte ihn auf die Öffnung der Grube. Der König versiegelte ihn mit seinem Siegel und den Siegeln seiner Großen, um zu verhindern, dass an der Lage Daniels etwas verändert würde. Dann ging der König in seinen Palast; fastend verbrachte er die Nacht; er ließ sich keine Speisen bringen und konnte keinen Schlaf finden. Früh am Morgen, als es gerade hell wurde, stand der König auf und ging in Eile zur Löwengrube. Als er sich der Grube näherte, rief er mit schmerzlicher Stimme nach Daniel und fragte: Daniel, du Diener des lebendigen Gottes! Hat dein Gott, dem du so unablässig dienst, dich vor den Löwen erretten können? Daniel antwortete ihm: O König, mögest du ewig leben. Mein Gott hat seinen Engel gesandt und den Rachen der Löwen verschlossen. Sie taten mir nichts zuleide; denn in seinen Augen war ich schuldlos und auch dir gegenüber,

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Da diese Schilderungen gleichsam auch die erlösende Perspektive aufzeigen – Jona, die drei Jünglinge und Daniel werden aus ihrem Elend befreit oder erlöst –, ist für Johannes das Phänomen des Liegenbleibens und die damit verbundene machtvolle innere Dynamik, sich den Tod als Erlösung von der Traurigkeit herbeizuwünschen, das Startzeichen für den ernsthaften Neubeginn persönlicher Entwicklung. In solchen Momenten geht es an die Substanz, so dass wir gleichsam vom Boden aus und somit vom Ursprung ausgehend – wie zu Beginn des Werdens – neue und maßvolle Schritte auf das Leben zugehen sollen, in dem es vor allem gelingt, den Schmerz und das Leid auszuhalten. Es soll nunmehr dargelegt werden, auf welche Weise Johannes seine schonungslose Darlegung von der tödlichen Verdrossenheit mit hilfreichen Gedanken verbindet, die Olympias eine seelische Perspektive ermöglichen.

4. Die Traurigkeit überwinden 4.1. Die Bewältigung von Schicksalsschlägen benötigt Urvertrauen In persönlicher Not und Traurigkeit nimmt der Mensch verstärkt wahr, dass er wesentlich ein Verwiesener oder Angewiesener ist, der nicht aus sich allein heraus lebensfähig ist. Somit ist es naheliegend, in solchen Situationen darauf zu hoffen, dass es Menschen gibt, die unser Leid mildern oder uns sogar daraus befreien. Ein solches Ansinnen möchte Johannes bei Olympias zerstreuen. Er ruft ihr eindringlich zu: „Höre auf, Diesen und Jenen um Beistand anzuflehen; höre auf, Schatten nachzulaufen (denn menschliche Hilfe ist nur ein Schatten) […]“ .25 Johannes möchte erreichen, dass sich Olympias auf ihr Urvertrauen besinnt, das für ihn im Glauben an Gott gründet und im Kern die Witterung oder die gespürte Voraussicht enthält, dass unser Leben insgesamt auf ein gutes und behütetes Ziel zuläuft. Mit den folgenden Gedanken lädt er sie ein, sich seiner Überzeugung anzuschließen und das eigene Vertrauen in das von Gott getragene Dasein zu erspüren: „Welches Bild ich auch immer wählen mag, um die Drangsale unserer Zeit zu veranschaulichen, […] lasse ich keineswegs die Hoffnung auf eine glückliche Wendung fahren, indem ich des Steuermanns gedenke, der diese Welt regiert, der nicht durch Mittel der Kunst des Meisters Sturm wird, sondern durch einen Wink den Orkan beschwichtigt. Wenn er das aber nicht von

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König, bin ich ohne Schuld. Darüber war der König hoch erfreut und befahl, Daniel aus der Grube herauszuholen. So wurde Daniel aus der Grube herausgeholt; man fand an ihm nicht die geringste Verletzung, denn er hatte seinem Gott vertraut. (Dan 6,17–24). Vgl. Johannes Chrysostomus, a. a. O., 3. Brief, 536. Johannes Chrysostomus, a. a. O., 1. Brief, 468.

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vornherein und nicht alsbald tut, nun, das ist so seine Art. Nicht beim Beginne steuert er dem Unglück, sondern wenn es damit schlimmer geworden, wenn es zum Äußersten gekommen ist, und wenn die Meisten schon verzagen, dann greift er ein, wunderbar und wider Erwarten. So lange wartet er, um seine eigene Macht zu bewähren, und um die Heimgesuchten zu üben in der geduldigen Beharrlichkeit.“ 26 Wenn das Leid „aber trotz deines Flehens noch nicht zu Ende geht, nun es ist Gottes Art […], die Leiden nicht schon gleich Anfangs zu ersticken, sondern wenn sich die Not gemehrt hat und auf’s Höchste gestiegen ist, wenn die Feinde fast alle Bosheit an uns erschöpft haben, dann pflegt er mit einem Male die Ruhe herzustellen und alles einem ganz unerwarteten Ausgang entgegenzuführen.“ 27 Wenn es in einer Notsituation gelingt, das Dasein für einen unerwarteten Ausgang offen zu halten, kann sich das Urvertrauen wirkungsvoll entfalten.

4.2. Die Vergänglichkeit des Leids und des Daseins Mit Gott verbindet Johannes das Unvergängliche, in das der Mensch mit seiner Seele hineinverwoben ist. Von daher weist er Olympias in Bezug auf „Nachstellungen, Befeindungen, Betrug, Verleumdung, Beschimpfung, Anklagen, Gütereinziehung und Achtserklärung, Verbannung, die Schärfe des Schwertes, Gefahren auf dem Meere, Krieg auf der ganzen Welt hin“, dass „dieses alles, wie man auch sonst davon denken mag, […] der Zeit und der Vergänglichkeit unterworfen“ ist, „nicht über unser sterbliches Leibesleben hinausgeht“ und „der besonnenen Seele nicht zu schaden [vermag]“; „daher ist das Glück und das Unglück dieses Lebens nicht hoch anzuschlagen, wie uns der heilige Paulus lehrt, mit einem Worte alles zusammenfassend: ,Was wir sehen, ist vergänglich.‘ “ 28 Und er spricht Olympias direkt an, indem er fragt: „Warum also fürchtest du das Vergängliche, das vorüberfließt gleich den Wellen eines Stromes? Denn solcher Art sind die Schicksale dieses Lebens, im Glück wie im Unglück.“ 29 Er führt außerdem den Propheten Jesaja an, der seine Zuhörer in ähnlicher Weise aufrüttelt: „Alles Sterbliche ist wie das Gras, und alle seine Schönheit ist wie die Blume auf dem Felde.“ 30 „Fürchtet euch nicht vor der Beschimpfung durch Menschen, erschreckt nicht vor ihrem Spott! Denn man frisst sie, wie die Motte das Kleid, man frisst sie, wie die Schabe die Wolle.“ 31 26 27 28 29 30 31

Ebd., 466. Ebd., 468. Johannes Chrysostomus, a. a. O., 1. Brief, 466– 467. [Paulus, Brief an die Korinther 4,18.]. Ebd. Buch Jesaja 40, 6. Ebd., 51, 7b.8a.

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4.3. Das Vertrauen in die persönliche Ratgebung und die Mitwirkung des Ratsuchenden in der Notsituation Bei aller Verwiesenheit auf Gottes Handeln, weiß Johannes dennoch darum, dass das Urvertrauen durch eine vertrauensvolle menschliche Begegnung gefördert werden kann. Außerdem ist es gerade in Krisensituationen notwendig, dass die Ratgebung durch die Mitwirkung des Notleidenden mitgetragen wird. Obwohl Johannes spürt, dass Olympias seinen helfenden Worten Vertrauen schenkt, weiß er darum, dass trotz dieser aufkommenden seelischen Perspektiven, eine Gesundung erst noch ein intensives Schwachsein überwinden werden muss. Darauf weist er Olympias unmissverständlich hin: „Denn habe ich auch durch die früheren Briefe die Herrschaft deines Kummers gebrochen und seine feste Burg zerstört, so ist gleichwohl noch viel Fleiß und Ausdauer vonnöten, damit mein Zureden dir zu einem tiefen Frieden verhilft, damit es alle Aufregung, die aus deinem Kummer entstanden ist, selbst aus deinem Gedächtnis verbannt, dir eine ungetrübte und sichere Ruhe verschafft und dich in einen Zustand vollkommener Zufriedenheit versetzt.“ 32 Sein Ziel ist es, sie nicht nur von der Traurigkeit zu befreien, sondern sie zugleich zu einer andauernden Fröhlichkeit zu führen. Dies ist nach seiner Ansicht deswegen möglich, da die Fröhlichkeit kaum von der Beschaffenheit äußerer Verhältnisse abhängt, sondern vielmehr an der Gesinnung des Einzelnen liegt. Um diese Aussage zu stützen, weist er auf die Menschen hin, die im Überfluss leben und dennoch ihr Dasein für unerträglich halten, und im Gegensatz dazu gibt es Menschen, die in Armut leben und guten Mutes sind.33 Damit die Wirklichkeit eines frohen Sinnes möglich wird, bittet Johannes um die entschiedene Mithilfe Olympias: „Lass dich nicht niederdrücken, Schwester, sondern richte dich auf, reiche meinen Worten die Hand und sei mein Bundesgenosse, damit ich meinen schönen Zweck erreiche und dich von dem harten Sklavenjoch, welches jene traurigen Gedanken dir auferlegt haben, vollständig befreie. Denn wenn du selbst nicht willst und nicht auch so große Anstrengungen machst wie ich, dann wird mein Versuch, dich zu heilen, nichts fruchten.“ 34

32 33 34

Johannes Chrysostomus, a. a. O., 3. Brief, 509–510. Vgl. ebd., 510. Ebd., 510–511.

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Bereits in einem früheren Brief hat Johannes die Mitwirkung von Olympias bei ihrer Heilung grundlegend eingefordert: „Richte dich […] auf und reiche mir die Hand! Denn wenn die Ärzte zwar ihre Sache tun, die Kranken es aber an ihrem Teil fehlen lassen, wird der Vorteil für den Gesundheitszustand wieder zerstört; so pflegt es bei den Krankheiten des Leibes, so auch bei den Krankheiten der Seele zu gehen.“ 35 Und er erwähnt, dass selbst Gott die Hände gebunden sind, wenn der Mensch seine Mithilfe verweigert: „Selbst der allmächtige Gott wird, wenn er mahnt und zuspricht, der Mensch aber seinen Worten kein Gehör schenkt, keinen Nutzen erzielen“.36 Um möglichen Widerständen bei Olympias entgegenzuwirken, spricht er ein häufiges Gegenargument von sich aus an: „Doch du sagst vielleicht: ich möchte wohl, aber ich kann nicht; ich bin trotz der größten Anstrengung nicht im Stande, das dichte und düstere Gewölk der Niedergeschlagenheit zu zerstreuen. Das ist ein Vorwand und eine leere Entschuldigung; denn ich kenne ja die edle Art deiner Gesinnung, die Stärke deiner Frömmigkeit, die Größe deiner Einsicht, die Kraft in deiner vernünftigen Überlegung; ich weiß, du brauchst nur dem aufgeregten Meere deiner entmutigenden Gedanken zu gebieten, so wird alles still und ruhig sein; damit dir das aber leichter werde, will ich auch das Meinige dazu tun.“ 37 Auf diese Weise gründet Johannes seine Ratgebung sowohl in der Bewusstmachung der eigenen Kräfte von Olympias als auch in seinem ausdrücklich versicherten Rückhalt durch seine Person. Johannes ist sich darüber im Klaren, dass zur Einsicht in die eigene Gefühlslage und in die machtvolle Dynamik der Traurigkeit das Vertrauen in Gott sowie in sich selbst und in Johannes als Seelengefährten für das entschiedene eigene Handeln absolut notwendig sind, damit ein seelisches Überleben möglich wird.

4.4. Tue dir Gewalt an und halte Maß im Einsatz für andere Im Bewusstsein des Vertrauens Olympias in seine Person empfiehlt er ihr in aller Deutlichkeit eine ungewöhnlich anmutende Strategie mit der Traurigkeit umzugehen, die von ihr alle Seelenkräfte einfordert: „Tue dir Gewalt an, damit du dich

35 36 37

Johannes Chrysostomus, a. a. O., 2. Brief, 478– 479. Johannes Chrysostomus, a. a. O., 3. Brief, 511. Johannes Chrysostomus, a. a. O., 2. Brief, 479.

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von der Herrschaft der Traurigkeit allmählich befreiest.“ 38 Und an einer anderen Stelle schreibt er in diesem Brief: „[…] tue dir Gewalt an, unterstützt von meinen mahnenden Worten, mit voller Entschiedenheit die Gedanken, welche so große Wirren, Stürme und Unruhen in deiner Seele anrichten, auszuschlagen und zu verjagen. Doch dass du das tun und meiner Mahnung folgen wirst, daran glaube ich gar nicht zweifeln zu dürfen. Aber ich muss dir auch Schwert und Spieß, Bogen und Pfeile, Panzer, Schild und Beinschienen verschaffen, das eine zu deinem Schutze, das andere zum Niederwerfen, Ertöten und Vernichten der aufregenden Gedanken, die dich angreifen.“ 39 Johannes wendet sich mit seiner harten Forderung, die Herrschaft der Traurigkeit gewaltsam zu durchbrechen, gegen die ungeheure Macht der Verdrossenheit, die die eigenen Heilkräfte derart schwächen kann, dass die Seele als Folge davon kraftlos im Meer der Verzweiflung versinkt.40 Da er die Zugewandtheit und das Verantwortungsbewusstsein Olympias gegenüber den Menschen in ihrer nächsten Umgebung kennt, legt er ihr nahe, auch hierin ein gesundes Maß zu finden. „Du musst in deiner Trauer um fremde Sünden Maß halten.“ 41, lautet seine Empfehlung. Für ihn ist es eine Torheit, sich durch das Schicksal der anderen derart niederdrücken zu lassen, dass als Folge davon die Kräfte für die verantwortliche Gestaltung des eigenen Lebens nicht mehr ausreichen, wir uns womöglich unter der Last selbst aufgeben und unserer eigenen Berufung kaum noch folgen können: „Wenn es sich nun um fremde Sünden handelt, die Andere verantworten müssen, wie sollte es nicht Torheit, ja vollendeter Wahnsinn sein, sich so sehr von Schmerz und Trauer niederdrücken zu lassen, dass sie die Seele mit dichter Finsternis umhüllen, in Unruhe und Verwirrung stürzen, durch heftigen Sturm und Unwetter ängstigen?“ 42 Um diese Auffassung zu untermauern, knüpft er an die Vorstellung an, die sie gemeinsam miteinander teilen, dass jeder Mensch eines Tages vor Gott als dem unbestechlichen Richter stehen wird, um Rechenschaft über sein Leben zu geben, was er getan oder gelassen hat, woraus sich mögliche Strafen ergeben. „Dann wird von Niemandem über Dasjenige Rechenschaft gefordert, was ein Anderer verbrochen, sondern Jedem nur über seine eigenen Sünden. Das

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Johannes Chrysostomus, a. a. O., 3. Brief, 509. Ebd., 511. Vgl. Johannes Chrysostomus, a. a. O., 2. Brief, 482. Ebd., 478. Ebd., 482.

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alles zusammen stelle dir vor; und indem du dieser Furcht Nahrung zuführst und dadurch gegen die verderbliche, vom Teufel herstammende Trauer eine feste Burg errichtest, stehe ihr also kampfgerüstet gegenüber; […] Denn diese Trauer [um die Sünden der anderen] ist nicht nur nutzlos und überflüssig, sondern sehr schädlich und unheilvoll; jene Furcht [vor dem Endgericht] dagegen ist notwendig, nützlich, heilsam und bringt großen Gewinn.“ 43 „Du sollst den Gedanken an die Sünden des einen und die Vergehen des anderen fahren lassen und deiner eigenen fortwährenden Kämpfe gedenken, deiner Geduld und Ausdauer, deiner Fasten, Gebete und heiligen Nachtwachen, deiner Enthaltsamkeit, Freigebigkeit, Gastfreundschaft, deiner vielfachen, schweren und häufigen Versuchungen. Erwäge, wie du von früher Jugend an bis zu diesem Tag nicht aufgehört hast, Christus zu speisen in den Hungrigen, zu tränken in den Durstigen, zu bekleiden in den Nackten, zu beherbergen in den Fremden, zu besuchen in den Kranken und Gefangenen. Denke daran, dass deine Liebe groß geworden ist wie das Meer, und sich sogar bis an die Grenzen der bewohnten Erde mit Macht ausgebreitet hat.“ 44

4.5. Die Stärke entsteht durch die Bewältigung des Schweren Wenn der Mensch sich in einer guten seelischen Verfassung befindet, kann er mit Leichtigkeit sein Dasein entfalten, auch wenn dies mit Anstrengungen wie Konzentration, Durchhaltevermögen und Anwendung von Kraft verbunden ist. Auch dabei gibt es auftretende Hindernisse zu überwinden, jedoch ist eine durchhaltende Motivation maßgeblich vorhanden, da man in einem guten Erleben steht und einem erfolgreichen Abschluss entgegensehen kann. Ganz anders verhält es sich, wenn Ereignisse bewältigt werden müssen, die in der Seele Traurigkeit und Niedergeschlagenheit auslösen. Johannes wirft in diesem Zusammenhang einen Aspekt auf, der sich in der folgenden Frage widerspiegelt: Welcher Bewältigung im Leben gebührt nun der größere Verdienst, das Umsetzen des Positiven oder die Bewältigung des Negativen? Johannes legt Olympias die Einschätzung nahe, dass die Tugend und somit die Seelenstärke erst angesichts des Leides zur vollen Entfaltung gelangen kann. Am Beispiel der Leidensgeschichte Hiobs erläutert er ihr, dass das Bestehen im Leid

43 44

Ebd., 484. Ebd., 498– 499.

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ein größerer Verdienst für ihn war, als seine Rechtschaffenheit in seinem gerechten Handeln in guten Zeiten. „Wann […] verdiente Job mehr Ruhm und Ehre, als er sein Haus für alle ankommenden Wanderer geöffnet hielt oder als er beim Einsturz dieses Hauses kein missmutiges Wort sprach, sondern Gott pries?“ 45 „Das eine waren lauter gute Werke, das andere lauter Leiden. Aber gleichwohl haben die letzteren ihm einen größeren Glanz verliehen als die ersteren. Denn die Leiden waren es, die ihn in heißesten Kampf stürzten; sie erforderten mehr Tapferkeit, ein stärkeres Herz, größere Weisheit und mehr Liebe zu Gott. Deshalb konnte auch zu der Zeit, wo er seinen guten Werken oblag, der Teufel es wagen – was allerdings schon eine Verwegenheit und Unverschämtheit war, – Widerspruch zu erheben: ‚Dient etwa Job dem Herrn umsonst?‘ 46 Als aber jene Leiden über ihn gekommen waren, musste der Teufel sich beschämt zurückziehen und zur Flucht wenden, da er auch bei größter Unverschämtheit nicht einen Schatten von Grund für seinen Widerspruch auffinden konnte. Denn da wird der schönste Siegeskranz erworben; da gelangt die Tugend auf ihren Höhepunkt; da sieht man die Seelenstärke aufs Klarste bewiesen, die Weisheit in ihrer großartigsten Ausdehnung bestätigt.“ 47 Und somit steht für Johannes fest: „Geduld in schweren Leiden ist verdienstlicher als Eifer in guten Werken.“ 48 Dem Aushalten und Ausharren bei der Bewältigung von Lebensproblemen kommt eine wesentliche Bedeutung zu. Manchmal geht es angesichts unsäglicher seelischer Schmerzen sogar nur um das „reine Überleben“. Da niemand vom Leid verschont bleibt, gehört das Bestehen und Bewältigen solcher Geschehnisse im Sinne einer Lebensbewährung zu jedwedem Dasein dazu. Der Lohn für die Mühe des Durchlebens von Dunkelheit wird erheblich sein; das kann von denjenigen bestätigt werden, die auf eine bewältigte Krise zurückblicken können. Jedoch in der ersten Wirkung eines schweren Schicksalstreffers kann unsere Seele derart niedergedrückt werden, dass zunächst der Tod der einzige Ausweg zu sein scheint, um vom Leid erlöst zu werden. Von daher ist es verständlich, dass Johannes Olympias als motivierende und tragende Perspektive gleichsam die Erlangung einer außerordentlichen seelischen Stärke und inneren Erlösung vor Augen stellt, die

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Johannes Chrysostomus, a. a. O., 3. Brief, 522. Ijob 1, 9; „Der Satan antwortete dem Herrn und sagte: Geschieht es ohne Grund, dass Ijob Gott fürchtet?“, Einheitsübersetzung. Johannes Chrysostomus, a. a. O., 3. Brief, 523–524. Ebd., 520.

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sich durch den Sieg über die Traurigkeit entwickeln wird. Um dies zu untermauern, führt Johannes ihr erneut bekannte Lebensgeschichten aus der Bibel ins Gedächtnis: „Ist nicht Lazarus 49 allein wegen seiner körperlichen Leiden dieselbe Herrlichkeit wie den Patriarchen zu Teil geworden? Hat nicht die Schmähung des Pharisäers dem Zöllner 50 Rechtfertigung verschafft, wodurch er vor dem Pharisäer den Vorzug erhielt? Hat nicht der Apostelfürst 51 durch seine Tränen die Wunde geheilt, die ihm seine große Sünde geschlagen hatte? Wenn sich also herausstellt, dass für eine Jeden der genannten ein einziges dieser Leiden hinreichte, so schließe ich daraus, wie große Belohnungen dir in Aussicht stehen, da du sie alle zumal und zwar in außerordentlich hohem Grade und die ganze Zeit hindurch erträgst. Denn Nichts, gar Nichts macht 49

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Lukasevangelium 16,19–31: Es war einmal ein reicher Mann, der sich in Purpur und feines Leinen kleidete und Tag für Tag herrlich und in Freuden lebte. Vor der Tür des Reichen aber lag ein armer Mann namens Lazarus, dessen Leib voller Geschwüre war. Er hätte gern seinen Hunger mit dem gestillt, was vom Tisch des Reichen herunterfiel. Stattdessen kamen die Hunde und leckten an seinen Geschwüren. Als nun der Arme starb, wurde er von den Engeln in Abrahams Schoß getragen. Auch der Reiche starb und wurde begraben. In der Unterwelt, wo er qualvolle Schmerzen litt, blickte er auf und sah von weitem Abraham, und Lazarus in seinem Schoß. Da rief er: Vater Abraham, hab Erbarmen mit mir und schick Lazarus zu mir; er soll wenigstens die Spitze seines Fingers ins Wasser tauchen und mir die Zunge kühlen, denn ich leide große Qual in diesem Feuer. Abraham erwiderte: Mein Kind, denk daran, dass du schon zu Lebzeiten deinen Anteil am Guten erhalten hast, Lazarus aber nur Schlechtes. Jetzt wird er dafür getröstet, du aber musst leiden. Außerdem ist zwischen uns und euch ein tiefer, unüberwindlicher Abgrund, sodass niemand von hier zu euch oder von dort zu uns kommen kann, selbst wenn er wollte. Da sagte der Reiche: Dann bitte ich dich, Vater, schick ihn in das Haus meines Vaters! Denn ich habe noch fünf Brüder. Er soll sie warnen, damit nicht auch sie an diesen Ort der Qual kommen. Abraham aber sagte: Sie haben Mose und die Propheten, auf die sollen sie hören. Er erwiderte: Nein, Vater Abraham, nur wenn einer von den Toten zu ihnen kommt, werden sie umkehren. Darauf sagte Abraham: Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören, werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn einer von den Toten aufersteht.“ Ebd., Lukasevangelium 18,9–14: Einigen, die von ihrer eigenen Gerechtigkeit überzeugt waren und die anderen verachteten, erzählte Jesus dieses Beispiel: Zwei Männer gingen zum Tempel hinauf, um zu beten; der eine war ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stellte sich hin und sprach leise dieses Gebet: Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin, die Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner dort. Ich faste zweimal in der Woche und gebe dem Tempel den zehnten Teil meines ganzen Einkommens. Der Zöllner aber blieb ganz hinten stehen und wagte nicht einmal, seine Augen zum Himmel zu erheben, sondern schlug sich an die Brust und betete: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser kehrte als Gerechter nach Hause zurück, der andere nicht. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“ Paulus: „Seid also wachsam und denkt daran, dass ich drei Jahre lang Tag und Nacht nicht aufgehört habe, unter Tränen jeden einzelnen zu ermahnen.“, Apostelgeschichte 20, 31.

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den Menschen so schön, so bewundernswert, erfüllt ihn mit so vielen Gütern, als auf der einen Seite eine Reihe von Anfechtungen, Gefahren, Beschwerden, Kümmernisse, beständige Verfolgungen (namentlich wenn sie von solchen ausgehen, die dazu nicht im Geringsten ein Recht oder eine Ursache haben), und auf der anderen Seite die ausdauernde Geduld in allen diesen Leiden.“ 52 „Nimm dir das recht zu Herzen und erwäge, wie groß dein Gewinn ist, den ein mühseliges und schmerzenreiches Leben einbringt. Dann aber freue dich mit ganzer Seele, dass du von zartester Jugend an auf einem Wege wandelst, auf dem du dir herrlichen Lohn und viele Siegeskronen verdienest, einem Wege nämlich, der mit Leiden ganz dicht besät ist.“ 53 Wenn durch das Ertragen des Leids letztlich eine Auszeichnung in der Tugend entsteht und die Seele eine neue tragende Stabilität erhält, so steht auf jeden Fall für Johannes fest, dass die Traurigkeit das Schwerste aller Leiden ist und somit die Belohnung ungleich höher sein wird. Mit dieser Sichtweise möchte er hervorheben, dass er die Trostgründe für ihre Traurigkeit von der Traurigkeit selbst hernimmt.54 Am Ende seines dritten Briefes bündelt er seine Einstellungen und Ratgebung verbunden mit einer Bitte an Olympias: „Um das Eine nur bitte ich dich, um was immer ich dich gebeten habe, dass du dich der Traurigkeit entledigst, und für alle diese Bedrängnisse und Bitterkeiten immerdar Gott dem Herrn Lob und Dank sagest – was du ja auch stets getan und noch tust. Denn so wirst du für dich großen Vorteil erzielen, dem Teufel einen entscheidenden Schlag versetzen, mir großen Trost gewähren, die Wolken der Traurigkeit mit leichter Mühe verscheuchen und eines ungetrübten Friedens genießen. Dass du nur nicht ermattest! Vielmehr entziehe dich diesem Rauch und Dunst – denn leichter als Rauch wirst du, wenn du willst, diese ganze Traurigkeit zerstieben – und dann teile es mir wieder mit, dass auch ich, obgleich fern von dir, durch einen solchen Brief einmal recht erfreut werde.“ 55

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Johannes Chrysostomus, a. a. O., 3. Brief, 530. Ebd., 529. Vgl. ebd. 527. Ebd., 543.

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5. Die Einstellungen des Johannes Chrysostomus im Kontext der Resilienz Das Themenfeld der Resilienz richtet die Betrachtung bei der Bewältigung schwieriger Lebensumstände auf die seelischen Kräfte, die aus einer möglichen Erstarrung zu einer Elastizität geführt werden sollen. Wichtige Fragen dabei sind: Wie können die Widerstandskräfte angesichts eines schweren Lebenstreffers aktiviert oder sogar erweitert werden? Auf welche Weise kann ein neues Zutrauen zu sich selbst sowie in das Dasein an sich entstehen, wenn eine Krise hoffnungsvolle Perspektiven zerstört oder infrage gestellt hat? Um diesen Fragen erhellend nachzugehen, werden im Folgenden einige Grundzüge der ratgebenden Begleitung von Johannes in Bezug auf Olympias akzentuiert. Johannes weiß um die größte Angst des Menschen, die in seinem tödlichen Schicksal verankert ist. Die Angst vor dem Tod wird in schweren seelischen Erschütterungen mit in Bewegung gesetzt, auch wenn es nicht um das konkrete eigene Sterben in einer Krisensituation geht. Ihm ist zudem bewusst, dass es keine wirksame Abhärtung oder eine vollkommene Zuversicht geben wird, die die Furcht vor dem Tod letztlich eindämmen kann. Es ist ihm jedoch gelungen, Olympias durch die Darlegung des Phänomens der Traurigkeit und den entschiedenen Maßnahmen bei einer Bewältigung des Trübsinns zu ermöglichen, nicht nur das schmerzliche Erleben angesichts eines Leides heilend bearbeiten zu können, sondern ebenfalls eine wirksame indirekte Beschäftigung mit der Todesangst möglich zu machen, indem die Traurigkeit besiegt wird. Die verheerenden Auswirkungen der Traurigkeit haben sehr viel Ähnlichkeit mit den Wirkungen des Todes auf die menschliche Seele. Der Tod bleibt unverrückbar Bestandteil des Lebens, die traurige Verdrossenheit hingegen kann jedoch überwunden werden, wenn sie bekämpft wird. Auf diese Weise kann es möglich werden, nicht nur das eigene Lebensgefühl wieder in eine Weite zu führen, sondern ebenso die Seele des Menschen aus einer als tödlich erfahrenen Hoffungslosigkeit zu befreien. Eine Widerstandskraft kann nur vollends auf eine heilsame Wirkung hin belebt werden, wenn die Problemlage zutiefst erfasst worden ist und die aus dem Schmerz entstehenden Gefahren für die seelische Gesundheit schonungslos offengelegt werden. Johannes beschreibt Olympias eindringlich die zerstörerischen Kräfte des Trübsinns, damit sie erkennt, dass alle Spannkraft der Seele vonnöten sein wird, um der tödlichen Konsequenz, sich das Leben zu nehmen, die in der Traurigkeit verborgen ist, zu entgehen. Sein Aufruf „Tue dir Gewalt an“ macht unmissverständlich deutlich, dass alle Kraftreserven mobilisiert werden müssen. Damit möchte er die Konzentration von der „Oberfläche“ der Ereignisse auf das schwerwiegendere Problem der Verdrossenheit im Inneren lenken, gegen das es mit aller Entschiedenheit anzugehen gilt. Um die geistig-emotionalen Kraftquellen ins Bewusstsein zu heben, knüpft Johannes an die tragende Geistes- und Glaubenswelt von Olympias an. Er stellt ihr

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Personen und Ereignisse aus den Schriften der Bibel vor ihr geistiges Auge, weil er darum weiß, wie viel diese ihr bedeuten und für sie Vorbild bei ihrem eigenen Lebensentwurf sind. Er bringt ihre belastete Seele auf diese Weise wieder in Bewegung, indem er an tragende Gefühle aus der Vergangenheit anknüpft, die bei Olympias vor allem mit ihrem Glauben verbunden sind. Es gilt somit, das anzusprechen, was die Seele des Leidenden schon immer maßgeblich bewegt und getragen hat. Da sehr viele Ereignisse in der Bibel archetypische Inhalte in sich bergen, ist es nicht ausgeschlossen, dass diese Erzählungen, die Gefühle eines weniger im Glauben Verwurzelten auf gleiche Weise in hilfreiche und zuversichtliche Bewegung bringen können. Eine weitere wichtige Hilfestellung sieht Johannes darin, das Urvertrauen in das Dasein anzusprechen. Dabei ist es wichtig, Bilder und Erinnerungen zu benennen, die gegenwärtig erfahren lassen, dass wir im Dasein letztlich mehr geführt werden, als dass wir unser Leben autonom bestimmen können, und dass zudem erkannt wird, dass bereits Leidenspunkte bewältigt in den eigenen Lebensvollzug integriert werden konnten. Ein wichtiges Ziel liegt für ihn zudem in der Beachtung oder Konzentration darauf, das Dasein für einen unerwarteten Ausgang offen zu halten. Gerade mit der Zuversicht auf ein unerwartetes hilfreiches Geschehen kann der gegenwärtigen Sinnlosigkeit und scheinbaren Trostlosigkeit die Endgültigkeit genommen werden. Auch wenn es auf den ersten Blick paradox erscheinen mag, in Anbetracht eines desolaten Zustands der Seelenkräfte die Stärke und Fähigkeiten des Notleidenden anzusprechen, so ist doch tatsächlich die wesentliche „Leistungsfähigkeit“ nicht verschwunden, sondern nur im Moment nicht einsetzbar oder verfügbar, weil Stärken und Fähigkeiten verschüttet sind. Und so lässt Johannes in seinem vielfältigen Bemühen nicht nach, Olympias eigene Verdienste, Tugenden und Charakterstärken zu beschreiben, damit sie sich daran erinnert und erkennen kann, welche Tugend gerade jetzt in erster Linie wieder gepflegt werden muss und welche Stärke wieder zum Leben erweckt werden soll. Dabei geht es ihm nicht nur um einzelne Benennungen, sondern er möchte durch die Ausführlichkeit seiner Darlegung brachliegende Energien bei ihr neu entzünden. Die dialogische Weise – hier in Form eines Briefwechsels – scheint unerlässlich zu sein, um die Kreativität im Denken und Handeln innerhalb einer traurigen Verdrossenheit wieder spürbar werden zu lassen. Zum einen ist es wichtig, denjenigen aufzufangen, der sich verstärkt mitteilen möchte, zum anderen ist der durch die Traurigkeit entstehenden Tendenz zur aussichtslosen Verschlossenheit entgegenzuwirken. Durch gemeinsame seelische Berührungen können Energien übertragen werden, die es dem Gebeugten ermöglichen, sich wieder aufzurichten, indem er wahrnimmt, dass ihn besorgte und liebevolle Augen im Innen und Außen betrachten. Ein solches Beziehungsgeschehen, sollte „Aufforderungen zur Mithilfe“ sowie Aufgaben beinhalten, die zu bewältigen sind und eine Form von Gehorsam nahe legen, die das Hören in den Mittelpunkt stellt.

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Udo Manshausen

Wenn die Ratgebung des Johannes in ihrer Gesamtheit wirklich ernst genommen werden soll, darf sein Grundanliegen eines maßgeblichen Vertrauens in Gott und seiner Hilfe in verhängnisvollen Lebensumständen nicht nur nicht außer Acht bleiben, sondern gerade die Zuversicht in Gott bildet für ihn das entscheidende Fundament, um durch Gebet und Dank an Gott die tyrannische und tödliche Traurigkeit besiegen zu können.

Literatur Conrad H. (Hg.) (1918), Des Sokrates Verteidigung (Apologia Sôkratous), in: Platons ausgewählte Werke. Deutsch von F. Schleiermacher. In fünf Bänden, München: Georg Müller Verlag. Reithmayr Fr. X. (Hg.), Johannes Chrysostomus: Ausgewählte Schriften Bd. 1, in: Bibliothek der Kirchenväter, Bd. 3, Kempten 1869. Thalhofer V. (Hg.) (1876), Johannes Chrysostomus: Ausgewählte Schriften Bd. 3, in: Bibliothek der Kirchenväter, B. 63, Kempten 1879. Pieper J. (Hg.) (1957) Thomas von Aquin. Auswahl, Übersetzung und Einleitung von J. Pieper, München: Kösel Verlag.

Justine Allain Chapman

Von der Widrigkeit zum Altruismus und darüber hinaus: Johannes Cassianus nimmt einen Resilienzprozess vorweg

Studien zu den Lebensläufen resilienter Menschen beschreiben einen Prozess des Wachstums von Widrigkeit hin zu Altruismus und weisen auf einige der Wege hin, wie es zu einer solchen Transformation kommen kann. Die Tradition der Wüste, auf die gebaut wurde und die den Mönchen Südgalliens durch Johannes Cassianus’ Schriften in Unterredungen mit den Vätern (Collationes patrum) und Von den Einrichtungen der Klöster (De institutis coenobiorum et de octo principalium vitiorum remediis) im frühen 5. Jahrhundert als Modell für das Mönchsleben präsentiert wurde, stellt ein Modell des Wachstums dar, welches den Kampf mit Widrigkeiten und das Heil durch Altruismus in sich birgt sowie eine Vision, die den Menschen sowohl über Widrigkeiten als auch über den Altruismus hinausführt. Resilienz ist eine Eigenschaft, die von Menschen entwickelt wird, die offen sind und angesichts von Widrigkeiten Motivation zur Veränderung zeigen. Resiliente Menschen nehmen die Mühe auf sich, mit den Umständen in ihrem Leben derart umzugehen, dass sie durch diese Erfahrungen persönlich gestärkt werden. Resiliente Menschen lassen sich in drei zentralen Punkten so beschreiben: sie haben Widrigkeiten bewältigt, sie zeigen Beständigkeit darin, sich nicht vernichten zu lassen, und sie sind in der Lage, für sich und ihr Leben einen neuen Sinn zu bestimmen (man könnte hier von drei „B“s sprechen: Bewältigung, Beständigkeit, Bestimmung von Sinn1). Schlüsselfaktoren, die Resilienz ermöglichen, sind die Fähigkeiten, sich auf Schwierigkeiten einzulassen, das Selbst zu stärken und Selbstdisziplin zu üben sowie gesunde Beziehungen zu entwickeln. Resilienz bedeutet mehr als Überleben um jeden Preis. Viel mehr bezeichnet Resilienz ein Erstarken, das daraus entsteht, Widrigkeiten zu erfahren und zu bewältigen. Das hat auch eine moralische Komponente und ist verbunden mit Annahmen darüber, worin ein „gutes Leben“ und „Reife“ begründet sind. Gina O’Connell Higgins hat in ihrer Forschung darüber, wie vierzig resiliente Erwachsene eine grausame Vergangenheit bewältigt haben, die Fähigkeit resilienter Men-

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Entsprechend im Englischen die 3 „C“: „to cope“, „to be constant“, „to construct“.

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schen, auf gute Weise zu lieben („love well“), als charakteristische und höchstwichtige Eigenschaft für die Bestimmung von Resilienz hervorgehoben.2 Forschungsarbeiten über die spirituelle Resilienz von Menschen, die mit einer lebenslangen Behinderung ein gutes Leben führen, bauten auf Higgins’ „Loving Well“-Skala und auf der Selbstwertgefühl-Skala von Rosenberg auf, sowie auf einer Lebenszufriedenheit-Skala, die speziell für diese Studie entwickelt wurden, um für die Studienteilnehmer passende Kriterien für „gutes Leben“ zu erhalten. Die Kategorie des guten Lebens umfasste Ansehen, das man dadurch erwarb, dass man einen wichtigen Beitrag auf dem Feld seiner Bestrebungen leistete, und schlossen ein, eine zufriedenstellende private Beziehung von einer Dauer von mindestens fünf Jahren geführt zu haben, sowie davon berichten zu können, sich am eigenen Leben zu erfreuen und es für wertvoll zu erachten.3 Jene Personen, die durch Widrigkeiten gestärkt wurden, sind aber nicht nur diejenigen, die auf gute Weise lieben und leben, sondern sie werden auch durch ihr Engagement in altruistischen und mitfühlenden Tätigkeitsbereichen charakterisiert. Obwohl sie durch Situationen geprägt wurden, über die sie keine Kontrolle oder die Kontrolle verloren hatten, und obwohl sie durch andere Personen Leid erfahren hatten, haben sie die Fähigkeit erlangt, anderen durch selbstloses und mitfühlendes Handeln zu helfen, zum Beispiel im Bereich einer Mentorentätigkeit oder in Pflegeberufen. Der Großteil von Higgins’ Forschungsteilnehmern (85 %) war in sozialen und politischen Aktivitäten engagiert und mehr als die Hälfte arbeiteten als Therapeuten. Es gab keinen augenscheinlichen Grund anzunehmen, dass die von ihr untersuchten Personen stärker in helfenden Berufen tätig waren als andere.4 Auch Clarke und Cardman fanden heraus, dass eine signifikante Anzahl der befragten Personen in verschiedenen Arten der Betätigung engagiert waren, was ein Mittel zusätzlichen Empowerments war und aus dem Wunsch erwuchs, Wissen, Fertigkeiten und Strategien zu teilen.5 Der Resilienzprozess erfordert Aufmerksamkeit für das Selbst in Beziehung zu anderen, sowie die Fähigkeit, gute Beziehungen aufzubauen. Ein Selbstbewusstsein angesichts von Widrigkeiten wieder aufzubauen, setzt voraus, dass wir Re2

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Gina O. C. Higgins, Resilient adults: overcoming a cruel past, Jossey-Bass, San Francisco 1994, p. xiii. Katherine M. Clarke, Francine Cardman, Spiritual Resilience in People Who Live Well with Lifelong Disability, „Journal of Religion, Disability and Health“, 2002, No. 6, pp. 25–26. Die Skala für Lebenszufriedenheit ist eine Selbsteinschätzungs-Skala in vier Punkten zu fünf Bereichen; Rosenbergs Selbstwertgefühl-Skala (1989) ist ein häufig verwendetes EigenberichtMessinstrument, welches ein allgemeines Maß an Selbstwertgefühl ermittelt, und Higgins’ Gute-Liebe-Skala (1994) ermittelt die Dauer einer Ehe oder festen Beziehung sowie das Bestehen von auf wechselseitig befriedigenden und reziproken Freundschaften mit einer Dauer von mindestens drei Jahren. Higgins, a. a. O., p. 228. Clarke et Cardman, p. 33.

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spekt und Lob von anderen empfangen, dass wir den Kontakt mit jenen möglichst vermeiden, die uns klein machen, und dass wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten, was wir in frühen Jahren über unser Selbst gelernt haben. In Beziehungen Grenzen zu setzen, einschließlich Grenzen, die Konfrontation betreffen, ist von entscheidender Bedeutung für die Persönlichkeit.6 Higgins fand heraus, dass die Vision von einem besseren Leben bei Personen, die ein Kindheitstrauma erlebt haben, durch den Glauben an die Bewältigung und das Vertrauen in Beziehungen charakterisiert war.7 Diese Vision hielt über das Trauma selbst hinaus an, indem der resiliente Mensch zu einer Veränderung bereit blieb – sowohl in Hinsicht auf persönliche Heilung und Wachstum als auch in dem Sinne, in der Gemeinschaft durch soziale und politische Aktivitäten Veränderung anzustoßen. Die resilienten Menschen sahen sich selbst für ihre Regeneration verantwortlich, und sie waren motiviert zu mehr, sie gaben sich nicht zufrieden mit einer Lebensperspektive nach dem Motto „unglücklich, aber klüger“.8 Sich mit Schwierigkeiten weiterhin auseinanderzusetzen und daran zu glauben, dass das Leben diese Mühen, selbst Jahre nach dem erlittenen Trauma, wert ist, sind Teil davon, was einen resilienten Menschen kennzeichnet.9 Die Resilienz-Literatur beschreibt also einen Wachstumsprozess von der Widrigkeit zum Altruismus, der verbunden ist mit Selbsterkenntnis und mit der Fähigkeit, gesunde Beziehungen einzugehen. Anstrengung ist ein integraler Bestandteil des Wachstums, und resiliente Menschen sind motiviert, sich darauf einzulassen, ihre Vision von liebevollen Beziehungen weiterzuverfolgen.

Widrigkeit in Altruismus verwandeln Auch wenn sie in ihrer Kindheit und danach viele schmerzvolle und traumatisierende Erfahrungen gemacht haben mögen, haben resiliente Menschen die Fähigkeit, diese Traumata in verschiedene Ausdrucksformen von Erkenntnis, Mitgefühl und Erneuerung zu verwandeln.10 Die Resilienzforschung beschreibt einen Weg von Widrigkeit zu Altruismus und gibt Hinweise, wie es zu diesem Prozess kommt. Diese Hinweise schildern eine Wegstrecke aus, die vom Akzeptieren von Widrigkeiten ausgeht und zur Subjektwerdung führt, dazu, dass man ein handelndes

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Frederic F. Flach, Resilience: how to bounce back when the going gets tough!, Hatherleigh Press, New York 1997, ch.12; Higgins, p. 287. Higgins, p. 171. Ebd., p. 4, 131. Vgl. Sybil Wolin, Steven J. Wolin, The resilient self: how survivors of troubled families rise above adversity, Villard Books, New York 1993, p. 6. Robert J. Lifton, The protean self: human resilience in an age of fragmentation, BasicBooks, New York 1993, p. 7.

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Subjekt wird statt ein Objekt. Das wird im therapeutischen Kontext oft durch den Prozess des sogenannten „Reframings“, des Umdeutens der eigenen Situation innerhalb eines neuen, veränderten Rahmens, erreicht. Die Entwicklung von Empathie führt zusammen mit einer inneren Vision, wie das Leben sein könnte, zu altruistischem Handeln, und die daraus erwachsende Energie ermöglicht Heilung. Therapie in ihren unterschiedlichen Formen ist für viele resiliente Menschen ein wichtiger Aspekt im Heilungsprozess, und das wird auch von den zahlreichen Psychiatern und Therapeuten betont, die über Resilienz publizieren.11 Higgins hält fest, dass dem Großteil der Personen in ihrer Untersuchung viele Therapiejahre geholfen haben, und dass die meisten berichteten, dass diese unbedingt notwendig waren.12 Eine Zweierbeziehung, die von bedingungsloser positiver Achtung und von Vertrauen geprägt ist, kann es einem Menschen mit Traumaerfahrung ermöglichen, wieder Vertrauen in andere menschliche Beziehungen zu entwickeln, indem er das vergangene Trauma anspricht und nach Heilung und Wachstum strebt. Zum Teil erwächst Heilung schlicht daraus, mit jemandem zusammenzusitzen, der auf einer non-verbalen, körpersprachlichen Ebene offensichtlich entspannt wirkt, Selbstwertgefühl zeigt, für andere Sorge trägt und nicht allein auf sich selbst konzentriert ist.13 Dem Prozess des Reframings kommt besondere Bedeutung zu. Reframing ermöglicht Traumaopfern, ihre Erfahrungen aus einem breiteren Blickwinkel neu zu betrachten; das kann zum Beispiel bedeuten, dass jemandem die Erkenntnis möglich wird, dass er als Kind beschützt werden hätte sollen und dass er nicht die Schuld dafür trägt, was ihm geschehen ist. Sybil Wolin und Steven Wolin skizzieren auf Basis des Reframings einen Resilienzprozess für Personen, die ein Trauma erlebt haben. Dieser baut darauf auf, bei diesen Personen nach Resilienz nicht zu suchen, indem man auf Belastungen und Beschädigungen fokussiert, sondern indem man ihre Moral, ihre Erkenntnisse und ihre Entschlusskraft in den Blick nimmt. Die Autoren empfehlen Überlebensstolz statt Opferfalle, und das bedeutet, dass man das Ineinander von Verletzung und Heilung, Niederlage und Triumph, Angst und Mut versteht und sich von einer Vergangenheit und den mit ihr verbundenen Fehlern und Schwächen löst, die einem die Energie raubt.14 Sie raten im Sinne der Schmerzminderung und einem möglichen Reframing auch dazu, nicht daran zu glauben, dass man sich besser fühlen wird, wenn man die erfahrene Beschädigung wieder und wieder betrachtet. Das hält nur die Vergangenheit lebendig, verstärkt den Schmerz und wird einen auch nicht daran hindern, ständig seine Eltern zu beschuldigen, einen verletzt zu haben. Es schürt lediglich weiter

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Zum Beispiel Frederic Flach und Steven Wolin. Higgins, p. 333. a. a. O., p. 327. Wolin, p. 7.

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den Zorn eines Menschen und verschärft die Bindung an die problembelastete Familie.15 Zu einer Umdeutung der Situation kommt es dann, wenn der oder die Betroffene mit entsprechender Distanz ein größeres Bild sehen kann, in welchem die Verletzungen nicht mehr hervorstechen und die Kräfte offensichtlich werden können, sodass er oder sie sich selbst nicht als besiegtes Opfer, sondern als resiliente Person wahrnimmt, die Widrigkeiten bewältigt hat und bestimmte Stärken besitzt, die aus dieser Erfahrung hervorgehen. Dies ist ein kontinuierlicher Prozess; der resiliente Mensch ringt sein ganzes Leben lang mit Angst und Depression.16 Der Prozess der Umdeutung und der Wiederherstellung umfasst auch ein Bekenntnis zum Altruismus, das sich vom Einfühlungsvermögen resilienter Menschen herleitet. In Higgins’ Studie erscheint die Selbstlosigkeit anderen Menschen gegenüber als charakteristisch für resiliente Menschen, und diese Selbstlosigkeit rührt von ihrer Selbstwahrnehmung und ihrer Empathiefähigkeit her. Von Robert Lifton wird Empathie als eine Qualität resilienter Menschen definiert, die ein „Dezentrieren“ miteinschließt, also die Fähigkeit, so weit vom eigenen Beteiligtsein zurücktreten zu können, dass es möglich wird, sich in jemand anderen hineinzuversetzen. Wie Lifton feststellt, setzt Dezentrieren voraus, dass eine Person vorher zentriert gewesen ist; ein fragmentiertes Selbst jedoch ist unzentriert und kämpft damit, sich selbst zusammenzuhalten.17 Therapeutische Arbeit, insbesondere das Umdeuten traumatischer Erfahrungen, kann die Entwicklung von Empathie ermöglichen. Resiliente Menschen bringen sich nicht nur aufgrund ihrer Empathie und ihres Mitgefühls in altruistischen Aktivitäten ein, sondern sie berichten auch, dass die eigene Heilung durch das Helfen gefördert wird. Altruismus, argumentiert Higgins, hat eine transformative Kraft und stellt für resiliente Menschen eine bessere Alternative zu Selbst-Absorption oder Selbstaufopferung dar.18 Das anhaltende Wohlbefinden resilienter Menschen, sagt sie, hat seine Verankerung im starken Altruismus. Nicht nur intensive Freude und ein Gefühl spiritueller Zufriedenheit leiten sich bei resilienten Menschen aus dem Helfen ab, sondern es spielt auch eine wichtige Rolle in der Heilung. Steven und Sybil Wolin stellen fest, dass das Helfen im Heilen eine wichtige Rolle spielt. In der Aufzählung von sieben Resilienz-Faktoren nennen sie Moral als siebten und letzten Resilienz-Faktor; während sie jeden der anderen ResilienzFaktoren als auf die Wiederherstellung des verletzten Selbst abzielend beschrei-

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a. a. O., p. 51. Higgins, p. 130. Lifton, p. 205–206. Higgins, a. a. O., p. 227–228.

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ben, reicht Moral weiter und hat zusätzlich zur Wiederherstellung des verletzten Selbst zum Ziel, auch die Welt zu verbessern.19 Die Kraft oder Energie des altruistischen Handelns ermöglicht Heilung. Steven und Sybil Wolin machen auf die regenerierende Kraft der Moral aufmerksam, auf moralische Energie als eine tragfähige Kraft, die Traumaopfer aus dem Abwärtssog der schwierigen Umstände herausheben kann.20 Richardson führt aus, dass resiliente Reintegration ein erhöhtes Maß an Kraft für Wachstum benötigt, und dass die Quelle dieser Kraft laut Resilienztheorie eine spirituelle ist, dass Resilienz immanent ist.21 Higgins beschreibt Heilung als Veränderung durch eine spirituelle Kraft, die in der Öffentlichkeit sicht- und nachweisbar ist. Sie beschreibt weiters, wie Heilung durch vier allgemeine Dynamiken angetrieben wird. Die erste ist, „zu geben, was du nicht bekommen hast“ und zu lernen, etwas zu erhalten, indem man die Rolle des Gebenden in wichtigen Beziehungen übernimmt. Dies ist allerdings eher eine korrektive innere Dynamik, schließt doch die Sorge für sich selbst oder das Vermögen, zu gesunden, nicht die Tendenz aus, leichter zu geben als zu empfangen. „Empfangen durch Geben“ ist die zweite innere Dynamik des Handelns, und das schließt auch ein Bereinigen der Vergangenheit auf symbolische Weise mit ein. Auch wenn man seiner Herkunftsfamilie in der Vergangenheit nicht helfen konnte und es vielleicht auch in der Gegenwart nicht kann, erneuert die Fähigkeit, anderen zu helfen, das Vertrauen darauf, dass es Heilung gibt und man selbst zu jenen gehören kann, die Heilung anbieten. „Zu betrauern, was niemals sein wird“ ist eine Dynamik, die wesentlich für die Heilung durch Altruismus ist, ebenso wie die Fähigkeit, „Dankbarkeit für das Empfangene“ auszudrücken. Das Tätigsein wird angetrieben vom Zorn über unverdiente Mühsal, die sich in den Entschluss wandelt, sowohl eine leidende Welt als auch die beschädigten Leben der resilienten Menschen zu verbessern.22 Die Notwendigkeit, die Energien auf die Heilung des Selbst zu konzentrieren, bedeutet, dass Vergebung im Heilungsprozess nicht als wichtig erachtet wird. Im Gegenteil kann Vergebung Heilung blockieren, weil es die Energien auf den Verursacher der Misshandlung konzentriert und Heilung behindert, während ein Verstehen der Umstände und des Täters hilfreich für eine Umdeutung im Sinne des Reframing sein kann und der betroffenen Person erlaubt, ihrer Heilung näher zu kommen.23

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Die anderen sechs Resilienz-Faktoren sind Erkenntnis, Unabhängigkeit, Beziehungen, Initiative, Humor und Kreativität. Wolin et Wolin, p. 184, 187–188. Glenn E. Richardson, The metatheory of resilience and resiliency, „Journal of Social and Clinical Psychology“, 2002, No. 58 (3), p. 313. Higgins, p. 234 –250. Higgins, p. 245.

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Die Vergangenheit im Sinne eines Reframing umzudeuten und die Energien dabei auf Heilung zu richten, das Vertrauen in den Vorgang der Therapie und in die therapierende Person, ein moralisches Leben in den Beziehungen zu anderen, die zerstörerische Herkunftsfamilie eingeschlossen, sowie anderen Hilfe und Unterstützung zu geben: das sind wesentliche Faktoren, die es resilienten Menschen ermöglichen, Widrigkeiten zu überwinden wie auch gestärkt zu werden und auf gute Weise zu lieben und zu leben. Eine innere Vorstellung davon, wie Dinge anders sein könnten, die einer Person in widrigen Situationen Kraft gibt, spielt ebenso eine wichtige Rolle und ermöglicht eine alternative Perspektive, die Antrieb und Wahlmöglichkeiten bietet, wodurch wiederum Bewältigung, Beständigkeit und Wiederherstellung gefördert werden. Higgins verweist auf eine Vision von „Vertrauen in Beziehungen“, welche resiliente Menschen anspornt, mit der Krise zu kämpfen und sie zu bewältigen. Die Arbeit des Umdeutens in der Therapie verweist auch auf die Bedeutung von Vision in dem Sinn, ein größeres Bild oder einen alternativen Blickwinkel entwickeln zu können. Die Erfahrungen Viktor Frankls zeigen beispielhaft, wie eine Person, die von innen her mit einer Vision der Liebe ausgestattet ist, in schwierigsten Situationen durchkommen kann. In seinem Klassiker Man’s Search for Meaning 24 beschreibt Viktor Frankl den Kampf ums Überleben und die Bewahrung des Mensch-Seins in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern während des Zweiten Weltkriegs. Frankl beschreibt, wie er, beraubt um jeglichen Besitz und ohne Trost, ein Verhalten zu vermeiden versuchte, das ihn unter die Ebene des Menschlichen gedrückt hätte, und wie er Stärke aus dem Andenken an das unsichtbare Gesicht seiner Geliebten ziehen konnte. Für Frankl war es dadurch möglich zu überleben, dass er Sinn fand und sich bewusst war, dass dieser Sinn Teil seines Innenlebens war, durch seine Fähigkeit, die Einstellung zu seinen Lebensumständen zu wählen: Die Erfahrungen des Lagerlebens zeigen, der Mensch hat Handlungsfreiheit.25 Seine Resilienzfähigkeit hatte ihren Ort in der inneren Entscheidung, seine Inhaftierung als eine Prüfung zu sehen, und war befeuert durch ein Seelenleben, das durch die Vision der Liebe genährt wurde. Diese Übung der spirituellen Freiheit in Form der inneren Entscheidung, seine Haltung zum Lager selbst zu wählen, gab ihm Sinn und Ziel, und ließ ihn das Lager als eine seelische Prüfung erleben und nicht als einen Ort des bloßen Dahinvegetierens. Ein Lebensziel und ein Gefühl für Zukunft zu haben, war überlebenswichtig. Frankl stellte sich vor, dass er in dieser Zukunft Vorlesungen über die Psychologie des Konzentrationslagers halten werde. Ein Gefangener 24

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Auf Deutsch erschienen unter dem Titel „… trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“. In englischer Sprache erschien das Buch erstmals unter dem Titel From Death-Camp to Existentialism. [Anmerkung der Herausgeber]. Viktor E. Frankl, Man’s search for meaning: the classic tribute to hope from the Holocaust, Rider, London 2004, p. 74.

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war dem Untergang geweiht, wenn er seinen Glauben an die Zukunft verlor.26 Frankl beschreibt, dass Häftlinge in Konzentrationslagern im Allgemeinen im Gedanken an die Familie, die zu Hause wartet, und im Wunsch, ihre Freunde zu retten, Antrieb fanden, um am Leben zu bleiben. Bei Frankl selbst war es das geistige Bild seiner Ehefrau, das ihm half, zu überleben: „Ich führe Gespräche mit meiner Frau. Ich höre sie antworten, ich sehe sie lächeln, ich sehe ihren fordernden und ermutigenden Blick, und – leibhaftig oder nicht – ihr Blick leuchtet jetzt mehr als die Sonne, die soeben aufgeht. Da durchzuckt mich ein Gedanke: Das erstemal in meinem Leben erfahre ich die Wahrheit dessen, was so viele Denker als der Weisheit letzten Schluß aus ihrem Leben herausgestellt und was so viele Dichter besungen haben; die Wahrheit, daß Liebe irgendwie das Letzte und das Höchste ist, zu dem sich menschliches Dasein aufzuschwingen vermag. Ich erfasse jetzt den Sinn des Letzten und Äußersten, was menschliches Dichten und Denken und – Glauben auszusagen hat: die Erlösung durch die Liebe und in der Liebe! Ich erfasse, daß der Mensch, wenn ihm nicht mehr bleibt auf dieser Welt, selig werden kann – und sei es auch nur für Augenblicke –, im Innersten hingegeben an das Bild des geliebten Menschen. In der denkbar tristesten äußeren Situation, in eine Lage hineingestellt, in der er sich nicht verwirklichen kann durch ein Leisten, in einer Situation, in der seine einzige Leistung in einem rechten Leiden – in einem aufrechten Leiden bestehen kann, in solcher Situation vermag der Mensch, im liebenden Schauen, in der Kontemplation des geistigen Bildes, das er vom geliebten Menschen in sich trägt, sich zu erfüllen.“ 27 Obwohl er nicht wusste, ob sie noch am Leben oder tot war, war es die innere Betrachtung der Geliebten, die Frankl beschreiben lässt, wie die Liebe ihre tiefste Bedeutung im Seelenleben findet. Frankl hatte auf die erzwungene Gefangenschaft und das für das Leben im Konzentrationslager charakteristische Fehlen von liebe-, respekt- und gütevollen Beziehungen seine eigene Antwort, die innere Umkehr, Entscheidung und inneres Wachstum mit sich brachte, wobei ihm eine liebende Beziehung in seinem Inneren Stütze und Hilfe war. Wie wichtig eine Vision von Zukunft und von Liebe ist, wird durch Frankls Darstellung seines Überlebens im Konzentrationslager deutlich. Die Liebe, die er beschreibt, ist unabhängig von der Gegenwart und sogar vom Überleben der Geliebten. Liebe ist, was resiliente Menschen suchen und wertschätzen. Higgins beschreibt die Bedeutung liebevoller Beziehungen im Leben resilienter Menschen, wobei hier besonders Wechselseitigkeit, Sorge, Entwicklung in der Beziehung, die 26 27

Frankl, a. a. O., p. 82. Viktor E. Frankl, „… trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“, dtv, München 2003, S. 65–66.

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Fähigkeit, Konflikten standzuhalten, und Achtsamkeit gegenüber den eigenen Bedürfnisse hervorgehoben werden. Eine solche Liebe ist nicht sentimental, sondern achtet sehr darauf, dass Beziehungen persönliche Grenzen respektieren und es zu keiner unangemessenen Abhängigkeit kommt. Liebe ist nicht nur auf andere bezogen, sondern umfasst in der psychologischen Literatur auch Selbstbewusstsein, Selbstliebe sowie Sorge um das Selbst (self esteem, self love, self regard). Der Transformationsprozess von der Widrigkeit zum Altruismus im Leben resilienter Menschen beginnt damit, dass sie die Widrigkeit anerkennen und ihren eigenen Standort durch Umdeutung neu definieren. Das kann in einem therapeutischen Umfeld Jahre nach dem erlittenen Trauma oder in unmittelbarer zeitlicher Nähe geschehen. Empathie entwickelt sich dadurch, dass man sein Leben als handelndes Subjekt selbst in die Hand nimmt. Dies führt zu altruistischem Handen, das sich aus dem Seelenleben speist und Kraft für die Heilung liefert.

Überleitung Studien über Resilienz beschreiben, wie Transformationsprozesse von Widrigkeit zu Altruismus ablaufen können, in denen die Heilung des Selbst Teil des Prozesses ist. Die Resilienzliteratur macht darauf aufmerksam, dass es eine Vielfalt von Visionen gibt, die resilienten Menschen zur Verfügung stehen. In der christlichen Pastoralpraxis ist es ein klares Ziel, Menschen in die Lage zu versetzen, durch Widrigkeiten gestärkt und von ihnen geheilt zu werden. Es scheint notwendig, Menschen zu befähigen, Widrigkeit anzuerkennen und als Mittel zum Wachstum zu sehen, Menschen zu ermöglichen, einen Sinn dafür zu haben, sich selbst als Subjekte ihres Lebens zu positionieren und zu verstehen, dass altruistisches Handeln durchaus auch ein Mittel sein könnte, um andere Menschen zu heilen, Geistliche und Pastoren eingeschlossen. Einer sentimentalen Frömmigkeit, die Leiden leugnet und das Selbst nicht als wesentlich erachtet, wird es nicht gelingen, Menschen in Not zu stärken. Leben und Werk des Johannes Cassianus bieten eine theologische Ressource, welche die Bedeutung von Widrigkeiten für das Leben von Christen zu verstehen hilft, sowie ein praktisches Programm, durch welches sie gestärkt werden, für sich selbst und für die Welt, aber in erster Linie um in Heiligkeit zu wachsen. Diese gehen über Altruismus hinaus und umfassen Heilung und eine Welt ohne Elend.

Johannes Cassianus: Ein Programm für Wachstum Johannes Cassianus beschreibt, ausgehend von seiner Erfahrung der Mönchsgemeinschaften in der ägyptischen Wüste, einen Prozess menschlichen Wachstums, der auf Liebe gerichtet ist, und der auch eine Fokussierung von Energie, Vertrauen

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in den anderen als Teil des Wachstumsprozesses, wohltuende Beziehungen und altruistische Aktivität erfordert. Sein Modell umfasst den Kampf mit Widrigkeiten, Heilung, die aus Altruismus erwächst, und eine Vision, die den Menschen über beides, Widrigkeiten und Altruismus, hinausträgt. Die Wüste, durch die er geformt worden ist, ist selbstverständlich nicht nur eine Tradition und Landschaft berühmt in der biblischen Literatur, sondern sie ist eine Metapher für einen Ort, an dem man Widrigkeit erfährt und an dem man im Ringen um physisches, spirituelles und psychologisches Überleben Gott oder einer Energie begegnet, die einen umformt und einem eine neue Richtung gibt. Cassianus schreibt aus seinen Erfahrungen mit der mönchischen Tradition der ägyptischen Wüste heraus, die er gegen Ende des vierten Jahrhunderts zwei Mal mit seinem Freund Germanus besucht hatte. Cassianus baut auf den Überlieferungen der Wüste auf, die durch Athanasius im Leben des Heiligen Antonius und den Weissagungen der Altväter (Abbas) und Altmütter (Ammas), der Apophthegmata Patrum, auch Alphabetikon genannt, bekannt wurden. Cassianus verschreibt und empfiehlt ein Lebensrezept, das im Resilienzprozess seinen Nachhall findet, und er legt eine Untermauerung christlicher Theologie vor, die der Wirklichkeit und Wichtigkeit von Widrigkeiten Beachtung schenkt und gleichzeitig die Vision der, wie er es nennt, Reinheit des Herzens vorsieht, als Quelle für das Seelenleben als auch für ein Modell guter Beziehungen. Über den Altruismus hinaus beachtet Cassianus auch die Qualitäten einer guten Beratung und Betreuung, die Entwicklung der Tugenden und die Vision von einer Zukunft, die Kraft gibt, in der vollkommene Liebe und Frieden herrschen, persönliche Streitigkeiten beendet sind und Altruismus keine Notwendigkeit mehr ist. Cassianus anerkennt die Gegebenheit und den Stellenwert von Widrigkeiten im menschlichen Leben. Widrigkeiten im menschlichen Leben sind Katalysator für Wachstum, und zwar Wachstum in eine bestimmte Richtung, in jene von Heiligkeit und Liebe. Cassianus stellt fest, dass die Berufung zum Klosterleben durchaus aus einer Widrigkeit kommen kann, und dass Belastungen den Menschen sein ganzes Leben lang bedrängen. Aber Widrigkeiten bedrängen Menschen nicht nur, sondern man kann sich auch ganz bewusst mit ihnen beschäftigen, etwa im Rahmen asketischer Praktiken des klösterlichen Lebens, wie etwa dem Fasten, aus denen Möglichkeiten für Wachstum und für ein Leben in Liebe zu Gott und zu anderen entstehen können. Gerade diese bewusste Suche nach Widrigkeiten mit dem Ziel des Wachstums wird von Richardson angesprochen, der festhält, dass eine Störung notwendig ist, um zu den Bestandteilen angeborener Resilienz zu gelangen, weil die biopsychosoziale Selbstregulation keinerlei Ansprüche hinsichtlich Fortschritt oder Wachstum stellt.28 Richardson empfiehlt Tätigkeiten, die Anstrengung einschließen, und schlägt vor, bereichernd wirkende geplante Störungen zur

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Richardson, p. 310–312.

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Auflösung von Stillstand einzusetzen, sodass Menschen sich auf die Suche nach dem Sinn und Zweck der Störung begeben können.29 Cassianus empfiehlt das asketische Leben. Cassianus’ Programm für Wachstum ist selbstverständlich im Kontext des christlichen Glaubens und der Theologie mit Gott als Quelle und Ziel aller Dinge verortet. Das Programm für Wachstum beginnt mit dem Wunsch, dem Ruf zu folgen, das Königreich Gottes zu suchen, indem Reinheit des Herzens erlangt werden soll. Dem Ruf zu folgen, bedeutet eine Entsagung von der Welt, beginnend mit der äußeren Person; hier ermöglicht die Bemühung um Disziplinierung des Körpers, sich auf das innere Selbst zu konzentrieren, wo das Laster überwunden und die Tugend gehärtet werden kann. Beziehungen mit anderen Christen und insbesondere eine vertrauensvolle und gehorsame Beziehung zu einem Älteren sind wesentlich für das Wachstum. Die Strenge des Lebens in der Wüste oder in der Gemeinschaft und der Askese sind schlicht die Mittel zum Zweck, Tugendhaftigkeit zu erlangen und resilient zu sein, das heißt, angesichts von Widrigkeiten gestärkt zu werden. Wir finden bei Cassianus den Kampf, das wohl ausgestattete und disziplinierte Selbst sowie Beziehungen als die zentralen Themen für den Wachstumsprozess, und diese Themen finden wir auch in den Lebensgeschichten von resilienten Menschen. Wie auch in der Resilienzliteratur beobachten wir, dass Anstrengung erforderlich ist, um die Energie auf ein einziges Ziel zu lenken – anfangs auf das Überleben, und dass der Ort dieser Anstrengung die innere Person ist. Äußere Umstände und Beziehungen wirken zwar prägend, aber weder der Mönch noch die resiliente Person sind durch sie definiert. Sowohl bei Cassian als auch in der Resilienzliteratur verweisen das menschliche Leistungsvermögen und die Erfahrung auf Möglichkeiten der Kreativität und auf Güte. Für Cassianus war solch eine bejahende Anthropologie strittig und führte ihn in einen Disput mit Augustinus im semipelagianischen Streit.

Widrigkeit Anstrengung ist ein Schlüsselthema bei Cassianus und in der Resilienzliteratur. Bei Cassianus ist sie ein unvermeidlicher Teil des menschlichen Lebens und für Wachstum unerlässlich. Dass Cassianus Wunder und Zeichen von Macht in seinen Beschreibungen der Wüstenältesten herunterspielt, verweist auf seinen Glauben, dass es für das Wachsen der Liebe keine Abkürzungen durch Wunder gibt.30 Das Ringen mit Widrigkeiten ist ein motivierender Faktor für Wachstum; Widrigkeiten

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Richardson, p. 319. John Cassian, The Conferences, trans. and annotated by B. Ramsey, Newman Press, New York 1997, 15: II, 1–2.

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zu erfahren wirkt als Katalysator und erfordert Veränderung, um diese zu überwinden. Cassianus stellt auf dreifache Weise dar, wie Widrigkeiten im Zusammenhang mit Berufung oder dem Ruf Gottes Wachstum in Gang setzen. Eine dieser Darstellungen bezieht sich auf den Beginn der mönchischen Reise, wo eine Person mittels einer Widrigkeit von Gott gerufen wird; die zweite bezieht sich auf den Moment, in dem Widrigkeiten über eine Person kommen, und die dritte hat zum Thema, wie Widrigkeiten mithilfe von Askese gesucht werden, damit der Kampf mit ihnen zu Wachstum führe. Für Cassianus beginnt das Mönchsleben mit einer Berufung oder einem Ruf, und Widrigkeit kann der Auslöser für Umkehr sein. Widrigkeit ist der dritte der drei Wege, durch die eine Person zu Gott und zum Wachstum gerufen werden kann. In der Dritten Unterredung „Über die drei Entsagungen“ identifiziert Cassianus drei Arten der Berufung. Die erste kommt direkt von Gott, so wie die Berufung Abrahams, dem aufgetragen wurde, aus seinem Heimatland und von seiner Familie zu fliehen, und jene des Heiligen Antonius, der die evangelische Vorschrift erhört, seinen gesamten Besitz den Armen zu geben. Die zweite Art der Berufung ist jene, bei der jemand durch die Lehre und das Beispiel anderer bewegt wird, und die dritte ist die Berufung aus der Entbehrung heraus. Durch Prüfungen dazu gebracht zu werden, das Mönchstum aufzunehmen, berichtet Cassianus, erscheint minderwertig und lau und ist ein unsicherer Beginn, doch es gibt auch solche, die nach einem besseren Einstieg lau geworden sind. Wesentlich ist, dass das Annehmen einer Berufung ein freiwilliger Akt ist. Eine Berufung, die durch Widrigkeiten geschieht, muss aber kein Nachteil sein, wie er anhand des Beispiels von Abba Moses zeigt, der aus Angst vor dem Tod in ein Kloster floh (nachdem er einen Mord verübt hatte), und am Beispiel des Heiligen Paulus, der plötzlich erblindete und scheinbar gegen seinen Willen auf den Pfad der Erlösung geführt wurde.31 Jede dieser drei Formen der Berufung hat ihr Echo in der Resilienzliteratur und in den Wegen, auf denen Menschen zu einem Wendepunkt in ihrem Leben gelangen. Ganz offensichtlich kann das Einsetzen einer Widrigkeit selbst die betroffene Person dazu bringen, nach Veränderung zu suchen, aber zu jedem Zeitpunkt in einer Periode der Not findet sich eine Einladung zur Bewältigung, zum Beständigsein und dazu, das eigene Leben und den Sinn des Selbst wiederherzustellen. Wenn man sich in Not befindet, kann allerdings Inspiration durch eine andere Person – durch ein Ersatzelternteil zum Beispiel – den Anstoß darstellen, eine andere Lebensform zu suchen, entsprechend der zweiten von Cassianus beschriebenen Art der Berufung. Bei näherer Betrachtung mag der erste Typus der Berufung, scheinbar direkt von Gott und ohne Bezug zum Kontext des menschlichen Lebens und seiner Zusammenhänge, vermischt sein mit menschlichen Faktoren wie Trauer

31

a. a. O., 3.V.3.

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oder Mitgefühl wie zum Beispiel im Fall des Heiligen Antonius. Dieser erste Typ der Berufung, direkt von Gott, muss jedenfalls nicht notwendigerweise aus Widrigkeiten entspringen. An seine Erörterung der drei Berufungen schließt Cassianus jene der drei Entsagungen an, die von denjenigen mit Eifer verfolgt werden müssen, die nach jener Herzensreinheit suchen, welche zur Vollkommenheit führt. Diese bestehen darin, auf Wohlstand und weltlichen Besitz zu verzichten; Lastern und körperlichen wie seelischen Neigungen zu entsagen; und unsere Aufmerksamkeit von allem, was gegenwärtig und sichtbar ist, abzuziehen und uns nur der Kontemplation dessen zu widmen, was kommen wird, sowie jene Dinge zu begehren, die unsichtbar sind.32 Der Berufung zum Mönchstum zu folgen und solche Entsagungen auf sich zu nehmen, erfordert große innere Bereitschaft. Das Leben im Gebet und das Lesen der Schrift sollte den Mönch in der Kontemplation des Unsichtbaren unterstützen. Das erinnert an Frankls Kontemplation des Gesichts seiner Geliebten, und tatsächlich gibt es Parallelen zwischen dem Zweck der Entsagungen des Mönchs und dem, was Frankl als etwas erfuhr, das ihm Überleben und Wachstum während seiner Gefangenschaft im Konzentrationslager ermöglichte. Das reine physische Überleben war das erste Gebot, dem Frankl gehorchen und das er erreichen musste. Er beschreibt eine Vielfalt von Faktoren, die ihm das ermöglichten. Ein absolut lebenswichtiger Faktor für das Überleben war die innere Motivation. Die vielen physischen Mühen, die mit den Qualen und den Härten des Lebens im Lager verbunden waren, konnten durch etwas überwunden werden, was Frankl als eine Verbindung zwischen Körper und Seele beschreibt, in welcher das Seelenleben das physische Leben schützt. Er beschreibt, wie jene Menschen in Konzentrationslagern, die über ein reiches Geistesleben verfügten, überlebensfähiger waren, als man aufgrund ihrer physischen Verfassung annehmen konnte, weil sie sich in ein Leben inneren Reichtums und spiritueller Freiheit zurückziehen konnten.33 Aufrichtiger religiöser Glaube war Teil dieses inneren Lebens und fand Ausdruck in improvisierten Messen und in Gebeten in der Ecke einer Baracke. Wenn die Motivation zu überleben hingegen verloren ging und ein Gefangener das Vertrauen in seine Durchhaltekraft aufgegeben hatte, kam dieses selten zurück, und der Tod folgte bald darauf.34 Auch die Selbstwahrnehmung ermöglichte Überleben. Frankl beschreibt Leiden als etwas, was den menschlichen Geist und die Seele völlig ausfüllt und das Selbstgefühl schwächt, unabhängig davon, ob das Leiden groß oder klein ist.35 Das Ankämpfen und der Sieg gegen das Bild eines Selbst, das auf körperliches Dasein

32 33 34 35

a. a. O., 3.VI.3 Frankl, p. 47. a. a. O., p. 22. a. a. O., p. 55.

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reduziert ist, das als Objekt behandelt wird, das vertilgt werden soll und wertlos ist, war folglich schwierig, aber überlebendnotwendig, um nicht das Gefühl zu verlieren, ein Individuum mit einer Seele, mit innerer Freiheit und persönlichem Wert zu sein.36 Für Cassianus können Widrigkeiten Auslöser sein für den Ruf zu einer Umkehr, die bewusst die Widrigkeit der Askese nützt, um den Menschen im Dienste Gottes zu stärken, das Laster auszumerzen und Tugendhaftigkeit zu erlangen. Diesem Ruf zu folgen, muss freiwillig geschehen, und jene, die ihm folgen, besitzen hohe innere Bereitschaft. Das Bekenntnis zu einem solchen Leben ist im theologischen Kontext der Liebe Gottes für die Schöpfung und Gottes Wunsch nach Erlösung aller zu verorten.

Die Reinheit des Herzens Die Bedeutung einer Vision von einer anderen Zukunft geht in Frankls Darstellung einher mit der Geduld und Disziplin, die es braucht, um dorthin zu gelangen. In anderen Kontexten könnte solch eine Selbstdisziplin als Veränderungsstrategie zum Ausdruck kommen. Cassianus hält nicht nur die Vision einer Zukunft in Gott bereit, sondern ein realistisches Ziel, mit dem sich weiterkommen lässt, während man mit dem Leben in der Welt ringt. Er nimmt eine Unterscheidung vor zwischen dem „Ende“ und dem „Ziel“ des Klosterlebens, damit der Mönch sich nicht entmutigen lässt, sondern auf seinem Weg bestärkt wird. Die erste der „Unterredungen“ – jene von Abba Moses – trägt den Titel „Über Absicht und Endzweck des Mönches“. In ihr unterscheidet Cassianus zwischen dem endgültigen und ewigen Ende des Mönchsberufs, welches das Königreich Gottes oder der Himmel ist, und dem Ziel, welches in der Reinheit des Herzens liegt. Ein Mönch braucht ein näheres Ziel als jenes des Himmels, welches zu fern ist. Cassianus verwendet Metaphern, um den Unterschied zwischen einem Ende und einem Ziel zu erklären. Ein Bauer, der nach einer guten Ernte als Ende strebt, tut dies, indem er auf das Ziel eines gut gemähten Feldes hinarbeitet; ein Geschäftsmann, der als Ende Wohlstand anstrebt, muss auch über die Mittel nachdenken, wie er Geld verdienen wird.37 Das Konzept von der Reinheit des Herzens ist bei Cassianus kein unveränderliches, und es kann auch mit den Bergiffen Heiligkeit, Vollendung, Kontemplation, spirituelles Wissen und Liebe beschrieben werden. Cassianus verwurzelt sein Verständnis von der Reinheit des Herzens in den Seligpreisungen, in denen diejenigen, die im Herzen rein sind, Gott schauen werden (Matthäus 5 : 8). Die Reinheit des 36 37

a. a. O., p. 60. Cassian, a. a. O., 3.IV.2.

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Herzens besteht aus den drei Aspekten der asketischen Reinigung, der Liebe sowie der Erfahrung der Befreiung von Sünde und der Herzensruhe.38 Obwohl für das Erreichen der Herzensreinheit alle möglichen asketischen Praktiken angewandt werden, wie zum Beispiel Fasten und Wachen, Lesen und Meditieren über die Schrift, sind diese nicht Selbstzweck.39 Sie dienen dem Zweck der Liebe. Die Erfahrung von tiefem inneren Frieden, der daraus entsteht, dass man alle ungerechtfertigten Begierden abgetötet hat und somit keine Angst mehr hat, durch schlechte Gedanken belästigt zu werden, die zu Lasterhaftigkeit führen, ist das Ideal der klösterlichen Vollkommenheit. Auch für resiliente Menschen ist es das Ziel, mit Körper und Seele zu ringen, um von der Sünde befreit zu werden, frei von Angst liebevolle Beziehungen begründen zu können und inneren Frieden zu gewinnen, auch wenn es hier kein Konzept von Vollkommenheit gibt. Da die Reinheit des Herzens das nahe und irdische Ziel ist, das der Mönch verfolgen muss, empfiehlt Cassianus, es auf dem direktesten Weg anzustreben.40 Cassianus empfiehlt somit das, was Autoren zur Resilienz bemerken – die Energie muss auf die Berufung zur Liebe gerichtet werden, und zwar mit Priorität. Was immer auch den Mönch zu dem Ziel führt, hat er mit all seiner Stärke zu verfolgen, und was immer den Mönch daran hindert, hat er als gefährlich und abträglich zu vermeiden.41 Überhaupt ist alles, was die Reinheit und Stille des Geistes stört, und möge es auch nützlich und notwendig erscheinen, als abträglich zu vermeiden.42 Für Cassianus muss die Berufung des Mönches zu Vollkommenheit, zu Freiheit und Liebe durch die Mühe der Selbstdisziplinierung über allem anderen stehen. Das ist vor allem deswegen so, weil die Reinheit des Herzens fortschreitend entsteht und somit auch abnehmen oder verloren gehen kann.43 Der benediktinische Theologe Columba Stewart beschreibt Cassianus als sowohl visionär als auch pragmatisch darin, wie er in seiner eschatologischen Orientierung versucht, Menschen zu befähigen, über die irdischen Aufgaben und Sorgen der Gegenwart hinauszublicken, gleichzeitig aber die vielfältigen Belastungen und den Druck des irdischen Daseins anerkennt.44 Dass Cassianus Brüche und Fragmentierung zugibt, zeigt sich – wie bei seinen Vorgängern – in seiner Behauptung, dass Reinheit keine Eigenschaft des Ungeprüften ist, dessen makelloser Zustand vor dem Verderben geschützt werden muss. Es handelt sich um eine Eigenschaft von Menschen, die vollkommen lebendig sind, trotz und wegen der Narben, die

38

39 40 41 42 43 44

Vgl. Columba Stewart, Cassian the monk, Oxford University Press, New York/Oxford 1998, p. 43. Cassian, 1.II.3. a. a. O., 1.IV.4 a. a. O., 1.V.3. a. a. O., 3.VII.4. a. a. O., 4.IV.1. Stewart, p. 40.

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dieses Leben unweigerlich hinterlassen hat.45 Stewart vertritt die Auffassung, dass alle auf Erfahrungen beruhenden Beschreibungen der Vollkommenheit bei Cassianus nahelegen, die zerstreuten Energien zu bündeln und auf das zu richten, was wahrhaftig wichtig ist.46 Cassianus vertrat eine bejahende Auffassung vom Menschen, und das ist auch der Grund, warum er sich an der Diskussion über Gnade und freien Willen beteiligt hat und warum es ihm gelingt, mit vernünftiger Begründung von einem Mönch zu verlangen, das Ziel der Reinheit des Herzens anzustreben. Er beschreibt die Seele, nachdem sie von der Sünde gereinigt wurde und ihren natürlichen Segen der Reinheit wiedererlangt hat, als eine Feder von luftiger Leichtigkeit, die von einem Hauch nach oben getragen werden kann.47 In seiner Erörterung der Lasterhaftigkeit in Von den Einrichtungen der Klöster (De institutis coenobiorum et de octo principalium vitiorum remediis) schlägt er allerdings hinsichtlich der Fähigkeit der Menschen, Tugendhaftigkeit zu erlangen, deutlich pessimistischere Töne an. Cassianus ist ein christlicher Theologe, und für seine Vision von menschlichem Wachstum wie für den betreffenden Prozess ist selbstverständlich die Gnade Gottes ein wesentliches Moment, ohne die niemand Wachstum, Heilung oder Rettung erfahren kann. Die Gnade, erklärt er, unterstützt das menschliche Bemühen, schützt vor unbekannten Gefahren und kann unseren Widerstand gegen Gott überwinden.48 Der Ausgangspunkt für Wandel im Leben resilienter Menschen ist das Ringen mit der Widrigkeit und die Bereitschaft, sich zu verändern. Wie wir bei Cassianus sehen, kann dies die Grundlage für die klösterliche Berufung sein. Wenn das nicht der Fall ist, kommt die Widrigkeit früh genug ins Spiel in Form der Askese, in deren Rahmen Mühen und Erschwernis zum Zwecke des Wachstums gesucht werden. Resiliente Menschen schöpfen Kraft aus der Vision, dass das Leben anders sein kann, und lernen, ihre Erfahrungen derart umzudeuten, dass sie selbst die handelnden Subjekte in ihrem Leben sind. Das Ringen allerdings geht weiter, häufig in Form von Angst und Depression. Cassianus’ Leitbild von der Reinheit des Herzens erlaubt es dem Mönch, ein Ziel zu verfolgen, bei dem sein Wachstum zentral ist, und ein theologisches Verständnis von Sünde und Erlösung zu haben, welches dem irdischen Leben und einer besseren Zukunft Rechnung trägt, indem es Umdeutung zulässt. Bereit zur Veränderung erkennen sowohl resiliente Menschen als auch Cassianus die Wichtigkeit von Beziehungen für das Wachstum.

45 46 47

48

a. a. O., p. 42. a. a. O., p. 46. John Cassian, The Institutes, trans. and annotated by B. Ramsey, Newman Press, New York 2000, 9.IV.1–2. a. a. O., 12.XVIII.

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Der Mönch, der bereit ist, die Reinheit des Herzens anzustreben, konzentriert seine Energien auf die Widrigkeit der Askese, um zu wachsen. Das Wachstum soll auf die Liebe zu Gott und auf die Liebe zu anderen gerichtet sein, und nicht ein persönliches Streben nach eigenem Heil auf Kosten anderer. Cassianus stellt ein Modell für gute, wohltuende Beziehungen auf, in denen – wie schon am Beispiel des Resilienzprozesses gesehen werden konnte – dem Altruismus und vertrauensvollen Eins-zu-Eins-Beziehungen eine Schlüsselrolle zukommt.

Beziehungen und Altruismus Für Cassianus sind Beziehungen der Kontext, in dem menschliches Wachstum stattfindet, einschließlich der Beziehung zu Gott. Allerdings schließen diese Beziehungen laut Cassianus das Bedürfnis nach Einsamkeit nicht aus – wie zu erwarten ist bei einem Autor, der über die Mönchstraditionen der Wüste schreibt. Dieses Bedürfnis nach Beruhigung, Erholung oder Einsamkeit, um inmitten der Umstände des eigenen Lebens Kreativität zu finden, wird auch von jenen, die über Resilienz schreiben, als wichtig erkannt.49 Die Beziehungen, die Cassianus anspricht, wenn er ein Modell für Wachstum vorlegt, das über Widrigkeiten und sogar Altruismus hinausgeht, sind die Beziehungen zu Mitbrüdern, die Beziehungen zu Abbas und Ammas, Altruismus in Form von Almosenspenden, Gastfreundschaft und der Entscheidung, anderen Ratgeber zu sein. Wie auch die Resilienzliteratur erkennt Cassianus, dass das Bedürfnis, Beziehungen zu meiden und der Berufung zum klösterlichen Leben zu folgen, durchaus die Flucht vor solchen Beziehungen einschließen kann, die einen daran hindern, das Ziel der Herzensreinheit zu verfolgen. Beziehungen sind auch der Kontext, in dem sich menschliches Wachstum vollzieht. In der 24. Unterredung „Über die Abtötung“, spricht er das Bedürfnis an, familiäre Bindungen zu brechen. Allerdings wird Liebe unter Menschen erworben und nicht, indem man diese meidet. Scharfe Worte gibt es für jene, die vor menschlicher Gesellschaft fliehen, um nach Vollkommenheit zu streben, während sie in Wahrheit nicht mit menschlicher Gesellschaft zurechtkommen. Manchmal, wenn uns Hochmut oder Ungeduld befallen haben und wir nicht geneigt sind, unser unziemliches und undiszipliniertes Verhalten zu korrigieren, klagen wir, dass wir Einsamkeit brauchen, als ob wir die Tugend der Geduld an einem Ort finden würden, wo uns niemand behelligt, und wir entschuldigen unsere Nachlässigkeit und die Gründe für unsere Rastlosigkeit, indem wir sagen, dass sie nicht von unserer eigenen Ungeduld herrühren, sondern von Verfehlungen unseres Bruders. So lange wir allerdings unser eigenes Fehl-

49

Vgl. z. B. Flach, a. a. O., p. 180.

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verhalten anderen Menschen zuschreiben, werden wir der Geduld und der Vollkommenheit niemals nahe kommen können.50 Einsamkeit kann jedoch nutzbringend sein, wie im Beispiel von Abba Paphnutius in der 18. Unterredung, dem die Wüste die Tugend, die er unter den Menschen erworben hat, vollendet und verfeinert.51 Angemessene Beziehungen sind entscheidend für das Streben nach der Reinheit des Herzens. Laster zu vermeiden und Tugenden zu kultivieren erfordert Sorge und Umsicht in den Beziehung zwischen den Mönchen. Alle Laster haben Folgeerscheinungen für die Beziehungen zu anderen Menschen, von den sozialen Konsequenzen der Völlerei bis hin zur Zerstörungskraft der Unzucht oder des Stolzes in Beziehungen. Die 18. Unterredung spricht zum Beispiel die Kontrolle des Neides an. Die 16. Unterredung „Über die Freundschaft“ präsentiert ein Modell echten Bezogen-Seins, obwohl es sich bei dieser Unterredung größtenteils um eine Erörterung des Zorns handelt. Cassianus stellt fest, dass es viele Arten der Freundschaft und der Kameradschaft gibt, die Menschen in Liebe aneinander binden, dass aber eine unauflösliche Beziehung darauf aufbaut, dass die Freunde dasselbe Verlangen nach Vollkommenheit und Tugendhaftigkeit teilen und den Zorn zu vermeiden suchen. Zorn wird, obwohl er in der Resilienzliteratur als Antriebskraft für Energie gilt, auch von resilienten Menschen umgewandelt, die dazu heranreifen, die Extreme von Rache oder depressiver Selbstattacke zu vermeiden.52 Gesunde Beziehungen, die ein Wachstum in der Liebe ermöglichen, sind Teil von Cassianus’ Modells für menschliches Wachstum und Reife zur Liebe hin. Eine wichtige Komponente davon ist die Beziehung zu einer älteren Person. Die zweite Unterredung mit dem Titel „Über die Diskretion“, spricht die Praxis des Offenbarens von Gedanken an. Er empfiehlt den Älteren die Gedanken demütig zu unterbreiten, obwohl er zugesteht, dass nicht alle der Älteren Vertrauen verdienen und somit Freiheit der Wahl vorauszusetzen ist. Die Tugend, die im vierten Buch der „Einrichtung der Klöster“ besonders hersausragt, ist jene der Gehorsamkeit gegen die Älteren, geschildert in Erzählungen von einem Mönch, der einen trockenen Stock bewässert und einen Krug kostbares Öl wegwirft und sogar von einem Vater, der seinen Sohn in den Nil wirft – alles begründet im Gehorsam gegenüber der Anweisung eines Älteren.53 Cassianus schildert, dass die Mönche Ägyptens gelehrt worden sind, niemals aus schmerzlichem Schamgefühl einen ihrer liederlichen Gedanken in ihren Herzen zu verstecken, sondern sie ihren Älteren gegenüber zu offenbaren, sobald sie auftauchen, und sie auch nicht nach eigenem Ermessen und Gutdünken zu beurteilen, sondern nach dem Ermessen des Älte-

50 51 52 53

Cassian, The Institutes, 8.XVI. a. a. O., 18.XVI.7 Higgins, a. a. O., p. 252. Cassian, a. a. O., 4.XXIV.

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ren.54 Diese Geschichten scheinen von blindem Gehorsam zu erzählen und veranlassen zur Sorge über die Möglichkeit schädlicher und belastender Beziehungen. Sinn des Gehorsams war es allerdings, den eigenen Willen derart zu unterwerfen, dass dieser Wille vollkommen offen für Gott werden konnte. Brown hat geltend gemacht, dass ein Mönch durch die Abhängigkeit von einem älteren Wüstenmönch das eigene Herz zu verstehen und es für andere zu öffnen lernte.55 Tatsächlich betont Cassianus, dass den Älteren gegenüber alles ohne Verlegenheit offenbart werden sollte; von ihnen könne man vertrauensvoll Heilung für die eigenen Wunden und Vorbilder für das eigene Leben annehmen.56 Demut und Gehorsam in Beziehung zu den Älteren stellten Aspekte des Vertrauens dar in die Fähigkeit der Älteren, zu urteilen und dann durch Ermutigung in der Entwicklung unterstützend zu wirken.57 Cassianus’ Modell des christlichen Lebens umfasst altruistische Handlungen wie das Almosenspenden, die Gastfreundschaft und die beratende Betreuung durch die Älteren. Der Mönch musste für sein Essen arbeiten, und er aß nur wenig, in Gemeinschaft und Verbundenheit mit allen anderen in dem häufig von Hunger geplagten Ägypten, aber auch aufgrund des Fastens. Die Erträge aus der getanen Arbeit als Almosen zu geben, war Teil der klösterlichen Lebensart. Arbeit hielt ebenso wie das Bedürfnis nach Essen die verschärfte Abhängigkeit des Mönches von anderen für das Überleben aufrecht und erinnerte an die sozialen Bindungen.58 Cassianus besteht darauf, dass Gastfreundschaft Vorrang vor den persönlichen asketischen Zielen hat, sodass, falls jemand als Gast kommen sollte, ein Essen bereitet und mit dem Gast gegessen werden muss, auch wenn sich der Gastgeber gerade in der Fastenzeit befindet.59 Er war sich in hohem Maße bewusst, dass eine der größten Gefahren des Klosters darin besteht, sich zu aufmerksam auf die Strukturen und Praktiken zu konzentrieren und sowohl die Abhängigkeit von Gott als auch die Verpflichtungen aus Nächstenliebe gegen andere aus dem Blick zu verlieren. Altruismus in Form von Gastfreundschaft, also gemeinsam mit Gästen zu speisen und ihnen Aufmerksamkeit zu schenken, steht über den asketischen Praktiken des Fastens, denn der Zweck des Fastens ist das Erreichen von Tugend, und diese zeigt sich am deutlichsten in der Liebe. Rowan Williams hat dazu bemerkt, dass sich dem Mönch im Superior, im kranken Mitbruder, in einem

54 55

56 57 58 59

a. a. O., 4.IX. Peter R. L. Brown, The body and society: men, women and sexual renunciation in early Christianity Faber, London 1989, p. 228. Cassianus, 1997, 2.XIII.12 Vgl. Andrew Louth, The Wilderness of God, DLT, London 2003, p. 59. Brown, p. 218, 227. Cassian, The Conferences, 1.XX.4–5, XXIV.13; Cassian, The Institutes, 10.II.4.

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Gast oder in einem Armen das Gesicht Christus’ zuwendet, fordernd und anziehend: das Gesicht, das er lernen muss, widerzuspiegeln und zu reflektieren.60 Für Cassianus sind Beziehungen der Kontext des Wachstums in Tugendhaftigkeit, ganz besonders die Liebe. Er weiß darum, wie menschliche Beziehungen auch Schaden zufügen können, und dass man daher auch gelegentlich das Bedürfnis hat, die Familie zu fliehen und mit Bedacht einen Älteren aufzusuchen. Sein Hauptaugenmerk liegt auf dem Vertrauen. Die Resilienzliteratur lenkt die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der menschlichen Tätigkeit und Beherrschung angesichts von Widrigkeiten und wird daher auch vorsichtig mit Begriffen wie Demut und Gehorsam umgehen, wenngleich Vertrauen eine wichtige Komponente der Resilienz ist. Wenn es Klienten ermöglicht wird, Verständnis für und Vertrauen in den Resilienzprozess zu entwickeln, so zeigt Richardson anhand von therapeutischen Wegen der ResilienzUnterstützung, ermächtigt dies die Klienten mit einem maßgeblichen Gefühl von Kontrolle über ihr eigenes Leben.61 Um motiviert zu sein, braucht eine Person Wahlmöglichkeiten, Schwartz allerdings stellt dar, dass Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmtheit als Tyrannei empfunden werden können, die dazu führt, dass mehr und mehr Menschen mit ihrem Leben unzufrieden sind und unter Depressionen leiden.62 Er beschreibt Freiheit als ein zweischneidiges Schwert. Die Kehrseite der Befreiung sind Chaos und Lähmung. Er merkt an, dass die Psychologie, wenn sie eine Vision vom guten Leben formuliert, den hohen Stellenwert, den sie Freiheit, Autonomie und Wahlfreiheit selbst einräumt, untergräbt.63 Cassianus wirbt für Gehorsam einem Älteren gegenüber, der aufgrund seiner Fähigkeit zur Erkenntnis und Führung frei gewählt wurde. In einer solchen Zweierbeziehung des Vertrauens können Heilung, Neuausrichtung der Energien und Umdeutung im Sinne des Reframing stattfinden und Stärken, nicht Sünden, Aufmerksamkeit erfahren. In der 20. Unterredung „Über das Endziel der Buße und die Genugtuung“ empfiehlt Cassianus, Mönche mögen sich ihre Sünden mit Vorsicht in Erinnerung rufen; denn für die Sehnsucht nach Tugend sei es besser, den Blick auf Gottes Königreich zu richten als bei den eigenen Sünden zu verweilen.64 Beschreibungen, wie man Heilung erlangen kann, indem man anderen hilft, finden sich sowohl in der Resilienzliteratur wie auch bei Cassianus Beachtung. Cassianus erörtert dies in einer Passage über das Vergeben von Sünden in der 20. Unterredung „Über das Endziel der Buße und die Genugtuung“. Cassianus

60 61 62

63 64

Rowan Williams, The wound of knowledge, Darton, Longman and Todd, London 1990, p. 106. Richardson, p. 311–312. Barry Schwartz, Self-determination: the tyranny of freedom, „American Psychologist“, 2000, Vol. 55, p. 79. a. a. O., p. 87. Cassian, The Conferences, 20.IX.1–5.

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spricht von den Früchten der Buße, die Sünden sühnen können. Durch eine liebevolle Gesinnung kann man von der Last der Sünde befreit werden, so sagt er, und in den Früchten des Almosengebens kann man Heilung für Wunden finden. Eine Verhaltensänderung, wesentlich für den Begriff der Reue, könnte einschließen, den Unterdrückten zu helfen und für die Armen einzutreten. Vergebung der Sünden wird durch Tränen ermöglicht und durch Beichte. Es gibt viele lebensspendende Möglichkeiten für Erbarmen, sodass niemand, der Erlösung ersehnt, verzweifelt sein sollte, etwa weil er nicht fasten kann, da er sicher auch geläutert werden kann, indem er sein Verhalten korrigiert.65 Wie die Befreiung von Last, Heilung und Tränen hier beschrieben werden, findet einen Widerhall in Higgins Untersuchung der Dynamik der Heilung, allerdings ist in der Interpretation, wer sündigt und wer Vergebung braucht, Vorsicht geboten; aus Platzgründen kann das hier nicht diskutiert werden. Resilient sind jene Menschen, die – nicht durch Planung, sondern durch Zufall – eine Kombination aus Mühen und Anstrengung, richtigen Beziehungen und einem wohl ausgestatteten und disziplinierten Selbst hatten, durch die sie nicht gebrochen, sondern gestärkt wurden. Cassianus erstellt ein Modell der Charakterstärkung nach Plan. Wo Higgins im Detail ausführt, wie Altruismus bei der Heilung hilft, weist sie auf die Art und Weise hin, wie das Fördern anderer zu Heilung, zu symbolischer Korrektur der Vergangenheit, zu Trauer und Dankbarkeit beitragen kann. Sowohl die Ratgebertätigkeit der Älteren als auch die schlichte klösterliche Gastfreundschaft bieten Gelegenheit für dieses Fördern. Cassianus’ Weltsicht sieht, in Übereinstimmung mit der christlichen klösterlichen Theologie, in der Berufung eines Mönchs zum Gebet einen Aufruf, mehr zu tun als symbolisch die Vergangenheit zu korrigieren, sondern an der Erlösung und Heilung der Welt mitzuwirken. Tränen der Traurigkeit über Sünden, der Lobpreis als zentraler Teil des Sprechens der Psalmen und das Partizipieren an der Eucharistie bieten Äußerungsmöglichkeiten für jene Praktiken, die Higgins als Heilung beschreibt. Altruistisches Handeln kann sich darin ausdrücken, ein Abba oder eine Amma zu werden und ist das natürliche Ergebnis jener Lebensführung, die Cassianus befürwortet, und in welcher Widrigkeit zum Zweck der Selbstlosigkeit eingesetzt wird. Die Beratung durch einen Älteren ist ein Schlüsselelement in Cassianus’ Modell für Entwicklung, sowohl für diejenigen, die geführt werden, als auch für den Berater oder den Älteren, der dem Ruf folgt, Mentor zu werden. Es ist eine Form altruistischen Handelns, die Empathie, Mitgefühl und Urteilsvermögen verlangt. Der weise Mönch wird aufgesucht, um andere zu führen. Ein solches geistliches Amt des Lehrens und Ratgebens wird oft sogar für Einsiedler Teil der Berufung. Wir sehen dies im Leben des Antonius, der als Einsiedler bekannt ist, aber von dem erzählt wird, dass er oft mit Mönchen und Politikern zu tun hatte. Dem

65

a. a. O., 20.VIII.1– 6.

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Abba Johannes empfiehlt Cassianus in der 19. Unterredung, nach zwanzig Jahren des Einsiedlertums in das Kloster zurück zu kehren und zu lehren. Urteilsvermögen ist die Schlüsselqualität eines Älteren und ist erforderlich, um einschätzen zu können, wie viel Widrigkeit einen Menschen, der willentlich nach Wachstum strebt, stärken anstatt brechen wird. Cassianus verordnet genug Widrigkeit, um einen Mönch mithilfe von Selbsterfahrung wie auch innerer Stärkung durch Schrift, Gebet und Disziplin zu einem Leben zu bringen, in dem Einsicht und Liebe die Schlüsselqualitäten sind, die anderen helfen können. Urteilsvermögen, Besonnenheit beziehungsweise Weisheit sind die Qualitäten eines Älteren und sind ein Geschenk aus der Gnade Gottes, welches vom Mönch mit äußerster Achtsamkeit für das Selbst gesucht und durch Demut erlangt wird.66 Führung und Rat aus Urteilsvermögen, das auf Wissen und Überlegung basiert, sind notwendig, damit ein Mensch eine innere Behausung aufbauen kann, und ohne diese ist er wie eine zerstörte Stadt ohne Mauern.67 Die zweite Unterredung „Über die Diskretion“ ist großteils den Gefahren überstrenger Askese gewidmet. Gemäß Cassianus’ Programm einer Stärkung durch Widrigkeit sind Krisen förderlich, um ein Gleichgewicht von Körper und Seele zu erreichen, denn, so Cassianus in der vierten Unterredung, das gesunde Gleichgewicht, das aus dem Kampf mit der Krise entsteht, öffnet den gesunden und angemessenen Weg zur Tugend 68, allerdings macht es Besonnenheit zwingend erforderlich. Das findet sich im Kontext der Resilienzliteratur selbst wieder – es gibt etliche Menschen, die Widrigkeiten bewältigen und danach ein erfüllendes Leben führen – diese sind resilient; in den meisten Fällen aber verursachen Widrigkeiten langfristige Schäden. In der Rolle des Älteren anerkennt Cassianus, wie wir sehen, nicht nur den Ort, sondern auch die Grenzen, in denen Widrigkeiten Wachstum hervorbringen kann, sowie die Bedeutung von Liebe und Weisheit derjenigen, die mit denen zu tun haben, die Widrigkeit erfahren.

Und darüber hinaus Bei Johannes Cassianus finden wir ein Modell für menschliches Wachstum, das aus der Widrigkeit geboren werden kann und durch Widrigkeit gestärkt wird, so lange bei der Suche nach Widrigkeiten mit dem Ziel des persönlichen Wachstums mit Besonnenheit vorgegangen wird. Dieses gesteuerte Wachstum umfasst Altruismus, wie er sich im Almosengeben, in der Gastfreundschaft und und im beratenden Gespräch zeigt, aber es geht darüber hinaus. Für Cassianus ist nicht der Altruismus die transformative Kraft, sondern die Gnade Gottes. Altruismus kann 66 67 68

a. a. O., 2.I.4 und 2.X.1. a. a. O., 2.IV.2. a. a. O., 4.XII.5.

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weder das Individuum noch die Welt retten; eine derartige Erlösung geschieht durch das, was Gott durch Christus getan hat. Für Cassianus sind die menschlichen Anstrengungen für die Heilung – sei es die des Selbst durch Askese, sei es die der Welt durch Altruismus – unzureichend, um ihr Ziel zu erreichen, und haben ein Ende. Sowohl die Werke der Askese als auch die des Dienstes sind vorläufig, allerdings sind sie grundlegend für das gegenwärtige Leben. Die praktische Arbeit trägt viele Früchte hervor, aber in der Vielfalt, in der sie sich äußert, kann sie nicht mit der Konzentration und Fokussierung der Kontemplation verglichen werden.69 Der in der einschlägigen Literatur beschriebene Resilienzprozess endet mit resilienten Menschen, die altruistisch sind, die Mitgefühl, Demut und Weisheit zeigen, aber das Ringen in sich selbst fortsetzen, da man die eigenen Verletzungen niemals selbst völlig heilen kann.70 Für Cassianus endet das tätige Leben mit dem Tod, so dass Werke der Barmherzigkeit, so sehr sie im irdischen Leben auch notwendig sind, nicht essentiell sind für die menschliche Natur und eine Zeit kommen wird, die über diese Werke hinausreicht. Nach Cassianus’ Ansicht werden der Dienst am Nächsten oder das geistliche Amt wie auch der Kampf der Askese ein Ende finden, die Liebe aber oder die Kontemplation in der Reinheit des Herzens werden bleiben.71 Cassianus‘ Modell führt uns somit nicht nur über das hinaus, was in den Studien über resiliente Menschen als Resilienzprozess beschrieben wird, er hat auch Implikationen für all jene, die in altruistische Tätigkeiten involviert sind und dadurch Heilung erfahren. Diese Implikationen inkludieren eine Herausforderung für das Selbstverständnis der Menschen in Pflegeberufen sowohl hinsichtlich ihrer eigenen Identität als auch hinsichtlich ihrer Tätigkeit, sind doch altruistische oder pastorale Arbeit schließlich Mittel zum Zweck.

Implikationen für resiliente Seelsorger Die Forschung darüber, was Menschen resilient machen kann, und eine Lektüre der Theologie des Johannes Cassianus, aus der die Themen untermauert und formuliert wurden, macht es möglich, die Resonanzen mit der christlichen Theologie und Praxis aufzuzeigen, die Nährboden für eine pastorale Theologie der Resilienz sein können. In allgemeinen Begriffen sind Resilienzthemen für die christliche Theologie und Seelsorge einschlägig, so wie sie aus der Resilienzliteratur hervorgehen. Die Resilienzforschung bietet insbesondere Belege für die Wichtigkeit von Veränderung, Selbsterkenntnis, Selbstdisziplin und Selbstachtung wie auch von Mühen und An69 70 71

a. a. O., 1.VIII.3. Higgins, p. 254. Cassian, The Conferences, 1.X.5.

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strengungen sowie dabei erfahrenem Schmerz. Die Bedeutung sowohl des inneren Seelenlebens als auch der entsprechenden äußeren Beziehungen wird ebenso hervorgehoben wie die Bedeutung von Mitgefühl und Liebe, ausgelebt von denjenigen, die Widrigkeiten überwunden haben. Johannes Cassianus’ bejahende theologische Auffassung vom Menschen bietet zusätzlich noch eine Herausforderung für die christliche Theologie, der schöpferischen Kraft und Ressourcenfülle der Menschen als Abbild Gottes Beachtung zu schenken anstatt die Sünde zu betonen mit all den potentiell damit verbundenen Themen der Glorifizierung des Leidens, der Passivität und der Opferrolle. Eine solche Wende zu einer stärkeren Betonung positiver Doktrinen, zum Beispiel der Doktrin der Schöpfung, wird bereits empfohlen, wenn es um das Ziel der Mission jüngerer Generationen geht, welche empfänglich dafür sind, das Leben, Beziehungen und Gemeinschaft zu feiern. Hier ist der „Erlösungswahn“ zu meiden, die „Überbetonung des Todes Jesu bis hin zu einem Ausklammern der Doktrin der Schöpfung und der Eschatologie“ 72. Cassianus’ Auffassung von der menschlichen Natur liefert einerseits eine Vision vom Königreich Gottes, dem Ziel des menschlichen Lebens, sie beschreibt aber auch einen Vorgang, mit dem Reinheit des Herzens zu erlangen ist, in der Beziehungen sowohl mit Mitschülern als auch mit vertrauten Lehrern und Beratern entscheidend sind. Reinheit des Herzens ist das Ziel der Liebe und des Friedens, die von resilienten Menschen gesucht werden. Reinheit des Herzens wird bei Cassianus durch die Selbstdisziplin der Askese erreicht, als gesteuerte Suche nach Widrigkeit um des Wachstums willen, und auch durch die altruistischen Tätigkeiten des Ratgebens, Almosengebens und der Gastfreundschaft. Sowohl Askese als auch Altruismus benötigen die Tugend des Urteilsvermögens, um nicht zu einer ungesunden Unmäßigkeit zu führen, die den Christen von der Liebe zu Gott und anderen ablenkt. Indem Cassianus das Hauptaugenmerk auf die Vision der Kontemplation Gottes, der die Liebe ist, richtet und die Werke des Askese und des Altruismus oder des Priesteramts als vorläufig deklariert, fordert er Christen auf, ihre Identität nicht in der Hilfe für andere zu suchen, und appelliert er an resiliente Menschen, über den Altruismus als Quelle der Heilung hinauszublicken. Selbstdisziplin und Stärkung des inneren Selbst durch Gebete, die Schrift und durch Kontemplation, wie es auch Frankl beschrieben hat, sind für Cassianus die Mittel, die einen Menschen stärken und es ihm ermöglichen, für andere Ratgeber zu sein und anderen zu dienen – immer auf der Grundlage von Einfühlungsvermögen und einem Blick dafür, was für sie selbst wie auch für diejenigen, die sie begleiten und unterstützen, förderlich und segensreich ist. Aus dem Englischen von Nadja Maria Lobner und Elisabeth Kapferer 72

S. B. Savage. Making sense of Generation Y: The world view of 15- to 25-year-olds, Church House, London 2006, p. 128, 134.

Von der Widrigkeit zum Altruismus

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Burkhard Pechmann

Resilienz gegen Ende des Lebenslaufs Oder: Woher kam die Kraft?

„Was nicht jung will sterben, muss alt werden“, bemerkte einmal eine Teilnehmerin eines Altenkreises, als ich noch in einer Ortsgemeinde als Pfarrer arbeitete. An die konkreten Umstände der Gesprächssituation erinnere ich mich nicht mehr. Aber dieser Satz ist bei mir haften geblieben. Auf mich wirkte er damals ziemlich befremdlich: Wahrscheinlich hat mich als Jüngeren seine Härte mit dem Unaufhaltsamen des Älterwerdens beschäftigt – und getroffen. Andererseits entdeckte ich später auch Tröstliches: wenn man über Menschen, die in jüngeren Lebensjahren verstorben sind, zu sagen pflegt, man wisse nicht, wie viel ihnen erspart geblieben ist. Wer alt werden muss, dem ist oft nicht viel erspart geblieben. Das erlebe ich inzwischen als Altenheimseelsorger Tag für Tag: in Begegnungen und Gesprächen, im Zuhören und im Schweigen. Denn ich habe mit Menschen zu tun, die nach der Zahl ihres Lebensalters oder durch die Widerfahrnisse des Lebens „richtig alt“ geworden sind. Sie sollen hier zu Worte kommen: mit der Realität ihres gelebten Lebens, mit ihren Erfahrungen von Brüchen und anderen Widrigkeiten bis hin zu ihren Zweifeln am Leben, aber auch mit ihrer immer wieder reaktivierten Zukunftshoffnung und mit dem, was ihnen auf ihrem langen Lebensweg immer wieder resiliente Kraft gegeben hat – um weiter zu leben und alt zu werden. Schließlich heißt es schon bei Wilhelm Busch über Max und Moritz, die kraft ihres resilienten Geschicks zunächst noch weiterleben konnten: „Man denkt: sie sind perdü. Aber nein, noch leben sie!“ Bevor es um die Erfahrungen von alt gewordenen Frauen und Männern (4.) geht, die uns vorher schon einmal indirekt durch eine nahe Angehörige vermittelt werden, geht es um Wirklichkeiten, weil bestimmte Einflüsse in ihnen einen Widerhall als Resonanzen gefunden haben (5.), soll ein Klärungsversuch von Resilienz (1.) unternommen werden: Was ist Resilienz eigentlich genau? – Auch andere haben Erfahrungen gemacht: In den Zeiten des frühen und sich ausbreitenden Christentums haben sich Einzelne zurückgezogen und sind in ihrer Abgeschiedenheit zu einer gesteigerten Wahrnehmung gekommen. Was steuert eine dieser Quellen (2.) bei, um resiliente Kraftentfaltung zu lehren? Was hat diese Quelle mit dem Phänomen der Atmosphäre wahrgenommen (3.)? Schließlich versuche ich mittels

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strukturierender Thesen, so grundlegend und umfassend, wie es mir möglich ist, das Phänomen der Resilienz aus Sicht eines Seelsorgers zu beleuchten.

1. Klärungsversuch „Unter Resilienz wird die Fähigkeit von Menschen verstanden, Krisen im Lebenszyklus unter Rückgriff auf persönliche und soziale Ressourcen zu meistern und als Anlass für Entwicklung zu nutzen“ 1. Auf diese Definition von Resilienz haben sich Therapeutinnen und Therapeuten bei ihrem Kongress „Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände“ 2005 in Zürich verständigt. Eines ihrer Ziele war, „der Orientierung an Defiziten eine alternative Sichtweise“ 2 hinzu zu fügen. Damit haben sie begonnen, sich von der therapeutischen Fixierung auf lebensschädigende Ereignisse zu lösen. Emmy E. Werner beispielsweise berichtete von Längsschnittstudien, wonach überhaupt „psychotherapeutische Behandlungen […] nur bei einigen psychisch labilen Probanden erfolgreich […]“ waren. Dagegen wurde „die Behandlung durch Experten für psychische Gesundheit (gleichgültig, ob es sich um Psychiater, Psychologen oder Sozialarbeiter handelte) als weitaus weniger effektiv eingestuft als die Ratschläge […] von Ehepartnern, Freunden, Verwandten, Lehrern, Betreuern, Kollegen, Mitgliedern aus der Kirchengemeinde oder Pfarrern“.3 Hier, in den Studien von Werner, waren es Jugendliche, Heranwachsende und junge Erwachsene, die in den Situationen eines konfliktgeladenen familiären Umfeldes ihrer Ursprungsfamilie, oder ihrer aktuellen Beziehung oder Ehe, einer lebensbedrohlichen Erkrankung, eines Unfalls, oder ähnlich tief greifendem krisenhaftem Erleben Hilfe benötigten, um wieder ins Leben zu finden. Lebenspraktische Ratschläge haben jenen Menschen offensichtlich geholfen, ihren jeweils eigenen Weg zu finden und weiter gehen zu können. Einen Rat gegeben, auf eine Spur gesetzt, haben Ältere, die selbst mehr oder weniger intensiv krisenhafte Zeiten durchlebt haben. Sie sind zu Expertinnen und Experten in der Hilfe zum Leben und in der Kunst des Lebens durch das Leben selbst geworden: mit seinen Bedrohungen bis hin zur scheinbaren Ausweglosigkeit und der Entdeckung, dass das Leben doch gut ist, weil sich wieder Lebensmöglichkeiten aufgetan haben. Nicht zuletzt machen älter werdende Menschen die Erfahrung: Ich kann anderen nach wie vor etwas geben! Mein Leben ist und bleibt sinn-

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Rosmarie Welter-Enderlin, Bruno Hildenbrand (Hg.), Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände, Carl Auer-Verlag, Heidelberg 2008, S. 11. A. a. O. A. a. O., S. 34 f.

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voll. Und die andere, die auf Hilfe angewiesene Seite erkennt: Ich muss nicht mehr um mich selbst und die Schwierigkeiten, in denen ich mich befinde, kreisen! Ich kann mich an jemanden wenden und bekomme gar einen unschätzbaren Rat: manchmal in einer sich entwickelnden temporären Beziehung. Und wenn ich erneut Hilfe nötig habe, kann jene Beziehung vorübergehend wieder aufleben. Im Alter kann sich allerdings, wie wir noch sehen werden, das Verhältnis zwischen den Generationen umkehren: Wenn alt gewordene Frauen und Männer unterschiedlichen Auflösungstendenzen ausgeliefert sind, sollen sie (wieder) in den Kontakt mit resilienten Kräften kommen: – mit denen des gelebten Lebens als guter Erinnerung, – mit denen, die sie jetzt als Stärkung brauchen – und mit denen, die sie im Hinblick auf das Kommende nötig haben. Meine erste These lautet: Resilienz wird personal und situationsbezogen vermittelt und durch den Austausch in einem lebendigen Beziehungsgeschehen in Gang gesetzt. Zweite These: Gerade im Alter sind Menschen auf die Zufuhr resilienter Kräfte angewiesen: um zwischen Vergangenheit und Zukunft leben zu können. Der „Rückgriff auf persönliche und soziale Ressourcen“, wie es auf jenem Konstanzer Kongress hieß, beginnt offensichtlich damit, dass ein Mensch einen anderen aufsucht: Im Allgemeinen ergreift derjenige, der Hilfe braucht, die Initiative. Aber manchmal machen Gemeindepfarrerinnen und -pfarrer immer noch Hausbesuche; und wenn ich alte Menschen im Heim aufsuche, bekomme ich – nach etwas small talk – häufig etwas zu hören: es handelt dann von Bewältigtem oder Befürchtetem, je nach Richtung der Zeitschiene. Mehrere Fragen bedürfen der weiteren Klärung: – Um was für Quellen handelt es sich bei Ressourcen? – Sind die Ressourcen, durch die Menschen sich wieder neu dem Leben zuwenden können, auf den persönlichen und den sozialen Bereich beschränkt? – Woher kommen sie: die Krisen, die Schwierigkeiten, die Widrigkeiten des Lebens? – Warum bleibt Menschen in ihrem Lebenslauf manchmal nichts erspart? Die Warum-Frage ist die Frage nach dem Sinn. In der Frage nach dem Woher geht es um die Realität des Bösen. In der Frage nach den Ressourcen sollen Möglichkeiten der Erweiterung bedacht werden, die über den Bereich der menschlichen persönlich-sozialen Beziehungen hinausgehen. Bei den Quellen schließlich wird nach dem Ursprung und der Art von Zufuhr an Lebenskraft gefragt. Jene Fragen lassen sich offensichtlich mit Begriffen knapp beantworten. Sie sind damit allerdings noch längst nicht geklärt. Wenden wir uns deshalb einer Quelle zu, die von besonderer Klarheit geprägt ist: Das Dokument ist unter harten, entbehrungsreichen Lebensumständen in der Einsamkeit entstanden. Dazu

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kamen die Herausforderungen des Ortes: Denn hier, in der ägyptischen Wüste, sollte der Mönch Evagrios Pontikos gegen Ende des 4. Jahrhunderts besonders „zum Anatom der Gemütsregungen der Seele werden und zwar sowohl ihrer äußeren Erscheinungsweisen als auch ihrer innerpsychischen Aktivitäten“.4 Hören wir, was er zu sagen hat.

2. Quellen „Nicht immer kann der Mensch so handeln, wie er sich vorgenommen hat. Er soll aber aufmerksam alle Möglichkeiten nützen und das, was für ihn machbar ist, auch nach bestem Wissen und Gewissen tun. Die Dämonen wissen um die Möglichkeiten, die sich ihnen bei solchen Gelegenheiten bieten. So kann es z. B. geschehen, dass die Dämonen aus Wut über uns, uns von dem, was uns möglich ist, abzuhalten versuchen, oder aber sie drängen uns, uns mit Dingen zu beschäftigen, die für uns unmöglich sind.“ 5 In seiner Mönchszelle in der Wüste hat Evagrios Pontikos klar erkannt, worum es im Leben geht: einen Realitätssinn zu entwickeln. Natürlich hat man Vorstellungen, macht man Pläne und steckt sich Ziele! Das lässt, vor allem was die beiden letzten Punkte betrifft, im Alter spürbar nach. Aber früher waren Berufswahl und die Such- und Findungsprozesse, die auf einen Ehepartner abzielten, für den Lebenslauf von entscheidender Bedeutung. Was konkret passieren kann, wenn „der Mensch nicht so handeln kann, wie er sich vorgenommen hat“, berichtet Frau K. eindrücklich im Trauergespräch über ihre Mutter, Frau G., die im Alter von 92 Jahren verstorben ist. Sie habe ihre kaufmännische Lehre zwar bei einem „Hoflieferanten“ für Kristall-, Kunst- und Luxuswaren Anfang der 1930er Jahre begonnen. Doch Frau G. erlebt nun, wie sie ihre Vorstellung korrigieren muss (und es später auch kann): Die real erlebte Verkaufswelt ist für sie nicht die richtige. Hier sieht sie keinen Sinn in ihrer Arbeit, und will deshalb auch hier nicht bleiben! So geht sie nach Abschluss ihrer Ausbildung als Verwaltungsangestellte zu einer kirchlichen Einrichtung. Hier stellt sich für sie die Frage nach dem Sinn ihrer Arbeit nicht mehr, weil sie wie selbstverständlich in ihrer Arbeit aufgeht. In ihrem Fall waren es keine äußeren Einflüsse, aufgrund derer sie die Entscheidung zu ihrem beruflichen Tätigkeitsfeld korrigiert hat. Frau G. habe vielmehr gespürt, wie sich etwas in ihr gesträubt habe, erzählt ihre Tochter. Und statt an ihrem einmal gesteckten Ziel festzuhalten, habe sie sich offensichtlich „aufmerk4

5

John Eudes Bamberger in seiner Einführung zu: Evagrios Pontikos, Praktikos. Über das Gebet, Übers. und Einl. von John Eudes Bamberger; aus dem Engl. übers. von Guido Joos, Vier-Türme-Verlag, Münsterschwarzach 1986, S. 9. A. a. O., 49 f.

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sam“ danach orientiert, „was für sie machbar“ sei. Dabei hat sich in ihr neben der Klärung der Frage: „Welche ist die richtige Berufswelt für mich?“, auch die Fähigkeit zur Resilienz entwickelt. Denn als die Nazi-Diktatur immer mehr Bereiche des Lebens erfasste, half sie einer Mutter in der Bekanntschaft, deren geistig behindertes Kind vor staatlichem Zugriff zu verstecken und damit zu bewahren. Dazu dürfte auch die sich in mehrfacher Hinsicht entfaltende Segenskraft ihres Konfirmationsspruches beigetragen haben. Als 14-Jährige hörte sie: „Lasst euch nicht durch mancherlei und fremde Lehren umtreiben, denn es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade!“ (Hebräer 13,9). Dritte These: – Zur Entwicklung der Fähigkeit zur Resilienz gehört, Ziele und Pläne aufgrund des eigenen inneren Erlebens oder aufgrund der sich verändernden äußeren Lebensumstände zu korrigieren oder korrigierend einzugreifen. – Als Widerstandsgeist und schließlich als Widerstandskraft wird manifest, was zunächst nur als Widerstandregung mehr oder weniger deutlich spürbar war. – Im Glauben werden Menschen zur kritischen Abgrenzung gegenüber menschlicher Macht befähigt und aufgerufen, während sie gleichzeitig durch göttlichen Einfluss an Stabilität gewinnen. Heilige Worte üben dabei eine Langzeitwirkung aus: was jemand gehört hat, zeigt früher oder später seine Wirkung. Doch nicht immer handeln Frauen und Männer so, wie es für sie selbst und für andere gut wäre. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! Aber wie gelangen wir zu den Tätigkeitsworten?“ 6, fragt nachdenklich-bissig, vielleicht auch etwas ratlos, Stanis∏aw Jerzy Lec. Denn menschliches Leben wird in weiten Teilen von Konfliktfeldern bestimmt. Allerdings geht es hier nicht darum, dass es zu ein und demselben Thema unterschiedliche Auffassungen, Meinungen und Ansichten gibt, die untereinander teilweise strittig sind und kontrovers diskutiert (und ausgetragen) werden. Uns beschäftigt hier die „grundlegende Konfliktbeherrschtheit der menschlichen Seele“ 7, wie der Psychoanalytiker Léon Wurmser treffend beschreibt – und wie es seinerzeit Evagrios Pontikos erlebt hat. Nach ihm üben in dieser Konfliktbeherrschtheit den stärksten Einfluss Dämonen aus. Diese externen Mächte haben allerdings kaum etwas mit den neuzeitlichen psychiatrischen Krankheitsbildern zu tun, denn es sind Erscheinungsformen des Bösen: potentiell an jedem Ort und zu jeder Tages- und Nachtzeit aktiv. Wenn „Dämonen um Möglichkeiten wissen“, sind es subtil-intelligente, wenn „Dämonen aus Wut über uns“ aktiv werden, sind es energisch-massiv auftretende

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Stanis∏aw Jerzy Lec, Neue unfrisierte Gedanken. hg. von Karl Dedecius, Hanser, München 1964, S. 53. Léon Wurmser, Ideen- und Wertewelt des Judentums. Eine psychoanalytische Sicht, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, S. 66.

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machtvolle Kräfte, die Menschen beeinflussen. Eine nicht von einem Menschen ausgehende Übergriffigkeit scheint mir das Phänomen am treffendsten zu charakterisieren: eine Atmosphäre, der ich mich kaum entziehen kann und die einen schädigenden Einfluss auf mich ausübt. Es „liegt etwas in der Luft“, das mich schleichend erfasst, so dass ich auf einmal schlechte Laune habe und „neben der Spur“, also nicht mehr bei mir selbst bin. Oder: als ob mich etwas unvermittelt anfällt, so dass ich gereizt, ärgerlich, gar wütend reagiere. Hinterher frage ich mich, wie ich so „außer mir“ sein konnte: Entweder ging es nur um eine Kleinigkeit, oder ich hätte anders angemessener reagieren können – wenn ich gekonnt hätte. In der Laborsituation der Einsamkeit in der Wüste, bei seiner Form der Gottessuche 8, ist Evagrios Pontikos jenem Phänomen immer mehr „auf die Schliche“ gekommen, das als externer Einfluss Menschen da zu packen versucht, wo sie in ihrer Gedankenwelt am ehesten Angriffsfläche bieten 9: – in der Rangordnung untereinander als Hochmut und Stolz, – im Verhältnis zum anderen Geschlecht als Unkeuschheit10, – im Verhältnis zu anderen als Zorn, – im Verhältnis zum eigenen Leib als Gier, überhaupt zu sich selbst als Habsucht, – in der Zurückgezogenheit von anderen, gepaart mit Enttäuschungen als Traurigkeit, – und schließlich im Verhältnis zur eigenen Existenzform als Akedia: als Lustlosigkeit und Desinteresse. Bei letztem lauert nach den Erfahrungen von Evagrios Pontikos die größte Gefahr: den Kampf gegen Dämonen und Gedanken aufzugeben und die vermeintliche Lösung darin zu suchen, dass man seine Existenzform aufgibt und woanders hingeht.11 Wer so handelt, ignoriert die bleibende Realität: Denn „ob diese Gedanken uns belästigen oder nicht, liegt nicht in unserer Macht. Ob sie aber in uns herumlungern oder nicht und damit unsere Leidenschaften entfachen, darüber haben wir Macht.“ 12 Und wenn der Mann aus der Wüste heraus schließlich den Rat gibt,

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Evagrios Pontikos, a. a. O., S. 33. Vergleichbar hat in jüngster Zeit Peter Sloterdijk auf die Funktion des Psychoanalytikers insofern als Trainer hingewiesen, als bei ihm „der Klient lernt, sich über längere Zeit ernsthaft mit sich selbst zu beschäftigen. Dabei entsteht der Habitus einer betreuten Seelsorge, der therapeutische Effekte hat.“ in: „Emotion“, März 2007, S. 86. In seinem Buch Du musst dein Leben ändern stellt Sloterdijk vielfältige TrainingsKonzepte vor und kommentiert sie ausführlich, Idem, Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009. A. a. O., S. 35 ff. Aktuell würde das außerhalb der monastischen Existenzform bedeuten: Einseitige abwertende Reduzierung eines anderen Menschen auf den sexuellen Bereich. A. a. O., S. 38 f. A. a. O., S. 35.

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sich dem zuzuwenden, was für jemanden „machbar“ ist, so ist damit keine Machbarkeit im technischen Sinne unserer Gegenwart gemeint. „Machbar“ ist, was ich realistischerweise, also nicht durch Fluchttendenzen des Illusorischen, oder des sogenannten Visionären befeuert, in meiner Lebens- und Arbeitswelt tun kann. Sich allerdings dem zuzuwenden, was machbar ist, setzt eine bestimmte Bewegung voraus: sich abzuwenden! Das bedeutet, sich klar von der konkreten Erscheinungsform der Macht des Bösen zu lösen und sie sogar aggressiv-schroff abzuwehren. Deshalb rät der kampferfahrene Evagrios Pontikos: Bevor du betest, „schleudere zunächst einige Worte im Zorn gegen den, der dich versucht“ 13, um so bereinigt wieder in einen Zustand zu kommen, in dem man zum Beten fähig ist. Vierte These: Zur Entwicklung resilienten Verhaltens gehört die Einsicht in die Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten und gleichzeitig das Ergreifen dessen, was im Rahmen der eigenen Lebenswirklichkeit und aus ihr heraus möglich ist. Fünfte These: Zur Entwicklung resilienten Verhaltens gehört schließlich die Wahrnehmung, dass und wie menschliches Leben von Konflikten beherrscht ist. Zur Praxis resilienten Verhaltens gehört die grundsätzliche Kampfbereitschaft in den Konfliktfeldern des eigenen Lebens und in diesen Konfliktfeldern bestehen zu wollen, was die Abwendung von der Macht des Bösen einschließt. Resilienz ist auch: Lebenswille. Zwar im 20. Jahrhundert, aber ebenfalls in der Abgeschiedenheit einer Zelle, allerdings der eines Gefängnisses, lässt der Theologe und Widerständler Dietrich Bonhoeffer u. a. einen bestimmten Gedanken zu Zeilen gerinnen. Er ist Teil eines Gedichtes, das Bonhoeffer im August 1944 fertig stellt. Anfang April 1945 wird er hingerichtet. Die Strophe „Tat“ des Gedichtes „Stationen auf dem Weg zur Freiheit“ kommt mir vor, wie eine poetische Umsetzung von dem, was für Evagrios Pontikos „machbar“ ist: Tat Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen, nicht im Möglichen schweben, sondern das Wirkliche tapfer ergreifen, nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit. Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens, nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen, und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend empfangen.14

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A. a. O., S. 50 f. DBW (Dietrich Bonhoeffer Werke, hg. von Eberhard Bethge), Bd. 8, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1998, S. 570 f.

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Sechste These: Zur Entwicklung resilienten Verhaltens gehört die allmähliche Herausbildung der Unterscheidungsfähigkeit dessen und Urteilsbildung darüber, was gut und was böse ist. Der Glaube und Gottes Gebot lässt Menschen nach dem suchen, was gut im und für das Leben ist: das Eigene und das Andere. Resilientes Verhalten kann allerdings auch zu einer deutlichen Distanzierung zu anderen führen: zu einer Mehrheit, zu zeitgenössischen Mehrheitsmeinungen und Mehrheitsstimmungen, zu Moden. Als Konsequenz aus diesem Verhalten kann das eigene Anderssein deutlicher hervortreten: nicht unbedingt erkennbar für andere, aber selbst als Vereinzelung, auch als Einsamkeit spürbar. Siebente These: Der Extremfall resilienten Verhaltens erkennt, dass die Zukunft des eigenen Lebens nicht mehr in diesem Leben liegt. Märtyrer haben zu allen Zeiten ihre Zukunft darin gesehen, ganz in das göttliche Leben einzugehen. Christinnen und Christen nähern sich dieser Zukunft immer wieder an, wenn sie beten, „denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit“: Gänzlich konfliktfrei sind diese Wirklichkeiten erst im göttlichen Leben. Zurück zu Evagrios Pontikos. Für ihn war schließlich der Schlüssel seiner intensiven Selbstbeobachtung bei seiner Gottessuche eine Bitte: Auch wer sich nur annähernd ähnlich ihm auf die Suche begibt, sollte „Christus bitten, ihm all das zu erklären, was er beobachtet hat.“15 Achte These: Massive Unterstützung erfährt Resilienz in den Konflikten und Widrigkeiten des Lebens durch die Gebetsanrufung des auferstandenen Gottessohnes: In dem Namen Jesu Christi werden Gedanken geklärt, Situationen früher oder später entschärft, Lebenskräfte erneuert. Neunte These: Menschen bleiben mit dem Beten handlungsfähig, oder werden durch die Anrufung des allmächtigen und barmherzigen Gottes wieder aktiv: über äußere und innere Grenzen hinweg wenden sich menschliche Worte, nicht selten auch Seufzen, Rufen, Schreien, Weinen an Den, der hört und so oder so eingreift. Warum sollte nun das, was ein Mann in der Wüste gegen Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr. erfahren, beobachtet und schließlich für andere im monastischen Lebensmilieu niedergeschrieben hat, am Anfang des 21. Jahrhunderts wichtig sein? Der Beitrag von Evagrios Pontikos, der hier nur im Ansatz skizziert werden konnte, ist nach meiner Auffassung vor allem deshalb wertvoll, – weil er mit der genauen Analyse von externen Mächten im Rahmen einer Dämonologie seiner Zeit das aktuelle Verständnis von Konflikten als nur psychischen und sozialen Gegebenheiten überschreitet. Konflikte spielen sich

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Evagrios Pontikos, a. a. O., S. 54.

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nicht nur im Menschen und zwischen Menschen ab. Einzelne und Gruppen von Menschen, beispielsweise als Familienverbände oder als Kriegsgeneration, werden durch von außen kommende Mächte in den Bann gezogen und ergriffen; – weil er die Konflikte, in denen Menschen sich immer mehr oder weniger intensiv befinden, bis hin zu den Abgründen analysiert. Menschen sind tatsächlich manchmal hineingenommen in das Ringen von Gut und Böse in dieser Welt: in einen unheimlichen Zusammenhang, ja das Ringen von Gut und Böse findet in ihnen selbst statt! – Gleichzeitig gibt Evagrios Pontikos praktische Ratschläge zu resilientem Verhalten, die im Kern darauf abzielen einen Realitätssinn zu entwickeln, der vor eigener Selbstüberschätzung bewahrt und auch aus Ohnmachtsgefühlen herausführt. Die Mittel, die zu einer Stärkung von Resilienz führen, sind handlungsorientiert: Sie bestehen im Beten und konkret darin, das Notwendige von Jesus Christus zu erbitten: Er wirkt mit seiner Macht von der göttlichen Welt aus und beeinflusst spürbar das menschliche Wahrnehmen und Erleben: so dass man bekommt, was man braucht, findet, was man sucht und freundlich hereingelassen wird (Lukas 11,9). Wer bittet, macht bereits den ersten Schritt, um aus einer Konflikt geprägten, krisenhaften Situation heraus zu kommen. – Manchmal muss jemand allerdings erst einen Widerstand überwinden, bis er in der Lage ist, etwas zu erbitten. Hier ist ausdrücklich die körperliche Lage gemeint: auf den Knien, am Boden, in der Erschöpfung. Denn es ist manchmal verdammt schwer, sich als Hilfsbedürftigen zu erkennen zu geben. Aber die Alternative heißt jetzt nur noch: im Unerträglichen bleiben oder daraus heraus wollen, liegen bleiben oder aufstehen (Jeremia 8,4). Damit hat Evagrios Pontikos Klärendes und Erhellendes zu den Grundvoraussetzungen und Einflüssen menschlicher Existenz beigetragen. Er hat die menschlichen und zwischenmenschlichen Ressourcen von Resilienz aus heutiger Sicht elementar um die göttliche Kraftzufuhr erweitert und lebenspraktische Hilfen zu resilientem Verhalten vermittelt. Wichtige Impulse hat er zur Auseinandersetzung mit der Realität des Bösen in dieser Welt gegeben – das es unter aufgeklärten Zeitgenossinnen und Zeitgenossen bis in die Kreise der Pfarrerschaft hinein nicht mehr geben darf: Statt dessen sollen Frauen und Männer inner- und außerhalb geschlossener Einrichtungen psychotherapeutisch behandelt werden. Die Frage bleibt bestehen, ob abgründige Realitäten mit psychosozialen Prägungen, Bedingungen und Einflüssen ausreichend erfasst werden können. Jedenfalls bitten viele aufgrund ihrer erlittenen Erfahrungen oder realistischen Befürchtungen an den Grenzen von Tag und Nacht immer wieder: „[…] erlöse uns von dem Bösen“! (Matthäus 6,24). Wer sein Werk als unter Halluzinationen in der Einsamkeit der Wüste entstanden diskreditieren will, hat es schwer: Gegen diesen Abwertungsversuch spricht die differenzierte Analyse dessen, was Pontikos erfahren und wahrgenommen hat, seine im Hinblick auf andere gegebenen Lebens- und Glaubenshilfen und nicht

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zuletzt, dass er selbst von drohenden Gefahren als Halluzinationen16 und Wahnbildern17 spricht.

3. Atmosphäre Besonders dafür, dass Menschen aus einer bedrängenden und unheiligen, weil dämonologisch aufgeladenen Situation herauskommen können, hat Evagrios Pontikos eine Möglichkeit eröffnet, indem er zunächst die so geartete Atmosphäre wahrgenommen hat: ein Zustand, der teils von außen auf einen Menschen einwirkt, teils im Menschen seinen Widerhall findet. Durch die nicht nachlassende Kontaktaufnahme im Namen Jesu Christi kann sich dann (wieder) eine befriedete, heilige Atmosphäre einstellen: von außen den Menschen so erfassend, dass er kraft des heiligen Geistes zu einem Resonanzkörper des göttlichen Einflusses wird. In jüngerer Zeit hat Gernot Böhme das Phänomen des Atmosphärischen, in dem Wahrnehmender und Wahrgenommenes eins werden, für den Bereich der Ästhetik wieder aufgenommen.18 Aber vor allem ist hier der Philosoph Hermann Schmitz mit seiner Phänomenologie der Gefühle zu nennen.19 Gefühle seien nicht etwas rein Innerliches, wie die zunehmende Psychologisierung nahe legen will, sondern „überpersönliche, räumlich ergossene Atmosphären, die als ergreifende Mächte Subjekte durch affektives, leibliches Betroffensein heimsuchen“ 20. Schmitz hat damit jene naive Dämonologie, mit der Evagrios Pontikos im Rahmen seiner Zeit operiert hat, in ein neuzeitlich-zeitgenössisches Verständnis überführt, aber auch der Rede vom heiligen Geist als Medium machtvoller Einflussnahme wieder Geltung verschafft: sowohl niederdrückende als auch aufrichtende Gefühle und Stimmungen sind Atmosphären, die Menschen als „spürbare Realitäten nach Art des klimatischen Wetters“ 21 mehr oder weniger stark beeinflussen. Und in ihrer Umgangssprache erfassen Menschen jenes „affektive Betroffensein“ ganz sachgemäß, wenn sie davon sprechen, dass sie „angemacht“ worden seien: von Vorfällen, Ereignissen, Personen, Nachrichten, teils konkret benennbar, häufig aber auch mannigfaltig und diffus, manchmal wie zufällig … Was für die ästhetische Rezeption einer privaten, anrührenden Fotografie, eines trivialen, aber zu Herzen gehenden Romans, oder auch eines verstört zurücklas16 17 18 19

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A. a. O., S. 41. A. a. O., S. 43. Gernot Böhme, Atmosphäre, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1995. Hermann Schmitz, Das Göttliche und der Raum. System der Philosophie III/4, Bouvier Verlag, Bonn 1977. A. a. O, S. 80 f. Manfred Josuttis, Segenskräfte, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2000, S. 37. Zur Phänomenologie insgesamt: ebd., S. 29 ff.

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senden Films gilt, was der Philosoph hinterfragt und angemessen für die Gegenwart zu beschreiben versucht, betrifft natürlich erst recht die Quelle aller Kunst und allen Nachdenkens: die Realität des Lebens selbst. Was für Szenen schildern nun alt gewordene Frauen und Männer? Was erzählen sie von ihrem gelebten Leben? Was lässt ihnen keine Ruhe? Es geht um Bleibendes, Belastendes, Befreiendes und um vertiefende und weiterführende Einsichten in das Phänomen der Resilienz.

4. Erfahrungen „Am Abend denke ich immer daran, was ich Gutes in der Kirche erlebt habe.“ Ich sitze Frau A. gegenüber. Wir sind im Speiseraum des Wohnbereichs, in dem sie seit knapp seit Jahren lebt. Bald wird es das Essen geben, aber es bleibt noch genügend Zeit, um ihr zu ihrem Geburtstag zu gratulieren. Nach meinen Glück- und Segenswünschen bekomme ich selbst eine ganze Menge an Bleibendem zu hören! Sie zählt die Pastoren ihrer Gemeinde der letzten Jahrzehnte auf, zu denen sie immer ein gutes Verhältnis gehabt habe, sie hat „das Blättchen“ – den Gemeindebrief – verteilt, aber vor allem hat sie sehr gern im Chor mitgesungen und berichtet von eindrücklichen Aufführungen! Ich nehme interessiert und manchmal nachfragend Anteil an ihrem Leben: für das sie aus dem Leben in der Gemeinde Kraft geschöpft und wie in einem Kreislauf selbst zum Gemeindeleben beigetragen und es mit ihren Kräften bereichert hat. Am Ende unseres Gesprächs nennt die fast 90-Jährige noch einmal, womit sie den Tag beschließt: „Am Abend muss ich immer daran denken, was ich in der Kirche Gutes erlebt habe.“ Eine Vielfalt an resilienten Kräften begegnet mir in den Schilderungen von Frau A.: Sie ist woanders hingegangen und hat mit dem sozialen und frommen Feld einer Kirchengemeinde, aber auch mit dem sakralen Raum des Kirchengebäudes Quellen gefunden, aus denen sie schöpfen konnte. Über die Widrigkeiten ihres Lebens hat sie, deren Ehe kinderlos geblieben, deren Mann schon vor einer ganzen Reihe von Jahren verstorben und die „wegen ihrer Krankheit“ hier eingezogen ist, nicht näher gesprochen. Aber es ist mit Händen zu greifen, wie sehr die Frau im Rollstuhl und mit ihrem schlaffen Arm auf unterstützende Kraftzufuhr angewiesen war und ist. Und nun lebt sie am Abend ihres fragil gewordenen Lebens allabendlich aus der resilienten Kraft des Dankes! Sie denkt an das bleibende Gute, woraus sie leben konnte. Und es ist offensichtlich, dass es als Dank zu dem Einen zurückströmen soll, von dem es her kam und der sie weiter bewahrt: nun in einem weiteren, anderen Kreislauf. Zehnte These: Im Dank denken Menschen an den Einen, von dem alle Kräfte zum Guten im Leben herkommen: an Gott. Gleichzeitig bleibt im Dank das Gute in

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Erinnerung und entfaltet weiterhin auch seine resiliente Kraft. Deshalb können trotz der Widrigkeiten des Alters Frauen und Männer Zufriedenheit finden. Aufgrund der Erfahrungen ihres Lebens sind sie manchmal sogar froh, weil sie im diesseitigen Singen vielleicht die Vorfreude auf den Gesang im ewigen Leben verspürt haben. Allerdings begegnet mir nicht nur Frohmachendes und das Gute, das bleiben soll. Hin und wieder begegnet mir auch das nach wie vor belastende Böse. Wer alt geworden ist, dem ist – wie schon anfangs erwähnt – oft nicht viel erspart geblieben. Und manchmal ist man selbst in Situationen geraten, in denen man sich sehr menschlich verhalten und anderen nichts erspart hat. Herr D. druckst erst etwas herum 22: Ob ich nicht einmal vorbei kommen könne. Er wohnt in einem Haus des „Betreuten Wohnens“. Wir sind uns oft begegnet, wenn er mit seinem dreirädrigen Fahrrad unterwegs war: Manchmal ergab sich ein small talk am Wegesrand, wenn er hilfsbereit für andere etwas erledigt hatte, oder dazu aufbrach. Nun sagt er: „Ich hab’ da noch was.“ Und dann sitzen wir an einem Nachmittag am Esstisch in seinem kleinen Appartement. „Das war im Krieg“, fängt er an, „da war so eine Frau.“ Er braucht einen Schluck aus dem Flachmann. „Ich wollte was von ihr. Es kam auch dazu. Was mich am meisten überrascht hat: dass sie wohl auch wollte. Jedenfalls hat sie sich überhaupt nicht gewehrt.“ Will er mit dem letzten Satz seine Vergewaltigung relativieren? Er blickt mich halb flehend, halb erwartungsvoll an. Es entsteht ein Schweigen: abwartend, erwartend, auch hoffend … Ich frage ihn schließlich, ob es ihm leid tut und ob er die Vergebung will. Er nickt stumm. Ich spreche ihm die Vergebung „im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“ zu, schließe mit dem Kreuzeszeichen und: „Friede sei mit dir!“ Die Verabschiedung ist kurz: diesmal gänzlich ohne small talk. Er hat feuchte Augen. Was ist mit Herrn D. passiert? Da war jene intime gewaltsame Handlung, die er begangen hat und die Teil seiner Biografie als Soldat im Krieg geworden ist. Da war die bleibende Unruhe, in die ihn das, was durch ihn mit jener Frau passiert ist, versetzt hat. Und da war die unausgesprochene Hoffnung, dass sein schädigendes und beschädigtes Leben im Alter vielleicht doch noch geheilt werden kann … Wie zufällig ist er dann in den Kontakt mit der vergebenden Kraft Gottes gekommen. Durch das alte und aktualisierte Ritual der Vergebung im Namen dessen, der die Macht hat zu vergeben, hat er erfahren: Gott vergibt; Gott verwirft mich nicht, sondern bindet mich erneut, gar erneuert in Seine Geschichte mit ihm ein! Elfte These: Im Ritual der Vergebung erfahren Menschen Krafterneuerung als göttliches bereinigendes Eingreifen, um auf diesem Wege resilient geworden wie22

Diese Begegnung, von der ich in: „Deutsches Pfarrerblatt“, März 2011 S. 164–S. 167, schon einmal berichtet habe, schildere ich aufgrund ihrer Singularität und Eindrücklichkeit hier erneut.

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der leben und schließlich im Frieden sterben zu können. Immer wieder und ohne Ende werden sehr menschliche Lebensgeschichten durch Reue von der Heilsgeschichte Gottes durchwoben: im Erbarmen, in Gnade, in machtvoller Zuwendung (Jesaja 40,31). Auch um das Böse geht es in der Bibelstunde an diesem Nachmittag. Nach einem stellenweise recht heiteren Vorgeplänkel stelle ich das Thema für den 20. Sonntag nach Trinitatis vor: „Glaube, Moral und mehr als Moral“. Sofort wird es still. Das Schweigen ist teils andächtig, teils nachdenklich, teils gespannt. Und nachdem ich den Abschnitt aus dem 1. Thessalonicherbrief (4,1–8) vorgelesen habe, werden bald Geschichten erzählt, wie es bei Herrn D. auch schon war. Heute Nachmittag soll es offensichtlich um Befreiendes gehen. Vor allem in den Kriegsjahren, schildern die beiden Frauen, die gekommen sind, habe sich bei ihnen in Schlesien viel Schlimmes zugetragen. Nicht nur Juden, auch Polen habe man, teilweise auf infame Weise, weggenommen: den Kinderwagen, die Chaiselongue in der Küche, vieles andere. Ein Deutscher, eine Deutsche habe nur darauf zu zeigen brauchen: dann besaß sie es bald, dann bekam er das schon. Aber auch die Familien seien auseinandergerissen worden. In dieser gesetzlosen und amoralischen Zeit sei „manchen von uns nicht viel erspart geblieben“. Sie nennen Flucht, Vertreibung, Kriegsgefangenschaft der Männer. Andererseits, entdecken wir auch, konnten es Kriegsgefangene durchaus etwas besser haben, als die jeweilige einheimische Bevölkerung während der Nachkriegszeit. Die beiden Frauen müssen sich Luft machen, nachdem sie am Anfang der Stunde gehört hatten, wie es unter uns Menschen zugehen soll: Gottes Gebote sollen gehalten werden! Konkret soll der Bruder beim Handel nicht übervorteilt, und die Ehefrau geachtet und geschätzt werden. Dass es dabei um mehr geht als ein reglementiertes, moralisch einwandfreies Leben, hatte besonders der letzte Vers deutlich gemacht: „Seid aber miteinander freundlich, herzlich und vergebet einer dem anderen – gleichwie Gott euch vergeben hat in Christus!“ Der Erlöser mit seiner heilvoll-vergebenden Macht befähigt Menschen immer wieder aufs Neue, ein wirklich gutes Leben zu führen. Auch ich steuere eine Geschichte bei: Zu dem kommenden Sonntag gehört ebenfalls das Ende der Katastrophe der Sintflut (1. Mose 8,18–22). Gott beantwortet damit die Frage nach dem Woher des Bösen und muss konstatieren: „Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“ Und gleichzeitig bekundet er nachdrücklich seinen Willen: „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen“, ja der Höchste verheißt: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ Die lebensnotwendigen und lebenserhaltenden Rhythmen bleiben trotz der menschlichen Regung, manchmal gar Neigung zum Bösen bestehen! Eine der beiden Frauen ist noch ganz betroffen. Sie braucht etwas Tröstendes und von den Schatten der Vergangenheit Befreiendes. Nun entdecken wir das Gute

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im eigenen Leben: dass man im Krieg und danach beschützt worden ist, dass man mit der allmählich sich ausbreitenden Normalität wieder in ein friedliches Leben zurückgefunden hat, dass die verlässlichen Gebote und Rhythmen Gottes Halt gegeben haben und nach wie vor ein Halt sind. Es gibt auch das lebenserhaltende Wirken der Schöpferkraft Gottes, dem man sich anvertrauen kann: eine subtile Form von Resilienz, wenn man danach und nicht dagegen lebt! Es gibt diese unglaubliche Treue Gottes, der uns nicht unserem Schicksal überlässt und der durch den Glauben an den Heiland und Erlöser resiliente Kräfte für ein gutes Leben freisetzt! Für das alles danken wir zum Schluss, nachdem ich den Bibeltext noch einmal verlesen habe und ich stellvertretend bete. Dazu gehören die Bitten für uns und andere um Trost, Stärkung von Glaube und Hoffnung und Beistand in den Nöten des Lebens und Sterbens. Beide stimmen schließlich in das Vaterunser ein. Mit dem bewahrenden Segen gehen wir wieder auseinander. Zwölfte These: Selbst der im Alter manchmal angefochtene Glaube bleibt eine nicht versiegende Quelle, um resilient leben zu können. Im Glauben finden alt gewordene Frauen und Männer einen Halt, damit im Abarbeiten des Gewesenen die Vergangenheit mehr und mehr zurückbleiben kann. Manchmal suchen Menschen im Alter die Quellen des Glauben wieder auf: um heilige Texte zu hören, um sich aussprechen zu können, um in einem lebendigen Austausch aufgrund der eigenen Einfälle das Gehörte auf sich einwirken zu lassen, um zu danken, Notwendiges zu erbitten und einen Segen zu bekommen. Gerade im Alter brauchen Menschen glaubensauffrischende und Glauben stärkende Impulse, damit manchmal behutsam, manchmal energisch, die resilienten Kräfte im Gotteskontakt wieder aktiviert werden können. Sind Jüngere durch Eltern, Lehrer und viele andere Ältere in das Leben eingeführt worden, so können sie nun manchmal Älteren beistehen: – in deren Altern als der Lebensphase zwischen dem, was war und dem, was kommt – und wenn die Zeit angebrochen ist, endgültig aus diesem Leben herauszugehen, am Lebensende.

5. Wirklichkeiten und Resonanzen Oft sagen alt gewordene Männer und Frauen, denen ich zum Geburtstag gratuliere: „Ich hätte nie gedacht, dass ich so alt werden würde!“ Meistens liegt die Betonung auf „so“. Entsprechend soll die abschließende Leitfrage lauten: „Woher kam die Kraft?“, um „so“ alt zu werden. Sie drückt ein Staunen aus! Denn in der Rückschau erkennt ein alt gewordener Mensch, dass er in einer schwierigen und belastenden Lebensphase schließlich doch wieder über Kräfte verfügen konnte, die er doch seinem eigenen Erleben

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nach nicht mehr hatte: am Rande der physischen, der seelischen, der mentalen Kräfte, der Nervenkraft flossen einem andere Kräfte zu! Das eigene Kraftreservoir blieb nicht erschöpft, sondern wurde durch unterschiedliche Einflüsse, wie ich versucht habe aufzuzeigen, wieder aufgefüllt. Dadurch bekam das Leben nicht zuletzt auch wieder einen Sinn. In der Einsamkeit der Wüste hatte Evagrios Pontikos erkannt, dass es für das menschliche Leben zum einen darum geht einen Realitätssinn zu entwickeln, zum anderen bei aller Konfliktanfälligkeit, ja -beherrschtheit bestehen zu bleiben. Nach allen Angeboten in einem Alten- und Pflegeheim von der Beschäftigungstherapie bis hin zu Diavorträgen und musikalischen Darbietungen kehren alt gewordene Frauen und Männer wieder in die Einsamkeit ihres Zimmers zurück. Was erkennt man hier mit der Zeit? Manche reagieren mit Dank auf die konkretisierte Erleuchtung, woher neue Lebenskräfte kamen: durch Freundinnen und Freunde, durch Menschen in der Kirchengemeinde, durch den Konfirmationsspruch, durch intensive und inbrünstige Gebete, auch im Gotteshaus und durch vielfältige andere Wirklichkeiten des Schöpfers und der Schöpfung. Manche erkennen die menschliche Schlechtigkeit anhand eigener abgründiger Handlungen, aber auch dass sie bereuend Zuflucht zur Realität göttlichen Erbarmens nehmen können und dass ihnen vergeben wird: als göttliche Resonanz auf ihre Not und Bedürftigkeit! Gott lässt die konsequenten Folgen auf menschliche Handlungen, Worte und Gedanken zum Schlechten nicht eintreten, sondern lässt stattdessen seine Gnade Wirklichkeit werden. Unglaublich! – Manche antworten auf die Alltagsfrage: „Und wie geht es Ihnen?“, mit den Worten: „Ach, Sie wissen schon, Herr Pfarrer: Schlechten Leuten geht’s doch immer gut!“. Und nicht ohne Selbstironie drücken sie damit unbewusst sich selbst und die eigene Anfälligkeit für Schlechtes aus. Gleichzeitig kommt etwas anderes zum Ausdruck: dass zur Resilienz die Distanz zu sich selbst gehört, man könne ein guter Mensch sein. Denn nur Einer ist gut, und nur von ihm kommen alle guten resilienten und nicht-resilienten Kräfte her: von dem Höchsten. Neben der göttlichen Vergebung gibt es auch eine andere Möglichkeit, wie Gott regieren kann. Mit: „Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend!“ (Psalm 26,7), bittet der Beter, die Beterin Gott darum, sich an Taten vor der vollen Verantwortung als erwachsener Mensch nicht zu erinnern. Gott kann nicht nur vergeben; er soll, er kann in seiner Barmherzigkeit auch vergessen! (ähnlich betet eine Gruppe von Menschen, indem sie sich zu ihren Taten bekennt: „Gedenke nicht unsrer vorigen Missetaten“, Psalm 79,8). Auch – und gerade – im Alter steckt in der Wirklichkeit des Vergessens ein enormes Potential an Resilienz! Ich muss als alter Mensch nicht unerbittlich festhalten wollen, was andere mir angetan haben und was das Schicksalhafte der zeitgeschichtlichen Umstände mit sich gebracht hat. Vergessen ist auch: frei werden von Schlimmem der Vergangenheit. In der Wahrnehmung dessen, dass jemand

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(endlich) Erleichterung findet, wird dieses Geschehen spürbar: Resonanz als Befreiung für denjenigen, der es erfährt und für denjenigen, der daran Anteil hat. Bei dementiellen Erkrankungen, vor allem beim Typ Alzheimer, sind Frauen und Männer in einen teils befremdlichen, teils unheimlichen Prozess des Vergessens hineingenommen: Die Wirklichkeiten dieses Lebens verblassen zusehends. Selbst – vielleicht gerade – die eigenen Angehörigen werden zunehmend undeutlich und schließlich fremd. Wenn man Menschen mit Demenz in Ruhe ihren Weg gehen lässt, kann man mit der Zeit auch das Gute dieses Weges entdecken. Manchmal sind Menschen mit Demenz in einem friedvollen, gar entrückten Zustand: da zeigt sich jenes selige Lächeln, das man sonst nur aus frühen Kindertagen kennt. „Vater unser im Himmel“ kann man in einem Wohnbereich dementiell erkrankter Menschen erstaunlich lange beten, und vielleicht ist den dortigen Bewohnern klarer, was damit gemeint ist, als geschäftigen, so stark diesem Leben zugewandten Zeitgenossen. Manche Menschen werden von Ängsten bis hin zu Todesangst ergriffen angesichts der näher rückenden Realität des eigenen Todes. „Woher kommt nun Kraft?“, heißt die unausgesprochene Frage jetzt, die in Wirklichkeit eine Bitte ist. Wir stehen am Bett von Frau W., die mich durch frühere Besuche kennt: ihre Schwester, die mich angerufen hatte, und ich. Frau W. atmet heftig und kurz 23. Sie bekommt, nachdem ich mich vorgestellt und langsam und behutsam Kontakt über ihre Hand mit ihr aufgenommen habe, nach einem Gebet mit Dank und vor allem der Bitte um eine bewahrende Heimführung „in Dein ewiges Reich“ noch einmal einen Segen! Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes wird ihr noch einmal Kraft zum Aufbruch und Schutz bis zur Ankunft vermittelt. Und angesichts der bevorstehenden Trennung bekommt auch ihre Schwester das Zeichen des Kreuzes segnend auf die Stirn gezeichnet: für ihren weiteren Lebensweg. Denn vom ersten Atemzug bis zum letzten Ausatmen brauchen Menschen auf ihrem Lebensweg vor allem eines: Schutz! Die Wirksamkeit von Resilienz erweist sich schließlich darin, dass jene lebensnotwendige Schutz-Atmosphäre bestehen bleibt, erneuert wird, oder grundsätzlich neu aufgebaut wird: sowohl um mich herum als auch in mir. Jeder Mensch braucht eine mehr oder weniger umfangreiche Zone um sich herum, in die hinein sich nur bestimmte, „nahe stehende“ Personen und Angehörige heilender Berufe und auch nur vorübergehend bewegen dürfen (während manche Menschen lange unnahbar bleiben und man noch mehr Geduld braucht als sonst). Genauso braucht das „menschliche Herz mit seinem Dichten und Trachten“ als personalem Zentrum einen Schutz, um vor eindringenden Übergriffigkeiten bewahrt zu bleiben.

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Die sogenannte Cheyne-Stokes-Atmung hatte bereits eingesetzt: eine rhythmische, fast mechanisch wirkende Form des Atmens während des Sterbevorgangs.

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Im Vorgang des Sterbens kommt Resilienz an ihre Grenze: Einerseits ist die Zeit gekommen, alle Widerstandskräfte, die im Leben so hilfreich waren, aufzugeben. Andererseits geht es nun darum, in der letzten Widrigkeit des Lebens zu bestehen: nicht selten hilft dabei die Kraft eines Segens. Ein selbst anfälliger Mensch wird, indem er segnet, zum Resonanzboden des ewigen Gottes und vermittelt dessen unvergängliche Wirklichkeit, „denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit!“.

Literatur Bethge, E. (Hg.) (1998), Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 8, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Böhme, G. (1995), Atmosphäre, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Joos, G. (1986), Evagrios Pontikos: Praktikos. Über das Gebet, Übers. aus dem Engl., mit Einl. von John Eudes Bamberger, Münsterschwarzach: Vier-TürmeVerlag. Josuttis, M. (2000), Segenskräfte, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Lec, S. J., (1964), Neue unfrisierte Gedanken, hg. von Karl Dedecius, München: Hanser. Schmitz, H. (1977), Das göttliche und der Raum. (System der Philosophie III/4), Bonn: Bouvier Verlag. Sloterdijk, P. (2009), Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Welter-Enderlin, R., Hildenbrand, B. (Hgg.) (2008), Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände, Heidelberg: Carl Auer Verlag. Wurmser, L. (2001) Ideen- und Wertewelt des Judentums. Eine psychoanalytische Sicht, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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Über Frida Kahlo zu Augustinus Anmerkungen zu Resilienz und Patristik

1. Einleitung Der Begriff Resilienz hat in den vergangenen Jahren sowohl bezüglich der Anzahl der Disziplinen, die mit dem Begriff arbeiten, als auch bezüglich der Publikationshäufigkeit als Stichwort enorm an Popularität gewonnen. So wird dieser Begriff im Bereich der technischen Entwicklung, in der Chemie, in den Umweltwissenschaften, der Polymerwissenschaft, der Computerwissenschaft, der Verhaltenswissenschaft, in Publikationen der Telekommunikation, der Soziologie, der Psychiatrie, der Wirtschaftswissenschaft sowie der Psychologie eingesetzt, um die häufigst Verwendenden zu nennen (Quelle: Analyse ISI Web of Knowledge am 2. 10. 2010). Die Publikationshäufigkeit verdichtete sich über die letzten 60 Jahre hinweg relativ konstant. So sind 1950 noch 3, im Jahr 2000 schon 832 und 2009 bereits 3641 Veröffentlichungen unter dem Stichwort „Resilienz“ im ISI Web of Knowledge gelistet. Eine ähnliche Entwicklung kann man in diesem Zusammenhang auch innerhalb der Psychologie verfolgen. Sind 1979 nur 3 Artikel unter dem Stichwort „Resilienz“ veröffentlicht worden, waren es 2009 bereits 551. Die wissenschaftliche Forschung zu diesem Begriff stieg also rapide an. Resilienzforschung liegt demnach „voll im Trend“. Um die bisherigen Ergebnisse zu veranschaulichen, werde ich in diesem Artikel einen Einblick in die Entwicklung der psychologischen Resilienzforschung auf Grund der Änderung zentraler Forschungsfragen geben. Danach werden einige zentrale Begriffe voneinander abgegrenzt. Des Weiteren wird ein Resilienz-Modell in seiner Vielseitigkeit vorgestellt, um berücksichtigte Faktoren und antizipierte Zusammenhänge einzubringen. Die analytische Darstellung aktueller Ergebnisse aus Studien der psychologischen Resilienzforschung werde ich mit einer Skizzierung des Lebens Frida Kahlos untermalen. Diese inspirierende Frau vervollständigt in diesem Rahmen ein Bild, das Einblick in das komplexe, facettenreiche und farbenfrohe Thema Resilienz bieten will.

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Diese Darstellung wird durch Eingehen auf Leben und Werk des Hl. Augustinus abgerundet. In seinen Bekenntnissen (Confessiones) suche ich in Auszügen Parallelen zur aktuellen psychologischen Resilienzforschung, womit ein möglicher Beitrag der Patristik zum „trendigen“ Thema Resilienz augenscheinlich wird. Zuallererst wird jedoch der grundlegende Beitrag der Patristik zur Psychologie, der teilweise in Vergessenheit geraten sein dürfte, erläutert. Die vielleicht im ersten Impuls einander fremd scheinenden Forschungsgebiete Patristik und Psychologie liegen letztendlich sehr nahe beieinander.

2. Patristik in der Geschichte der Psychologie Die Relevanz der Patristik für die aktuelle psychologische Forschung mag nicht gleich auf der Hand liegen. Daniel Hell schreibt in seinem Buch Die Sprache der Seele verstehen, wie er auf die frühchristlichen Eremiten aufmerksam geworden ist: Die so genannten Wüstenmönche sollen seiner Meinung nach moderne Ansätze der Psychoanalyse und der kognitiven Verhaltenstherapie vorwegnehmen.1 Doch wie kam er in erster Linie auf die Idee sich mit patristischen Texten auseinanderzusetzen? Bewegt man sich auf dem ohnehin relativ kurzen Strang der Geschichte der Psychologie in der Zeit zurück, hinein in die Philosophie, entdeckt man, dass die Lehre der frühchristlichen Kirchenväter die Geschichte der Psychologie letztendlich wesentlich geprägt und beeinflusst hat. An dieser Stelle will ich ansetzen und mich auf einen in dieser Hinsicht sehr bedeutenden Kirchenvater beziehen – Augustinus. Augustinus hatte einen bedeutenden und nachhaltigen Einfluss auf die Geschichte der Psychologie. Sein Beitrag zur Psychologie als Wissenschaft wird häufig hervorgehoben. James M. Baldwin beschreibt den Einfluss des Augustinus dabei wie folgt: „To sum up, we may safely say of St. Augustine the following three things: (1) he justified empirical psychology by separating off and defining the inner world of mind as distinct from physical nature; (2) he developed the dualism of mind and body up to the point at which their actual separation as different substances could be made by Descartes; and (3) he established the function of reflection, by which the self distinguishes itself as subject from the objects of its thought, thus carrying dualism on to a new stage of development.“2

1 2

Daniel Hell, Die Sprache der Seele verstehen, Herder-Spektrum, Freiburg/Wien 2002. James M. Baldwin, History of Psychology – A Sketch and an Interpretation, Pierce Press, Arlington 2009, p. 101.

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Sein Einfluss ist dem zu Folge grundlegend und er kann als Vorreiter seiner Zeit bezeichnet werden. Seine Annahmen waren christlich geprägt, einige überdauerten Jahrhunderte. Sie wurden zu einem integralen Bestandteil psychologischer Spekulationen, ihre theologischen Aspekte fielen zunehmend weg. Eine Zusammenfassung des Einflusses von Augustinus, laut Daniel Robinson, wird zu diesem Zweck an dieser Stelle frei übersetzt: 1) Im Gegensatz zu den frühen Naturphilosophen und im Einklang mit späteren Entwicklungen in der stoischen Philosophie gewährten die Kirchenväter den Menschen eine in der Welt einzigartige Position. Diese Annahme verhinderte das Durchsetzen einer ethologischen oder evolutionären Perspektive, und schreckte die Anwendung wissenschaftlicher Prinzipien jeglicher Art, die sich mit menschlichem Wissen, Verhalten und Willen auseinandersetzen, ab. Die Tierwelt wurde in diesem Zusammenhang gänzlich auf das ausschließlich Nützliche und für den Menschen Brauchbare degradiert. 2) Auf Grund der einzigartigen Position des Menschen in Beziehung zum Gleichgewicht der Natur bestanden die patristischen Gelehrten darauf, dass jeder Mensch individuell verantwortlich für sein Handeln ist. Diese der individuellen Verantwortlichkeit gewidmete Aufmerksamkeit schließt an, wo Platon und Aristoteles aufgehört hatten, jedoch mit jenseitigen Implikationen überspannender Wichtigkeit. Das Bewusstsein wird dadurch auf die Landkarte der Psychologie gesetzt. 3) Die Philosophen der frühen Kirche bestanden auf einem psycho-physischen Dualismus, dem zu Folge die psychologischen Charakteristika des Menschen für immer hinter der physischen Untersuchung stehen. Sie vertraten demnach eine antimaterialistische Überzeugung. In kirchlich-orthodoxem Verständnis bestand zwischen Seele und Körper ein Dualismus; später wurde die Seele vom Geist abgelöst. In der Gegenwart lebt dieses Thema im Leib-Seele-Problem weiter. Die Griechen hatten dieses Problem als Erste beschrieben, Augustinus löste es auf eine Art, die für tausende Jahre zufriedenstellend blieb. 4) Durch das Hineintragen von Religiosität in jeden Bereich menschlicher Angelegenheiten sahen Kirchenväter tägliche Erfahrungen häufig als trivial an. Sie setzten die platonische Tradition fort, die jeder Wahrnehmung misstraut, und segneten diese Tradition mit einigen mächtigen Schriften ab. Gelegentlich führte das zu einem bescheidenen, manchmal bösartigen, Anti-Intellektualismus. Dieser negative Effekt verschlimmerte sich, als die politische Autorität der Kirche in die Lage kam, ihre Position offiziell auszuüben. 5) Dieser von Mystizismus eingefärbte Rationalismus brachte eine Psychologie hervor, die wir als „Intuitionismus“ bezeichnen könnten. Dieser steht für einen Glauben an die Macht des Geistes, der transzendentales Bewusstsein der Wahrheit erreichen kann. Die Kirchenväter gaben ihm mehrere Namen: den „inneren Sinn“, das „Licht des Glaubens“ und „Gnade“. Jener sei der Handelnde, der unserem Handeln Sinn verleiht und uns dadurch verantwortlich macht. Dieser Beitrag

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überlebt bis heute in der Form von Theorien über das Unbewusste, in Auffassungen unbewusster Motivationen und in Theorien, die die angeborenen Ursprünge unserer moralischen Sensibilität erklären. Indem sie die Fehlbarkeit dieser Intuition in Betracht ziehen, präsentierten die Patristiker eine Theorie psychischer Abweichung als Krankheit. Dadurch verstärkten sie die ansonsten subtile Ansicht, dass es beim Versuch, die individuelle Psychologie zu verstehen, nicht ausreiche, lediglich das Verhalten in Betracht zu ziehen; nur wenn eine Handlung im Lichte ihrer Intention beurteilt werde, könne diese Handlung als erklärt bezeichnet werden. Die Kirchenväter lagen also dem Behaviorismus fern.3 Die Behauptung, der Grundstein für die Psychoanalyse und Psychotherapie im Allgemeinen sei in der Patristik gelegt worden, ist hiernach ausreichend untermauert. Im Gegensatz zur heute weitverbreiteten experimentellen Psychologie wendeten die Kirchenväter Methoden wie Introspektion, Selbstreflexion und Empathie an, die auch in der heutigen Psychotherapie Anwendung finden. Sie scheinen sich des Weiteren mit ihren Einsichten vornehmlich auf Individuen zu beziehen, wodurch eine Assoziation zur Individualpsychologie entsteht. Genau in diesem Umstand liegt auch eine Möglichkeit für die Patristik, die aktuelle psychologische Resilienzforschung zu befruchten. Der Forschungszweig Psychologie mit seiner wissenschaftlich anerkannten Methodik, die zum größten Teil quantitative Methoden betrifft, scheint mit teilweise unerklärlichen Phänomenen konfrontiert. Die anerkannte Vorgehensweise, die Methoden wie Introspektion und Selbstreflexion kaum zulässt, scheint ihre Grenzen zu erreichen. Eine Erweiterung der bisher hauptsächlich eingesetzten Methodik um diese uralten Vorgehensweisen scheint enorm vielversprechend, da sie andere Erfahrungsebenen miteinbeziehen und bisherige Einsichten erweitern können. Im Folgenden werde ich eine kurze Zusammenfassung sowie einen Einblick in die aktuelle, psychologische Resilienzforschung geben, um diese Behauptung zu veranschaulichen. Danach werde ich näher auf die Verbindung von Patristik und Resilienz, die ich sehe, eingehen, um Parallelen zu ziehen und Denkanstöße zu provozieren.

3. Resilienz und Psychologie Die Entwicklung der Resilienzforschung und eine Einteilung derselben auf Grund des sich wandelnden Forschungsziels (was soll erklärt, verstanden und vorhergesagt werden?) ist eine gute Ausgangslage, um in die bisherige Resilienzforschung einzuführen. In der Literatur werden häufig drei sogenannte waves of resilience

3

Daniel N. Robinson, An intellectual history of psychology, Univ. of Wisconsin Press, Wisconsin 1995, p. 83 ff.

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unterschieden.4 Keine der hier vorgestellten Forschungswellen ist derzeit gänzlich abgeschlossen oder vollständig geklärt. Die hier angeführte Darstellung soll somit einen Überblick über die bisherige Entwicklung des Forschungsbereichs geben. Sie zielt dabei keineswegs auf eine eindeutige Abgrenzung zwischen den bisherigen Ergebnissen ab. Die Untersuchungswellen stehen vielmehr in dynamischer Beziehung zueinander. Die Nummerierung der Forschungswellen resultiert aus der zeitlichen Sequenz derselben und so lassen sich die ersten Studien zur Resilienzforschung auch in der ersten Forschungswelle verorten. Für die erste Untersuchungswelle sind vor allem zwei Arten von Faktoren zentral: – protektive Faktoren – begünstigende Faktoren Protektive Faktoren sind per definitionem jene Faktoren, die den negativen Einfluss von Widrigkeiten reduzieren und im Individuum, in der Familie und/ oder in der Umwelt anzutreffen sind. Das Vorhandensein eines protektiven Faktors bedeutet in der Psychologie eine signifikante Erhöhung in der statistischen Wahrscheinlichkeit einer positiven oder günstigen, aktuellen oder noch in der Zukunft liegenden Folge, bei der statistischen Prüfung des untersuchten ResilienzModells. Zusätzlich oder stattdessen kann das auch eine signifikante Verringerung der Wahrscheinlichkeit eines negativen oder ungünstigen aktuellen oder zukünftigen Resultats bedeuten. Während protektive Faktoren vor allem unter riskanten Bedingungen einen positiven Einfluss zeigen, haben sogenannte begünstigende Faktoren einen positiven Effekt auch unter risikoarmen Bedingungen. In der Literatur werden in diesem Zusammenhang Ressourcen als jene messbare Charakteristik einer Gruppe, eines Individuums oder einer Situation bezeichnet, die generelle oder spezifische positive Ergebnisse prognostizieren. Dieser Effekt ist dabei unabhängig von der Stärke des Risikos. Zusätzlich werden Vulnerabilitätsfaktoren unterschieden. Darunter werden jene Faktoren subsummiert, die die Verletzbarkeit eines Organismus gegenüber Stress erhöhen. Sie können Eigenschaften des Individuums, zwischenmenschliche Beziehungen sowie die soziale und physische Umwelt meinen. Nach dieser kurzen, begrifflichen Abgrenzung komme ich zurück auf die Geschichte der psychologischen Resilienzforschung. Charakteristisch für die erste Welle war das Alter der zu diesem Zeitpunkt am häufigsten untersuchten Gruppen. Vor allem bei Kindern und Jugendlichen wurde versucht, die protektiven Merkmale und Eigenschaften resilienter Individuen und Gruppen zu identifizie4

Vgl. Ann S. Masten, Jelena Obradovic, Competence and resilience in development, „Annals of the New York Academy of Sciences“, No. 1094, 2006, p. 13–27; Margaret Wright O’Dougherty, Ann S Masten, Handbook of Resilience in Children, Springer Science + Business Media, New York 2006, p. 17–37; Christopher M. Layne et al. (Hgg.), Handbook of PTSD Science and Practice, The Guilford Press, New York, 2007, p. 497–520.

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ren. Als Ziel dieser Untersuchungsströmung kann das deskriptive und ehrgeizige Sammeln verschiedener Formen und Situationen von Resilienz sowie der Besonderheiten von Kindern, Familien, Beziehungen und der Umwelt, die ausschlaggebend scheinen, um Krisen zu bewältigen, identifiziert werden.5 Darauf folgte eine zweite Welle der Resilienzforschung, die sich vor allem auf Kontextbedingungen konzentrierte. Dynamische Modelle der Veränderung, biologische, soziale und kulturelle Prozesse und Interaktionen rückten in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Diese Phase setzte sich mit den Prozessen, die für die beobachteten Zusammenhänge verantwortlich scheinen, auseinander. Für diesen Zugang wurden Längsschnittstudien zentral.6 Dadurch eröffnete sich die Möglichkeit, dynamische Prozesse, Mechanismen und Wege der Beeinflussung durch das Zusammenspiel verschiedener Faktoren zu beleuchten. In weiterer Folge wurden mehrstufige Präventions- und Interventionsmaßnahmen entwickelt. Außerdem zeichnete sich ein Bewusstwerden dahingehend ab, dass Stressresistenz und Resilienz viel weiter verbreitete Phänomene sind, als ursprünglich angenommen wurde. Die dritte, große Forschungswelle verfolgte Implikationen und Umsetzungsmöglichkeiten der bisherigen Resilienzforschung auf institutioneller und politischer Ebene. Sie fokussierte sich auf Studien und Untersuchungen, die ResilienzMechanismen direkt sowie deren Beeinflussbarkeit durch Prävention und Intervention erheben. Daraus entstehen Ergebnisse zur vermittelnden und moderierenden Rolle von protektiven Prozessen, die darauf abzielen, protektive Prozesse in Gang zu setzen oder zu fördern. Ann Masten fügte in dem Aufsatz Resilience in developing systems ihrer Einteilung eine vierte Welle hinzu – jene wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Resilienz, die sich durch multiple Analyseebenen auszeichnet. Hierbei wurden die Ergebnisse früherer Arbeiten übernommen, angeglichen und mit Hilfe der neu entstandenen Technologien und der Synergie aus integrativen Theorien und Methoden erweitert. Die große Herausforderung liege dabei darin, die Prozesse, die zu Resilienz führen, näher zu verstehen, da es sich dabei um sehr komplexe Phänomene handle, deren Erkundung eines enormen Arbeitsaufwands bedürfe.7 Die Verwendung des Ausdrucks „Resilienz“ als Eigenschaft, Prozess, Resultat, Muster einer Entwicklung über die Lebensspanne hinweg, ein- oder mehrdimensional, lang- oder kurzfristig, und die Frage, ob Resilienz sowohl Erholung als auch Resistenz umfasse, weiters ob es sich dabei um interne oder externe Adaptation handle sowie um interne und/oder externe Ressourcen, blieben bisher unein5

6 7

Ann S. Masten, Resilience in developing systems: Progress and promise as the fourth wave rises, „Development and Psychopathology“, 2007, No. 19, p. 922. A. a. O., p. 923. Ebd.

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heitlich.8 Dennoch lassen sich Tendenzen zu einer Vereinheitlichung zumindest innerhalb der Entwicklungsstufen der Resilienzforschung erkennen. So lesen wir in The Construct of Resilience: A Critical Evaluation and Guidelines for Future Work über die Entwicklung des Resilienz-Konzeptes von einem absoluten Hin zu einem relativen Konzept menschlicher Adaptation.9 Während in frühen Schriften resiliente Menschen noch als „invulnerable“ beschrieben wurden, wandelte sich das wissenschaftliche Verständnis hin zu einer Resilienz, verstanden als Entwicklung, sodass neue Verwundbarkeiten und/oder Stärken mit sich wandelnden Lebensumständen auftreten können, ganz im Gegensatz zu einer anfangs absolut verstandenen Widerstandsfähigkeit. Allgemein kann Resilienz – hier nach der Definition von Corina Wustmann – als die Fähigkeit, „[…] erfolgreich mit belastenden Lebensumständen […] und negativen Folgen von Stress umzugehen […]“, verstanden werden. Resilienz meint damit eine psychische Widerstandsfähigkeit „[…] gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken.“ 10 In diesem Zusammenhang beschreibt Wustmann drei Charakteristika des Resilienz-Konzepts: – Resilienz ist ein dynamischer Prozess zwischen Person und Umwelt. – Resilienz ist eine variable Größe im Gegensatz zu einer lebenslangen Fähigkeit. – Resilienz ist multidimensional und lebensbereichsspezifisch. So formuliere ich für unseren Gebrauch folgende Definition der Resilienz: Resilienz ist die Fähigkeit Krisensituationen zu bewältigen.11 Unter einer Krisensituation wird hierbei eine Situation verstanden, für welche die betreffende Person zumindest zunächst oder zeitweise keine Bewältigungsstrategie zur Verfügung hat. Eine Situation kann somit schwierig oder belastend sein, muss aber dadurch keine Krisensituation sein, da man eine Bewältigungsstrategie für die Situation zur Verfügung haben oder entwickeln kann. Zur Definition von Resilienz werden demnach zwei fundamentale Urteile gefällt: Zum einen die Beurteilung darüber, dass zum Zeitpunkt der Untersuchung oder davor ein signifikantes Risiko oder eine Widrigkeit besteht bzw. bestanden 8

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10

11

Vgl. Suniya S. Luthar et al. (Hgg.), Conceptual Issues in Studies of Resilience – Past, Present and Future Research, „Annals New York Academy of Sciences“, No. 1094, 2006, p. 105–115; Ann, S. Masten et al. (Hgg.), Resources and resilience in the transition to adulthood: Continuity and change, „Development and Psychopathology“, 2004, No. 16, p. 1071–1094. Suniya S. Luthar, Dante Cicchetti, Bronwyn Becker, The Construct of Resilience: A Critical Evaluation and Guidelines for Future Work, „Child Development“, 2000, No. 71 (3), p. 543– 62. Corina Wustmann, Die Blickrichtung der neueren Resilienzforschung, „Zeitschrift für Pädagogik“, 2005, Nr. 51 (2), S. 192. In den Jahren 2009–2010 arbeitete ich in Salzburg am Internationalen Forschungszentrum für soziale und ethische Fragen (ifz) in einem interdisziplinären Team mit dem Schwerpunkt „Resilienz und altchristliche Literatur“. Auf die hier zitierte kurze Arbeitsdefinition von Resilienz hat sich unsere Salzburger Arbeitsgruppe gemeinsam geeinigt.

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hat. Zum anderen, dass sich die Person an die neue Situation anpasst. Die zwei zentralen Entscheidungen eines Resilienz-Forschers liegen demnach darin, einerseits zu definieren, was eine Widrigkeit ist, und andererseits festzulegen, wann eine Person sich angepasst hat. In weiterer Folge muss festgelegt werden, wodurch diese beiden Faktoren wissenschaftlich erfassbar werden, das betrifft die sogenannte Instrumentalisierung. Hiernach werden in möglichst groß angelegten Studien entsprechende Daten erhoben und statistisch ausgewertet. Welche Faktoren wurden nun bisher auf Grund dieser Methodik identifiziert, beziehungsweise näher untersucht? Um einen Überblick dazu zu geben, werde ich im Folgenden bisher zusammengestellte Resilienz-Modelle und die darin Beachtung findenden Faktoren zusammenfassen. Daraus lassen sich im Anschluss daran Parallelen zu den Erkenntnissen von Augustinus ziehen, die hier als Beispiel für ein patristisches Werk herangezogen werden.

4. Modelle aus der psychologischen Resilienzforschung Im Rahmen der jüngeren Forschungswelle zu Resilienz kamen, wie bereits erwähnt, Fragen zur Resilienz als Prozess und zu bestimmten Wirkungszusammenhängen auf. Einzelne Faktoren werden in Form von Modellen einander gegenüber beziehungsweise zueinander in Beziehung gestellt. Daraus resultierende ResilienzModelle entstehen aus den Fragen nach möglicher Interaktion, Kompensation, Mediation, Kumulation oder dem Auftreten von Haupteffekten einzelner Faktoren im Zusammenspiel mit anderen. Ziel der Modelle ist es, Anhaltspunkte für Präventions- und Interventionsansätze zu generieren. Ich werde an dieser Stelle die unterschiedlichen Strukturen der Modelle kurz und abstrakt vorstellen und dann anhand von Beispielmodellen auf die häufigsten darin Berücksichtigung findenden Faktoren eingehen. Damit wird ein Überblick über bisher ins Blickfeld geratene Personenmerkmale und deren Einordenbarkeit in Zusammenhangsmodelle entstehen. Im Einklang mit einer Differenzierung zwischen Resilienzfaktoren, Risikofaktoren, protektiven Faktoren sowie Vulnerabilität wird bei Kompensationsmodellen davon ausgegangen, dass ein durch risikoerhöhende Faktoren entstandenes Risiko durch andere ausgleichende Faktoren gemindert werden kann, ganz im Sinne einer Neutralisierung. Bezüglich der Wirkung wird hier zwischen direktem Einfluss und indirekter Moderation unterschieden. Marc Zimmermann und Revathy Arunkumar unterscheiden weiters eine Art „Lernmodell“, bei dem die bisherige Erfahrung mit Krisen und die daraus resultierende erweiterte Stressbewältigungskompetenz die eigene Vulnerabilität und Resilienz bestimmen.12 12

Marc A. Zimmermann, Revathy Arunkumar, „Resiliency Research: Implications for Schools and Policy, Social Policy Report. Society for Research in Child Development“, 2004, No. 8 (4), p. 1–20.

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Dieses Modellverständnis bezeichnen sie als Herausforderungsmodell, das von einem prozesshaften Verlauf ausgeht. Das Interaktionsmodell nimmt in Anlehnung an das Kompensationsmodell an, dass risikomindernde Faktoren risikoerhöhende Faktoren beeinflussen, moderieren und damit das auf das Individuum einwirkende Risiko mindern. Eine Wirkung ist dem zu Folge nur bei Auftreten eines Risikos erkennbar. Michael Rutter entwickelte ein Kumulationsmodell, das man als Weiterentwicklung des Interaktionsmodells verstehen kann. Er geht davon aus, dass mehrere risikoerhöhende Faktoren beziehungsweise mehrere risikomindernde Faktoren einander potenzieren, wodurch sich ihr Einfluss verstärkt.13 Das ResilienzRahmenmodell, das im Folgenden als Grafik dargestellt wird (Abbildung 1), vereint letztendlich alle bisher genannten Zugänge in einem Modell. Karol Kumpfer beschreibt sechs Dimensionen: Der akute Stressor steht am Anfang des Prozesses und wird maßgeblich beeinflusst von Umweltbedingungen und personalen Ressourcen (Kompensation), was letztendlich zu einer Anpassung oder Fehlanpassung der Person an den Stressor führt. Vor diesem Zeitpunkt finden transaktionale Prozesse zwischen Person und Umwelt statt (Interaktion und Kumulation). In der nächsten Phase findet ein Bewältigungsprozess statt, der von vorangegangenen Entwicklungsergebnissen beeinflusst wird (Herausforderungsmodell). Dieser führt bei positiver Bewältigung zu Kompetenzerwerb im Sinne von Resilienz oder bei dysfunktionaler Bewältigung zu einem negativen Entwicklungsergebnis.14 Nach diesem eher abstrakten Überblick über die aktuelle Resilienzforschung möchte ich überleiten zu einer allgemeinen Zusammenfassung der sehr häufig verwendeten Elemente und Faktoren, die in Resilienz-Modellen Beachtung finden.15 Zusammengefasst können Optimismus, Selbstwirksamkeit, soziale Unterstützung und Coping als zentrale Aspekte im Zusammenhang mit Resilienz genannt werden. Selbstwirksamkeit beschreibt die Überzeugung, dass man in einer bestimmten Situation eine erforderliche Leistung erbringen kann. Sie meint demnach die Wahrnehmung der eigenen Kompetenz. Coping bezeichnet Verhalten, das darauf abzielt, mit internen oder externen Anforderungen umzugehen. Es werden in der Literatur konkret zwei Prädiktoren für Copingverhalten unterschieden – negative Stimmung und soziale Unterstützung.16 Negative Stimmung machen die Autoren über das Erheben der Emotionen Angst und Ärger sowie Depression erfassbar. Soziale Unterstützung ist ihrer Theorie nach stark durch Verwandt-

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Vgl. Wustmann, ebd. A. a. O., S. 185. Als Grundlage für diesen Überblick diente eine in PsycINFO durchgeführte Recherche und Analyse. Vgl. K. A. Weaver et al. (Hgg.), A Stress and Coping Model of Medication Adherence and Viral Load in HIV-Positive Men and Women on Highly Active Antiretroviral Therapy (HAART), „Health Psychology“, 2005, No. 24 (4), p. 385–392.

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schaft, Bindung, Selbstwert, Integration sowie Orientierung, im Gegensatz zu Orientierungslosigkeit, mit bedingt. In der Literatur wurde festgestellt, dass sozialer Unterstützung in Studien, die sich mit Copingressourcen auseinandersetzen, am häufigsten Aufmerksamkeit geschenkt wurde.17 Als psychologische Ressourcen werden außerdem Optimismus, differenziert in Hoffnung und positive Erwartung, sowie „ego resilience“ (oder „ego resiliency“) genannt. „Ego resilience“ wird dabei verstanden als die Fähigkeit, auf widrige Lebensumstände zu reagieren und sie zu überwinden, Angst zu ertragen, sich auf positive Art zu betätigen, ein positives Temperament zu wahren und für neue Erfahrungen offen zu bleiben. Diese beiden Faktoren, Optimismus und „ego resilience“, werden durch soziale Ressourcen wie Familie und durch kulturelle Ressourcen wie Spiritualität oder ethnische Zugehörigkeit unterstützt. Eine positive familiäre Umgebung stellt eine Ressource dar, wenn Aspekte wie Fürsorge und Unterstützung, hohe Erwartung, Zuspruch, elterliche Wärme, Mutter-Kind-Beziehungsqualität und Rollenflexibilität abgedeckt sind. Eine Umgebung, die Resilienz fördert, bietet ihnen zu Folge die Möglichkeit zur positiven Bewertung, Beharrlichkeit und Hoffnung angesichts Stress bedingender Ereignisse. C. D. Callahan untersuchte „hardiness“, Copingverhalten, Neurotizismus, Disposition zu Optimismus, Depression und die subjektive Wahrnehmung von Schmerz. Als zentral gilt der Glaube an die eigene Fähigkeit, Ereignisse zu kontrollieren beziehungsweise zu beeinflussen, die Wahrnehmung von Veränderung als Chance, sowie die Beteiligung oder das Engagement zu Aktivitäten.18 Coping, Selbstwirksamkeit (hier erfasst als Emotionsregulation), Ärger, Bildungsgrad und Depression gelten als zentrale Aspekte bei der Erforschung von Resilienz nach traumatischer Verletzung.19 In einer Studie, die auf einer Stichprobe von Frauen basiert, die unter Arthritis leiden, postulierten zwei Autoren, Bruce Smith und Alex Zautra, die Aufrechterhaltung positiven Affekts als zentrales Merkmal von Resilienz in diesem besonderen Fall.20 Aktives Coping umfasse hier positive Uminterpretation der Situation, Wachstum sowie Akzeptanz derselben. Ausschlaggebend seien in diesem Fall Emotionalität, interpersonale Sensitivität, Optimismus, positiver Affekt sowie soziale Interaktion und Sinngehalt des eigenen Lebens.

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Vgl. Bonita C. Long, Robert W. Schutz, Temporal Stability and Replicability of a Workplace Stress and Coping for Managerial Women: A Multiwave Panel Study, „Journal of Counselling Psychology“, 1995, No. 42 (3), p. 266–278. C. D. Callahan, Stress, Coping, and Personality Hardiness in Patients with Temporomandibular Disorder. „Rehabilitation Psychology“, 2000, No. 45 (1), p. 38– 48. Terri A Deroon-Cassini et al., Psychopathology and Resilience Following Traumatic Injury: A Latent Growth Mixture Model Analysis, „Rehabilitation Psychology“, 2010, 55 (1), p. 1–11. Bruce W. Smith, Alex J. Zautra, Vulnerability and Resilience in Women with Arthritis: Test of a Two-Factor Model, „Journal of Consulting and Clinical Psychology“, 2008, No. 76 (5), p. 799–810.

Moderiert durch: Entwicklungsstand/Alter Geschlecht Kultur Zeitgeschichte

Schutzfaktoren

Weitere personale Einflussgrößen (kindbezogene Faktoren): Merkmale des Temperaments Geschlecht Intellektuelle Fähigkeiten

Körperliche Gesundheitsressourcen

Emotionale Stabilität

Soziale Kompetenzen

Kognitive Fähigkeiten

Personale Ressourcen/ Resilienzfaktoren (3)

Motivation/ Glaube

Selektive Wahrnehmung Ursachenzuschreibungen Aktive Umweltveränderung Einsatz effektiver Coping-Strategien Bindung an soziale Netzwerke

Transaktionaler Prozess zwischen Person und Umwelt (5)

Effektive oder dysfunktionale Bewältigungsprozesse

Negatives Entwicklungsergebnis (Psychische Beeinträchtigung)

Anpassung/ Fehlanpassung (4)

Positives Entwicklungsergebnis (Kompetenz)

Resilienzprozess und Anpassungsmechanismen (6)

Abbildung 1: Rahmenmodell der Resilienz nach Corina Wustmann (Wustmann, 2004, S. 65; modifiziert nach Karol Linda Kumpfer, 1999, p. 185; zit aus: Ulrich Siegrist, Der Resilienzprozess. Ein Modell zur Bewältigung von Krankheitsfolgen im Arbeitsleben, VS – Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010, S. 36.).

Kognitive Berwertung des Stressors als Bedrohung, Verlust oder Herausforderung

Stressor (1)

Familie Peers Bildungsinstitutionen Soziales Umfeld Gesellschaftlicher Kontext

Risikofaktoren

Umweltbedingungen (2)

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Rand D. Conger, Martha E. Rueter u. a. untersuchten den Zusammenhang zwischen Beziehungsresilienz und wahrgenommenem wirtschaftlichem Druck und beschreiben, dass hoher Rückhalt in der Ehe sowie soziale Unterstützung den stärksten positiven Einfluss darauf hatten.21 Zentral dabei seien die Tatsache, dass jemand die Sorgen und Bedenken hört, die Möglichkeit besteht, eine kooperative und hilfreiche Haltung zu den geäußerten Bedenken beizubehalten, Sensibilität gegenüber der Ansicht des Partners gezeigt wird, sowie dass Anerkennung der Qualitäten und Charakteristika des Partners Äußerung finden. John W. Seymour und Phyllis Erdman stellten eine Familienspieltherapie zusammen. Dabei beschreiben sie vier Prozesse als von Bedeutung: die Erweiterung der als Risiko wahrgenommenen Situation, die Reduktion negativer Kettenreaktionen, die Stützung von Selbstwert und Selbstwirksamkeit sowie die Stärkung von Möglichkeiten.22 Um diese hier allzu analytisch wirkende Zusammenfassung anschaulicher und vor allem greifbarer zu gestalten, möchte ich an dieser Stelle eine Persönlichkeit vorstellen, die enorme Kraft, Wärme und Lebendigkeit ausstrahlt: Frida Kahlo. Die Skizze ihrer Lebensgeschichte, ihre herausragende Persönlichkeit und ihr facettenreiches Leben sollen die hier zusammengefassten fundierten Erkenntnisse untermalen, und sie dürfen dabei auch inspirieren. Sollte der Wunsch nach einer Beurteilung (resilient? – ja, nein, vielleicht) aufkommen, so bleibt diese dem Leser überlassen. Ich habe Frida Kahlo auch deshalb gewählt, weil ich die Resilienz dieser Person, durch den Hintergrund meiner Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Thematisierung, als umstritten empfinde.

5. Exkurs: Frida Kahlo Frida Kahlo wird am 6. Juli 1907 in Mexiko-Stadt als drittes Kind einer mexikanischen Mutter und eines deutschen Vaters geboren. Ihr Vater ist Fotograf und Fotokünstler, ihre Mutter Verkäuferin und Hausfrau. Mit 6 Jahren erkrankt das Mädchen an Kinderlähmung und muss lange Zeit mit dieser schweren Krankheit ans Bett gefesselt verbringen. Aus dieser Zeit behält sie ein etwas dünneres und kürzeres, rechtes Bein. Als junge Frau besucht Frida Kahlo eine auf die Universität vorbereitende Schule und verfolgt das Ziel, Medizin zu studieren. Sie ist in den 1920er Jahren eine der ersten Frauen, die diese Schule besuchen. Im Alter von 18 Jahren wird

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Rand D. Conger et al., Couple Resilience to Economic Pressure, „Journal of Personality and Social Psychology“, 1999, No. 76 (1), 54–71. John W. Seymour, Phyllis Erdman, Family Play Therapy using a Resilience Model, „International Journal of Play Therapy“, 1996, No. 5 (1), p. 19–30.

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Frida Kahlo in einen schweren Busunfall verwickelt, wodurch ihr Körper schwere Verletzungen erleidet. Von dieser Zeit an muss Frida Kahlo immer wieder Ganzkörpergips oder Stahlkorsette tragen, bleibt zeitweise an ihr Bett gefesselt. Entgegen aller medizinischen Erwartungen lernt Frida Kahlo wieder zu gehen, bleibt jedoch immer wieder auf fremde Hilfe angewiesen und leidet zeitweise unter starken Schmerzen. Unmittelbar nach dem Unfall fängt Frida an zu malen. Sie beginnt mit Verzierungen ihres Oberkörpergipses. Mit 19 Jahren malt sie ihr sozusagen erstes ernstzunehmendes Bild: „Selbstbildnis mit Samtkleid“ (1926). Die Darstellungsform des Malens soll zeitlebens Ausdruck ihrer körperlichen und seelischen Qualen bleiben. Mit 22 Jahren heiratet Frida Kahlo den damals schon weltberühmten Maler Diego Rivera, der in ihrem Leben eine zentrale Rolle einnimmt. Den 21 Jahre älteren Mann wird Frida zeitweise als den „zweiten Unfall in ihrem Leben“ bezeichnen, doch teilt sie mit ihm eine tiefe Freundschaft. Die zahlreichen Affären ihres Mannes empfindet Frida Kahlo nach eigener Aussage als belastend. Zeitweise reagiert sie darauf mit eigenen, auch homosexuellen, Affären. Dieses Thema findet sich auch in ihrer Kunst wieder. Zentral scheinen jedoch ihre Körperlichkeit, die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper, der damit verbundene Schmerz und die Einschränkung ihrer Selbständigkeit im Gegensatz zu ihrem Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit. Politisch ist Frida Kahlo eine glühende Verfechterin des Kommunismus. Ihre Haltung gegenüber Religion ist eher ablehnend. Maria Cardena, Frida Kahlos Mutter, ist eine gläubige Christin, die Erziehung ihrer Kinder prägt sie jedoch nicht religiös. Frida Kahlo hat eine sehr eigenwillige, spezielle Art, mit ihrer Situation umzugehen. Die Folgen ihres Unfalls sind langfristig und nicht kontrollierbar (Schmerzen, Einschränkung der Bewegungsfreiheit). Zum Zeitpunkt des Unfalls besucht das Mädchen eine sehr gute Schule, pflegt einen guten Kontakt zu ihrer Familie, insbesondere zum Vater. Sie hat zu der Zeit eine Beziehung zu einem Freund, den sie nach eigenen Angaben sehr gerne mag. Kurz nach dem Busunglück soll Frida Kahlo gemeint haben: „Ich bin nicht gestorben, und außerdem habe ich etwas, für das es sich zu leben lohnt: die Malerei.“ Ihre Familie unterstützte sie in ihrer Haltung maßgeblich. Ihre Mutter konstruierte ein besonderes Gestell, das es Frida ermöglichte auch liegend, im Bett, zu malen. Mit Hilfe eines Baldachins und eines Spiegels konnte sie ihr Spiegelbild als Modell verwenden. Diese Form der „aktiven Umweltveränderung“ ist außerordentlich kreativ: „I used to drink to drown my sorrow, but it learned to swim and now I am overwhelmed by decency and proper behaviour.“ 23

23

Dieses und alle folgenden Zitate von Frida Kahlo stammen aus: http://fkahlo.com/ingles/ index_ingles.html

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Frida Kahlos Umgang mit Negativem blieb nicht immer konstruktiv. So sagt man ihr nach, dass sie zeitweise an Alkoholsucht gelitten habe. Ihre Leidenschaft für die Malerei blieb Frida Kahlo jedoch ihr Leben lang erhalten: „Painting completed my life. I lost three children and some other things that would have completed my frightening life. My painting took the place of all that. I do believe working is the best.“ Sie zeichnete sich, trotz sehr schwieriger Phasen, durch einen scheinbar unerschütterlichen Optimismus aus: „No pain coming from the damage. All damage is holy. The most malignant year gives birth to the most beautiful of days.“ Sie zeigte Spiritualität und Hoffnung, und die Motive lassen sich in ihren Bildern wiederfinden. Sie zeigte einen starken Drang nach Ausdruck, nach Wahrnehmung, nach Überdauern: „Tree of hope, stay strong […] Give me expectations, hope, the will to live and forget me not.“ Dieser Drang nach Ausdruck zeigte sich auch in ihrer exzeptionellen Art sich zu kleiden. Sie trug sehr farbenfrohe Gewänder, meist von traditionellem, mexikanischem Ursprung, sowie aufwändige Frisuren, Silber- und Blumenschmuck und ein individuelles Parfum. So farbenprächtig ihre Kleidung war, so facettenreich schien ihre Emotionalität zu sein, in der sich sonnige, unbeschwert anmutende Seiten mit tiefen, sehr dunklen Emotionen zeigten, die sich zeitweise sehr leidenschaftlich vereinten: „Sour and tender, hard as iron and delicate and fine as a butterfly’s wing, lovely as a beautiful smile, deep and cruel as the most relentless thing in life.“ Die dunkle, depressive Seite Frida Kahlos trat im Rahmen einer psychologischen Untersuchung sehr deutlich zum Vorschein. Olga Campos, eine Freundin Frida Kahlos, untersuchte das Phänomen Kreativität mit Hilfe persönlichkeitspsychologischer Tests. Dadurch liegt ein Gutachten der psychologischen Untersuchung Frida Kahlos vor: „In einer sehr deutlichen Weise war Kahlo heroisch. Sie bewies unerschütterliche Entschlossenheit, indem sie sich wiederholt trotz Gefahren und Behinderungen erfolgreich durchsetzte. Ihre außergewöhnliche Begabung

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und die Fähigkeit, ungeachtet von Bettlägerigkeit und Schmerzen zu malen, sind berühmt. Mit dem Begriff ‚Licht‘ brachte sie ‚offen‘ und ‚Welt‘ in Verbindung und offenbarte damit ihre ständige gedankliche Beschäftigung mit der Freiheit, die sie nicht hatte. Infolge des durch die Tests gewonnenen Verständnisses ihres Inneren, das von Konflikten, Schmerz, einem Gefühl der Unvollkommenheit sowie schwerwiegenden Ängsten um ihre Eigenständigkeit erfüllt war, erscheinen ihre künstlerischen und sozialen Leistungen umso außerordentlicher.“ 24 Vor ihrem Tod sagte Kahlo: „I happily await the departure and I hope I never come back.“ In ihrem Leben gibt es einige unerwartete und unkontrollierbare Wendepunkte. Die Auseinandersetzung mit Frida Kahlos Biografie erweckt in mir das Gefühl, dass ihr Leben, so wie sie es gestaltete und wie es verlief, in gewisser Form stimmig ist. Hervor sticht eine unglaubliche Lebendigkeit. Frida Kahlo strahlt durch ihre Biografie, ihre Haltung und Persönlichkeit, durch ihre Bilder, ihre Stärke, die sich mit Worten so schwer einrahmen lässt. „Even though it is undeniable that her physical and emotional pain was an important factor in Frida’s life, the joy, love, creativity and passion that she lived with have to be considered the main elements of her story. Frida Kahlo fought for happiness, for her dreams, for love and stood firm against all the adversities that came along. She simply redirected her life through her art and fulfilled her dream when she had her first exhibition in Mexico City in 1953. She lived passionately until the last day of her life, in the way reflecting the optimism, strength and courage that personified her throughout her entire existence.“ 25 Nach diesem Beitrag Frida Kahlos zum Einblick in den Stand der psychologischen Resilienzforschung wird Augustinus als Figur und Vertreter der patristischen Geschichte herangezogen, um uns näher an die Assoziation von Resilienz und Patristik, wie sie dieser Artikel intendiert, heranzuführen. Im Gegensatz zum sehr leidenschaftlichen, roten Eindruck, den die Auseinandersetzung mit Frida Kahlos Leben hinterläßt, kann das Lesen und Reflektieren über die Bekenntnisse von Augustinus die Assoziation mit der Farbe Blau hervorrufen. Rot gilt in der Psychologie als stimulierende Farbe, symbolisiert Freude und Leidenschaft, Liebe und Erotik, aber auch Aggression und Zorn, ist in jedem Fall eine sehr energiegeladene Farbe. Blau hingegen suggeriert Ruhe, wird häufig mit Himmel und Wasser asso-

24 25

Salomon Grimberg, Frida Kahlo: Bekenntnisse, Prestel, München 2009, S. 143. Zit. nach: http://fkahlo.com/ingles/index_ingles.html

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ziiert, wird mit den Attributen „kühl“ und „klar“ in Verbindung gebracht und fördert die Kreativitäts- und Innovationsfähigkeit.26

6. Impulse aus den Bekenntnissen des Heiligen Augustinus Um die Verbindung zwischen Resilienz und Patristik konkreter zu beschreiben, wird im Folgenden näher auf Passagen der Bekenntnisse eingegangen. Dieser Abschnitt ist keine vollständige Analyse, sondern dient dazu, Impulse bei jenen anzuregen, die sich für die Thematik interessieren und sich mit derselben auseinandersetzen. Zusammengefasst liegt den Bekenntnissen eine Entwicklung zu Grunde, die als Achse zwischen Glaube und Zweifel und letztendlicher Ruhe beschrieben werden kann. Diese Abstraktion lässt eine Parallele zur Resilienzforschung ziehen. Modelle, die in diesem Forschungszweig in den letzten Jahren der wissenschaftlichen Untersuchung entwickelt wurden, lassen einen ähnlichen Verlauf nachzeichnen. So treten bei resilienten Individuen oder Systemen neben Ressourcen wie Glaube oder Vertrauen immer auch Zweifel oder Schwankungen auf, die aus Unsicherheit und Instabilität resultieren. Nach Abschluss des Resilienzprozesses kehrt jedoch Ruhe ein. Dieser Zustand wird in der Resilienzforschung häufig als „neues Gleichgewicht“ bezeichnet. Augustinus meint in jedem Fall einen Zustand, der ausgeglichen ist, im Gegensatz zu Unstetigkeit, Veränderung und Adaptation, die während einer Krise vorherrschen. Als kurze Einleitung zu Augustinus Werk sollen folgende Worte von Konrad Paul Liessmann dienen: „Seine Ehrlichkeit war Augustinus allerdings erst durch einen rhetorischen Kunstgriff möglich geworden; denn seine Confessiones sind von ihm in der Gestalt eines überdimensionierten Gebetes an Gott verfasst worden. Die Confessiones sind deshalb auch kein authentischer Erfahrungsbericht im modernen Sinn, sondern getränkt von antiker Rhetorik, durchsetzt von Bildern und Metaphern, deren unmittelbarer Wahrheitsgehalt wohl nicht immer gegeben ist. Trotzdem wurden die Bekenntnisse des Augustinus zum Prototyp eines subjektorientierten Philosophierens, eines Denkens, das von den Verstrickungen der eigenen Existenz ausgeht und in der vorbehaltlosen Reflexion auf dieses Subjekt vordringen will.“ 27

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Ravi Mehta, Rui J. Zhu, Blue or Red? Exploring the Effect of Color on Cognitive Task Performances. „Science“, 2009, Vol. 323, No. 5918, p. 1226–1229. Zit. nach: http://www.sandammeer.at/zeitloses/augustinus-bekenntnisse.htm

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Dieser Kommentar steht in einer Linie mit den Grundlagen der psychologischen Resilienzforschung. Augustinus studierte Rhetorik. Zuerst Rhetoriklehrer, wurde er später Professor für Rhetorik in Mailand. Er beginnt sich dort der Kirche zuzuwenden, beschäftigt sich mit der patronisierenden Bibelauslegung und den Schriften des Paulus. Als er in eine psychische wie körperliche wie intellektuelle Krise gerät, beschließt er seinen Beruf aufzugeben. Diese Wendung beschreibt Augustinus als Bekehrung, die er auch in seinen Bekenntnissen beschreibt. In weiterer Folge lässt Augustinus sich taufen, verkauft seinen Besitz und wagt den Schritt in die Askese. Augustinus begründete mit den Bekenntnissen die literarische Form der Autobiografie. Er prägte eine Literaturform, die den eigenen Werdegang reflektiert, das Individuelle mit dem Allgemeinen verbindet. Damit bietet er dem Leser in gewisser Weise eine Anleitung zur Selbstreflexion. So könnte man das aufmerksame Lesen der Bekenntnisse in der Resilienzforschung als begünstigenden Faktor bezeichnen. Dieses Buch stellt ein Zeugnis der inneren Zerrissenheit des Augustinus dar. Seine Beschreibungen sind voll von Sehnsüchten, Begierden und Dynamik. Zentral dabei ist jedoch Augustinus’ Fähigkeit, sich dennoch selbst zu reflektieren, mit dem Ziel, sich aus diesem Gefühl des Gefangenseins zu befreien. Damit verbunden oder vielmehr Voraussetzung dafür ist die Größe, auch Negatives in sein Selbstbild zu integrieren. Augustinus schafft es eben diese Herausforderung in seinem Werk so zu beschreiben, dass der Leser mitfühlt, dabei vielleicht sogar selbst eine Transformation erlebt. An dieser Stelle möchte ich abrissartig einige Stellen aus seinen Bekenntnissen zitieren, die meiner Meinung nach die Entwicklung, die in seinem Buch zu verfolgen ist, unter der Lupe der Resilienz-Erkenntnisse gelesen, gut skizziert. Danach werde ich im Rahmen dieses Artikels näher auf die Ergebnisse der psychologischen Resilienzforschung eingehen, um von einem psychologischen Standpunkt aus einen Bogen zu schaffen zwischen Patristik und Resilienz. Im ersten Buch beschreibt Augustinus den Schaden, den negative Gedanken anrichten, sowie das Misstrauen und den Hass anderer, die negative Folgen mit sich bringen: „Und doch kann kein feindlich gesinnter Mensch größeres Unheil anrichten als der Haß, mit dem man ihm begegnet, und keiner einen anderen schwerer schädigen, als er sein eigenes Herz durch Feindschaft schädigt.“ 28 Die Wichtigkeit zentraler Figuren, die das Gefühl von Geborgenheit vermitteln, kommt in der Resilienzforschung sehr häufig vor. Augustinus Art, Freundschaft zu beschreiben, weckte in mir das damit verbundene Bild tiefer Vertrautheit, die in

28

Augustinus, Bekenntnisse, übers. v. Wilhelm Thimme, Artemis & Winkler, Düsseldorf/Zürich 2004, S. 51.

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schwierigen Zeiten eine wichtige Quelle der Zuversicht werden kann. So ist zu lesen: „[…] noch mehr nahm‘s mich Wunder, daß ich selbst, sein anderes Ich, noch leben konnte, wo er tot war. Treffend hat einmal jemand seinen Freund die Hälfte seiner Seele genannt. Auch ich empfand es so, als wäre meine und seine Seele genannt. Auch ich empfand es so, als wäre meine und seine Seele nur eine Seele in zwei Leibern gewesen.“ 29 Die Geborgenheit, die aus dieser Passage hervor geht, strahlt Kraft aus. Die Reflexion über Seele und deren Verwandtschaft mündet etwas später in eine Einsicht, die ich hier als eine Form der Sinnorientierung deute: „Seele will sein und Ruhe finden in dem, was sie liebt.“ 30 Zur Selbstreflexion tritt in den Bekenntnissen nach und nach die Willensstärke und Selbstdisziplin immer häufiger auf. Diese Entwicklung findet beispielsweise im siebenten Buch Ausdruck. Im achten Buch werden das Grübeln über und das Kämpfen gegen den inneren Dämon thematisiert. „Immer hast du behauptet, weil ungewiß dir noch die Wahrheit sei, wollest du die Bürde, und anderen, die sich nicht wie du mit Suchen abgequält, nicht ein Jahrzehnt und länger über diese Dinge so gegrübelt haben, wachsen auf freieren Schultern die Flügel […] Was hab’ ich mir nicht alles gesagt, mit welchen Rutenschlägen von Vorwürfen nicht meine Seele gegeißelt, daß sie nun endlich mitgehe, wenn ich versuche dir [Gott] zu folgen! Aber sie sträubte sich, leistete Widerstand und konnte sich doch nicht entschuldigen. Alle ihre Gründe waren widerlegt und zu Boden geschlagen. Übrig geblieben war nur ein stummes Zittern, und als müßte sie sterben, schreckte sie davor zurück, dem Fluß der Gewohnheit entrissen zu werden, der sie doch dahinsiechend dem Tode entgegentrug.“ 31 Der Zwiespalt zwischen Wollen und Tun und der damit verbundene innere Kampf werden immer stärker zum Thema. Gleichzeitig strebt Augustinus jedoch danach, eben diese Gegensätze zu vereinen, ohne die damit verbundenen Anteile zu verneinen: „Wenn sie also merken, daß zwei Willen in einem Menschen sich widerstreiten, dürfen sie nicht sagen, es seien zwei verschiedene Seelen verschiedenen

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a. a. O., S. 135. a. a. O., S. 141. a. a. O., S. 345.

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Wesens und verschiedenen Ursprungs, die eine gut, die andere böse, die gegeneinander ankämpfen.“ 32 Es wird deutlich, dass nicht das gesamte Buch von Einsicht und Selbstreflexion geprägt ist. Es finden sich immer wieder Passagen, die Schwäche, inneres Ringen, Kampf und Verzweiflung deutlich machen. Es entsteht ein Gefühl des „in sich gefangen Seins“. So etwa im neunten Buch, an einer Stelle, bei der sich fast der Eindruck eines Kontrollzwanges aufdrängt: „[…] doch nur ich allein wußte, welch ein Druck mein Herz zusammenpreßte. Und weil es mir so überaus zuwider war, daß dies menschliche Empfinden solche Macht über mich besaß, das doch nach der Ordnung der Natur und der Lage, in der wir uns befinden, notwendig sich regen muß, quälte mich ein neuer Schmerz, Schmerz über meinen Schmerz. So war es ein verdoppeltes Herzeleid, das mich peinigte.“ 33 Augustinus gibt seinem Ärger über den Schmerz, der ihm wiederum noch mehr Schmerz bereitet, sowie über die Macht der Emotionen über seinen Willen Raum. Sein Kampf, seine Auseinandersetzung mit der eigenen „Willensschwäche“ wird für den Leser spürbar. Dadurch, dass er eben dieser Regung Ausdruck verleiht, kann Lösung derselben entstehen. Positiver und leichter werden die Passagen, die im zehnten Buch Augustinus zu lesen sind. So beschreibt er positive Gedanken in Zusammenhang mit Freunden, die einen sehen, wie man ist, deren Seele der eigenen ähnelt. Augustinus Einfühlungsvermögen, sein Vorstellungsvermögen kann als Abbildung der später als „Urbilder“ bezeichneten Vorstellung und damit als wesentliche Grundlage der Imagination gedeutet werden: „[…] das Gefühl endlich sagt: War es nichts Körperliches, habe ich’s auch nicht getastet, und wenn nicht getastet, auch nicht gemeldet. Woher also und auf welchem Weg sind diese Dinge in mein Gedächtnis gekommen? Ich weiß nicht wie. Denn als ich sie lernte, hab’ ich nicht einem fremden Geiste geglaubt, sondern sie in meinem eigenen erkannt, als wahr bestätigt und sie ihm gleichsam zur Aufbewahrung anvertraut, um sie nach Bedarf hervorzuholen. Da waren sie also bereits, auch ehe ich sie gelernt hatte, aber in meinem Gedächtnis waren sie noch nicht. […] Sie mußten also doch schon in meinem Gedächtnis sein, aber so fern und verborgen, gleichsam in ver-

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a. a. O., S. 353. a. a. O., S. 413.

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steckten Höhlen, daß ich sie vielleicht niemals hätte erdenken können, wären sie nicht durch eines andern Wort hervorgezogen.“ 34 Die kreative Phantasie, die manchen Schilderungen des Augustinus zu Grunde liegt, ist beeindruckend. Die Inhalte, die Augustinus so gekonnt zu Papier bringt, bleiben außerordentlich bemerkenswert. So thematisiert Augustinus, nahe dieser Stelle, auch seine Theorie vom Vergessen, vom „Abtauchen“ der Inhalte bei NichtVerwenden derselben. Seine implizite Theorie des Unbewussten und seine Tiefe imponieren. Im 11. Buch herrschen letztendlich die Themen Gott, Glaube und Wahrheit vor. Sowohl aktuelle Präsenz, in der Situation sein, als auch Zukunftsorientierung klingen durch. Optimismus, Sinn und Vertrauen erkennt Augustinus als Haltungen, durch die die „törichten Fragen […] schweigen“ 35. Diese Motive lassen sich allesamt in der heutigen Resilienzforschung wiederfinden. Im 12. Buch werden ein letztes Mal Ausharren bei Zweifel und Vertrauen sowie Glaube thematisiert. Im 13. Buch letztendlich kehrt zunehmend Ruhe ein. So dann auch das Festhalten der Einsicht, daß sich Seele an Freude nährt. Augustinus gewinnt auf diesen Seiten zunehmend an Ganzheit. So schreibt er: „Du sahest alles, was du gemacht hattest, und siehe, es war nicht nur gut, sondern sogar sehr gut, und zwar alles zusammen.“36

7. Schlussbemerkung Angefangen bei Erläuterungen zur Geschichte der Psychologie und ihren Ursprüngen in der Patristik, weiter über einen Abriss zur aktuellen, psychologischen Resilienzforschung, hin zur Gegenüberstellung von Resilienz und Patristik, will dieser Text in erster Linie Impulse geben. Aus psychologischer Perspektive verfasst, kann er als Anmerkung zur Thematik dieses Bandes verstanden werden. Ziel ist es, im Einen oder in der Anderen Ideen, Anregungen und Assoziationen hervorzurufen, die einem oder beiden Forschungsbereichen als kreative Befruchtung dienen.

34 35 36

a. a. O., S. 447. a. a. O., S. 587. a. a. O., S. 721.

Über Frida Kahlo zu Augustinus

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Linda van der Zijden

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David Lang

Lachen und Weinen als Resilienzfaktoren und als Beschreibung des Resilienzprozesses

1. Einleitung In der modernen Resilienzforschung versucht man die Frage zu beantworten, warum sich einige Menschen trotz schlechter Ausgangsbedingungen positiv entwickeln, d. h. obwohl Lebensumstände durch Krisen und Schicksalsschläge erschüttert werden, entwickeln diese Menschen ein positives Selbst- und Weltbild und finden immer wieder zu innerer Stärke und Ausgeglichenheit zurück. Um diese Frage beantworten zu können, hat man zunächst sog. Resilienzfaktoren gesucht, d. h. Fähigkeiten, Eigenschaften und Fertigkeiten, die sich bei der Bewältigung von Krisensituationen als hilfreich erwiesen haben. Häufig genannte Resilienzfaktoren sind Optimismus, Akzeptanz, Lösungsorientierung, soziale Netzwerke und Zukunftsplanung. In einem zweiten Schritt hat man sich dann den Resilienzprozess angesehen, d. h. die verschiedenen Phasen der Krisenbewältigung. Unter Resilienz möchte ich im Folgenden die Fähigkeit verstehen, Krisen erfolgreich bewältigen zu können, wobei sich eine erfolgreiche Bewältigung dadurch kennzeichnet, dass man zumindest denselben status quo (an Hoffnung, Zuversicht, persönlichem Wohlbefinden und Verhalten) wie zuvor erreicht („economic resilience“), oder dass man aus der Krise etwas gelernt hat und Erkenntnisse gezogen hat („ecological resilience“). In seinem Buch Die Sprache der Seele verstehen. Die Wüstenväter als Therapeuten 1 schreibt Daniel Hell: „Die Wüstenväter beschäftigte vor allem die Frage, wie ein einzelner Mensch unter schwierigsten Bedingungen das Leben meistern kann.“ 2 Die Frage, die sich die Wüstenväter schon zwischen dem 2. und 8. Jahrhundert nach Christus gestellt haben, entspricht also genau der Fragestellung der modernen Resilienzforschung. Ein Vergleich bzw. ein gegenseitiger Austausch scheint daher nahe liegend. Hierfür werde ich den „modernen“ Resilienzfaktor des

1

2

Daniel Hell, Die Sprache der Seele verstehen. Die Wüstenväter als Therapeuten, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2002. Hell, a. a. O., S. 13.

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David Lang

Lachens bzw. des Humors analysieren, den „gegenteiligen, patristischen“ Resilienzfaktor des Weinens und in einem dritten Schritt werde ich Lachen und Weinen in Bezugnahme auf den Resilienzprozess verbinden.

2. Lachen als Resilienzfaktor in der modernen Resilienzforschung Immer wieder kann man in der Literatur zur modernen Resilienzforschung lesen, dass Lachen bzw. dass Humor als Resilienzfaktor angesehen wird. Humor und Lachen sind hilfreich bei der erfolgreichen Bewältigung von Krisensituationen. Zur Unterstützung dieser These und um ein Verständnis dafür gewinnen zu können, warum Lachen und Humor bei der Krisenbewältigung helfen, werde ich einige Textausschnitte diskutieren. Monika Gruhl schreibt in ihrem Buch Die Strategie der Stehauf-Menschen. Resilienz – so nutzen Sie Ihre inneren Kräfte 3 folgendes: „Resiliente Menschen sind in der Lage, sich selbst und alles, was das Leben ihnen beschert, mit Humor zu betrachten. Lachen befreit und schafft wohltuenden Abstand zu kleinen und großen Ärgernissen des Alltags.“ 4 Ähnliche Aussagen können wir auch bei Frederic Flach wieder finden. In seinem Buch In der Krise kommt die Kraft. Das Geheimnis unserer seelischen Ressourcen 5 schreibt er: „Lachen ist eine wundervolle Methode, um Abstand zu gewinnen. Da Humor häufig mit Absurditäten verbunden ist, kann er neue und ungewöhnliche Denkmuster fördern. Zudem begünstigt er einen radikalen und schnellen Perspektivenwechsel in der Wahrnehmung einer Situation oder eines Ereignisses, selbst wenn dies nur einen Moment dauert. Solche veränderte Wahrnehmungen können uns zu Bewusstsein bringen, dass wir mit neuen Sachverhalten konfrontiert sind und auf diese Veränderungen angemessen reagieren müssen. Möglicherweise kommen wir dann nicht so in Versuchung, die veränderte Realität zu leugnen, denn wir fühlen uns nicht so sehr von der Vorstellung bedroht, dass sie unwiderruflich ernst und vielleicht von Dauer sein könnte.“ 6

3

4 5

6

Monika Gruhl, Die Strategie der Stehauf-Menschen. Resilienz – so nutzen Sie Ihre inneren Kräfte, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2008. Gruhl, a. a. O., S. 121. Frederic Flach, In der Krise kommt die Kraft. Das Geheimnis unserer seelischen Ressourcen, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2003. Flach, a. a. O., S. 183 f.

Lachen und Weinen als Resilienzfaktoren

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Halten wir also kurz fest: zu unterscheiden bleibt der Humor über sich selbst und Humor über alles andere, eine befreiende Wirkung des Lachens und die These, dass Lachen Abstand zur Krisensituation schafft. Zudem wird dem Lachen die Möglichkeit eines Perspektivenwechsels und somit einer veränderten Wahrnehmung zugeschrieben, was die Akzeptanz der Situation erleichtert und die Ernsthaftigkeit der Situation minimiert. Diese Thesen lassen sich auch durch die Sichtweise der evolutionären Psychologie stützen, die davon ausgeht, dass auf einer evolutionären Basis, d. h. in einer Umgebung der evolutionären Anpassung, alle entstandenen psychischen Mechanismen eine Funktion haben. Dies bedeutet wiederum, dass sie statistisch immer wieder auftretende Probleme lösen. In anderen Worten: „These mechanisms evolved as adaptive responses to the environment and usually are related to enhancing the survivorship and/or the reproduction success of the individual.“ 7 Der evolutionären Psychologie folgend gilt: je mehr an Lachen und Humor bei einer Person vorhanden sind, desto mehr sind artistische Fähigkeit, Kreativität und Intelligenz vorhanden, die wiederum Ausdruck der dahinter liegenden genetischen Qualität und somit der Gesundheit und der Langlebigkeit sind. Lachen und Humor stehen hauptsächlich aufgrund ihres Deaktivierungs- bzw. aufgrund ihres Blockierungsmechanismuses („disabling mechanism“) für Kreativität und Intelligenz, wie wir im Folgenden lesen können: “It [humor/laughter] operates like a circuit breaker, intentionally disabling people and preventing them from continuing misguided behavior patterns. The humor arises in order to keep us from doing things that are counterproductive. Keep us from doing things that may lead to bad and even disastrous situations. It saves us from trouble. It is an adaptive mechanism whose function is to keep us from taking seriously things that we need not to take seriously. It is exhausting and it lets us relax before we get into trouble and it also sends the information that we are not of real or severe threat. Laughter ‚breaks us up‘ when we are being too extreme or taking ourselves too seriously. When we laugh we can’t do or want to do anything else. Laughter disrupts processing to reveal the absurdity of infinite regressions or other logical errors”.8 Interessanterweise sollte man festhalten, dass sich dieser „disabling“ Mechanismus eigentlich als ein „enabling“ Mechanismus entpuppt. Lachen und Humor schützen

7

8

Gil Greengross, The Evolutionary Basis of Humor and Laughter. (Textunterlagen zur 9. Internationalen Summer School on Humour and Laughter – Theory, Research and Applications), Universität Granada 2009, S. 32. Greengross, a. a. O., S. 36.

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vor bzw. deaktivieren fehlgeleitetes Verhalten und ermöglichen somit wiederum „normales“ Verhalten. Eine sinnvolle Diskussion von Lachen bzw. Humor als Resilienzfaktor müsste meines Erachtens aber wesentlich differenzierter ablaufen, als wir es in den obigen Zitaten lesen konnten. Zunächst einmal werden Lachen und Humor oftmals gleichgesetzt, es wird kein Unterschied gemacht. Dabei lässt man aber außer Acht, dass es auch unzählige Anlässe zum Lachen gibt, die nichts mit Humor zu tun haben, wie z. B. Kitzeln, Lachgas, Freude, Spiel, Hysterie usw. Hierbei stellt sich dann natürlich die Frage, ob die Resilienz fördernde Wirkung von Lachen sowohl auf humoristisches als auch auf non-humoristisches Lachen zutrifft. Aber selbst wenn man nur das humoristische Lachen als Resilienz fördernd her nimmt, muss man sich die Frage stellen, ob jedwede Art an Humor diese gewünschte Wirkung aufzeigt. Sicherlich gibt es eine positive, gute Art des Humors, der eine optimistische Haltung ermöglicht und die Ernsthaftigkeit zumindest für einige Momente wegnimmt. Allerdings gibt es mit Sicherheit auch einen aggressiven, negativen Humor, der hauptsächlich auf dem Auslachen anderer basiert, wodurch man selbst ein Überlegenheitsgefühl erlangt bzw. erlangen möchte und den anderen erniedrigen möchte. Es stellt sich die Frage, ob diese Art von Humor von den Resilienzautoren auch gemeint sein kann, wenn sie über Humor als Resilienzfaktor schreiben, und es stellt sich die Frage, ob diese Art von Humor denn gemeint sein darf. Das heißt: Darf Resilienz auf Kosten anderer erlangt werden? Neben der „Gefahr“ von aggressivem Humor, der die Krisensituation unter Umständen nicht entspannt, sondern eher noch verschärft, weist Corina Wustmann in ihrem Buch Resilienz. Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern 9 auf ein weiteres Problem von Lachen und Humor als Resilienzfaktoren hin: „Humorvolles Verhalten kann dabei helfen, in der Auseinandersetzung mit der Situation die eigenen Probleme nicht zu ernst zu nehmen; Humor kann jedoch nicht immer als nützliche Problemlösungsstrategie angesehen werden; entwickeln Kinder dieses Verhalten zu stark, kann die Gefahr bestehen, dass die Ernsthaftigkeit ihrer Situation von anderen nicht als solche wahrgenommen wird.“ 10 Die Resilienz stärkende Wirkung von Lachen und Humor, die wir oben heraus gearbeitet haben und die sich u. a. durch Minimierung der Ernsthaftigkeit der Krisensituation ausgezeichnet hat, birgt somit zugleich auch eine Gefahr in sich. Die

9

10

Corina Wustmann, Resilienz. Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern, Cornelsen Verlag, Berlin/Düsseldorf/Mannheim 2004. Wustmann, a. a. O., S. 81.

Lachen und Weinen als Resilienzfaktoren

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Gefahr besteht darin, dass mit dem Lachen bzw. mit dem Humor versucht wird, Krisen und Belastungen einfach nur „weg zu lachen“ bzw. sie zu verdrängen, d. h. man lässt sie gar nicht an sich heran. Man selbst und die Umwelt nehmen die Probleme nicht mehr ernst. Mit einer Verdrängung kann man vielleicht die Schwere der Situation reduzieren, allerdings kann man in diesem Fall nicht von einer Bewältigung im eigentlichen Sinn des Wortes sprechen. In anderen Worten: versucht man die Situation durch Humor „weg zu wischen“, so verspielt man auch die Chance einer Veränderung, einer Um- bzw. Neuorientierung sowie eines Erkenntnisgewinnes im Sinne der „ecological resilience“. Ein Faktor, der vor einem oberflächlichen Abtun eines Problems durch Lachen schützt, ist sein „Gegenteil“, nämlich das Weinen. Weinen wurde in der modernen Resilienzforschung bisher nicht oder nur sehr wenig als Resilienzfaktor untersucht. Dies soll im nächsten Abschnitt anhand von Erkenntnissen aus der patristischen Literatur geschehen.

3. Weinen als Resilienzfaktor in der patristischen Literatur Ganz im Gegensatz zur modernen Resilienzforschung, in der das Lachen bzw. der Humor als positiv und somit als Resilienz stärkend angesehen wird – wie wir gerade gesehen haben – wurde in der patristischen Literatur bzw. in der Zeit der Wüstenväter das Lachen als sehr negativ bewertet. Als Zeugnis hierfür sollen die beiden folgenden Zitate genügen, u. a. mit einer Frage aus den Mönchsregeln von Basilius von Caesarea: „In der Forschung herrscht einhellige Übereinstimmung, dass das Lachen, jedenfalls in seiner zwerchfellerschütternden Form, von den Kirchenvätern und insbesondere von monastischen Autoren abgelehnt wurde.“ 11 „31. Frage: Darf man überhaupt nicht lachen? Da der Herr diejenigen, die jetzt lachen, verurteilt (Lk 6,25), ist ganz klar, daß der Gläubige nie Grund zum Lachen hat, zumal unter einer so großen Menge, die durch die Übertretung des Gebotes Gott beleidigt und in ihrer Sünde stirbt. Ihretwegen muß man trauern und weinen.“ 12 Lachen – in antiken Zeiten hauptsächlich verstanden als das Auslachen oder das Verlachen, meist aufgrund eines echten oder eines vermeintlichen Überlegenheits-

11

12

Barbara Müller, Der Weg des Weinens. Die Tradition des „Penthos“ in den Apophthegmata Patrum,Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2000. S. 126. Basilius von Caesarea, Die Mönchsregeln, hg. v. K. S. Frank, EOS-Verlag, St. Ottilien 1981, S. 214 f.

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gefühls – galt somit als Zeichen des Spottes, auch des Spottes gegenüber Gott sowie des Unglaubens und des Zweifels. Anstatt jemanden auszulachen und sich überlegen zu fühlen, sollte man lieber Demut und – so im zweiten Zitat – trauern und weinen an den Tag legen. Im Folgenden möchte ich die These zur Diskussion stellen, dass das Weinen in der patristischen Literatur als positives und hilfreiches Heilmittel gegen Leiden, Depression, Niedergeschlagenheit, Schmerz – im Allgemeinen gegen Akedia 13 – angesehen wurde und somit als Resilienzfaktor heraus gearbeitet werden kann. Vergegenwärtigen wir uns hierfür in einem ersten Schritt die Wichtigkeit des Weinens für die Wüstenväter als auch in einem zweiten Schritt, was genau sie denn mit dem Trauern und Weinen meinten. So können wir z. B. lesen: „Wer sich von seinen Sünden befreien will, der befreit sich von ihnen durch Beweinen. [… ] Denn das Weinen ist der Weg, den uns die Schrift überliefert hat und auch unsere Väter, in dem sie sagten: Weinet! Einen anderen Weg als diesen gibt es nicht!“ 14 „Abbas Isaias fragte den Altvater Makarios: ‚Sage mir ein Wort!‘ Der Alte antwortete ihm: ‚Fliehe die Menschen‘. Da sprach Abbas Isaias zu ihm: ‚Was heißt das: die Menschen fliehen?‘ Der Greis antwortete ihm: ‚Dich in dein Kellion setzen und deine Sünden beweinen.‘ “ 15 Eine berechtigte Frage, die sich im Zusammenhang mit den beiden obigen Zitaten stellt, ist die, was mit dem Ausdruck „Sünde“ genauer gemeint sein könnte bzw. was der Ausdruck in Bezug auf Resilienz meinen könnte. Im Allgemeinen könnte man sagen, dass eine Sünde z. B. ein Verstoß gegen die 10 Gebote ist, allerdings sind dies nicht die einzig möglichen Sünden. Andere für seine missliche Lage verantwortlich zu machen, d. h. einen „Sündenbock“ zu suchen, ist ebenso eine Sünde, wie wir sogleich im unten stehenden Zitat reflektieren können. Interessant am obigen Spruch von Altvater Makarios ist auch, dass er Abbas Isaias den Rat erteilt, sich in sein Kellion, d. h. sich in seine Zelle zu setzen. In der Literatur zur modernen Resilienzforschung kann man immer wieder lesen, dass Netzwerkorientierung – oder anders ausgedrückt ein bestehender Freundeskreis, mit dem man Probleme bereden kann, der einem Mut zuspricht, der Hilfe leistet usw. – hilfreich dabei sein kann, eine Krise zu bewältigen. Netzwerkorientierung und damit die Suche nach sozialen Kontakten stellt somit einen Resilienzfaktor dar.16 Ganz im 13 14

15 16

Vgl. zum Begriff der Akedia: Hell, a. a. O., S. 11–13. Bonifaz Miller, Weisung der Väter: Apophthegmata Patrum, auch Gerontikon oder Alphabeticum genannt, Paulinus Verlag, Trier 1986. S. 235, Nr. 693. Miller, a. a. O., S. 171, Nr. 480. Vgl. Gruhl, a. a. O., S. 73–85.

Lachen und Weinen als Resilienzfaktoren

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Gegenteil dazu haben wir oben den Rat wahrgenommen, dass sich Abbas Isaias in sein Kellion setzen solle. Der Rückzug in eine Zelle und somit in die Einsamkeit, die damit verbundene Zeit und der Raum ohne Ablenkung schaffen nach Meinung der Wüstenväter erst die Möglichkeit zu einer ernsthaften Selbstreflexion und somit zu einer wahrhaften Umorientierung und somit Veränderung. Auch in Bezug auf das Weinen gilt, dass erst mit dem Weinen und somit mit einer Traurigkeit und Betroffenheit die Möglichkeit zu einer Veränderung und zu einer Erkenntnis im Sinne der „ecological resilience“ entsteht. In anderen Worten: „Ein wichtiges Element bei der Beurteilung der eigenen Seelenlage ist das Ausschalten einer ‚Schuldsuche‘ beim anderen. Bei der Selbsterkenntnis geht es in erster Linie um die eigenen Anteile und Fehlhaltungen, die unruhige Gefühle ans Tageslicht bringen. Das Weinen steht für eine echte und tiefe Betroffenheit und wendet sich von vornherein gegen ein zu oberflächliches Bekenntnis, das sich oftmals in der Aussage wiederfindet: ‚Wir alle machen mal Fehler!‘ Erst eine echte Bestürzung über das eigene Verhalten oder die persönliche Situation öffnet einen Weg zu Umkehr und Veränderung. Die Trauer signalisiert deutlich eine Grenze unguter Verhaltensweisen, indem sie darum weiß, dass es auf diese Weise nicht mehr weitergehen darf oder wird. Je kritischer und betroffener Sie sich auf die Bühne Ihres Lebens hinstellen, desto eher wird es Ihnen gelingen, Veränderungen in Ihnen zu bewirken und umso weniger müssen andere dafür geradestehen, damit Ihre Seele ins Gleichgewicht kommt.“ 17 Trauer und Weinen wurden von den Wüstenvätern also tatsächlich als Heilmittel gegen psychische Leiden angesehen. Hell erwähnt – ausgehend von Evagrios Pontikos – fünf Schritte zur Bewältigung von depressiven Leiden: 1) Annehmen und Ausharren 2) Anders denken 3) Traurig sein und Weinen 4) Einen geregelten Lebensrhythmus finden 5) Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit18 Meines Erachtens interessant ist, dass bei den Punkten 1), 2), 4), 5) klar ist, dass diese in einer Krisensituation hilfreich sein mögen, aber oftmals schwer zu realisieren sind. Wer kann schon eine belastende Situation annehmen und deren Schwere aushalten, wer kann schon anders und kreativ denken, wenn gerade die Decke über einem zusammenbricht und wer findet schon einen geregelten Lebensrhyth-

17

18

Udo Manshausen, Wüstenväter für Manager. Weisheiten christlicher Eremiten für die heutige Führungspraxis, Gabler Verlag, Wiesbaden 2000, S. 61 f. Vgl. Hell, a. a. O., S. 124–141.

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mus, wenn sich alles um einen herum zu verändern scheint? Punkt 3), das Traurig sein und das Weinen scheinen hingegen die „normale“ und „natürliche“ Reaktion auf ein Leiden zu sein. Warum sollte man diese also als Rat gegen depressives Leiden ansehen? Bei den Wüstenvätern bzw. in der Literatur dazu, kann man folgendes lernen: „Wider die verhärtete Seele, die des Nachts keine Tränen wegen der Gedanken des Überdrusses vergießen will. Das Vergießen von Tränen ist nämlich ein großes Heilmittel für die nächtlichen Gesichte (Albträume), die aus dem Überdruss entstehen.“ 19 „Als drittes Heilmittel gegen die Akedia empfiehlt Evagrius, herzhaft zu weinen. Das mag zunächst überraschend sein. Tränen als Heilmittel? Geht der Überdruss nicht gerade mit Traurigkeit einher? Nein, antwortet Evagrius zu Recht. Der depressive Überdruss schließt die Traurigkeit weg. Er deckt sie zu und lässt sie schwerlich aufkommen. Wenn die Bedrückung um sich greift, trocknen die Gefühle ein. Gefühle wie Traurigkeit und erst recht Freude kommen erst wieder zum Leben, wenn die Niedergeschlagenheit ein Ende hat. Deshalb sind Tränen nicht mit dem depressiven Zustand der Leere, der Akedia zu verwechseln. Sie sind vielmehr – wo immer sie noch (oder wieder) möglich sind – ein Mittel gegen die Akedia. Das Weinen wird von den Wüstenmönchen mit einem befruchtenden Regen verglichen. Tränen weichen die Verkrustung auf, die einen Menschen im Überdruss eingeengt hat.“ 20 Halten wir also folgendes fest: Traurig sein und Weinen sind ein Heilmittel gegen depressive Leiden. Das Weinen hat eine befreiende Wirkung auf die Verhärtungen der Seele und hat mit dem Akzeptieren und dem Loslassen-können einer Situation zu tun. Tränen können allerdings nicht erzwungen werden. Das Traurig-sein-können und das Weinen-können sind in einer Krise keineswegs selbstverständlich, da die Niedergeschlagenheit und der Überdruss so groß sein können, dass man nicht einmal mehr weinen kann. Weinen bzw. vielleicht eher das Weinen-können stellt den Wüstenvätern folgend einen Resilienzfaktor im Sinne einer Fähigkeit zur Krisenbewältigung dar.

19

20

Evagrios Pontikos, Antirrheticus magnus. Die große Widerrede, VI, 10, übers. von L. Trunk, Münsterschwarzach 1992. Hell, a. a. O., S. 133.

Lachen und Weinen als Resilienzfaktoren

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Diesen Rat zum Weinen und zur Traurigkeit darf man aber nicht, wie oben schon angedeutet, mit Niedergeschlagenheit und Verdrossenheit verwechseln.21 Verdrossenheit und Niedergeschlagenheit sind demnach zu vermeiden und stellen sich als kontraproduktiv zu einer erfolgreichen Krisenbewältigung dar. Entsprechend gilt: „Sie [Niedergeschlagenheit] vereitelt jeden heilsamen Rat, untergräbt die innere Standhaftigkeit und macht den Geist gleichsam wahnsinnig und trunken, bricht ihn und stürzt ihn in sträfliche Verzweiflung.“ 22 „Wenn die [Verdossenheit] uns versucht, dann ist es gut, unter Tränen unsere Seele gleichsam in zwei Teile zu teilen: in einen Teil, der Mut zuspricht, und in einen Teil, dem Mut gemacht wird […].“ 23 „Traurigkeit, Wut und Ekel mögen zwar unangenehm sein, doch sind sie für die Orientierung im Leben von grundlegender Bedeutung. […] Erst der Gebrauch der Emotionen zur Erreichung eigener egoistischer Ziele kann die Gefühle von Traurigkeit, Wut und Ekel problematisch machen. Dieser Missbrauch führt nach Evagrius zur vierten bis sechsten Verführung. Der vierte Dämon der Traurigkeit ist dadurch charakterisiert, dass der Mensch an der Vergangenheit hängt. Er lässt das Verlorene nicht unter Tränen zurück, sondern sucht es in traurigen Gedanken zu bewahren.“ 24 Traurigkeit im Sinne der Niedergeschlagenheit und Verdrossenheit und als Mittel für einen Zweck sind also nicht hilfreich für eine erfolgreiche Krisenbewältigung. Aber die Fähigkeit Weinen zu können und tief betroffen sein zu können ist ein Heilmittel gegen depressive Leiden und damit auch Voraussetzung für Veränderungen, Umorientierungen und Erkenntnisgewinn aus der Krise. Der hilfreiche Aspekt des Weinens scheint mir in der modernen Resilienzforschung bisher vernachlässigt worden zu sein. Die patristische Literatur offenbart sich hierfür allerdings als wertvolle Fundgrube.

21

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24

Dieser Verwechslung ist zum Teil auch Udo Manshausen in seinem Buch Wüstenväter für Manager. Weisheiten christlicher Eremiten für die heutige Führungspraxis zum Opfer gefallen, als er schreibt, dass Traurigkeit eine der Fehlhaltungen bzw. eine der acht Grundschwächen des Menschen ist. Als Fehlhaltung gemeint ist die mürrische Niedergeschlagenheit und die Verdrossenheit, die keine Beschwichtigung an die Seele heran lassen, nicht jedoch die Traurigkeit, die mit dem Weinen einhergeht. Johannes Cassianus, Von den Einrichtungen der Klöster. Neuntes Buch von dem Geiste der Betrübniß, in: Bibliothek der Kirchenväter, hg. v. Valentin Thalhofer, Kösel Verlag, Kempten 1879, S. 194. Evagrios Pontikos, Über das Gebet, eingel. u. übers. v. Gabriel Bunge, Vier-Türme-Verlag, Münsterschwarzach 1986, S. 45. Hell, a. a. O., S. 84.

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Resilienz bzw. resilient zu sein, d. h. eine Krise erfolgreich zu bewältigen, stellt sich demnach als Aufgabe heraus, die nicht immer unbedingt angenehm ist, sondern in der auch Zeiten des Weinens und der Trauer vorkommen, die man nicht vermeiden sollte, da man sonst womöglich die Chance einer wirklichen Veränderung und eines Erkenntnisgewinnes verspielt.

4. Die Verbindung von Lachen und Weinen zur Beschreibung des Resilienzprozesses Bisher haben wir Lachen und Weinen, einmal in der modernen Resilienzforschung, einmal in der patristischen Literatur als Resilienzfaktoren herausarbeiten können. Klar ist auch, dass zwischen beiden eine gewisse Diskrepanz besteht. Diese werde ich in Bezugnahme auf den Resilienzprozess nun minimieren und somit Lachen und Weinen miteinander verbinden.

4.1. Frederic Flach: Das Gesetz von Zusammenbruch und Wiederherstellung Im Gegensatz zu einer ersten Welle der Resilienzforschung, in der man versucht hat einzelne Resilienzfaktoren, d. h. Eigenschaften und Fähigkeiten, die für eine erfolgreiche Krisenbewältigung hilfreich erschienen, zu identifizieren, widmete man sich in einer zweiten Welle der Resilienzforschung dem Resilienzprozess, d. h. der Frage, wie der Prozess einer erfolgreichen Krisenbewältigung aussieht. Eine mögliche Antwort auf diese Frage hat der US-amerikanische Resilienzforscher Frederic Flach in seinem Buch In der Krise kommt die Kraft. Das Geheimnis unserer seelischen Ressourcen gegeben. Im 2. Kapitel beschreibt er sein sogenanntes Gesetz von Zusammenbruch und Wiederherstellung. Dieses besagt in einfachen Worten, dass unsere „biopsychospirituelle“ Homöostase zusammenbrechen bzw. auseinander brechen muss, damit wir sie wieder herstellen können. Dies ist schon auf den ersten Blick einleuchtend: etwas muss zunächst einmal kaputt sein, damit man es wieder reparieren kann. Allerdings meint Flach mit seinem Gesetz von Zusammenbruch und Wiederherstellung wohl etwas mehr. Sehen wir uns also hierzu sein Argument etwas genauer an. Flach behauptet: Alle Lebewesen besitzen eine biologische homöostatische Kraft, um sich in einem Zustand relativer Kohärenz zu halten. Diese Kraft bewahrt den status quo oder stellt ihn wieder her, wenn er gestört wurde. Als einfaches Beispiel aus der Biologie können wir die Körpertemperatur hernehmen, die beim Menschen normalerweise zwischen 36 °C und 37 °C liegt. Befinden

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wir uns in einer sehr kalten Umgebung, was die Körpertemperatur senken würde, so fangen wir zu zittern an, um den status quo aufrecht zu halten. Befinden wir uns in einer sehr heißen Umgebung, so fangen wir zu schwitzen an, um die Körpertemperatur wieder auf den status quo zu senken. Problematisch an diesem Beispiel ist, dass es lediglich ein Beispiel für „economic resilience“, jedoch nicht für „ecological resilience“ ist. Nichtsdestotrotz überträgt Flach dieses Muster der biologischen homöostatischen Kraft auf die psychische Dimension: Alle Lebewesen besitzen eine psychische homöostatische Kraft, um sich in einem Zustand relativer Kohärenz zu halten. Diese Kraft bewahrt den status quo oder stellt ihn wieder her, wenn er gestört wurde. Auf alle Lebewesen wirkt die Kraft bzw. der Druck der Veränderung. Dies bedeutet also, dass die Kraft der Veränderung auch auf die homöostatische Kraft wirkt. Es gibt einen universellen Konflikt zwischen Veränderung und Homöostase (Stabilität/Balance). Das Postulieren einer psychischen homöostatischen Kraft sowie einer universellen Kraft der Veränderung mag aus metaphysischer Sicht sicherlich problematisch erscheinen. Dies soll uns im Moment aber nicht berühren. Flach behauptet hingegen, dass es von Natur aus essentiell, unvermeidbar und notwendig ist, dass jeder Mensch Situationen von Stress, Elend, Widrigkeiten und Belastungen, d. h. in anderen Worten internen und externen Lebensaufgaben ausgesetzt ist und diese durchleben muss. Dies wir umso verständlicher, als Flach von acht homöostatischen Lebensstrukturen spricht: Kindheit, Adoleszenz, frühes Erwachsenendasein, Heirat, Elternschaft, mittlere Jahre und Seniorendasein.25 Dieser Ablauf an Lebensstrukturen mag heutzutage veraltet sein bzw. müsste man ihn wohl etwas modifizieren, allerdings erklärt dieser „notwendige, unvermeidbare“ Ablauf, warum Flach von einem Gesetz in Bezug auf Zusammenbruch und Wiederherstellung spricht. Flach weiter: Eine Person x bleibt in ihrer psychischen Homöostase (bzw. in ihrer biopsychospirituellen Homöostase) gdw sich die Person physisch, mental und spirituell an ein bestehendes Set von Lebensumständen und Lebensbedingungen angepasst hat. Es ist möglich, dass eine Person ihre biopsychospirituelle Homöostase verliert gdw die Homöostase der Person durch die Kraft der Veränderung gestört wurde bzw. aus dem Gleichgewicht gebracht wurde. Die Person verliert ihr psy-

25

Vgl. Flach, a. a. O., S. 61.

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chisches Gleichgewicht, weil sie (noch) nicht an die neuen Lebensumstände angepasst ist. Noch einmal: ein Verlust der Balance bzw. ein Zusammenbruch der Homöostase ist nach Flach notwendig (Gesetz) um eine Anpassung und somit um eine Wiederherstellung des Gleichgewichts zu ermöglichen. In anderen Worten könnte man sogar sagen, dass ein Zusammenbruch bzw. ein Leiden notwendig ist, um die psychische Gesundheit aufrechterhalten zu können. Das hieße wiederum, dass ein gewisses Maß an Vulnerabilität (Zusammenbruch) für Resilienz notwendig ist bzw. im Resilienzprozess vorkommen muss. Dies ist umso interessanter als Vulnerabilität meist als Gegenstück zu Resilienz angesehen wird. Folgen wir Flach weiter, so muss jedes Mal, wenn eine Person x etwas Wichtiges lernen muss, was einer der geliebten Anschauungen widerspricht, dieser Zusammenbruch stattfinden. In anderen Worten: Der Prozess der Wiederherstellung ist für alle Lebewesen von Natur aus eine Aufgabe um veraltete Perspektiven und Wahrnehmungen über Bord zu werfen. Dies geschieht zugunsten neuerer und komplexerer homöostatischen Strukturen, die adäquater und angemessener für die derzeitige und zukünftige Lebenssituation sind. Möchte man nun Frederic Flachs Gesetz von Zusammenbruch und Wiederherstellung mit dem Thema Lachen und Weinen verbinden, so ergeben sich meiner Ansicht nach drei Möglichkeiten: (i) Man betrachtet den Vorgang des Lachens als vergleichbar bzw. als symbolhafte Widerspiegelung des Resilienzprozesses. (ii) Man betrachtet den Vorgang des Weinens als vergleichbar bzw. als symbolhafte Widerspiegelung des Resilienzprozesses. (iii) Man betrachtet Weinen und Lachen (in dieser Reihenfolge) als Widerspiegelung des Resilienzprozesses im Sinne des oben skizzierten Gesetzes von Zusammenbruch und Wiederherstellung. Beginnen wir mit letzterem: die These, die ich im Folgenden zur Diskussion stellen möchte, beinhaltet, dass man Phasen des Weinens und Phasen des Lachens mit den oben beschriebenen Phasen des Zusammenbruchs und Phasen der Wiederherstellung vergleichen kann. Versuchen wir dies ein wenig zu veranschaulichen: eine Person x gerät in eine Krisensituation für die sie (zumindest zunächst) keinerlei Bewältigungsmechanismen zur Verfügung hat (hätte man einen passenden Bewältigungsmechanismus zu Verfügung, so wäre es keine „echte“ Krisensituation). Im ersten Moment herrscht vielleicht erst einmal ein Schockzustand, danach kommen evtl. Zorn, Wut, Nicht-wahr-haben-wollen, aber als erster Schritt zur Bewältigung auch Trauer, Traurigkeit, Leiden und somit die Tränen und das Weinen. In der ersten Phase des Zusammenbruchs herrscht also das Weinen vor.

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Meine These – und gleichzeitig das, was wir aus der patristischen Literatur für die moderne Resilienzforschung lernen können – ist die, dass das Weinen wesentlicher Bestandteil einer erfolgreichen Krisenbewältigung ist. Der Zusammenbruch, das Weinen, die tiefe Trauer sind notwendig, um eine Anpassung an neue Lebenssituationen zu ermöglichen. Allerdings darf es nicht beim Weinen bzw. beim Zusammenbruch bleiben, das bedeutete ein Abgleiten oder ein Verharren in der Depression. Nach dem Zusammenbruch kommt – Flachs Gesetz folgend – die Wiederherstellung. Die Phase der Wiederherstellung kann man mit dem Lachen bzw. mit dem damit verbundenen Humor und dem Ausdruck von Freude vergleichen. In der Phase des Lachens bzw. des Humors gelingt es im besten Fall die Ernsthaftigkeit, die in der Phase der Trauer und des Weinens vorherrschte – und die meiner Meinung nach auch notwendig war, um einen Lernprozess und um damit „ecological resilience“ zu gewährleisten – wieder zu minimieren. Man gewinnt Abstand zur Krisensituation, kann sich etwas von ihr distanzieren und sie somit evtl. auch anders wahrnehmen, d. h. die Perspektive wechseln, durch die sich wiederum evtl. neue, d. h. zuvor nicht gesehene Lösungswege aufzeigen. Humor bzw. Lachen über sich selbst, d. h. sich selbst nicht so ernstnehmen, ist für eine erfolgreiche Krisenbewältigung wohl am ehesten zu raten. Ein Auslachen oder Verlachen von anderen, aufgrund deren Missgeschicke und aufgrund eines eigenen vermeintlichen Überlegenheitsgefühls ist vermutlich eher anzweifelbar hinsichtlich seiner Hilfe zur Krisenbewältigung.

3.2 Helmuth Plessner: Lachen und Weinen als Antworten auf Krisensituationen Ein Beitrag aus der Philosophie, der einiges zum Thema Lachen und Weinen in Bezug auf Krisenbewältigung und Resilienz beisteuern kann, sind die Gedanken von Helmuth Plessner. In seinem Buch Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens 26 von 1941 bezieht er sich hauptsächlich auf die Frage, inwiefern Lachen und Weinen Bedingungen des Menschseins, also der conditio humana, sind. Diese Frage soll uns nicht weiter beschäftigen, allerdings ist es interessant, dass Plessner Lachen und Weinen als sinnvolle Antworten auf eigentlich unbeantwortbare Situationen (Krisensituationen) ansieht. Plessner baut seine Gedanken zu Lachen und Weinen auf seiner philosophisch anthropologischen Basis der exzentrischen Positionalität auf. Damit ist gemeint,

26

Helmuth Plessner, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens (1941). in: Idem, Ausdruck und menschliche Natur (Gesammelte Schriften Bd. VII), Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003.

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dass der Mensch in eine Umwelt hineingesetzt, positioniert ist (Positionalität), wobei er durch eine Grenze zu dieser Umwelt bestimmt ist. Tiere sind nach Plessner zentrisch positioniert, d. h. sie haben ein Zentrum, einen inneren Antrieb, sie können sich aber nicht selbst auf dieses Zentrum beziehen. Sie erleben sich und ihre Umwelt, aber sie erleben ihr Erleben nicht. Der Mensch hingegen erlebt sein Erleben, er hat eine Mitte und kann sich zugleich auf diese Mitte beziehen. Damit er sich auf seine Mitte beziehen kann, muss er sozusagen „neben sich stehen“ können, ohne sich aber zu verlassen. Diese Distanzierungsmöglichkeit zur Mitte wird durch den Begriff der exzentrischen bzw. der ex-zentrischen Positionalität ausgedrückt.27 Durch diese exzentrische Positionalität kann der Mensch – und nach Plessner nur der Mensch – in Krisensituationen bzw. in nicht mehr beantwortbare Situationen gelangen. Der Grund hierfür liegt in der Doppelseitigkeit der exzentrischen Positionalität: zum einen ist der Mensch zentrisch positioniert (wie das Tier), zum anderen steht er aber auch neben sich, um sein Zentrum erleben zu können, ohne dieses aber verlassen zu können. Plessner spricht an dieser Stelle von einem Bruch im menschlichen Dasein.28 Diese Doppelseitigkeit macht ein eindeutiges Verhältnis des Menschen zu sich und zu seiner Umwelt unmöglich und erklärt Plessners Aussage, dass der Konflikt die Mitte der menschlichen Existenz bildet.29 Und dennoch sind dem Menschen von Natur aus Möglichkeiten mitgegeben worden, diese eigentlich unbeantwortbaren Situationen dennoch sinnvoll beantworten zu können: nämlich durch Lachen und Weinen. „Man lacht und weint nur in Situationen, auf die es keine andere Antwort gibt.“ 30 Oder an anderer Stelle: „Unbeantwortbare und nicht bedrohende Lagen dagegen erregen Lachen oder Weinen.“ 31 Plessner weiter: „Im Verlust der Herrschaft über ihn, in der Desorganisation bezeugt der Mensch noch Souveränität in einer unmöglichen Lage. Er zerbricht an ihr als geordnete Einheit von Geist, Seele, Leib, aber dieses Zerbrechen ist die letzte Karte, die er ausspielt. Indem er unter sein Niveau beherrschter oder wenigstens geformter Körperlichkeit sinkt, demonstriert er gerade seine Menschlichkeit: Da noch fertig werden zu können, wo sich nichts mehr anfangen läßt.“ 32

27

28 29 30 31 32

Vgl. Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Walter de Gruyter, Berlin/New York 1975. S. 288–308. Plessner, Lachen und Weinen, a. a. O., S. 238–240. Vgl. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 317. Plessner, Lachen und Weinen, a. a. O., S. 359. Ebd., S. 276. Ebd., S. 364.

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„Die Desorganisation des Verhältnisses zwischen dem Menschen und seiner physischen Existenz wird zwar nicht gewollt, aber – indem sie sich überwältigend einstellt – doch nicht bloß hingenommen und erlitten, sondern als Gebärde und sinnvolle Reaktion verstanden. In der Katastrophe noch, die sonst sein beherrschtes Verhältnis zum eigenen Leib erfährt, triumphiert der Mensch und bestätigt sich als Mensch. Durch das entgleitende Hineingeraten und Verfallen in einen körperlichen Vorgang, der zwanghaft abläuft und für sich selbst undurchsichtig ist, durch die Zerstörung der inneren Balance wird das Verhältnis des Menschen zum Körper in eins preisgegeben und wiederhergestellt. Die effektive Unmöglichkeit, einen entsprechenden Ausdruck und eine passende Antwort zu finden, ist zugleich der einzig entsprechende Ausdruck, die einzig passende Antwort.“ 33 Halten wir aus den obigen Zitaten also folgendes fest: was bei Flach „Verlust der biopsychospirituellen Homöostase“ heißt, heißt bei Plessner die „Desorganisation von Geist, Seele und Leib“. Beide verwenden angesichts der Krisensituation die Wörter „zerbrechen“ oder „Zerstörung der inneren Balance“ und beide sprechen interessanterweise von einer „Wiederherstellung“. Was meines Erachtens bei Plessner deutlicher heraus gestellt wird als bei Flach, ist der Aspekt, dass der Zusammenbruch schon der Beginn – und zwar der einzig mögliche Beginn – der Wiederherstellung ist. Noch einmal in anderen Worten: Person x befindet sich in einer Krisensituation, in der sie sich weder orientieren, noch diese verstehen oder durchschauen kann. X besitzt keine adäquate Strategie dieser Situation zu begegnen und gerät in eine Krise. In der Krisensituation verliert sie die innere Balance und zerbricht. In Bezug auf das Lachen und das Weinen entsprechen dem Zusammenbruch (Flach) die „Kapitulation“, das „Ergriffen-Sein“, die „Ohnmacht“, das „Sich-ÜbermannenLassen“ und das „Fallen ins Lachen“ bzw. das „Verfallen ins Weinen“ 34 (Plessner). Indem die Person diesen Zusammenbruch zulässt (Stichwort „Akzeptanz“), beantwortet sie die Situation aber dennoch sinnvoll und stellt somit die innere Balance wieder her bzw. sie „triumphiert“ in der Beantwortung einer Krisensituation. Der Zusammenbruch stellt sich somit als die erste Phase der Wiederherstellung dar bzw. ist der Zusammenbruch schon die Wiederherstellung (Bestätigung und Verlassen der Krise 35). In diesem Sinn möchte ich die These zur Diskussion stellen, dass der Verlauf von Lachen und Weinen (jeweils einzeln gesehen) – beschrieben durch Plessner mit einer Kapitulation, dem Verfallen in Lachen oder Weinen und der dadurch erreichten Beantwortung und Quittierung der Situation – dem Resi-

33 34 35

Ebd., S. 274. Ebd., S. 273, 345 f, 352 f, 364. Ebd., S. 277.

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lienzprozess nach Flachs Gesetz von Zusammenbruch und Wiederherstellung entspricht bzw. ähnelt.

4. Zusammenfassung Moderne Resilienzforschung und patristische Literatur versuchen beide die Frage zu beantworten, wie Menschen ihr Leben trotz Krisen und schwieriger Umstände meistern können und sich trotzdem positiv entwickeln können. In der modernen Resilienzforschung haben wir den Faktor des Lachens bzw. des Humors gefunden, der sich durch Perspektivenwechsel, Abstand nehmen und Minimierung der Ernsthaftigkeit als hilfreich bei der Krisenbewältigung erwiesen hat. Ganz im Gegensatz dazu haben wir in der patristischen Literatur den Faktor des Weinens gefunden, den ich als Resilienzfaktor heraus gearbeitet habe, da nur eine tiefe Betroffenheit und die teils leidvolle Selbstreflexion zu einer echten Veränderung und zu einem Erkenntnisgewinn im Sinne der „ecological resilience“ führen. Beim Lachen habe ich auf die Gefahr hingewiesen, dass man Probleme nur oberflächlich „weg lachen“ und verdrängen will, es aber nicht zu einer wirklichen Bewältigung kommt. Beim Weinen besteht die Gefahr des Abgleitens in Niedergeschlagenheit und Verdrossenheit, wobei wir von den Wüstenvätern gelernt haben, dass das Weinen vor diesen depressiven Leiden schützt bzw. bei echter Niedergeschlagenheit ist Weinen gar nicht mehr möglich. In einem dritten Schritt habe ich Lachen und Weinen unter Bezugnahme auf den Resilienzprozess miteinander verbunden. Die Phasen des Zusammenbruchs und der Wiederherstellung, wie es Frederic Flach beschreibt, kann man mit dem Weinen und dem Lachen (in dieser Reihenfolge) vergleichen. Aber auch Lachen und Weinen für sich selbst genommen weisen Phasen des Zusammenbruchs und der Wiederherstellung auf, aufbauend auf Helmuth Plessners Gedanken zu diesem Thema.

Literatur Bamberger J. E. (Hg.) (1986), Evagrios Pontikos: Praktikos. Über das Gebet, übers. von J. E. Bamberger, aus dem Engl. von G. Joos, Vier-Türme-Verlag, Münsterschwarzach. Frank, K. S. (Hg.) (1981), Basilius von Caesarea: Die Mönchsregeln, St. Ottilien: EOS-Verlag. Flach, F. (2003), In der Krise kommt die Kraft. Das Geheimnis unserer seelischen Ressourcen, Freiburg im Breisgau: Herder Verlag. Gruhl, M. (2008), Die Strategie der Stehauf-Menschen. Resilienz – so nutzen Sie Ihre inneren Kräfte, Freiburg im Breisgau: Herder Verlag.

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Greengross, G. (2009), The Evolutionary Basis of Humor and Laughter, in: Textunterlagen zur 9. Internationalen Summer School on Humour and Laughter – Theory, Research and Applications, Universität Granada 2009. Hell, D. (2002), Die Sprache der Seele verstehen. Die Wüstenväter als Therapeuten, Freiburg im Breisgau: Herder-Spektrum. Manshausen, U. (2000), Wüstenväter für Manager. Weisheiten christlicher Eremiten für die heutige Führungspraxis,Wiesbaden: Gabler Verlag. Miller, B. (Hg.) (1986), Weisung der Väter: Apophthegmata Patrum, auch Gerontikon oder Alphabeticum genannt,Trier: Paulinus Verlag. Müller, B. (2000), Der Weg des Weinens. Die Tradition des „Penthos“ in den Apophthegmata Patrum, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Plessner, H. (2003), Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens, in: idem, Ausdruck und menschliche Natur. Gesammelte Schriften Bd. VII, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Plessner, H. (1975), Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin/New York: Walter de Gruyter. Thalhofer, V. (Hg.) (1879), Cassianus, Johannes: Von den Einrichtungen der Klöster. Neuntes Buch von dem Geiste der Betrübniß, in: Bibliothek der Kirchenväter, Kempten: Kösel Verlag. Wustmann, Corina (2004), Resilienz. Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern, Berlin/Düsseldorf/Mannheim: Cornelsen Verlag.

Malgorzata Bogaczyk-Vormayr /

In die Wüste, in die Welt. Über die altchristliche Lehre von der Seelenkraft

1. Einleitung In diesem Artikel untersuche ich die Wirkungsgeschichte der altchristlichen Literatur in zwei Kontexten. Die erste Idee ist es, zu zeigen, welche Relevanz die Lehre der Kirchenväter über die Seelenkraft für die heutige philosophische Reflexion hat. Zum anderen möchte ich die altchristliche Lehre von der Seelenkraft in Bezug zur zeitgenössischen Resilienzforschung (Widerstandsforschung) setzen. Zur ersten Idee: Ich beschäftige mich hier mit der Thematisierung der WegErfahrung, vor allem mit Bezug auf die Wüstenerfahrungen, die uns in den Werken der frühchristlichen Autoren berichtet werden. Ich widme mich also mehreren griechischen und lateinischen Kirchenvätern, ganz besonders aber den Wüstenvätern. Zudem suche ich die Kontinuitäten und Spiegelungen ihrer Aussagen bei den Metaphysikern und Religionsphilosophen des 20. Jahrhunderts. Die wichtigsten Impulse für meine Arbeit beziehe ich vor allem aus der Philosophie des Dialogs und aus der modernen Resilienzforschung. In meiner Analyse der Weg-, Zeit-, und Transzendenzerfahrung lasse ich mich in erster Linie von den Gedanken Martin Bubers, Ferdinand Ebners und Emmanuel Lévinas’ inspirieren. Zur zweiten Idee: In der modernen Resilienzforschung wird die Problematik der menschlichen Krisenfähigkeit zur Sprache gebracht. Resilient sein heißt also vor allem fähig bzw. kräftig sein und unter Resilienz verstehe ich die Kraft des Menschen, eine Krise zu überwinden; in diesem Sinne sprachen die Kirchenväter von Armut, Krankheit, Leid, Unrecht und Verzweiflung. Ich untersuche also die altchristlichen Seelenkraft-Konzeptionen, welche die Charakter- und Tugendlehre und Themen wie Trost, Hoffnung, Krise und Widerstand oder Glaube umfassen. Diese Themen, die zur Betrachtung der altchristlichen Seelenkraft-Konzeptionen hinführen, sind zeitlos. Im Mittelpunkt meiner Untersuchung stehen jedoch philosophische Begriffe und ihre Wirkung. Klassische Begriffe und Fragestellungen zeigen besonders in der modernen philosophischen Reflexion ihre Aktualität; in dem Gedächtnis vieler Begriffe und Kategorien finden wir eine Antwort auf so manche zeitgenössische Fragen. Jedes Wort ist ein analogos, mit dem wir zurückkehren können in der

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Suche nach gerade dem Moment, das als Wort-Quelle das Denken eines Menschen vielleicht zum ersten Mal in Bewegung brachte. Wir stoßen auf Worte und erkennen sie wieder: auf neue Art oder wie eben schon andere vor uns. Wir kreieren neue Namen und Begriffe, die aber bald die durch uns festgelegten Kontexte und Diskurse verlassen. Ganz besonders „Analogien, Metaphern und Sinnbilder sind die Fäden“ 1, mittels derer sich unser Verstand dazu verhilft, die Ordnung der Welt zu erkennen, in Begriffe zu fassen und vertraut zu machen. In diesem Sinne hat meine Arbeit einen „exegetischen“ Charakter. Ich arbeite mit Texten und untersuche ihre Wirkungen, ich lese aus ihnen Analogien und Kontinuitäten heraus. Es handelt sich jedoch um keine Exegese im theologischen Sinne, ich präsentiere keine patrologische Studie. Ich widme mich vorrangig jenen frühen christlichen Autoren, in deren Schriften ich die sprühende Kraft des philosophischen Wortes entdecke. Ich lese sie wie ich z. B. Parmenides, Platon, Abélard, Ockham, Spinoza, Descartes, Kant, Nietzsche oder Derrida lese. Interessant ist für mich die gegenseitige Beleuchtung, die die philosophischen Texte einander liefern.

2. Auf dem Weg Zu Beginn möchte ich zwei Figuren einander gegenüberstellen und zwei Arten des Auf-dem-Wege-Seins, denen sie entsprechen: Odysseus und Abraham. Die Gegenüberstellung des Odysseus-Mythos und der Abraham-Geschichte hat eine lange Tradition, das eindrucksvollste Bild bekommen wir aber von Emmanuel Lévinas 2. Der Dialogphilosoph meinte, die Gegenüberstellung von Abraham und Odysseus soll den Unterschied dessen aufzeigen, was bei beiden Gegenstand ihrer Suche ist. Odysseus ist ein Mensch, der par excellence auf dem Weg und auf der Suche ist – sein Name symbolisiert schon für immer ein Leben als Reise. Seine Reise ist eine Rückkehr. In seinen für uns faszinierenden Abenteuern begegnet Odysseus dem Anderen und betrachtet es als das Fremde und Feindliche. Abraham dagegen ist der Mensch, der auf seine Reise geschickt wird. In der Wüste begegnet er zwei Fremden, die er aber nicht als Feinde, sondern als Boten Gottes erkennt. Er nimmt vertrauensvoll ihre Worte auf und findet so seinen Weg ins gelobte Land. Im Kontext von Lévinas’ Philosophie ist in dieser Abraham-Erzählung wichtig, dass Abraham vorerst nur die Gesichter der Engel sieht und aus deren Antlitzen die Botschaft liest – die Offenbarung. Abraham, der seine Heimat verlässt und in das Unbekannte geht, symbolisiert für den Dialogphilosophen eine Begegnung mit

1

2

Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes. Bd. 1: Denken, Pieper & Co. Verlag, München/ Zürich 1979, S. 113. Vgl. z. B. Emmanuel Lévinas, Jenseits des Seins, übers. v. T. Wiemer, Karl Alber Verlag, Freiburg 1998, S. 328.

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dem Anderen – und durch ihn mit der Transzendenz. In der Bewegung als Odyssee ist das Abenteuer, das Erleben der Welt, nur die Nebenerscheinung einer Rückkehr. Dieser Rückweg kontrastiert bei Lévinas mit dem Versprechen des neuen Landes, das Abraham gegeben wird. Metaphysik soll, nach Lévinas, eine Bewegung sein zu dem, was radikal anders ist. Deswegen formuliert er seine Kritik an der traditionellen Metaphysik (Ontologie), die er auch mit einer Odyssee vergleicht: „Die Trennung und die Innerlichkeit, heißt es, seien unverstehbar und irrational. Die metaphysische Erkenntnis, wenn sie das Selbe mit dem Anderen verbindet, ist dann ein Abbild dieses Zerfalls. Aufgabe der Metaphysik sei es, die Trennung zu überwinden, die Einheit herzustellen. Das metaphysische Sein müsse das Sein des Metaphysikers in sich aufnehmen. Die tatsächliche Trennung, mit der Metaphysik anhebt, beruhe auf Illusion oder Irrtum. Als Phase, die das getrennte Seiende auf dem Weg zurück zu seiner metaphysischen Quelle durchschreite, als Moment einer Geschichte, die ihre Erfüllung in der Vereinigung finde, sei die Metaphysik eine Odyssee und ihre Unruhe Heimweh. Aber die Philosophie der Einheit hat nie zu sagen vermocht, woher diese zufällige Illusion und dieser zufällige Sturz kommen; im Unendlichen, im Absoluten und im Vollkommenen sind sie undenkbar.“ 3 Odysseus also symbolisiert auf eine geniale Weise das griechische Denken: Die äußere Welt bringt dem Menschen keine Antwort, diese bildet sich nur in seinem Inneren. Ausschließlich im Denken beherrscht er das apeiron. Dies führt allerdings nur dazu, dass er sich wieder als ein Element des Chaos und des Schicksals erkennt. Der Mensch der frühen griechischen Philosophie kommt vom apeiron zum kosmos. Aber nicht viel weiter, sagten dazu die frühchristlichen Autoren. Der Weg zur Entdeckung der arche und des kosmos ist ein Wiedererkennen des Menschen als zeitliches Wesen. Verschiedene antike Schulen konnten mit diesem Schicksal in ihrer Lehre ganz gut umgehen, wie z. B. die Platoniker und Stoiker mit ihren Konzeptionen der Leidenschaftslosigkeit (apathia), die später gerne von manchen Wüstenvätern (z. B. Evagrios Pontikos) übernommen wurden. Abraham dagegen steht für das prophetisch-religiöse und schon nicht mehr griechische Denken. Er symbolisiert die Tradition, den Anfang sowie gleichzeitig den Übergang. Er ist „Vater der Vielen“ und „Vater des Glaubens“ (Mt 3,9). Abraham ist eine Art Verbindungsglied, ein Vermittler zwischen Altem und Neuem Testament. Durch ihn geschieht die Ankündigung des Neuen für das Judentum und des Alten, des Quellenhaften für das Christentum. Ein Prophet ist er für drei Religionen: Judentum, Christentum und Islam. 3

Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, übers. v. W. N. Krewani, Verlag Karl Albert, Freiburg/München 1987, S. 145.

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Mit der Abraham-Figur können wir also dem zeitlosen Bild von einem Scheideweg eine interessante Bedeutung geben. Das bekannte Motiv des sich teilenden Weges gehört zur menschlichen Erfahrung des In-der-Welt-Seins, es stellt eine Trennungs- und Entscheidungssituation dar. Mit den Wegbildern illustriert man auch gerne verschiedene Lebensschicksale. Die Bedingung des Menschseins, die conditio humana, wurde ausgehend von den Griechen bis herauf in unsere Tage als ein Weg beschrieben – ein Weg zum Anderen und gleichzeitig eine Reise ins Innere. Abraham entscheidet sich im Vertrauen auf Gott für den Weg ins Unbekannte und Neue. Damit repräsentiert er exakt die Idee, dass Gott nur für jene eine ewige Gegenwart darstellt, die sich für die Hoffnung entscheiden. Die Kirchenväter haben Abrahams Figur ganz ähnlich gesehen: Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs (Exod. 3,6) ist nicht der Gott der Philosophen. „Mein Gott – schreibt Augustinus – ist gegenwärtig, überall ist er ganz, nirgends ist er ausgeschlossen.“ 4 Nach philosophischer Tradition verbleiben Gott und Mensch in einer Dichotomie: Ihre Zeiten, wie Lévinas sagt, gehen immer aneinander vorbei, sie verpassen sich. Der Philosoph spricht hier von einer Diachronie. Wir kommen zu einem ganz wichtigen Punkt: Die Gegenwart Gottes, die mit der Zeitlichkeit des menschlichen Daseins verbunden ist. Es ist der Punkt, an dem sich die Wege der klassischen Philosophie und der altchristlichen Lehre radikal trennen und nicht mehr zusammenfinden. Die großen Philosophen, die man gleichzeitig als die größten Kritiker der Philosophie bezeichnen könnte – wie Pascal, Kierkegaard, Nietzsche oder Weil – werden es immer betonen: Von der Transzendenz kann man nur in einem existentiellen Diskurs sprechen. Noch ein Motiv nehmen wir aus dieser Abraham-Geschichte, und jetzt lassen wir uns von Lévinas’ Idee über die Spuren des Anderen inspirieren. Abraham erkennt in den Antlitzen der Anderen eine Spur seines Gottes. Durch den Eindruck dieser Antlitze wird ihm die Gegenwart Gottes in Erinnerung gerufen. Das Antlitz des Anderen ist eine Präsentation des eigenen Gewissens. Mithilfe dieser Spur erinnert sich Abraham wieder an seinen Gott. Das zentrale Thema dieser Geschichte ist also die Gegenwart Gottes, die in der Gegenwart der Mitmenschen spürbar wird. Der Mensch, dem wir begegnen, ist ein Mittler für die Begegnung mit der Transzendenz. Die Anschauung des Gesichts ist ein ganz zentrales und äußerst facettenreiches Thema in der gesamten jüdisch-christlichen Tradition: Von Moses, mit dem Gott „redete von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde redet“ (Exod. 33,11) 5, bis zu Christus, der ein eikon ist, ein Bild 4 5

Augustinus, De civitate Dei 1,29. In der Vulgata lautet diese Stelle folgendermaßen: loquebatur autem Dominus ad Mosen facie ad faciem sicut loqui solet homo ad amicum suum (2 Mose 33,11). Die griechische Phrase enåpiov enwpíw (von Angesicht zu Angesicht) wurde verwendet um zu zeigen, dass etwas erkannt und vertraut ist. Hier ist von großer Bedeutung die Verdeutschung dieser Stelle von zwei Dialogphilosophen, nämlich M. Buber und F. Rosenzweig; vgl.: Die fünf Bücher der Weisung, Verlag Lambert Schneider, Heidelberg 1981, S. 247–8.

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des lebendigen Gottes: „Christus ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15: qui est imago Dei invisibilis). Moses und Christus – beide symbolisieren auf ihre je eigene Weise einen Weg zu Gott. Übersetzt in eine philosophische Sprechweise bedeutet dies: Das Leben Moses’ und das Leben Christi werden als Weg zur Verwirklichung, als eine entelechia verstanden. Dafür werden konkrete Bilder eingesetzt: Moses’ Aufstieg zum Berg Sinai 6 und Christi Selbstbezeichnung als Weg und Wort. „Jesus spricht zu ihm: So lange bin ich bei euch und du kennst mich nicht, Philippus? Wer mich sieht, der sieht den Vater! Wie sprichst du dann: Zeige uns den Vater? Glaubst du nicht, dass ich im Vater bin und der Vater in mir? Die Worte, die ich zu euch rede, die rede ich nicht von mir selbst aus. Und der Vater, der in mir wohnt, der tut seine Werke. Glaubt mir, dass ich im Vater bin und der Vater in mir; wenn nicht, so glaubt doch um der Werke willen. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer an mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue, und er wird noch größere als diese tun; denn ich gehe zum Vater.“ 7 Aus dieser Stelle lesen wir noch eine andere Aussage der Lehre Christi: Das eikon (Abbild) soll man im Unterschied zu den idola (als bildnerische, verfälschte und naive Vorstellungen von Gott, als von den sog. Heiden verehrte Geschöpfe) verstehen; aber die richtige Vermittlung Gottes geschieht durch das Wort (logos) und das Handeln (eucheirese) Christi. Er ist der Gott, der die Diachronie und Dichotomie überwindet, der zum menschlichen Hier und Heute gehört. Kommen wir also zurück zur philosophischen Dichotomie-Problematik. Das Prinzip der ersten Naturphilosophen (arche), das Eins (hen) der Eleaten und das göttliche Erste der späteren Platoniker (hen) verbleiben, trotz vieler Analogien, die man zwischen logos, nous, monas und dem Gott der Bibel herstellen kann, in totaler Trennung vom Menschen. Sogar in Plotins Modell von den Hypostasen, der das Göttliche als dreifach abgestuft verstand (Hen, Nous, Psyche/Eines, Vernunft, Seele), gilt dieses als das absolut Transzendente. Reinhard Hübner schreibt: „Der erste Gott Plotins ist völlig in sich. Er kann nicht aus sich heraustreten. Er wendet sich niemandem zu. Dieser Gott hat keine Stimme. Er ruft niemanden. Er liebt niemanden. Er ist keine Person. Auch was nach ihm 6

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Einen Vergleich dieses Aufstiegs Moses zum menschlichem Weg und der Strebung nach dem sog. wahren Leben finden wir bei Gregor von Nyssa, vgl.: Benedikt XVI, Die Kirchenväter – frühe Lehrer der Christenheit, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2008, S. 101. Joh. 14,9–12. In dieser Stelle kommt auch der Umstand zur Sprache, dass man im Andern im Augenblick der Schau seines Antlitzes gleichzeitig dessen Transzendenz erkennt. Dazu lesen wir: „Qui vidit me vidit et Patrem“ und „ego in Patre et Pater in me est“.

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kommt, kann nicht Person sein, denn Person wird konstituierend durch den Ruf und die Antwort. Hier aber ergeht kein Ruf. Deswegen gibt es diesem Gott gegenüber keine Schuld oder Sünde. Schuld gibt es nur, wo ein Ruf ausgeschlagen, eine Antwort verweigert, wo Liebe verletzt wird.“ 8 Die sog. Metaphysik des Exodus zeigt, so lesen wir bei den Kirchenvätern, dass Gott sich als Person erkennen lässt, und auf dieser Aussage bauen die lateinischen Kirchenväter ihre Christus- und Kirchenlehre auf, u. a. die Lehre von der Menschenwürde und die Soziallehre der Kirche. Die „Metaphysik des Exodus“ betrachtet den Namen und die Natur Gottes. Oben formulierte ich die Fragestellung nach den gemeinsamen oder auch getrennten Wegen der klassischen Philosophie und der Lehre der Kirchenväter. Diese Trennung sehe ich vor allem, wie schon gesagt, in der religiösen Konzeption der Gegenwart Gottes. Dazu gehört noch eine weitere Frage: Entspricht der Zeitlichkeit, d. h. der Endlichkeit des menschlichen Daseins eher die Formel „Seinzum-Tode“ (Heidegger) oder aber das „Sein-für-nach-dem-Tode“ (Lévinas), und welche existenziellen Phänomene werden durch diese philosophischen Begriffe beschrieben? In der Zeiterfahrung, meint Lévinas, erkennen wir uns als Wesen mit Zukunft. Das menschliche Dasein wird also nicht durch das Sein-zum-Tode, sondern durch das Sein-in-die-Zukunft beschrieben. Beide Formeln vermitteln die Idee des Lebens als eines Projektes, jedoch mit zwei unterschiedlichen Auffassungen von der menschlichen Zeitlichkeit. In diesem Sinne dürfen wir sagen, dass Heidegger griechisch und Lévinas jüdisch-christlich denkt, beide aber verlassen die Ontologie bzw. Metaphysik nicht. Das Schweigen Gottes bzw. die Diachronie zwischen Gott und Mensch stehen bei beiden Denkern im Mittelpunkt. Die frühen Kirchenväter (bis zum Konzil von Nicäa im Jahre 324) grenzen sich einerseits sehr vehement von der griechischen Metaphysik (d. h. von der Prinzipienlehre, Naturphilosophie und Ideenlehre) ab, beziehen aber dennoch wichtige Aspekte ihrer Lehre aus ihr. Für die Griechen brachte die Selbsterkenntnis den Menschen zur Anschauung seiner Grenzen gegenüber dem kosmos, der vergöttlichten Natur bzw. dem eidos. Die Kirchenväter dagegen betonen, dass der Mensch sich als zeitliches Wesen erkennt, wodurch er zur Gotteserkenntnis gelangt. Diese Opposition gegenüber dem griechischen Denken zeigt sich beispielsweise an der von mir schon kurz erwähnten Ablehnung des griechischen Chaos-Verständnisses. Die Philosophie der Griechen kann man als ein Bemühen verstehen, das Chaos zu strukturieren, mit dem Ziel, dem Menschen einen Platz im Kosmos zuzuweisen. Die Betrachtung des Chaos wird also in der damals einsetzenden Verdichtung von philosophischen Ideen zum Entwurf des Ersten Ele-

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Reinhard M. Hübner, Der Gott der Kirchenväter und der Gott der Bibel. Zur Frage der Hellenisierung des Christentums, Minerva Publikation, München 1979, S. 14.

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mentes führen (z. B. zum apeiron, das die Eigenschaften des Chaos und des ewigen Prinzips in sich vereint) und noch später die Lehre von einer Weltstruktur, vom kosmos begründen. Dieser Chaos- bzw. Welt-Begriff war ein wichtiges Thema im Rahmen der philosophisch-kosmogonischen Reflexion der sog. apostolischen und auch der griechischen Väter des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts. Später verschwindet dieser Begriff aus den Betrachtungen der Kirchenväter. Das einzige Begriffs-Relikt aus jener Zeit, das die Nivellierungs- und Vereinfachungsbestrebungen der darauffolgenden Dogmen-Periode überlebte, war der Begriff des ex nihilo: Die creatio ex nihilo steht in Opposition aber auch in einer gewissen Verbindung zur Formel ex nihilo nihil fit 9, sie wurde von der Lehre über das Chaos als dem ewigen Stoff beeinflusst. Diese Begriffsentwicklung mit dem Ausgangspunkt in der creatio ex nihilo findet sein Ende in der Geschichte von der resurrectio. Besonders in der Auferstehung Jesu Christi begegnet uns eine neue Version jenes archaischen Bildes von der Auferstehung und Wiedererweckung – anastasis. Die Anastasis-Idee entwickelt sich aus den griechischen Konzeptionen von arete und entelechia, ihre bedeutendste Ausformung erhielt sie in der resurrectio-Lehre der Kirchenväter: Zum Thema der Selbsterkenntnis des Menschen als zeitlichem Wesen zwischen creatio und resurrectio bekommen wir nämlich eine in philosophischer Hinsicht geniale Auseinandersetzung mit dem klassischen Bild des Strebens, d. h. der Potentialität zur Veränderung jeder Seele. Johannes Cassianus (ca. 350 – ca. 430), einer der wichtigsten Wüstenautoren unter den Kirchenvätern, spricht in der 6. Rede seiner Collationes patrum (Unterredungen mit den Vätern) von der Veränderung des menschlichen Wesens und vergleicht diese mit einer Bewegung: „Jeder Mensch muss sich im Innern seines Geistes erneuern und jeden Tag fortschreiten, auf das immer schauend, was vor ihm liegt. Und wenn der Mensch das nicht tut, geht er rückwärts und verfällt in einen schlechten Zustand. Aber der Geist des Menschen kann nicht ständig in demselben Zustand verharren.“ 10 Die menschliche Seele und alles, was wir unter diesen Begriff subsumieren – den Geist oder das Geistige, den nous, die Vernunft, animus oder intellectus, den Charakter usw. – behält nicht ihre Geradheit, in der sie geschaffen wurde, wie es sich der ägyptische Mönch Antonius der Große (251–365) noch erdachte:

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Vgl. z. B. Aristoteles, Physik I, 4. Johannes Cassianus, Collationes patrum 6,14.

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„Die Tugend besteht ja darin, daß die Seele das Vernünftige in sich hat, wie es ihrer Natur gemäß ist. Sie befindet sich in ihrem natürlichen Zustand, wenn sie bleibt, wie sie geschaffen ist. Geschaffen aber ist sie in Schönheit und voller Harmonie. Darum sagt Johannes: ‚Macht gerade eure Wege!‘ In der Geradheit der Seele besteht ihr natürlicher Zustand.“11 Dieses Ideal der Geradheit entspricht der Vorstellung vom Weg zwischen creatio und ressurectio: Vom Idealzustand der Seele über die Endlichkeit und Begrenztheit zurück zu ihrem Idealzustand. Es ist ein Grundgedanke der christlichen Theologie und Philosophie: der Weg zurück zu Gott, die Möglichkeit der Veränderung der conditio humana, die wieder erreichbare Vollkommenheit. Der Glaube an die Auferstehung und an das ewige Leben hat aus philosophischer Sicht seine Vorbilder in den frühphilosophischen Konzeptionen von dynamis. Dieser Zusammenhang kommt bei Thomas von Aquin in dessen Seelenlehre auf eine einzigartige Weise zur Sprache. Thomas verfolgt die Spuren der klassischen Dynamis-Lehre (Aristoteles, Augustinus, Johannes von Damaskus u. a.), um auf den dynamischen Charakter des Seelenlebens hinzuweisen. Die Bewegung, das andauernde In-derBewegung-Sein, das Werden des Menschen, ohne dass dieser die Möglichkeit hat, diesem Prozess eine scharfe Kontur zu geben, ist ein großes Thema in der Philosophie überhaupt. Für Thomas wie auch für viele christliche Autoren ist die Seele das Urelement, das die Organismen in Bewegung versetzt, das den Organismus „beseligt“ 12. Nur das Geistige im Menschen hat dieses Potential zur Veränderung (Thomas sagt: „organum animae potest transmutari“). Aus der Perspektive dieser Idee, die altchristliche Lehre und ihre philosophischen Wurzeln mit der Resilienzforschung in einen Zusammenhang zu bringen, scheint die ursprüngliche Bedeutung von resilire und dynamis wichtig zu sein. Diese beiden Begriffe tauchten erstmals im Kontext einer medizinischen Terminologie auf und bezeichneten hier eine Kraft bzw. „Wirkkraft“ des Organismus. Dynamis ist in diesem Sinne eine Kraft der Stoffe, des Stoffwechsels, eine innere Kraft der Zellen, der Organe usw., die über die Gesundheit oder Krankheit eines

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Zit. aus: Leben und Wandel unseres frommen Vaters Antonius, verfaßt und abgesandt an die Mönche in der Fremde von unserem heiligen Vater Antonius, in: Die Väter der Wüste (16. Band der Reihe Die Kirchenväter und wir), St. Adalbero-Verlag, Neukirchen bei Lambach 1967, S. 23. Die christliche Idee von der Geradheit der Seele lässt sich selbstverständlich von identischen Bildern aus der griechischen Philosophie und anderen frühen Religionen ableiten, steht aber meiner Meinung nach auch im Lichte der Vorstellung eines nichtlinearen Strebens, nämlich der Kreisstruktur, die schon die Vorsokratiker für das Bild des vollkommenen Lebensweges entworfen haben. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, 1–2, Q. XXII: De subiecto passionum animae.

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Organismus entscheidet.13 Aristoteles verstand sie als arche metaboles, also als Grund (Prinzip, Ursprung) aller möglichen Veränderungen von Organismen.14 Resilience steht auch heute noch für die Immunität des Organismus, seine Widerstandsfähigkeit, seine Fähigkeit zur Selbstheilung. Aus den ursprünglich medizinischen Termini leitete sich die sodann allgemeine Bedeutung von Dynamis und Resilienz als Beweglichkeit, als In-der-Bewegung-Sein ab. Für viele Kirchenlehrer der spätantiken und frühchristlichen Zeit ist das Thema des geistigen Strebens ganz zentral (Cyprian von Karthago, Gregor von Nyssa, Johannes Chrysostomus, Ephräm der Syrer, Johannes Cassianus u. a.). Der Mensch, der in ihren Schriften zur Sprache kommt, steht uns aus mancherlei Gründen sehr nahe: Seine Wege zeichnen sich nicht durch Geradlinigkeit aus. Vielmehr sieht er sich oft gezwungen, alle Hoffnung fahren zu lassen, er entbehrt jeglicher Kraft, er durchlebt bedrohliche Krisen. Und er erreicht wahrscheinlich nicht „den Gipfel der Vollkommenheit“, er umgibt sich nicht mit „geistigen Waffen“ und wenn er überhaupt ein „christlicher Kämpfer“ 15 ist, dann kämpft er mit sich selbst, d. h. er ist widerstandsfähig, er bekämpft Ungerechtigkeit, Armut und die Verletzungen der Menschenwürde. Bei Augustinus lesen wir: „Der Geist muss sich dem Begehren des Bösen widersetzen, damit wir nicht den bloßen Schein für die ganze Wahrheit halten, damit wir nicht von schönen Worten betört werden, damit wir nicht das Böse für das Gute halten.“16 Genau diese Widerstandsfähigkeit bzw. Widerstandskraft bezeichnen wir mit dem Begriff der Resilienz. Das Thema der Widerstandskraft hat in der gesamten christlichen Tradition einen wichtigen Platz inne: theologisch vor allem in der Hoffnung auf die Auferstehung, in der Soziallehre der Kirche und in der christlichen Ethik als Prinzip der Solidarität mit den Armen und Unterdrückten. In der christlichen Philosophie hat diese Widerstands-Idee ihre Wurzeln in der Seelenlehre: Potentialität, dynamis, strebende Bewegung. Der Mensch, der ein Leben lang den Weg zu seiner Verwirklichung beschreitet, ist in dieser Tradition unter dem Begriff des homo viator zu verstehen.

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Vgl. Gert Plamböck, Dynamis im Corpus Hippocraticum, in: „Abh. Akad. Wiss. Lit., Geistesund Sozialwiss. Kl.“, 1964, Nr. 2. Aristoteles, Metaphysik IV 12, 1019–1020. Nicht nur die deutsche Sprache, sondern viele neuzeitliche Übersetzungen haben uns daran gewöhnt, die Sprache der Kirchenväter in ihrer Symbolik sehr militärisch zu verstehen, und so wird oft fälschlicherweise von Kampf und Sieg, von Waffen und vom Schießen gesprochen. Meine Arbeit ist nicht translatorisch, jedoch werde ich mich bemühen, in allen Studien zu dieser Thematik immer wieder zu zeigen, welches Mitgefühl und welches Versöhnungspotential die Narration vieler Kirchenväter hat. Augustinus, De civitate Dei 22, 23.

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In statu viatoris, im „Auf-dem-Wege-Sein“ 17 zeigt sich die zeitlose Dialektik des Seins und des Nichts. Diese Dialektik entspricht zwei Phänomenen: schon in der Bewegung sein und noch nicht angekommen sein. Diese beiden Aspekte betonen die Zielorientierung als wichtige menschliche Fähigkeit, die zu den Seelenkräften gehört. Der Mensch steckt in dieser Dialektik – er ist auf dem Weg zu seinen persönlichen Zielen, die ein Konstrukt seines Willens darstellen, jedoch ist er seiner Natur nach dazu determiniert, auf dem Weg zu sein. Das Auf-dem-Wege-Sein ist eine universelle Erfahrung des In-die-Welt-Geworfen-Seins. Die Nähe des Nichts kann spürbarer und bestimmender sein als die Nähe des Zieles. Aus dieser Dialektik gibt es nur einen Ausweg, den die Kirchenväter Hoffnung nennen. Augustinus sagt, indem er sich auf Paulus beruft: „Wir sind gerettet in der Hoffnung“ (spe salvi facti sumus).18 Durch die menschliche Fähigkeit zu hoffen – ipse habitus spei – verliert das Schicksalhafte seine Macht, das Absurde seine Gültigkeit. Nicht mehr die Vernunft ist, wie noch für die Griechen, der „Anker der Seele“, sondern die Hoffnung. Die Hoffnung ist stärker, sie ist der Christus in den Christen (Kol 1,27; 6,16–19). Josef Pieper schreibt: „Die Hoffnung ist, wie die Liebe, eine der ganz einfachen Ur-Gebärden des Lebendigen. In der Hoffnung reckt der Mensch sich ‚unruhigen Herzens‘ in vertrauend auslangender Erwartung empor nach dem ‚bonum arduum futurum‘, nach dem steilen ‚Noch nicht‘ der Erfüllung, der natürlichen wie der übernatürlichen.“19 Im Auf-dem-Wege-Sein entdeckt der Mensch seine Freiheit und erfährt gleichzeitig seine Grenzen. Die Lehre der altchristlichen Philosophen will zeigen, dass eine Freiheit ohne das Bewusstsein der Grenzen, die man nur mittels der Hoffnung ertragen kann, für den Menschen verheerend ist. Gregor von Nazianz (ca. 330– ca. 389) schreibt in einer seiner lyrischen Carminae historicae: „Aus den Höhen bin ich sehr tief gefallen. Aber richte mich jetzt wieder auf, denn ich sehe, dass ich mich selbst in die Irre geführt habe; solle ich noch einmal zu sehr auf mich selbst vertrauen, dann werde ich sofort fallen […].“ 20

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Josef Pieper, Über die Hoffnung, Johannes Verlag, Freiburg 2006, S. 12–13. Pieper, ebd., S. 35, vgl. Augustinus, Contra Faustum 11,7; Confessiones 11, IX.11; vgl. Röm 8,24. Pieper, S. 27. Zit. aus: Benedikt XVI, a. a. O., S. 98.

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Gregor gehört zu jenen Autoren, die dem frühen Christentum ein sehr soziales Gesicht gegeben haben. Der Mensch darf nicht nur auf sich selbst vertrauen. Neben der Hoffnung auf Gott finden wir hier auch die Idee von der wichtigen Rolle der sozialen Beziehungen. Diese Entdeckung aber, dass eine Selbstverwirklichung außerhalb einer sozialen Wirklichkeit nicht denkbar ist, wird den frühchristlichen Philosophen und Mönchen erst zuteil, nachdem sie versucht hatten, in der Einsamkeit zu leben. Diese Einsamkeit wird einesteils als sehr bereichernd geschildert, zum anderen liest man von den tiefen seelischen Abgründen, die sich durch sie öffnen. Neben ihren mystischen Erfahrungen haben die Asketen des frühen Christentums auch von tiefen Krisen berichtet. Die Krise, das Leid und die Wiederherstellung des eigenen Lebens, die nicht ohne die Mitwirkung anderer Menschen geschehen kann, sind eingeschrieben in die menschliche Existenz. Diese zwei Wege – die Bewegung in die Ferne, in die Freiheit von, und die Bewegung zum Andern, in die Freiheit zu – möchte ich jetzt näher skizzieren. Der erste also führt uns in die Wüste.

3. In der Wüste „Wir tragen die inneren Leidenschaften mit uns herum, deswegen erfüllt uns oft Unruhe. Doch wir müssen versuchen, den Geist der Ruhe zu finden.“ 21 Diese Worte Basilius‘ des Großen (330–372) aus einem Brief an Gregor von Nazianz werden oft im Kontext der Askese und des Mönchstums zitiert. Gleichzeitig könnte man seine Lehre von der Bezähmung der Unruhe und der Beherrschung der ständigen Bewegung mit der Seelenlehre Platons (Phaidon und Phaidros) und mit der älteren und jüngeren Stoa (von Zenon bis Marc Aurel), d. h. mit deren Konzeptionen von Gleichgewicht, Selbstbeherrschung, Gelassenheit und Ruhe vergleichen. Ich möchte aber diese Worte noch auf eine andere Art lesen: „Wir tragen die inneren Leidenschaften mit uns herum“ – diese Leidenschaften begleiten uns auch in die Wüste, wir tragen sie mit in die Einsamkeit und Ferne. Die Wüste vereint all das in sich, was man aus der Welt mitgebracht und in sie eingetragen hat: die Vergangenheit, den Lärm, die Eile, die Langeweile, die Sehnsucht, die Verantwortung, den Frieden und den Zorn, die Müdigkeit und die Hoffnung. Aus dieser kontrastierenden Spiegelung des Außer-sich-Seins und In-sich-Seins wird deutlich, was ich unter „Wüstenerfahrung“ verstehe. Eine Wüstenerfahrung, die als Beispiel für die Seelenkraft-Konzeption dienen kann, ist gleichbedeutend mit 21

Basilius der Große, Brief an Gregor von Nazianz 2,1. (Griechische Quelle: J. Garnier, P. Maran, Paris 1721–1730; nachgedruckt mit Ergänzungen in: Patrolog. Gr. XXIX–XXXII 1P57.)

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einer Reise ins Innere, auf der man doch immer wieder mit der Welt konfrontiert wird. In diesem Teil meines Artikels spreche ich also von der Flucht in die Wüste bzw. von der Flucht aus der Welt, von der Selbsterkenntnis durch Askese, vom sog. mors mystica und vom Wüstengebet. Vom Leben der Wüstenväter erfahren wir aus ihren eigenen Schriften, aus ihren Briefen oder aus den zahlreichen Vitae – zur Lehre und zum Trost abgefasste Berichte und Erzählungen vom Leben der Einsiedler, Asketen, Mönche und Meister. Die Schriften mancher Wüstenväter sind höchst spekulativ, ein Hinweis auf deren ständige intellektuelle Auseinandersetzung, für die sie sich die Einsamkeit der Wüste dienstbar machten (z. B. Evagrios Pontikos und Johannes Cassianus). Andere wiederum haben ihr Leben dem Aufbau einer neuen Lebensart verschrieben und erste Mönchsgemeinschaften bzw. Klöster gegründet (Ammon, Makarios der Ägypter u. a.). Und manche haben überhaupt ein Leben als Einsiedler vorgezogen und von sich aus keinen Kontakt zur Welt mehr gesucht, haben der Möglichkeit zu lernen und andere zu beeinflussen entsagt (vgl. die ersten Wüstenväter Paulus von Theben und Antonius der Große). Viele dieser phantastischen Geschichten über die Abenteuer der Wüstenväter, die Gefahren, denen sie sich ausgesetzt sahen, die Wunder, durch die sie errettet wurden, und die Wunder, die sie vollbrachten, bieten eine spannende und berührende Lektüre. Diese Erzähler waren talentiert und haben mutig ihre Visionen mit den Schriften anderer Autoren, mit der Symbolik der Bibel und sehr frei mit der Mythologie und Philosophie der späten Antike vermischt. Interessant sind die tiefe Verzauberung, in die uns dieser Diskurs führt, und die innere Leichtigkeit seiner Sprache. Seine verzauberte Welt hat Verbindung zur großen Fabel- und Mythen-Tradition. Der narrative Kern dieser Geschichten ist die Entwicklung einer Realität, die aber kein Monument sein soll, wie z. B. bei Paulus oder Hieronymus, sondern eher ein Zelt mitten in der Wüste, ein Ort der Zauberei und Verwunderung. Der Grund, warum manche der jungen Christen, Priester oder Familienväter ein Leben in der Wüste begannen, ist immer der gleiche, jedoch hat er zwei Aspekte. Der Grund war immer eine Flucht, die wir parallel zum philosophischen Freiheitsbegriff in zwei Aspekte aufspalten können, in eine Flucht in oder aber eine Flucht von. Flucht in verstehe ich als Freiheit zu und Flucht von als Freiheit von. In die Wüste legt die Betonung auf die Wüste als Ort und Art neuer menschlicher Erfahrung. Sie steht also in Kontinuität zu einer neuen Etappe im Leben. Mit Flucht von meine ich Flucht aus der Welt. Hier wird die Trennung betont, die Suche nach einer Abgrenzung. Der Wunsch allerdings nach einer Trennung vom früheren Leben, von der Vergangenheit oder von den sog. Dingen dieser Welt ist nach Auffassung der Kirchenväter ein schlechter Grund, sich in die Wüste zu begeben. Die philosophische Gegenüberstellung der Begriffe Freiheit zu und Freiheit von wurde aus der Auseinandersetzung mit den Kategorien des freien Willens und des Schicksals entwickelt. Das frühe Christentum wiederum betont den Unterschied

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zur griechischen Philosophie: Es herrscht nicht mehr das Schicksal, seine Stelle übernimmt die Freiheit. Diese Freiheit ist nicht mehr dem Chaos bzw. der Natur oder den Göttern entrissen, sie ist den Menschen gegeben. In solcher Freiheit ist der Mensch nicht mehr „unterworfen dem Zwang einer Notwendigkeit.“ 22 Die Freiheit von Sünde, die Freiheit zur Sünde, die Freiheit Fehler zu begehen, die Freiheit der Entscheidung, die Freiheit zur Veränderung und Verwirklichung, die Freiheit, etwas zu beenden oder einen neuen Anfang zu wagen – das alles sind Aspekte eines Freiheitsverständnisses, die uns aus der Sicht der Resilienzforschung interessieren. Die Wüstenväter schließen die Schicksalskomponente aus ihrem Menschenbild aus, weil der Mensch als verantwortungsvolles Wesen die Freiheit zu und von der moralischen Veränderung hat. Das geistige Streben ist ein Akt des freien Willens. Unter einem „resilienten Menschen“ würden die Mönche der Wüste einen freien Menschen verstehen. Aus diesem Verständnis leite ich meine Definition von Resilienz ab: Ich verstehe Resilienz als innere menschliche Kraft, die die Freiheit und Kreativität des Denkens und Handelns aktiviert. Resilienz ist eine Widerstandskraft, die an der Hoffnung wächst. Freiheit und Hoffnung versteht man nur dann adäquat, wenn man sie in ihrer notwendigen Verbindung sieht. Die Freiheit allein kann nicht als das entscheidende Moment für eine Situation, ein Problem, eine Lösungssuche usw. gewertet werden. Die Freiheit befreit zwar vom Schicksal, danach braucht sie aber die Hoffnung, die sie in Bewegung kommen lässt. Somit gibt die Hoffnung der Freiheit eine Richtung. Eigentlich erkennt man erst in der Hoffnung die Freiheit. Man erkennt sie in einer Situation der Entscheidung, mit der immer ein Hoffen verbunden ist, oder auch in einem Fall des notwendigen Schutzes der Freiheit. Die Freiheit erscheint in unserem Bewusstsein, wenn wir es wirklich brauchen, um über sie zu reflektieren. Freiheit zeigt sich nicht im Denken, sondern im Existieren, meinte Karl Jaspers: „Anfang und Ende der Freiheitserhellung bleibt aber, daß Freiheit nicht erkannt, auf keine Weise objektiv gedacht werden kann. Ich bin ihrer für mich gewiß, nicht im Denken, sondern im Existieren; nicht im Betrachten und Fragen nach ihr, sondern im Vollziehen; alle Sätze über Freiheit sind vielmehr ein stets mißverstehbares, nur indirekt hinzeigendes Kommunikationsmittel. Freiheit ist nicht absolut, sondern zugleich immer gebunden, nicht Besitz, sondern Erringen. Wie sie selbst, so ist ihr Gedachtwerden nur in Bewegung. Das Bewußtsein der Freiheit ist nicht mit einem einzigen charakteristischen Ausdruck auszusprechen. Erst in der Bewegung von

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Johannes Chrysostomos, Homilie zu 1 Tim 1,39 (Quellentext aus: „Documenta Catholica Omnia“, http://www.documentacatholicaomnia.eu). Vgl. Augustinus, De doctrina Christiana libri quator 2,21–23.

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einem Ausdruck zum anderen wird ein Sinn offenbar, der in keinem einzelnen Ausdruck für sich sichtbar ist.“ 23 Die Freiheitsproblematik beinhaltet auch das Phänomen der Befreiung. Hier bleiben wir nur kurz bei der Wendung sich zu befreien. Alle Wüstenväter haben von einem Ziel ihrer Askese und Meditation gesprochen: sich von den Leidenschaften zu befreien. Zur Wüstenerfahrung indes gehört, wie ich weiter oben schon erwähnte, die Einsicht, dass man sich von den Leidenschaften nicht befreien kann. Apatheia, mors mystica oder nirvana sind die wunderbaren Momente einer geistigen Übung – aber eben nur Momente. Die authentische Wüstenerfahrung bringt einen zurück zu einer Wieder-die-Welt-Betrachtung. Dieses Sich-Befreien verstehen wir hier also als einen Zustand der Ruhe, des inneren Friedens, den man erreicht und verlässt, um ihn erneut zu suchen. Freiheit von sowie Befreiung dürfen wir im Kontext der Vitae der Wüstenväter durchaus auch ganz wörtlich nehmen: Viele der späteren Wüstenväter waren Menschen, die ihres Glaubens wegen verfolgt wurden. Die Flucht brachte sie in die Wüste. Aber die Entscheidung für ein asketisches Leben in der Wüste war durchaus gleichbedeutend mit Widerstand, den sie manchmal auch, innerlich gestärkt, nach einer Rückkehr beibehielten. Als die Zeit der langsamen Befreiung der Christen im dritten Jahrhundert in eine breitere Wirkung trat und die Christen ihre Ghettos endgültig verlassen konnten, war es noch immer für viele bedrohlich, sich als Christen zu deklarieren. Dazu lesen wir: „Wenn die Epoche, in der Irenäus und Cyprian lebten, schon nicht die Augustins oder Gregors von Nyssa ist, so ist sie noch viel weniger der unsern gleich. Um sie zu verstehen, müssen wir sie uns nahebringen, das Unbekannte durch das Bekannte erklären, die entrückten Verhältnisse durch ähnliche, uns naheliegende aufhellen. Athanasius, Hilarius waren ,Widerstandskämpfer‘. Sie hatten den Mut, nein zu sagen zum kaiserlichen Totalitarismus, der mit seinen Methoden allen totalitären Systemen gleicht. Haben wir nicht in den düsteren Jahren des Zweiten Weltkriegs unwillkürlich an Augustins apokalyptische Zeit gedacht und sein Buch vom Gottesstaat besser verstanden?“ 24 Junge Mönche des frühen Christentums gehen in die Wüste wie früher die Propheten des Alten Testaments. Sie gehören zu jenen Millionen von Menschen in der

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Karl Jaspers, Was ist der Mensch? Philosophisches Denken für alle, Piper Verlag, München/ Zürich 2000, S. 188–9. Adalbert Hamman, Die Kirchenväter. Kleine Einführung in Leben und Werk, Herder-Bücherei, Freiburg/Basel/Wien 1967, S. 10.

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Geschichte der Verfolgung und Vertreibung. Die Geschichte der Christenverfolgung kommt uns in Erinnerung, wenn wir beispielsweise an die Verfolgung der afrikanischen Völker im 20. Jahrhundert denken. Hier beeindruckt uns die gleiche archaische Kraft der in der Wüste lebenden Menschen, der wandernden Gemeinschaften, ihre Härte und ihr Mut. Ein schönes Bild einer solchen Gemeinschaft, ihres Weges, ihres Lebensrhythmus und ihres Wüstengebets finden wir in J. M. G. Le Clézios Roman Wüste: „Sie gingen langsam und lautlos durch den Sand, ohne darauf zu achten, wohin sie gingen. Der Wind blies ununterbrochen, der Wind der Wüste, am Tage heiß, kalt in der Nacht. Der Sand umwehte sie, umwirbelte die Hufe der Kamele und peitschte den Frauen ins Gesicht, die das blaue Tuch tiefer über die Augen zogen. Die kleinen Kinder rannten, die Säuglinge weinten, eingerollt in ein blaues Tuch, auf dem Rücken ihrer Mutter. Die Kamele brummten und niesten. Niemand wußte, wohin es ging […] Sie brachten den Hunger mit, den Durst, der die Lippen bluten läßt, die harte Stille, in der die Sonne strahlt, die kalten Nächte, das Licht der Milchstraße und den Mond; sie hatten ihren riesigen Schatten beim Sonnenuntergang bei sich […] Es war, als gäbe es hier keine Namen, als gäbe es keine Worte. Die Wüste tilgte alles, verwischte alles mit ihrem Wind. Die Menschen hatten die Freiheit des weiten Raums in ihrem Blick, ihre Haut war wie Metall. Das Sonnenlicht glitzerte überall. Der ockerfarbene, gelbe, graue, weiße Sand, der leichte Sand glitt dahin, zeigte den Wind an. Er bedeckte alle Spuren, alle Knochen.“ „Jeden Abend suchten ihre blutenden Lippen die Kühle der Wasserstellen, die brackige Brühe der alkalischen Flüsse. Dann hüllte sie die kalte Nacht ein, zermalmte ihnen die Glieder und raubte ihnen den Atem, lastete wie ein Gewicht auf ihren Nacken. Die Freiheit hatte kein Ende, sie war unbegrenzt wie die Weite der Erde, schön und grausam wie das Licht, sanft wie die Augen des Wassers. Jeden Tag machten sich die freien Menschen beim ersten Morgengrauen auf den Weg zurück zu ihrer Wiege, dem Süden entgegen, dorthin, wo niemand anders leben konnte. Jeden Tag verwischten sie mit denselben Bewegungen die Spuren ihrer Feuer, verscharrten sie ihre Exkremente. Der Wüste zugewandt, sprachen sie ihr stilles Gebet. Wie in einem Traum gingen sie fort, verschwanden.“25

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Le Clézio, J. M. G Wüste, übers. v. U. Wittmann, Kiepenhauer & Witsch, Köln 2008, S. 7, 9, 12, 423– 4.

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Viele Versöhnungsideen und Modelle von Versöhnungsprozessen kommen aus der altchristlichen Auseinandersetzung mit der Verfolgung, Erinnerung und Versöhnung zur Zeit des frühen Christentums. Selbst die universellste Definition von Versöhnung bezieht sich wenigstens entfernt auf die altchristliche Tradition: Versöhnung als Heilung von zerbrochenen Beziehungen. „Versuche zu vergeben, statt dich zu rächen“, forderte Johannes Chrysostomos.26 Das tradierte Wissen von einer sozialen Welt als Mikro- und Makrokosmos fand hier wieder zu seiner ursprünglichen Bedeutung zurück: Nur die Menschen, die innere Ruhe üben, die sich selbst achten und im Frieden mit sich selbst leben, sind fähig, in Ruhe, Frieden und Achtung den anderen zu begegnen. Es bestand die Forderung, dass die Mönche keine Güter in die Wüste mitnehmen durften, und jene, die aus reichen Familien stammten und viel besaßen, sollten ihren Besitz an die Armen verteilen. Daraus folgte die falsche Überzeugung mancher jungen Mönche, dass mit den Gütern nur materielle Besitztümer gemeint seien. Viele also dachten, mit dem alleinigen Verwerfen des Besitzes schon die Voraussetzungen für ein erfolgreiches Wüstenleben erlangt zu haben. Dagegen meinte Antonius der Große, dass es Güter gibt, die der Mensch gewinnen muss, damit er sie auch in die Wüste mitzunehmen imstande ist: Klugheit, Gerechtigkeit, Mäßigkeit, Tapferkeit, Einsicht, Liebe, Sorge für die Armen, Glaube, Sanftmut, Gastfreundschaft.27 Und Albert Schweitzer, den ich ebenfalls als „Wüstenautor“ (d. h. hier Grenzgänger, Asket, charismatischen Reformator) betrachte, schreibt im 20. Jahrhundert in Afrika: „Will die Mystik also wahr sein, so bleibt ihr nichts anders übrig, als die gewohnten Abstraktionen von sich zu werfen und sich einzugestehen, daß sie mit diesem vorgestellten Inbegriff des Seins nichts Vernünftiges anfangen kann. Das Absolute darf ihr so gleichgültig werden wie einem bekehrten Neger sein Fetisch. Mit allem Ernsten muß sie die Bekehrung zur Mystik der Wirklichkeit durchmachen. Die Dekorationen und Deklamationen der Bühne verlassend, suche sie, sich in lebendiger Natur zu erleben.“28 Die „gewohnten Abstraktionen“ meinen dabei das Fertige, das den Menschen zu mentaler Bequemlichkeit verleitet. Diese Abstraktionen verschaffen sich leicht Platz und ersetzen die Unruhe des Strebens, die Anstrengungen des Fragens und Suchens. Sie machen uns müde und bequem, sie lösen keine Begeisterung aus und bringen aber auch keine Ruhe. Es scheint so, als würden sie uns die Verantwortung der Freiheit abnehmen. Sie sind in Wirklichkeit wie „des Kaisers neue Kleider“, in

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Johannes Chrysostomos, Homilie zu Eph, 16,3. Vgl. Ders., Homilie über den Verrat des Judas 1. Vgl. Leben und Wandel unseres frommen Vaters Antonius (wie Anm. 11), S. 22. Albert Schweitzer, Kultur und Ethik, C. H. Beck, München 1960, S. 326.

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denen man die Bühne betritt. Das fertige Absolute nimmt uns die Angst vor der Leere. Die Leere aber, die Verlassenheit, die Einsamkeit und die Sehnsucht nach der Welt sind fest in der Wüstenerfahrung verankert. Für ein Leben in der Wüste gibt es keine adäquate Vorbereitung. Man spürt plötzlich die Nähe des Nichts und widersetzt sich diesem, um die Nähe des Seins zu spüren. Gleichwie der Weg in die Wüste eine Flucht aus der Welt bedeuten kann, so kommt es meist notwendig auch zu dem unbedingten Wunsch, wieder aus der Wüste zu flüchten. Diese Krise bekämpfen die Wüstenmönche nicht nur durch Askese und Gebet, wodurch sie ihren Charakter zu stärken beabsichtigen, sondern auch durch den Trost, den sie von der Welt bekommen. Die meisten Schriften der Wüstenväter sind Briefe. Ein Brief stellt eine tiefe Form eines Dialogs dar: Er verschafft uns Einblick in eine Kontinuität, in ihm sind gleichzeitig Entfernung und Nähe repräsentiert. Er führt in eine doppelte Begeg-nung – mit der Person, an die man schreibt bzw. von der man einen Brief erhält, und mit sich selbst, eben durch den Prozess des Schreibens. Diese Briefe der Wüstenväter wurden auch beantwortet, ja, manche Korrespondenzen mit Mönchen in den Städten oder mit befreundeten Persönlichkeiten wurden teilweise über Jahrzehnte geführt. Aus dem Corpus Epistularum der Wüstenväter bekommen wir ein vielfältiges Bild des Glücks und auch der Krisen eines Wüstenlebens. Evagrios Pontikos (ca. 346–ca. 399) war ein talentierter Schriftsteller, in seinem 6. Brief erzählt er in einer Fabel von der Ermüdung und den Krisen eines Lebens in der Wüste: „Wir fahren nämlich auf einem ,Meer‘ das voller Winde und Wellen ist, und ich fürchte die ,Schiffbrüche‘ die wider den Glauben und die Erkenntnis und die Gerechtigkeit kämpfen. Und zudem schläft unser Herr in uns, und unser Intellekt wacht nicht, er, der fähig ist, ihn durch die Tugenden aufzuwecken. Und gar heftig erhebt sich wider uns der ,flüchtige Drache‘ bald mit dem Schwanz schlagend, bald wiederum mit seinem Maule beißend.“29 Der Schlaf erweckt die Dämonen. Die Müdigkeit und die Enttäuschung, die Konzentration und das Schweigen sind in der Wüste alltägliche Erfahrungen, wie auch die glühende Sonne, der Durst, der Wind, die kalten Nächte. Durch sie fällt man in den Schlaf, in die Bequemlichkeit, ins Vergessen. Bevor man aber diese Dämonen mit noch innigerem Gebet oder durch verschärfte Askese auszutreiben sucht, solle man – so schreiben die Wüstenväter – vor allem zwei Dinge anstreben: die Mitte und den Trost. Die Mitte ist hier so zu verstehen, dass man sich keinen zu großen Aufgaben widmen, dass man keine großartigen Erfolge vorplanen soll.

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Evagrios Pontikos, Briefe aus der Wüste, übers. v. G. Bunge, Paulinus-Verlag, Trier 1989, S. 218.

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Man darf das, was man gewählt hat, und das, was man verlassen hat, nicht als etwas Großes sehen. Die Mitte erlaubt also keine hochfahrende Arroganz und keinen Ehrgeiz. Antonius sagt: „Wir wollen also nicht nachlassen, auch nicht glauben, etwas Großes zu tun. Auch wollen wir nicht auf die Welt schauen, als hätten wir großen Dingen entsagt.“ 30 Der Trost ist für ein Leben in der Wüste unabdingbar. Evagrios Pontikos schickt in seinen Briefen den Adressaten Trost- und Lehrworte. Er bemerkt aber, dass die anderen ihn fälschlicherweise als jemanden sehen, der in der Wüste zur Befreiung von den Leidenschaften gefunden habe und daher keines Trostes mehr bedürfe. Aber nicht nur die Briefe aus der Wüste sollen den anderen Trost bringen – auch die Briefe in die Wüste sollen Tröstliches enthalten. Dazu schreibt Evagrios an Eustahios, nach dem Tode Gregors von Nazianz: „Beide bedürfen wir der Tröstung, ich und du, mein Bruder und mein Freund Eustahios, die wir von dem gemeinsamen Vater verlassen wurden. Und ich bedarf der Tröstung nicht weniger als du, auch wenn ich jetzt unternehme, dich zu trösten.“ 31 Und in einem anderen Brief spricht er vom Gefühl der Zugehörigkeit und des Zusammenseins, das ihm die Zeilen der anderen bringen: „Sieh, mit aller Freude empfange ich deine Briefe und zerstöre durch die Fröhlichkeit die Niedergeschlagenheit, und wie in einem Hafen des Heiles führe ich meinen Intellekt aus der Verwirrung, die die Gedanken über ihn bringen […] Dein Brief erfreut mich in der Tat überaus, obwohl ich meinen Intellekt hindere, sich den körperlichen Dingen zu nahen.“ 32 Der Trost und die Kraft, die von der äußeren Welt kommen, ermöglichen die Phasen des geistigen Vorankommens. Dieser Punkt ist besonders wichtig: Man verfälscht sehr oft das Denken über die mystischen Erfahrungen, weil man sie in einer absurden, totalen Trennung von der menschlichen Schwäche sieht. Andererseits gerät die Kritik an jenen Menschen, die den Weg ins Innere wählen, um sich selbst zu finden und dabei vielleicht ihnen nahe Menschen verlassen und verletzen, leicht in eine Art Dogmatik, die ich Gesellschafts- oder Sozialdogmatik nennen würde.

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Vgl. Leben und Wandel unseres frommen Vaters Antonius (wie Anm. 11), S. 21. Evagrios Pontikos, a. a. O., S. 233. a. a. O., S. 254.

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Die Freiheit, die Einsamkeit zu suchen, die Freiheit zum Allein- und Anderssein sind einem Menschsein im Vollsinn fest zugehörig. In diesem Kontext möchte ich jetzt von der asketischen Erfahrung des sog. mystischen Todes (mors mystica) und von der Gebets-Lehre der Wüstenväter reden. Die Wüstenerfahrungen, die wir den Schriften der Väter entnehmen können, würde ich mit Auf-dem-Wege-Sein und In-der-Bewegung-Sein umschreiben. Und dazu gehören ein Sein-zum-Tode und ein Sein-in-die-Zukunft. Ich denke hier an die Worte von Augustinus: „Die Seele ist gesund nur, wenn sie das Ewige dem Zeitlichen vorzieht. In der Zeit werden wir nie ganz glücklich leben.“33 Die Wüste aber schweigt – und die Seele wird nicht geheilt, gesundet nicht. Nach monatelangen Übungen, Askese und Gebeten kommt keine Ant-Wort auf das menschliche Wort. Anstelle einer Offenbarung kommen Hunger und Schmerzen, anstelle durch Entfernung gewonnener Ruhe kommen Einsamkeit und Sehnsucht. Diesen Zustand beschreibt der Dialogphilosoph Ferdinand Ebner: „Ist’s mir ein Trost oder eine schmerzliche Übung in der Resignation, daran zu denken, dass ich ein, wenn auch nicht Rufer, so doch Schreier in der Wüste bin, dessen Wort in keines Menschen Ohr weiterklingen wird?“ 34 Der „mystische Tod“, von dem die Asketen aller Kulturen und Religionen berichten, wird allenthalben als „Absterben“, „Entselbstung“ und „Entwerden“ umschrieben, die zur „Ich-Betrachtung“ führen. Nach einem solchen Tod erlebt man also eine Art der „Auferstehung“. Gregor der Große (ca. 540–604) erkannte in der Betrachtung der Gottesschau und des mystischen Todes: „Der ist tot, der der Welt tot ist“ 35. Der Tod der Welt für mich und mein eigener Tod für die Welt – diese beiden Tode, die ich überwinden muss, öffnen für mich die Wüste und öffnen für mich die Welt unter einer neuen Perspektive. Diese Erfahrung hält eine Chance zur Selbsterkenntnis bereit und zu einer neuen Verortung in der Welt und unter den Menschen. Die Philosophen, von den Vorsokratikern bis zu den Phänomenologen, wiederholen eindringlich, dass alles Philosophieren aus dem gnothi seauton – „Erkenne dich selbst!“ – kommt. Das Leben in der Wüste ist, wie es Augustinus nennt, eine Art „des tödlichen Lebens in dem lebendigen Tod“, aus dem aber nur der Mensch selbst sich befreien kann. Die Wüste bietet nicht nur die Chance zur Erkenntnis des Selbst, sondern sie nimmt einem auch die Chance, sich dieser 33 34 35

Augustinus, Brief an Proba 14. Ferdinand Ebner, Das Wort ist ein Weg, Herder Verlag, Wien 1983, S. 3. Zit. aus: Karl Albert, Einführung in die philosophische Mystik, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1996, S. 69.

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Selbstkonfrontation zu entziehen. Sie entblößt den Menschen, sie nimmt ihm seine gewohnten Ausreden ab und reduziert ihn auf seinen authentischen Kern. Die Wüste bestätigt überdies: Ohne Welt gibt es kein Leben. Der Mystiker muss sich den Tod wünschen, damit er die Gabe des Lebens entdeckt. Der Wunsch nach einer Begegnung mit der Transzendenz stammt aus der altgriechischen Erkenntnis- und Mystik-Tradition, aus der Theoria-Lehre. Hier ist Augustinus sogar mehr ein Sohn Platons als ein Sohn der Bibel. Theoria bezeichnet u. a. die Art der Wahrnehmung, die die griechischen Philosophen als geistiges Schauen verstanden. Theoria heißt Kontemplation, daraus formulierte Aristoteles die Kategorie des bios theoretikos, die spätere vita contemplativa. Theoria, meinte er im Sinne Platons, sei das Ziel des geistigen Strebens. Für die Griechen aber galt das Prinzip der Zusammengehörigkeit von Theorie und Praxis. Diese Kategorien leiten über in die scholastische Gegenüberstellung von vita contemplativa und vita activa. Theoria bzw. theorema entspricht der mystischen Intuition, praxis bezeichnet die praktische Erfahrung. Eine tägliche Übung des Mystikers ist das Gebet. In der Wüstenerfahrung wird es klar, dass das Gebet keine Abstraktion erträgt, keine Selbstdarstellung und keine Pose. „Beim Gebet spricht man wenig Worte“, schreibt Klemens von Alexandria.36 Die Weite und Stille der Wüste, die man so gerne als Theaterbühne hätte, verdeutlichen sehr genau, wie unfassbar schwer es ist, beten zu können. Die Wüstenväter „berichten“ eigentlich nicht von ihren Gebetserfahrungen, sie betonen nur immer wieder, dass das Gebet die täglichen, schwierigen und wunderschönen, belastenden oder tröstlichen Schritte zum „Aufstieg der Seele“ (Cassianus) begleitet. Der Aufstieg, der Weg zur wahren Kontemplation führt zum Wiedererkennen der Welt. Was sich die Philosophie aus dieser christlichen Lehre zur weiteren Bearbeitung herausgenommen hat, ist die ursprüngliche Sicherheit der Welt und gleichzeitig ihre Grenzen. In dieser Erfahrung treffen sich eigentlich drei Phänomene: die Liebe, der Drang nach Erkenntnis und der Lebenstrieb. Sie alle sind Negationen des Todes. Für die Griechen sind diese drei Aspekte im ErosBegriff enthalten, der auch hier seine Relevanz bekommt: „Natürliche Mystik und Religion ist als Äußerung, die vom Menschen ausgeht und ihre Richtung aus Gott nimmt, mit innerster Notwendigkeit und ohne daß man ihr daraus einen Vorwurf machen könnte, ein von der Erde wegstrebender, aufsteigender, überfliegender Eros, der aber in seinem Drang, an allem, was den Weg auf Gott hin weisen könnte, vorbeizustürmen, in ihm bloß das eine zu sehen; daß es nicht Gott ist, stets in Gefahr bleibt, beides, sowohl Welt wie Gott, weil er nicht Welt ist und ohne Hilfe

36

Klemens von Alexandria, Stromateis 7,49.7

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der weltlichen Dinge, worin er sich spiegelt, nur als die absolute Leere, der Ungrund, das Nirwana erfahren werden kann.“ 37 In der Wüste erleben die Menschen den gegenwärtigen und auch den schweigenden Gott, sie erfahren in der Einsamkeit und in der Erschöpfung die eigene Freiheit und die Hoffnung als eine Belastung wie auch als eine Gabe. Alessandro Pronzato bezeichnet in seinen Notizen aus der Sahara das Wüstengebet als die vollkommene Form der Begegnung, weil in einem solchen Gebet die Ermüdung und der Durst den Menschen zu Gott „Du“ sagen lassen.38 Dieses „Du“ kommt einer Begegnung „von Angesicht zu Angesicht“ gleich, es ist eine durch die Erfahrung erhaltene Bestätigung der Gegenwart einer Transzendenz. Es ist eine spürbare Kraft, die trotz der Krise kommt. Vielleicht vereinfacht oder verzaubert sogar dieses „Du“ unser Weltbild, jedoch müssen wir uns vergegenwärtigen, dass eine solche Auffassung der ursprünglichen Synthese von Denken und Empfinden entspricht. Die Erfahrung, dass man „Du“ zu den äußeren Kräften zu sagen imstande ist, bestätigt die Tatsache, dass es eine Sprache geben kann, in der das Leid, die Angst und die Hoffnung fassbar werden. Und diese Sprache ist notwendig, um das eigene Leben zu thematisieren und einen Ausweg aus den Krisen zu finden. Wie die zeitgenössischen christlichen Autoren betonen, geht durch die Geschichte des Christentums ein Ruf „zur Buße, zur Askese, zum Opfer“. Man muss hier anmerken, dass dem Prinzip nach ähnliche Rufe in den Geschichten aller Religionen zu finden sind. Und wenn dieser Ruf zur Askese erklingt, stimmt er überein mit den wichtigsten Aussagen dieser Religionen. Wenn er aber „zum Opfer“ drängt, endet er oft als Ruf um Hilfe, als Schrei der Opfer. Die Lehren aller Religionen, die Offenbarungen, die den Menschen in Jerusalem, Lourdes, Mekka oder am Ufer des Ganges zuteil wurden, sind alle „Rufe in der Wüste“.39 Die Berufung zur Einsamkeit und zur inneren Einkehr ist universell. Man unterliegt aber einem Irrtum, wenn man die Welt selbst als sog. Wüste, als eine vergessene, verlorene Welt begreift. Ein solches Denken gibt nämlich nicht Aufschluss über die Welt, sondern über den Menschen. Zu dieser wesentlichen Verbindung der Welt- und Wüstenerfahrung nochmals die Worte des Dialogphilosophen Martin Buber: „Von der Welt wegblicken, das hilft nicht zu Gott; auf die Welt hinstarren, das hilft auch nicht zu ihm; aber wer die Welt in ihm schaut, steht in seiner Gegenwart.“ 40 37 38 39

40

Hans U. von Balthasar, Das betrachtende Gebet, Johannes Verlag, Einsiedeln 1955, S. 46. Alessandro Pronzato, Meditazioni sulla sabbia, Gribaudi, Milano 1981, p. 49. Vgl. Friedrich Jehle, Einführung, in: P. Severin Leidinger (Hg.), Die Väter der Wüste (16. Band der Reihe Die Kirchenväter und wir), St. Adalbero-Verlag, Neukirchen bei Lambach 1967, S. 13. Martin Buber, Ich und Du, in: Ders., Das dialogische Prinzip, Verlag Lambert Schneider, Heidelberg 1973, S. 80.

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4. In der Welt Das Leben unter den Menschen, in den Gesellschaften und in den Beziehungen ist ein Thema der breiten Soziallehre der Kirchenväter. Auf-dem-Wege-Sein und Inder-Welt-Sein bedeuten für die altchristlichen Autoren, das eigene Leben und das der anderen erträglicher und sinnvoller zu gestalten. Augustinus, ein Meister für jene Philosophen nach ihm, die über die Zeit nachgedacht haben, schreibt: „Ihr sagt: ‚Die Zeiten sind schlecht, die Zeiten sind schwer, die Zeiten sind elend‘. Lebt gut, durch euer gutes Leben ändert ihr auch die Zeiten, und da ihr die Zeiten ändert, habt ihr keinen Grund mehr zur Klage!“ 41 Als Ausgangspunkt der „patristischen Resilienzlehre“ sehe ich die Absicht aller Autoren, den Menschen, sein Leben, sein Schicksal oder seine Freiheit, sein Leid und sein Glück, seinen Zorn und seine Hoffnung als einen Teil des Ganzen zu beschreiben. Die ersten Worte, welche der Mensch in einer Krise hören soll, sind beruhigende, relativierende Worte der Rationalität: „Es gibt keinen Menschen ohne Trübsal und Elend. Der eine hat ein großes, der andere ein kleines Leiden zu tragen. Seien wir nicht verzagt, wir sind nicht die einzigen, die leiden.“ 42 Dieses Denken wird in die Philosophie der Existenz einfließen. Der Mensch erkennt sich tatsächlich in seinen Leidsituationen, im Leid liegt eine fast archaische Kraft des Erwachens. Wenn es ihm möglich ist, in seinem Leiden die Umrisse der menschlichen Existenz in ihrer Universalität zu sehen, erscheint ihm in seinem Leid auch der Sinn desselben als etwas zu seinem Dasein Gehöriges. Gregor von Nazianz drückte dies mit dem zeitlosen Bild der Meereswogen aus: „Ich ging am Meeresstrand und sah die Wogen. Ist nicht unser Leben ähnlich? Es kommen Stürme über uns, die Versuchungen zum Bösen. Es kommt Bitteres und Leidvolles. Seien wir wie Felsen in den Stürmen.“ 43 Genau in dieser Bedeutung spricht Karl Jaspers von den Grenzsituationen: „In der Grenzsituation erst kann es das Leiden als unabwendbar geben. Jetzt ergreife ich mein Leiden als das mir gewordene Teil, klage, leide wahr-

41 42 43

Augustinus, Sermo 311,8. Johannes Chrysostomos, Homilien zu 2 Tim 1,2. Gregor von Nazianz, Nach der Rückkehr vom Land 8–10.

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haftig, verstecke es nicht vor mir selber, lebe in der Spannung des Jasagenwollens und des nie endgültig Jasagenkönnens, kämpfe gegen das Leiden, es einzuschränken, es aufzuschieben, aber habe es als ein mir fremdes als doch zu mir gehörig, und gewinne weder die Ruhe der Harmonie im passiven Dulden noch verfalle ich der Wut im dunklen Nichtverstehen. Jeder hat zu tragen und zu erfüllen, was ihn trifft. Niemand kann es ihm abnehmen.“ 44 In allen Arten von Schmerzen, von Anstrengung und Überwindung manifestiert sich das menschliche Leiden als Teil der Existenz. Auch in dem Bild des Meeres und der Felsen finden wir mehr als nur eine leere poetische Darstellung. Das Leiden ist das Faktum, das sich nicht entrealisieren lässt. Die Entrealisierung des Leidens bzw. die Poetisierung des Schmerzes instrumentalisiert die Leidenden. Alles im Leid soll man als etwas Faktisches sehen: die Schwäche des Körpers, den Geruch der Krankheit, die Abhängigkeit von den anderen, die Passivität und Aggression, das eigene Gesicht und die eigene Stimme, die entfremdet werden, die Scham und den Zorn. Ohne Akzeptanz der Realität des Leidens tritt man nicht in die Phase, in der man die Krise in Worte fassen kann und es einem langsam ermöglicht wird, das Leiden für sich zu zähmen. Diese Phase der Versprachlichung ist notwendig, um das Leid nicht nur als Feind, sondern auch als Teil des Daseins, der persönlichen Geschichte zu erkennen. Das existenzielle Verständnis des menschlichen Lebens haben manche altchristlichen Autoren mit dem Begriff „Verwurzelung“ (in causa) ausgedrückt. „Es umdrängen uns vielfältige Krisen“ – sagt Johannes Chrysostomos – „die uns den Mut und die Freude nehmen“, es ist aber möglich, „sich vor den Nöten des Lebens zu bewähren“.45 Diese Möglichkeit, sagt er weiter, haben wir durch die „Verwurzelung“. Die Christen, für die Chrysostomos seine Homilien schreibt, sollen in ihrem Glauben, in Gott verwurzelt sein. Diese „Verwurzelung“ verstehen wir hier breiter: Menschen sind in anderen Menschen verwurzelt – in den von ihnen Geliebten, in den Eltern und Kindern, in den Freunden. Der Mensch ist verwurzelt in seiner Sprache, manchmal in seinem Geburtsort oder in seinem gewählten Zuhause, in seiner Arbeit, in seinen Zielen. Aus diesen Verwurzelungen beziehen wir die Kraft, die Nöte des Lebens zu bewältigen. Andererseits kann man dazu auch anmerken, dass die „Wurzeln“ der menschlichen Existenz (des Daseins, der Seele) in der Transzendenz liegen, in den universellen, allen Menschen von Natur aus gegebenen Modi des Daseins, mit denen Leiden und Hoffen in einer festen Verbindung stehen. Der Mensch ist demnach auch im Leid und in der Hoffnung verwurzelt. „In-der-Welt-Sein“, „Auf-dem-Wege-Sein“, „Zum-Tode-Sein“, „In-die-ZukunftSein“ sind alles Modalitäten des Daseins. Was man unter dem modernen Begriff des Daseins versteht, fassten die altchristlichen Philosophen unter dem „Mensch44 45

Jaspers, a. a. O., S. 151. Johannes Chrysostomos, Säulenhomilien 18,1.

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sein“ zusammen. Aus ihren Texten lese ich vor allem zwei Existenzialien des Menschseins heraus: Miteinandersein und Sein-für-die-Anderen. Dazu möchte ich mit einem Gedanken von Johannes Chrysostomos beginnen: „Wir beißen einander und fressen uns gegenseitig auf. Wir tun Unrecht, klagen einander an und verleumden uns. Ich weiß gar nicht, wie diese Krankheit über uns hergefallen ist. Überlegen wir, was für ein Übel entsteht, wenn wir andere verleumden. Willst du richten, dann beurteile dich selbst zuerst.“ 46 Die Qualität der Reden von Chrysostomos sehe ich darin, dass er die Verleumder und Lügner, die Schuldigen, die sich als Richter über die anderen stellen, mitten unter uns sieht. Chrysostomos verweist mit viel Empathie auf die menschliche Schwäche, und kein Mensch ist in seiner Würde marginalisiert. Er ging mit äußerst scharfer Kritik gegen alle Gleichgültigkeit an und er legte großes Gewicht auf die Sorge um die Kranken und Armen. „Verrücktheit“ nannte er die schrecklichen Spaltungen zwischen Reichtum und Armut. In der „Verrücktheit des Reichtums“ lag für ihn der Hauptgrund für Kriege. Die menschliche Fähigkeit zu Mitgefühl, Mitleid und Trost rettet den Menschen selbst vor der Kälte: „Wo das Unrecht wächst, erkaltet die Liebe. Die Menschen leben in Selbstsucht zerrissen.“ 47 Ein gutes, friedliches Gemeinschaftsleben hängt, wenn man den Kirchenvätern zuhört, von der Fähigkeit ab, das rechte Maß in allen Dingen zu finden. „Wir suchen immer den mittleren Weg, denn das entspricht der Vernunft“,48 schreibt Klemens von Alexandrien. „Wir zügeln uns, um in allem das rechte Maß zu finden“,49 sagt Tertullian. Diese Lehre stammt aus der griechischen Ethik, aus der Idee von der Mitte als ethischer Charaktertugend. Aristoteles postuliert die Ethik des Maßhaltens zwischen Übermaß und Mangel. Die Gelassenheit befinde sich beispielsweise in der Mitte zwischen den zwei Extremen Phlegma und Jähzorn, zwischen der Schüchternheit und der Hemmungslosigkeit bilde die Scham die richtige Mitte, zwischen der Feigheit und der Verwegenheit die Tapferkeit. In der Nikomachischen Ethik lesen wir: „Wir sehen, es sind dieselben Situationen, denen der Feige, der Draufgänger und der Tapfere gegenübersteht, aber wie sie ihnen gegenüberstehen, das ist

46 47 48

49

Johannes Chrysostomos, Homilie zu Hebr. 21,3– 4. Johannes Chrysostomos, Homilien zu Eph. 9,3. Klemens von Alexandria, Paidagogos 3,51.Vgl. z. B. Basilios der Große, Trauerreden auf Basilios 11; Augustinus, Brief an Proba 13–14. Zit. aus: Christa Felicetti, Lebensweisheit der Kirchenväter, Styria, Graz/Wien/Köln 2002, S. 79.

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verschieden. Die ersten beiden sind die Vertreter des Zuviel und Zuwenig, der dritte hält sich an die Mitte und zeigt somit das richtige Verhalten.“50 Die Tugendlehre der Kirchenväter verweist auf viel Gemeinsames mit der aristotelischen Ethik: im Prinzip der Glückseligkeit, in der Sittlichkeitslehre, in der Verantwortungslehre für das Handeln, im Konzept der Gerechtigkeit als der höchsten ethischen Tugend und als oberstem unter den Vorzügen des Charakters. Die Kirchenväter nehmen unter die klassischen Tugenden wie Großzügigkeit, Besonnenheit, Freundschaft, Ehrlichkeit u. a. auch die Bekämpfung der Traurigkeit, die sie Hoffnung nennen. Auch alle patristischen Autoren sprechen in ihrer Tugendlehre von Geduld, Demut, Liebe und Mitleid. Die Wüstenväter schrieben der Tugend der Diskretion eine besondere Rolle zu. Als discretio verstanden die Mönche vorrangig die Gabe, zwischen zwei Extremen, zwischen Gutem und Schlechtem wählen zu können. Johannes Cassianus versteht unter discretio genau jenes Maßhalten, jene Mitte: „Diese vermeidet eben beide Extreme und lehrt den Mönch, immer auf dem königlichen Weg zu wandeln.“ 51 Die Mitte bzw. das rechte Maß ist erreichbar durch das Wissen, d. h. im geistigen Streben, in der sittlichen Einsicht. Augustinus dazu: „Die Weisheit ist das Maß der Seele.“ 52 Auch in diesem Punkt stimmen die Kirchenväter mit Aristoteles überein. Sie betonen, dass Erkenntnis den Menschen nicht immer zum Guten führt. Die Ethik der Kirchenväter bezieht also mehr von der rationalen Seelenkonzeption eines Aristoteles als von der sokratischen Arete-Lehre. Die Mitte, das Gleichgewicht und die Geradheit sind bei den Kirchenvätern durch das Lernen von den anderen erreichbar, durch deren Weisheit und Vernunft. Das Zuhören und die Einschätzung gehören zu den Tugenden. Basilius der Große schreibt: „Sei nüchtern und lass dir raten. Achte das, was du hast. Sorge vor für die Zukunft. Gib nicht leichtsinnig auf, was du erreicht hast. Träume nicht vom Genuss von Gütern, die du nicht hast und nie haben wirst. Junge Menschen glauben, das Erhoffte schon zu besitzen.“53

50

51

52 53

Aristoteles, Nikomachische Ethik, übers. v. F. Dirlmeier, Fischer Bücherei, Frankfurt am Main 1957; III, 10, S. 70. Johannes Cassianus, Weisheit der Wüste, übers. v. A. Kemmer, Benziger Verlag, Einsiedeln/ Köln 1948, S. 75. Augustinus, Vom seligen Leben 4,32. Basilius der Große, Hab Acht auf dich; zit. aus: Ch. Felicetti, S. 85.

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Auch die existentiellen Modalitäten des Seins, das Miteinandersein und das Seinfür-die-Anderen, erhalten ihre Ausformung in der Maß-Lehre. Die Gestaltung von Gemeinschaften soll sich an der maßvollen Mitte orientieren. Auf dieser Grundlage errichtet die Soziallehre der Kirchenväter ihr Prinzip des Handelns, das ich als eine Art „kategorischen Imperativ“ verstehe. „Wir sorgen dafür, dass kein Mensch ins Verderben rennt“; „Wenn wir für die anderen sorgen, werden sie auch gut zu uns sein“, sagt Chrysostomos.54 In dieser Soziallehre gilt ein allgemeines Gesetz, worin spätere Philosophen ein Prinzip des ethischen Handelns sahen. Diese Maxime postuliert er, um die Grundprinzipien der Moral aus der Vernunft herzuleiten und damit ihre Unabhängigkeit z. B. von der Religion zu verdeutlichen. Diese Unabhängigkeit scheint jedoch weniger Bedeutung zu haben als die Tatsache, dass alle Ethiken trotz ihrer vielgestaltigen Wurzeln und Vernunftkonzeptionen ein rationales Handeln fordern. Neben dieser Rationalisierung der Ethik jedoch revolutionieren die altchristlichen Philosophen das Denken der damaligen Gesellschaften, indem sie das Prinzip der Nächstenliebe in den Mittelpunkt rücken. Der Mensch überschreitet das Maß, wenn er „der Ausschreitung, der Herrschsucht oder dem Stolz folgt“.55 Auf dieses Verständnis von Maßhalten stößt man schon bei den Pythagoreern, dann bei Platon und Aristoteles im Begriff der symmetria. Aristoteles aber betont, dass diese Symmetrie, obwohl ein Ziel, nicht im Staat zur Verwirklichung reifen kann. Die Kirchenväter wiederum meinen, die Symmetrie, die Gegenseitigkeit sei eben doch ein Ziel des gesellschaftlichen Lebens, nur sei das Miteinandersein asymmetrisch und soll es auch bleiben. Das Sein-für-die-Anderen unterliege also einer Asymmetrie. Diese revolutionäre Idee der Verantwortung für die anderen ohne die Erwartung der Gegenseitigkeit bleibt in der Philosophie lebendig. Wir finden sie z. B. in den Pensées Pascals, einzigartig in der Einwurzelung (L’Enracinement) bei Simone Weil, vor allem aber in den Schriften Lévinas’. Seine Idee von der sog. Entinteressiertheit (dés-inter-essement) als Prinzip des bedingungslosen Seins-fürdie-Anderen, erinnert zu Recht an so manche Traditionen der Weltreligionen und deren Ethiken, dazu gehört auch die patristische Soziallehre: „Das ist das Prinzip unseres sozialen Lebens: Uns nicht nur für uns selbst zu interessieren.“ 56 Ich möchte zu einem schon kurz erwähnten Thema zurückkommen: die Beziehung zu den Menschen anderer Religionen und Nationen. Schon Ignatius von Antiochien schreibt um ca. 100 n. Chr. in seinen Briefen, dass es die Aufgabe der ersten Lehrer des Christentums sei, gegen die Rache- und Hassanfälle der Christen gegenüber den Nicht-Christen aufzutreten und das Gebot der Nächstenliebe ein-

54 55 56

Johannes Chrysostomos, Säulenhomilien 1,129. Vgl. Ders., Homilien zu 1 Kor 25,4. Augustinus, a. a. O., 4,32. Johannes Chrysostomos, Predigt 9,2 über das Buch Genesis; zit. aus: Benedikt XVI; a. a. O., S. 116.

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zufordern. Im vierten Jahrhundert ist dieses Prinzip des einvernehmlichen Lebens mit den Nicht-Christen und den Christenverfolgern in der Soziallehre der Kirchenväter bereits selbstverständlich. Hinzu kommt das Bewusstsein ihrer gemeinsamen Vergangenheit, der gegenseitigen Beeinflussung von Kulturen und Religionen: „Das alte Gesetz befahl, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Das neue Gesetz befiehlt uns, auch den Feinden wohlwollend zu begegnen […].“ 57 „Wir sollen die weltlichen und geistlichen Schriften kennen. Wir können beide mit Bäumen vergleichen, die Blätter und Früchte tragen. Unsere Seele verlangt nach den Früchten der Wahrheit, sie können in fremder Weisheit verborgen liegen. Auch Moses soll die Weisheit der Ägypter gelernt haben, Daniel die Weisheit der Chaldäer.“ 58 Mit der Schöpfungsidee etabliert sich eine starke Ablehnung des Hasses in der altchristlichen Philosophie der Kirchenväter. „Die Bosheit im Menschen sollen wir hassen, doch seine Person sollen wir lieben“, erklärt Augustinus.59 Das Seiende in seinem Ganzen ist kein Hassobjekt und der Mensch ist überhaupt nicht fähig, das Ganze zu hassen. Die Negation, der Hass oder der unbedingte Wunsch nach Vernichtung betreffen nur die Aspekte des Seins. Eine in diesem Sinne metaphysisch begründete Ethik finden wir dann in der Menschenlehre des Thomas von Aquin. Thomas betrachtet den Hass gegen andere und sich selbst als eine auf wenige Aspekte beschränkte Regung, d. h. der Hass gegen sich selbst und die anderen bezieht sich nicht auf die ganze Person (Summa Th. Q. 29, art. 3–4). Ein solches Bild von einer Einfriedung des Hasses hat seine Wirkung z. B. auf die Philosophie Martin Bubers: „Der Haß bleibt seiner Natur nach blind; nur einen Teil eines Wesens kann man hassen. Wer ein ganzes Wesen sieht und es ablehnen muß, ist nicht mehr im Reich des Hasses, sondern in dem der menschhaften Einschränkung des Dusagenkönnens.“ 60 Metaphysik bildet in diesem Sinne auch eine Grundlage für das Verständnis vom Frieden. „Ein Christ wird nicht einmal die eigenen Feinde hassen“, meint schon Tertullian.61 Vor allem die Kirche selbst soll mit allen friedlich umgehen. Die Kirchenväter kritisieren stark den Ehrgeiz und die Arroganz unter Christen, werfen 57 58 59 60 61

Ambrosius, Kommentar zu Lk. 5,73–74; zit. aus: Ch. Felicetti, a. a. O., S. 101. Basilius der Große, Mahnworte an die Jugend 1–3; zit. aus: Ch. Felicetti, S. 64. Augustinus, Erklärungen zu den Psalmen 139,2. Martin Buber, a. a. O., S. 20. Vgl. Benedikt XVI, a. a. O., S. 54.

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ihnen die Verachtung von Sklaven und Armen vor, die sie einer Verachtung Christi und der ersten Christengemeinden gleichstellen. Sie kritisieren die Schuld- und Machtpolitik der Priester und anderer Amtspersonen gegen Christen und NichtChristen.62 Die Gewaltlosigkeit wurde schon im Denken der ersten Bischöfe zum Prinzip des sozialen und politischen Handelns. Wie die nachfolgende Geschichte der Kirche zeigt, hat sie sich oft von diesen Prinzipien entfernt. Die Religionen und Lebensphilosophien, die das Wort ihrer ersten Lehrer nicht in Erinnerung haben, können genauso gefährlich sein wie die Dogmatiker derselben Religionen, die die gegenwärtige Welt in die Schranken der alten Worte und Weltbilder verweisen. Basilius der Große schreibt: „Wir sollen von den alten Weisen lernen, aber von ihren Lehren das Nützliche auswählen. Das Schädliche können wir beiseitelassen.“ 63 Die Menschen sollen wie ein „Band des Friedens“ 64 verbunden sein, „die Menschen bedürfen einander“ 65, fordern die Kirchenväter. Sie besitzen die Fähigkeit, mit den anderen zu weinen, sie „spenden viel Trost“.66 Und „der Beste ist, wer von sich aus weiß, was er zu tun hat“.67 Die Fähigkeit zum Mitleid und diese Zielorientierung im Helfen beschreiben in treffender Weise einen „resilienten Menschen“ aus den Traktaten der Kirchenväter. Der „resiliente Mensch“ wird hier als „der Weise“ verstanden. „So kann der Weise gegen alle Schrecken ankämpfen, gegen Armut und Krankheit, gegen Schande und Tod. […] Mit seinem Verstand unterscheidet er klar, was er tun und was er lassen soll.“68 Die „patristische Resilienzlehre“ sieht also in der Zielorientierung, Selbstachtung, Rationalität und Hoffnung auch eine Hoffnung für die anderen, für deren Achtung. Zielorientierung und Rationalität sind hierbei keine instrumentalisierenden Machtfaktoren. Die wahren Trost- und Kraftworte, die uns aus den altchristlichen Schriften erreichen, sind jene, die alles Leid und Glück des Menschen im Kontext

62

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Vgl. Johannes Chrysostomos, Homilien zu 1 Kor. 33,5; Klemens von Alexandria, Stromateis 7,62,1. Basilius der Große, Mahnwort an die Jugend 2–3; zit. aus: Ch. Felicetti, a. a. O., S. 62. Augustinus, Erklärung zu den Psalmen 125,13. Johannes Chrysostomos, Kommentare zu Röm. 23,2. Augustinus, Brief an Proba 4. Basilius der Große, Mahnworte an die Jugend 1–3; zit. aus: Ch. Felicetti, S. 62. Klemens von Alexandria, Stromateis 7,62–65.

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einer Ganzheit der Welt sehen. Das Leben als Auf-dem-Wege-Sein behält seinen Rhythmus zwischen Leid und Glück: „Es kam der Schmerz über mich, es wird auch die Ruhe wiederkommen.“ 69

5. Zusammenfassung 1. Die Methode, auf der der vorliegenden Artikel aufbaut, ist die Wirkungsgeschichte: Eine Untersuchung von Analogien, Kontinuitäten und Spiegelungen von patristischen Aussagen in ausgewählten modernen philosophischen Richtungen wie Dialogphilosophie (M. Buber, E. Lévinas) und Philosophie der Existenz (K. Jaspers). 2. Das Ergebnis meiner wirkungsgeschichtlichen Untersuchungen ist das Konzept der „patristischen Resilienzlehre“: Ich vereine darin jene altchristlichen Seelen- und Charakterkonzeptionen, die die Themen wie Krise, Trost, Hoffnung und Widerstand zur Sprache bringen. Unter der Resilienz eines Menschen verstehe ich seine Seelenkraft. 3. Die Relevanz der altchristlichen und scholastischen Philosophie für die modernen Geisteswissenschaften könnte man aus der Sicht jeder ihrer Disziplinen betrachten. Bezüglich des Dialogs der philosophischen Resilienzforschung mit der Philosophie der Kirchenväter beschränke ich mich jedoch auf die philosophische Ethik, die philosophische Anthropologie und die Soziallehre. 4. Das zentrale Thema der Resilienzforschung ist die Widerstandskraft. Dieses Thema hat in der gesamten christlichen Tradition einen wichtigen Platz inne: theologisch vor allem in der Hoffnung auf die Auferstehung, in der Soziallehre der Kirche und in der christlichen Ethik als Prinzip der Solidarität mit den Armen und Unterdrückten. 5. Die Widerstands-Idee in der christlichen Philosophie hat ihre Wurzeln in den mannigfachen Konzepten einer Seelenlehre: Seele als Potentialität, dynamis, als strebende Bewegung bis hin zur Auffassung der Seele als Folge einer creatio ex nihilo. Der Mensch, der ein Leben lang den Weg zu seiner Verwirklichung beschreitet, ist in dieser Tradition unter dem Begriff des homo viator zu verstehen. 6. In den patristischen Texten wurde ein Mensch, sein Leben, sein Schicksal oder seine Freiheit, sein Leid und sein Glück als Teil des Ganzen beschrieben. Dieses Denken charakterisiert u. a. die moderne Existenzphilosophie, nach der ein Mensch sich tatsächlich in seinen Leid- und Hoffnungssituationen erkennen kann und dabei die Umrisse seiner Existenz in ihrer Universalität wahrnimmt.

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Augustinus, Erklärung zu den Psalmen 61,11.

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Johannes Zachhuber

Die Seele als Dynamis bei Gregor von Nyssa Überlegungen zur Schrift De anima et resurrectione

1. Der Rede von der Resilienz der menschlichen Seele oder auch von Seelenkräften liegen zwangsläufig theoretische Annahmen zu Grunde, auch wenn diese oft nicht explizit gemacht werden. Diese Annahmen lassen sich als Antworten auf fundamentale Fragen verstehen. Hat der Mensch eine Seele und wenn ja, wie verhält sich diese zum Körper und zur menschlichen Person als Ganzer? In welchem Sinn kann man der Seele eine Kraft oder Kräfte zuschreiben? Und was schließlich meint man hier mit den Worten „Seele“ und „Kraft“? Antworten auf diese Fragen sind zu verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Menschen ganz unterschiedlich gegeben worden; ich werde im Folgenden versuchen, das Denken Gregors von Nyssa auf einige dieser Fragen hin abzuklopfen. Gregor ist einer von vergleichsweise wenigen griechischen Kirchenvätern, der sich den fundamentalen Fragen nach dem Wesen und den Funktionen des Seele, nach ihrem Verhältnis zum Menschen als Ganzem, nach ihrem Beginn und ihrem Schicksal nach dem Tod und nicht zuletzt nach ihrer Rolle für das menschliche Gottesverhältnis in einer Weise zugewandt hat, die deutlich macht, dass ihm deren Zusammenhang untereinander und ihre fundamentale Bedeutung für das religiöse und ethische Selbstverständnis des Menschen klar vor Augen standen. Natürlich kann man nicht einfach voraussetzen, dass ein Verständnis der Position Gregors uns das „Denken der Kirchenväter“ erschließt (sofern es so etwas überhaupt gibt); gleichwohl verspricht eine eingehendere Beschäftigung mit ihm aus den genannten Gründen von weiterreichender und in gewisser Weise exemplarischer Bedeutung für den Versuch zu sein, christliches, spätantikes Denken zu verstehen. Ein solches historisches Verstehen aber bildet, so meine ich, die Voraussetzung für eine Anbindung jener Diskurse an die Fragestellungen unserer eigenen Gegenwart. Der Titel meines Beitrages zeigt die Richtung, die ich bei meiner Untersuchung einschlagen will; er ist bewusst provokant gewählt. Denn die bisherige Forschung, sofern sie sich der Frage nach Gregors Seelenbegriff näher zugewandt hat 1, hat 1

Herbert Cherniss, The Platonism of Gregory of Nyssa, „University of California Papers in Classical Philology“ XI (1930), S. 1–92; Michele Pellegrino, Il Platonismo di san Gregorio Nisseno nel dialogo intorno all’anima e alla resurrezione, „Rivista di Filosofia Neoscolastica“

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diesen im Großen und Ganzen von platonischen Voraussetzungen her zu verstehen versucht. Dann aber scheint die Behauptung, die Seele sei für Gregor gleichbedeutend mit ihrer Dynamis abwegig; vielmehr würde man erwarten, dass Gregor die Seele in ihrem eigentlichen Sein gerade abgelöst von ihren organischen Funktionen denkt. Denn nur auf diese Weise könnte sie im Menschen Repräsentant des Göttlichen in seiner Ewigkeit und seiner Geistigkeit sein, während derselbe Mensch durch seine Leiblichkeit Anteil an Materialität und Vergänglichkeit hat. Das Wesen (ousia) der Seele würde sich, nimmt man diesen Ausgangspunkt, geradezu antithetisch zum Körper verhalten, mit dem sie nur auf befristete Zeit in einem spannungsvollen Verhältnis verbunden ist. In diesem Sinn geht Sokrates in Platons Dialog Phaidon so weit zu sagen, der Philosoph sehne seinen Tod herbei, da dieser eine Befreiung der Seele von ihrer Bindung an den Leib und insofern zu ihrem eigenen wahren Sein bedeute.2 Den Platonikern in der Spätantike sind die Einwände geläufig, die schon von Aristoteles gegen die Theorie Platons vorgebracht wurden.3 Etwas vereinfacht für den Zweck unserer Untersuchung kann man sagen, dass die radikal dualistische Theorie nicht in der Lage ist zu erklären wie die Seele den Körper belebt, seine vegetativen und kognitiven Funktionen steuert, ja selbst ihre Rolle als intellektuelles und volitionales Zentrum des Menschen lässt sich so kaum noch begreifbar machen. Das führt dann dazu, dass die Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele im Menschen zu den zentralen philosophischen Problemen des Neuplatonismus gehört, und die dabei entwickelten Denkmuster sind auch von den Kirchenvätern verwendet worden.4 Bei Gregor zeigt sich dies daran, dass er die Existenz einer Seele als einer intelligiblen also unkörperlichen Wesenheit ausdrücklich und emphatisch bejaht.

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30 (1938), S. 437– 474; Charalambos Apostolopoulos, Phaedo christianus. Studien zur Verbindung und Abwägung des Verhältnisses zwischen dem platonischen „Phaidon“ und dem Dialog Gregors von Nyssa „Über die Seele und die Auferstehung“, Peter Lang, Frankfurt am Main 1986; Henriette Meissner, Rhetorik und Theologie. Der Dialog Gregors von Nyssa ‚De anima et resurrectione‘, Peter Lang, Frankfurt am Main 1991; Enrico Peroli, Il platonismo e l’antropologia filosofica di Gregorio di Nissa. Con particolare riferimento agli influssi di Platone, Plotino e Porfirio, Vita e Pensiero, Mailand 1993; Idem, Gregory of Nyssa and the Neoplatonic Doctrine of the Soul, „Vigiliae Christianae“ 51 (1997), S. 117–139; Igor Pochoshajew, Die Seele bei Plato, Plotin, Porphyr und Gregor von Nyssa, Peter Lang, Frankfurt am Main 2004; Ilaria L. E Ramelli, Gregorio di Nissa. Sull’anima e la resurrezione, Bompiani, Mailand 2007, bes. S. 38–125; 959–1082 (mit voller Bibliographie und ausführlicher Dokumentation der neueren Diskussion). Platon, Phaidon 61c 8–9; 63b 5–c7 und öfter. Vgl. Aristoteles, De anima I 3, 407b 13–26. Ein mit Gregor etwa zeitgleiches Zeugnis dieser Auseinandersetzung ist der Traktat des Nemesius von Emesa De natura hominis. Vgl. dazu jetzt die ausführlich annotierte englische Übersetzung: Nemesius, On the Nature of Man, translated with an introduction and notes by Robert W. Sharples and Philip J. van der Eijk, Translated Texts for Historians, LUP, Liverpool 2008.

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Daher akzeptiert er für seine eigene Theorie auch die sich daraus ergebende Schwierigkeit, wie die Verbindung einer solchen Entität mit dem gänzlich anders gearteten Körper gedacht werden kann.5 An zahlreichen Stellen seines Werkes deutet er existentiell-menschliche Spannungen und Dilemmata ausdrücklich oder implizit durch Rekurs auf den Leib-Seele-Dualismus;6 auch sein häufiger Gebrauch des konventionellen Ausdrucks der Tod sei die „Trennung von Leib und Seele“ setzt offenbar eine dualistische Anthropologie voraus.7 Gleichwohl will ich im Folgenden argumentieren, dass Gregor dort, wo er sich eingehend und explizit mit den die Seele betreffenden Fragen auseinandersetzt, er sie in einer Weise versteht, die sich von platonischen Voraussetzungen deutlich entfernt und für deren Verständnis platonische Seelentheorien nur noch bedingt hilfreich sind. Ein wichtiger Grund dafür liegt in den spezifisch christlichen Prämissen, mit denen Gregor an die Erörterung herangeht und die letztlich seine Behandlung des Themas bestimmen. Konkret sind das insbesondere die Ablehnung der aus platonischer Sicht unumgänglichen Präexistenz der Seele 8 sowie seine Anerkennung der Lehre von der Auferstehung des Leibes. Dass Gregor sich müht, diese beiden orthodoxen Auffassungen in seine Argumentation einzubauen, ist selbstverständlich auch früheren Interpreten seines Denkens nicht entgangen, jedoch haben nicht wenige versucht, sie als sekundäre und wenig überzeugende Anhängsel einer im Grunde philosophisch-platonisch konzipierten Seelenlehre zu marginalisieren. Manche sind sogar so weit gegangen, Gregor an diesen Punkt einzig die Absicht zur Anpassung an ein dogmatisches Erfordernis seiner Zeit oder gar zur „Tarnung“ seiner wahren Intentionen zuzuschreiben.9 Selbst sympathischere Leser seiner Schriften haben in der Regel den Ausgangspunkt von Gregors Seelenlehre in seinem Platonismus gesucht, um dann die offensichtlich christlichen Elemente seines Modells als Varianten oder Modifikationen einer primär platonischen Theorie zu deuten. Demgegenüber geht es mir darum zu zeigen, dass Gregors Verpflichtung auf die genannten Fixpunkte christlicher Orthodoxie am Ende des vierten Jahrhunderts auf bemerkenswerte Weise mit anderen zentralen theo5 6

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Gregor von Nyssa, De anima et resurrectione, PG 46. Berühmt, aber auch umstritten sind Gregors diesbezügliche Ausführungen in De opificio hominis 16, PG 44, bes. col. 181. Z. B. Gregor von Nyssa, Antirrheticus adversus Apollinarium, Gregorii Nysseni Opera III/1, ed. Fridericus Mueller, S. 152; Ders., Oratio catechetica [16], Gregorii Nysseni Opera III/4, 48,2–3. Ausdrücklich in Gregor von Nyssa, De opifico hominis 28, coll. 229B-233C. Zum Hintergrund, der Auseinandersetzung mit Origenes vgl. Hans J. Oesterle, Probleme der Anthropologie bei Gregor von Nyssa. Zur Interpretation seiner Schrift De hominis opificio, „Hermes“ 113 (1985), S. 101–114, bes. S. 103: „Gregors De Hominis Opificio ist durchgängig zu verstehen als immanente Auseinandersetzung mit der origenischen Anthropologie und Kosmologie.“ Inbesondere Cherniss, Platonism, 62– 63. Für die These, dass Gregor seinen Platonismus „tarnt“ vgl. Apostolopoulos, Phaedo, S. 109.

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retischen Grundentscheidungen korreliert, die er in seiner Diskussion der Seelenlehre berücksichtigt. In ihrem Zusammenwirken führen diese Grundentscheidungen, so möchte ich zeigen, dazu, dass für Gregor der Mensch als leib-seelische Einheit zum zentralen Bezugspunkt anthropologischer Überlegungen wird, an dem sich auch sein Verständnis der Seele bewähren muss. Sofern Gregor der Seele weder vor der Geburt noch nach dem Tod im strengen Sinn eine vom Leib losgelöste Existenz zuweist, konzentriert sich die Frage nach dem, was die Seele ist, darauf, was sie hinsichtlich des Leibes ist und was sie durch ihn und mit ihm für den Menschen als Ganzen bedeutet und bewirkt. Eben diese Rolle der Seele für das Leben des Menschen aber wird mit dem Begriff der Dynamis, was ich im Folgenden mit „Wirkmacht“ wiedergeben will, bezeichnet. In präzise diesem Sinn ist es gemeint, wenn hier davon die Rede ist, die Seele sei bei Gregor „als“ Dynamis verstanden. 2. Ich werde meine Überlegungen fast ausschließlich auf Gregors Schrift Über die Seele und die Auferstehung (De anima et resurrectione) stützen. Gregor äußert sich zwar auch in seinem übrigen Werk gern und oft über die Seele. Jedoch zeigt gerade ein Vergleich mit den verstreuten Bemerkungen, die sich in seinen zahlreichen Schriften finden, warum Über die Seele von besonderem Interesse ist. Denn die gelegentlichen Bezugnahmen Gregors auf die Seelenthematik zeigen ihn zumeist als einen sozusagen intuitiven Platoniker. Das heißt, er betont die Unkörperlichkeit und Permanenz der Seele, auf Grund dessen dann auch ihre strenge Unterschiedenheit vom Leib. Das Bemerkenswerte an Gregors intensiver Auseinandersetzung mit derselben Thematik im Rahmen seiner Schrift Über die Seele ist nun gerade, dass er an dieser Normalposition, die auch hier immer noch durchscheint, deutliche Modifikationen vornimmt; um genau diese Modifikationen geht es mir im Folgenden. Denn die besonderen Züge der in dieser Schrift vertretenen Auffassung sind nicht einfach unerhebliche Sondermeinungen, die Gregor in jenem Kontext aus vielleicht pragmatischen Gründen vertreten hat; vielmehr sind sie, das will ich in meinem Beitrag jedenfalls vertreten, erwachsen aus einem besonders intensiven Bemühen darum, die Frage nach der Seele in einem von der Bibel und der christlichen Überlieferung her bestimmten Rahmen neu zu denken. Dass Gregor daneben den Anspruch erhebt, an die besten Traditionen der klassischen Philosophie anzuknüpfen, steht allerdings außer Frage. Das zeigt sich schon an der Form, die er seiner wohl kurz nach 380 verfassten Schrift gibt.10 Sie präsentiert sich als Dialog mit seiner sterbenden Schwester, Makrina, die unmittel-

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Zur Datierung vgl. Ramelli, Gregorio di Nissa, S. 7. Generell ist die Datierung von Gregors Schriften schwierig und unsicher, was für die hier vorliegende Darstellung allerdings wenig relevant ist: Jean Daniélou, La chronologie des œuvres de Grégoire de Nysse, „Studia Patristics“ 7 (1966), S. 159–169.

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bar vor ihrem Tod Gregor eine philosophisch-theologische Belehrung über die Seele und über das Schicksal des Menschen nach dem Tod zu Teil werden lässt. In dieser Wahl der Darstellungsform liegt offensichtlich eine doppelte Anspielung an Platon vor: Zum einen wird der Phaidon evoziert, in dem Sokrates in den Stunden vor seiner Hinrichtung mit seinen Schülern über die Unsterblichkeit der Seele diskutiert und ihnen gleichzeitig ein Beispiel philosophischen Umgangs mit dem Tod gibt; zum anderen erinnert Gregor seine Leser an den zentralen Teil des Symposion, in dem Sokrates davon berichtet, von der Priesterin Diotima über die wahre Natur des Eros aufgeklärt worden zu sein.11 Durch ihr heiliges Leben und die dadurch erworbene Gelassenheit angesichts des Todes ist Makrina einerseits dem Philosophen ebenbürtig oder überlegen; wie die heidnische Priesterin nimmt sie andererseits die Rolle der Lehrerin wahr, wobei interessant und signifikant ist, wie Gregor sie als Repräsentantin des kirchlichen Lehramtes stilisiert, das sie ihm, dem Bischof, gegenüber ausübt.12 Gleichzeitig freilich verweist Makrinas Apostrophierung als „Lehrerin“ jeden Leser von Gregors Schriften auch auf seinen Bruder Basilius, der von ihm durchgehend mit diesem Titel bedacht wird und dessen Tod bei dem Gespräch mit Makrina erst kurze Zeit zurückliegt.13 Makrinas Belehrung bezieht sich insofern sowohl auf ihren eigenen kurz bevorstehenden Tod als auch auf den Verlust ihres gemeinsamen Bruders, und man wird insofern wohl sagen dürfen, dass die Schwester bei aller selbständigen Bedeutung, die ihr zweifellos zukommt, in gewisser Weise Gregor gegenüber auch die Stelle des verehrten, älteren Bruders einnimmt und durch ihren Mund eine Belehrung erteilt, die Gregor wohl ansonsten von Basilius erwartet hätte. Bedenkt man diese Situation Gregors, den fast zeitgleichen Verlust zweier erheblich älterer Geschwister, die beide Leitbilder seiner religiös-ethischen und – zumindest im Fall des Basilius – auch intellektuellen Entwicklung waren, dann wird man in dem existentiellen Pathos, das er sich selbst im Dialog zuschreibt und mit dem überlegenen, abgeklärten Logos seiner Schwester kontrastiert,14 mehr als literarische und rhetorische Konvention erkennen. Gleichzeitig wird auch und gerade dann, wenn man den biographisch-kontingenten Hintergrund des Dialoges ernst nimmt, bei genauerem Hinsehen schon am Ausgangspunkt des Gesprächs der Unterschied zur platonischen Präsentation deutlich. Es fehlt nämlich bei Gregor gänzlich die für die Situation des sterbenden Sokrates doch nicht unerhebliche

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Platon, Symposion 212c–216c. Vgl. Meissner, Rhetorik und Theologie, S. 34– 42. Vgl. Gregor von Nyssa, De anima et resurrectione, col. 12A und Meissner, Rhetorik und Theologie, 26–33. Durch Vergleich von Parallelstellen in anderen Werken Gregors detailliert und differenziert Meissner die zeitliche und kausale Relation zwischen dem Tod des Basilius und Gregors Gespräch mit Makrina. Dazu Meissner, Rhetorik und Theologie, S. 47–58.

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Rationalisierung, die seinen Tod als Konsequenz und geradezu Erfüllung seines philosophischen Lebens erscheinen lässt. Sokrates wird wegen seiner Lehren zum Tod verurteilt. Er könnte diesem Tod entfliehen,15 tut das aber nicht, da er den Eintritt des Todes als frommer Mann zwar nicht selbst herbeiführen will,16 ihn jedoch prinzipiell als Übergang zu einer dem Heil der Seele angemesseneren Daseinsform begrüßt. Dagegen tritt der Tod bei Gregor ganz in seiner sinnfreien und geradezu nihilistischen Nacktheit zu Tage. Zwar wird auch das Hinscheiden des Basilius als ein Hinübergehen zu Gott gekennzeichnet,17 aber diese Formulierung scheint zunächst kaum mehr als eine konventionelle Floskel. Es gibt im Dialog keinen Versuch, das Sterben als solches des Basilius oder der Makrina zu verklären oder zu heroisieren (das hätte sich vielleicht im Fall von christlichen Märtyrern nahegelegt). Vielmehr geht es Gregor darum, angesichts der scheinbaren Sinnlosigkeit des Lebensendes die Plausibilität einer Hoffnung über den Tod hinaus zu eruieren und zu begründen. 3. Für die Methode der Untersuchung hat diese thematische Exposition unter anderem zur Folge, dass Gregor in seiner Erörterung der Frage nach der Seele von der Perspektive des Beobachters ausgeht, der Zeuge menschlichen Sterbens wird. Aus dieser Sicht lässt sich das zu deutende Phänomen zunächst einmal ganz prosaisch so beschreiben, dass ein lebendiger Körper an einem bestimmten Punkt in der Zeit zu einem Leichnam wird. Dieser Übergang, der mit dem Aufhören der Lebensfunktionen einhergeht, wirft in aller Schärfe die Frage auf, wodurch jene Funktionen zuvor ausgeführt worden waren. Auf diese Frage in erster Linie soll die Lehre von der Seele die Antwort geben. Nun ist die Anbindung des Seelenthemas an die Beobachtung des Sterbens keinesfalls originell. Im Gegenteil gebrauchen zum Beispiel die homerischen Epen das Wort psyche überhaupt nur im Zusammenhang mit dem Sterben, wenn nämlich die Seele der Menschen durch die Nase den Körper verlässt;18 der Verweis auf den Kontrast von lebendem und totem Organismus ist in der Spätantike in diesem Kontext konventionell.19 Gregor jedoch rechtfertigt mit diesem Ausgangspunkt einen bemerkenswert weitgehend durchgehaltenen empirischen Ansatz, der entscheidende Wesensmerkmale der Seele im Rückschluss aus den beobachteten orga-

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Platon, Kriton, bes. 52d8–54d7. Platon, Phaidon 61c9–10. Gregor von Nyssa, De anima et resurrectione, col. 12A. Vgl. Homer, Odyssee, Elfter Gesang, Vv. 218–223, In der Übersetzung v. Rudolf Alexander Schröder: Sondern so ist es das Recht der Sterblichen, wenn sie hinab sind: / Denn dann hält sich nimmer das Fleisch und Gerüst in den Sehnen, / Das die gewaltige Kraft des brennenden Feuers verzehrt hat, / Wenn das Leben zuerst die bleichen Gebeine verlassen; / Aber die Seele (yucä) entflattert und schwebt und schwankt wie ein Traumbild (o¢neirov). Vgl. Sallust, De diis et mundo 8 zitiert bei Meissner, Rhetorik und Theologie, S. 215.

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nischen Funktionen des Körpers bestimmt. Dieser Ansatz führt die Seelentheorie zwangsläufig in eine ganz andere Richtung als es ein Ausgehen zum Beispiel von intellektueller Introspektion getan hätte.20 Letztlich wird auf diese Weise jede Einsicht in das Wesen der Seele unmittelbar und unauflöslich an ihre der Beobachtung zugänglichen Wirkungen gegenüber dem Körper geknüpft, auch wenn Gregor daran liegt, die Seele selbst nicht auf diese Funktionen zu reduzieren. Macht man sich diese Herangehensweise nicht klar (und, wie gesagt, der oft pauschal erfolgende Hinweis auf Platon trägt eher zu ihrer Verdunkelung bei), dann bleibt unverständlich, warum die Argumentation im Dialog von der Analogie zwischen Mikro- und Makrokosmos ausgeht. Die Frage nach der Seele wird von Anfang an parallel zur Frage nach der Erkenntnis Gottes aus der Welt traktiert. Das mag ein Grund für die Tatsache sein, dass der Dialog die Frage, ob es überhaupt eine Seele gebe, ausführlich diskutiert – eine ansonsten in der Antike so nicht bekannte Problematik.21 Gregor/Makrina geht es aber darum zu argumentieren, dass ein Wahrnehmen der Realität, das bei ihren sinnlichen Elementen stehen bleibt, die Wirklichkeit Gottes ebenso verfehlt wie die Idee der Seele. In beiden Fällen kommt es darauf an, dass die sinnlich wahrgenommene Welt transparent wird für die in ihr sich zeigende Dynamis. So wie das providentielle Zusammenwirken der vielen materiellen Einzeldinge in der Welt auf eine in ihr wirkende Wirkmacht verweist, nämlich Gott, so deutet die organische Struktur des menschlichen Körpers auf die Seele hin.22 Dieser Schluss allerdings lässt zunächst noch verschiedene Interpretationen zu. Ist die Kraft, die sich in der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit zeigt, nicht vielleicht mit dieser identisch? Dann wäre es so, dass sie mit der Desintegration jener Realität ebenfalls zu existieren aufhören würde; konkret also würde die „Seele“ zusammen mit dem Körper sterben und könnte diesen keinesfalls überdauern. Für diese Interpretation spricht anscheinend nicht zuletzt, dass die Gegenthese einer unkörperlichen Seele Begründungsdefiziten ausgesetzt ist, da unklar ist, wie es zu einer Verbindung zwischen zwei dem Wesen nach ganz unterschiedlichen Dingen, Körper und Seele, kommen kann.23 Es ist oft beobachtet worden, dass Gregor mit 20

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Dieser gewissermaßen „moderate“ Empirismus Gregors wird selten gesehen, er ist aber insbesondere in de anima et resurrectione m. E. mit Händen zu greifen. Sein Gottesbeweis kommt dem nahe, was man später den teleologischen nennt, und denselben Ansatz wählt er eben auch für den Zugang zur Seele – wir stellen Beobachtungen an, die uns sodann weiterführen zu dem, was hinter den sichtbaren Dingen erkennbar wird. Dem entspricht Gregors gut bekanntes großes Interesse an Naturwissenschaften; viele seiner Schriften enthalten ausführliche und detaillierte Exkurse zu medizinischen, astronomischen oder auch meteorologischen Themen, die sowohl seine ungewöhnlich große Bildung in diesen Bereichen als auch ein evidentes Interesse an der empirischen Wirklichkeit verraten. Gregor von Nyssa, De anima et resurrectione, col. 41. Gregor von Nyssa, De anima et resurrectione col. 25A–29B. Gregor von Nyssa, De anima et resurrectione col. 20C; 21A.

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diesem Einwand auf seltsame Weise umgeht. Denn nachdem er ihn bezogen auf die Seele zunächst stark gemacht hat, weist er ihn bezogen auf Gott apodiktisch zurück und geht vielmehr davon aus, dass in diesem Fall, also für das Verhältnis von Gott und Welt, das Ineins von Immanenz und Transzendenz vorausgesetzt werden kann und seine Bestreitung blasphemisch wäre.24 4. Im Rahmen der Schrift Von der Seele handelt es sich hier fraglos um eine Petitio Principii; gleichwohl lässt sich zeigen, dass die hier vollzogene Annahme einer wesensmäßigen Zusammengehörigkeit von Gottes Sein (ousia) und seiner Wirkmacht (dynamis) von Gregor nicht ad hoc postuliert wird, sondern vielmehr ein zentrales Element seines theologischen Denkens darstellt. Eine umfassende Darstellung und Interpretation dieser Problematik hat vor einigen Jahren Michel Barnes vorgelegt.25 Er konnte zeigen, dass Gregor im Zusammenhang seiner trinitätstheologischen Auseinandersetzungen mit dem Neuarianer Eunomius ein ganz bestimmtes Verständnis von göttlicher Wirkmacht entwickelt. Der Grund dafür liegt in seinem spezifischen Interesse im Rahmen dieser Debatte – gegen Eunomius wollte Gregor zeigen, dass die Zweiheit von Vater und Sohn, von Ungezeugtem und Gezeugtem nicht zu einer substantiellen Verschiedenheit und zu einer kategorialen ontologischen Unterlegenheit des Sohnes führen muss. Ein besonderes Problem entstand ihm daraus, dass Eunomius auf geschickte Weise die biblisch und traditionell fest verankerte Vorstellung vom Sohn als der personifizierten göttlichen Schöpfungsmacht nutzte, um aus dieser Tatsache zu folgern, dass der Sohn vom Vater verursacht und (nach einer philosophisch allgemein anerkannten Regel) als Folge einer Ursache dieser ontologisch unterlegen sein müsse.26 Dagegen argumentiert Gregor nun, indem er permanent auf die unlösbare Zusammengehörigkeit und ontologische Gleichordnung von Wesen und Wirkung verweist. Sowenig wie das Feuer von der Hitze getrennt werden kann, obgleich es doch in gewisser Weise betrachtet zwei verschiedene Dinge sind, so wenig kann der Sohn ontologisch und theologisch vom Vater abgetrennt gedacht werden.27 Die hier angeschnittenen trinitätstheologischen Fragen sind komplex und können an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Worauf es ankommt, ist der allgemeinere Punkt: Gregors These ist die einer unauflösbaren Einheit von Wesen und Wirkmacht. Das eine kann nicht ohne das andere gedacht werden; beide gehören nicht nur empirisch, sondern ontologisch und sozusagen logisch eng zusammen. Wenn wir verstehen und erklären wollen, was ein bestimmtes Wesen ist, dann kann eine solche Erklärung nicht von seiner spezifischen Wirkweise abstrahieren. 24 25

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Gregor von Nyssa, De anima et resurrectione col. 24B–C. Michel Rene Barnes, The Power of God. Dúnamiv in Gregory of Nyssa’s Trinitarian Theology, Catholic University of America Press, Washington DC 2001. Ebd., S. 206–216. Gregor von Nyssa, Contra Eunomium I 415, GNO I, 147, 17–18; vgl. Barnes, S. 276–288.

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Diesen grundsätzlichen Gedanken hat Gregor auch außerhalb seiner Auseinandersetzung mit Eunomius anerkannt; er hat sein Denken tief geprägt, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass er den Gedanken der Einheit von Gottes Wesen und seiner Dynamis nicht nur zur innertrinitarischen Erklärung gebraucht hat, sondern dass er von ihm selbst auch auf die Einheit von Gottes Transzendenz einerseits, seiner Gegenwart in der Welt andererseits bezogen wurde. 5. Die Einheit von Gottes in der Welt immanenten Wirkmacht und seiner transzendenten Natur wird von Gregor in der Schrift Über die Seele als feststehende Tatsache vorausgesetzt, und aus ihr schließt Gregor/Makrina per analogiam auf die Beschaffenheit der Seele in Bezug auf den Körper. Das bedeutet konkret, dass im einen wie im anderen Fall das, was hinter und in den Phänomenen erschlossen wird, von ihnen der Art nach unterschieden sein muss: „So wie wir demnach, auf Grund der unaussprechlichen Weisheit Gottes, die sich im All zeigt, nicht daran zweifeln, dass sich Gottes Natur und seine Wirkmacht (dúnamiv) in allem, was ist, findet und dass dadurch das All im Sein verbleibt, und wir dennoch auf die Frage nach der Definition (lógov) seiner Natur antworten würden, dass das Wesen Gottes vollkommen unterschieden ist von dem, was sich an den einzelnen geschaffenen Dingen zeigt und begriffen wird – genau so, wie in jener Hinsicht [also in der Gottheit] der Unterschied gemäß der Natur zugelassen wird, so ist es auch nicht unwahrscheinlich, dass das Wesen (ou¬sía) der Seele, auch wenn es an sich etwas anderes [als der Körper] ist (wie auch immer ihr Sein bestimmt werden mag), nicht gehindert ist, auf [ihn] hin zu existieren.“28 Gregor setzt an dieser Stelle bereits die Berechtigung der Analogie von Makround Mikrokosmos sowie die Einheit von göttlicher Dynamis und göttlichem Wesen voraus. Dementsprechend gilt: Die Welt verweist in und durch das Zusammenwirken ihrer Einzelteile auf eine ihr transzendente, intelligible Ursache. Die Betrachtung des empirischen Kosmos führt zur Postulierung der providentiellen Gegenwart Gottes in der Welt, bleibt gleichwohl aber nicht bei einem mit dieser Harmonie identischen, immanenten Prinzip, wie etwa der stoischen „Sympathie“,29 stehen, sondern macht es erforderlich, eine ontologisch gesonderte Substanz (ousia) anzunehmen, die vom Sein der geschaffenen Dinge radikal unterschieden ist. In gleicher Weise folgt aus der Beobachtung der organischen Einheit des menschlichen Körpers, dass es eine ihrem Wesen nach immaterielle und in-

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Gregor von Nyssa, De anima et resurrectione, col. 44 B–C. Vgl. dazu etwa: Sextus Empiricus, Adversus mathematicos IX 80 (= Stoicorum Veterum Fragmenta, ed. by Hans von Arnim, Bd. 2, Teubner, Leipzig 1903, Nr. 1013, S. 302, 34–36).

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sofern vom Körper klar unterschiedene Seele geben muss, die jedoch gleichzeitig als immanentes, bewegendes Prinzip den Körper von innen durchdringt. In beiden Fällen behauptet Gregor die Einheit von Wesen und Wirkmacht, von Ousia und Dynamis. Diese soll in analoger Weise sowohl in der Gottheit als auch im leibseelisch verfassten Menschen bestehen. 6. Wir können an diesem Punkt sehen, wie weit Gregor/Makrina von dem gewählten Ausgangspunkt beim sichtbaren, lebenden Körper schon gekommen sind. Der Körper verweist durch seine organische Struktur, durch seine Vitalität und durch seine Fähigkeit zur Verarbeitung von Sinneseindrücken ebenso wie die Welt auf ein in ihnen tätiges Wirkprinzip. Dieses Prinzip ist jedoch im Fall der Welt untrennbar verbunden mit einer diese transzendierenden Wesenheit, Gott. Dieselbe Einheit von Dynamis und Wesen erlaubt es sodann, auch im Fall der Seele von der Realität des organischen Körpers auf eine intelligible Seele zu schließen. Nun könnte man meinen, mit diesem Ergebnis sei Gregor doch wiederum faktisch bei einem Dualismus angelangt, sofern der empirische Ansatzpunkt sogleich überschritten wird auf die Behauptung einer nichtsinnlich erfassbaren, intelligiblen bzw. geistigen Realität. Zu einer solchen Schlussfolgerung könnte, so scheint es, ausgerechnet die Analogie zwischen Mikro- und Makrokosmos beitragen, denn im Fall der Gottheit wird Gregor doch wohl von einer prinzipiellen ontologischen Unabhängigkeit von der Welt ausgegangen sein – Gott kann (und konnte) existieren, auch wenn die Welt nicht existiert; nur unter dieser Voraussetzung kann er als ihr Schöpfer gedacht werden. Jedoch trägt, wie sich zeigen wird, jene Analogie für Gregor nur bis zu einem bestimmten Punkt. Gerade für ihn ist die kategoriale ontologische Unterscheidung diejenige zwischen geschaffenem und ungeschaffenem Sein geworden30, mit erheblichen Konsequenzen auch für seinen Seelenbegriff. Denn diese Unterscheidung erlaubt und erfordert es, so möchte ich zeigen, dass Gregor trotz seinem Insistieren auf einer vom Körper ontologisch unterschiedenen Seele, diese faktisch als exklusiv auf den Körper bezogen und mit ihm verbunden bestimmt. In diesem, im Folgenden zu analysierenden Gedankengang Gregors wird vollends deutlich, wie eng das Wesen der Seele für ihn mit ihrer Dynamis zusammenfällt. 7. Zu diesem Zweck muss hier ein genauerer Blick auf jene Definition31 von der Seele geworfen werden, die Gregor/Makrina an hervorgehobener Stelle im Dialog gibt: 30

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Vgl. Alden A. Mosshammer, The Created and the Uncreated in Gregory of Nyssa, in: Lucas Francisco Mateo-Seco, Juan L Bastero.(Hgg.), El ‘Contra Eunomium I’ en la producción literaria de Gregorio de Nisa, Ediciones Universidad de Navarra, Pamplona 1988, S. 353–379. Anders als Meissner (Rhetorik und Theologie, 216 u. ö.) denke ich nicht, dass dies nur eine „erste“ Definition der Seele ist, der dann in 40A– 41B die eigentlich Bestimmung der ousia

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„Die Seele ist eine gewordene Substanz, eine lebendige, geistige Substanz, die einem organisch strukturierten und mit Sinnesorganen ausgestatteten Körper durch sich selbst die Kraft zum Leben und zur Sinneswahrnehmung verleiht, solange die diese empfangende Natur besteht.32“ Die Definition zerfällt in zwei annähernd symmetrische Teile mit einem kurzen Nachsatz: (1) reicht von „Die Seele“ bis „geistige Substanz“; (2) von „die einem“ bis „verleiht“; (3) von „solange“ bis „besteht“. Dabei ist zunächst einmal deutlich und signifikant, dass in Gregors Definition das Wesen der Seele und ihre auf den Körper bezogene Dynamis parallel zueinander charakterisiert werden. Denn die wesentlichen Propria, die der Seele als einer „gewordenen“ (genetä), also geschaffenen Substanz zugeordnet werden, Lebendigkeit und Geistigkeit, korrespondieren genau den beiden Manifestationen der seelischen Dynamis im menschlichen Körper, dem Leben und der Sinneswahrnehmung. Was heißt das im Einzelnen? a) Zunächst einmal wird die Seele als „lebendig“ (zøsa) bezeichnet. Dies nimmt, wie Henriette Meissner zu Recht angemerkt hat, die Hauptlinie auf, der Gregors Argumentation im Dialog von Anfang an gefolgt war 33: Aus der Anwesenheit von Leben im menschlichen Organismus lässt sich schließen, dass es eine Kraft geben muss, die für diese besondere Form des Seins verantwortlich ist. Gregor/Makrina führt ein dieser Logik entsprechendes Beispiel unmittelbar vor der eben angeführten Definition ein: Die organische Konstitution des Körpers existiert ja auf dieselbe Weise bei denen, die gerade durch den Tod zu Leichnamen geworden sind, aber er ist ohne Bewegung und Handlung, da die Wirkmacht der Seele nicht mehr in ihm ist.34 Die primäre, empirische Evidenz für die Existenz der Seele stammt also aus der beobachtbaren Differenz zwischen dem lebenden und dem toten Körper, ein Zusammenhang, der, daran darf noch einmal erinnert werden, durch den erzählerischen Rahmen des Dialogs, den Gregor mit seiner Schwester auf deren Sterbebett führt, auf den Kontrast von Leben und Tod abgestellt ist. Dieser Kontext ist in Abschnitten wie dem soeben zitierten immer auch mit zu denken. Allerdings meine ich, dass der Grund dafür nicht nur darin zu suchen ist, dass es sich hier im Sinne rhetorischer Hinführung um das am wenigsten strittige Theo-

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33 34

der Seele noch folgt (vgl. Meissner, a. a. O., S. 240–244). Zwar ist es richtig, dass Gregor im Folgenden Einwände gegen die gegebene Bestimmung der Seele aufwirft, die erst später gelöst werden; gleichwohl gibt es im Text keinen Hinweis, dass die ausdrücklich als Definition (lógov tñv fúsewv) eingeführte Formel in col. 29B von eingeschränkter Gültigkeit sein soll. De anima et resurrectione, col. 29B: yucä e¬stin ou¬sía genetä, ou¬sía zøsa, noerá, såmati, o¬rganikøıı kaì ai¬sqhtikøıı dúnamin zwtikæn kaì tøn ai s¬ qhtøn a¬ntilhptikæn di’ e™autæn e¬nieîsa, eçwv a£n ä dektikæ toútwn sunésthkh fúsiv. Meissner, Rhetorik und Theologie, S. 217. Gregor von Nyssa, De anima et resurrectione, col. 29A–B.

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roumenon in Gregors Beweisführung handelt.35 Denn es hatte sich ja gezeigt, dass gerade dieser Schluss sehr wohl angezweifelt werden kann und er deshalb innerhalb des Dialoges eine ausdrückliche und ausführliche Verteidigung erfährt. Vielmehr stellt Gregor die „Lebendigkeit“ der Seele an den Anfang, weil sein eigener Zugang zum Phänomen der Seele über den Weg phänomenorientierter Beobachtung erfolgt. Für ihn selbst erschließt sich die Seele in erster Linie als Lebensprinzip des Körpers – und von diesem Ausgangspunkt her wird dann auch die zweite, natürlich nicht weniger wesentliche Eigenschaft der Seele, ihre Geistigkeit, erschlossen. Aber was genau bedeutet es, dass die Seele „lebendig“ ist? Ganz offenbar ist diese Eigenschaft im Rückschluss von der belebenden Wirkmacht der Seele her gewonnen. Das heißt natürlich nicht, dass die Seele im selben Sinn lebendig wäre wie der Mensch als ganzer. Dann wäre die Erklärung ja tautologisch. Vielmehr ist sie als Ursache von empirisch erfahrbarem Leben ein ontologisch diesem vorrangiges Lebensprinzip. Dieses Lebensprinzip kann man „lebendig“ nennen, muss dann aber dazusagen, dass es nicht im selben Sinn wie ein Organismus lebendig ist. Vielmehr ist es eine paradigmatische Art von Leben (Platoniker drücken dies gern durch den Zusatz „selbst“ oder griechisch au¬tó aus), und aus genau diesem Grund kann es als transzendente Ursache von organischem Leben begriffen werden.36 Diese Identifikation der Seele mit einem Lebensprinzip teilt Gregor in der Tat mit Platonikern;37 gleichwohl muss man sich, wie mir scheint, vor voreiligen Parallelen hüten. Denn der Erklärungswert der Seele (unter anderem) als Lebensprinzip liegt für den Platoniker darin, dass sie in ihrem Wesen so mit dem Lebendigsein identifiziert ist, dass sie nicht nicht lebendig sein kann. Deshalb hat die Seele für Platoniker die Dignität eines ontologischen Prinzips. Das aber ist für Gregor anders. Jegliche ontologische Dignität, die der Seele zukommt, hat sie nur mittelbar, nämlich als Abbild Gottes. Auch Gott kann von Gregor übrigens „lebendig“ genannt werden, im selben Sinn von „Leben spendender Wirkmacht“, aber in seinem Fall (und nur in seinem Fall) bedeutet dies tatsächlich die Postulierung eines ontologischen Prinzips, das in und durch sich selbst die bewirkte Realität voll und ganz erklärt. Die Aussage, dass die Seele eine „gewordene“ Substanz ist, steht deshalb ganz am Anfang ihrer Definition; sie bestimmt alles, was nachfolgt. Die Seele ist von Gott geschaffen, um innerhalb seiner Schöpfung eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen. Diese Aufgabe ist nicht irgendeine, aber sie ist dennoch in ihrer Reichweite begrenzt. Konkret bedeutet dies, dass die Seele als „lebendige“ nicht an und für 35 36

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So wiederum Meissner, ebd. Die an dieser Stelle entstehenden Schwierigkeiten der Selbstprädikation, die seit Platons Parmenides (132a–b) geläufig sind, können hier nicht besprochen werden. Gregor selbst zeigt keine Anzeichen dafür, dass ihm dies Problem vor Augen steht. Vgl. Meissner, Rhetorik und Theologie, S. 218 und die dort Anm. 121 genannten Stellen.

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sich lebendig ist; wäre es anders, so müsste sie zweifellos ewig existieren, was sie aber aus Gregors an der Kirchenlehre orientierter Sicht nicht tut.38 Das bedeutet aber letztlich, dass ihre „Lebendigkeit“ genau darin besteht, dass sie in einer und für eine bestimmte menschliche Person das Lebensprinzip konstituiert. An dieser Aufgabe findet ihr Sein Erfüllung und Begrenzung. Sie besitzt präzise die Natur, die sie benötigt, um diese Aufgabe zu erfüllen; über eine andere erfahren wir nichts. b) Unter dieser Prämisse muss man dann auch Gregors zweite Kennzeichnung der Seele als „geistig“ (noerá) interpretieren. Diese Bezeichnung nimmt zunächst einmal ihre etwas zuvor gegebene Charakterisierung als „immateriell“ (a¢ulov 39) und „unkörperlich“ (a¬såmatov 40) wieder auf. Die Seele ist ihrem Wesen nach, da ist Gregor ganz eindeutig, nicht mit dem Körper, mit Körperlichem oder mit Materiellem identisch; vielmehr steht sie diesem als der Art nach unterschieden gegenüber. Sie ist den Sinnen nicht zugänglich, sondern wird vom Geist auf der Grundlage der sinnlichen Erkenntnis erschlossen. Die Kennzeichnung der Seele als geistig ist zweifellos die klarste Berührung zwischen Gregors Theorie und der platonischen Lehre. Warum ist dies für Gregor so wichtig? Nun, ein Grund liegt auf der Hand – er ist der Ansicht, dass er um die Auferstehung zu begründen die Unsterblichkeit der Seele postulieren muss.41 Um diese zu ermöglichen, muss, so meint er, die Seele als eine Art Ding verstanden werden, das nicht denselben Gesetzen unterworfen ist, die für Körper gelten. Sie existiert also z. B. nicht einfach räumlich und kann daher nach der Auflösung des Körpers in seine einzelnen „Atome“ bei jedem einzelnen bleiben. Überhaupt ist sie einfach, also unzusammengesetzt (a™pløv) – auch diese Eigenschaft wird anstandslos aus der Unkörperlichkeit abgeleitet.42 Gregor ist weiterhin der Ansicht, dass Seele im eigentlichen Sinn die Geistseele ist; an verschiedenen Stellen seines Werkes argumentiert er ausdrücklich, dass nur die vernünftige Seele (noûv) Seele im eigentlichen Sinn des Wortes ist.43 Die für die Philosophen verschiedener Schulen nicht unwichtige Frage, wie es sich mit den Seelen nichtmenschlicher Lebewesen verhält, ist für Gregor unerheblich;44 auf 38 39 40 41

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Vgl. Gregor von Nyssa, De anima et resurrectione, col. 125A–128B. Ebd., col. 29A. Ebd. Vgl. die Exposition des Dialogs, bei dem die Anspielung an die Auferstehungshoffnung in 1. Thess. 4,13 (Gregor von Nyssa, De anima et resurrectione, col. 12B) direkt zur Frage nach der Unsterblichkeit der Seele hingelenkt wird (col. 17A). Gregor von Nyssa, De anima et resurrectione, col. 44C. Vgl. dazu Platon, Phaidon 77d–80c. Gregor von Nyssa, a. a. O., col. 52B. Zu dieser Frage vgl. z. B. Porphyrius, De abstinentia, ed. By August Nauck, in: Porphyrius Philosophy Platonicus. Opuscula Selecta, Teubner, Leipzig 1886 (ND Hildesheim 1977), S. 83–270. Das gesamte Buch Drei ist dem Nachweis der Sungeneia von tierischen und menschlichen Seelen gewidmet. Zusammenfassend: III 26, S. 222,4–7. Für Gregor kann man vergleichen seine Kritik an der Theorie der Metempsychose in de anima et resurrectione coll. 109B–121A; De hominis opificio 28, coll. 229B–232A.

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jeden Fall reflektiert er nicht darüber, was für eine Art Lebensprinzip in Tieren oder Pflanzen vorkommt und ob oder inwiefern dieses ebenfalls ousia ist. Dennoch darf man über solchen Überlegungen nicht den unmittelbaren Kontext übersehen, in dem Gregors Bestimmung der Seele als noerá hier steht. Ebensowenig wie ihre vorangegangene Charakterisierung als „lebendig“ ist die Aussage, die Seele sei intelligibel, losgelöst von Gregors erfahrungsbestimmtem Ansatz. So wie sich aus der Beobachtung des belebten menschlichen Organismus der Schluss auf ein belebendes Prinzip zwingend ergab, so ergibt sich aus seinen geistigen Funktionen die Geistigkeit der Seele. Die Seele ist also eine solche Wesenheit, die als Ursache dieser wie jener Funktionen habhaft gemacht werden kann. Andererseits gilt ebenso wie in der zuvor besprochenen Hinsicht, dass Gregor die charakteristisch platonische Zuspitzung dieser Überlegung gerade nicht mit vollzieht. Aus der Geistigkeit der Seele ergibt sich ihm wohl die Möglichkeit ihrer Permanenz über den Tod hinaus, nicht aber ihre naturhafte Ewigkeit oder Unveränderlichkeit. Denn wiederum gilt, dass weder die menschliche Seele noch (wenn man das denn trennen wollte) der menschliche Geist als solche ein hinreichendes ontologisches Prinzip für die durch sie zu erklärenden Phänomene darstellen. Vielmehr ist die Seele auch als intelligible oder geistige eine geschaffene Wesenheit und bedarf daher fundamental des Rückbezugs auf ihren Schöpfer, um sowohl in ihrem Sein als auch in ihrem Wirken verständlich zu werden. Auch in ihrer Intelligibilität erklärt sie also die Geistigkeit des Menschen nur mittelbar; für eine wirkliche Erklärung muss in jedem Fall auf Gottes Geistigkeit rekurriert werden. Das aber bedeutet weiterhin, dass auch für die Geistigkeit der Seele gilt, was schon für ihre Lebendigkeit gesagt wurde: Aussagen darüber was diese ist und wo ihre Grenzen liegen, können von uns nur mit präzisem Bezug auf den konkreten Menschen getroffen werden, für den sie geschaffen wurde. Das ist die Konsequenz des Ausfalls des für die Platoniker so fundamentalen Überschritts von der empirischen Wirklichkeit auf eine diese unmittelbar begründende ontologische Ebene.45 So wie das organische Leben im Menschen zu seiner Erklärung eines Lebensprinzips bedarf, so muss die Präsenz von Geistigkeit im Menschen durch ein analoges Geistprinzip gedeutet werden; beide aber leisten diese Erklärung nur mittelbar, sofern sie als von Gott für diesen Zweck geschaffene begriffen werden. Das bedeutet aber, dass Gregor im einen wie im anderen Fall die „platonischen“ Eigenschaften der Seele nur insofern beibehält, als sie erforderlich sind, um Vitalität und Geistigkeit des Menschen zu erklären; jegliches Interesse an einer Existenz oder am spezifischen Sein der Seele in Absehung von ihrer Verbindung mit dem Leib fehlt bei ihm. 45

Dabei ist zugestanden, dass dieser Überschritt für die Platoniker der Spätantike durch zunehmend komplexere Zwischenschritte immer weiter strukturiert und mediiert wird. Das ist aber etwas ganz anderes als die von Gregor eingeschobene binäre Distinktion von geschaffen und ungeschaffen, die, wie mir scheint, zu den hier beschriebenen, sehr andersartigen Konsequenzen führt.

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8. Diese Schlussfolgerungen lassen sich meiner Ansicht nach bereits allein auf der Grundlage des bisher besprochenen ersten Teils von Makrinas Definition der Seele rechtfertigen. Schon sie zeigen, wie sehr Gregors klare Bestimmung der Seele als einer geschaffenen Wesenheit dem Dualismus entgegenwirkt, der durch seine Verwendung der Mikrokosmos-Makrokosmos Analogie scheinbar unausweichlich war. Wenn das aber richtig ist, dann rücken sogleich die im ersten Teil des Aufsatzes angestellten Überlegungen über den engen Zusammenhang von Wesen und Wirkmacht bei Gregor wieder in den Vordergrund. Was bedeutet dieser Konnex in einem Fall, in dem ein intelligibles Wesen wohl in seinem Fürsichsein (au¬tæ kaj’ e™autän 46) postuliert wird, sich dieses gleichwohl nur relational und insofern nur in und durch seine Dynamis beschreiben und ausdrücken lässt? Diese Überlegungen lassen sich weiterführen, wenn man den nun noch folgenden Teil der Definition hinzunimmt und so die von Makrina gegebene Wesensbestimmung (lógov tñv fúsewv) der Seele als Ganze betrachtet. Denn in einem zweiten Teil, der, wie schon zuvor bemerkt wurde, in Symmetrie zum ersten Teil konzipiert ist, werden die zunächst eingeführten Propria des Wesens der Seele präzise auf ihre Tätigkeit bezogen. Demnach ist also die Seele eine ousia, „die einem organisch strukturierten und mit Sinnesorganen ausgestatteten Körper durch sich selbst die Kraft zum Leben und zur Sinneswahrnehmung verleiht, solange die diese empfangende Natur besteht“.47 Die Seele „wirkt“ also, indem sie einem ganz bestimmten Körper und seinen Organen ihre Dynamis verleiht. Diese Wirksamkeit hat für Gregor/Makrina zwei wesentliche Aspekte. Auf der einen Seite erfüllt die Seele den Körper mit Leben. Sie ist demnach verantwortlich für die Ausführung der allgemeinen Körperfunktionen; wir dürfen annehmen, dass hier an Dinge wie Blutkreislauf, Atmung, Verdauung, aber auch an die Funktion von Muskeln und Nerven gedacht ist, weiterhin an die dadurch ermöglichte Befähigung zur Bewegung, an Wachstum, Ernährung und so fort. Der zweite Aspekt ist die Sinneswahrnehmung. Die Sinne sind für Gregor keine rein biologisch-organischen Funktionen des Körpers; vielmehr zitiert er mit Zustimmung einen Vers des Komödiendichters Epicharmus, nach dem es der Geist ist, der sieht und hört.48 Sofern die Sinnesorgane aus Gregors Sicht Instrumente zu unserem Verständnis der Welt sind, sind sie selbst in ihrem elementaren Wirken nicht ohne Verstand zu erklären. Dass, was wir als Sehen, Hören, ja selbst als Fühlen bezeichnen, ist immer schon integriert in unsere vernunftgeleitete Erschließung der Welt.

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Gregor von Nyssa, a. a. O., col. 28B. Gregor von Nyssa, De anima et resurrectione, col. 29B. Ebd., col. 32A. Vgl. Hermann Diels, Walther Kranz (Hgg.), Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch, Bd. 3, Weidmann, Berlin 1951/52 (ND 2004/05), Nr. 23 B12.

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9. Es ist, wie mir scheint, von grundsätzlicher Bedeutung für das Verständnis der von Gregor hier entwickelten Gedanken, dass die beiden Arten, in denen die Dynamis der Seele in einem auf sie abgestimmten und für sie geeigneten Organismus wirkt, mit den beiden Propria korrespondieren, die der Natur der Seele zuvor beigegeben worden waren. Der Lebendigkeit der Seele entspricht ihre einen bestimmten Körper belebende Wirkmacht. In gleicher Weise wird ihrer wesenhaften Geistigkeit die Ausübung der Sinneswahrnehmung zur Seite gestellt. Das unterstreicht die wechselseitige Bezogenheit beider. Es geht nicht darum, die Seele auf ihre Funktion zu reduzieren (denn es war ja gerade Gregors Argument gewesen, dass man sie als ontologisch separate Größe braucht, um das „Funktionieren“ des Organismus zu verstehen), aber es ist doch erheblich, dass Gregors definierende Beschreibung der Natur der Seele nur in Begriffen erfolgt, die in abgeleiteter Form gleichzeitig ihre Wirkung auf den von ihr belebten Körper charakterisieren. Denn die hierin zum Ausdruck gebrachte Äquivalenz berührt sich doch genau mit dem, was an früherer Stelle mit Blick auf Gregors allgemeine Denkvoraussetzungen als die von ihm vertretene Zusammengehörigkeit von Wesen und Dynamis bezeichnet worden ist. Nach dieser Grundeinsicht kann eines nie ohne das andere gedacht werden. Die Ousia zu beschreiben oder von der Wirkmacht zu reden, das ist im Grunde ein und dasselbe. Wenn daher die Wirkmacht der Seele darin besteht, einen entsprechend ausgestatteten Körper zu beleben und in diesem die Sinneswahrnehmung zu ermöglichen, dann ist etwas eine Seele, genau dann, wenn es dies und nichts anderes tut. Genau so wird meines Erachtens auch die symmetrische Zweistämmigkeit der Definition verständlich; die beiden Teile sind nicht redundant, sondern sie beschreiben einerseits das, was die Seele ist, andererseits das, was sie tut – beides aber ist irreduzibel aufeinander bezogen; eins ist nicht ohne das andere denkbar. Zu sagen, dass die ousia der Seele lebendig ist, bedeutet letztlich nichts anderes als zu sagen, dass sie dem Körper eine Lebenskraft verleiht; umgekehrt freilich gilt ebenso, dass die sichtbare Anwesenheit der Lebenskraft sicheres Anzeichen für die Präsenz einer entsprechenden Wesenheit ist. Dasselbe gilt für die Geistigkeit: der Intelligibilität der Seele entspricht präzise die Aussage, dass sie im Körper die Fähigkeit zur Sinneswahrnehmung bewirkt, so wie auch in diesem Fall umgekehrt aus der Wirklichkeit der sinnlichen Wahrnehmung auf die Anwesenheit einer Seele geschlussfolgert werden kann. Macht man sich das klar, dann sind die Folgen für das Verhältnis der Seele zum Körper immens. Die Seele braucht den Körper im Grunde genau so sehr, wie der Körper umgekehrt die Seele braucht. Beide verhalten sich zueinander komplementär: der Körper wird zu einem solchen streng genommen erst durch Anwesenheit der Seele; über sie selbst aber kann ohne Bezug auf den Körper weder substanziell noch funktional etwas gesagt werden. Beide zusammen, Körper und Seele konstituieren den Menschen; es scheint – auch wenn Gregor das nicht immer eindeutig ausdrückt –, dass Letzterer das letztlich entscheidende Subjekt seiner Anthropologie ist.

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10. Wenn das so ist, sollte diese Auffassung, so würde man meinen, Auswirkungen auf Gregors Verständnis des Todes haben. Was bedeutet es für die Interpretation des Todes, wenn Seele und Leib derart eng aufeinander bezogen sind? Gregor ist, so viel scheint klar, auf die Verteidigung der Unsterblichkeit der Seele festgelegt, weil diese für ihn die Voraussetzung zu sein scheint, unter der die biblisch verbürgte Auferstehung der Toten überhaupt nur gedacht werden kann. Wie aber verträgt sich dies mit den bis hierher angestellten Überlegungen? Der letzte Teil von Makrinas/Gregors Definition scheint sich nun, so wurde bereits gesagt, auf den Tod zu beziehen. Er ist allerdings nicht ganz leicht zu verstehen. Die Seele teilt dem Körper ihre diversen Wirkkräfte mit, da heißt es, „solange die diese empfangende Natur besteht“. Wie auch immer genau das gemeint ist, klar ist jedenfalls, dass Gregors Art, Seele und Leib komplementär aufeinander zu beziehen, ihn wegführen von der konventionellen Sichtweise auf den Tod als die Trennung von Leib und Seele (die Gregor selbst an vielen Stellen sich zu Eigen macht 49). Nach allem, was schon gesagt worden ist, kann das nicht weiter verwundern, da eine „Trennung“ von Leib und Seele einen Dualismus voraussetzen würde, der Gregors Seelenverständnis in Über die Seele nicht entspricht. Die Schwierigkeit der Interpretation besteht darin, dass die nahe liegende Annahme (die ich hier auch vertreten werde), dass die „empfangende Natur“ nichts anderes als der Körper ist, der die Seelenkräfte aufnimmt, Gregor eine ausgesprochen umständliche, wenn nicht ungeschickte Formulierung unterstellen muss, sofern er im selben Satz dieselbe Realität, nämlich den organischen menschlichen Leib, mit zwei verschiedenen Begriffen bezeichnet (søma, fúsiv). Gregor macht es also zum mindesten seinen Lesern schwer, aber das wäre kaum das einzige Mal. Wenn der Text so zu verstehen ist, dann wäre der Tod fundamental die Desintegration des Leibes – und bezogen auf die Seele das Aufhören der ihr eigenen Wirkmacht in ihm. Gregor aber sagt wohlgemerkt nichts von der Art, als sei die Seele in diesem Prozess besonders aktiv; im Gegenteil erscheint sie hier beinahe nur passiv. Sie hört auf, ihre eigentümliche Kraft zu entfalten, wenn die „empfangende Natur“ nicht mehr besteht. Ihr bleibt also gewissermaßen keine Möglichkeit mehr, das zu tun, was doch in ihrer Natur liegt: Lebendig zu machen und über die Sinne eine Interaktion mit der Umwelt zu ermöglichen. Dem entspricht weitgehend auch das, was Gregor zum Schicksal der Seele nach dem Tod zu sagen hat. Zunächst ist so ziemlich das einzige, worin er sich wirklich sicher zu sein scheint, dies, dass nach dem Tod der Körper sich in seine Einzelteile auflöst. Diese kehren dann an die dem jeweiligen Element naturgemäßen Orte zurück.50 Über die Seele hingegen „wissen“ Makrina und Gregor erst einmal

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Vgl. die oben Anm. 7 genannten Stellen. Gregor von Nyssa, De anima et resurrectione col. 44C.

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nichts; nüchtern konstatiert wird man sagen müssen, dass aus der Gedankenentwicklung im Dialog jedes andere Ergebnis auch hätte überraschen müssen. Denn die komplementär auf den Körper bezogene Definition der Seele, die oben im Detail analysiert worden ist, erlaubt es wohl zu postulieren, dass die Seele von der Auflösung der materiellen Elemente des Körpers nicht betroffen ist, über dieses negative Ergebnis hinaus jedoch lässt sie keine Schlussfolgerungen zu. Die von Makrina/Gregor spekulativ vorgetragene These, die Seele verbleibe auch im dekompostierten Zustand mit den Atomen des Körpers verbunden, was ihr auf Grund ihrer Unkörperlichkeit möglich sei,51 ist insofern bei aller Gezwungenheit 52 doch ein echtes Indiz für das Empfinden des Autors, dass seine eigene Theorie eine vom Körper unabhängige Existenzform für die Seele ausschließt. Dass diese Zwischenexistenz der Seele in irgendeiner Form Anlass zu Trost und Hoffnung angesichts des Todes geben könnte, behauptet Makrina zwar,53 überzeugend ist es kaum. Denn für eine Seele, deren Aufgaben sich auf einen funktionsfähigen Leib beziehen, kann die „Begleitung“ eines in seine Einzelteile zersetzten Körpers nur der Grenzfall von Existenz sein. Vielmehr richtet sich die Hoffnung im Rahmen von Gregors Argumentationsgang zweifellos und eindeutig auf das Versprechen der leiblichen Auferstehung, auch dies in voller Übereinstimmung mit der entwickelten Sicht auf die Komplementarität von Leib und Seele. 11. An diesem Punkt lässt sich zusammenfassend so viel sagen: In seiner Schrift De anima et resurrectione profiliert Gregor den Begriff der Seele in einer Weise, die Wesen und Dynamis komplementär denkt. Wenn wir über das sprechen, was die Seele ist, beziehen wir uns von vornherein auf das, was sie – im und durch den Körper – tut. Umgekehrt muss man freilich auch sagen, dass jede Beschreibung der Tätigkeiten der Seele unverstanden bliebe, würde sie nicht auf ihr Ansichsein zurückbezogen. Insofern darf man die Aussage, die Seele sei Dynamis nicht so verstehen, dass Gregor einen Substanzbegriff durch einen Funktionsbegriff ersetzen wollte (um Ernst Cassirers berühmte Formulierung zu gebrauchen). Diese originelle und nicht durchweg kohärent vorgetragene Theorie speist sich aus mehreren Grundüberlegungen, deren Verhältnis zueinander nicht überall klar herausgearbeitet werden kann.

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53

Ebd., col. 44C– 45A; 73B–76B. Wie sich gezeigt hatte, war die Pointe der Seelendefinition im Dialog nicht zuletzt die Bindung der Seele an den für ihre Wirksamkeit disponierten Leib gewesen. Dessen Desintegration ist der Tod. Was bedeutet es dann, wenn Makrina nun argumentiert, die Seele könne genauso gut mit den einzelnen Atomen verbunden bleiben wie zuvor mit dem organischen Leib? Im Interesse der Eschatologie nimmt Makrina/Gregor viele zuvor entwickelte anthropologische Einsichten umstandslos wieder zurück. Ebd., col. 48C.

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Zum einen (1) folgt Gregor epistemisch einem an der Empirie orientierten Ansatz. Sein Ausgangspunkt sind sinnliche Beobachtungen; spekulative Theorien sind im Rückschluss aus diesen gewonnen. Sofern er Wesen und Eigenschaften der Seele primär auf diesem Weg gewinnt, legt sich deren Zusammenhang mit ihren organischen Funktionen aus ihrer Erkenntnis nahe. Weiterhin (2) gehört es zu Gregors Grundüberzeugungen, dass Wesen und Wirkmacht eng und unauflöslich zusammengehören. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass diese Einsicht mit Gregors Präferenz für einen erfahrungsgeleiteten Erkenntnisbegriff korreliert, allerdings gibt es meines Wissens bislang hierzu keine Forschungen. Auch gerade Gregors begrenzter Gebrauch der Mikrokosmos-Makrokosmos Analogie macht deutlich (3), wie entscheidend die ontologischen Konsequenzen seiner Dichotomie von ungeschaffenem und geschaffenem Sein letztlich sind. Denn sofern alle ontologischen Attribute der Seele letztlich ihrer Geschaffenheit untergeordnet sind, ist es für Gregor (anders als im Platonismus) nicht streng erforderlich, die dynamischen Wirkweisen der Seele auf ihr permanent zukommende Eigenschaften rückzubeziehen, da die letztgültige Gewähr für ihr tatsächliches Funktionieren in Gottes eigener Vollkommenheit liegt. Schließlich (4) erlaubt die Annäherung des Wesens der Seele an ihre Dynamis Gregor eine – bei aller Gezwungenheit bestimmter Argumente – insgesamt doch beachtliche Neuausrichtung der Seelenlehre unter Einbeziehung spezifisch christlicher Ideen, nicht zuletzt der Ablehnung der Präexistenz der Seele und der Verteidigung der leiblichen Auferstehung. Diese Ideen sind, folgt man der hier vorgelegten Rekonstruktion, deutlich tiefer in die Struktur von Gregors Traktat eingezeichnet als es oft scheint. Denn Gregor hat offenbar wohl erkannt, dass bei allen Schwierigkeiten im Detail der christliche Grundimpuls, den es zu bewahren gilt, die eindeutige Bezogenheit der Seele auf den einen Leib der einen Person ist und dass deshalb bei allem Interesse an einer Begründung des individuellen Überlebens über den physischen Tod hinaus der Seele zu keinem Zeitpunkt ihrer Existenz ein wirkliches Eigenleben zugeschrieben werden darf, will man jenen Grundimpuls nicht gefährden oder preisgeben. Diese Schlussfolgerung widerspricht der konventionellen Sicht Gregors als eines Theologen, der insbesondere in seiner Seelenlehre weitgehend Platoniker war. Dass sie nicht abwegig ist, ließe sich jedoch auch über das in diesem Vortrag verwendete Material hinaus demonstrieren. Zu einer umfassenden Darstellung würde eine Diskussion von Gregors Erklärung vom Anfang des menschlichen Lebens gehören, in der er auf die Entwicklung der leib-seelischen Einheit aus dem Samen das dynamische Evolutionsprinzip anwendet, mit dem er auch die Ausfaltung der Welt aus ihren Keimkräften erklärt.54 Eine Einbeziehung dieser Theo-

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Vgl. z. B. Gregor von Nyssa, De opificio hominis 29, col. 236B–D.

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rien würde, so meine ich, nicht nur die hier vertretene These erhärten, dass Gregor in einer Reihe seiner Schriften den Seelenbegriff nahe an die Konzeption von Wirkungskraft (dynamis) heranrückt, sondern sie würde darüber hinaus zeigen, dass Gregors Verständnis von der Seele auch in einem uns geläufigeren Sinn „dynamisch“ ist, nämlich im Sinne einer Wesenheit, die aus einer keimhaft angelegten Perfektion im Zuge einer Abfolge von evolutionären Schritten sich zu ihrer voll ausgeprägten Wirklichkeit entwickelt.

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Josef Rist

Krisenerfahrung in der Zeit der Völkerwanderung: Paulinus von Pella und sein Lebensbericht (Eucharisticos Deo sub ephemeridis meae textu)

Der unter dem Titel Eucharisticos Deo sub ephemeridis meae textu bekannte Lebensbericht des an der Wende vom vierten zum fünften nachchristlichen Jahrhundert in Gallien lebenden Aristokraten Paulinus von Pella zählt zu jenen Texten der Spätantike, die erst in jüngerer Zeit in der Forschung verstärkt Beachtung gefunden haben.1 Dies mag nicht zuletzt den negativen Bewertungen bezüglich der literarischen Qualität der Schrift geschuldet sein, die sich in nicht wenigen Standardwerken finden. So spricht Erich Klostermann in der 1913 in sechster Auflage erschienenen Teuffelschen Geschichte der römischen Literatur von einer „formell ziemlich sorglosen, aber stofflich höchst anziehenden Selbstschilderung in der Form eines Dankgebetes“ 2. Noch pointierter stellt Georg Misch im ersten Band seiner ausführlichen Geschichte der Autobiographie fest: „Ohne jede Größe und Leidenschaft, hat die Erscheinung des Paulinus in dieser Zeit der Völkerwanderung doch etwas ungewöhnlich Anziehendes.“3 Dieses ungewöhnlich Anziehende besteht im Lebensbericht eines alten Mannes – Paulinus steht im 83. Lebensjahr, als er seinen Eucharisticos schreibt –, der in den Wirren der Völkerwanderung vor 1

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Jüngere Veröffentlichungen mit ausführlichen Literaturverweisen: Altay Cos¸kun, The Eucharisticos of Paulinus Pellaeus. Towards a Re-Appraisal of the Worldly Convert’s Life and Autobiography, „Vigiliae Christianae“ Vol. 60 (2006) S. 285–315; Dorothea Weber, Concessa tnihi tempera recensendo: Zum Eucharisticus des Paulinus von Pella, in: Victoria Panagl (Hg.), Dulce melos: la poesia tardoantica e medievale. Atti del III Convegno internazionale di studi, Vienna 15–18 novembre 2004, Edizioni dell’Orso, Alessandria 2007, p. 195–210; Josiah Osgood, The Education of Paulinus of Pella: Learning in the Late Empire, in: Scott McGill, Cristiana Sogno, Edward Watts (Hgg.), From the Tetrarchs to the Theodosians: Later Roman history and culture 284– 450 CE, Cambridge University Press, Cambridge 2010, p. 135–152. Kroll, Wilhelm, Skutsch, Franz, W. S. Teuffels Geschichte der römischen Literatur. Bd. III., Verlag B. G. Teubner, Berlin 1913, S. 464. Ebenso äußert sich Gustav Krüger zur Schrift, „die, als Kunstwerk unbedeutend, um ihres Gegenstandes willen einen einzigartigen Platz unter den altchristlichen Dichtwerken einnimmt.“ (Martin Schanz et al., Geschichte der römischen Literatur: Die Literatur des 5. und 6. Jahrhunderts, Verlag Beck, München 1920 [HdA VIII, 4, 2], S. 374). Georg Misch, Geschichte der Autobiographie, Bd 1, Verlag G. Schulte-Blumke, Frankfurt am Main 1974, S. 684.

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den Ruinen seiner Existenz steht und dennoch im wahrsten Sinne des Wortes nicht an Gott und der Welt verzweifelt. Paulinus sucht vielmehr nach Erklärungen und Trost für sein ungewöhnliches Schicksal. Vor diesem Hintergrund dokumentieren die Schrift des Paulinus und die in ihr niedergelegte Form der Bewältigung einer existentiellen Lebenskrise einen beachtenswerten Diskussionsbeitrag zum Thema Patristik und Resilenz.

1) Der Kontext: Die Epoche der sogenannten Völkerwanderung Nimmt man einen neueren Geschichtsatlas – zum Beispiel den 2006 in 103. Auflage erschienenen Putzger Historischen Weltatlas – zur Hand und schlägt die entsprechende Karte zur Zeit der Völkerwanderung auf, so bietet sich einem zumeist ein verwirrendes Bild. Einem modernen Gemälde vergleichbar verlaufen kreuz und quer durch Europa Pfeile verschiedenster Farbe. Sie sind mit den Namen der verschiedenen wandernden Völker versehen und transportieren eine bestimmte Vorstellung vom Geschehen: Große geschlossene freie germanische Völkerschaften durchziehen Europa, erobern neues Gebiet, werden selbst wieder vertrieben und siedeln sich später anderswo wieder an.4 Der freundliche deutsche Eigenbegriff Völkerwanderung unterstützt dieses im 19. und frühen 20. Jahrhundert national überhöhte positive Bild der sogenannten Völkerwanderung. Der romanische Sprachraum – Franzosen und Italiener – teilte hingegen stets die negative römische Sicht des Geschehens und spricht deshalb folgerichtig von invasions barbares bzw. invasioni barbariche, also Invasion der Barbaren.5 Die wissenschaftliche Bewertung der Vorgänge hat sich in den letzten Jahrzehnten merklich verschoben. Spätestens seit den 60er Jahren des vorherigen Jahrhunderts ist die einseitige auf das völkische Element gerichtete Sicht nicht mehr haltbar. In seiner 1961 erschienenen Habilitationsschrift weist Reinhard Wenskus nach, dass nicht geschlossene Völker, sondern kleine, die Herkunftsmythen und Lebensordnung tragende Gruppen, sogenannte Traditionskerne, der Ausgangspunkt eines größeren Verbandes – eben der germanischen Völker – sind. Von den kleinen Gruppen übernehmen die Großverbände Name und Identität. Diese bilden ihrerseits die Grundlage der späteren germanischen Staaten.6 4

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Vgl. Rudolf Berg et al. (Hgg.), Putzger Historischer Weltatlas. 103. Auflage, Cornelsen, Berlin 2006, S. 56, Karte I. Vgl. Walter Pohl, Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration, Kohlhammer, Stuttgart 2005, S. 23–30. Grundlegend: Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung: Das Werden der frühmittelalterlichen gentes, 2. unveränderte Auflage, Böhlau, Köln/Wien 1977. Zusammenfassung bei Pohl, Völkerwanderung, S. 16–18.

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Welche Faktoren letztendlich für den Untergang des Weströmischen Reiches verantwortlich sind, wird seit langem kontrovers diskutiert. Der Theorien gibt es viele, und je länger sich die historische Forschung mit dem Problem beschäftigte, desto zahlreicher wurden sie. Die Herleitungen sind mehr oder minder plausibel und können, in sechs größere thematische Blöcke gegliedert, ausführlich in Alexander Demandts Standardwerk über den Fall Rom nachgelesen werden.7 Unbestritten – und jüngst von Peter Heather in seiner Monographie über den Untergang Roms erneut hervorgehoben – bleibt allerdings, dass das Vordringen der Hunnen nach Südosteuropa um 375 und die damit ausgelöste germanische Wanderlawine einen entscheidenden Beitrag zum späteren Untergang des Weströmischen Reiches geleistet hat.8 In der Folge entwickeln sich schnell im Westen unübersichtliche und kurzlebige politische Verhältnisse. Sie sind eng verbunden mit dem 408 ermordeten Heermeister Stilicho und seinem Kollegen Aëtius, der 451 auf den Katalaunischen Feldern den Hunnenkönig Attila zum Rückzug zwingt.9 Das Eindringen der Barbaren in das Römische Reich führt zu vielen Konflikten mit einer großen Zahl an Todesopfern und zwar sowohl unter der einheimischen Bevölkerung als auch den Zuwanderern. Dabei sind meist nicht die Kämpfer die Hauptleidtragenden der Konflikte, sondern wie so oft in der Geschichte der Menschheit die Zivilbevölkerung.10 Paulinus von Pella verbringt den größten Teil seines Lebens in Gallien, wo er auch seinen Lebensbericht niederschreibt. Die Katastrophe für diese reiche römischen Provinz beginnt an Silvester des Jahres 406.11 Ursprünglich an der mittleren

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Vgl. Alexander Demandt, Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachwelt, Beck, München 1984. Zur Bewertung des Vorgangs bei den frühen syrischen Geschichtsschreibern vgl. Andreas Goltz, Das Ende des Weströmischen Reiches in der frühbyzantinischen syrischen Historiographie, in: Andreas Goltz et al. (Hgg.), Jenseits der Grenzen. Beiträge zur spätantiken und frühmittelalterlichen Geschichtsschreibung (Millennium-Studien 25), Walter de Gruyter, Berlin/New York 2009, S. 169–198. Verweise auf neuere Literatur: Ebd. S. 169 f. Anm. 1 f. Jüngste Gesamtdarstellung: Peter Heather, Invasion der Barbaren. Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus, Klett-Cotta, Stuttgart 2011. Vgl. Peter Heather, Der Untergang des Römischen Weltreichs, Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, Reinbek bei Hamburg 2010. Ausführliche Besprechung der Originalausgabe: Udo Hartmann: Rezension zu: Peter Heather: The fall of the Roman Empire, London et al. 2006, in: H-Soz-uKult, 09.07.2007, . Zu Aëtius und seiner Zeit vgl. Timo Stickler, Aëtius. Gestaltungsspielräume eines Heermeisters im ausgehenden Weströmischen Reich, Beck, München 2002 (Vestigia 54). Als Überblick zu den Hunnen nützlich: Idem, Die Hunnen, Beck, München 2007. Diesen Aspekt betont Brian Ward-Perkins, Der Untergang des Römischen Reiches und das Ende der Zivilisation, Theiss, Darmstadt 2007, S. 25–35. Angesichts der dürftigen Quellenlage sind unmittelbare Vorgeschichte und Datierung des Rheinübergangs in der Forschung umstritten. Unsere Darstellung der Invasion folgt Heather, Untergang, S. 228–250.

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Donau ansässig, überschreiten an diesem Tag rund 15–20 000 germanische Krieger den Rhein bei Mainz. Die Scharen der Vandalen, Alanen und Sueben treffen auf ein von römischen Truppen fast entleertes Gebiet. So können sie fast zwei Jahre Gallien plündern ohne auf größeren Widerstand zu stoßen. Der Weg, den die Invasoren nehmen, lässt sich aus verschiedenen literarischen Quellen, darunter auch Paulinus von Pella, gut rekonstruieren.12 Als der größte Teil der germanischen Eindringlinge schließlich 409 auf die iberische Halbinsel weiterzieht, hinterlassen sie eine traumatisierte Bevölkerung. Ihnen folgen wenig später weitere Germanen, zunächst die Westgoten und 443 die Burgunder, so dass schließlich nur noch ein kümmerlicher Rest römisch beherrschten Territoriums verbleibt.13 In der Folge erhalten die Westgoten unter ihrem König Athaulf Siedlungsplätze in Südgallien. Das von ihnen primär landwirtschaftlich genutzte Gebiet erstreckt sich von den Pyrenäen bis zur Mündung der Loire, wobei das Kerngebiet zwischen Tolosa (Toulouse) und Burdigala (Bordeaux) liegt. Mit großem Prunk heiratet im Jahr 414 in Narbo Athaulf Galla Placidia, die Schwester des weströmischen Kaisers Honorius. Um Druck auf den Kaiser auszuüben und seine Bedingungen durchzusetzen, erhebt er den römischen Senator Attalus zum Gegenkaiser. Nachdem die Goten 415 Burdigala geplündert haben und die Stadt Vasates (Bazas) dank der Diplomatie des Paulinus an die Alanen übergeben haben, machen sie sich auf den Weg nach Spanien. Doch bereits ab 418 gründen sie mit dem Tolosanischen Reich ein eigenes Königreich in Südfrankreich.14 Angesichts dieser Vorgänge sehen nicht wenige Zeitgenossen in Gallien das Ende der Welt unmittelbar bevorstehen. In prägnanter Weise fasst der greise Bischof Orientius der südgallischen Stadt Augusta Ausciorum (Ausch in der Gascogne), der um 440 stirbt, diese Stimmung zusammen, wenn er schreibt: „Müde erwartet alles das greisenhafte Ende der Welt, und schon läuft am letzten Tag die Zeit ab. Siehe, wie rasch der Tod die ganze Welt bezwungen und welch starke Völker die Wucht des Krieges zu Boden geworfen hat! Nicht dichter Wald, nicht die Unwirtlichkeit eines hohen Gebirges, nicht die reißenden Strudel mächtiger Flüsse, nicht feste Burgen, nicht Städte im Schutze ihrer Mauern, nicht das weglose Meer, nicht die Öde der Wildnis, nicht Höhlen und auch nicht Grotten in der Tiefe finsterer Schluchten

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Karte: Heather, Untergang, S. 245, Abbildung 8. Zu den Goten vgl. Herwig Wolfram, Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts, Beck, München 2009, S. 168–177. Zu den Burgundern vgl. Reinhold Kaiser, Die Burgunder, Kohlhammer, Stuttgart 2004. Zum Tolosianischen Reich vgl. Wolfram, Goten, S. 178–248. Eine Zusammenfassung der Vorgänge bei Joseph Vogt, Der Lebensbericht des Paulinus von Pella, in: Werner Eck et al. (Hgg.), Festschrift Friedrich Vittinghoff, Böhlau (Kölner Historische Abhandlungen 28), Köln/Wien 1980, S. 528 f.

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waren imstand [sic!], die barbarischen Horden zu hintergehen […] Ganz Gallien rauchte als einziger Scheiterhaufen. Doch was soll ich den Leichenzug der hinsinkenden Welt beschreiben, der ohne Unterbrechung seine gewohnte Bahn zieht?“15

2) Die Biographie des Paulinus 16 Als Paulinus seinen Lebensbericht im Frühjahr 460 niederschreibt, befindet er sich nach eigener Auskunft bereits im 83. Lebensjahr und kann in besonderer Weise auf ein erlebnisreiches Leben zurückblicken. Geboren ist Paulinus nach neueren Untersuchungen wohl im August des Jahres 377, zu einer Zeit, als sein Vater Thalassius als Präfekt in Makedonien tätig ist.17 Später – Paulinus ist nach eigenen Worten gerade einmal neun Monate alt (Paul. Pell. Euch. 24–34) 18 – übernimmt Thalassius den Posten eines Prokonsuls in der Provinz Africa mit Dienstsitz in Karthago. Auch dort bleibt die Familie nur kurze Zeit. Bereits nach 18 Monaten siedelt sie mit Paulinus, der noch keine drei Jahre alt ist, nach Gallien über und lässt sich in Burdigala (Bordeaux) nieder. Paulinus stammt aus einer der angesehensten Adelsfamilien Aquitaniens. Sein Großvater ist der als Literat bis heute bekannte und geschätzte Decimus Magnus Ausonius, der im Jahr 379 das Konsulat innehat und in diesem Jahr seine Heimatstadt Burdigala besucht. Bei dieser Gelegenheit begegnet der Großvater auch dem dreijährigen Enkel (Paul. Pell. Euch. 48 f.).19 Geboren ist Paulinus, wie es sein Beiname aussagt, im makedonischen Pella, wo sich die Familie, wie erwähnt, wegen der beruflichen Tätigkeit des Vaters zeitweise aufhält. Der Stammsitz der Familie – Paulinus spricht von „patria maiorum et ipsa meorum“ (Paul. Pell. Euch. 332) – liegt in der kleinen, rund 60 Kilometer süd-

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Orientius Commonitorium II, 163–172, 183–186 (CSEL 16, 234 Ellis). Übersetzung nach: Joseph Fischer, Die Völkerwanderung im Urteil der zeitgenössischen kirchlichen Schriftsteller Galliens unter Einbeziehung des heiligen Augustinus, Verlag Kemper, Heidelberg-Waibstadt 1948, S. 112 f. Zu Person und Werk des Orientius vgl. Martin Schanz, Carl Hosius, Gustav Krüger, Geschichte der römischen Literatur: Die Literatur des 5. und 6. Jahrhunderts (HdA VIII, 4, 2), Verlag Beck, München 1920, S. 365–367. Zur Person, insbesondere zu Fragen der Chronologie, vgl. Altay Cos¸kun, Chronology in the Eucharisticos of Paulinus Pellaeus. A Reassessment, „Mnemosyne“ Vol. 55 (2002) S. 329–344. Vgl. auch: Rudolf Helm, Artikel Paulinus von Pella in: RE XVIII/4 (1949), Sp. 2351–2359. Vgl. Cos¸kun, Chronology, p. 343 f. Der Eucharisticos wird nach der zweisprachigen Ausgabe von Vogt (Vogt, Lebensbericht) zitiert. Vogt folgt der Edition von Claude Moussy (Moussy, Claude, Paulin de Pella: Poème d’action de grâces et Prière, Les Éditions du Cerf, Paris 1974 [SC 209]). Vgl. Helm, Paulinus, Sp. 2352 f.

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östlich von Bordeaux in der Gascogne gelegenen südwestgallischen Stadt Vasates (Bazas). Aus dieser Stadt stammte bereits der Vater des Ausonius, Julius. In seinem Lebensbericht unterscheidet Paulinus aus der Retrospektive heraus vier Phasen seiner Biographie.20 Zunächst erhält er eine sorgfältige, insbesondere durch die Dienerschaft griechisch geprägte Erziehung. Bereits vor Vollendung des 5. Lebensjahres lernt er zu schreiben und wird so auf den Besuch beim Elementarlehrer vorbereitet. Paulinus muss aber – wie er selbst später offenherzig bekennt (Paul. Pell. 72–84; 113–140) – bereits vor dem 15. Lebensjahr die weitere akademische Ausbildung aufgeben, nachdem er, vielleicht auch aufgrund der Überforderung durch den Lernstoff, insbesondere die zweisprachige Ausbildung in Griechisch und Latein, über mehrere Tage hinweg ernsthaft erkrankt.21 Ab diesem Zeitpunkt halten sowohl die Ärzte als auch die Eltern die Pflege der Gesundheit des Jugendlichen für wichtiger als den weiteren Unterricht (Paul. Pell. Euch. 124). Der jugendliche Paulinus widmet sich zukünftig vorwiegend Spielen und anderen Zerstreuungen. Die Länge der Schilderung des Missgeschicks der Krankheit und ihrer Folgen zeigt das bis ins hohe Alter anhaltende Bedauern, letztlich keine höhere akademische Bildung zu besitzen und damit letztlich die hohen Ansprüche der ambitionierten Familie zu enttäuschen.22 Für den weiteren Lebensweg bleibt Paulinus eine bis ins hohe Alter ausgeprägte Unlust zum Lesen zurück (Paul. Pell. Euch. 136 f.). Die ihm bewussten Defizite seines Eucharisticos führt der Verfasser ebenfalls freimütig auf diese frühen negativen Prägungen zurück (Paul. Pell. Euch. 85 f.). Schließlich heiratet Paulinus, dem Wunsch der Eltern entsprechend, in eine wohlsituierte Familie ein. Die nächste Phase seines Lebens, die Jahre bis zum verheerenden Germaneneinfall in Gallien, beschreibt Paulinus als ein Leben in Luxus, das aber gleichzeitig mit Arbeit gefüllt ist. Nicht ohne Stolz beschreibt er im Eucharisticos das vornehme Leben in seiner ländlichen Villa. Die dortigen luxuriösen Wohnverhältnisse beschreibt er im Eucharisticos nur kurz: So besitzt er „[…] ein gefälliges Haus mit weiten Räumen, in den verschiedenen Jahreszeiten immer passend; ein reicher, prangender Tisch; viele junge Diener; mannigfach Möbel zu verschiedenem Gebrauch; Silbergeschirr, das mehr durch den Wert als durch Gewicht hervorragt; Handwerker verschiedener Profession, die schnell einen Auftrag erfüllen; Ställe,

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Vgl. Emanuela Colombi, Rusticitas e vita in villa nella Gallia tardoantica: Tra realtà e letteratura, „Athenaeum“ Vol. 84 (1996) S. 405– 431, besonders 413. Es handelt sich um ein schweres, viertägiges Fieber (Paul. Pell. Euch. 119). Vogt identifiziert die Krankheit als Malaria. Vgl. Vogt, Lebensbericht, S. 572, Anm. 9. Die Interpretation folgt Hans Armin Gärtner, Der ‚Eucharisticos‘ des Paulinus von Pella. Bemerkungen zu einem autobiographischen Gedicht der Spätantike, in: Dorothea Walz, (Hg.), Scripturus vitam. Festgabe für W. Berschin, Mattes Verlag, Heidelberg 2002, S. 675.

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die voll sind von gepflegten Zugtieren; schöne Wagen für sicheres Reisen.“ (Paul. Pell. Euch. 205–212) 23. Die Angaben bei Paulinus sind eher knapp gehalten, doch ermöglicht eine zeitgenössische Schilderung weitere Rückschlüsse. Es handelt sich um das Landgut von Avitacum, das der gallische Aristokrat und hohe Beamte Sidonius Apollinaris in einem seiner Briefe (Ep. 2) ausführlicher beschreibt.24 Ähnliche Güter besaßen wohl auch andere vermögende Persönlichkeiten im spätantiken Gallien. So beschreibt Sidonius sein ländliches Domizil ähnlich wie Paulinus als großzügig gebaut. Die einzelnen Räume sind den Erfordernissen der wechselnden Jahreszeiten in besonderer Weise angepasst. Eine reiche Tafel, erlesenes Tafelsilber und zahlreiche Dienerschaft komplettieren das auch durch archäologische Funde bestätigte Bild. Paulinus zählt also ohne Zweifel zu den sehr vermögenden Zeitgenossen. Dieses Bild wird durch die von Stolz getragene Bemerkung unseres Autors vervollständigt, dass er seine Steuern stets pünktlich und zwar als erster, wie er betont, bezahlt habe.25 Der von Seiten der Mutter aus griechischem Geblüt stammende, väterlicherseits der gallischen Aristokratie verwandte Paulinus genießt bis in die 30er Jahre seines Lebens den Luxus und das leichtlebige Treiben der Welt in reichen Zügen. Im Eucharisticos verstellt sich der Verfasser nicht und bekennt sich ausgesprochen offen zu dieser Lebensart. Der „ambitionslose, dabei allerdings nicht übertriebene Lebensgenuss eines Grandseigneurs“26 habe, so Paulinus aus der Rückschau, sehr gut mit seinem Naturell harmoniert (Paul. Pell. Euch. 200 f.). Auch sexuelle Freizügigkeit zählt zu diesem Lebensstil, obgleich Paulinus stolz auf einen von ihm zeitlebens eingehaltenen Grundsatz ist „nie eine Frau gegen ihren Willen oder die Frau eines andern zu begehren, und darauf bedacht, die mir teure Ehre zu wahren, auch das Angebot freier Frauen zu meiden – zufrieden mit den Verführungen des Sklavenvolks im eigenen Haus.“ (Paul. Pell. Euch. 163–167).27 Ein unehelicher Sohn des Paulinus stirbt bald nach der Geburt. Wenig später – er ist 20 Jahre alt (397/398) 28 – heiratet er, wie bereits erwähnt, auf 23

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Vogt, Lebensbericht, 548: „ut mihi compta domus spatiosis aedibus esset / et diversa anni per tempora iugiter apta, / mensa opulenta nitens, plures iuvenesque ministri / inque usus varios grata et numerosa supellex / argentumque magis pretio quam pondere praestans / et diversae artis cito iussa explere periti / artifices stabula et iumentis plena refectis, / tunc et carpentis evectio tuta decoris.“ Vgl. mit Quellenangaben: Colombi, Rusticitas, S. 407 f. Zum Ganzen vgl. mit weiterer Literatur: Ebd. S. 407– 409. Zur Steuerzahlung vgl. Paul. Pell. Euch. 199 f. Misch, Geschichte, S. 685. Vgl. Vogt, Lebensbericht, S. 545 f.: „invitam ne quando ullam iurisve alieni / adpeterem carumque memor servare pudorem /cedere et ingenuis oblatis sponte caverem, / contentus domus inlecebris famulantibus uti.“ Vgl. Cos¸kun, Chronology, S. 337.

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Wunsch seiner Eltern. All dies sind keine besonderen Lebensumstände, vielmehr der sozialen Stellung und dem Umfeld der Zeit geschuldet. All dies verändert sich dramatisch, als die Germanen nach 406 Gallien überfluten. Schwierigkeiten im privaten Lebensumfeld kommen hinzu. In seinem 30. Lebensjahr stirbt der Vater und wenig später fallen die Germanen in Aquitanien ein. Burdigalia dürften sie nicht vor August 407 erreicht haben.29 Auch ist das Verhältnis zum Bruder schlecht und der vermögende Privatier besitzt nicht wenige Neider. Das bisherig gewohnte Leben und nicht zuletzt der herausgehobene Lebensstil geraten zunehmend in höchste Gefahr. Paulinus versucht dem auf die ihm eigene Art zu begegnen. Um sich und seine Familie zu schützen sucht er enge Beziehungen zu den neuen germanischen Herren, was Georg Misch als Zeichen einer „opportunistischen, durch die Furcht diktierten Politik“ 30 anprangert. Paulinus wird für kurze Zeit Minister – comes largitionum privatarum – des nur wenige Monate 413/414 in Burdigala (oder Tolosa) residierenden glücklosen Gegenkaisers Attalus (Paul. Pell. Euch. 295). In den verworrenen politischen Verhältnissen seiner Zeit scheut er auch nicht vor Verrat zurück, wie er im Eucharistikos auch ohne große Scheu zugibt.31 Trotz allem Taktieren verliert Paulinus beim Abzug der Goten aus Aquitanien wohl noch 414 seinen gesamten Besitz. Seine luxuriöse Villa, die zuvor keine gotischen Einquartierungen hatte aufnehmen müssen, wird von den abziehenden Germanen gründlich geplündert.32 Paulinus begibt sich mit seiner Mutter und der Dienerschaft in die nahegelegene Heimat seiner Familie, nach Vasates. Doch auch dort ist es nicht besser. Paulinus berichtet: „Doch dies, wovon ich berichtet habe, war nicht die äußerste Grenze der Plage, die wir zu ertragen hatten. Denn sogleich empfing uns, die wir vom väterlichen Herd und vom verbrennenden Haus vertrieben waren, die feindliche Besatzung in der benachbarten Stadt Vasates, die doch genau die Heimat meiner Vorfahren war, und noch viel schlimmer als die Masse der Feinde war der Volkshaufen der Sklaven, der – verbunden mit der unsinnigen Wut von böswilligen jungen Menschen, wenn auch freigeborenen – bewaffnet war und im Besonderen die Ermordung des Adels betrieb (Paul. Pell. Euch. 328–336).“ 33

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Zu den Daten mit Quellenangaben vgl. ebd. S. 337–339. Misch, Geschichte, S. 685. Zur Chronologie vgl. Cos¸kun, Chronology, S. 339. Siehe auch: Paul. Pell. Euch. 303 f. (Verrat an Attalus). Zum komplexen politischen Umfeld vgl. Neil McLynn, Paulinus the impenitent: A Study of the Eucharisticos, „Journal of Early Christian Studies“, Vol. 3 (1995) S. 469– 473. Vgl. Cos¸kun, Chronology, S. 339 und Paul. Pell. Euch. 315–323. Vogt, Lebensbericht, S. 554: „Nec postrema tamen tolerati meta laboris / ista fuit nostri quem diximus; ilico namque / exactos laribus patriis tectisque crematis / obsidio hostilis vicina

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Wenig später – wohl 415 – wird auch diese Stadt von Alanen, die im Gefolge der Goten auf dem Weg nach Spanien sind, belagert. Mit großem Geschick gelingt es Paulinus, sich mit den Alanen gegen die Goten zu verbünden und so die Stadt zu entsetzen.34 Der von ihm bereits seit längerem gehegte Plan, sich auf die ausgedehnten Güter der Mutter im Osten des Reiches zurückzuziehen, scheitert aber. Paulinus wird Gallien zeitlebens nicht mehr verlassen. In dieser existentiell höchst schwierigen Zeit findet er wieder zur Kirche zurück, der er bisher nur dem Namen nach angehört hatte. Die erneute Hinwendung zur Kirche dürfte in das Jahr 422 fallen. Paulinus ist zu diesem Zeitpunkt nach eigenem Ausweis bereits 45 Jahre alt und hat lange Jahre keinen Gottesdienst mehr besucht.35 Auch der Bericht des Paulinus über seine Bekehrung zeigt „wieder den Durchschnittsmenschen“.36 Er legt eine Lebensbeichte ab, distanziert sich von irrigen dogmatischen Lehren (Paul. Pell. Euch. 472: „prava dogmata“) 37 und besiegelt die Rückkehr zur Kirche durch den Empfang der Sakramente. Die große Bedeutung dieses Ereignisses für sein Leben drückt Paulinus durch Angabe des Zeitpunktes aus: „Dann aber – im 45. Lebensjahr – als das Osterfest nach dem Brauch zur festgesetzten Zeit wiederkam, bin ich, O Christus mein Gott, zu deinem heiligen Altar zurückgekehrt und durch dein Erbarmen habe ich in Freuden deine Sakramente empfangen – heute vor 34 Jahren.“ (Paul. Pell. Euch. 475).“ 38 Bei dieser Gelegenheit dankt er zugleich der göttlichen Vorsehung, dass sie ihn von einem Vorhaben abhielt, das, wie er offen gesteht, sicherlich seine Kräfte überstiegen hätte (Paul. Pell. Euch. 45–454): Paulinus hatte beabsichtigt, Mönch zu

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excepit in urbe / Vasatis patria maiorum et ipsa meorum, / et gravior multo circumfusa hostilitate / factio servilis paucorum mixta furori / insano iuvenum licet ingenuorum / armata in caedem specialem nobilitatis.“ Vgl. Paul. Pell. Euch. 328– 405. Dazu McLynn, Paulinus, S. 473–475; Alessandro Fo, Tentativo di introduzione a Paolino di Pella, in: Antonio Garzya (Hg.), Metodologie della ricerca sulla tarda antichità, M. D’Auria Editore, Neapel 1990, S. 369–371 („La piccola Eneide“). Vgl. Paul. Pell. Euch. 474 – 479. Die Chronologie folgt Cos¸kun, Chronology, S. 339–344 bzw. Vogt, Lebensbericht, S. 572, Anm. 14. Misch, Geschichte, S. 685. Die Schilderung bei Paul. Pell. Euch. 463– 473. Um welche dogmatischen Vorstellungen es sich handelt, bleibt unklar. Verschiedene Deutungen (Arianismus, Pelagianismus bzw. Semipelagianismus) stellt zusammen: Cos¸kun, Chronology, S. 344, Anm. 27. Vielleicht ist auch an eine Glaubenskrise im Anschluß an den Tod des Vaters zu denken (so die wertvolle Anregung von Cos¸kun). Vogt, Lebensbericht, S. 562: „Post autem, exacta iam ter trieteride quinta, / rite recurrente statuo tempore pascha / ad tua, Christe Deus, altaria sacra reversus / te miserante tua gaudens sacramenta recepi / ante hos ter decies super et his quattuor annos.“

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werden. Obwohl das Mönchtum in Gallien im 5. Jahrhundert einen ersten Aufschwung erfährt, ist Paulinus nicht bereit, einen solch radikalen Schritt zu tun. Nicht zuletzt, so fährt er in seinem Bericht fort, habe ihn die Sorge um seine Familie und die Dienerschaft von diesem letzten Schrift der Gotteshingabe abgehalten (Paul. Pell. Euch. 455–462). Für Paulinus folgen weitere Missgeschicke. Sein Einkommen schwindet, so dass er seinen Besitz nicht weiter erhalten kann, ebenso sterben seine Söhne einer nach dem anderen. Schließlich zieht sich Paulinus, heimatlos und vereinsamt, auf ein kleines Besitztum zurück, das ihm in Massilia (Marseille) noch verblieben ist.39 Hier will er auch finanziell wieder auf die Beine kommen. Besonders hart trifft Paulinus in seinem Stolz der Verlust der materiellen Unabhängigkeit, die er durch die ausgedehnte Landwirtschaft mit Hilfe seiner Sklaven lange Zeit behaupten konnte. Nun im Alter ist er in Massilia auf die finanzielle Unterstützung von Bekannten angewiesen, denen er im Gegenzug seinen Besitz überlassen musste (Paul. Pell. Euch. 557–560, 573 f.). Eine unerwartete Wendung – ein Gote schickt Paulinus Geld für einen von ihm übernommenen Teil von dessen ehemaligem Besitz – verschafft ihm schließlich wieder eine bescheidene finanzielle Bewegungsfreiheit (Paul. Pell. Euch. 564–581).40 In dieser Situation beginnt Paulinus als 83jähriger seinen „mühevollen Lebensgang“ (Paul. Pell. Euch. Praefatio 5: „laboriosum vitae meae ordinem“) niederzuschreiben.

3) Die Schrift: Der Eucharisticos Georg Misch hat in seiner ausführlichen Geschichte der Autobiographie eine prägnante Charakteristik des Eucharisticos gegeben. Gleichzeitig verortet er die Schrift im Rahmen der römischen politischen Autobiographie: „Die Verse des alten Herrn, der nichts Literarisches außer dieser Lebensgeschichte geschrieben hat, sind meist recht unbeholfen und hören sich oft wie Prosa an; aber sein Poem als Ganzes zeigt deutliche Spuren einer guten antiken Tradition, und die anspruchslose Aufrichtigkeit, mit der er Sachen statt Rhetorik gibt, gewährt einen Blick in das Leben eines Durchschnittsmenschen aus den wohlhabenden und gebildeten Klassen der römischen Gesellschaft dieser Übergangszeit, bei dem antikes und christliches Empfinden ohne Reibung zusammenbestehen.“ 41 39

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Vgl. Paul. Pell. Euch. 520–530. Dazu: McLynn, Paulinus, S. 476 – 478. Er betont die besondere Qualität der unternehmerischen Entscheidung, die Paulinus bei seinem Wechsel nach Massilia trifft (ebd. 478). Zu den Vorgängen und möglichen Deutungen vgl. McLynn, S. 479– 481. Misch, Geschichte, S. 684.

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Bereits der Titel der Schrift ist außergewöhnlich Eucharisticos Deo sub ephemeridis meae textu. Dies kann wörtlich übersetzt werden mit: „Dankgedicht an Gott nach dem Text meines Tagebuches“ 42. Dass sich im Titel mit eu¬caristikóv ein griechisches substantiviertes Adjektiv findet, dürfte dem damaligen Zeitgeschmack geschuldet sein.43 Das Werk des Paulinus liegt als kürzeres Gedicht in 616 Hexameter vor. Sein Verfasser, ein alter Mann im 83. Lebensjahr, spricht in ihm Gott den Dank für sein so langes und erlebnisreiches Leben aus. Grundlage der Schrift sind – wie es der Titel bereits ausführt – tagebuchartige Aufzeichnung des Verfassers. Trotz der von ihm geradezu programmatisch vorgetragenen Selbstherabsetzung (Paul. Pell. Euch. 75–84) kennt und benutzt Paulinus andere Autoren. Sowohl in der paganen Literatur (Aeneis des Vergil) als auch bei christlichen Schriftstellern – Paulinus rezipiert als erster die Confessiones des Augustinus – findet er Vorbilder.44 Dem Gedicht geht eine in Prosa gehaltene Praefatio voraus, was ebenfalls dem literarischen Usus der Zeit entspricht.45 In ihr bezeichnet Paulinus seine Schrift bewusst als carmen incultum, was Joseph Vogt pointiert mit „ein ungehobeltes Gedicht“ übersetzt (Paul. Pell. Euch. Praefatio 4).46 Über seine Absichten schreibt Paulinus am Beginn der Vorrede: „Ich weiß, daß einige berühmte Männer im Hinblick auf den Glanz ihrer Verdienste zur Verewigung der Würde ihres Ruhmes den Lebensbericht ihrer Taten selbst geschrieben und der Nachwelt übergeben haben. Von den hervorragenden Leistungen dieser Männer bin ich gewiß ebenso weit entfernt, wie uns schon das hohe Alter der Zeit trennt, und so hat mich sicherlich nicht derselbe Planungsgedanke zur Fassung eines kleinen Werks über beinahe denselben Gegenstand angeregt, da ich weder so glänzende Taten vorweisen kann, daß ich von ihnen etwas Ruhm gewinnen könnte, noch im Stil mich sicher genug fühle, um leichthin dem Werk irgend eines Schriftstellers nacheifern zu können. (Paul. Pell. Euch. Praefatio 1).“ 47 42

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So die Übersetzung von Misch, ebd., S. 686. Vogt übersetzt etwas freier „Danksagung an Gott gemäß meinem Lebensbericht“ (Vogt, Lebensbericht, S. 537). Vgl. den ausführlichen Kommentar bei Arnaldo Marcone (Hg.), Paolino di Pella: Discorso di ringraziamento. Eucharisticos, Nardini Editore, Fiesole 1995 (Biblioteca Patristica), S. 80 f. Vgl. mit entsprechenden Verweisen: Weber, Concessa, S. 196 f. Vgl. ebd., S. 198. Vgl. Vogt, Lebensbericht, S. 537. Ebd., S. 534: „Scio quosdam inlustrium virorum pro suarum splendore virtutum ad perpetuandam suae gloriae dignitatem ephemeridem gestorum suorum proprio sermone conscriptam memoriae tradidisse. A quorum me praestantissimis meritis tam longe profecto quam ipsa temporis antiquitate discretum non utique ratio aequa consilii ad contexendum eiusdem prope materiae opusculum provocavit, cum mihi neque ulla sint gesta tam splendida, de quibus aliquam possim captare gloriolam, nec eloquii tanta fiducia, ut facile audeam cuiusquam opera scriptoris aemulari.“

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Im weiteren Gang der Vorrede charakterisiert Paulinus seine Schrift als kleine Meditation – „meditatiuncula“ (Paul. Pell. Euch. Praefatio 4). Sie ist – so gibt der Verfasser vor – primär an Gott gerichtet, weniger zur Kenntnis der Gebildeten bestimmt: „Ich, der ich ja eingedenk bin, daß ich mein ganzes Leben Gott verdanke, sollte auch vorweisen, daß die Handlungen meines ganzen Lebens seinem Dienst geweiht waren, und dadurch, daß ich die durch seine Gnade mir gewährten Zeiten nacherzähle, ihm selbst ein Werk der Danksagung in der Form der Wiedergabe meines Lebensberichts abfasse. (Paul. Pell. Euch. Praefatio 2)“ 48 Und wenig später heißt es: „und daß es mehr zu meinen Wünschen gehört, daß dieses wie immer geartete Zeugnis meiner Frömmigkeit Gott willkommen sei, als daß ein ungehobeltes Gedicht zur Kenntnis der Gebildeten gelange. (Paul. Pell. Euch. Praefatio 4).“ 49 Dem literarischen Urteil bezüglich der ungenügenden literarischen Form hat sich die Klassische Philologie meist angeschlossen.50 Paulinus formuliert in nicht wenigen Fällen ungelenk, seine Sprache erscheint schwerfällig. Manche Textstellen sind durch eine oft nur schwer zu durchschauende Syntax und Periodenstruktur – Paulinus liebt lange Sätze – nicht leicht zu verstehen. Auch die recht freie Prosodie und zahlreiche metrische Härten – hier liegen die Defizite des Verfassers offen zu Tage – verstärken den Eindruck eines auf den ersten Blick nicht sonderlich gelungenen Werkes.51 Die Schrift fristete in der öffentlichen Wahrnehmung lange Zeit ein eher bescheidenes Dasein. Vor der für uns direkt greifbaren karolingischen Handschriftentradition – einziger erhaltener Textzeuge ist heute der Codex Bernensis 317 aus dem 9. Jahrhundert – war die Schrift wohl nur wenig verbreitet und ist dementsprechend wenig kopiert worden.52 Daraus resultiert der editorische Vorteil, dass 48

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Ebd.: „[…] ut, qui me scilicet totam vitam meam Deo debere meminissem, totius quoque vitae meae actus ipsius devotos obsequiis exhiberem eiusdemque gratia concessa mihi tempora recensendo eucharisticon ipsi opusculum sub ephemeridis meae relatione contexerem.“ Ebd., S. 536: „[…] magisque id meorum esse votorum, ut hoc qualecumque obsequium meum acceptum Deo sit, quam ut carmen incultum ad notitiam perveniat doctiorum.“ Eine bemerkenswerte Ausnahme bei Weber, Concessa, S. 198 Anm. 13. Die Verfasserin rechnet zumindest mit der Möglichkeit, daß eine korrupte Überlieferung mitursächlich ist. Zu den handwerklichen Mängeln vgl. Vogt, Lebensbericht, S. 527 f. Neben dem Codex Bernensis 317 ist eine zweite Handschrift, ein nicht näher bekannter Codex Parisinus, nachgewiesen. Auf ihm fußt die 1579 durch Margarinus de la Bigne erstellte editio princeps des Eucharisticos. Vgl. mit Verweisen auf die verschiedenen Editionen: Altay Cos¸kun, Notes on the Eucharisticos of Paulinus Pellaeus, Towards a New Edition of the Autobiography, „Exemplaria Classica“, Vol. 9 (2005) p. 149 f.

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der aus den vorhandenen Zeugnissen zu gewinnende Text recht nahe an den Archetypus heranreicht. Mittlerweile liegen mehrere Editionen und eine größere Zahl zweisprachiger Ausgaben vor. Am Anfang steht die mustergültige Edition von Wilhelm Brandes, die 1888 in der Reihe Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum erschien.53 Eine weitere Edition mit französischer Übersetzung wurde 1974 als Band 209 der Reihe Sources Chrétiennes durch Claude Moussy vorgelegt.54 Der Text von Moussy liegt auch der vom Tübinger Althistoriker Joseph Vogt 1980 erarbeiteten zweisprachigen Ausgabe des Eucharisticos zugrunde. Diese Prosaübersetzung ist die bislang einzige deutsche Übertragung des Lebensberichtes des Paulinus; daneben liegen Übersetzungen in moderne Sprachen vor.55 Jüngst schlug Altay Cos¸kun, der sich in den letzten Jahren mehrfach mit Paulinus und dem Eucharisticos beschäftigt hat, eine Reihe von Verbesserung am Text vor.56 Schließlich legte Carlo Lucarini 2006 eine weitere Edition des Eucharisticos und anderer Paulinus zugeschriebener kleinerer Schriften, darunter die nur 19 Verse umfassende Oratio Sancti Paulini, vor.57

4) Die Bewältigung von Krise und Leid Dem bereits erwähnten Tübinger Althistoriker Joseph Vogt ist der wichtige Hinweis zu verdanken, dass es sich beim Eucharisticos des Paulinus um ein Zeugnis der persönlichen Frömmigkeit seines Autors handelt, das „auch für das christliche Verständnis des Lebenssinns […] von bedeutendem historischem Wert“58 ist. Vogt führt seine Bemerkung nicht näher aus, doch lohnt es sich, den Lebensbericht des Paulinus gerade unter diesem Leitmotiv näher zu betrachten und verschiedene Aspekte des im Eucharisticos gebotenen Umgangs mit existentieller Krise und menschlichem Leid zusammenzutragen.

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Vgl. Wilhem Brandes (ed.), Paulini Pellaei Eucharisticos, in: Poetae Christianae minores, Tempsky, Wien 1888 (CSEL 16/1), p. 263–321. Vgl. Moussy, Paulin, p. 54–99. Deutsche Übersetzung: Vogt, Lebensbericht, S. 537–571. Zu weiteren Übersetzungen vgl. die Übersicht bei Moussy, p. 44 f. Vgl. den Index criticus in Cos¸kun, Notes, p. 149 –153. Vgl. Carlo Lucarini, Paulinus Pellaeus: Carmina. Accedunt duo carmina ex cod. Vat. Urb. 533, K. G. Saur, München/Leipzig 2006 (Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana). Kritische Rezension von Altay Cos¸kun in: Bryn Mawr Classical Review (BMCR) 2007.10.09. Zur Oratio Sancti Paulini als Werk des Paulinus vgl. Pierre Courcelle, Un nouveau poème de Paulin de Pella, „Vigiliae Christianae“ Vol. 1 (1947) p. 101–113. Vogt, Lebensbericht, S. 528.

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Zunächst einmal ist der Eucharisticos das Dokument eines Christen, der eine intensive Beziehung mit Gott unterhält, eine „fromme Danksagung“.59 Dies wird bereits dadurch deutlich, dass der Lebensbericht von zwei Gebeten umrahmt wird. Pointiert am Beginn des Eucharisticos (Paul. Pell. Euch. 1–21) wendet sich Paulinus ebenso an Gott wie am Ende seiner Darstellung (Paul. Pell. Euch. 582–616). Und immer wieder hält er im Gang seines Berichtes dialogische Zwiesprache mit Gott. Für Paulinus ist Gott derjenige, der das Weltgeschehen in den großen Bahnen lenkt, somit auch sein Leben bestimmt. In besonderer Weise akzentuiert sich die Gottesbindung des Paulinus im Angesicht des nahen Todes. Lapidar stellt er fest, dass ein Greis entsprechend den Gesetzen der Natur in seinem hohen Alter täglich mit dem Tod rechnen müsse. Dieser sei aber nicht zu fürchten, da „jede Lebenszeit dem Tod ausgesetzt ist“.60 Deshalb bittet er Gott um ein unverzagtes Herz gegen alles bitter Bedrohliche (Paul Pell. Euch. 602: „da, precor, intrepidam contra omnia tristia mentem“) und um die Kraft zur Standhaftigkeit (Paul. Pell. Euch. 603: „constantemque tuae virtutis munere praesta“). Dabei hilft Paulinus die Hoffnung auf die Anschauung Christi im Jenseits, seinen letzten nicht einfachen Lebensabschnitt zu meistern. Paulinus formuliert diese christliche Grundhoffnung programmatisch am Ende des Eucharisticos: „Doch welches Lebensende auch immer das letzte Los mir bringen möge, diesen Ausgang möge, O Christus, die Hoffnung, dich zu schauen, mildern, und das sichere Vertrauen möge alle zweifelnde Angst zerstreuen: das Vertrauen, daß ich dein bin, dem alles gehört, ob ich in diesem meinem sterblichen Körper verweile oder, von ihm gelöst, in irgendeinem Teil deines Leibes weiterleben werde (Paul. Pell. Euch 611–616).“61 Bei aller Betonung des nunmehr überzeugten Christen Paulinus gilt es allerdings stets zu beachten, dass neben dem Christentum, zu dem der Greis durch seine krisenhaften Erfahrungen zurückgefunden hat, stets ziemlich unverbunden das Lebensgefühl und die Überzeugungen des mit großem Landbesitz und bedeutendem Vermögen ausgestatteten Aristokraten steht.62 Wie es der Titel des Eucharisticos ausdrückt, ist Dankbarkeit das Leitmotiv aller Überlegungen des Paulinus. Für alles, was in seinem Leben geschehen ist, ist der Greis dankbar. Diesen umfassenden Begriff von Dankbarkeit, der auf Gottes 59 60 61

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Ebd., S. 529. Zum Folgenden vgl. ebd. S. 529 f. Paul. Pell. Euch. 607 f: „cui subiacet omnis aetas“. Vgl. Vogt, Lebensbericht, S. 570: „sed, quaecumque manet nostrum sors ultima finem, / mitiget hanc spes, Christe, tui conspectus et omnem / discutiat dubium fiducia certa pavorem, / me, vel in hoc propria mortali corpore dum sum, / esse tuum, cuius sunt omnia, vel resolutum / corporis in quaecumque tui me parte futurum.“ Vgl. Misch, Geschichte, S. 688 f. Misch spricht dort von einem „bourgeoisen Wesen“.

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Erbarmen und dessen stetige Fürsorge aufbaut, erläutert Paulinus bereits in der Praefatio: „Ich bin mir voll bewußt, daß sein gütiges Erbarmen (misericordia) sich meiner angenommen hat, weil ich die vorübergehenden Vergnügungen, die dem Menschengeschlecht zugestanden sind, auch in meiner frühen Jugend nicht entbehren mußte, und daß die Sorge seiner Vorsehung (providentia) auch in diesem Bereich mir zugute gekommen ist. Hat er doch, mich in fortwährenden Widerwärtigkeiten (adsiduis adversitatibus) prüfend, in klarer Weise belehrt, daß ich weder das gegenwärtige Glück, das ich ja als verlierbar kenne, allzu heftig lieben solle, noch mich furchtbar erschrecken lasse durch Unglück, an welchem ich doch erfahren hätte, wie sehr mir seine barmherzigen Eingriffe helfen konnten (Paul. Pell. Euch. Praefatio 3).“ 63 In dieser Perspektive ist Paulinus für alles Geschehene, auch das Scheitern, dankbar. Er sieht in den von ihm erfahrenen Unglückfällen seines Lebens eine pädagogische Übung von Seiten Gottes. Gott und sein unergründliches Vorgehen dient Paulinus damit letztlich als ein Motiv der Selbstentschuldigung. Die wunderbare Fügung Gottes, seine Vorsehung, wird aus der Sicht des Paulinus durch das unverhofftes Glück am Lebensende bestätigt. Aus dem tiefsten Unglück der trotz aller Anstrengungen nicht abzuwendenden Mittellosigkeit in Massilia erfährt er unerwartete Hilfe. Die nicht vorherzusehende Geldzahlung des Goten bringt bescheidene finanzielle Mittel, aber vor allem die so wichtige Selbstachtung für Paulinus zurück. Für letztere ist Paulinus in besonderer Weise dankbar: „Konnte ich doch mit ihm (dem Goten) ganz auf einmal die alten Ruinen des gesunkenen Vermögens stützen und neue Schäden der mir teuren Selbstachtung vermeiden (Paul. Pell. Euch. 579–581).“64 Und an Gott selbst gerichtet schreibt er: „Beschenkt durch diese vorzügliche Gabe, schulde ich dir, allmächtiger Gott, von neuem Dank, und dieser Dank soll fast übertreffen und zur Vollendung bringen den vorangehenden Dank, den diese meine ganze gegenwärtige Schrift als feierliches Zeugnis enthält (Paul. Pell. Euch. 585).“ 65

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Vogt, Lebensbericht, S. 534: „sciens profecto et benignae ipsius misericordiae circa me fuisse, quod indultis humano generi temporariis voluptatibus etiam ipse prima mea aetate non carui, et in hac quoque parte curam mihi providentiae ipsius profuisse, quod me adsiduis adversitatibus moderanter exercens beatitudinem debere deligere, quam amittere posse me scirem, nec adversis magnopere terreri, in quibus subvenire mihi posse misericordias ipsius adprobassem.“ Vogt, Lebensbericht, S. 568: „possem quo scilicet una / et veteres lapsi census fulcire ruinas / et vitare nova cari mihi damna pudoris.“ Ebd.: „Quo me donatum praestanti munere gaudens / ecce novas, Deus omnipotens, tibi debeo grates, / exuperent quae paene alias cumulentque priores, quas contestatas tota haec mea pagina praesens / continet.“

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Zuweilen verschwimmen bei Paulinus auch die Perspektiven. Eigenes und Göttliches können sich so zu einer Handlungseinheit verbinden. Ein literarisch besonders fein gestaltetes Beispiel dafür ist die Errettung der von den Alanen belagerten Stadt Vasates.66 Dieser Vorgang ist eine ureigenste Tat des Paulinus, auf die er allen Grund hat stolz zu sein. In lebendiger Darstellung, eine der schönsten Stellen des Eucharisticos (Paul. Pell. Euch. 328–405), beschreibt er, wie die Stadt draußen von Germanen belagert wird, während in ihrem Innern ein Sklavenaufstand tobt und er selbst zum Helden wird. Heimlich begibt er sich zum Alanenfürsten, um für sich und seine Familie freien Abzug zu erreichen (Paul. Pell. Euch. 353 f.). Das Resultat der Gespräche ist ein Bündnis der Stadt mit dem Germanenführer, der den Goten die Treue bricht. Auch dies für Paulinus Grund genug, Gott zu danken. Gott ist dabei für Paulinus primär derjenige, der ihm in der Bedrängnis hilft. Gott ist stets der letztlich Handelnde, gerade auch in den verqueren persönlichen Situationen des Lebens. Dabei bedient er sich bei Bedarf des Paulinus als Werkzeug. Dabei ist er es auch, der sich nicht scheut, Übeltäter zugunsten des höheren Zieles aus der Welt zu schaffen. So stellt Paulinus nach der Niederschlagung der Sklavenunruhen in Vasates fest: „Diesen Anschlag hast du, gerechter Gott, von dem unschuldigen Blut abgewendet, hast ihn sogleich gedämpft durch den Tod einiger Schuldiger, und den besonders auf mich ausgehenden Mörder hast du ohne mein Wissen durch einen anderen Rächer untergehen lassen – ganz in der Art, mich dir zu verpflichten durch neue Gnaden, für die ich dir ewigen Dank schulden sollte (Paul. Pell. Euch. 337–342).“67 Unter der Kategorie des Nutzens hat Paulinus auch keine Probleme, sein früheres Leben zu relativieren. Eine Distanzierung gelingt ihm allerdings nicht. So schreibt er angesichts des späteren Leides im Rückblick: „Daß ich diese, so schnell vergänglichen Dinge in jener Zeit so rasch liebgewonnen habe, das tut mir jetzt leid, und jetzt endlich im Alter besseren Sinnes geworden verstehe ich, daß diese Dinge mir zu meinem Nutzen entzogen worden sind, damit ich nach dem Verlust der irdischen, vergänglichen Güter lieber die ewig bleibenden zu suchen verstehe.“ (Paul. Pell. Euch. 438–442).68 66 67

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Vgl. Misch, Geschichte, S. 687. Vogt, Lebensbericht, S. 554: „Quam tu, iuste Deus, insonti a sanguine avertens /ilico paucorum sedasti morte reorum / instantemque mihi specialem percussorem / me ignorante alio iussisti ultore perire, / suetus quippe novis tibi me obstringere donis, / pro quis me scirem grates debere perennes.“ Ebd., S. 560: „Quae peritura cito illo me in tempore amasse / nunc piget et tandem sensu meliore senescens / utiliter subtracta mihi cognosco fuisse, / amissis opibus terrenis atque caducis / perpetuo potius mansura ut quaerere nossem.“

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Gott hat gegeben, Gott hat auch wieder genommen – und Paulinus kann in diesem Handeln auch einen tieferen Sinn erkennen. Manche Themen werden im Eucharisticos ausgesprochen kühl abgehandelt. Dazu zählen erstaunlicherweise die familiären Beziehungen. Ein besonders enges Verhältnis besitzt Paulinus zum Vater, dessen Tod er ernstlich betrauert (Paul. Pell. Euch. 236).69 So herzlich spricht er sonst von keinem anderen Familienmitglied, auch nicht von seiner Frau und den Kindern. Diese sieht er primär als „Mittel für seine persönlichen Interessen“70 an. Verweigern sie sich seinen Ansprüchen, so reagiert Paulinus verschnupft. Diese Missempfindungen äußert er auch offen im Eucharisticos, und sei es anlässlich eines Todesfalles. Über den Tod seiner nächsten Angehörigen, insbesondere seiner Frau, schreibt er: „[…] verbringe ich nun bei wechselndem Geschick der Tage eine ununterbrochene Verbannung, schon lange aller Lieben beraubt, da zuerst die Schwiegermutter und die Mutter, dann auch die Gemahlin gestorben ist; diese, die, von der Angst getrieben, sich meinen begründeten Wünschen entgegengestellt hatte, bereitete mir Schmerz auch durch ihren Tod. (Paul. Pell. Euch. 490– 495)“ 71 Gerade diese Passage zeigt, dass Paulinus selbst im privaten Bereich äußerst nachtragend sein konnte und seiner Frau ihre Weigerung, auf die elterlichen Güter im Osten zurückzukehren, bis in den Tod nachtrug. Im Denken des Paulinus stehen die Wertvorstellungen seines Standes stets an erster Stelle. Sie treten in besonderer Weise im ersten Drittel des Eucharisticos (Paul. Pell. Euch. 22–231), wo die Kindheit und Jugend des Paulinus geschildert werden, hervor. Zu diesen Werten zählt der Zusammenhalt in der Familie, die Verehrung der Eltern und – für Paulinus besonders wichtig – die Wahrung des guten Rufes und der damit verbundenen Würde in der Gesellschaft (Paul Pell. Euch. 92: „proprium decorem“).72 Im Gegensatz dazu ist die Haltung des Paulinus zum Besitz ambivalent. Einerseits hat er keine Scheu, von seinem Leben als junger „sectator deliciarum“ (Paul. Pell. Euch. 216) ausführlich zu berichten und dabei auf sein beträchtliches Vermögen mit Stolz hinzuweisen. Auf der anderen Seite betont er, dass er auch in jenen

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Die gemeinsame Zeit mit den Eltern auf dem luxoriösen Landgut dürfte die glücklichste Lebensphase des Paulinus gewesen sein. Vgl. Gärtner, Eucharisticos, S. 676. Misch, Geschichte, S. 688. Vogt, Lebensbericht, S. 564: „perpetuum exilium diversa sorte dierum / exigo, iam dudum cunctis affectibus expers, / prima socru ac matre, dehinc et coniuge funeta; / quae mihi cum fuerit rectis contraria votis / officiente metu fuit et defuncta dolori.“ Vgl. mit Quellenangaben: Vogt Lebensbericht, S. 530. Zum decorum als moralischem Richtwert der römischen Gesellschaft vgl. Gärtner, Eucharisticos, S. 674.

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glücklichen Jahren jemand gewesen sei, der „das Mittelmaß begehrte, das nahe dem Genuss und fern dem Ehrgeiz war (Paul. Pell. Euch 203 f.).“ 73 Und wenig später heißt es: „Vielmehr, ich gestehe es, verlangte ich nach Genuss, wenn dieser mit geringem Preis und Aufwand beschafft und mit Erhaltung des guten Rufs bewahrt werden konnte“ (Paul. Pell. Euch. 213–219).“74 Die hier so augenfällige Betonung des Mittelmaßes (mediocritas) ist eine literarische Stilisierung, die ein direktes Pendant im Gedicht De herediolo bei seinem Onkel Ausonius findet.75 Doch ist es für Paulinus ebenso wie für seine Standesgenossen im spätantiken Gallien eine geradezu spirituelle Notwendigkeit, ihren Besitz und seine Nutzung in der genannten Weise darzustellen, so dass ein Kompromiss zwischen der philosophischen Tradition der Antike und der neuen christlichen Ethik entsteht.76 Damit kann Paulinus vor dem Hintergrund der Anforderungen an eine christliche Lebensführung das von ihm erworbene Vermögen und seine Nutzung rechtfertigen, die ebenso ein beständiges Ringen um seine Sicherung einschließt. Als beste Versicherung für das Jenseits erscheint in diesem Konzept ein als genuin christlich verstandenes Leben, das auf die angenehmen Seiten des Lebens nicht verzichtet und wenig problematisiert, dabei gleichzeitig den Freuden des Besitzes offen gegenübersteht und wenig an Verzicht einfordert. Ein solches Leben kann angesichts der politischen Situation des Weströmischen Reiches im 5. Jahrhundert für Angehörige seines Standes nur noch auf dem Land geführt werden.77 Als Augustinus am Ende seines Lebens in einer ähnlich prekären Situation wie Paulinus steht – im Jahr 430 belagern die Vandalen seine nordafrikanische Bischofsstadt Hippo Regius – habe er sich, so berichtet es sein Biograph Possidius, mit einem Wort des paganen Philosophen Plotin getröstet: Derjenige werde nicht groß sein, der es für etwas Großes, Schwerwiegendes halte, dass Holzbalken und Steine fallen und dass Sterbliche sterben.78 Daneben überliefert Possidius, dass Augustinus Bußpsalmen an die Wände seiner Sterbekammer habe anbringen lassen. In beiden Welten, paganer Philosophie und Christentum, fand der große Kirchenvater Trost in schwerer Stunde.79 Im Gegensatz zu Augustinus ist Paulinus aus anderem Holz geschnitzt. Sein Lebensrückblick fällt eher prosaisch aus. Die Rückbesinnung auf das Chris73

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Vogt Lebensbericht, S. 548: „congrua prima meo mediocria desideranti, / proxima deliciis et ab ambitione remota.“ Ebd.: „sed potius, fateor, sectator deliciarum, / si qua tamen minimo pretio expensaque parari / et salvo famae possent constare decore.“ Vgl. mit Quellenangaben: Colombi, Rusticitas, S. 409. Vgl. mit Verweis auf die Arbeiten von Jacques Fontaine: Colombi, Rusticitas, S. 410. Ausführlich zum Lebenskonzept der spätantiken Aristokraten und seinem Verhältnis zum Christentum vgl. Colombi, Rusticitas, S. 410– 416. Vgl. Poss. vita Aug. 28, 11. Possidius zitiert Plotin, Enn. I, 4,7, 24 f. Zur Deutung vgl. Roland Kany, Augustins Glück und Unglück, „Internationale Katholische Zeitschrift Communio“ Vol. 39 (2010) S. 507–519.

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tentum, zu dem er im Alter von 45 Jahren einen neuen Zugang gefunden hat, ermöglicht ihm eine umfassende Deutung und Selbstrechtfertigung seines Lebens. Im christlichen Glauben, so wie er ihn versteht, findet Paulinus Trost in der Einsamkeit und eine willkommene Verständnishilfe für die Fährnisse seines Lebens. Aus der Retrospektive heraus sieht der 83jährige Greis sich in seinem Leben stets von Gott begleitet, gerade auch in den großen Wirren seiner Zeit. Wohl hat die Pädagogik Gottes Paulinus in den Zeitläufen mehrfach gebeugt, seinen aristokratischen Stolz aber konnte sie letztlich nicht brechen. Auch in der schlimmsten Armut und Einsamkeit bleibt Paulinus Aristokrat, ein Angehöriger der höchsten Gesellschaftsschicht. Sein ererbtes Wertesystem bleibt für ihn stets stimmig, auch wenn es sich angesichts der wandelnden Zeitläufe nur mehr schwerlich verwirklichen lässt. Für all das will Paulinus Dank sagen, und er trägt seinen Dank in seinem Eucharisticos vor die Welt. Entstanden ist so „das bedeutendste und zugleich gottergebenste Klagelied über die Leiden der Völkerwanderung, das von der gallischen Patristik gesungen wurde“ 80, eine faszinierende Mischung persönlicher Überzeugungen, überkommener Standesethik und christlicher Weltsicht aus dem Gallien des 5. Jahrhunderts.

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Clemens Sedmak

Strukturen der Widerstandskraft in der „Philokalia“

1. Einleitung Die Philokalia ist eine im 18. Jahrhundert zusammengestellte und sich über einen Zeitraum von etwa tausend Jahren bis zum 14. Jahrhundert erstreckende Sammlung von geistlichen Schlüsseltexten des christlichen Ostens. Aufbau von Innerlichkeit und Widerstand gegen Widrigkeiten sind Motive, die sich durch die vielen Schriften dieser Kompilation ziehen. In dieser Textsammlung wird nicht zuletzt das Herzensgebet als geistlicher Weg aufgezeigt, ein Weg, der sich in Einsamkeit und Stille am besten zurücklegen lässt. Niketas Stethatos beschreibt den Weg in die Einsamkeit als den Weg hin zu Gott: „Wenn du die Güter sehen willst, welche Gott denen bereitet hat, die ihn lieben, dann begib dich in die Einsamkeit der Verleugnung des eigenen Willens und fliehe die Welt […] Mönch zu werden, das bedeutet nicht, sich den Menschen und der Welt zu entziehen, sondern sich selbst zu verlassen, aus dem Willen des Fleisches zu treten und in die Wüste fortzugehen, wo es keine Leidenschaften gibt“.1 Gregorios der Sinaite hält kurz und bündig fest: „Ein zerschlagenes Herz und eine verdemütigte Seele verleiht nichts so sehr wie Alleinsein in Erkenntnis und das Schweigen von allen Dingen.“ 2 Die Fähigkeit zur Einsamkeit und Stille sind mit dem Aufbau einer Kultur von Innerlichkeit verbunden. Es geht um den Schutzraum des Herzens, wobei das Herzensgebet als Quelle innerer Stabilität und Freude eine besondere Verbindung zur Resilienz herstellen kann, auf dem Weg zu unerschütterlicher Herzensruhe. Ich möchte die Philokalia jedenfalls nicht als ein Buch überholter Psychologie lesen, sondern als Quelle von Einsichten in die menschliche Natur. Damit soll gesagt sein, dass ich nicht jene Lektüre wähle, die die altchristlichen Schriften als „schlechte Wissenschaft“ ansieht, gewissermaßen im Sinne des Fortschrittverständnisses von James

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Niketas Stethatos, Erste Centurie praktischer Kapitel, 75 f, in: Philokalie der heiligen Väter der Nüchternheit. Fünf Bände, B. 4, Schriftleitung: Gregor Hohmann, Verlag „Der Christliche Osten“, Würzburg 2007, S. 32. Gregorios der Sinaite, Sehr nützliche Kapitel 104 (Philokalie, a. a. O., Bd. 4, S. 205).

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Frazer, das Ludwig Wittgenstein heftig kritisiert hatte.3 Natürlich stellt sich auch die Frage nach dem christlichen Weltbild und den weltanschaulichen Voraussetzungen; aber auch hier ist zu sagen, dass in der Philokalia Einsichten in die Conditio Humana ausgedrückt werden, die nicht nur im Binnenraum eines kulturellen und religiösen Horizonts Geltung beanspruchen können. Ich werde mich im Folgenden auf vier Gesprächspartner beziehen, die auf je eigene Art den Zusammenhang zwischen innerem Leben und Widerstandskraft hergestellt haben: Isaias der Anachoret, Markos der Asket, Hesychios der Priester, Diadochus von Photike.

2. Über die Bewachung des Geistes Isaias dem Anachoreten, der in der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts gelebt haben dürfte, wird eine Schrift „27 Kapitel über die Bewachung des Geistes“ zugeschrieben.4 In diesem kurzen und gehaltvollen Text finden sich Hinweise zur Stärkung der Widerstandskraft. Offensichtlich war es dem Autor darum zu tun, seinen Schülern Orientierung im Umgang mit Anfechtungen zu geben. Man könnte die Hinweise in vier Punkten zusammenfassen: (1) die Bedeutung des Zorns; (2) das Gewicht des Rahmens; (3) die Bedeutung der Wachsamkeit; (4) Fokus und Disziplin. Dies soll mit Blick auf eine besondere Stelle exemplifiziert werden (5). (1) Isaias hebt die Bedeutung des Zorns für die Reinheit des Herzens hervor. Der Mensch müsse dem Widrigen mit Zorn begegnen (IBG 1,57). Hier ist einerseits die Idee der Entschiedenheit angesprochen, andererseits aber auch die Kraft des Widerspruchs, der sich dem Bösen mit allen Sinnen und Mitteln entgegenstellen muss (IBG 2,57). Der Zorn wird dabei als eine Kraft beschrieben, die sich „von Natur“ aus in der Leidenschaftlichkeit des Menschen findet. Der Zorn ist also Teil der natürlichen Ausstattung des Menschen, die denn auch nicht zur Gänze zu überwinden ist, will man dem Widrigen Widerstand leisten. Mehr noch: Es ist hehr und edel, sich in einen naturhaften Zustand des Geistes zu versetzen, um damit Zugriff auf die Kraft des rechten Zorns zu erhalten. Dieser Weg in den – erstaunlich positiv gewerteten! – Naturzustand des Geistes wird durch die Überwindung des persönlichen Wollens erzielt (IBG 1,57). Der Zorn kann gelenkt werden, wird also in der rechten Weise gebraucht, wenn er nicht blind ist. Der Zorn kann dann gelenkt werden, wenn die Entscheidungen 3

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Vgl. Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen über Frazers Golden Bough, in: Idem, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, hg. v. J. Schulte, Frankfurt am Main 1989, S. 29–46. Ich entnehme die Schrift der genannten Ausgabe der Philokalie (Bd. 1, S. 57– 65) und verwende im Folgenden die Abkürzung „IBG“; ich zitiere nach Abschnittsnummern, gefolgt von der Seitenzahl.

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über das Gute gefallen sind. Wenn ein Mensch weiß, wofür er sich entschieden hat, kann er dem, was den Weg zu diesem Gut erschwert, kraftvoll entgegen treten. Die angeführte Stelle aus dem Alten Testament unterstreicht die „Heiligkeit“ des Zorns, der sich gerade auch im Bemühen um das Gute findet. Mit dem Bild einer belagerten Stadt wird der Zorn als Kraft des Auftretens beschrieben, die aber mit Besonnenheit und Klugheit einherzugehen hat. Der Mensch muss sich in der Stadt des Gebets aufhalten, also in der Stadt der Bezugnahme auf die Mitte seines Lebens. Er muss aus der Kraft des Guten heraus Widerstand leisten und diesen in entsprechend kraftvoller Form durch den Zorn erbringen können. (2) Widerstand gegen Widriges kann auch mit Blick auf die Konsequenzen erfolgen – mit Blick auf die Folgen auf Dauer und im Ganzen, mit Blick auf das Wesentliche, worum es im menschlichen Leben geht. In der Sprache der Philokalie ist dies natürlich der Blick auf die Strafe, die nach nicht bestandener Prüfung erfolgt (IBG 6,58). Widerstandsfördernd ist auch der Gedanke, dass der Mensch nicht allein ist – in der Sprache der Philokalie: Dass dem Menschen ein Helfer, ein Schutzengel beigestellt ist. Der Gedanke an die Begleitung geht einher mit dem Eingeständnis der eigenen Überforderung. Wiederum in der Sprache der Philokalia: „Unmöglich habe ich die Kraft, meinen Feinden ohne deine Hilfe zu entkommen“ (IBG 6,59). In dieser schlichten Stelle sind also drei unterschiedliche Motive angesprochen, die allesamt mit dem „Rahmen“ des eigenen Lebens zu tun haben: der Blick auf das eigene Leben im Ganzen und auch in seiner Künftigkeit; die Gewissheit der Begleitung; das Eingeständnis der eigenen Hilfsbedürftigkeit und der eigenen Grenzen. Auf diese Weise kann Widerstand gegen Widriges aufgebaut werden. Noch ein Nachsatz: Es gehört zum Verständnis des Rahmens des Lebens, dass wir Menschen stets die Möglichkeit zu Umkehr und Neuanfang haben; wir haben stets die Möglichkeit, unser Leben neu auszurichten. Wenn ein Mensch sich Gott zuwendet, dann lässt ihn „seine Umkehr neu geboren werden und macht ihn ganz neu“ (IBG 22,63). Auch diese Einsicht in das stete Potential zur Neuorientierung stärkt die Widerstandskraft. (3) Kernstück der Schrift ist die stete Ermahnung zur Wachsamkeit. Wachsamkeit ist eine Haltung der steten Aufmerksamkeit gegenüber dem eigenen Inneren, gegenüber den Regungen und Bewegungen der Seele und in der Seele. Nachdrücklich ergeht die Einladung, auf das eigene Herz zu achten (IBG 21,63), auf sich selbst zu achten (IBG 22,63). Ein Schlüssel zur Wachsamkeit ist die Selbsterkenntnis. Selbsterkenntnis ist die Frucht der Selbsterforschung, die wiederum im Rahmen von Maßstäben – nach Lehre der Philokalie: „vor dem Angesicht Gottes“ – zu erfolgen hat (IBG 20,62 f). Für die Selbsterkenntnis ist es erforderlich, sich dem eigenen Herzen zuzuwenden und auf die eigenen Sinne zu achten, also eine Metaperspektive in Bezug auf das eigene Innere und in Bezug auf den Umgang mit dem Äußeren zu haben (IBG 12,60). Die Wach-

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samkeit soll dabei aber gerade nicht zu Handlungsunfähigkeit und einem schweren Herzen führen, sondern durch die Ausrichtung auf das Wesentliche die Last der Sorgen erleichtern – wie es in Lk 21,34 heißt (IBG 12,60). So wird die verborgene Betrachtung, also das in geschütztem Raum erfolgende Erwägen des eigenen Lebens und des eigenen Inneren zur Quelle von Kraft und Resilienz (vgl. IBG 12,65). Isaias der Anachoret sieht das Leben und vor allem das Innere des Menschen als einen Ort steten Kampfes. So muss der Mönch „ununterbrochen den Kampf der Askese beibehalten“ (IBG 23,63), das Leben ist also eine fortwährende Auseinandersetzung mit Hindernissen und Widrigkeiten.Wenn Menschen sich in Sicherheit wiegen, sind sie besonders anfällig: „Die Dämonen halten sich in ihrer Verschlagenheit für eine gewisse Zeit zurück, damit der Mensch sein Herz losläßt in der Meinung, es sei zur Ruhe gelangt. Und unversehens stürmen sie auf die unglückliche Seele los und rauben sie wie ein Sperling“ (IBG 11,59). Selbstüberschätzung und damit ein Erschlaffen der Grundhaltung der Wachsamkeit können zu verheerenden Ergebnissen führen, „schlimmer als am Anfang“ (ebd.). So ist der Mensch aufgerufen, stets am eigenen Wachstum zu bauen – denn die Tugenden sind jene Kräfte, die die Widrigkeiten (in der Sprache der Philokalia: „die Bosheit der Feinde“) abhalten (IBG 11,59). Der Aufbau von Tugenden und damit die Stärkung des durch Tugenden geformten Charakters sind damit die entscheidenden Größen, um innerlich gerüstet und auf Widerstand gegen Adverses vorbereitet zu sein. (4) Ein viertes Moment zur Stärkung der Widerstandskraft ist die Gedankendisziplin. „Wer nämlich sorgfältig mit seinen Gedanken umgeht, erkennt jene, die im Begriff sind einzudringen und ihn zu beflecken“ (IBG 12,60). Das Herz kann mit seiner Frömmigkeit dem Denken Widerstand leisten (IBW 26,64), die Vernunft kann die Regungen der Seele, vor allem Zorn und Begierde lenken (IBG 26,65). Disziplin der Gedanken mit der Fähigkeit, einen Fokus zu halten, sind entscheidende Ressourcen für Widerstandskraft: Der Mensch muss „wie ein Steuermann […] die Wogen durchqueren, von der Gnade gelenkt, ohne vom Weg abzuweichen. Er soll nur auf sich selbst aufpassen und in ruhiger Einsamkeit mit Gott verkehren, ohne in Gedanken umherzuschweifen und im Geist nach Neuem zu haschen“ (IBG 23,63). Wie kann man das verstehen? Die Bezugnahme auf die Gnade Gottes deutet an, dass Widerstand nicht allein aus Eigenem erfolgen kann, dass wir Menschen angesichts von Widrigkeiten auf Unterstützung und Begleitung angewiesen sind; weiters ist die Rede von einem klaren Zentrum, auf das sich das Streben und Denken richten solle. Schließlich finden wir den Hinweis, dass Widerstandskraft durch Ausweichen und Zerstreuen nicht gestärkt, sondern geschwächt wird. Dieses Motiv des „Bleibens“ ist in der patristischen Literatur im Zusammenhang mit der Akedieforschung bekannt. Das Bild von Schiff, Steuermann und Wellen sagt auch viel über das Verständnis von Widrigkeiten und Widerstand aus: Wir sind äußeren

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Elementen ausgeliefert, bewegen uns im Leben nicht auf festem Grund, sind Wanken und Schwanken ausgesetzt und müssen ein klares Ziel vor Augen haben und das Steuerrad des Lebens fest in die Hand nehmen und uns nicht treiben lassen. Der Fokus wird durch disziplinierten Umgang mit dem, was in das Innere Einzug nimmt, verstärkt. Der Mensch auf dem geistlichen Weg ist gut beraten, „alle Türen seiner Seele, d. h. die Sinne, zu schließen“ (IBG 7,59), also umsichtig mit Situationen umzugehen, in denen er sich äußeren Einflüssen und Reizen aussetzt. Der Mensch ist aufnahmefähig für verschiedene Kräfte; hier paart sich die Haltung der Wachsamkeit mit der Pflicht zur Gedankendisziplin, denn die einzelnen Gedanken, Kräfte und Regungen müssen nüchtern unterschieden werden (IBG 24,64). Das ist offensichtlich eine Angelegenheit der Urteilskraft. Die Urteilskraft spielt eine entscheidende Rolle im erwähnten Kampf gegen die widrigen Kräfte, da sie Voraussetzung dafür ist, dass das „hohe Bollwerk […] welches sich gegen die Erkenntnis Gottes erhebt“, abgerissen werden kann (IBG 24,64). Der sorgfältige und disziplinierte Umgang mit den eigenen Gedanken, der fokussierte Widerstand gegen Einflüsse, die vom Wesentlichen ablenken, verhindert die Verwirrung und Trägheit des Geistes (IBG 12,64). Damit ist die auf Urteilskraft beruhende Klarheit der entscheidende Punkt im Kampf gegen Schwächung der eigenen Widerstandskraft. (5) Sehen wir uns diese vier Punkte (Zorn, Rahmen, Wachsamkeit, Klarheit) an einem Beispiel an, nämlich mit Blick auf das letzte Kapitel der Schrift (IBG 27,65). Hier ist die Rede von einer Unsauberkeit, die in das Herz eingesät worden ist und vom rechten Umgang mit solcher Widrigkeit. Der Mensch muss sich der Schlechtigkeit entgegen stellen, wie wir es im Zusammenhang mit dem Zorn als Entschiedenheit und Kraft zum Widerspruch gesehen haben. Es ist auch – dies hat mit dem Rahmen zu tun – eine gewisse Dringlichkeit an den Tag zu legen und der Blick auf die Rahmung des eigenen Lebens („beeile dich, daran zu denken, daß Gott auf dich achtgibt und daß das, was du in deinem Herzen überlegst, vor seinem Angesicht offenbar ist“ (ebd.). Die Seele soll in einem aktiven inneren Sprechakt an die Notwendigkeit der Gottesfurcht erinnert werden, an die Furcht vor dem Herrscher über das All. Das erinnert an die Bedeutung von Wachsamkeit und Achtsamkeit in Bezug auf das eigene Innere. Aus dieser Perspektive relativieren sich Widrigkeiten und es wird auch eine Quelle für Widerstandskraft erschlossen, eine Motivation zum kraftvollen inneren Kampf. Das ist die Klarheit, die sich daraus ergibt, dass das Leben einen klaren Fokus hat. Wenn die Seele so gefestigt ist, „bleibst du unbeweglich gegenüber den Leidenschaften“ (ebd.). Das ist ein eindrückliches Bild: Die Seele wird umwogt von Bewegungen und Regungen und Kräften, sozusagen hin und her geworfen wie ein Schiff auf den Wellen im Sturm, aber sie kann doch unbeweglich bleiben – sprich: im Schiff kann Ruhe herrschen –, wenn die Seele mit Blick auf das Wesentliche klar und ruhig ist. Eine entscheidende Res-

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source für diese Festigkeit ist das Gottvertrauen, das Vertrauen auf jene Macht, die jenseits des Kontingenten steht. Zusammenfassend können wir festhalten, dass in der Isaias dem Anachoreten zugeordneten Schrift „27 Kapitel über die Bewachung des Geistes“ die Widerstandskraft deswegen von zentraler Bedeutung ist, weil sich das Leben des Menschen als Kampf gegen widrige Einflüsse, die vom rechten Weg und Ziel abbringen, und als Ringen um inneres Wachstum darstellt. Vier Momente stärken diese Widerstandskraft, die ja nicht nur Krisen ausweichen, sondern gerade auch Krisen durchstehen soll: Der Zorn als Entschiedenheit und kraftvoller Widerspruch gegen Adversität; der Blick auf den Rahmen des Lebens, das damit als ganzes gesehen wird; dies führt auch zum Eingeständnis eigener Hilfsbedürftigkeit und zur Erkenntnis der Notwendigkeit von Begleitung und Unterstützung; drittens die Grundhaltung der Wachsamkeit, die auch mit Selbsterkenntnis zu tun hat, der Fähigkeit, die äußeren und inneren Einflüsse einschätzen und bewerten zu können; viertens die Bedeutung der Klarheit – der Disziplin der Gedanken und der nachdrücklichen Ausrichtung auf einen Fokus. Diese Momente sind, wie wir im letzten Abschnitt noch andeuten werden, durchaus mit der aktuellen Resilienzforschung ins Gespräch zu bringen.

3. Wachstum und Bedrängnis Der zweite Gesprächspartner aus der Philokalia ist Markos der Asket, dem die drei Schriften „Zweihundert Kapitel über das geistige Gesetz“, „226 Kapitel über jene, die meinen, aus Werken gerechtfertigt zu sein“ und „Brief an den Mönch Nikolaos“ zugeschrieben sind.5 Markos dürfte in der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts gestorben sein, als Klostervorsteher und später Einsiedler gelebt haben. Er wird auch als „Markos der Mönch“ oder „Markos der Eremit“ bezeichnet. In den genannten Schriften geht es vor allem um das Motiv des rechten Umgangs mit Bedrängnissen. Aus diesem Grund eignet sich Markos in besonderer Weise für einen Dialog mit der Resilienzforschung. Ich möchte die Mahnungen und Weisungen des geistlichen Lehrers in vier Punkten zusammenfassen: (1) Der Zusammenhang zwischen innerem Wachstum und Bedrängnis; (2) Die Affirmation der Bedrängnisse; (3) Grundlagen für das Entstehen von Bedrängnissen; (4) Ressourcen im rechten Umgang mit Bedrängnissen. 5

Wiederum entnehme ich die drei Schriften des Markos der genannten Ausgabe der Philokalie (Band 1, p. 159–227) und verwende folgende Abkürzungen: „GG“ für die Schrift „Zweihundert Kapitel über das geistige Gesetz“; „WG“ für die Schrift „226 Kapitel über jene, die meinen, aus Werken gerechtfertigt zu werden; „BN“ für die Schrift „Brief an den Mönch Nikolaos“. Ich zitiere die beiden erstgenannten Schriften nach Abschnittsnummern, gefolgt von der Seitenzahl, den Brief an Nikolaos nur mit der Seitenzahl.

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(1) Bedrängnisse – verstanden als Widrigkeiten, Hindernisse, Herausforderungen, Versuchungen auf dem geistlichen Weg, also als Situationen und Kräfte, die vom erkannten Weg des Guten ablenken – sind grundsätzlich zu bejahen, weil sie Werkzeuge und Meilensteine auf dem Weg zum inneren Wachstum sind. Wahre Liebe, also die Bindung an ein Gut, wird durch Bedrängnis geprüft, gereinigt und vermehrt (vgl. GG 65,165). Das Bestehen in der Bedrängnis ist ein Werk der Frömmigkeit, das Fortschritte auf dem inneren Weg mit sich bringt (vgl. ebd.). Keine brauchbare Tugend wird ohne Bedrängnis erworben, da sie sonst schlaff ist (GG 66,165). Das ist ein durchaus bedenkenswerter Topos: Der Aufbau des Charakters erfolgt durch Tugenden; Tugenden werden mühsam erworben und gefestigt und vermehrt im Umgang mit Widrigkeiten. Anders gesagt: Inneres Wachstum und Bedrängnisse stehen in einem inneren Zusammenhang. Wachstum wird durch Bedrängnisse notwendig gemacht und gerade dadurch auch ermöglicht. Ohne je spezifischen Fortschritt auf dem Weg des inneren Wachstums, also der wachsenden Ausrichtung nach dem Wesentlichen und Guten, können Widrigkeiten nicht bewältigt werden; sie sind damit nicht bloß Prüfsteine, sondern auch Wachstumsgelegenheiten. Das innere Wachstum erfolgt dabei nicht isoliert von äußeren Umständen und der leibhaften Verfasstheit des Menschen: Geistige Bedrängnis kann nicht mit körperlicher Trägheit durchgestanden werden (WG 45,184). Hier finden wir das Motiv der robusten Körperlichkeit in der Frage der Widerstandskraft. Markos deutet auch an, dass Herausforderungen für den Körper auch förderlich sind für das innere Wachstum und die Ausrichtung der Gesinnung (WG 46,184). Maßlosigkeit im Umgang mit Genuss, Komfort und Luxus führt zu einer Schwächung des Inneren (WG 128,193). Man könnte diesen Gedanken auch so formulieren: Im Umgang mit den Wohltaten des Lebens ist eine ähnliche Grundhaltung – die nicht in der Ausrichtung auf das Gute ins Schwanken kommt – zu kultivieren wie im Umgang mit Widrigkeiten.6 Widrigkeiten sind Gelegenheiten zum Wachstum, weil sie auch Gelegenheiten für Selbstoffenbarung sind: „Jede Bedrängnis macht die Neigung des Willens offenbar“ (WG 204,204). Der Mensch, der einer Versuchung ausgesetzt wird, erfährt durch seine eigene „inclinatio“, wie es um seine eigentlichen Prioritäten und Präfe-

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Diesen Gedanken könnte man auch im Buch Genesis und der berühmten Erzählung von Joseph in Ägypten nachvollziehen (Gen 41– 43): Es sind dieselben Tugenden und Haltungen, die für den guten Umgang mit den sieben fetten Jahren verantwortlich sind, wie für den guten Umgang mit den sieben mageren Jahren. Es ist auch ein- und dieselbe Person – Joseph –, der für beide Lebenskontexte verantwortlich ist. Die Eigenschaften von Weisheit, Übersicht, Nüchternheit und Ordnungssinn sind in den Jahren des Überflusses wie in den Jahren der Dürre erforderlich, um gut mit der Situation umgehen zu können. Oder etwas populär ausgedrückt: Wer in Bescheidenheit gewinnen kann, kann in Würde verlieren; vgl. Clemens Sedmak, Christine Unterrainer, Leid verstehen, Sank Ulrich Verlag, Augsburg 2010, S. 48–52.

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renzen bestellt ist.7 Ich erfahre in Zeiten des Widrigen etwas über mich, was ich sonst nicht über mich erfahren würde; so kann ich etwas lernen, was ich ohne Widrigkeiten nicht lernen könnte.8 Widrigkeit und inneres Wachstum sind also in dreifacher Weise miteinander verbunden: Widrigkeiten prüfen den Grad des inneren Wachstums; sie sind Gelegenheiten zum Wachstum, weil der Mensch Bedrängnissen nur gewachsen ist, wenn er sich entwickelt; sie sind Gelegenheiten zur Selbsterkenntnis und diese trägt wiederum zum inneren Wachstum bei. (2) Widrigkeiten sind, wie wir bereits gesehen haben, grundsätzlich zu bejahen. Sie sind wachstumsfördernd. Man kann Widrigkeiten leichter bestehen, wenn man sie bejaht und man kann sie leichter bejahen, wenn man ihren pädagogischen Nutzen sieht. Unfreiwillige Schmerzen erziehen zur Umkehr, wenn sie recht ertragen werden (WG 139,195).9 Man soll sich von Bedrängnissen erziehen lassen, denn „wer sich von den Bedrängnissen freiwillig erziehen läßt, wird von den unfreiwilligen Gedanken nicht beherrscht werden“ (WG 208,204). Der Wachstumseffekt durch Widrigkeiten wird also durch die Akzeptanz gesteigert. Es ist, so die Lektion, klüger, sich sehenden Auges mit Widrigkeiten zu beschäftigen, denn dadurch werden die Kräfte, die Widrigkeiten entfalten können, überschaubarer. Bedrängnisse sind auch deswegen zu bejahen, weil sie Motor für Tugend und Wissen sind. Bedrängnisse lehren uns, „die Anstrengung zu lieben“ (WG 8,180). Und die Liebe zur Anstrengung ist entscheidend für den rechten Umgang mit Wissen (WG 7,180). Wissen, das ohne Anstrengung erworben wird, bläht auf. Und durch Hochmut kommt der Mensch zu Fall, kann also Widrigkeiten nicht widerstehen und kommt vom Weg des Guten ab. Außerdem besteht wahre Erkenntnis nach der Lehre des Markos „im Erdulden der Bedrängnis“ (WG 56,185). Widrigkeiten sind drittens deswegen zu bejahen, weil sie „Gelegenheiten“ sind, gute geistliche Geschäfte zu machen. Dieses Motiv der Gelegenheiten findet sich immer wieder in den Gedanken des Markos. So deutet er denn auch die Prüfung des Abraham (Gen 22,11 f), die Kierkegaard nachhaltig beschäftigt hat, als „Gelegenheit zum vollkommenen Glauben“ (WG 203,203 f). Die Situation war nicht auf einen göttlichen Vorteil oder Erkenntnisgewinn ausgerichtet, sondern auf den Vorteil und Gewinn des Abraham. Schließlich kannte Gott Abraham. Die Prüfung, die Abraham mit einer grausam anmutenden Widerwärtigkeit kon7 8

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Vgl. Martha Nussbaum, Upheavals of Thought, Cambridge Univ. Press, Cambridge 2001, ch. 1. Dankbarkeit für Feinde bzw. Widrigkeiten ist ein bekanntes Motiv, das sich in christlichen wie in buddhistischen Kontexten findet – vgl. Judith A. Barad, The Understanding and Experience of Compassion: Aquinas and the Dalai Lama „Buddhist-Christian Studies“ No. 27 (2007), p. 24 ff. John Hick hat mit dem Hinweis auf die Dynamik von „soul making“ das Leiden in der Welt verteidigt: J. Hick, Evil and the God of Love, Macmillan, Basingstoke 2007.

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frontierte, war eine Gelegenheit zum Wachstum. Es scheint eine besondere Fähigkeit zu sein, Situationen in „Gelegenheiten“ umwandeln zu können. In der heutigen Sprache ist dies eine unternehmerische Fähigkeit.10 Ein Motiv von Geschäftssinn findet sich auch bei Markos: „Jedes Ereignis gleicht einem Volksfest. Wer Geschäfte zu machen versteht, wird viel gewinnen; doch wer nicht, muß Einbußen erleiden“ (WG 212,205). Übersetzt in den Umgang mit Widrigkeiten: Das Leben mit seinen Situationen und Herausforderungen kann als eine Serie von Gelegenheiten angesehen werden, die zum eigenen inneren Nutzen gebraucht werden können. Inneres Wachstum weist hier eine Dynamik auf, die der Dynamik unternehmerischen Wachstums gleicht und mit dem Matthäusprinzip in Verbindung gebracht werden kann: „Wer hat, dem wird gegeben“ (Mt 25,29). Wer wächst, wächst weiter. Inneres Wachstum kann also mit einer Grundentscheidung, auch wachsen zu wollen, in Zusammenhang gebracht werden. Auf dieser Basis können sich Situationen als Gelegenheiten erweisen, um innere Schätze zu erwerben. Diese Fähigkeit, Situationen in Gelegenheiten zu transformieren, hat wohl auch damit zu tun, sich eine Situation zu eigen zu machen. Dies wird an einer Stelle in der Schrift über das geistige Gesetz deutlich: „Bete darum, daß dir keine Versuchung kommt. Ist sie aber gekommen, nimm sie an als die deine und nicht als die eines anderen“ (GG 164,175). Hier finden wir einen Hinweis auf die Kunst, den je eigenen Weg zum Guten zu gehen und eine Situation in je persönlicher Weise als Einladung und Gelegenheit zum Wachstum anzunehmen. Eine Versuchung kann als je eigene angenommen werden, wenn sie eingepasst wird in das eigene Lebensmuster. Man macht sich eine Situation auf fruchtbare Weise auch dadurch zu eigen, dass man nicht Verantwortung abschiebt, „dass man nicht den Menschen die Schuld an den eigenen Widerwärtigkeiten gibt“ (WG 56,185). Das ist ein interessanter Punkt: Widrigkeiten und Bedrängnisse können dann fruchtbar genutzt werden, wenn sie mit einem Sinn für „ownership“ zusammengebracht werden, mit einem Sinn dafür, selbst durch eine Situation gefordert zu sein. „Hat sich eine Versuchung eingestellt, frage nicht, weswegen oder wodurch sie gekommen ist. Trachte vielmehr danach, sie dankbar, ohne Betrübnis und ohne Groll zu ertragen“ (WG 198,203). Hier ist der Akzent auf Handlungskraft und „agency“ gelegt und dem fruchtlosen Grübeln ein Riegel vorgeschoben. Widerstandskraft wird durch einen Sinn für „ownership“ und „agency“, um es so auszudrücken, gesteigert. Ein Sinn für die eigene Verantwortung im Sinne der Einsicht, selbst und in einzigartiger Weise durch eine Situation angesprochen zu sein, stärkt die Widerstandskraft. Dadurch können Widrigkeiten nicht nur leichter akzeptiert werden, durch die Akzeptanz des Widrigen steigt auch die Widerstandskraft. Kurz, Widrigkeiten sind deswegen

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Vgl. Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007.

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anzunehmen, weil sie zum Wachstum erziehen, weil sie Wissen schenken und weil sie Gelegenheiten sind, geistliche Geschäfte zu machen. (3) Wie entstehen Bedrängnisse und Widrigkeiten? Grundsätzlich haben Widrigkeiten mit misslichen Taten zu tun: „Die Bedrängnisse, die den Menschen widerfahren, sind Nachkommen ihrer eigenen Missetaten“ (WG 9,180). Widrigkeiten haben – was den Sinn für Handlungsmacht und Selbstwirksamkeit steigert – einen Bezug zur betroffenen Person und brechen nach dem Weltbild des Markos nicht losgelöst von außen über die Person herein. Dieses Motiv ist an das vom Vertrauen in die Vorsehung getragene Weltbild des Markos rückzubinden. Daneben führt Markos andere innere Ursachen für das Entstehen von Widrigkeiten an, die auch außerhalb seines asketisch-christlichen Weltbildes einleuchten dürften: Markos führt in der Frage nach dem Entstehen von Widrigkeiten als erstes die Unwissenheit an (WG 105,190). So gesehen ist es tröstlich, dass Widrigkeiten, wenn man sie in rechter Weise als je eigene annimmt, Wissen vermitteln. Es geht dabei um „Lebenswissen“, wie wir vermuten dürfen, um ein Wissen hinsichtlich der Lebensordnung, der Lebensrichtung, des Lebenssinns. Auf der Grundlage eines „Warum“ ist ein widriges „Wie“ leichter zu leben. Wer sich mit Nebensächlichkeiten abgibt, unnötigen Aufwand mit dem Zweitrangigen treibt und den Fokus aus den Augen verliert, stürzt in Bedrängnis. Dies wird an einer Stelle deutlich: „Wenn der Teufel merkt, daß sich jemand ohne Notwendigkeit mit den körperlichen Dingen beschäftigt, raubt er […] zuerst den Siegeskranz der Erkenntnis“ (WG 173,200). Ein Verlust an Wissen um Wesentliches führt nach dem Urteil des Markos in Situationen von Widrigkeit hinein – und dies wohl aus zwei Gründen: Zum einen, weil die erzieherische Notwendigkeit der Bedrängnis größer wird; zum anderern aber auch, weil Unwissenheit den rechten Umgang mit Widrigem verhindert, weswegen sich das Widrige als noch unangenehmer und schmerzhafter und unerträglicher darstellt. Die zweite Quelle für Widrigkeiten ist der Unglaube (WG 105,190); Unglaube kommt einem Vertrauensverlust gleich, einem Gefühl des Unbegleitetseins, Misstrauen in Bezug auf die Möglichkeit eines heilenden Plans. Wenn Glaube mit Sinn für Transzendenz zu tun hat, hat Unglaube mit einem Verlust dieser Weise und Offenheit hin auf das (Selbst)Transzendente zu tun. Nach Markos hängt Unwissenheit als Mangel an Wissen um die Ordnung des Lebens auch mit dem Unglauben zusammen, der das Bestehen von Lebensordnung und Lebensgesetz in wesentlichen Aspekten in Abrede stellt. Neben Unwissenheit und Unglaube führt Markos das Vergessen als „Schwester, Mitarbeiterin und Gehilfin“ der Unwissenheit an (BN 225). Von da her wird auch das Gedächtnis, die Erinnerungskraft, die Fähigkeit, sich an das Gute zu erinnern und des Guten zu gedenken, entscheidend für den Aufbau von Widerstandskraft angesichts der Bedrängnis. Viertens nennt Markos Eifersucht und Neid, wir könnten sagen „Haltungen des habsüchtigen Vergleichs“ als Grundlage für das Entstehen von Widrigkei-

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ten (BN 214). Mit diesem Gedanken kann man den oben genannten Gedanken, den je eigenen Weg zum Guten zu suchen und zu gehen, verbinden und sich durch den Blick auf das Wesentliche dem vergleichenden Blick nach links und rechts entziehen. Fünftens entsteht das Widrige aufgrund von Leichtfertigkeit (BN 225). Leichtfertigkeit ist mangelnder Sinn für das Gewicht der Dinge; Leichtfertigkeit hat auch mit Mangel an Überlegung und Abwägung, mit einem Mangel an Ernsthaftigkeit zu tun und sicherlich auch mit Nachlässigkeit. Die Mahnung, regelmäßig entsprechende geistliche Übungen zu machen, zieht sich durch die Philokalie. Diese fünf Hinweise auf Entstehen und Ursachen von Widrigkeiten sagen gemeinsam aus, dass Widrigkeiten nicht auf unerklärliche und diffuse Weise entstehen, sondern dass klare Aussagen in Bezug auf die Entstehungskontexte von Widrigkeiten gemacht werden können. Mit dem Wissen um den Nährboden wächst auch das Wissen um den rechten Umgang. (4) Wollte man mit Markos über Ressourcen zur Bewältigung von Widrigkeiten nachdenken, würde man eingedenk der eben skizzierten Ätiologie jene Quellen nennen, die Unwissenheit und Vergessen, Unglauben, habsüchtiges Vergleichen und Leichtfertigkeit bekämpfen – also: Wege zu Wissen, Weisheit und Gedächtniskraft; Stärkung des Glaubens; Fokus auf das Wesentliche und den eigenen Weg zum Guten; Ringen um Ernsthaftigkeit und Regelmäßigkeit in der geistlichen Lebensführung. Der Weg zum Guten muss, wie es im Brief an den Mönch Nikolaos heißt, der auf den Weg der Askese geführt werden soll, „durch die ununterbrochene innerliche Erforschung der Gedanken, durch große Sorge bezüglich des Heils, durch Einsicht, durch großen auf Gott gerichteten Eifer und durch die Befragung der Diener Gottes, welche die gleiche Seele und Gesinnung besitzen und denselben Kampf kämpfen“, erfolgen (BN 215). Die Sorge um die Innerlichkeit erweist sich einmal mehr als die entscheidende Ressource für Widerstandskraft – begleitet von Einsicht in Lebensordnung und Lebensgesetze, Eifer als Überwindung von Nachlässigkeit und Trägheit und auch von Gesprächen mit Gleichgesinnten. Dieser Topos des austauschenden und belehrenden Gesprächs ist untrennbar mit altchristlichen Schriften verbunden, man denke nur an die Apophthegmata Patrum und die von Johannes Cassianus aufgezeichneten Gespräche mit geistlichen Meistern. Die wichtigste Ressource zur Bündelung dieser Ressourcen ist nach Markos das Gebet. Gebet ist Verbindung mit Gott. Hier wird also der Blick auf das Wesentliche gerichtet. Markos lädt dazu ein, „durch das Gebet seine Angelegenheiten mit Gott in Verbindung“ zu bringen (WG 172,200). Durch den Blick auf das Wesentliche treten die äußeren Dinge in ihrer Bedeutung zurück. Markos verwendet in diesem Zusammenhang das viel sagende Bild des Athleten, der sich einer guten Technik im geistigen Ringkampf bedient, indem er die sinnlich wahrnehmbaren Dinge in ihrer Bedeutung zurücknimmt (WG 161,198). Gebet und Ausdauer sind notwendige Mittel, um Versuchungen

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überwinden zu können (GG 189,177; WG 106,191). Wer ohne Gebet und Ausdauer an eine Versuchung herangeht, verstrickt sich immer tiefer in sie. Widrigkeiten müssen im Gebet ertragen werden (WG 9,180). Die Ausdauer hängt mit Geduld und Duldsamkeit zusammen, mit der Fähigkeit, Widriges länger ertragen zu können, ohne sich durch Flucht der Bedrängnis entziehen zu müssen. Diese Praxis der Duldsamkeit wird durch das Bejahen der Bedrängnis verstärkt. Markos mahnt, Angriffe nicht fortzustoßen, „als seien sie ungerecht, sondern erdulde sie als gerechterweise kommende“ (WG 134,194). Auch hier zeigt sich die Einladung, sich eine adverse Situation zu eigen zu machen, um mit ihr fruchtbar im Sinne des inneren Wachstums umgehen zu können. Neben Gebet und Duldsamkeit ist der rechte Umgang mit Zeitlichkeit und Geschichte entscheidend im Umgang mit Widrigkeiten – um es auf eine Kurzformel zu bringen: Gedenke vergangener Wohltaten und blicke auf das künftige Heil! Die Mahnung zur Erinnerung an vergangene Wohltaten stärkt die Kraft, in der momentanen Bedrängnis zu bestehen (BN 210; 216). Es stärkt die Kraft im Umgang mit Widrigem, wenn der Blick auf das erfahrene Gute gerichtet wird. Daneben steht der Hinweis, den Blick auf das Künftige und Verheißene zu richten (GG 156,174; WG 141,195; WG 168,199; WG 187,202). Die Perspektive auf Künftigkeit entlastet auch von Gefühlen der Verbitterung, wenn man geschädigt oder beleidigt worden ist (GG 114,170). Hier sind also Quellen für Gelassenheit zu finden, weil sich die Möglichkeit zur Distanznahme ergibt. Markos verwendet das schöne Bild der Seereise, das uns schon bei Isaias dem Anachoreten begegnet ist: So wie „die Reisenden auf dem Meer aus Hoffnung auf Gewinn gerne die Glut der Sonne ertragen“, ertragen geistliche Menschen mit Blick auf das künftige Heil Widrigkeiten im Hier und Jetzt (WG 76,187). Auf diese Weise wird das Leben eines Menschen in einen Zusammenhang eingebettet, der den Sinn für Kohärenz, für ein widerspruchsfreies Lebensmuster, das den Rahmen für eine kontingente besondere Situation abgibt, gestärkt. So können wir im Wesentlichen vier Ressourcen zur Stärkung der Widerstandskraft bei Markos identifizieren: Das Gebet, die Duldsamkeit, der Blick auf das erfahrene Gute, die Ausrichtung auf das Künftige. Ähnlich wie bei Isaias dem Anachoreten geht es drum, dem Leben einen Rahmen zu geben, innerhalb dessen sich erfahrene Widrigkeiten relativieren. Halten wir fest: inneres Wachstum ist auf Widrigkeiten angewiesen: Widrigkeiten prüfen das Ausmaß des inneren Wachstums; sie sind Gelegenheiten zum Wachstum wie auch zur wachstumsfördernden Selbsterkenntnis. Die empfohlene Grundhaltung gegenüber Widrigkeiten ist die Haltung der Bejahung. Widrigkeiten sind anzunehmen, weil sie zum Wachstum erziehen, weil sie Wissen schenken und weil sie Gelegenheiten sind, im geistlichen Sinn unternehmerisch tätig zu sein. Widrigkeiten hängen mit der betroffenen Person zusammen und werden durch Mangel an Wissen, Mangel an Glauben, habsüchtiges Vergleichen und Leichtfertigkeit ge-

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nährt und verursacht. Wir können vier Ressourcen für den rechten Umgang mit Widrigkeiten bzw. zur Stärkung der Widerstandskraft identifizieren: das Gebet, die Duldsamkeit, der Blick auf das erfahrene Gute, die Ausrichtung auf das Künftige.

4. Der Wert der Nüchternheit Hesychios der Priester soll unser dritter Gesprächspartner auf der Suche nach Einsichten in die Widerstandskraft in der Philokalia sein. Dabei beziehe ich mich auf die lange gemachte Zuordnung der „Abhandlung über die Nüchternheit und die Tugend“. Die Theorie, dass der Text von Hesychios von Jerusalem, der im fünften Jahrhundert gelebt hat, stammt, wird heute kaum mehr aufrecht erhalten. Auch die alternativen Deutungsmodelle, dass der Text aus dem siebten oder achten Jahrhundert stammt, geschrieben von einem Mönch am Sinai, ist umstritten. Tatsache ist, dass wir einen bedeutenden Text vor uns haben, in dem erstmals im Kontext der Philokalia die Idee des Jesusgebetes genannt wird. Tatsache ist auch, dass der vorliegende Text interessante Einsichten in die Frage nach Widerstandskraft und deren Stärkung enthält.11 Ich möchte drei Anliegen vorbringen: (1) Nüchternheit, Widrigkeit und Ruhe; (2) Die Bedeutung von Nahrung für die Seele; (3) Die Kraft der Artikulation. (1) Die Nüchternheit wird in der vorliegenden Schrift als geistlicher Weg beschrieben; Nüchternheit ist „eine beständige, umsichtige Aufmerksamkeit in der leitenden Vernunft des Menschen, welcher versucht, die Quelle der bösen Gedanken und Werke zu verstopfen“ (ANT 7,233). Nüchternheit ist damit auch die Fähigkeit zur Disziplinierung des Denkens und dürfte mit „Reinheit des Herzens“ und „Klarheit“ gleichzusetzen sein (vgl. ANT 1,231), wohl auch mit: Herzensruhe. Nüchternheit ist Ruhe des Herzens, aufgrund der Bewachung des Geistes (ANT 3,232). Aus der inneren Ruhe heraus die Kraft für den äußeren wie inneren Kampf zu bekommen, lautet eine der Kerneinsichten dieser Schrift. Dabei legt der Autor das Bild der Spinne nahe, die ruhig in ihrem Netz sitzt und dabei einen Kampf ausficht (ANT 27,237). Ähnlich kann der Mensch, wenn er durch achtsamen Umgang mit den eigenen Gedanken und dem Denken ruhig geworden ist, kraftvoll auftreten – und dabei noch tiefer in die Nüchternheit eindringen. Nüchternheit und Widrigkeiten hängen insofern miteinander zusammen, als Widrigkeiten in Form von Versuchungen

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Die „Abhandlung über die Nüchternheit und die Tugend“ entnehme ich der genannten Ausgabe der Philokalie (Bd. 1, p. 230–283). Im Folgenden verwende ich die Abkürzung „ANT“ und zitiere nach Abschnittsnummer, gefolgt von Seitenzahl.

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eine erzieherische Funktion haben und dazu beitragen, die Nüchternheit hervorzubringen (ANT 7,233). Die Versuchungen lassen eine Grundhaltung der steten inneren Bereitschaft einüben, sie führen dazu, dass Menschen die Anstrengung lieben (ANT 82,250). Dieser Gedanke ist uns bereits bei Markos dem Asketen begegnet. Vier Faktoren sind es, die nach Hesychios das Wachsen der Nüchternheit in einer Situation der Bedrängnis und des inneren Kampfes ermöglichen: Demut, höchste Aufmerksamkeit, Fähigkeit zum Widerspruch, Gebet (ANT 20,235). Wenn diese vier Elemente anzutreffen sind, kann das Innere eines Menschen auch durch Widrigkeiten nicht beunruhigt werden. Die innere Ruhe kann nicht zerstört werden, wenn auf diese Weise innere Stärke aufgebaut worden ist. Innere Stärke wird auch dadurch gefördert, dass man an den Tod denkt, was dazu führt, dass die Sorgen an Gewicht verlieren und sich eine Haltung der Wachsamkeit einstellt (ANT 154,269 f; vgl. ANT 17,235). Der Blick auf den eigenen Tod erinnert an die Endlichkeit und Begrenztheit all dessen, was den menschlichen Erfahrungshorizont ausmacht; er erinnert an die Zerbrechlichkeit der Dinge und die Fragilität der Conditio humana. Den Gedanken an den eigenen Tod und die Sterblichkeit kann man auch steuern. Man kann sich dafür entscheiden, diesem Gedanken Raum zu geben. Ähnliches gilt für das Denken des Menschen insgesamt – es ist unsere Verantwortung, das eigene Denken mit Achtsamkeit zu gestalten. „Je genauer du auf dein Denken achtgibst, desto sehnsüchtiger wirst du zu Jesus beten“, lesen wir in der Schrift über die Nüchternheit (ANT 90,252). Damit ist wohl gemeint, dass eine rechte Sorge um die Gedanken zum Blick auf das Wesentliche führt, zur Einsicht in die Begrenztheit dessen, was im Rahmen des menschlich Möglichen erreicht werden kann. So gesehen ist die Einsicht in die Endlichkeit auch der Beginn einer neuen Sehnsucht, die denn auch den Horizont weitet. Der Blick auf das Wesentliche ermöglicht Aufmerksamkeit und diese „Ruhe des Herzens“ (ANT 5,232). Gedanken strömen durch Vermittlung von sinnlich wahrnehmbaren Dingen ein (ANT 89,252). Wenn es sich so verhält, ist damit gleichzeitig ein Ansatzpunkt für die Beherrschung der Gedanken gegeben – etwa im Sinne des Satzes: Sag mir, wie du mit den äußeren Dingen umgehst, und ich sage dir, wie du dein Inneres gestaltest. Das eigene Denken zu überwachen ist der Schlüssel zur inneren Ruhe (vgl. ANT 54,245; ANT 14,235). So entsteht Nüchternheit als „beständige Festigkeit des Denkens“ (ANT 6,232 f). „Wenn nämlich das Herz ununterbrochen bewacht und es ihm nicht gestattet wird, die Formen, Bildungen und Vorstellungen der finsteren und bösen Geister aufzunehmen, bringt es naturnotwendig strahlende Gedanken aus sich selbst hervor“ (ANT 104,255 f). Die Bewachung des Herzens ist also einerseits die Bewachung der sinnlichen Eindrücke und dessen, was von außen an den Menschen herangetragen wird; andererseits umfasst die Bewachung des Herzens aber auch die inneren Regungen und die Frage, wie viel Raum einem bestimmten Gedanken gegeben wird, wie groß der Widerstand gegen bestimmte Ge-

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danken ist. Das verlangt auch nach der Beobachtung der seelischen Regungen: Zorn, Traurigkeit und Unlust wirken zerstörerisch für einsichtsvolles Denken (ANT 136,264). Die Haltung der Aufmerksamkeit lässt einerseits durch den Blick auf das Wesentliche Ruhe zu, andererseits zeigt sich das Leben des Menschen als steter Kampf. Der innere Kampf hat eine Struktur, die, wie es im Text heißt, einer Schlachtordnung mit entsprechenden Schlachtreihen gleicht: Aufmerksamkeit, Widerstand gegen Widriges, Gebet und Sammlung (ANT 105,256) – sie bilden die drei Schlachtreihen im Kampf um Reinheit und Ruhe. Reinheit und Ruhe sind also das Ziel der Nüchternheit. Durch Nüchternheit können – dargestellt durch das Bild der Spinne – die Kämpfe mit Widrigkeiten ausgefochten werden. Widrigkeiten sind jene Kräfte, die Ruhe und Reinheit bedrohen. Das Ziel von Herzensruhe kann durch eine Grundhaltung der Aufmerksamkeit, die die Seele vor äußeren Einflüssen und inneren Regungen bewacht, erreicht werden. Demut, kraftvoller Widerstand, Gebet und das Denken an den eigenen Tod sind neben der Grundhaltung der Aufmerksamkeit, die das Denken überwacht und steuert, die entscheidenden Mittel zur Stärkung der Widerstandskraft. (2) Ein interessanter Punkt, dem Textumfang nach klein, der Bedeutung nach entscheidend, ist die von Hesychios bemühte Analogie zwischen Nahrungsaufnahme und Denken: „Hat man krankheitserregende Nahrungsmittel zu sich genommen, verursachen sie einem sogleich Beschwerden. Wer sie genossen hat, bleibt unbehelligt, wenn er sie sofort beim Feststellen der schädlichen Wirkung so schnell wie möglich durch ein Arzneimittel erbricht […] Dasselbe gilt für den Geist. Nimmt er schlechte Gedanken auf und verschlingt er sie, merkt aber ihre Bitterkeit, dann speit er diese mühelos aus und schleudert sie vollständig von sich durch das aus der Tiefe des Herzens laut gerufene Jesusgebet“ (ANT 188,279). Diese Analogie enthält eine Schlüsselmetapher. Die Widerstandskraft des Körpers hat wesentlich mit der rechten Ernährung zu tun. Rechte Ernährung braucht innere Ressourcen wie Wissen und Disziplin und äußere Ressourcen wie verfügbare Nahrung und Regelmäßigkeit. Körperliche Widerstandskraft wird dadurch aufgebaut, dass man mehr und anderes essen könnte, dies aber aus Einsicht in ein höheres Gut nicht macht. Durch aufmerksame Begleitung der Ernährung kann der Körper systematisch aufgebaut oder im altersbedingten Abbau verlangsamt werden. Hierzu sind intellektuelle wie moralische Qualitäten erforderlich, vor allem: Übersicht und Maß. Ähnlich verhält es sich in den Angelegenheiten der seelischen Widerstandskraft: Die Eindrücke, die in die Seele strömen, sind ebenso Nahrung für die Seele wie die Kultivierung von bestimmten seelischen Regungen, Neigungen und Gedanken. Der Aufbau der seelischen Widerstandskraft bindet sich an die sorgfältige Aufmerksamkeit, die sich auf die äußeren wie inneren Einflüsse auf die Seele richten. Es ist eine wichtige Fähigkeit, die Bitterkeit (d. h. Schädlichkeit) von bestimmten Gedanken überhaupt zu erkennen. Dies geschieht durch eine

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Schulung des Denkens auf das Wesentliche hin (Blick auf Gott, Blick auf den Tod). Eine in der Abhandlung über die Nüchternheit genannte entscheidende Grundlage für einen gesunden „Magens des Geistes“ 12 ist das Jesusgebet, das auch an anderer Stelle als entscheidendes Hilfsmittel vorgestellt wird (vgl. z. B. ANT 99,254; ANT 100,254 f). Die Widerstandskraft der Seele wird also in einer zur Stärkung der körperlichen Kraft analogen Weise aufgebaut. Es geht um die Frage, was sich Zutritt zur Seele verschaffen kann und wie viel Raum etwas in der Seele des Menschen beanspruchen soll. Der durch das Jesusgebet angeregte stete Blick auf die Mitte von Schöpfung, Heilsgeschehen und menschlicher Lebensordnung gibt einen Maßstab zur Beurteilung an die Hand. (3) Mit Blick auf die eben angeführte Analogie von körperlicher und seelischer Ernährung kann man sich überlegen, welche Maßnahmen zur guten seelischen Ernährung, die die Widerstandskraft der Seele stärkt, herangezogen werden können. Es dürfte nicht weit hergeholt sein, in diesem Zusammenhang an die klassischen Mittel des mönchisch-asketischen Lebens zu denken: Schriftlesung und „ruminatio“ der heiligen Schrift, andere rechte geistliche Lektüre, Gebetsformeln und vorgegebene Gebetsformen wie die Psalmen, Gespräche mit dem geistlichen Begleiter, Gewissenserforschung. Explizit finden wir einen Gedanken zur Stärkung der Widerstandskraft im Umgang mit Bedrängnissen im Hinweis auf die Bedeutung des Ausdrucks: Hesychios betont die Kraft der Artikulation – wenn wir uns in Bedrängnis, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit befinden, „müssen wir in unserem Innern tun, was David tat, nämlich unser Herz vor Gott ausschütten“ (ANT 135,263). Die Ausschüttung des Herzens ist eine Form der Artikulation. Hier wird eine Sprache für die adverse Situation gefunden, hier findet sich im Rahmen eines Gebets ein Ausdruck für die erfahrene Widrigkeit. Wenn wir in Bedrängnis sind, ist es anzuraten, dass wir unsere Situation „dem Herrn wie einem Menschen mitteilen“ (ANT 138,264). Die Mitteilung schafft im Rahmen einer Gesprächssituation die Notwendigkeit zur Artikulation. Die Sprechakte von Eingeständnis und Bekenntnis stärken nach Verständnis des Textes die innere Widerstandskraft (vgl. ANT 5,232). Mit dem Hinweis auf die Bedeutung der Artikulation hängt ein zweites Moment zusammen, nämlich die Einsicht in die Begleitung des Menschen; durch Anrufung, durch Gespräch wird klar, dass der Mensch in seiner Bedrängnis nicht allein ist. Es ist gefährlich, allein zu kämpfen (ANT 24,236); damit ist klar, dass das Eingeständnis der eigenen Schwäche wie auch die Artikulation der Widrigkeit ebenso zur Stärkung der seelischen Widerstandskraft beitragen wie die Erfahrung des Begleitetseins. Eine Kultur der Artikulation stärkt, so könnten wir sagen, die Kraft zum Widerstand.

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Das Bild findet sich bei Augustinus in seinen Confessiones (Buch X) für die „memoria“.

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Im Sinne einer Ergebnissicherung kann festgehalten werden: In der Abhandlung über die Nüchternheit und Tugend werden Reinheit und Ruhe als das Ziel des geistlichen Weges, den die Nüchternheit angibt, benannt. Nüchternheit ist die stete vernunftgeleitete Aufmerksamkeit auf den seelischen Innenraum. Dieser wird durch Widrigkeiten bedroht, also durch jene Kräfte, die Ruhe und Reinheit bedrohen. Die seelische Widerstandskraft wird in ähnlicher Weise wie die körperliche Widerstandskraft gestärkt. Die Fähigkeit zu Artikulation und Mitteilung, die Grundhaltung der Demut, der stete durch das Gebet geschaffene Blick auf die Mitte der Lebensordnung und das Denken an den eigenen Tod sind die entscheidenden Mittel zur Stärkung der Widerstandskraft. Das Jesusgebet als stetes Anrufen des Namens Jesu wird in dieser Schrift als wertvolles Mittel auf dem Weg zur inneren Festigkeit empfohlen. Hier sind im Grunde schon Einsichten in die Struktur des menschlichen Unbewussten angesprochen, zumindest die Intuition, dass das menschliche Denken nicht nur durch klare Gedanken geprägt wird, sondern auch durch habitualisierte innere Bewegungen.13 Das Ergebnis lässt sich an einer Stelle exemplifizieren: „Der Widerspruch bringt die Gedanken im allgemeinen zum Schweigen, während die Anrufung sie gewöhnlich aus dem Herzen vertreibt […] Ist unser Geist erfahren und geschult, löscht er auf der Stelle die feurigen Geschosse des Teufels mühelos aus innerem Antrieb, durch Widerspruch und das Gebet zu Jesus Christus aus, da er sich in der Gewohnheit der Bewachung des Geistes befindet“ (ANT 143,265). Grundhaltung und Gewohnheit sind entscheidende Säulen der inneren Widerstandskraft, die im Übrigen gerade im Umgang mit Adversem aufgebaut wird.

5. Geistliche Übungen und der Weg der Askese Nun will ich mit Diadochus von Photike ins Gespräch über die Widerstandskraft kommen. Seine in hundert Kapitel eingeteilte „Abhandlung über die Askese“ ist ein einflussreicher Text aus der Feder eines geistlichen Lehrers, über den nur wenig bekannt ist.14 Er dürfte im fünften Jahrhundert Bischof der nordwestgriechischen Stadt Photike gewesen sein. Die in der Abhandlung enthaltenen Überlegungen zu Widerstandskraft und dem Umgang mit Widrigkeiten stelle ich in drei Punkten vor: (1) Gedächtnis und Gedenken; (2) Leib und Seele; (3) Prüfungen, Demut und Maß. 13

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Zum Zusammenhang von Jesusgebet und innerer Kraft vgl. Emmanuel Jungclaussen (Hg.), Das Jesusgebet, Pustet Verlag, Regensburg 1994; Idem, Unterweisung im Herzensgebet, EOSVerlag, St. Ottilien 1999. Die Schrift Abhandlung über die Askese entnehme ich der genannten Ausgabe der Philokalie (Bd. 1, p. 391– 451) und verwende Im Folgenden die Abkürzung: „AA“. Ich zitiere nach Abschnittsnummern, gefolgt von der Seitenzahl.

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(1) Diadochus betont die Bedeutung des Gedächtnisses für den Widerstand gegen Anfechtungen. Das Gedächtnis ist der Ort, an dem das Gedenken an das Gute stattfindet. Gute Gedanken sollen „in den Vorratskammern des Gedächtnisses“ aufbewahrt werden (AA 26,400). In diesen Vorratskammern kann sozusagen mit Blick auf schwere Zeiten angesammelt und aufbewahrt werden, ähnlich wie Josef in Ägypten in den fetten Jahren im Hinblick auf die mageren Jahre sammeln ließ. Natürlich ist dazu die Fähigkeit zur Unterscheidung notwendig, um die Gedanken, die aufbewahrt werden sollten, von unnützen oder gar schädlichen Gedanken zu trennen. Für diese Unterscheidung ist die innere Ruhe notwendig. Das bedeutet auch, in Zeiten der Ausgeglichenheit vorzusorgen und sich zu erforschen, „denn wenn das Meer windstill ist, läßt es sich von jenen, die nach Fischen jagen, bis hin zu jeder Bewegung durchschauen, die sich selbst in seiner Tiefe abspielt“ (AA 26,400). In Zeiten solcher Windstille ist die Seele zu erkunden und die Vorratskammer des Gedächtnisses zu füllen. Aufgewühlt wird das Innere – was sich besonders schädlich auf die Kultur des Gedächtnisses auswirkt, durch ungerechten Zorn (ebd.). Auch andere Formen von Maßlosigkeit wie rauschähnliche Zustände oder schwerer Missmut drücken das Gedächtnis, das in solchen Zuständen der Unruhe nicht zum Gedenken Gottes kommt. Das Gedächtnis des Denkens wird „rauh aufgrund der Roheit der Leidenschaften“ (AA 61,416). Die inneren Regungen prägen also das Gedächtnis, das sich an die Form der Gedanken anpasst. Durch das Vergessen des Guten wird das Gedächtnis stumpf, aber wenn das Gute hinreichend tief im Gedächtnis verankert ist, kann es unschwer auch nach einer kurzen Periode des Vergessens wieder gefunden werden (ebd.). Es ist also darauf zu achten, dass die guten Gedanken und das Gedenken des Guten in den ruhigen Zeiten so fest in das Gedächtnis eingesenkt werden, dass sie in widrigen Zeiten Halt bieten und nicht verschüttet werden. In die rechte Form wird das Gedächtnis durch das Gedenken Gottes gebracht (AA 3,391). Dieser Blick auf die Mitte der Lebensordnung schwächt dasjenige, was von der Ausrichtung auf das Gute ablenkt. Hier findet sich auch ein Wort der Zuversicht: Das Bemühen um das Gedenken Gottes stärkt den Menschen in nachdrücklicher Weise: „Mächtiger nämlich ist die Natur des Guten als die boshafte innere Haltung“ (AA 3,391), da ja das Böse ontologisch gesehen nicht existiert. Das Gedächtnis ist zu beschützen – vor den Wallungen des ungerechten Zorns und anderen ruhestörenden Leidenschaften, aber auch vor Geschwätzigkeit. Die Vorratskammern werden durch Schweigen und eine Kultur der Innerlichkeit geschützt. Die Redetätigkeit ist mit Umsicht auszuführen, weil sie das Gedächtnis schwächt: „Wie die Tür des Bades, wenn sie fortwährend offensteht, die im Innern befindliche Wärme schneller nach außen strömen läßt, so zerstreut auch die Seele, wenn sie viel zu anderen reden will, durch die Tür der Sprache ihr Gedächtnis, auch wenn alles gut ist, was sie sagt“ (AA 70,424). Die Kraft im Widrigen zu bestehen wird also durch die

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Kultivierung des Gedächtnisses gesammelt, die wiederum in Stille und Schweigen vorangetrieben wird. Diadochus lädt auch dazu ein, die Kraft des Heiligen Geistes in der Bildung des Inneren nicht zu unterschätzen. Die Seele soll Raum für das Wirken des Heiligen Geistes schaffen, indem sie sich nicht mit dem Guten entgegengesetzten Gedanken füllt (vgl. AA 75,426 f). Die Reinigung des Inneren kann nur der Heilige Geist leisten (AA 28,401). In eine andere Sprache übersetzt: Man muss im Inneren darauf achten, was bewahrt werden soll, was Raum bekommen darf und was verdrängt werden muss. Mit den in Zeiten der Ruhe und Weite gefüllten Vorratskammern kann ein Mensch die schwierigen Zeiten der Unruhe und Niedergeschlagenheit gut überstehen, weil er sich durch das Gedenken an das Gute und Erhebende nicht von Bedrängnissen erdrücken lässt. (2) Die Abhandlung über die Askese hebt in der Auseinandersetzung mit dem Widrigen die Einheit von Seele und Leib hervor. Man muss sich um Tugenden des Leibes (Enthaltsamkeit) wie um die inneren Tugenden (etwa Freisein von Ehrsucht und Anmaßung) bemühen (AA 42,408). Das mag für manche Ohren moralisierend klingen, reflektiert aber eine bestimmte Auffassung der menschlichen Natur, die Körperlichkeit und Innerlichkeit einschließt und zum Wachstum berufen ist. Deutlich wird das Weltbild von Diadochus von Photike in den Überlegungen über die Fallstricke des Feindes, der sich auf den Leib stürzt, wenn das Innerliche ihm Widerstand bietet: Wenn der Teufel nicht in der Seele Wohnung nehmen kann, nistet er sich „im Leib ein, um durch dessen Nachgiebigkeit die Seele zu ködern“ (AA 82,433). Die Dämonen suchen das Fleisch schwach zu machen, um auf diese Weise die Seele zu kolonialisieren (AA 82,434). Übersetzen wir das in eine andere Sprache: Die Widerstandskraft des Menschen ist auf eine rechte körperliche und eine rechte seelische Verfassung angewiesen. Diese beiden Dimensionen des Menschseins sind miteinander verwoben, sodass eine Schwächung der körperlichen Verfasstheit sich auf das Innere schlägt und umgekehrt. Je nach neuralgischen Punkten im Leben eines Menschen ist einmal der Leib, einmal die seelische Konstitution zu stärken, um insgesamt an Widerstandskraft zu gewinnen. Eine Klammer, die körperliche und seelische Kraft zusammenhält, sind die menschlichen Tugenden. Ausrichtung auf das Gute, Selbstdisziplin, Maßhalten und Selbsterkenntnis sind entscheidende Faktoren im Aufbau von Kraft zum Guten, sowohl im Körperlichen als auch im Seelischen. Die Sorge um das Gute kann nicht ohne Sorge um das leibliche Wohl erfolgen. Hier wird eine realistische Sicht auf den Menschen im Umgang mit Widrigkeiten deutlich: Man muss den Leib in rechter Weise pflegen und darf ihn nicht durch übertriebene Enthaltsamkeit schwächen. So kann der Leib, „wenn er gesund ist, geziemend in Zucht genommen, wenn er aber schwach ist, maßvoll verwöhnt werden. Nicht darf nämlich der Kämpfer leiblich schwach sein, sondern er muß, soweit nötig, dem Kampf gewachsen sein, damit selbst durch die Mühen des Leibes auch die

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Seele geziemend gereinigt werde“ (AA 45,409). Maßhalten ist der rechte Weg im Umgang mit den körperlichen Bedingungen. Fasten ist eine sinnvolle Übung im Sinne der Selbstdisziplin, darf aber nicht als Zweck in sich selbst angesehen werden, sondern ist ein Werkzeug, das entsprechend dosiert einzusetzen ist (vgl. AA 47,410). Freilich – es gilt der Primat des Inneren vor dem Äußeren, es gilt der Vorrang des Seelischen vor dem Körperlichen. Während Diadochus die Seele als identitätsstiftend für den Menschen ansieht, ist der Körper eine Art „Mietwohnung“. Der Mensch soll „das Notwendige dankbar gebrauchen, doch das Leben als einen fremden Weg betrachten, der jedes fleischlichen Zustandes abhold ist“ (AA 55,413). Hier kann man sich natürlich die Frage stellen, ob dieser Zugang zum menschlichen Leben die Resilienz, wie wir sie heute verstehen, eher stärkt oder nicht vielleicht doch schwächt. Stärkt es die Fähigkeit, „Ja“ zum Leben zu sagen, wenn dieses Leben als vorläufiges und der Körper als nicht identitätskonstitutiv angesehen wird? Wir werden auf diese Frage abschließend noch zurückkommen. Festzuhalten ist jedenfalls, dass Widerstandskraft nach der vorliegenden Abhandlung im rechten Zusammenspiel zwischen Körper und Seele aufgebaut wird. (3) Die Bedeutung des Maßhaltens wurde bereits angedeutet. Maß und Demut erweisen sich bei Diadochus von Photike als entscheidende Größen im Umgang mit Widrigkeiten. In Zeiten der Niederlage ist maßvolle Betrübnis angesagt, in Zeiten der erfahrenen Hoffnungsfülle maßvolle Freude (AA 69,423). Wiederum stoßen wir auf ein Motiv, das uns schon begegnet ist, nämlich die Idee, weder im Schwierigen noch im Leichten, das Gleichgewicht zu verlieren. Durch die Kultur des Maßhaltens können die Extreme von Verzweiflung und Anmaßung bzw. Leichtsinn vermieden werden; so gesehen sind Ausgeglichenheit, innere Balance und ein Festhalten am Kurs auf das Gute, ohne sich tief von Erfahrungen beeindrucken zu lassen, ausschlaggebende Momente im Aufbau von Widerstandskraft. Denn durch das maßvolle Leben wird der Weg zum Guten ein fortwährender, ein kontinuierlicher Entwicklungsgang, der allmählich zur Erleuchtung führt (vgl. AA 6,392). Widrigkeiten – auch dies ein Motiv, das wir bereits gesehen haben – haben eine erzieherische Funktion, sie führen die Seele zur Demut (AA 87,437). Die Demut ist ein kostbares Gut, das schwer zu erwerben ist (AA 95,446). Hier bedarf es des Einsatzes von Prüfungen, die das Innere des Menschen auf das Gute ausrichten. Widrigkeiten bringen daneben als Früchte die Gottesfurcht und die Sehnsucht nach Schweigen, also nach Aufbau der Innerlichkeit mit sich. So gesehen ist die Dankbarkeit die Grundhaltung, mit der Widrigkeiten zu begegnen ist (AA 87,438). Denn sie sind Heilmittel, die die Seele reinigen, wenn auch auf schmerzhafte Weise – wobei der Schmerz ein gutes Zeichen, ein Zeichen für inneren Fortschritt ist: „Wenn die dem Leib zugefügten Wunden verkrustet und vernachlässigt sind, verspüren sie nichts von der Medizin, die ihnen von den Ärzten verabreicht wird. Wurden sie aber gereinigt, verspüren sie die Wirksamkeit der Arznei und

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gelangen dadurch zur vollen Heilung“ (AA 17,397). Genau so verhält es sich nach Diadochus mit der Seele. Die Widrigkeiten brennen die Seele aus und reinigen sie auf diese Weise; wenn der Schmerz verspürt wird, zeigt dies bereits eine Empfänglichkeit der Seele für das Gute. Auch dies ist ein Gedanke, der die Motivation, dankbar für Widrigkeiten zu sein, stärkt. Dies wird auch in einem kraftvollen Bild deutlich: „Wie das Wachs das Siegel, das ihm aufgedrückt wird, nicht aufnehmen kann, wenn es nicht sehr erhitzt oder weich gemacht wurde, so kann auch der Mensch das Siegel der Tugend Gottes nicht fassen, wenn er nicht durch Mühen und Schwächen geprüft wird“ (AA 94,444). Widerstandskraft geht damit – bemerkenswert! – mit Weichheit der Seele einher, die sich als aufnahmebereit und empfänglich für das Gute zeigen muss, eine bestimmte Feinheit und „Eindrückbarkeit“ aufzuweisen hat. Damit ist wohl auch gesagt, dass nicht diejenigen, an denen die Erfahrungen abprallen, resilient sind, sondern diejenigen, die Erfahrungen in rechter Weise verarbeiten können. Das Innerliche wird nach dem Verständnis der vorliegenden Schrift durch den maßvollen und nicht zu harten Umgang mit sich selbst aufgebaut. Diadochus von Photike ermahnt also dazu, das Gedächtnis zu kultivieren, indem es mit guten Gedanken und einem Sinn für das Gedenken Gottes gefüllt wird; er unterstreicht die Bedeutung des Zusammenspiels von Leib und Seele, die durch die Idee des Tugendstrebens, der Selbstdisziplin und des Maßes aufeinander abgestimmt werden sollen. Widrigkeiten soll mit einer Grundhaltung der Dankbarkeit begegnet werden, weil sie Heilmittel für die Seele sind und das kostbare Gut der Demut erwerben lassen. Widerstandskraft wird durch ein Leben im Gleichgewicht, durch das Füllen der Vorratskammern des Gedächtnisses, aber auch durch entsprechende innere Aufnahmefähigkeit und Empfänglichkeit aufgebaut. Es ist freilich nicht uninteressant, dass die Widerstandskraft auch bei Diadochus von Photike mit dem maßvollen Zorn einhergeht. Der „besonnene Zorn“ gilt bei ihm als „Waffe der Gerechtigkeit“ (AA 62,417). Die Entscheidung für das Gute führt zum entschiedenen Auftreten gegenüber dem, das dem Guten entgegensteht.

6. Zum Dialog zwischen Resilienzforschung und dem Gedankengut der Philokalia Die Einsicht, dass sich Widrigkeiten dadurch einordnen und relativieren lassen, dass man das Leben als ganzes in den Blick nimmt, verbindet das Gedankengut der Philokalia mit der modernen Resilienzforschung. Die Fähigkeit zu Reflexion und ein „Sinn für Sinn“, ein Sinn für Wesentliches und Richtungweisendes, werden als zentrale Faktoren angesehen, die die Widerstandskraft stärken. Die Skizzen zur Philokalia haben als resilienzstärkende Faktoren folgende Aspekte heraus-

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gearbeitet: Wachsamkeit und Nüchternheit; Klarheit des Denkens; Aufbau der Innerlichkeit durch Gewohnheit und Gedächtnis; Akzeptanz von Widrigkeiten in Dankbarkeit als Gelegenheiten zum Wachstum; Quellen von Widrigkeiten in Habsucht und Leichtfertigkeit; Ressourcen zur Überwindung von Widrigkeiten in Gebet, Duldsamkeit, Blick auf den Rahmen des Ganzen des Lebens. Die Relevanz dieser Punkte möchte ich abschließend an einem Beispiel zeigen: die franko-kolumbianische Politikerin Ingrid Betancourt war vom 23. Februar 2002 bis zum 2. Juli 2008 sechseinhalb Jahre lang in der Gewalt von Rebellen im kolumbianischen Dschungel. Sie wurde plötzlich und ohne jede Vorwarnung aus einem umtriebigen und hoffnungsfrohen Leben als Präsidentschaftswerberin herausgerissen und ohne klaren zeitlichen Horizont entführt. In diesen sechseinhalb Jahren war Widerstandskraft in höchstem Maße gefordert. Ingrid Betancourt beschrieb ihr Ringen um diese Widerstandskraft in ihrem Buch Kein Schweigen, das nicht endet.15 Eine Lektüre dieses Buches unter der Rücksicht der Resilienzforschung lässt einige Aspekte erkennen, die wir eben in der „Philokalia“ angetroffen haben: Betancourt beschreibt das Ringen um Wachsamkeit, Nüchternheit und eine Klarheit des Denkens – sie bemüht sich um eine Disziplin der Gedanken (BS 154, 202)16, um eine klare Selbstwahrnehmung (BS 14), verweigert sich konsequent Selbstmitleid (BS 18), zwingt sich, nach vorne zu blicken (BS 80), arbeitet an der inneren Klarheit (BS 28), bemüht sich um Distanz zum äußeren Geschehen (BS 36), fasst immer wieder Pläne (BS 106, 114, 176). Gleichzeitig baut sie systematisch die Innerlichkeit auf – durch ihr Gedächtnis, das sie mit ihrer Familie verbindet und das sie zum Nachdenken über ihr eigenes Leben anregt (BS 190), durch das Erinnern von biblischen Passagen (BS 45, 199 f), durch die Schärfung der Vorstellungskraft (BS 86, 214), durch den Schutz ihres innersten Wesenskerns, auf den sie sich konzentrierte (BS 25): „Ich wusste tief in meinem Innern, dass ich nie aufgeben würde“ (BS 181); ihr Sinn für Innerlichkeit wächst durch den Aufbau einer Metaebene, von der aus sie sich selbst und ihr Leben betrachtete: „Ich beobachtete mich von innen heraus und maß meine Stärke und Widerstandskraft, nicht um mich zu wehren, sondern um diesen Widrigkeiten standzuhalten, wie ein Schiff, das von den Wogen hin und her geworfen wird und dennoch nicht untergeht“ (BS 26). Betancourt bemühte sich auch um Quellen von Widerstandskraft im Gebet (BS 10 f, 196), im geistigen wie im handwerklichen Tätigsein – dies wird an einer Schlüsselstelle deutlich: „Um der Langeweile zu entgehen, las ich die Bibel und webte […] wenn Ablenkungen fehlen, wälzt das Gehirn Worte und Gedanken um,

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Ingrid Betancourt, Kein Schweigen, das nicht endet. Sechs Jahre in der Gewalt der Guerilla, übers. v. Elisabeth Liebl, Droemer, München 2010. Ich verwende im Folgenden die Abkürzung „BS“ für diese Ausgabe. „Gedanken an meine Kinder verbat ich mir jedoch“ (BS 154); „Ich verscheuchte alle Gedanken der Trauer, des Bedauerns und der Ungewissheit“ (BS 202).

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wie wenn man Ton knetet und etwas Neues daraus formt. Ich las also manche Stellen wieder und fand heraus, warum sie sich mir eingeprägt hatten. Sie waren wie Öffnungen, Geheimgänge, Brücken zu anderen Gedanken und einer völlig neuen Interpretation des Textes. Die Bibel wurde für mich zu einer aufregenden Welt aus Chiffren, Anspielungen, Andeutungen … durch die mechanische Bewegung der Hände wurde der Geist in einen meditativen Zustand versetzt, und ich konnte über das Gelesene nachdenken, während meine Hände sich wie von selbst bewegten“ (BS 184). Betancourts Welt weitet sich von innen heraus; die erwähnte Technik der „ruminatio“, des Wiederkäuens von Stellen, ist in der Kunst der Schriftlesung zum Aufbau der Innerlichkeit empfohlen – ebenso wie die Bedeutung mechanischer Tätigkeiten. Betancourt stärkt ihre Widerstandskraft neben der Gedankendisziplin und dem Aufbau der Innerlichkeit auch durch die Fähigkeit, trotz Widrigkeiten Dankbarkeit zu empfinden – vor allem in beglückenden Erfahrungen von Natur (BS 166, 198). Schließlich wächst ihre Seelenkraft auch durch den Blick nach vorne, durch die Kraft der Hoffnung (BS 160) und durch ein Verständnis ihrer „Pflicht zur Freiheit“ (BS 159). Damit ist der erzwungene Aufenthalt bei den Rebellen auch Teil ihres gesamten Orientierungsrahmens als eines Ringens um Freiheit und Würde. Mit diesen Andeutungen soll deutlich werden, dass sich die entscheidenden Punkte zur Stärkung der Widerstandskraft, die sich im Gespräch mit vier Texten aus der Philokalia herauskristallisiert haben (Gedankendisziplin; Aufbau von Innerlichkeit; Dankbarkeit und Lebensrahmung als Quellen von Resilienz) auch in echten Extremsituationen bewähren. Die altchristlichen Einsichten in Strukturen der menschlichen Innerlichkeit und Seelenkraft können über den Entstehungskontext hinaus fruchtbar gemacht werden. Eben dies war das Anliegen des Projekts, das diesem Buch zugrunde liegt.

Literatur Barad, J. A. (2007), The Understanding and Experience of Compassion: Aquinas and the Dalai Lama „Buddhist-Christian Studies“ 27 (2007), pp. 11–29. Betancourt, I. (2010), Kein Schweigen, das nicht endet. Sechs Jahre in der Gewalt der Guerilla, übers. v. E. Liebl, München: Droemer. Bröckling, U. (2007), Das unternehmerische Selbst, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hick, J. (2007), Evil and the God of Love, Basingstoke: Macmillan. Hohmann G. (Hg.) (2007), Philokalie der heiligen Väter der Nüchternheit. Fünf Bände, Würzburg: Verlag „Der Christliche Osten“. Jungclaussen, E. (1994), Das Jesusgebet, Regensburg: Pustet. Jungclaussen, E. (1999), Unterweisung im Herzensgebet, St. Ottilien: EOS-Verlag.

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Nussbaum, M. (2001), Upheavals of Thought, Cambridge: Cambridge Univ. Press. Sedmak, C., Unterrainer, Chr. (2010), Leid verstehen, Augsburg: Sankt Ulrich Verlag. Wittgenstein, L. (1989), Bemerkungen über Frazers Golden Bough, in: Idem, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, hg. v. J. Schulte, Frankfurt am Main 1989.

Autoren und Autorinnen

Justine Allain Chapman, geb. 1967, ist evangelische Pastorin, tätig im RochesterVikariat. Sie studierte Theologie und Religionswissenschaft in London. Seit 2004 unterrichtet sie am SEITE – South East Institute for Theological Education. Sie ist Mitglied von General Synod and the Churches Commission on Mission. 2011 dissertierte sie über die Wüstenväter und Resilienz am King’s College in London. Weitere Interessen: Seelsorge, Spiritualität und Interkulturalität. Sie publizierte u. a.: Gender, Spirituality and Power in Ministerial Formation, in: A.S. Jones (ed.), Making Ministers, Epworth 2008. Wilhelm Blum, geb. 1943, hat in München Klassische Philologie, Geschichte und Philosophie studiert. Nach einer Zeit als wissenschaftlicher Assistent am Internationalen Forschungszentrum war er 16 Jahre lang Dozent der Politikwissenschaft an der Universität Regensburg. Danach wechselte er nach München, wo er von 1992 bis 2010 am Maximiliangymnasium Altgriechisch, Latein, Geschichte, Philosophie, Ethik und Sozialkunde unterrichtete. Er hat Übersetzungen herausgegeben u. a. von Demetrios Kydones (14. Jahrh.), Otloh von St. Emmeram (11. Jahrh.), Georgios Gemistos Plethon (14./15. Jahrh.). Von seinen wissenschaftlichen Abhandlungen seien erwähnt: Wirklichkeit des Lebens, Rheinfelden 1985; Höhlengleichnisse: Thema mit Variationen, Bielefeld 2004. Malł gorzata Bogaczyk-Vormayr, geb. 1979, ist polnische Philosophin und Friedensforscherin. Sie studierte Philosophie, Altphilologie und Politikwissenschaft. 2009 absolvierte sie das Doktoratsstudium in Philosophie an der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warszawa, wo sie 2011 promovierte (Titel der Dissertation: Aletheiologische Konzepte des Seins. Vergleichende Studie über den Platonismus und die Phänomenologie). Im Laufe ihres Studiums war sie Stipendiatin in Milano, München, Lviv, Bamberg und mehrmals in Salzburg. Seit April 2009 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am ifz Salzburg. Sie hat als Lateinlehrerin, Sozialarbeiterin und wissenschaftliche Redakteurin gearbeitet. Veröffentlichungen: Spuren des Anderen. Eine philosophische Antwort auf eine politische Frage, in: D. Bingen et al. (Hg.), Die Destruktion des Dialogs, Wiesbaden 2007, S. 23–32; Die Ideenschau im Dialog „Phaidros“, „Diametros“ 2008, Nr. 16, S. 1– 9.

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Autoren und Autorinnen

David Lang, geb. 1980, studierte Philosophie in Salzburg und ist Dissertant am Fachbereich Philosophie der Universität Salzburg. 2008 bis 2010 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am ifz Salzburg im Forschungsschwerpunkt zur Resilienz. Andere Schwerpunkte: Philosophische Anthropologie, Ethik, Unternehmensethik. Seit September 2010 leitet er das pfarrcaritative Projekt „ArMut teilen“ in Salzburg/Mülln. Veröffentlichungen: Grenzsituationen und Kommunikation als conditio humana. Der Mensch bei Karl Jaspers, Saarbrücken 2009; Unternehmensresilienz – oder wie macht man ein Unternehmen widerstandsfähig?, in: C. Sedmak et al. (Hg.), Marktwirtschaft für Menschen, Wien/Münster 2011, S. 191–204. Udo Manshausen, geb. 1957, nach seinem Studium der Katholischen Theologie in Bonn und Münster beschäftigte er sich mit Gesprächstherapie und Psychoanalyse. Er hält Seminare zur christlichen Selbsterfahrung, Meditation und Bewältigung von Krisen. Weitere Schwerpunkte seiner Arbeit sind Ethik des Führens und Rhetorik. Seine Lebenseinstellung orientiert er an den Wüstenvätern. Zwei seiner Veröffentlichungen haben die Weisheit der Wüstenväter im Sinne einer seelischen Begleitung zum Inhalt: Wüstenväter für Manager. Weisheiten christlicher Eremiten für die heutige Führungspraxis, Wiesbaden 2000; Seelenführung. Die Briefe des Abbas Poimen, Trier 2005. Barbara Müller, geb. 1966, ist schweizerische Theologin. Sie studierte Evangelische Theologie und Psychologie in Bern, promovierte mit einer Arbeit über die ägyptischen Wüstenväter. Seit 2008 ist sie Professorin für Kirchengeschichte an der Universität Hamburg. Vorher forschte und lehrte sie mehrere Jahre in Rom, Charlottesville (VA, USA) und Cambridge (UK). Sie beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Themen aus der Zeit des antiken und mittelalterlichen Christentums, speziell dem frühen Mönchtum, Spiritualität und Askese, der frühmittelalterlichen Papstgeschichte und der Kirchengeschichte im interdisziplinären Kontext. Bücher (Auswahl): Der Weg des Weinens. Die Tradition des Penthos in den „Apophthegmata Patrum“, Göttingen 2000; Führung im Denken und Handeln Gregors des Grossen, Tübingen 2009. Burkhard Pechmann, geb. 1957, studierte Theologie in Oberursel/Taunus, Göttingen und Tübingen, danach Vikariat in Holzminden. Seit 1986 ist er Pfarrer der Hannoverschen Landeskirche, als Gemeindepfarrer auf Pfarrstellen bei und in Hannover. Seit 2003 ist er mit der Wahrnehmung von Altenheimseelsorge beauftragt. Neben Aufsätzen zu Altern, Resilienz, Demenz und Sterbebegleitung publizierte er Durch die Wintermonate des Lebens, Gütersloh 2007, Rückzug und Aufbruch – Seelsorgliche Hinführungen zu Menschen im Alter, Leipzig 2009 und Altenheimseelsorge – Gemeinden begleiten Menschen im Alter und mit Demenz, Göttingen 2011.

Autoren und Autorinnen

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Josef Rist, geb. 1962, studierte Katholische Theologie, Alte Geschichte und Philologie des Christlichen Orients in München, Rom und Würzburg. Seit 2009 ist er Universitätsprofessor und Inhaber des Lehrstuhls für Alte Kirchengeschichte, Patrologie und Christliche Archäologie an der Kath.-Theol. Fakultät der RuhrUniversität in Bochum. Veröffentlichungen: Proklos von Konstantinopel und sein ,Tomus ad Armenios‘: Untersuchungen zu Leben und Wirken eines konstantinopolitanischen Bischofs des V. Jahrhunderts, Würzburg 1993; Zacharias Rhetor als Biograph. Zu Überlieferung und Inhalt der Vita Severi Antlocheni (BHO 1060), der Vita Isaiae (BHO 550) und der Vita Petri Iberi (CPG 7001), in: M. Tamcke et al. (Hg.), Die Suryoye und ihre Umwelt, Münster 2005, 333–351. René Roux, geb.1966, ist ein italienischer Theologe. Er studierte Philosophie und Theologie in Aosta (Theologisches Institut, Seminare de St. Anselme), Patrologie und Orientalistik in Rom, Oxford und Paris. In den Jahren 1999 bis 2003 war er Professor für Patrologie und Dogmatik in Aosta, 2003 bis 2010 Leiter der Italienischen Katholischen Gemeinde in Darmstadt, 2005 bis 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Kirchengeschichte des Altertums an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Mainz. Seit 2010 ist er Professor für Alte Kirchengeschichte, Patrologie und Ostkirchenkunde in Erfurt. Er hatte mehrere GastProfessuren inne und hielt Vortragsreihen in Rom, Paris, Morogoro (Tanzania) und Bangalore (Indien). Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der patristischen Bibelauslegung, die Christologie in den griechischen und syrischen Traditionen, die Rezeption der Kirchenväter in der heutigen Theologie der Religionen. Er publizierte u. a. L’exégèse biblique dans les ,Homélies cathédrales‘ de Sévère d’Antioche, Rome 2002. Clemens Sedmak, geb. 1971, studierte Theologie, Philosophie und Sozialwissenschaften in Innsbruck, Linz, New York und an der ETH Zürich. 2001 erhielt er den Ruf auf den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Religionsphilosophie am Institut für Philosophie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Salzburg, den er bis 2005 bekleidete. Seit 2005 ist Sedmak Inhaber des F. D. Maurice Chair für Sozialethik am King’s College London. An der Universität Salzburg hat er die Franz Martin Schmölz OP Gastprofessur inne. Er leitet das 2005 gegründete Zentrum für Ethik und Armutsforschung am Fachbereich Philosophie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Salzburg und ist seit 2006 Präsident der Salzburg Ethik Initiative. Seit 2008 ist er Präsident des ifz, dem Internationalen Forschungszentrum für soziale und ethische Fragen in Salzburg. Zahlreiche Veröffentlichungen aus den Arbeitsgebieten Armutsforschung und Sozialethik, Erkenntnistheorie und Religionsphilosophie, etwa: Vorherwissen Gottes, Freiheit des Menschen, Kontingenz der Welt. Beitrag zu einer systematischen Diskussion, Frankfurt/M. et al. 1995; Kalkül und Kultur. Studien zu Genesis und Geltung von Wittgensteins Sprachspielmodell, Amsterdam 1996; Die politische Kraft

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Autoren und Autorinnen

der Liebe, Innsbruck 2007; Transformation Theology (mit O. Davies. P Janz), London 2007. Johannes Zachhuber, geb. 1967, studierte Theologie in Rostock, Berlin und Oxford, wo er mit einer Arbeit zu Gregor von Nyssa promoviert wurde. Nach mehrjähriger Tätigkeit an der Humboldt-Universität zu Berlin lehrt er seit 2005 Systematische Theologie an der Universität Oxford. Forschungsschwerpunkte sind Philosophie und Theologie in der Spätantike, Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts, Rezeptionsgeschichte patristischer Theologie, Religion und Politik. Veröffentlichungen: Human Nature in Gregory of Nyssa. Philosophical Background and Theological Significance, Leiden 2000; Was hat uns das Christentum gebracht? Versuch einer Bilanz nach zwei Jahrtausenden, Münster 2002, als Herausgeber gem. mit R. Schröder. Im Erscheinen: Theology as Science in Nineteenth-Century Germany: From F C Baur to Ernst Troeltsch; Individuality in Late Antiquity. Linda van der Zijden, geb. 1983, ist Diplompsychologin, sie studierte in Wien und Helsinki. In Wien arbeitete sie als Kinder- und Jugendbetreuerin sowie als Sozialbegleiterin. 2009/2010 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am ifz Salzburg beim Resilienz-Projekt. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich der Arbeitsund Wirtschaftspsychologie. Sie arbeitet zu den aktuellen Themen der Arbeitslosigkeit und Resilienz. Im Mai 2010 war sie Mitorganisatorin einer internationalen, interdisziplinären Konferenz zu „Resilience and Unemployment“ (Salzburger Anstöße 2010). Sie arbeitete zu Forschungsprojekten „Vertrauen in Finanz-Institutionen“ sowie „Muße und ‚decent unemployment‘ “.