Experimentelles Nichtwissen: Umweltinnovationen und die Grenzen sozial-ökologischer Resilienz [1. Aufl.] 9783839428559

Resilience as indicator for the robustness of societal processes generally has a positive connotation. Today, however, s

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Experimentelles Nichtwissen: Umweltinnovationen und die Grenzen sozial-ökologischer Resilienz [1. Aufl.]
 9783839428559

Table of contents :
Inhalt
1. Experiment, Scheitern und Resilienz
NATUR, KULTUR UND DER EXPERIMENTELLE UMGANG MIT NICHTWISSEN
2. Georg Simmel und die Beobachtung der Natur
3. Objektive Kultur und die Entwicklung des Nichtwissens
4. Kollektive Experimente in Natur und Gesellschaft
BLÜHENDE LANDSCHAFTEN, ALTLASTEN UND ALTERNATIVE ENERGIESYSTEME
5. Unberechenbare Umwelt
6. Landschaftsdesign als experimenteller Lehrpfad: die Entwicklung postindustrieller Regionen
7. Vor der Hacke bleibt es duster: experimentelles Nichtwissen und die Sanierung kontaminierter Landschaften
8. Reise zur Hitze der Erde: Geothermie und nachhaltige Energiegewinnung
ZU VIEL RESILIENZ
Hindernisse auf dem Weg in die experimentelle Gesellschaft
Literatur
Nachweise

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Matthias Groß Experimentelles Nichtwissen

Matthias Groß ist Professor für Umweltsoziologie am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig sowie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seine Forschungsschwerpunkte sind Energie, Technologie und Innovation.

Matthias Gross

Experimentelles Nichtwissen Umweltinnovationen und die Grenzen sozial-ökologischer Resilienz

Die Herstellung dieses Buchs wurde gefördert vom Europäischen Exzellenznetzwerk LIAISE: Linking Impact Assessment Instruments to Sustainability Expertise.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Anne Wessner Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2855-5 PDF-ISBN 978-3-8394-2855-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1. Experiment, Scheitern und Resilienz | 7

NATUR, KULTUR UND DER EXPERIMENTELLE UMGANG MIT NICHTWISSEN 2. Georg Simmel und die Beobachtung der Natur | 27 3. Objektive Kultur und die Entwicklung des Nichtwissens | 47 4. Kollektive Experimente in Natur und Gesellschaft | 71

BLÜHENDE LANDSCHAFTEN, ALTLASTEN UND ALTERNATIVE ENERGIESYSTEME 5. Unberechenbare Umwelt | 93 6. Landschaftsdesign als experimenteller Lehrpfad: die Entwicklung postindustrieller Regionen | 107 7. Vor der Hacke bleibt es duster: experimentelles Nichtwissen und die Sanierung kontaminierter Landschaften | 125 8. Reise zur Hitze der Erde: Geothermie und nachhaltige Energiegewinnung | 145

ZU VIEL RESILIENZ Hindernisse auf dem Weg in die experimentelle Gesellschaft | 165 Literatur | 171 Nachweise | 197

1. Experiment, Scheitern und Resilienz

E INLEITUNG Mit der zunehmenden Bedeutung von Wissen als effektiv zu nutzende Ressource vermehrt sich paradoxerweise auch die Bedeutung des Nichtwissens. Wissen wächst nicht linear; vielmehr offenbart die Untersuchung neuer Zusammenhänge zugleich immer neue Wissenslücken und erschüttert vermeintlich stabiles Wissen. Zur Illustration dieses Phänomens wird gelegentlich die Metapher der Wissenskugel herangezogen, da jedes gelöste Problem – nicht nur in der Wissenschaft – neue ungelöste Probleme und damit neue Horizonte, also Grenzen des Bekannten mit sich bringt. Wissen ist wie eine Kugel, die in einem Universum des Nichtwissens schwimmt. Mit dem Wachstum der Wissenskugel vergrößert sich auch die Oberfläche des Wissens und dadurch nehmen die Berührungspunkte mit dem Nichtwissen beständig zu (vgl. Mittelstrass 2007). Mehr Wissen führt damit auch oft zur Bewusstwerdung von Nichtwissen und damit zu immer neuen Forschungsaufgaben. In der Wissensgesellschaft stellen sich dann aber noch weitere Fragen. Zum Beispiel: Wie gehen wir in konkreten Fällen mit unserem wachsenden Nichtwissen um? Was müssen wir nicht wissen und vor welchem Wissen müssen wir uns vielleicht sogar schützen? Aber auch: Kann Nichtwissen vielleicht sogar eine wichtige Ressource für erfolgreiches Handeln sein? Soziologisch betrachtet ist Nichtwissen somit nicht einfach ein Negativzustand jenseits des Wissens, sondern Teil nahezu jeder Entscheidung, Kommunikation und Handlung. Ohne ein Wissen um bestimmte Ressourcen von Nichtwissen würden soziale Prozesse zusammenbrechen, denn erst das Nichtwissen als natürliches Gegenüber des Wissens erlaubt ein Verständnis von Vertrauen und Misstrauen, von Innen und Außen oder von Öffentlichkeit und Privatheit. Im wissenschaftlichen Experiment übernimmt die Hypothesenbildung die Rolle spezifizierten Nichtwissens. Traditionell werden Experimente als Operationen zur Prüfung von Hypothesen verstanden. Eine Hypothese wäre somit eine

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Aussage, deren Gültigkeit möglich ist, die Bedingungen für die Gültigkeit sind jedoch (noch) unbekannt und das für die Beurteilung notwendige Wissen noch nicht vorhanden. Stellt sich die Hypothese als falsch heraus, ist zumindest das Nichtwissen spezifiziert, die Experimentatorin weiß nun, was sie vorher nicht wusste. So verstanden können auch gescheiterte Experimente als erfolgreich gelten. Oder wie es Bazon Brock zusammenfasst: „In the natural sciences experiments are the best way of falsifying hypotheses. If the experiment fails, we know that the hypotheses are unusable, thus the scientist was working successfully“ (Brock 2010: 180). Man könnte also sagen, dass Experimente streng genommen gar nicht scheitern können, denn ein Scheitern liefert dennoch eine Antwort, wenn auch oft eine überraschend andere als die erwartete. Dieses überraschend andere Wissen ist in gewisser Weise aber ein Erfolg des Experiments. Im Experiment entfaltet die Rede vom erfolgreichen Scheitern (vgl. Dörner 2003, Weyer 1993, Petroski 2012) damit eine besonders treffende Bedeutung. Fügt man beide Beobachtungen – die Bedeutung der Erarbeitung von Nichtwissen in der Gegenwartsgesellschaft und die Rolle des Experiments als Analyseinstrument, das aus erfolgreichem Scheitern wichtige Schlüsse zieht – zusammen und versteht den heute zunehmenden gesellschaftlichen Umgang mit Nichtwissen als Teil außerwissenschaftlicher Experimentierprozesse, eröffnen sich neue Einsichten, die helfen, Nichtwissen als konstruktives Element des Alltags zu konzeptualisieren. Umgekehrt gibt dies der Metapher des Realexperiments (vgl. Groß et al. 2005) als Experiment außerhalb des angestammten Bereichs des naturwissenschaftlichen Labors einen konzeptuellen Kern, der sowohl für die Innenseite als auch für den gesellschaftlichen Raum außerhalb des Labors gelten kann. Jedes Realexperiment zielt auf die Verwirklichung eines erwarteten Zustands von mehr oder weniger hypothetischem Charakter und ist daher an ein entsprechend hohes Potential der gesellschaftlichen Enttäuschung und des Scheiterns gekoppelt – auch wenn das Experiment selbst mit Blick auf die Wissensgenerierung ein Erfolg ist. In diesem Zusammenhang ist die Entwicklung neuer Formen der Zusammenarbeit zwischen den Sozial- und Naturwissenschaften zu erwähnen, wie auch die zwischen Experten und Laien sowie allgemein eine engere Kopplung zwischen Wissensgenerierung und Wissensanwendung, welche in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen hat. Zwei Faktoren scheinen dafür verantwortlich. Erstens ist seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die als lineares Modell bezeichnete Abfolge von der Grundlagenforschung über die Anwendungsforschung zur Implementierung neuer Technologien und Strategien immer häufiger einem Rückkopplungs- oder Rekursionsmodell gewichen. In diesem wird auch durch die Anwendung von Wissen etwas über die Grundlagen gelernt und

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diese Grundlagenerkenntnisse haben wiederum häufig eine direkte Relevanz für Anwendungen. Hierdurch erhalten gezielt gestaltete Innovationsprozesse einen quasi-experimentellen Charakter (vgl. Groß et al. 2005, Herbold/Wienken 1993, Thomke 2003). Selbst wenn, wie Oliver Ibert und Kollegen (2014) überzeugend darlegen, es immer wieder längere lineare Phasen in der Entwicklung braucht, die sich als entscheidend für den Erfolg von Innovationen herausstellen, so können diese dennoch von Nutzern angestoßen sein und damit die Grundlagenforschung befruchten. Zweitens ist es häufig unmöglich, die Komplexität der Anwendungssituationen theoretisch zu erfassen. Man denke hier exemplarisch an gentechnisch veränderte Lebensmittel, die Freisetzung gentechnisch veränderter Pflanzen, die Einführung neuer Medikamente, die Problematik des Elektrosmogs oder die Testversionen großer Software-Systeme. Während Laborexperimente durch die räumliche Abgrenzung und strenge Sicherheitsvorkehrungen gesellschaftlich folgenlos bleiben sollten, besteht in Realexperimenten hingegen die Wissensanwendung in einem gezielten gestalterischen ökologischen oder technologischen Eingriff, dessen potentielle Auswirkungen nicht nur weit über die Grenzen des wissenschaftlichen Labors hinaus spürbar sind, sondern als demokratisch organisierter Prozess konzipiert werden können – wenngleich dies oft noch nicht der Fall ist. Beispiele hierfür lassen sich in der Einführung neuer Impfstoffe finden. Nachdem Impfstoffe in klinischen Studien getestet wurden, werden sie sozusagen in der weiteren Bevölkerung als Kontrollgruppe zu Ende getestet (vgl. Rose/ Blume 2003). Mit der Zeit werden möglicherweise bestimmte Parameter nachgebessert und die Randbedingungen besser zu kontrollieren versucht. Da diese Prozesse von gezielten Begleitforschungen unterstützt werden, deren Ergebnisse durch Forscher (im Labor) ausgewertet werden, kann man hier durchaus von Realexperimenten sprechen. Die saubere Trennung zwischen wissenschaftlicher Forschung und gesellschaftlicher Anwendung lässt sich dann nur noch schwierig einhalten, das heißt, die Gesellschaft wird in die Durchführung von Experimenten einbezogen. Für die Durchführung dieser Realexperimente kann eine Legitimation allein für Forschungszwecke nicht eingeholt werden, daher wächst die Bedeutung partizipativer Entscheidungsfindungen, die die wissenschaftliche Öffentlichkeit mit einbeziehen. Die in den letzten Jahren wiederbelebte Diskussion um die Zentralität der sogenannten Prosumer, also von Konsumenten als Teil der Koproduktion zwischen Herstellern und Kunden (vgl. Blättel-Mink/Hellmann 2009), verweist darauf, dass partizipative und integrative Entscheidungsfindungsprozesse besonders in experimentellen Settings an Bedeutung gewinnen müssen.

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Der schrittweisen Zusammenführung von Nichtwissen und Experimentierprozessen in der Gesellschaft werden in diesem Buch Analysen verschiedener ökologischer Praxisfelder – wie die Umgestaltung postindustrieller Landschaften, die Sanierung von Industriebrachen oder die Suche nach erneuerbaren Energiequellen – zur Seite gestellt. Anders als im oben genannten Beispiel neuer Impfstoffe, die potentiell die gesamte Gesellschaft betreffen, sind die „Testfälle“ in diesem Buch eher regional begrenzt, da positiv evaluierte Experimentierprozesse am ehesten in Bereichen zu finden sind, in denen explizit Neuerungen und Veränderungen im Zentrum stehen. Es handelt sich um Bereiche, in denen die offizielle Sicherheitsrhetorik besonders hoch ist, die soziologische Analyse der Alltagspraktiken der involvierten Akteure jedoch verschiedene Ausprägungen experimenteller Kulturen zu Tage fördert, die den Umgang mit Nichtwissen und damit verbundenen Unsicherheiten konstruktiv zu wenden verstehen. Dies wirft neue Fragen nach der Sinnhaftigkeit von Eindeutigkeitserwartungen an die Wissenschaft oder von Fortschritt und Innovation als gesellschaftliche Leitbilder auf.

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Ganz allgemein spielt das Experiment seit der frühen Neuzeit eine entscheidende Rolle für die Entwicklung der modernen Gesellschaft, nicht zuletzt, weil hierdurch neue Formen der Wahrheitsfindung teilweise unter den Augen einer interessierten und oft skeptischen Öffentlichkeit präsentiert werden können (vgl. Collins 1988, Shapin/Schaffer 1985). Die bis dahin häufig in der Religion fußenden „Sicherheiten“ konnten durch neue Sicherheiten – die der objektiven Fakten und der Naturgesetze – abgelöst werden. Infolge der damit einhergehenden Trennung zwischen Natur und Kultur (manchmal auch die moderne Konstitution genannt; vgl. Latour 1995) kam und kommt dem Experiment eine besondere Funktion für den Erhalt sozialer Ordnung zu. Die experimentelle Methode soll zum einen die Transparenz der (Natur-)Zusammenhänge steigern. Zum anderen aber wird das Experiment verbunden mit der Öffnung des mittelalterlichen Universums zu einer Reise in eine Welt neuer, unendlich scheinender Möglichkeiten. Auf Francis Bacon (1561-1626) können zwei Formen des Experiments, die die heutige Diskussion prägen, zurückgeführt werden. Die eine ist die als „reines“ Experiment betrachtete Konzeption des Laborexperiments, welches sich vermeintlich entkoppelt vom Rest der Gesellschaft abspielt; daneben steht, wie Wolfgang Krohn (2009: 40-42) hervorgehoben hat, die provokante Ankündigung

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Bacons an die Öffentlichkeit, dass die experimentelle Methode der Wissenschaft die Gesellschaft selbst zu einem Experiment transformieren würde (siehe auch Schwarz 2014). Jan Schmidt (2011: 162) fasst diesen Ansatz, der Wirklichkeit über eine experimentelle Strategie auf die Schliche zu kommen, folgendermaßen zusammen: „Das Experiment ist experimentell, insofern auf dem Spiel steht, ob es zur Struktur der Wirklichkeit passt.“ Mit „auf dem Spiel stehen“ ist hier wohl gemeint, dass der Strom der gesellschaftlichen Entwicklung nur dann das Potential hat experimentell zu sein, wenn sich eine unerwartete Unterbrechung sozialer Ordnung einstellt oder einzustellen droht. Seit den 1960er Jahren, so Schmidt weiter, zeichne sich jedoch im Zuge von Chaostheorie sowie Komplexitäts- und Selbstorganisationsforschung ein Wandel ab, durch den der Standard des naturwissenschaftlichen Laborexperiments hinsichtlich Reproduzierbarkeit, Kontrolle und Reversibilität als Auslaufmodell betrachtet werden könne. Diese und ähnliche Entwicklungen lassen sich gut in die von Ian Hacking (1996) angestoßenen Diskussionen, dass die Experimentiertätigkeit zunehmend auf Machen und „Tüfteln“ gerichtet sei und theoretische Vorannahmen zunehmend unwichtiger würden, einordnen. Hackings Interpretation, nach der experimentelle Praktiken ein von der Theorieentwicklung relativ unabhängiges Dasein führen, ist selbstverständlich nicht unwidersprochen geblieben (vgl. allein Diskussionen in Heidelberger/Steinle 1998, Pernkopf 2006, Radder 2003), denn der Einfluss von Theorien auf die Interpretation von Experimenten kann zumindest zeitweise gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, auch wenn das Bewusstsein für ihre Rolle sich geändert haben mag. Theoriegeleitete Interpretationen sind sicherlich auch für realexperimentelle Prozesse relevant, denn letztere würden ohne sie kaum sinnvoll als Experimente in der Gesellschaft analysiert werden können – wobei v.a. soziologische Theorien von Bedeutung sein dürften. Es sind hier wohl der von Hans-Jörg Rheinberger (2001) beschriebene Zusammenhang des Experimentalsystems und das Erfahrungswissen der am Experiment beteiligten Personen, die als treibende Kräfte in der Entwicklung der Wissensgenerierung betrachtet werden können, welche auch für Realexperimente und ihre Wirkweisen wichtig ist. Man kann aus diesen Beobachtungen und den Diagnosen zum Wandel der Bedeutung des Experiments nun verschiedene Schlussfolgerungen ziehen. Jan Schmidt meint, dass das Zeitalter des Experiments, das über Jahrhunderte hinweg erfolgreich gewesen sei, dem Ende zugeht (Schmidt 2011: 162-163). Ich gehe hingegen davon aus, dass nach dem Ende des naturwissenschaftlich erfolgreichen Laborexperiments nun das Realexperiment außerhalb des Labors als Standard folgen könnte. Wie oben gesehen, verweist der Begriff des Realexperiments auf Prozesse außerhalb des abgeschirmten Bereichs der Wissenschaft,

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die nicht einfach kontrollierbar, reproduzierbar und reversibel sind; und die, so die hier vertretene Annahme, auch nicht zwingend sein müssen. Sie können als der neue Normalfall des Experiments betrachtet werden; das Laborexperiment wird zum Sonderfall. Will man dem folgen, dann muss man sich mit Realexperimenten kritisch auseinandersetzen, denn diese führen, so kann man heute sicher sagen, nicht nur zur Erforschung von Naturprozessen, sondern auch zum Ausprobieren kultureller Praktiken, zu partizipativer Stadtentwicklung, zu neuen Formen gesellschaftlicher Organisation und Partizipation, zu alternativen Lebensstilen und zu neuen, innovativen Technologien (vgl. Callon et al. 2009, Latour 2011, Taubert 2006, Schneidewind/Scheck 2013). In beiden Formen des Experiments werden Hypothesen aufgestellt und es ist, wie oben angedeutet, gerade die Abweichung von der Hypothese, die eine Quelle produktiver Überraschung darstellen kann. Anders ausgedrückt: Wenn ein Experiment insofern scheitert, als die Hypothesen unbrauchbar waren, ist es erfolgreich. Durch einen experimentellen Zugang werden demnach Überraschungen gefördert und es wird auch versucht, sie zu kontrollieren, um Lerneffekte daraus zu generieren. Sie weisen darauf hin, dass man bestimmte Dinge nicht wusste – Nichtwissen wird deutlich. Das Experiment ist somit sicherlich eine „provozierte Beobachtung“, wie es Claude Bernard (1961: 38) prominent zusammenfasste, aber insbesondere auch ein Weg des geordneten Umgangs mit Nichtwissen. Mit Nichtwissen verbundene Unsicherheiten und Unberechenbarkeiten werden im Experiment konstruktiv zur Generierung neuer Erkenntnisse genutzt. Sie sind damit Hilfsmittel, um durch systematisches Ausprobieren Neues zu generieren. Damit wird eine Offenheit gegenüber eventuellen überraschenden Ereignissen nicht nur gefordert, sondern sie ist Voraussetzung des Experiments und der beteiligten menschlichen Akteure. Soll „Experiment“ hier nicht gleichbedeutend mit jeglicher Form von Veränderung oder evolutionären Prozessen verstanden werden, dann muss, wie es Gotthard Bechmann und Armin Grunwald (2002: 127) ausdrücken, eine „Abgrenzung vom evolutionistischen Prinzip von Versuch und Irrtum“ vorgenommen werden. Ein Experimentator, so Bechmann und Grunwald weiter, „unternimmt in der Regel keine beliebigen Ad-hoc-Versuche, sondern baut wohlüberlegte Arrangements technischer Geräte, methodischer Verfahren und beobachtender Maßnahmen auf, durch deren Zusammenwirken bestimmte Fragen beantwortet werden sollen.“ Bei Realexperimenten geht es so verstanden explizit nicht um Strategien inkrementellen Lernens im klassischen Verständnis eines „muddling through“ (Lindblom 1959) – und damit häufig eines sehr konservativen Vorgehens im Sinne des Wegs des geringsten Widerstandes (vgl. Etzioni 1967). Es geht vielmehr um aktives und bewusstes Entscheiden und Handeln un-

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ter Bedingungen des Nichtwissens. Dies muss dann sinnvollerweise auch das Bewusstsein der Möglichkeit des Scheiterns und die klare Kommunikation darüber mit einschließen. Realexperimentelles Vorgehen ist so verstanden auch nur bedingt mit dem adaptiven Management und damit verbundenen Resilienzvorstellungen in Einklang zu bringen, auch wenn der Begriff „Experiment“ heute gelegentlich ebenfalls im Zusammenhang mit Diskussionen um Anpassung und Resilienz auftaucht. Resilienz (von lateinisch: resilire) bezeichnete in der Psychologie ursprünglich die Widerstandsfähigkeit und Robustheit von Kindern unter Extrembedingungen und wird heute allgemein für verschiedene Formen der Widerstandskraft gegen Alltagsstress, Depressionen oder Burn-out genutzt (vgl. Berndt 2013). Dagegen ist nichts einzuwenden, ebenso wenig wie gegen die Nutzung des Resilienzkonzepts zur Analyse der Fehlertoleranz in Computersystemen (vgl. Wolter et al. 2012) sowie als Form der Beschreibung von Vulnerabilität beim Desastermanagement oder der Evaluierung von Sicherheitsfragen bei Extremereignissen (vgl. Bercht 2013, Kuhlicke 2013, Lorenz 2013, Kaufmann/ Blum 2013). Es finden sich viele weitere Konzepte von Resilienz und Vulnerabilität in der aktuellen sozialwissenschaftlichen Literatur, die auf den ersten Blick oft wenig miteinander zu tun haben – so scheint es (vgl. allein Hess 2011, Kuecker/Hall 2011, Christmann/Ibert 2012, Wildavsky 1988). Die meisten Autoren, die sich mit sozial-ökologischen Fragen befassen, greifen jedoch auf die Arbeiten von Crawford Holling und seinen Kollegen zurück (z.B. Holling 1996, Gunderson/ Holling 2002).1 Holling (1996: 33) versuchte seine Definition von Resilienz von der der Ingenieurswissenschaften abzugrenzen, indem er die „engineering resilience“ als die traditionellere Variante bezeichnete. Diese konzentriere sich, so Holling, „on stability near an equilibrium steady state, where resistance to disturbance and speed of return to the equilibrium are used to measure the property.“ Sein eigenes Verständnis ordnet er rhetorisch einem anderen Paradigma zu. Diese Form der Resilienz „emphasizes conditions far from any equilibrium steady state, where instabilities can flip a system into another regime of behavior.“ Der entscheidende Punkt ist nun, dass Holling hier anschließend schreibt,

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Zum Konservatismus, den der Begriff Resilienz etymologisch und konzeptuell mit sich bringt, siehe Groß (2010: 78-79). Eine grundlegende Kritik des Resilienzansatzes als „organismisch“ und damit als zu verengt auf bestimmte Managementformen findet sich in Kirchhoff et al. (2010). Für allgemeine Diskussionen zu den Grenzen des Resilienzkonzeptes bei der Analyse sozialer Fragen, die weitere wichtige Kritikpunkte anführen, siehe anschaulich Davidson (2010) und Welsh (2014).

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dass in „this case the measurement of resilience is the magnitude of disturbance that can be absorbed before the system changes its structures by changing variables and processes that control behavior“ (Holling 1996: 33). Mit anderen Worten: Im ersten Fall geht es um die Stabilität eines Systems und die Zeit, die es braucht, um in einen vorher als Gleichgewicht bezeichneten Zustand zurückzukehren. Im zweiten Fall geht es um das Ausmaß der durch externe Störeinflüsse hervorgerufenen Veränderungen, die ein System bewältigen kann, bevor es in einen qualitativ anderen Zustand übergeht. Der Unterschied, insbesondere wenn auf soziale Systeme übertragen, ist kaum erkennbar, da es in beiden Fällen um die Frage nach der Robustheit eines Systems geht, also um die Fähigkeit, den bestehenden Zustand zu erhalten, bzw. darum, zu erkennen, wie und welche Störeinflüsse akzeptabel sind, bevor das System zusammenbricht und in einen anderen Zustand übergeht. Im ersten Fall orientiert sich das Verständnis von Resilienz an der Rückkehr eines definierten Ausgangszustandes, im zweiten Fall wird die Frage gestellt, wie weit sich ein System von diesem Ausgangszustand wegbewegen kann, bevor es zerbricht. Dass sich in der Praxis beide Resilienzverständnisse überlappend finden, ist daher nicht überraschend. An beide Traditionen angelehnt sieht die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (acatech) Resilienz als das Sicherheitskonzept des 21. Jahrhunderts, so dass Resilienz zum Grundprinzip der Entwicklung und Planung technischer Infrastrukturen werden soll.2 Dementsprechend wird das Konzept der Resilienz in fünf Phasen unterteilt: 1. 2. 3. 4. 5.

Prepare (z.B. Frühwarnsysteme), Prevent (z.B. Reduzierung der Risikofaktoren), Protect (z.B. Schutzsysteme), Respond (z.B. Katastrophenhilfe) und schließlich Recover, damit sich das System nach der Katastrophe erholen kann.

Allgemein deckt sich diese Abfolge mit verschiedenen Sicherheitskonzepten und dem des Notfallschutzes. Resilienz deckt sich damit aber auch in vielerlei Hinsicht mit verschiedenen Präventionsmaßnahmen. Ulrich Bröckling (2008) hat provokant einmal zusammengefasst, dass Prävention nichts schaffen will, sondern lediglich verhindern oder bestenfalls zuvorkommen. Dies gilt auch für das Design resilienter Prozesse, mit denen als unerwünscht eingeschätzten Ereignissen zuvorgekommen werden soll.

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Siehe hierzu http://www.acatech.de/sicherheit: „Anpassen statt abschotten: Resilienz ist das Sicherheitskonzept des 21. Jahrhunderts“ (aufgerufen am 12.05.2014).

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Die Idee der Resilienz als Toleranzbeschreibung eines Systems gegenüber Störungen von außen verweist zudem – zumindest implizit – immer auf einen Idealtypus, einen früheren (Gleichgewichts-)Zustand, der als Ziel der Erholung (recovery, siehe oben) betrachtet wird. Man schaue sich hierzu allein die Definitionsversuche in den einschlägigen Aufsatzsammlungen zum Thema an (Gunderson/Holling 2002, Gunderson et al. 2009; zum Überblick siehe die exzellente Zusammenstellung in Brand/Jax 2007). Nach Gunderson und Holling (2002: 4) bezeichnet Resilienz „the magnitude of disturbance that can be absorbed before the system changes its structure by changing the variables and processes that control behaviour.“ Brian Walker und David Salt definieren Resilienz als „the ability of a system to absorb disturbance and still retain its basic function and structure“ (Walker/Salt 2006: 1). Zudem ergänzen sie noch das Element der Identität. Resilienz bezeichnet dann die „ability of the system to maintain its identity in the face of internal change and external shocks and disturbances“ (ibid.: 2). Was immer nun im Einzelnen mit Funktion, Struktur und Identität gemeint sein mag (die Ausführungen dazu bleiben meist in metaphorischnebulösem Terrain) – man gründet die Referenzpunkte von Resilienz auf einen Idealzustand, der sich potentiell genau aus den dem System inhärenten Mechanismen und Funktionen zusammensetzt, die selbst Grundlage (z.B. ineffiziente oder nicht nachhaltige Produktionsweisen) oder Auslöser (z.B. religiös begründete Aktivitäten oder top-down-gesteuerte Entscheidungen) für die jeweilige Störung oder Krise gewesen sein könnten. Im Resilienzdiskurs, insbesondere in der Nachfolge Hollings (1978), suggeriert man jedoch häufig, dass Störungen immer „von außen“ kommen. Wenn eine Störung überstanden ist, ist es am besten, wieder in den Normalzustand überzugehen. Nassim Taleb (2013: 21) fasst Resilienz so zusammen: „Das Resiliente, das Widerstandsfähige widersteht Schocks und bleibt sich gleich.“ Das Problem hierbei scheint zu sein, dass Resilienz mittlerweile nicht nur auf soziale und ökologische Systeme angewandt wird (vgl. Adger 2000, Brown 2014, Walker et al. 2002), sondern insbesondere bei der Anwendung auf gesellschaftliche Prozesse immer weiter gefasst und nahezu willkürlich umdefiniert wird. Neil Adger (2000: 361) definiert soziale Resilienz noch klassisch als „the ability of communities to withstand external shocks to their social infrastructure.“ Gelegentlich wird resiliente Entwicklung aber auch mit nachhaltiger Entwicklung gleichgesetzt und häufig zudem mit Partizipationsprozessen (z.B. Goldstein 2011) oder auch mit der Transition-Bewegung in Verbindung gebracht (z.B. Seyfang 2009, Barry 2012). Handmer und Dovers versuchten in den 1990er Jahren noch, mit dem Verweis darauf, dass das Gegenteil von Resilienz die Stabilität sei, eine klare Unterscheidung zwischen diesen beiden Idealzuständen und

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Stabilität einzuholen, können dann in ihrer Übersichtstabelle (Handmer/Dovers 1996: 496) aber auch nur konstatieren, dass letzten Endes alles unter die Definition von Resilienz gefasst werden kann. In John Barrys einflussreichem Buch The Politics of Actually Existing Unsustainability findet sich zwar sehr häufig das Wort „resilience“, warum es jedoch so oft benutzt werden muss, wird nicht klar. Bestenfalls wird deutlich, dass Resilienz, so Barry, ein „up-grading of sustainability“ (Barry 2012: 83) darstelle, da es die eher ursprünglichen Ideen der grünen Nachhaltigkeitsbewegung (worin auch immer diese bestehen mögen) unterstreiche. Auch im deutschsprachigen Raum wird Resilienz seit einigen Jahren nicht nur in den Umweltwissenschaften, sondern auch darüber hinaus als Allroundkonzept angewandt.3 Neben grundlegenden Zugängen im Zusammenhang mit Sicherheitsfragen auf ökonomischer, juristischer, psychologischer und politischer Ebene (vgl. Gander et al. 2012) versuchen neuere Studien, wie die von Ibert und Schmidt (2014) oder Christmann und Ibert (2012), bestimmte Prozesse als „transformative resilience“ zu fassen, wobei es auch hier unklar bleibt, was im einzelnen resilient bleiben oder werden soll, was sich wandelt oder transformiert und insbesondere wozu man hierfür ein „Konzept“ braucht, das sich Resilienz nennt. Für Ibert und Schmidt (2014), die eine faszinierende Studie zum sich ändernden Arbeitsmarkt für Musicaldarsteller vorlegen, ändert sich der Begriff Resilienz mit der empirischen Beschreibung der Prozesse, die als alternierende Phasen zwischen Stabilität und Wandel beschrieben werden: In Stabilitätsphasen müssten sich die beobachteten Akteure auf Überraschungen einstellen, in Zeiten des Wandels sei Anpassung jedoch nicht hilfreich (ibid.: 2). Ein von der Etymologie her gegenteilig ausgelegter Begriff scheint für die Analyse dieses Falls eher hinderlich. Was an dem Fall dann die resilienten Aspekte sind und wie sich der beschriebene Prozess von nicht resilienten Abläufen unterscheidet, geht aus der Rekonstruktion der Autoren nicht hervor. Die Autoren gehen wohl implizit davon aus, dass alles, was von ihnen beschrieben wird, irgendwie eine mal mehr oder auch mal weniger starke Resilienz aufweist. Wenn sich die empirische Realität als nicht passfähig zu bestehenden Konzepten er-

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Bereits 1990 hatten Rainer Paslack und Peter Knost im Rahmen ihrer historischen Aufarbeitung der Selbstorganisationsforschung seit 1940 Resilienz als eines der Urkonzepte der Selbstorganisationstheorie in die deutschsprachige Diskussion eingeführt, allerdings damals noch im klaren Verständnis einer Analyse von Formen von „Elastizität“ von Ökosystemen (siehe insbesondere Paslack/Knost 1990: 22-24). Vor dem Hintergrund, dass auch Holling ursprünglich von „Erstschlagabsorbtionskapazität“ sprach, macht dies Sinn.

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weist, wird das Konzept entsprechend umdefiniert. Dies ist bis zu einem gewissen Grad sicherlich legitim, wenn jedoch Resilienz damit gleichbedeutend wird mit allem, was sich in Ökologie und Gesellschaft zur Wehr setzt, sich anpasst, geordnet ist, sich transformiert oder auch nicht ändert, verliert der Begriff jegliche Bedeutung. Während die traditionelle Auslegung sinnvollerweise eher auf die Fähigkeiten eines Ökosystems oder einer gesellschaftlichen Gruppe verweist, mit externen Einflüssen (z.B. Extremereignissen) umzugehen, umfasst die neuere Literatur sogar die radikale Transformation, bei der eben die bestehenden Strukturen und Funktionen nicht mehr erhalten bleiben. Um auch dies irgendwie noch mit Resilienz in Verbindung zu bringen, schreiben Folke et al. (2010): „Thus, deliberate transformation involves breaking down the resilience of the old and building the resilience of the new.“ Wofür steht dann noch Resilienz? Es ließe sich einwenden, dass durch die „Resilienzifizierung“ von fast allem neue Themen und Problemlagen in den Blick geraten seien, die man ohne den Begriff so nicht zu fassen bekommen hätte (wie es ja auch mit dem oft kritisierten Nachhaltigkeitsbegriff geschehen ist), allerdings erkennt man diese bisher in der Literatur kaum und zumindest aus soziologischer Perspektive sind die beobachtbaren Neuerungen bestenfalls kosmetischer Natur. Auf soziale Prozesse angewandt scheint es also zwei Strömungen der Resilienzbetrachtung zu geben: zum einen die eng an die Ingenieurwissenschaft und frühe Ökologie um Holling angelehnte Sichtweise, wonach die Stabilität bestehender Ordnungsmuster trotz äußerer Störungen aufrechterhalten werden soll, und zum anderen die Versuche, Anpassungsleistungen sozialer Systeme gegenüber verschiedenen, oft als zerstörerisch wahrgenommenen Stressfaktoren zu erfassen. Zusammengenommen geht es also um das alte Spannungsverhältnis zwischen potentiell zerstörerischer Veränderung und dem Erhalt sozialer Ordnung. Dies war nicht nur in der Soziologie schon immer ein Kernthema, es ist in vielerlei Hinsicht eine der wichtigsten Fragen der Sozialwissenschaften des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts gewesen – ganz ohne Resilienzbegriff. Bereits der Namensgeber der Soziologie, Auguste Comte, sah in der Ordnung der Gesellschaft und deren Organisation das Hauptthema der neuen Wissenschaft, die sich auf die Untersuchung der Differenz zwischen Statik und Fortschritt konzentrieren sollte. Comte hatte für die Analyse seiner Soziologie den Krisenbegriff aus der Medizin übernommen, um auf unerwartete und radikale Änderungen hinzuweisen, die die politische und soziale Ordnung stören können (vgl. Repplinger 1999). Anstatt Ordnung und Fortschritt als miteinander unverträglich zu verstehen, will Comte zeigen, dass gesellschaftliche Ordnung nur noch denkbar ist,

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wenn sie mit Fortschritt (franz.: le progrès, gelegentlich auch mit Dynamik übersetzt) einhergeht, genauso wie Fortschritt nur erfolgen kann, wenn er auf verlässlicher Ordnung fußt (Comte 1923: 7). Über 150 Jahre später liest sich das bei Folke et al. (2010) in der ResilienzSprache so: „Transformational change at smaller scales enables resilience at larger scales, while the capacity to transform at smaller scales draws on resilience at other scales.“ Sprich: Veränderungen auf der Mikroebene ermöglichen Veränderungen auf der Makroebene, wobei die Veränderungen auf der Mikroebene auf verlässlichen Strukturen (Ordnung) auf anderen Ebenen fußen müssen. Konkreter werden die abstrakten Ausführungen in der Resilienzrethorik praktisch nie. Auch bei Holling liest man lediglich: „One the one hand, destabilizing forces are important in maintaining diversity, resilience, and opportunity. One the other hand, stabilizing forces are important in maintaining productivity and biogeochemical cycles“ (1996: 32). Man lernt zumindest, dass Ordnung und Veränderung Teil desselben Prinzips seien. Bei Comte bedeutet dieses Prinzip, dass man es ständig mit sozialer Bewegung zu tun hat. In dieser mache sich zum einen eine „verhängnisvolle Tendenz“ zur Auflösung einer bestehenden Ordnung breit, zum anderen wirke gleich eine weitere Tendenz zur Verfestigung einer neuen Ordnung dagegen (vgl. Comte 1923: 1-11; 391-452). In der Resilienzliteratur wird der geneigten Leserschaft klar, dass sich manche Dinge nur ändern können, wenn anderes gleich bleibt. Da wird niemand widersprechen, aber was hat man dazugelernt? Würde man in weiten Teilen der Resilienzliteratur, die sich mit sozio-ökologischen Systemen befasst, das Wort Resilienz mit „Ordnung“ ersetzen, wäre konzeptuell wahrscheinlich wenig Unterschied zu bemerken. Zumindest soziologisch (und sicherlich auch darüber hinaus) scheinen die Resilienzbeschreibungen für das bessere Verständnis von sozio-ökologischen Prozessen lediglich dürftige Einsichten zu liefern. Etwas elaborierter findet man Ausführungen zum Spannungsverhältnis zwischen Ordnung und Dynamik bei George Herbert Mead in den 1920er Jahren. Für Mead ist das gesellschaftliche Kernproblem „Mittel und Wege zu finden, wie sich Ordnung und Struktur in der Gesellschaft bewahren und dennoch die Veränderungen durchsetzen lassen, die notwendig sind und in der Realität ständig vor sich gehen.“ Daher fragt er sich: „Wie kann man jene Veränderungen in geregelter Form zuwege bringen und gleichzeitig Ordnung bewahren?“ (Mead 1969: 57). Und er fährt fort: „Die Veränderung einer gegebenen Gesellschaftsordnung bedeutet scheinbar deren Zerstörung, und dennoch verändert sich die Gesellschaft und [sie muss] sich verändern“ (ibid.). So gesehen wäre Resilienz im breiten Verständnis, wie es sich teilweise in der Literatur findet, gleichbedeutend mit Gesellschaftsentwicklung. Das macht wenig Sinn. Beschränkt man

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Resilienz jedoch, im Einklang mit der Etymologie des Begriffs, auf ein Konzept der Widerstandsfähigkeit und des Schutzes für die Beschreibung von Innovations- und Transformationsprozessen, kann es im Kern fast nur um Besitzstandwahrung und Erhalt des Status quo gehen – wenn der Begriff nicht jegliche Bedeutung verlieren soll. Eine solche breite Verwendung, die sich mal der einen, mal der anderen Extremvariante von Resilienz zuwendet, findet sich im sogenannten adaptiven Management (vgl. Gunderson 1999). Sie hat sich mittlerweile auch auf die Analyse von Gesellschaften ausgebreitet, wo nicht nur von resilienten Prozessen, sondern gelegentlich auch von Experimenten im Rahmen von Managementprozessen gesprochen wird. Auch wenn einzelne Fallstudien unter dem Label „adaptives Management“ schon mal als „experimentell“ bezeichnet werden (Norton 2002, Walters/Holling 1990) oder auch durchaus realexperimentell rekonstruiert werden können (z.B. Cook et al. 2004), so bewegt sich die konzeptuelle Grundlage dieses aus dem Ökosystemmanagement stammenden Ansatzes in sehr konservativen Gefilden, da sich immer eine Seite an eine andere anpassen soll oder muss und adaptives Management damit konzeptuell oft deckungsgleich mit bekannten inkrementellen Vorgehensweisen à la Lindblom wird. Walters und Holling (1990) behelfen sich zum Beispiel mit dem Begriff „active adaptation“, um auf die Neuausrichtung nach jedem gemessenen Störeinfluss im Ökosystemmanagement zu verweisen. Orientiert wird sich aber auch hier an früheren Ausgangszuständen, die implizit als Idealzustand aufgefasst werden. Bryan Norton zum Beispiel versteht adaptives Management als experimentell, weil es „a commitment to uncertainty, to constantly adjust our goals and commitments through experimentation and observation“ (Norton 2002: 172-173) beinhalte. Ganz abgesehen davon, dass Norton hier das Experimentelle u.a. damit definiert, dass es experimentell sei, liefert er keine weiteren konzeptuellen Erläuterungen (auch nicht in seinem Opus magnum Sustainability von 2005).4 Mit Realexperimenten ist hingegen das bewusste Hervorrufen von Neuerungen, innovativen Lösungen und Umstrukturierungen gemeint, die potentiell zu Veränderungen führen sollen (nicht: müssen), die nicht an die Ausgangszustände zu erinnern brauchen. Dabei ist der strategische Umgang mit Nichtwissen zentral. Anpassung und Resilienz sind also nicht auf die (experimentelle) Generierung von Innovation ausgerichtet, sondern im Kern auf Vermeidung und Ab-

4

Zu anderen Problemen des Ansatzes von Norton, u.a. auch hinsichtlich seines Verständnisses einer eher passiven Rolle der menschlichen Akteure im adaptiven Management (und damit meine Kritik an diesem Ansatz indirekt stützend), siehe Van den Belt (2002).

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wehr, auf das Reaktionsvermögen auf eine Bedrohung von außen. Weiterhin verdeutlicht dies noch einmal den inkrementellen Charakter von Anpassung und Resilienz, wenn sie auf Prozessbeschreibungen angewandt werden. Im Kern geht es um die richtige Wahl des Weges des geringsten Widerstandes. Norton, der gerne von „experimental management“ spricht, nutzt hierfür das berühmte Gleichnis des Schiffers auf hoher See von Otto Neurath (1882-1945): „Wie Schiffer sind wir“, schreibt Neurath (1932: 206), „die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können.“ Auf dem Meer können die Schiffer das Schiff umbauen, indem sie einzelne Teile ab- oder anbauen oder vorhandene Einzelteile anpassen oder restaurieren.5 Norton versucht nun, seinen Begriff vom Experiment im adaptiven Management mit Neuraths Gleichnis zu verdeutlichen. Er interpretiert Neurath wie folgt: „As particular planks weaken from weather and heavy use, we replace them, standing on the strongest remaining planks while replacing the weakest ones. In principle, it would be possible to replace every plank, resulting in a ‚new‘ ship in the physical sense that every plank is new but the ship still the same vessel and having no need to be rechristened.“ (Norton 2005: 107)

Anders ausgedrückt: Es ist nicht das Ziel, innovative Strategien und Neuerungen der Schiffsentwicklung anzustoßen, um zum Beispiel Schiffsplanken zu entwickeln, die nicht so leicht verrotten, oder um Holzplanken durch andere Materialien zu ersetzen oder möglicherweise das Transportmedium Schiff komplett zu überdenken, sondern es geht lediglich darum, den Verfall des Schiffes zu vermeiden, indem man sozusagen hinterherrepariert. Dies illustriert in perfekter Weise den Pfad der Resilienzdebatte, nämlich die Neigung, nichts Neues zu entwickeln, sondern dem Ideal eines Status quo (Struktur, Funktion und Identität) anzuhängen. Norton fährt weiter fort, indem er sagt, die Analogie zu Neuraths Schiff „illustrates the idea of piecemeal improvement of a belief system in which no belief is ultimately privileged, even though some beliefs are accepted as unquestioned for very long periods of time“ (ibid.: 107-108). Dieses Verständnis mag den Kern der Ökosystem-Debatte um Resilienz sowie des adaptiven Managements repräsentieren, aber sicherlich nicht den experimenteller Strategien, wie sie eingangs erläutert wurden. Folgt man Nortons Auslegung von Neurath, dann landet man bei Abwehr- und passiven Anpassungsstrategien. Raum für Experimente von Individuen in und mit ihren natürlichen und sozialen

5

Zur Geschichte von Neuraths Schiffsgleichnis siehe Cartwright et al. (1996: 89-166).

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Umwelten ist somit nicht vorgesehen. In Nortons Sichtweise bedeutet „Experiment“ Anpassung so weit als nötig, um den Status quo nicht zu gefährden bzw. möglichst schnell wiederherzustellen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass das adaptive Management heute mit dem Modebegriff Resilienz oft in einem Atemzug genannt wird. Dass es schon allein bei den ökologischen Herausforderungen der Gegenwart, wie dem Klimawandel oder der Umstellung auf erneuerbare Energiesysteme, um grundlegende Veränderungen und damit eine Veränderung bestehender Strukturen – insbesondere nach Schocks á la Fukushima – geht, wird dabei leicht aus den Augen verloren.

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UND EXPERIMENTELLE K ULTUR : ZUM WEITEREN A UFBAU DES B UCHES Um weiter zu verdeutlichen, dass die in der Literatur zunehmend zu findende Gleichsetzung von Experiment, adaptivem Management und Resilienz nicht sinnvoll erscheint, wird im folgenden Kapitel 2 – das erste Kapitel von Teil I „Natur, Kultur und der experimentelle Umgang mit Nichtwissen“ – zuerst die Bedeutung unerwarteter Wechselwirkungen zwischen Natur und Gesellschaft verdeutlicht. Dazu werden das Beispiel der konzeptuellen Überlegungen von Georg Simmel sowie aktuelle Diskussionen aus der Umweltsoziologie herangezogen. Wechselwirkungen waren für Georg Simmel ein Kernkonzept der Soziologie. Auch wenn Simmels Begriff in den letzten 100 Jahren viel berechtigte Kritik hervorgerufen hat, kann er in mancherlei Hinsicht auch heute noch als Scharnierkonzept interpretiert werden, an dem man den Unterschied zwischen der Soziologie und anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen festmachen kann. Anders als zum Beispiel in der Ökonomie oder der Psychologie rücken in der Soziologie mit den wechselseitigen kausalen Beeinflussungen zwischen Menschen und Menschen, aber auch zwischen Menschen und „außersozialen Tatsachen“, schnell die nichtintendierten und unerwarteten Folgen dieser Beziehungen ins Blickfeld. In gewisser Weise stehen überraschende Wendungen und Brüche im Zentrum der soziologischen Aufmerksamkeit, was Alejandro Portes (2000) dazu veranlasste, die Soziologie als Wissenschaft des Unerwarteten zu charakterisieren. Das anschließende Kapitel 3 dieses Buches vertieft Simmels These, dass moderne Gesellschaften kulturelle Objekte produzieren, um den inneren Antrieb der Individuen, soziale Wesen zu werden, zu befriedigen. Immer mehr Nichtwissen kann als ein Ergebnis der wachsenden Schwierigkeiten, die objektive Kultur in subjektive Kultur umzuwandeln, verstanden werden.

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Das darauf folgende Kapitel 4 wendet sich der Frage zu, wie es um den Experimentbegriff in Zeiten bestellt ist, in denen die Trennung zwischen Natur, Wissenschaft und Gesellschaft zumindest gelegentlich zu verschwimmen scheint. Neben Ausflügen in die Geschichte des Sozialexperiments sowie der Aufarbeitung eigener Reflexionen (vgl. Groß et al. 2005) bezieht sich das Kapitel insbesondere auf Schriften von Bruno Latour um zu erläutern, wie experimentell gestaltete Entscheidungsprozesse entwickelt werden können, die durch die rekursive Verbindung von Wissensproduktion und Wissensanwendung gekennzeichnet sind. Dies erlaubt ein soziologisches Verständnis, in dem gesellschaftliche Prozesse nicht nur zunehmend von Entscheidungen unter Nichtwissen gekennzeichnet sind, sondern in dem es genau diese Entscheidungen sind, die als Ausgangspunkt für Innovationsprozesse in einer experimentellen Gesellschaft betrachtet werden können. Unter der Überschrift „Blühende Landschaften, Altlasten und alternative Energiesysteme“ beginnt Teil II des Buches (Kapitel 5) mit einem ersten Überblick über kurze Fallbeispiele, die den aktiven und experimentellen Umgang mit Nichtwissen in den Blick nehmen. Solche Prozesse werden dann am Beispiel ökologischer Praxisfelder untersucht, in denen trotz hoher Sicherheitsanforderungen und damit verbundener Erwartungen erkannte Wissenslücken nicht als unüberwindbare Hindernisse betrachtet werden. Hierzu gehören der Umgang mit Feuer in der Ökologie, die Stadtentwicklung als Experiment oder die Wiedereinführung des Wolfes in heimische Ökosysteme. Kapitel 6 bis 8 befassen sich dann ausführlicher mit verschiedenen Feldern, in denen trotz politisch gewollter Sicherheitsrhetorik die soziologische Analyse wenig ausmachen kann, was mit Resilienz und ähnlichen Konzepten sinnvoll gerahmt werden kann. Man findet hier eher strategische Konzepte zum Umgang mit unvermeidbaren Unsicherheiten und Wissenslücken, die gezielt darauf gerichtet scheinen, bestehende Strukturen zu transformieren und nicht um jeden Preis zu erhalten. Dazu gehören Analysen zur Gestaltung ehemaliger Tagebaugebiete nach den radikalen politischen Änderungen durch den Systemzusammenbruch 1989/90, zur Sanierung kontaminierter Altlastenflächen sowie zur Suche nach alternativen Energiequellen in den Tiefen der Erde. Die in solchen Zusammenhängen entwickelten Umweltinnovationen haben meist nicht nur technische, sondern genauso soziale und institutionelle Neuerungen und Transformationen zur Folge, die zu veränderten Formen der Umweltnutzung führen können, welche wiederum nachhaltigere Prozesse des Umgangs mit natürlichen Ressourcen in Gang setzen können. Was diese Fälle eint, ist, dass der Erfolg im Umgang mit dem Spannungsverhältnis zwischen unvermeidbarem Nichtwissen und hohem Handlungsdruck weniger in hoher Resilienz begründet liegt, sondern in ex-

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perimentellen Kulturen, die mit Nichtwissen und unvermeidbaren Unsicherheiten konstruktiv umzugehen gelernt haben. So verstanden scheint sich die Idee des „experimentellen Nichtwissens“ viel eher als Beschreibungs- und Analysekategorie für die von Unsicherheit geprägten Transformationsprozesse in der Gegenwartsgesellschaft anzubieten als Vorstellungen von Absorptionskapazitäten oder anderen Variationen von Resilienz, Vulnerabilität und Anpassung. Hinter dem vorliegenden Buch stand anfänglich die Idee, verschiedene Aufsätze der letzten knapp 15 Jahre, die zumeist nur auf Englisch veröffentlicht worden waren, ins Deutsche zu übertragen und sie über die Nichtwissensthematik im Zusammenhang mit experimentellen Gestaltungsprozessen an aktuelle Themen der Umweltforschung anzuknüpfen. Letztlich ist aber mehr daraus geworden. Eine strenge Übersetzung schien zwar von Anfang an nicht sinnvoll, dass der Prozess der Übertragung oft zu Neuformulierungen und teilweise auch radikalen Kürzungen oder starken Erweiterungen und Änderungen früherer Argumentationen führen würde, war zunächst jedoch nicht intendiert. Die entsprechenden Nachweise zu den ursprünglichen Publikationen sind dennoch am Ende des Buchs aufgeführt, da hier oft weitere Aspekte und Schwerpunkte der vorgestellten Fälle zu finden sind.

Natur, Kultur und der experimentelle Umgang mit Nichtwissen

2. Georg Simmel und die Beobachtung der Natur

U NERWARTETE W ECHSELWIRKUNGEN Das Thema „unerwartete Wechselwirkungen“ greift mit der klassischen Problematik der doppelten Kontingenz ein Kernthema der Soziologie auf, dies aber in einer soziologisch nicht unproblematischen Form, da es – wie in den letzten 20 Jahren am Beispiel der sogenannten Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) deutlich wurde – soziologische Konzepte „verunreinigt“ und symbolische mit effektiven Wechselwirkungen vermischt werden. Dies mag puristischen Vertreterinnen der Soziologie nicht gefallen. Aber auch mit Simmels Verständnis von Wechselwirkung als Kernbegriff der Soziologie war, wie Hartmann Tyrell (2011: 33) kritisch anmerkt, „nichts spezifisch Soziales bezeichnet“. Anders als bei Tyrell soll die Möglichkeit des nicht spezifisch Sozialen hier jedoch als Vorteil betrachtet werden, da dadurch Anknüpfungen an außersoziale Tatsachen zumindest nicht von vornherein ausgeschlossen sind. Bei Simmel selbst wurde diese offene Tür nur angedeutet und nicht weiterentwickelt. Darauf soll nun ausführlicher eingegangen werden, um Hinweise auf Weiterentwicklungen anzubieten. Auch wenn die materielle Umwelt in der allgemeinen Soziologie seit den 1950er Jahren meist nur eine Randnotiz geblieben ist, findet man seit den 1970er Jahren auch im deutschsprachigen Raum zunehmend Forschungsarbeiten über die ökologischen Grundlagen der Gesellschaft, wie zum Beispiel Joseph Hubers Technokratie oder Menschlichkeit (1978) und sein Modell der Wechselwirkungen zwischen Techno-System, Gesellschaft und Natur. Aktuelle Debatten über den ontologischen Status der physischen Welt der Gesellschaft und den dazugehörenden soziologischen Ansatz lassen sich trotz aller berechtigten Vereinfachungsvorwürfe (vgl. Band 2010, Kneer 2009) in zwei bekannte Lager einteilen: das sozialkonstruktivistische und das realistische. Diese Einteilung wird nicht unternommen, weil es tatsächlich einen Sozialkonstruktivismus oder einen „rea-

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listischen“ Ansatz in der Soziologie oder anderen Sozialwissenschaften gibt, sondern weil sich diese Gegenüberstellung im soziologischen Diskurs immer wieder findet, und sei es nur, so scheint es gelegentlich, um darauf zu verweisen, dass die Situation nicht so einfach ist. Es lässt sich jedoch feststellen, dass in den meisten sozialkonstruktivistischen Ansätzen der Mensch und seine Interpretationen der ökologischen Umwelt in den Mittelpunkt der Forschung gerückt werden. Der selbsterklärt realistische Ansatz fordert hingegen, dass die Realität der Umwelt in die soziologische Theoriebildung als direkte Information einfließen müsse. Am prominentesten haben dies möglicherweise William Catton und Riley Dunlap (1978) in ihrer Forderung nach einem neuen ökologischen Paradigma der Soziologie vorgetragen. Aber auch im deutschsprachigen Raum gab es bereits früh derartige Überlegungen, zum Beispiel bei Walter Bühl (1980) oder etwas später in den Arbeiten des Wiener Ansatzes der Sozialökologie (vgl. Fischer-Kowalski et al. 2011) und der Frankfurter Sozialen Ökologie (vgl. Becker et al. 2011), aber auch bei Ulrich Beck (1988), einem der Gründer der Sektion Umweltsoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS).1 Es mag zwar sein, dass sich auch „Realisten“ mit Interesse an kulturellen Konstruktionen finden oder einige „Konstruktivisten“ die Bedeutung der Naturkraft für soziale Prozesse in Abrede stellen. Dennoch lässt sich sagen, dass selbst wenn der sozialkonstruktivistische Ansatz nicht explizit den Einfluss der Natur bestreitet, es unklar bleibt, bis zu welchem Grad kulturelle Muster die Betrachtung der Natur determinieren und welcher Einfluss der Natur in soziologischen Analysen zugestanden werden soll. Folglich blieben bis in die 1990er Jahre viele theoretische Diskussionen der Lager in einer Gegenüberstellung beider Positionen stecken (vgl. Lange 2000, Reusswig 1999, Yearley 1991). In jüngerer Zeit haben sich einige vermittelnde Strömungen entwickelt, die möglicherweise Alternativen bieten, auch wenn diese sich der nicht unbegründeten Gefahr aussetzen, dass die Beschreibung der soziologischen Beobachtung der außersozialen Umwelt lediglich in der Metapher der „handelnden Natur“ als Anlass zur Formung und Strukturierung des Sozialen endet. Hierzu gehört an

1

Nach ersten Anstrengungen in den 1980er Jahren wurde im Jahre 1993 eine AG Soziologie und Ökologie in der DGS gegründet (vgl. Beck/Brand 1995), die dann 1996 offiziell in eine eigenständige Sektion der DGS überging. 2007 wurde diese in Sektion Umweltsoziologie umbenannt, nicht zuletzt, um an die mittlerweile international akzeptierte Bezeichnung „environmental sociology“ anzuknüpfen. Zur Geschichte der Institutionalisierung umweltsoziologischer Forschung in Deutschland und Europa siehe anschaulich Lange (2011).

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zentraler Stelle die Akteur-Netzwerk-Theorie, von der im Folgenden häufiger die Rede sein wird (vgl. Kropp 2005, Passoth et al. 2012, Peuker 2011, Wieser 2012).

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Eine grundlegendere Herausforderung für die konstruktivistische Sichtweise in der Umweltsoziologie hat jedoch mit einer Besonderheit der Disziplin Soziologie selbst zu tun. Die Soziologie steht mit dem Thema und dem Gegenstand Natur vor Fragestellungen, denen andere Wissenschaften nicht gegenüberstehen. Durch die veränderte Kommunikation über die Wechselwirkungen zwischen Natur und Gesellschaft und deren soziale Konstruktion wird die Soziologie selbst – streng genommen – Teil dieser Veränderung. Sofern sich die Soziologie als Analyse und Beschreibung der Gesellschaft versteht, ist sie Bestandteil der gesellschaftlichen Kommunikation, die sie selbst untersucht. Im Gegensatz dazu ist beispielsweise die Bodenphysik als Disziplin nicht Element ihres Untersuchungsbereichs; die Chemie als Wissenschaft funktioniert in diesem Sinne nicht chemisch. Die Theoriesprache der Soziologie ist hingegen nicht immunisierbar gegenüber den sozialen Praktiken, die sie zu erfassen und zu analysieren sucht. Folgt man also der These, dass im weiteren Verlauf der Industrialisierung im 21. Jahrhundert eine Ökologisierung der Gesellschaft anstehe, in der sich die Wechselwirkungen mit der Natur in Richtung einer kommunikativen Kultur zu wandeln beginnen, so kann die Soziologie ihre Theorie nicht dagegen immunisieren. Wie aber kann sie darauf konstruktiv reagieren? Die prominenten Gründer der neuen Umweltsoziologie, William Catton und Riley Dunlap, forderten 1978 ein neues ökologisches Paradigma der Soziologie ein, das dadurch gekennzeichnet sein sollte, dass es die natürliche Umwelt ernst nimmt (ähnlich Beck 1986 oder Bühl 1980). Catton und Dunlap riefen ihre Kollegen in der Soziologie dazu auf, in ihrer Forschung den Blick auf die Wechselwirkungen zwischen Menschen und Ökosystemen zu richten, da der Mensch auch nur ein Lebewesen unter vielen sei. Auffällig ist nun, dass die empirischen Untersuchungen in der Nachfolge von Catton und Dunlap in den Jahren nach 1978 eher als gut erprobte soziologische Untersuchungen zu Einstellungen und zum Organisationswandel zu verstehen sind, jedoch kein neues ökologisches Paradigma der Soziologie aufweisen. Die Herausforderung der konzeptuellen Erfassung der Wechselwirkungen zwischen materieller und sozialer Umwelt schlug sich prominent zuerst in einem Ansatz aus der Wissenschaftssoziologie nieder: im symmetrischen Ansatz der Akteur-Netzwerk-Theorie. Der Versuch der ANT, die materielle Umwelt in so-

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ziologischen Beschreibungen ernst zu nehmen und Analysemöglichkeiten dieses Wechselverhältnisses weiterzuentwickeln, kommt in gewisser Hinsicht der Forderung nach einem neuen ökologischen Paradigma nach Catton und Dunlap recht nahe. Bruno Latour, einer der Hauptvertreter der ANT, forderte seit den späten 1980er Jahren die Einnahme einer symmetrischen Position, die die Wechselwirkungen zwischen Natur und Mensch auf einer Ebene beobachtbar macht. Für diese Beobachtung beider Seiten und die sprachliche Erfassung wurde der Begriff der „Aktanten“ eingeführt, der in Abhebung von der Sinnzuschreibung des Handelnden in der Soziologie aus der Semiotik übernommen wurde (Latour 1995). Der Mensch verliert somit seine zentrale Rolle als Handelnder im Ökosystem, da – zumindest in Latours Arbeiten bis in die späten 1990er Jahre – alle A-priori-Unterscheidungen zwischen Aktanten abgeworfen werden, auch oder besonders die zwischen sozialen und natürlichen. Aus sozialkonstruktivistischer Sicht wird man einwenden, dass damit soziologische Handlungskonzepte überzogen werden, da ja offensichtlich nicht symbolisch, sondern effektiv gehandelt wird. Zudem wird damit der klassische Begriff der doppelten Kontingenz kontaminiert. Da in täglichen Interaktionen die saubere Trennung zwischen einer rein symbolischen, also sprachlich konventionalisierten, und einer rein kausalen Zweck-Mittel-Operation nicht anzutreffen ist, sondern sie vielmehr analytisch gezogen wird, sollte es jedoch auch für die soziologische Beobachtung legitim sein, sich um die hybriden Formen der Kommunikation und Interaktion zu kümmern (vgl. Brand 2014, Voss/Peuker 2006). Als konstruktive historische Ergänzung zu diesen aktuelleren Diskussionssträngen möchte ich einige Betrachtungen über den soziologischen Klassiker Georg Simmel (1858-1918) anstellen. In diesem Kapitel soll gezeigt werden, dass Simmel eine eigene Idee der prozesshaften und flexiblen Relation zwischen Natürlichem und Kulturellem umrissen hat und dabei weder die Gesellschaft auf Natur noch umgekehrt die Natur auf Gesellschaft reduzierte. Stattdessen lassen sich deren Wechselwirkungen mit einem Wechsel zwischen zwei verschiedenen Beobachtungsebenen erforschen. Dies geht nicht nur einen Schritt weiter als die Debatten über „Natur ist physisch“ versus „Natur ist symbolisch“, sondern scheint zudem ein brauchbarer Anfang für soziologische „Echtzeitbetrachtungen“ zu sein, die helfen können, einige der Fallstricke der bereits erwähnten Strömungen zu vermeiden. Das heißt, ich benutze Simmels Reflektionen über die Stellung des Menschen in der Natur als Grundlage für die soziologische Beobachtung menschlicher Interaktionen mit dem Nicht-Sozialen.2

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Simmels Schriften zu Natur und Landschaft betrachte ich somit eher als Impulsgeber und Anregung für aktuelle Diskussionen. Eine weiterführende Abhandlung zu Sim-

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Diese Idee des Wechsels zwischen Beobachtungsebenen kam mir das erste Mal in den Sinn, als ich Feldarbeiten im mittleren Westen der USA durchführte. Ich war im Frühling 2000 als teilnehmender Beobachter in einem Forschungsprojekt bei einem kontrollierten Präriefeuer dabei, als plötzlich der Wind drehte und das Feuer in meine Richtung preschte. Ich fragte den neben mir stehenden Feuerökologen, was nun passieren würde und was zu tun sei, aber dieser entgegnete nur: „I don’t know.“ An diesem Punkt war nun meine verstehende soziologische Beobachterperspektive am Ende. Der von mir beobachtete Experte selbst wusste nichts zur Natur des Feuers zu sagen, er wusste an diesem Punkt genauso viel oder wenig wie ich selbst. Allerdings begann nun die Natur – das außer Kontrolle geratene Feuer – in meine eigene (im engeren Sinne: nicht soziologische) Lebenswelt einzudringen, denn es wurde sehr schnell sehr heiß. Was tat ich? So schnell ich konnte rannte ich los. Glücklicherweise konnte ich schnell rennen. Zudem kam das Feuer mit Hilfe der anwesenden Löschexperten bald wieder unter Kontrolle. Die soziologische Beobachtung der menschlichen Akteure alleine hätte hier keinen Sinn gemacht, denn ein Naturprozess selbst (hier: Flammenbildung unter Abgabe von Hitze und Licht) drang radikal und überraschend in die Lebenswelt des (beobachtenden) Soziologen ein. Diese Natur sollte ernst genommen werden,3 und das umso mehr, als – im Gegensatz zum Diskurs über die Natur und das Naturhafte in der Öffentlichkeit (Ladle/Gillson 2009) – das Unvorhersehbare der Natur im Zuge von Chaostheorie und Ungleichgewichtsökologie als der Normalfall von Natur angesehen wird. Will man dies soziologisch ernst nehmen, kann ein Wechsel der Beobachtungsebene wie ihn Simmel vorgeführt hat, durchaus fruchtbar eingesetzt werden. Im Weiteren werde ich kurz den Hintergrund für Simmels Reflektionen über die Natur der Gesellschaft erläutern. Danach stelle ich seine Betrachtungen über Gesellschaft und Natur vor, um sie auf Parallelen in Praktiken ökologischer Forschungsfelder des 21. Jahrhunderts anzuwenden. Um zu zeigen, wie gewinnbringend Simmels theoretische Ideen für soziologische Beschreibungen zeitgenössischer Forschungsfelder sein können, habe ich einige Beispiele aus aktuellen ökologischen Feldexperimenten ausgewählt.

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mels Lebensphilosophie und deren Bedeutung für ein Verständnis seiner Ideen von Natur und Landschaft bietet Solies (1998). Ob hierfür, wie es Gail Whiteman (2010) vorschlägt, auch von Seiten der soziologischen Forscherin zuerst einmal ein Grundwissen über die lokalen ökologischen Bedingungen vonnöten ist, soll hier nicht weiter eruiert werden. Ganz sicher lässt sich jedoch sagen, dass dies in manchen Fällen gesundheitsfördernd sein kann, denn (umwelt-)soziologische Feldforschung kann leicht mit extremen Naturzuständen kollidieren: Hitze, Kälte, Nässe, Schnee und Eis, Blitz und Donner, Sturm etc.

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W ECHSELWIRKUNG : S IMMELS SOZIOLOGISCHE G RUNDKATEGORIE Der Begriff „Wechselwirkung“ im Werk Simmels wurde oft diskutiert und vor allen Dingen kritisiert.4 Diese Kritikpunkte können kaum geschmälert werden. Ich möchte sie lediglich weiter interpretieren, um Simmels Überlegungen anschlussfähig an aktuelle Diskussionen zur Mensch-Umwelt-Interaktion zu machen. Simmel lehnte naturdeterministische Konzepte ebenso ab wie rein kulturzentrierte Erklärungen. Gesellschaft ist für ihn weder eine Entität noch ein Organismus (Simmel 1992a: 12-14). Seine Idee war es, Gesellschaft als ein Netz von Wechselwirkungen zwischen Individuen und – dies wurde bisher eher selten diskutiert – zwischen Einzelwesen und der materiellen Welt zu begreifen. Simmels Kernbegriff „Wechselwirkung“ bezieht sich durchaus auch auf materielle kausale Interaktionen. Dies wird nachfolgend deutlich: „Indem alles soziale Leben Wechselwirkung ist, ist es eben damit Einheit; denn was anderes heißt Einheit, als dass das Viele gegenseitig verbunden sei und das Schicksal jedes Elements kein anderes unberührt lasse.“ (Simmel 1912: 53)

An anderer Stelle umfasst sein Ansatz die Idee, dass ein materielles Objekt – hier: der Henkel an einer Tasse – auch in „Wechselwirkung mit allem, was flutet oder beharrt“ (Simmel 1998: 111) steht und damit möglicherweise als Teil des Vergesellschaftungsprozesses konzipiert werden kann. Simmels Begriff der Wechselwirkung kann damit auch als Hinweis zur Auflösung einer linearen Dichotomie zwischen Natur und Gesellschaft verstanden werden. In der Tat ist diese Begriffsdefinition aus alltäglicher Sicht so einleuchtend und offensichtlich und dabei gleichzeitig so weit gefasst, dass theoretisch wie methodisch damit an sich noch nicht viel gewonnen scheint. Es müssen daher ein paar weitere Klärungen vorgenommen werden. Allgemein war es Simmels Ziel, Gesellschaft als ein Netz von Wechselwirkungen darzustellen. Es war seine Vorstellung, dass – anders als bei einem klaren Ursache-Wirkungs-Prinzip in kausal-deterministischen Konzepten – mit ei-

4

Simmels detaillierteste Erörterungen zu Wechselwirkungen finden sich in Simmel (1992a: 13-41) und besonders in Simmel (1989: 115-138). Einführungen in die Herkunft des Begriffs „Wechselwirkung“ aus dem naturwissenschaftlichen Kontext seiner Zeit und seine Bedeutung für Simmel liefern Becher (1971), Christian (1978: 110133) und Ziemann (2000: 113-144). Grundsätzlich zum damit zusammenhängenden Begriff des Sozialen bei Simmel: Pyythinen (2010).

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nem soziologischen Begriff der Wechselwirkungen ein Prozess beschrieben werden kann, in dem eine Wirkung desselben auch Teil seiner Ursache sein kann. Für Simmel ist der Gegenstand der Soziologie damit nicht die Gesellschaft, Gemeinschaft oder auch nur eine Gruppe, sondern es sind die Prozesse, die zu verschiedenen Formen der Vergesellschaftung führen. Er hat in den Begriff der Wechselwirkung explizit auch das Empfangen von Wirkung eingeschlossen (Simmel 1992a: 18) und es damit zum Teil seines Verständnisses vom Vergesellschaftungsprozess gemacht. Diese Perspektive schließt damit ein erweitertes Verständnis von dem ein, was zu einer Gesellschaft dazugehört, und erlaubt es, durchaus über normalerweise nicht als soziale Tatsachen eingestufte Elemente (z.B. Wind, Hitze, Kälte, Elektrizität) als soziologische Variablen zur Erklärung von Vergesellschaftungsprozessen nachzudenken. Simmel geht (im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen und Kollegen Emile Durkheim) davon aus, dass das eigentliche soziologische Untersuchungsgebiet nicht die Gesellschaft – verstanden als eigene Entität sui generis – sein kann, sondern dass es die komplexen Beziehungen sein müssen, die die Grundlage der Gesellschaft bilden. Gesellschaft, so Simmel, besteht aus nichts anderem als aus Wechselwirkungen, gleich einem Netzwerk der verschiedensten Relationen unter Menschen ebenso wie zwischen diesen und der materiellen Welt. Charakteristisch für die Gesellschaft sind dabei Urbanisierung, Individualisierung und die Vergesellschaftung durch moderne Technologien.

N ATÜRLICHE W ECHSELWIRKUNGEN Mit seinem facettenreichen Begriff der Wechselwirkung setzt Simmel die Reflexion über den Platz des Menschen in der Natur fort und entwirft zugleich eine soziologische Perspektive zur Untersuchung natürlichen und sozialen Wandels. Weiterhin von Bedeutung sind seine Überlegungen und theoretischen Fragmente über die Natur, die sich mit oder ohne menschliche Beeinflussung verändert. Man kann Simmel so interpretieren, dass er den Blick auf das Wechselspiel zwischen natürlicher Welt, sprich Wind, Sturm, Hitze, Flora und Fauna, und der menschlichen Gesellschaft in den Blick nimmt. Er spricht oft von einer Überraschung oder auch Faszination, die man gegenüber einer bestimmten Landschaft oder einem veredelten Baum empfindet (Simmel 1998: 197-199) oder gegenüber einem Gebäude, das im Begriff ist, zu einer Ruine zu zerfallen und dabei von der Natur zurückerobert wird und sozusagen ein natürlich-soziales Hybrid (ibid. 118-121) darstellt. In Simmels Worten:

34 | E XPERIMENTELLES N ICHTWISSEN „Die Natur um uns erregt uns bald zu ästhetischem Genießen, bald zu Schreck und Grauen und der Empfindung des Erhabenen ihrer Übergewalt […], bald zu jenem schwer analysierbaren Grundgefühl, das ich nur als Erschütterung schlechthin zu bezeichnen wüsste!“ (Simmel 1912: 19)

Und weiterhin: „Dass die Vergewaltigung des menschlichen Willenswerkes durch die Naturgewalt aber überhaupt ästhetisch wirken kann, hat zur Voraussetzung, dass an dieses Werk, so sehr es vom Geiste geformt ist, ein Rechtsanspruch der bloßen Natur doch niemals ganz erloschen ist. Seinem Stoffe, seiner Gegebenheit nach ist es immer Natur geblieben, und wenn diese nun ganz wieder Herr darüber wird, so vollstreckt sie damit nur ein Recht, das bis dahin geruht hatte, auf das sie aber sozusagen niemals verzichtet.“ (Simmel 1998: 121)

Simmels Ansicht nach hat die Natur ihren Rechtsanspruch, wie er es nennt, nicht notwendigerweise verloren, wenn sie durch menschliche Hand gestaltet wurde. Am Beispiel der Patina verdeutlicht er, dass ein von Menschen gefertigtes Produkt „durch das Chemisch-Mechanische schöner wird, dass das Gewollte hier durch ein Ungewolltes und Unerzwingliches zu einem anschaulich Neuen, oft Schöneren und wieder Einheitlichen“ (ibid.: 121) wird. Die Faszination liegt darin begründet, dass – verdeutlicht am Beispiel der Ruine – „hier ein Menschenwerk schließlich wie ein Naturprodukt empfunden wird“ (ibid.: 120). In Simmels metaphorischer Sprache heißt es weiter: „Dieses Geschehenlassen [des Verfalls einer Ruine] ist dennoch von der Idee des Menschen her gesehen sozusagen eine positive Passivität, er macht sich damit zum Mitschuldigen der Natur und einer Wirkungsrichtung ihrer, die der seines eigenen Wesens entgegengesetzt gerichtet ist.“ (Simmel 1998: 119)

Er versucht sogar, die Perspektive der Natur einzunehmen, denn auf dem Weg zur Ruine „entsteht eine neue Form, die vom Standpunkt der Natur aus durchaus sinnvoll, begreiflich, differenziert ist“ (ibid.: 120). Obwohl ein natürlicher Prozess auf der Grundlage der vom Menschen gemachten Natur entstehen kann, kann er sich zugleich gegen des Menschen eigene Interessen richten, das heißt, das, was durch menschliche Fähigkeiten geschaffen wurde, kann durchaus etwas entstehen lassen, was einen Wert an sich hat. Verbindet man Simmels Begriff der Wechselwirkung aus seinen soziologischen Schriften mit seiner Beschreibung von Wechselwirkungen in seinen kulturtheoretischen Arbeiten, so kann man sagen, dass für Simmel Naturkräfte als Teil von Vergesellschaftungsprozes-

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sen verstanden werden können. Damit steht er zum Beispiel im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Emile Durkheim. Simmel versucht nicht, die Natur als reine Konstruktionsleistung der Gesellschaft aufzufassen, vielmehr gesteht er beiden Teilen eine gewisse Eigenständigkeit zu, die immer wieder zu Überraschungen führen kann. Er betrachtet die materielle Umwelt der Gesellschaft nicht bloß als etwas, das passiv als Material für gesellschaftliche Aktivitäten angesehen wird, wie es Durkheim in seinen Regeln der soziologischen Methode (1984) in den Überlegungen zur sozialen Morphologie ausdrückt.5 Auch wenn für Durkheim „die Tatbestände der sozialen Morphologie dieselbe Natur besitzen wie die physiologischen Phänomene“, so bezeichnet er diese doch als „nur gefestigte Arten des Handelns“ (1984: 194). Abweichend vom aristotelischen Vorbild der Dualität zwischen Natur und Technik – auf das sich Durkheim indirekt stützt – trennt Simmel stattdessen zwischen unberührter Natur und der Möglichkeit menschengemachter oder vom Menschen mitgestalteter Natur. Letztere interessiert ihn besonders, wie das folgende Zitat zeigt: „Ein Gartenobst, das die Arbeit des Gärtners aus einer holzigen und ungenießbaren Baumfrucht gezogen hat, nennen wir kultiviert; oder auch: dieser wilde Baum ist zum Gartenobstbaum kultiviert worden. Wird dagegen vielleicht aus demselben Baum ein Segelmast hergestellt – und damit eine nicht geringere Zweckarbeit auf ihn verwendet, so sagen wir keineswegs, der Stamm sei zum Maste kultiviert worden. Diese Sprachnuance deutet ersichtlich an, dass die Frucht, so wenig sie ohne die menschliche Bemühung zustande käme, doch schließlich aus den eigenen Triebkräften des Baumes heraustreibt und nur die in seinen Anlagen selbst vorgezeichnete Möglichkeit erfüllt.“ (Simmel 1998: 197)

Simmel differenziert zwischen menschengemachten Dingen, wie beispielsweise Gebäuden oder einem Mast, und menschengemachter Natur, wie etwa einem kultivierten Baum. Menschengemachte Natur gilt solange als natürlich, wie sie in der Lage ist, ihre inhärenten natürlichen „Bestrebungen“ zu entfalten. Im oben beschriebenen Beispiel jedoch wird der Natur der Vorzug vor der Kultur gegeben, da das Endprodukt ein rein natürliches sei. Aus heutiger Perspektive gesprochen sind in dieser Konzeption die natürlichen, ökologischen Dynamiken durch den Menschen verursacht, demnach gestaltet sich die Natur sozusagen selbst. Dieses

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Für eine genauere Betrachtung und einen Vergleich von Durkheims und Simmels Ansichten zur Natur siehe Groß (2000). Zu Durkheims Naturverständnis siehe auch Järvikoski (2005), Baerlocher (2013) sowie Rosa und Richter (2008). Weiterführend auch: Lemke (2013).

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„Selbst-Design“ kann aufgrund der Komplexität und Unberechenbarkeit ökologischer Dynamiken eine Vielzahl an möglichen Wirkungen erzeugen. In gewisser Weise wird mit der Implementierung der Kultivierung die Subjekt-Objekt-Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Natur undeutlich. Die Kultivierung ähnelt dabei der Verknüpfung zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft, die je ihre eigenen Vorstellungen bzw. Konstruktionen der sie umgebenden restlichen Natur haben. „Kultivierung“ ist damit der Ausdruck, der am besten die Verbindung zwischen Menschen und natürlicher Welt erfasst. Mit Hilfe des Begriffes „Kultivierung“ erhält der vielschichtige Begriff der Wechselwirkung eine prägnantere und schlüssigere Bedeutung. Der Kernpunkt ist, dass menschengemachte Dinge sich „natürlicherweise“ hin zu einer unabhängigen Existenz entwickeln können, befreit und losgelöst von menschlicher Einflussnahme. Die kulturelle Leistung der menschlichen Veränderung der Natur wird dann zu einer eigenständigen natürlichen Kraft, die in einen natürlichkulturellen Interaktionsprozess mündet. Weiterhin spielt die Ästhetik in Simmels Überlegungen zu den MenschUmwelt-Interaktionen eine wichtige Rolle. Mit Blick auf das Beispiel der Ruine weist er darauf hin, dass, obwohl eine Ruine ursprünglich ein Werk der Architektur ist (Simmel 1998: 118-121), beide Formen der materiellen Umwelt, ein kultivierter Baum ebenso wie ein kulturelles Gebäude, ein „natürliches“ Eigenleben entwickeln und sich somit wiederum in ein Produkt der Natur verwandeln können. Dies bedeutet, dass Kunst und Natur verschmelzen und „in das Verschwundene und Zerstörte des Kunstwerks andere Kräfte und Formen, die der Natur, nachgewachsen sind und so aus dem, was noch von Kunst in ihr lebt, und dem, was schon von Natur in ihr lebt, ein neues Ganzes, eine charakteristische Einheit geworden ist“ (ibid.: 118). Für Simmel bedeutet diese Entwicklung quasi eine „neue Natur“. Nach seiner Definition bedeutet Kultivierung nicht, dass ein Naturgegenstand beliebig manipuliert werden kann. Kultivierung wäre dann auch nicht der Entwurf eines beliebig produzierten oder konstruierten Ökosystems. Es scheint nach Simmel so zu sein, dass für ihn das Ergebnis umso erfreulicher ist, je mehr es sich als ungeplant und unabhängig vom menschlichen Engagement herausstellt. In diesem Zusammenhang wird die Natur als ein wichtiger Akteur verstanden: „Die Natur hat das Kunstwerk zum Material ihrer Formung gemacht, wie vorher die Kunst sich der Natur als ihres Stoffes bedient hatte“ (ibid.: 120). Die Idee der Wechselwirkung zwischen dem Menschlichen und dem Natürlichen wäre somit auch Grundlage für das Empfinden einer Landschaft als ästhetisch wertvoll oder schön, da die Schönheit der Natur nur als solche empfunden werden kann, wenn die Natur aus sich selbst heraus überraschen kann.

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Die kulturellen Errungenschaften der menschlichen Gesellschaften können sozusagen aufgrund ihrer eigenen – bisher latent gebliebenen – natürlichen Kräfte in etwas Natürliches übergehen. Im Gegensatz zu einer „Kulturarbeit“ ist „kultivierte“ Natur für Simmel selbst noch etwas Natürliches, obwohl sie vom Menschen gestaltet wurde. Wenn die Menschen der Natur genügend Raum zur natürlichen Entfaltung lassen – wie bei einem veredelten Apfelbaum – ist dies für Simmel selbstverständlich „natürlich“. Am Beispiel des Baums illustriert Simmel weiter, dass „die Arbeit des Gärtners schließlich nur die in der organischen Anlage seiner Naturform schlummernden Möglichkeiten entwickelt, ihn zu der vollkommensten Entfaltung seiner eigenen Natur bringt“ (Simmel 1993: 85). Der Gärtner vollendet sozusagen mit seiner Kultivierungsleistung die Natur so, dass sie „zu der für ihn determinierten, in der eigentlichen und wurzelhaften Tendenz seines Wesens angelegten Vollendung führe“ (ibid.). Anders formuliert heißt dies, dass der Gärtner die Natur in gewisser Weise „erweckt“. Diese Vervollständigung und „Vollendung“ der Natur entsteht erst durch das „Zusammenwirken mit den neuen teleologischen Eingriffen, die aber in jenen Anlageeinrichtungen des Wesens selbst erfolgen und insoweit seine Kultur heißen“ (ibid., Herv. im Orig.). Zusammen mit der Hilfe des Eingriffs durch den Gärtner erfindet die Natur ihre eigene natürliche Kultur. Wenn Natur mit Hilfe von „Kulturarbeit“ verändert wird, wie in seinem Beispiel vom Schiffsmast, der aus dem gleichen Apfelbaum gemacht ist, spricht Simmel nicht von „Kultivierung“: „Wenn dagegen ein Baumstamm zu einem Segelmast verarbeitet wird, so ist auch dies sicher eine Kulturarbeit, allein keine ‚Kultivierung‘ des Baumstammes, weil die Form, zu der die Arbeit des Schiffbauers ihn gestaltet, nicht in seiner eigenen Wesenstendenz liegt, sie wird ihm vielmehr rein von außen, von einem seinen Anlagen fremden Zwecksystem hinzugefügt.“ (Simmel 1993: 85)

Hier liefert Simmel also einen Hinweis darauf, wie Kultivierung als Aufwecken der Natur von Formen der Landschaftsgestaltung, der Landwirtschaft und anderen Naturgestaltungsformen, bei denen ein vorbestimmter Endpunkt die gewünschte Stufe ist, unterschieden werden kann.

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Obwohl Simmels Zukunftsvisionen der modernen Gesellschaft manchmal recht pessimistisch erscheinen, so sind seine generellen Annahmen zur Umwelt weniger negativ. Er zeigt lediglich, dass Menschen ihre Umwelten verändern, wobei

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diese Umwelten jedoch – in Simmels Sprachgebrauch – objektiviert werden und somit die Macht besitzen, gesellschaftliche Prozesse zu verändern. So beschreibt er auch die Entwicklung von Großstädten gelegentlich als Naturprozess. In seinem Essay „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“ schreibt er, dass die Stadt nach „keinem zuvor bestehenden Plane, sondern nach den zufälligen Bedürfnissen und Neigungen der einzelnen gebaut“ (Simmel 1998: 211) worden sei. Allerdings beschreibt er die Stadt dann dennoch als „ein ganzes sinnvolles, anschaulich geschlossenes, organisch in sich verbundenes Gebilde“. Außerdem: „Wie ein Mensch nicht zu Ende ist mit den Grenzen seines Körpers oder des Besitzes, den er mit seiner Tätigkeit unmittelbar erfüllt, sondern erst mit der Summe der Wirkungen, die sich von ihm aus zeitlich und räumlich erstrecken: so besteht auch eine Stadt erst aus der Gesamtheit der über ihre Unmittelbarkeit hinausreichenden Wirkungen. Dies ist erst ihr wirklicher Umfang, in dem sich ihr Sein ausspricht.“ (Simmel 1993: 200)

Ausgehend von seinem allgemeinen Konzept der Wechselwirkung verdeutlicht Simmel, dass die soziologische Betrachtung der Gesamtheit der Wirkungen der Mensch-Natur-Wechselwirkung mit einem althergebrachten Problem konfrontiert ist. In seinem berühmten Kapitel, das sich mit der Frage beschäftigt, wie Gesellschaft möglich ist, reflektiert er über die Spannung zwischen Natur und Gesellschaft und das Problem der menschlichen Freiheit, die als eine Lösung, als Scharnier zwischen den Sphären der „Gesellschaft“ und der „natürlichen Welt“ verstanden werden kann. Simmel schreibt: „Wir wissen uns einerseits in die Natur eingegliedert, als eines ihrer Produkte, das neben jedem anderen als Gleiches unter Gleichen steht, ein Punkt, den ihre Stoffe und Energien erreichen und verlassen, wie sie durch das strömende Wasser und die blühende Pflanze kreisen.“ (Simmel 1992a: 54)

Dies verweist auf die eine Seite der Beobachtung, wo Menschen als Teil der natürlichen Ordnung betrachtet werden, die direkt auf ihre soziale Welt Einfluss nimmt. Simmel setzt seine Überlegung jedoch fort: „Und doch hat die Seele das Gefühl eines von all diesen Verschlingungen und Einbeziehungen unabhängigen Fürsichseins, das man mit dem logisch so unsicheren Begriff der Freiheit bezeichnet, all diesem Getriebe, dessen Element wir doch selbst sind, ein Gegenüber und Paroli bietend, das sich zu dem Radikalismus: die Natur ist nur eine Vorstellung in menschlichen Seelen – aufgipfelt.“ (Simmel 1992a: 54)

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Dies kann als die andere Seite der soziologischen Beobachtung gesehen werden, die Seite, die verkürzt heute unter dem Begriff „Sozialkonstruktivismus“ bzw. auch als die „typische“ oder „reine“ soziologische Perspektive betrachtet wird (vgl. Hacking 1999), denn die Soziologie, um das geflügelte Durkheim-Wort zu bemühen, ist die Wissenschaft des Sozialen, in der die bestimmenden Ursachen eines soziologischen Tatbestandes in anderen sozialen Phänomenen gesucht werden müssen. Dennoch dürfe man die Tatsache nicht vernachlässigen, so Simmel weiter, dass andererseits der Mensch „mit all seiner Freiheit und Fürsichsein, seinem Gegensatz gegen die bloße Natur, doch ein Glied ihrer [der Natur ist]; das eben ist der übergreifende Naturzusammenhang, dass er dieses gegen ihn selbständige, ja oft genug feindselige Wesen mitumfasst, dass das, was seinem tiefsten Lebensgefühl nach außerhalb seiner steht, doch sein Element sein muss“ (Simmel 1992a: 54).

Simmel fasst die Spannung in der Idee der Wechselwirkung zusammen und betont, dass „das Individuum ein Ganzes zu sein begehrt und das übergreifende Ganze ihm nur die Gliedstellung einräumen will“ (Simmel 1912: 68). So wird dem Individuum die Möglichkeit gegeben, ein „Ganzes zu sein und doch Glied eines Ganzen, in voller individueller Freiheit eine überindividuelle Ordnung bilden zu helfen“ (ibid.: 69). Die Einheit von Natur und Gesellschaft wird bei Simmel jedoch nur aus der Vogelperspektive ersichtlich. Aus dieser Perspektive schauend versteht er Natur als „den endlosen Zusammenhang der Dinge, das ununterbrochene Gebären und Vernichten von Formen, die flutende Einheit des Geschehens, die sich in der Kontinuität der zeitlichen und räumlichen Existenz ausdrückt“ (Simmel 1993: 130). Aber auch bei ihm gibt es eine Hierarchie: „In der Schichtung von Natur und Geist pflegt sich doch, ihrer kosmischen Ordnung folgend, die Natur gleichsam als der Unterbau, der Stoff oder das Halbprodukt, der Geist als das definitiv Formende, Krönende darzubieten“ (Simmel 1998: 120). Von einer quasi-evolutionären Perspektive aus betrachtet Simmel soziale Entwicklung als sich aus der Natur „selbst“ heraus entwickelnd. Die Entwicklung der Natur führt einfach zu einem Punkt, an dem der Naturprozess durch kulturelle Entwicklung abgelöst wird (Simmel 1993: 84). Kultur ist daher die Weiterentwicklung der Naturgeschichte: „Der Punkt, an dem diese Ablösung der Entwicklungskräfte stattfindet, bezeichnet die Grenze des Naturzustandes gegen den Kulturzustand“ (ibid.). Diese Grenze kann, wie bereits gesehen, als das verstanden werden, was Simmel Kultivierung nennt. Mit Bezug auf einen empirischen Zugriff heißt dies, es ist die hierdurch erkennbare und registrierbare Wechselwirkung zwischen dem Natürlichen und dem Sozialen, die soziologisch interessant erscheint.

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Am Beispiel der Ruine verdeutlicht Simmel weiter, dass hier „die bloß natürlichen Kräfte über das Menschenwerk Herr zu werden beginnen: die Gleichung zwischen Natur und Geist, die das Bauwerk darstellte, verschiebt sich zugunsten der Natur“ (Simmel 1998: 118). Für Simmel ist eine Ruine sozusagen Treffpunkt oder Schnittstelle für menschliche und natürliche Wirkungen. Der Reiz der Ruine besteht für Simmel darin, „dass hier ein Menschenwerk schließlich wie ein Naturprodukt empfunden wird“ (ibid.: 120). Folglich verschieben sich die Blickwinkel Simmels und wechseln zwischen der Beobachtung der einzelnen subjektiven menschlichen Ziele (wie dem Bau eines Hauses oder der Veredelung eines Baumes) und der objektiven, nicht vorhersehbaren und unerwarteten natürlichen Wirkung – auch wenn sie ursprünglich von Menschen (mit-)gestaltet worden ist. In Bezug auf das soziologische Beobachten von Natur kann man dies so verstehen, dass man die Interpretation der Natur aus den Erfahrungen der eigenen Lebenswelt heraus speist, wie durch die Beschreibung eines Hauses, das zu einer Ruine wird, oder eines veredelten Apfelbaumes. In Erwartung der natürlichen und in diesem Sinne unerwarteten Reaktion im Prozess der Wechselwirkung begibt sich der soziologische Beobachter in Simmels Beschreibungen auf die „objektive“ Seite der natürlichen Welt, das heißt in die „unabhängige Existenz“, die autonom von den Menschen ist (oder so wahrgenommen wird), damit auch etwas Unbeabsichtigtes und oft etwas Neues darstellt. Hiermit bewegt Simmel das soziologische Auge (oder alternativ: Zunge, Ohr oder Nase) weg von den Ideen und dem Verständnis vom Menschen und hin zu den „Handlungen“ oder Aktivitäten der Natur „selbst“. Wenn die zu beobachtenden Akteure auf das „Rätsel“ und die Unvorhersehbarkeit der Natur verweisen (wie in meinem Präriefeuer-Beispiel weiter oben), könnte man Simmel so interpretieren, dass nun der Punkt gekommen ist, die „objektive“ Beobachtung selbst in die Hand zu nehmen.

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WECHSELNDE B EOBACHTUNGSPERSPEKTIVEN UND DIE AKTUELLE ÖKOLOGISCHE P RAXIS

Für die weitere Betrachtung ist es wichtig, auf einige Punkte einzelner Diskussionsströmungen in der aktuellen Ökologie einzugehen. In der Ökologie ist das Ideal eines Gleichgewichts der Natur seit den 1970er Jahren durch ein Paradigma abgelöst worden, das als nicht-linear, chaotisch oder dauerhaft instabil beschrieben werden kann. Würde diese Perspektive ernst genommen, gäbe es keine verlässliche Grundlage, die soziologisch als feste Plattform für soziales Handeln betrachtet werden kann. Diese ist jedoch zumindest implizit immer die Voraus-

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setzung dafür, Naturprozesse aus soziologischen Beschreibungen problemlos heraushalten zu können. Bei Durkheim wird dieser Punkt sogar explizit gemacht, wenn er sagt, dass die äußere Natur eine feste, gleichbleibende Entität darstelle, die lediglich durch menschliches Eingreifen verändert werde: „Die physische Welt ist im Wesentlichen seit dem Beginn der Geschichte die gleiche geblieben, wenn man von den Neuerungen absieht, die sozialen Ursprungs sind“ (Durkheim 1992: 414). Damit hatte man eine gute Basis, um alles Naturhafte auszuklammern, da es einen festen und passiven Boden für Gesellschaft darstellte. Praktiker aus den Gebieten der ökologischen Renaturierung (z.B. Allison 2012, Egan et al. 2011, Jordan 2006) akzeptieren meist eine sich immerwährend verändernde Natur, die oft brutal mit menschlichem Handeln in Wechselwirkung tritt. Beispielsweise entwerfen und sanieren Menschen Landschaften, die eine Eigendynamik entwickeln und den von ihnen gemachten Entwürfen nicht folgen; das natürliche „Handeln“ der Natur hält sich nicht einfach an menschliche Pläne, die Natur „will einfach nicht stillstehen“, wie William Adams (2003) es einmal unorthodox ausdrückte. Es kann keinen Masterplan des Handelns geben, da sich die Vorstellung von einem natürlichen Gleichgewicht als falsch erwiesen hat. Natur wird als sich ständig in Bewegung befindend betrachtet. Praktiker gehen ins Feld und probieren etwas aus, sie spezifizieren ihr Nichtwissen und stellen damit eine Hypothese auf, beobachten dann die Folgen und nehmen anschließend Modifikationen auf Grundlage der natürlichen Wirkung vor. Denn, in den Worten des Ökologen Daniel Botkin, „chance arises from truly inherent randomness in nature“ (1990: 122). Die Annahme, dass menschliches Handeln bis zu einem gewissen Grad durch natürliche Faktoren verursacht wird, die auch die gesellschaftliche Entwicklung beeinflussen, kann zum Anlass genommen werden, auch in der Soziologie das Natürliche stets als etwas Dynamisches zu begreifen, was nicht ausschließlich über Diskurse und Einstellungen zu dieser Dynamik verhandelt werden braucht, um als soziologisch zu gelten. Ganz im Sinne Simmels macht Carolyn Merchant unmissverständlich klar, dass auch menschliche Errungenschaften, in diesem Fall Häuser, natürlichen Veränderungen ausgesetzt sind: „In the mechanistic framework of classical physics, nature was rendered passive and inert, subject to prediction and control through linear differential equations. Within that framework, suspension bridges, tunnels, skyscrapers are engineering triumphs because mechanical systems are considered to be closed, spatially defined, and subject to the classical law of statics and equilibrium dynamics. Yet even these stable structures can be vulnerable to chaotic forces created by unusual weather patterns or geological events generated from outside the system.“ (Merchant 1998: 70)

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Wenn Menschen nun ein Stück Land verändern, werden die unerwarteten Auswirkungen oft der Natur zugeschrieben (z.B. Extremwetterlagen, wilden Tieren, Blitz und Donner). Dies drückt sich dann häufig in menschlicher Unsicherheit aus. Somit lässt sich sagen, dass die natürliche Wirkung der Natur, wie Simmel (1998: 213ff.) es ausdrückt, menschliche Beobachter überraschen kann. Um dies zu erfassen, muss, wie Reid Helford (1999) in Erinnerung an Barbara McClintock schrieb, auch die soziologische Beobachterin ein Gespür für die Natur entwickeln, um zum Beispiel ein Ökosystem zu verstehen. Die soziologische Beobachterin muss also verstehen, wann sie zur Ebene der Beobachtung von natürlichem Handeln wechseln darf bzw. muss (wenn das Feuer zu heiß wird, siehe Beispiel oben). Dafür kommt man der Möglichkeit der Erfassung der außersozialen Welt (z.B. eines renaturierten Flusses oder eines sanierten Ökosystems) aus soziologischer Perspektive zumindest ein kleines Stück näher. Ein Grund dafür, dass Simmel die natürliche Umwelt nicht außer Acht gelassen hat, ist, dass er nicht nach Ursachen für bestimmte natürliche Phänomene fragte, sondern danach, wie Natur auf menschliches Handeln reagiert und wie (und warum) Menschen ihr Verhalten plötzlich ändern. Die heutige Arbeitsteilung zwischen den Natur- und Sozialwissenschaften, in deren Folge die soziologische Perspektive die Kommunikation (z.B. Diskurse) über die Natur in den Blick nimmt und die Ökologie die Kausalitäten natürlicher Entitäten, ist mit dem hier skizzierten Ansatz auch anders denkbar. Daher sollen nun einige Überlegungen betrachtet werden, die man durch das Lesen Simmels vor dem Hintergrund der jüngeren Entwicklungen in der Ökologie anstellen kann. Simmel zeigt, dass der Fokus auf die soziale Seite Ausgangspunkt der Beobachtung sein sollte. Dieser Ansatz setzt beim Verständnis oder dem Gefühl der Akteure an, also dem, was Max Weber die verstehende Perspektive der Soziologie genannt hatte, sozusagen einer „rein“ soziologischen Perspektive. Würde man es hierbei belassen, bliebe die Grenze erhalten, die es nicht erlaubt, kausale Verbindungen zwischen menschlichen und materiellen Vorkommnissen in den Blick zu nehmen. Doch solange soziologische Beobachtung allein diese Strategie verfolgt, büßt sie die Fähigkeit ein, die menschliche Interpretation in ihrer Wechselwirkung mit der Natur zu verstehen – oder zumindest einen Ansatzpunkt dafür zu haben. Möchte man dem entgehen und auch die außersoziale Welt in den Blick nehmen, muss jedoch festgelegt werden, wann der Wechsel der Beobachtungsrichtung von der sozialen Seite hin zu den Naturereignissen sinnvoll vollzogen werden kann. Ich schlage daher vor, dass die Selbstbeschreibungen der zu beobachtenden Akteure in ökologischen Feldversuchen ernst genommen werden, so dass die Natur als Akteur später in die Gleichung integriert oder zumindest angedockt werden kann, bzw. um zwischen den beiden Formen der Be-

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obachtung hin- und herwechseln zu können und um eine Beschreibung von Mustern und Typen der Wechselwirkung zwischen beiden Seiten zu erhalten. Simmels Interpretationen des objektiven Charakters der durch Menschen geschaffenen Natur zeigen, dass, sobald sie konstruiert worden ist, diese „eine objektive Existenz und ein Eigenleben“ aufweist, „die sich von uns gelöst haben“ (Simmel 1998: 213). In seinem Denken sind Menschen nur bedingt und meist nur zu Beginn eines Gestaltungsprozesses an dessen Existenz beteiligt. Daher muss die soziologische Analyse menschlichen Handelns in und mit der Natur über das ständige Wechseln zwischen den Interpretationen und Äußerungen von Menschen und den natürlichen Merkmalen, die „tatsächlich“ beobachtbar sind (wie z.B. natürliches Wachstum und Bewegung, die Hitze und das Licht des Feuers oder das Blühen bestimmter Pflanzen), erfolgen. Es sind die Überraschung, Verwirrung und Desorientierung bzw. als Extrem die Ohnmacht des menschlichen Handelns in der Natur, die beobachtbar werden sollten, um zum Ursprung der Verblüffung zu gelangen. Der beobachtende Soziologe muss nah an die zu beobachtenden menschlichen Akteure heran, wenn sie mit der natürlichen Welt interagieren (so wie es in der Tradition der verstehenden Soziologie oder der Ethnographie angestrebt wird), um zu einem Verständnis für Natur und Landschaft bzw. zu einem Gespür zu gelangen, das dem ihren ähnlich ist. Was sind die theoretischen Konsequenzen hiervon und wie kann der vorgeschlagene Wechsel erfolgen? Sprich: Wie ist es möglich, von der Beobachtung der Natur zurück zum Sozialen zu gelangen? Im Fall der Beobachtung ökologischer Aktivitäten (hierzu finden sich im Laufe des Buches viele Beispiele) bedeutet dies, das Feld der Soziologie nicht den Naturwissenschaften zu überlassen, wie es Harry Collins und Steven Yearley (1992) in ihrer berühmten Kritik an Bruno Latour befürchten. In dieser Kritik an der soziologischen Beschreibung nichtmenschlicher Akteure in den Arbeiten von Latour und anderen, in der der materiellen Welt und der Natur ein A-priori-Status als Aktanten zugeschrieben wird, wird behauptet, dass die Bestimmung natürlicher Prozesse in die Obhut der Naturwissenschaften zurückgegeben wurde. Dies ist im hier vorgeschlagenen Ansatz nicht so. Vorausgesetzt, dass ökologische Praktiker (naturwissenschaftlich ausgebildet oder nicht) an einem gewissen Punkt nicht wissen, was passieren wird oder wie die Natur auf den gesellschaftlichen Eingriff reagieren wird (was Simmel als Verwunderung und Überraschung bezeichnet hat), ist doch die Position des beobachtenden Soziologen die gleiche wie die jedes anderen menschlichen Akteurs im Feld. Dies kann durchaus in Anlehnung an Andrew Pickerings (1995) oder Theodore Schatzkis (2010) Überlegungen zur Widerständigkeit und zum „Mithandeln“ materieller Dinge verstanden werden. Insbesondere Pickering hat in seiner Beobachtung der wissenschaftlichen Praxis die

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Bedeutung des Temporalen betont. Möglicherweise kann man solche hieran angelehnten soziologischen „Echtzeitbeschreibungen“ als un- oder zumindest vorwissenschaftlich betrachten. Wenn die Idee von sich natürlich verändernden Ökosystemen als Ausgangspunkt genommen wird (Kricher 2009, Botkin 1990), bedeutet dies, dass Veränderung – ebenso wie das Fehlen einer „wissenschaftlichen“ Kontrolle derselben – häufig unvermeidbar ist. Das wissenschaftliche Nichtwissen gehört also zur Wissenschaft Ökologie selbstverständlich hinzu (siehe hierzu auch die folgenden Kapitel). Dies ist dann der Einstiegspunkt für eine soziologische Beobachtung von „Natur“. In sich oft radikal und unvorhersehbar verändernden Umwelten entzieht sich ein tieferes Verständnis der Natur oft genauso dem Allgemein- wie dem Expertenwissen (der naturwissenschaftlich ausgebildeten Ökologinnen, Praktiker oder beobachtenden Soziologinnen). Dies offenbart sich als Überraschung oder Unsicherheit. Dass im ökologischen Management naturwissenschaftliches Wissen und Laienwissen (z.B. das Wissen des nicht naturwissenschaftlich gebildeten Soziologen) für die Beobachtung von Natur benötigt werden und dass es zu bestimmten Zeiten keine klaren Grenzen zwischen den beiden Sphären gibt, ist der Punkt, der den beobachtenden Soziologen in eine ähnliche Position wie den Ökologen bringen kann. Nach Simmel muss die soziologische Beobachterin damit beginnen, sich auf die Beschreibungen und Berichte der Praktiker zu stützen, und kann sich erst dann der Natur selbst widmen, wenn das Verhalten der beobachteten Menschen auf Verwirrung und Unsicherheit verweist, also wenn das wissenschaftliche Wissen hinsichtlich der natürlichen Umwelt temporär nicht vorhanden ist. Das heißt, die Lebenswelt und die alltäglichen Naturwahrnehmungen der soziologischen Betrachterin sollten es ermöglichen, in verschiedene Ebenen der Beobachtung zu wechseln. Das Konzept der Lebenswelt, so wie es von Alfred Schütz eingeführt wurde, beinhaltet als Hauptmerkmal, dass diese sich in ihrer Selbstverständlichkeit und Alltäglichkeit von einer wissenschaftlichen Weltsicht unterscheidet. In seinem Verständnis steht der Gewohnheitscharakter der Lebenswelt im Kontrast zur Welt der Träume, der Wissenschaft oder der Religion (vgl. Grathoff 1989). Der Beobachtungswechsel, den ich hier versuche vorzustellen, wäre dann ein Wechsel zwischen zwei Welten: der Welt der Wissenschaft von der Gesellschaft (soziologische Beobachtung) und der Alltagswelt mit dem Alltagswissen über die natürliche Welt, also der Lebenswelt des beobachtenden Soziologen, die über die Welt der Gesellschaftswissenschaft hinausreicht. Diese Einteilung habe ich aus Simmels Arbeiten zur beobachtbaren Unvorhersehbarkeit der Natur herausinterpretiert. Hier entpuppt sich die Natur als ein unabhängiges Objekt, das sich frei von der Verbindung mit Menschen entwi-

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ckeln kann. Sobald diese Ebene der Beobachtung erreicht ist, kann Natur als das beschrieben werden, was Simmel auch „objektive Kultur“ genannt hat. Die soziologische Beobachterin erhält „direkten“ Zugang zur Natur, indem sie den Selbstbeschreibungen der Akteure zwar streng folgt, sich aber auch die Möglichkeit offenhält, den nicht verstandenen Phänomenen „objektiv“ zu begegnen, sie soziologisch zu registrieren und womöglich auch deutend zu verstehen. Ich nenne dies hier etwas vorläufig und vielleicht noch ungeschickt den Wechsel zwischen Soziologie 1 und Soziologie 2. Diese soziologischen Beobachtungsebenen beinhalten den Fokus auf die Grenzen der Selbstbeschreibungen zum Beispiel der im Feld arbeitenden Ökologen. So wird für den beobachtenden Soziologen die Natur zu einem unabhängigen Akteur neben den menschlichen Akteuren („Soziologie 2“). Der Wechsel zurück zum Beginn der Beobachtung, sprich zu den subjektiven Deutungen und Einschätzungen der Praktiker („Soziologie 1“), wird von der Erklärung des Nichtwissens (bzw. der damit verbundenen Nicht-Erklärung) der Praktiker abhängig sein. Gibt es sofort eine Erklärung? Oder wird sie erst später geliefert? Weiß man, wie das Feuer sich ausbreitet oder wann, oder kann man erst im Nachhinein eine Aussage machen? Bei diesem Wechseln zwischen zwei Beobachtungsebenen müssen keine der metaphorischen Synkretismen – wie zum Beispiel die Rede von Cyborgs (Haraway 1991) oder gelegentlich auch bei den von Bruno Latour bemühten Hybriden (Latour 1995) – eingesetzt werden. Man kann sicherlich sagen, dass Simmel, wie auch Latour, ebenfalls an Netzwerke dachte, aber mit der situativen Koordination der beiden Beobachtungsebenen begreift er die Beobachtung der Entitäten im Netzwerk anders als zum Beispiel die Akteur-Netzwerk-Theorie. Die von ihm a priori festgelegte methodische (nicht ontologische) Symmetrie zwischen Natürlichem und Sozialem erscheint im Gegensatz zu Simmels Überlegungen als zu ungenau für die soziologische „Anleitung“ zur Analyse unberechenbarer Natur. Darüber hinaus ist zu bemerken, dass in vielen ökologischen Gestaltungsprozessen im sogenannten Anthropozän die Umwandlung in neue Ökosysteme oft erwünscht ist, denn, um Simmels metaphorische Sprache erneut zu verwenden, auch wenn es durch menschliche Fähigkeiten gemacht ist, kann „das Gewollte hier durch ein Ungewolltes und Unerzwingliches zu einem anschaulich Neuen, oft Schöneren und wieder Einheitlichen“ werden (Simmel 1998: 121). Diese natürliche Wirkung, registriert durch alltägliche Naturempfindungen des soziologischen Beobachters, steht bei der Erforschung ökologischer Praktiken im Fokus der Aufmerksamkeit. An dieser Stelle schlägt Simmel daher einen direkten, aber nicht naiven Realismus vor. Der Betrachter erforscht die natürlichen Kräfte, und dies kann gleichermaßen von ausgebildeten Ökologinnen wie auch von Soziologen gemacht werden.

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K EINE A NGST

VOR DEM

U NERWARTETEN

Zusammenfassend kann man sagen, dass sich – obwohl sich Simmels theoretische Überlegungen in mancherlei Hinsicht von denen der Akteur-NetzwerkTheorie unterscheiden – hier zumindest der Torso eines Ansatzes findet, der dabei behilflich sein kann, die direkte Beobachtung der Natur vorzunehmen, ohne das Terrain der klassischen Soziologie zu verlassen. Mit anderen Worten: Die Konzeption Simmels erlaubt es, die materielle Umwelt der Gesellschaft als dynamisch und daher oft außerhalb der menschlichen Kontrolle liegend zu verstehen, und macht dies mit Prozessen der Vergesellschaftung, die über kulturellen Determinismus sowie über eine statische Sicht der Natur hinausgehen, verknüpfbar. Eine solche Perspektive bedeutet, dass die beobachtende Soziologin in ihrer Analyse gesellschaftliche Prozesse als abhängig von Prozessen der nicht sozialen Außenwelt verstehen muss, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es ist Teil der Prozessidee Simmels, dass Wechselwirkungen zwischen Menschen und Menschen sowie zwischen Menschen und der natürlichen Welt erst zu dem führen, was er Vergesellschaftung nennt. Simmel beginnt die Beobachtung auf der subjektiven Ebene, also bei den geäußerten Ansichten, Gefühlen, Einstellungen und Verhaltensweisen von Menschen, um sich von hier aus zum Wirken der Natur, das sich oft von menschlichen Ansichten über das objektive „Handeln“ der Natur unterscheidet, zu begeben. Er deutet auch an, wann der Wechsel durchgeführt werden kann: wenn Menschen durch natürliches Handeln überrascht werden und sich dadurch ihres (zumindest momentanen) Nichtwissens bewusst werden. Im nächsten Kapitel geht es nun darum, dass durch diese enger werdende Wechselwirkung und die Entwicklung der objektiven Kultur (vgl. dazu auch die folgenden Kapitel) das Nichtwissen in Wissenschaft und Gesellschaft zunehmend an Bedeutung gewinnt. Debatten über die Wissensgesellschaft fördern paradoxerweise die Bewusstwerdung der Grenzen der Erkenntnis und haben soziologische Debatten über die Persistenz und Intensivierung von Nichtwissen angefacht. Angesichts der zunehmenden Bedeutung von Nichtwissen liegt der Fokus des folgenden Kapitels auf Simmels aufschlussreichen Beobachtungen zum Nichtwissen als eine Kehrseite von Wissen. In diesem Kapitel wird der Versuch unternommen, den Nichtwissensbegriff mit Simmels Konzeptualisierung der objektiven und subjektiven Kultur zu verbinden. Die Diskussionen hierzu erstrecken sich nicht nur auf ökologische Fragen, sondern auch auf den strategischen Nutzen des Nichtwissens in persönlichen Beziehungen und bei Begegnungen mit Fremden sowie auf das Recht, seine eigene genetische Identität nicht kennen zu müssen.

3. Objektive Kultur und die Entwicklung des Nichtwissens

R ISIKO , R EFLEXIVITÄT

UND DAS

U NBEKANNTE

Die Bewältigung unbekannter Dynamiken und Variablen stellt ein grundlegenderes Problem für heutige Formen der Risikobewältigung dar, als die Unfähigkeit, bekannte Interaktionen akkurat zu analysieren. Debatten über die globale Erwärmung, gentechnische Veränderungen, die Gewinnung von Schiefergas, Carbon Capture and Storage (CCS), die Exploration tiefer geothermischer Ressourcen oder die Eisendüngung von Ozeanen verweisen auf unbekannte Bestandteile als eine Kehrseite des akzeptierten Wissens. Dies kann als Indiz dafür gesehen werden, dass angesichts der Signifikanz von Nichtwissen wissenschaftlich gewonnenes Wissen in den Hintergrund tritt. Die Diskussion über Nichtwissen kann als Teil eines Diskurses gesehen werden, der anscheinend der vorherrschenden Wahrnehmung, nämlich dass die Auswirkungen unvorhersehbarer Ereignisse heutzutage mittels Wahrscheinlichkeitsberechnungen kontrollierbar sind, entgegengestellt ist. Risiken werden aus dieser Perspektive nicht länger als externe, unvermeidliche Einflüsse kommuniziert. Sie werden stattdessen eher auf die von Individuen oder Institutionen getroffenen Entscheidungen zurückgeführt. Auf den ersten Blick scheint diese Beobachtung berechtigt zu sein. Erdbeben werden nicht länger als etwas angesehen, was unvermeidbar und „naturgegeben“ katastrophale Folgen haben muss, und Überschwemmungen nicht als ein natürliches Phänomen wahrgenommen, da deren Ursachen zum großen Teil menschlichen Entscheidungen zugeschrieben werden können. Auf dieser Grundlage werden Versuche unternommen, zukünftige Unsicherheiten mittels Risikoanalyse oder versicherungstechnischer Einschätzungen zu reduzieren. Zufälle, Unfälle und Wissenslücken sollen um jeden Preis verhindert werden. Gleichzeitig wird es allerdings offensichtlich, dass sich viele Ereignisse der risikobasierten Vorhersagetechnik entziehen, „in part because there is little or no

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direct historical experience to fall back on in evaluating them“ (Jasanoff 2010: 16). Von zentraler Bedeutung für diesen Denkstrang ist die Möglichkeit, sich von den traditionellen Strategien der Risikoeinschätzung oder der Reduktion von Unsicherheiten zu entfernen und sich stattdessen in Richtung einer verbesserten Fähigkeit, mit Nichtwissen umzugehen, zu bewegen. Diese Verlagerung – also die Feststellung, dass potentiell gefährliche Konsequenzen nicht durch weitere Forschung und Risikoeinschätzungen eliminiert werden können, da sie dem Bereich des Nichtwissens angehören – wird mittlerweile von Wissenschaftlern anerkannt (vgl. Wehling 2011). Risiko wird allgemein als die Wahrscheinlichkeit eines gefährlichen Ereignisses angesehen, multipliziert mit dem Umfang des Schadens, den dieses Ereignis voraussichtlich nach sich ziehen wird. Folglich unterscheidet sich der Umgang mit Nichtwissen deutlich von dem mit Risiken, da das Wissen um das Risiko des Eintretens eines bestimmten Ereignisses sowohl Wissen über die Art desselben als auch über die Wahrscheinlichkeit des Eintretens voraussetzt. Dies erlaubt es, das Risiko zu quantifizieren. In der Soziologie und anderen Sozialwissenschaften existiert eine Menge unterschiedlicher Konzeptionen von Risiko. In der soziologischen Systemtheorie beispielsweise wird von der oben genannten Risikodefinition Abstand genommen. Risiko wird hier definiert als eine Entscheidung, die bereut werden kann, wenn der mögliche Verlust, den man hofft vermeiden zu können, dennoch eintritt (vgl. Luhmann 1993). Trotz der Tatsache, dass dies eine einseitige, negative Vorstellung von Risiko ist, lässt dieses breit angelegte Verständnis die Frage aufkommen, was keine risikobehaftete Entscheidung wäre.1 Außerdem existieren eine Menge weiterer Begrifflichkeiten und Konzepte, die Risiko in der oben definierten Form umfassen, wie zum Beispiel Erving Goffmans Verständnis von Handlung bzw. „action“. Für Goffman findet sich „action“ überall dort, wo das Individuum bewusst Folgerisiken, die es für vermeidbar hält, auf sich nimmt (1967: 194). Aufgrund der Tatsache, dass in der Risikoforschung bis heute keine absolute Unterscheidung zwischen Risiko und Risikowahrnehmung vorgenommen wurde (d.h. eine Unterscheidung zwischen objektivem oder statistischem Risiko und einer individuell variierenden Risikowahrnehmung), haben insbesondere Vertreter der Umweltsoziologie, aber auch der Wissenschafts- und Technikforschung – neben denen vieler anderer Disziplinen (vgl. Groß/McGoey 2015) – in den letzten 20 Jahren begonnen, sich auf

1

Zu allgemeinen Diskussionen und einer fundamentalen Kritik verschiedener soziologischer Konzepte von Risiko siehe Alario/Freudenburg (2010), Campbell/Currie (2006) sowie Green (2009).

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verschiedene Abstufungen von Wissen und Nichtwissen als Analyseschwerpunkt zu konzentrieren. Georg Simmel gilt heute als Klassiker der Soziologie des Nichtwissens. Bereits 1929 hatte Wilhelm Stok eine erste von Simmel inspirierte Monographie zur Psychologie des Geheimnisses vorgelegt. Seitdem wurde das Thema im englischsprachigen Raum zwar immer wieder aufgegriffen,2 aber erst mit Heinrich Popitz’ (1968) Buch zur Präventivwirkung des Nichtwissens sowie Burkard Sievers’ (1974) Dissertation zur Geheimhaltung in sozialen Systemen wurde das Thema auch in der deutschsprachigen Soziologie wieder etwas mehr ins Blickfeld gerückt. Gerade Popitz’ These über den Erhalt des etablierten Normsystems durch bestehendes Nichtwissen wurde immer wieder neu entdeckt und zuletzt sogar anschaulich von Diekmann et al. (2011) empirisch getestet. Nichtwissen ist bei Popitz die Dunkelziffer, die nach offizieller Norm zwar aufgeklärt werden sollte, tatsächlich aber erst die Stabilität der Normen zur Aufklärung ermöglicht. Anders gesagt: Bei vollkommener Aufklärung aller kriminellen Vergehen und Normbrüche würde das Normensystem zusammenbrechen (vgl. Simmel 1992a: 393-394). Insbesondere seit den 2000er Jahren ist die Anzahl der sozialwissenschaftlichen Publikationen zum Thema Nichtwissen fast unüberschaubar groß geworden (vgl. allein die neueren Bände von Peter/Funcke 2013, Priddat/ Kabalak 2013, Twellmann 2014 oder Wehling 2015 sowie die darin zitierte und diskutierte Literatur). In den meisten Fällen wird der Begriff „Nichtwissen“ als eine „natürliche“ Kehrseite von Wissen angesehen. Dies ist ein – häufig von Robert Mertons (1987) Begriff der „specified ignorance“ unterstützter – Verweis darauf, dass es Wissen über das Unbekannte geben kann (und sogar sollte). Um etwas erfolgreich tun zu können, benötigt jeder Mensch eine ihm bekannte Restgröße an Nichtwissen. Nichtwissen kann damit strategisch „nützlich“ sein. Willem Vanderburg (2000: 91) hat nützliches Nichtwissen („useful ignorance“) als dann vorhanden betrachtet, wenn „an awareness of its existence has positive consequences, including a sense of the limitations of a specialty and the motivation to engage in ‚conversations‘ wherever possible“. Nichtwissen sollte daher nicht als Unwissen oder die bloße Abwesenheit von Wissen verstanden werden. Nichtwissen ist dann präsent, wenn nicht ausreichend Wissen über ein zu lösendes Problem verfügbar ist und wenn die involvierten Akteure sich dessen, was sie nicht wissen, bewusst sind. Viele soziologische Debatten heben die Wichtigkeit der Behandlung des

2

Hierzu zählen die in prominenten Zeitschriften veröffentlichten Arbeiten von Hawthorn (1956), Moore/Tumin (1949), Schneider (1962), Hazelrigg (1969) und Erickson (1981), die jedoch bis heute relativ wenig zitiert wurden.

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Nichtwissens hervor und können als ein Teil des Diskurses einer reflexiven Wissenspolitik gesehen werden. Die Debatte über die Steuerung von Wissen und über die reflexive Wissenspolitik deutet auf einen Wandel der Art und Weise hin, wie neue wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden (vgl. Böschen 2010, Grundmann 2007). Dies führt sogar gelegentlich zu Aufrufen zur öffentlichen Kontrolle der Wissensproduktion, da neue wissenschaftliche und technologische Innovationen erstaunliche Formen von Unbekannten hervorrufen, die alles andere als wünschenswert sind. Das heißt, dass die Herausforderung, welche in der modernen Wissensgesellschaft durch Nichtwissen entstanden ist, weiter ins Zentrum soziologischer Analyse gerückt ist. Ich behaupte, dass Simmels Verwendung des Begriffs „Nichtwissen“ hilfreich sein kann, um die derzeitige Debatte über das „bislang Unbekannte“ in der reflexiven Wissensgesellschaft voranzutreiben. Es folgt nun eine kurze Einführung zu einigen generellen Vorstellungen über die Zunahme des Nichtwissens. Ich werde diese anschließend mit den derzeitigen Debatten über die Wissensgesellschaft verknüpfen, um Simmels Überlegungen zum Nichtwissen in einen breiteren Kontext gesellschaftlichen Denkens zum Thema einzubetten und weiterzuentwickeln. Ich tue dies, um zu zeigen, inwiefern Simmels Ideen einige nützliche Anhaltspunkte zur Entwicklung gegenwärtiger Debatten über das Nichtwissen bieten. Außerdem soll hervorgehoben werden, in welcher Weise Simmel das Nichtwissen sowohl als unvermeidlich als auch als produktiv ansieht und nicht als etwas gänzlich Negatives. Anschließend werde ich zeigen, in welchem Zusammenhang Simmels Vorstellung von Nichtwissen mit seiner Darstellung der objektiven und subjektiven Kultur steht. Ziel ist es, einige seiner Ideen zu systematisieren und sie in Beziehung zu dem zu setzen, auf das sie sich ursprünglich bezogen, wie zum Beispiel die Wichtigkeit von Überraschungen im Alltag. Ich möchte damit zeigen, wie Simmels Ideen über Nichtwissen einen Raum entstehen ließen, der nützlich sein kann, um die derzeitigen Debatten voranzutreiben. Es sei angemerkt, dass Simmel selbst keine konzeptuelle Verbindung zwischen der objektiven Kultur und dem Nichtwissen entwickelte. Er bezog sich in seinem Werk allerdings in verschiedenen Kontexten auf das Nichtwissen, wie zum Beispiel in seinen Ausführungen zu sozialen Typen (der Fremde, der Abenteurer) und sozialen Beziehungen (Geheimnisse, sexuelle Affären). Mein Ziel ist es, dem roten Faden zu folgen, der sich durch all diese Anwendungen zieht, und dadurch die Wichtigkeit von Nichtwissen mit seinen Überlegungen zur subjektiven und objektiven Kultur zu verbinden. In diesem Sinne ist die folgende Diskussion keine über Simmels Werk per se. Ich beziehe mich viel mehr auf bestimmte Aspekte – und teilweise lediglich Äußerungen – in Simmels Arbeit, um daraus neue Ideen abzuleiten, von denen ich annehme, dass sie wichtig für die Soziologie sind.

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U NBEKANNTEN

In der Regel deuten Begriffe wie Unwissen, Nichtwissen oder Unwissenheit darauf hin, dass es ein Bewusstsein dafür gibt, dass jegliche Zunahme an Wissen mit einem Zuwachs dessen, was nicht gewusst wird, einhergeht. Bereits Herbert Spencer wies in seinem Verständnis des „positiven Wissens“ darauf hin, dass dieses nie die Sphäre des möglichen Wissens ausfüllen könne, denn an „der äußersten Grenze der Entdeckungen wird sich uns immer die Frage erheben: Was liegt jenseits? Wie wir nicht im Stande sind, uns eine Grenze des Raums zu denken, dergestalt, dass die Vorstellung von dem Raum, der jenseits dieser Grenze liegt, ausgeschlossen wäre, so können wir uns keine Erklärung denken, erschöpfend genug, um die Frage auszuschließen: welches ist die Erklärung dieser Erklärung? Wenn wir das Wissen als eine stetsfort wachsende Kugel betrachten, so können wir behaupten, dass jede Vergrößerung ihrer Oberfläche sie nur in noch umfänglichere Berührung mit dem umgebenden NichtWissen bringt.“ (Spencer 1875: 16-17)

Für Spencer sieht die Lösung dann so aus, dass es immer zwei entgegengesetzte aber eng zusammenhängende Arten von „geistiger Tätigkeit“ geben müsse: Zum einen sieht er die Beschäftigung mit den „sicher ermittelten Erscheinungen und ihren Beziehungen“ und, in Referenz zum vorher eingeführten Nichtwissen, zum anderen auch die Beschäftigung „mit jenem unbestimmten Etwas, welches von den Erscheinungen und ihren Beziehungen ausgefüllt wird“ (ibid.: 17). Für Spencer ist diese Möglichkeit, „auf einem Gebiet zu verweilen, welches jenseits des Wissens liegt“, jedoch auch ein Hinweis darauf, dass es außerdem Raum für das Religiöse geben müsse, der ebenso jenseits des positiven Wissens liegt. Er sieht also die Ahnung und die Spezifizierungen von dem, was (wissenschaftlich) noch nicht gewusst wird, epistemologisch auf gleicher Ebene mit religiösen Gefühlen. Dies lässt Spencers Ausführungen in einem etwas zwiespältigen Licht erscheinen. Etwa 150 Jahre später nutzte der Philosoph Jürgen Mittelstrass (2007), wie bereits in Kapitel 1 erwähnt, die Metapher der Wissenskugel, um das Wachstum des Nichtwissens zu beschreiben: Jedes gelöste Problem bringt – nicht nur in der Wissenschaft – neue, ungelöste Probleme mit sich und somit auch neue Grenzen des Bekannten. Die Metapher der Wissenskugel stammt ursprünglich vom französischen Physiker, Mathematiker und Philosophen Blaise Pascal (1623-1662). Ähnlich wie für Spencer war auch für Pascal Wissen wie eine Kugel, die in einem Universum des Nichtwissens schwimmt. Wann immer Wissen wächst,

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wächst auch das Nichtwissen. Wenn die Wissenskugel größer wird, vergrößert sich mit ihr die Oberfläche des Wissens und generiert so neue Berührungspunkte mit dem Nichtwissen (Mittelstrass 2007).3 Wie Mittelstrass verdeutlicht, kann diese Metapher sowohl in optimistischer als auch in pessimistischer Weise interpretiert werden. In der pessimistischen Interpretation wird das Wissen vom Radius der Kugel repräsentiert, so dass es langsamer wächst als das Nichtwissen. In der Wissensgesellschaft wäre der Prozess der Wissensproduktion ein solcher, in dem das Nichtwissen schneller wächst als das Wissen. Die optimistische Deutung betrachtet Wissen als dem Volumen der Kugel innewohnend, so dass Wissen schneller wächst als Nichtwissen. Das heißt, die Berührungspunkte der Oberfläche mit dem Nichtwissen nehmen nicht so schnell zu wie das Volumen (vgl. Mittelstrass 2007: 4). Zu welcher Auslegung man auch neigen mag, in beiden Fällen führt mehr Wissen zu mehr Nichtwissen und damit zu immer neuen Forschungsaufgaben. In der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts lässt dies allerdings viele neue Fragen aufkommen, Fragen, die Pascal, Spencer, aber auch Mittelstrass noch nicht benannten. Zum Beispiel: Wie gehen wir unter verschiedenen Umständen mit diesem unbestimmten „Etwas“, also dem wachsenden Nichtwissen, um? Was müssen wir wissen und vor welchem Wissen müssen wir uns womöglich sogar schützen? Aber auch: Kann es sogar sein, dass Nichtwissen eine wichtige Ressource für erfolgreiches Handeln ist? In der klassischen Soziologie war Simmel wahrscheinlich der einzige, der ausführlicher mit dem Begriff und dem Konzept des Nichtwissens arbeitete. Bis auf einige wenige Bemerkungen bei Spencer (siehe oben), beschäftigten sich andere klassische Soziologen nicht mit der Herausforderung, die Nichtwissen in der modernen Kultur bedeutet, weswegen Simmels Ideen als originär betrachtet werden können. In seiner Diskussion über Platons Definition des Philosophen als jemand, der zwischen denen, die wissen, und denen, die nicht wissen, steht, bemerkt Simmel:

3

Es existieren viele Versionen dieser Metapher. John Wheeler, Physiker und Nobelpreisträger, drückte es folgendermaßen aus: „We live on an island surrounded by a sea of ignorance. As our island of knowledge grows, so does the shore of our ignorance“ (zitiert nach Horgan 1992: 10). Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) soll gesagt haben: „Mit dem Wissen wächst der Zweifel“, und John F. Kennedy: „The greater our knowledge increases, the greater our ignorance unfolds“ (diese Zitate können leicht im Internet gefunden werden). Wie dem auch sei, Pascal lebte lange vor den oben Zitierten, daher beziehe ich mich auf ihn als das Original und folge Mittelstrass’ Interpretation.

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„Und nicht nur, dass wir auf dieser Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen stehen, macht unser Leben zu dem, als was wir es kennen; es wäre auch dann ein absolut anderes, wenn die Grenze jedes Mal definitiv wäre, wenn nicht mit vorschreitendem Leben – sowohl im ganzen wie hinsichtlich jeder einzelnen Vornahme – Unsicheres sicherer und sicher Geglaubtes fragwürdiger würde.“ (Simmel 1999: 213)

Mit anderen Worten: Die menschliche Existenz ist per se Gegenstand spielerischen Experimentierens mit dem, was gewusst wird, und dem, was nicht gewusst wird. Simmel diskutierte das Thema detaillierter in einem Kapitel seiner „großen“ Soziologie aus dem Jahr 1908, das den Titel „Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft“ trägt (1992a: 383-455). Er nutzt den Begriff aber auch in anderen Kontexten – von seinen Essays zur Kulturtheorie bis hin zu seinen letzten Schriften zur Lebensphilosophie. Im Allgemeinen hob Simmel hervor, dass ein Verständnis der komplexen Verflechtungen zwischen Bekanntem und Unbekanntem wichtiger sein kann, als das Wissen der Menschen übereinander. Das sei es, so Simmel, was die Qualität, die Tiefe und die Nuancen der Beziehungen und Interaktionen zwischen Menschen ausmache. Individuen und Gruppen, wie beispielsweise Geheimbünde, steuern und kontrollieren soziale Beziehungen durch ihre strategischen Zuweisungen und Manipulationen der Anteile von Wissen und Nichtwissen (siehe Tabelle 1). Neben der zuvor genannten Entstehung neuen Nichtwissens und den damit verbundenen nicht intendierten Nebeneffekten ist die Debatte über die Wissensgesellschaft ebenfalls ein wichtiges Thema in aktuellen Diskussionen, welche die reflexive Wende in den Gesellschaften des 21. Jahrhunderts thematisieren. Wenn von Wissensgesellschaft gesprochen wird, dann ist damit nicht ausschließlich die fundamentale Transformation von der Industriegesellschaft hin zu einer Gesellschaft, in der die Aneignung und Nutzung von Wissen ins Zentrum rückt, gemeint. Es geht vielmehr darum, dass die Wissensproduktion immer auch das Wachstum von Nichtwissen einbezieht. Hier beschreibt die Wissensgesellschaft eine Gesellschaft, die zunehmend von den Unbestimmtheiten durchdrungen wird, welche durch verschiedene Formen der Wissensproduktion entstehen. Im Folgenden werde ich versuchen, die Diskussion um den Charakter der Wissensgesellschaft zu spezifizieren und Simmels theoretische Überlegungen dazu in Beziehung zu setzen.

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N ICHTWISSEN , F ORTSCHRITT UND DIE W ISSENSGESELLSCHAFT Das berühmte Wissen des Sokrates um sein eigenes Nichtwissen wird gewöhnlich so ausgelegt, dass Nichtwissen einen Zustand des Bewusstseins darstellt, der wichtig für die Aufdeckung von Scheinwissen und die Bewegung hin zu Weisheit und „echtem“ Wissen ist. Karl Popper, der sich in seinem Werk immer wieder auf Sokrates stützte, hat daraus geschlussfolgert, dass alle Entscheidungen auf bewusstem Nichtwissen aufbauen. Mit Blick auf das moderne Ingenieurswesen fasste er diese Sichtweise in einem prominenten Zitat folgendermaßen zusammen: „Wie Sokrates weiß der Stückwerk-Ingenieur, wie wenig er weiß. Er weiß, dass wir nur aus unseren Fehlern lernen können. Daher wird er nur Schritt für Schritt vorgehen und die erwarteten Resultate stets sorgfältig mit den erreichten vergleichen usw.“ (Popper 1979: 53-54)

Etwas weiterführend hatte zuvor Friedrich von Hayek diesen schrittweisen Prozess der Wissenssuche im Horizont der individuellen Freiheit als wesentlich dafür angesehen, Raum für Unvorhergesehenes und damit für neues Wissen zu schaffen. Für Hayek (1952) war der wahre Individualismus dadurch gekennzeichnet, dass die Wissensgenerierung eine Notwendigkeit darstellt, die durch das bestehende Nichtwissen vorangetrieben wird. Der falsche Individualismus hingegen sei von einem missverstandenen Rationalismus geprägt, der bestehendem Expertenwissen die Möglichkeit einer erfolgreichen Steuerung moderner Gesellschaftsprozesse zuschreibe (vgl. auch Bennett 2009, Infantino 2003). Erfolgreiche Neuerungen und Anwendungen von Wissen funktionieren, so verstanden, nur über das Erkennen und Anerkennen von Nichtwissen als dem ersten Schritt, um voranzukommen. Ausgangspunkt der Überlegungen zu Beginn des Buches waren Aspekte, die auf einen Wandel der Bedeutung von Wissen hinweisen und erst so die Rede von der Wissensgesellschaft plausibilisieren. Ging man in der Industriegesellschaft typischerweise von einem produktorientierten Wissen aus, das man mehr oder weniger problemlos reproduzieren und sich in einer Ausbildung aneignen kann, um es dann im Produktionsprozess einzusetzen, gewinnt Wissen in der Wissensgesellschaft zunehmend den Charakter eines vielfältig ausgehandelten und damit experimentell erarbeiteten Wissens. Wissen muss sich in Aushandlungsprozessen unterschiedlicher beteiligter Akteure und Interessensgruppen experimentell bewähren. Der Begriff „Wissensgesellschaft“ bezieht sich damit auf einen

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Trend, in dem wissenschaftlichem Wissen und Expertise in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen eine zunehmende Bedeutung zukommt. Im Grunde begann die Soziologie als eine wissenschaftliche Disziplin industrialisierter Gesellschaften, in denen Güter durch die Nutzung und Transformation natürlicher Ressourcen hergestellt wurden. Die Wissensgesellschaft hingegen kennzeichnet eine fundamentale strukturelle Verlagerung weg von einer industrialisierten Gesellschaft und hin zu einer neuen Form der sozialen Koexistenz, in der die Aufmerksamkeit auf dem Wissen als ein Wirtschaftssektor liegt. Mit der zunehmenden Bedeutung verschiedener Typen impliziten Wissens – also Wissen, was nicht immer explizit formuliert, sondern häufig nur bei Bedarf in der Praxis angewandt werden kann (vgl. Collins 2010) – wird auch die Bedeutsamkeit der Formen von Wissensarbeit sichtbar, die während der Erzeugung wissenschaftlichen Wissens nicht gezielt angestrebt wurden. Diese Entwicklung zeigt ebenfalls, dass die Unterscheidung zwischen wissenschaftsbasiertem Wissen und dem experimentellen Wissen der breiteren Gesellschaft zu verwischen beginnt, was zu einem Fokus auf eine enge Kopplung zwischen wissenschaftlicher Expertise, Politik und Öffentlichkeit führt (vgl. Bogner 2007, Maasen/Weingart 2005, Moore 2006). Die Entstehung von Umweltdienstleistungsunternehmen, also Organisationen, die zwischen den gesellschaftlichen Subsystemen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik eine verbindende Funktion einnehmen, sind ein wichtiges Beispiel dafür (vgl. Guggenheim 2005). Weiterhin gibt es aktuelle Debatten über die zunehmende Signifikanz neuer Formen der transdisziplinären Forschungszusammenarbeit (vgl. Bergmann et al. 2010) sowie Kritik an eben jener transdisziplinären Forschungszusammenarbeit und deren bestreitbarer Überlegenheit (vgl. Jacobs 2013). „Wissensgesellschaft“ meint daher, dass traditionelle Gegensätze, wie „Wissenschaft versus Gesellschaft“ oder „Wissensproduktion versus Anwendung“ oft hinterfragt werden und die Grenzziehungen zwischen ihnen sich oft zu ändern scheinen. Aufgrund des Ursprungs von Wissenschaft im institutionellen Raum des Labors und des theoretischen Diskurses hielt die Trennung zwischen „reiner“ Wissenschaft und nicht-wissenschaftlichem Kontext länger an, als es die empirischen Beobachtungen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen nahelegten. Mehr noch, wie David Kaldewey (2013) zeigt: Je mehr innerhalb der Wissenschaft selbst das Außen oder das Nichtwissenschaftliche als Orientierungspunkt hervorgehoben wird (z.B. für die zunehmend geforderte Anwendungsorientierung), umso stärker orientieren sich die eigenen Zielsetzungen an internen Standards und heben damit erst den gesellschaftlichen Zusammenhang zwischen Grundlagenforschung und Anwendung hervor.

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Tabelle 1: Simmel und Nichtwissen Typus des Nichtwissens Geheimnis

Strategisches Nichtwissen in persönlichen Beziehungen

Strategisches Nichtwissen in der Öffentlichkeit Fehlende Expertise

Das noch Unbekannte

Merkmal Intentionales Nichtwissen; Regulation der Verbreitung von Wissen durch das Schaffen und Erhalten von Wissenslücken Wissen darüber, was nicht gewusst wird, was aber entweder als unwichtig oder als gefährlich angesehen wird; dem kommt u.a. die Funktion zu, Langeweile und „banale Gewöhnung“ zu verhindern Das, was aus Gründen der Höflichkeit nicht gewusst werden sollte Das Nichtwissen der einen Person macht eine andere Person zum Experten Kann zu positiven und negativen Ergebnissen führen; Versuch des Ausbrechens aus der Normalität des Lebens

Beispiel in Simmels Arbeit Die Geheimgesellschaft; das Geheimnis der einen Person ist das Nichtwissen der anderen Person

Restriktionen von Möglichkeiten in intimen Beziehungen, z.B. sexuellen Affären

Sitzordnungen in öffentlichen Verkehrsmitteln wie Bus und Bahn Beziehungen zwischen Fremden und moderne Arbeitsteilung Die Abenteurerin, die danach strebt, etwas zu finden, indem sie aus dem normalen Lebensverlauf ausbricht

Anmerkung: Simmel betonte oft die grundlegende Wichtigkeit des Nichtwissens, aber er lieferte auch spezifische Anwendungen und Beispiele für die Vorstellung von Nichtwissen, von denen einige hier zusammengefasst sind.

Im Gegensatz zur Arbeit von Daniel Bell (1975), der in der Moderne des späten 20. Jahrhunderts theoretisches Wissen als die wichtigste Ressource betrachtete, sind die aktuellen Debatten über die Wissensgesellschaft weniger auf die ökonomischen Aspekte des Wissens gerichtet, sondern, wie oben diskutiert, mehr

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auf das Wachstum von Nichtwissen und die „Schattenseite des Wissens“, wie es Peter Wehling (2006) in seinem Buchtitel nannte. Der Nutzen neuen Wissens ist zwangsläufig mit neuen Unbestimmtheiten verbunden. Diese Unbestimmtheiten umfassen das Ausmaß, in dem Wissensbildung und technische Entwürfe empirisch geprüft werden können, und Ungewissheit entsteht als ein Resultat der unbekannten Bedingungen, in die neue Expertise eingebettet wird. In diesem Sinne dienen die Beschreibungen der aktuellen Gesellschaft als Wissensgesellschaft auch dazu, die überraschenden Konsequenzen der wissenschaftlichen Forschung und technischen Entwicklung mehr und mehr in das Blickfeld soziologischer Analysen zu rücken. Die immer wieder aufflammenden Diskussionen um die konzeptuelle Bedeutung der unvorhergesehenen Effekte zielorientierter Handlungen in der Soziologie (vgl. Endreß 2010) unterstreichen diesen Punkt eindrücklich. In diesem Zusammenhang wurde die Bedeutung experimenteller Praktiken in der Wissenssoziologie hervorgehoben. Eine Bandbreite empirischer Studien hat gezeigt, dass solche Praktiken ebenso in verschiedenen anderen Feldern außerhalb der Wissenschaft gefunden werden können (Böschen 2013, Latour 2011, Sørensen et al. 2010).4 Auf diese Weise betrachtet scheint es, dass die Wissensgesellschaft von Forschungsstrategien, die von experimentellen Praktiken Gebrauch machen, durchzogen ist – was meist aber anders bezeichnet wird. Die „Wissensgesellschaft“ beschreibt also eine Gesellschaft, die auf der Existenz von Praktiken basiert, die zu unvorhersehbaren Ergebnissen führen können. Allgemein gesagt: Die Suche nach neuem Wissen und die Anwendung erprobten und bewährten Wissens gehen in der modernen Wissensgesellschaft Hand in Hand. Die Anwendung von Wissen führt häufig zur Entdeckung von Wissenslücken und neuen Ungewissheiten, während gleichzeitig neue Entscheidungen über Interventionen auf der Basis unvollständigen und vagen Wissens getroffen werden müssen. Während der experimentelle Charakter so gelagerter Innovationsprozesse immer offener (vgl. Sabel/Zeitlin 2010) kommuniziert wird, wird der Bedarf an Institutionen, die im Stande sind, die soziale Akzeptanz und politische Legitimation dieser Prozesse zu fördern, immer offensichtlicher. Diese Wende führt zu einem weiteren, wenig erforschten Merkmal der Wissensgesellschaft. Letztere ist distinktiv, da Normen und Konventionen nun häufig durch Entscheidungen ersetzt werden, die auf dem Nichtwissen und situationsspezifischen Umständen

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Ian Hacking (1996) hat z.B. gezeigt, dass experimentelle Praktiken nicht auf eine unterstützende Rolle in der Formulierung von Theorien reduziert werden können, sondern eher ein von der Theorieentwicklung unabhängiges, eigenes Leben führen.

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beruhen. Vorausgesetzt, dass neues Wissen immer auch die Möglichkeit eröffnet, neues Nichtwissen zu identifizieren und besser zu untersuchen, wird die Ungewissheit, die mit neuem Nichtwissen verbunden ist, zu einem der Schlüsselmerkmale der Wissensgesellschaft. Entscheidungen im Kontext von Nichtwissen zu treffen, wird höchstwahrscheinlich eines der Hauptmerkmale der Entscheidungsfindung in zukünftigen Gesellschaften sein. Selbst wenn sich die Schauplätze der Entscheidungsfindung dann nicht unter den traditionellen Orten der Wissenschaft befinden, werden sie nicht weniger wichtig sein und ihre Akteure werde Studien und Forschungsmethoden der Wissenschaft innerhalb der Gesellschaft anwenden. Die Wissensgesellschaft dürfte dann davon gekennzeichnet sein, dass sie sich weiterentwickelt, indem sie mit dem Nichtwissen innerhalb und außerhalb des Wissenschaftssektors experimentiert.

O BJEKTIVE K ULTUR UND DIE ALLTÄGLICHE Ü BERRASCHUNG VON N ICHTWISSEN Eine von Simmels Schlüssel-Diskussionen, in der er den Begriff des Nichtwissens nutzt, ist in seinen Überlegungen zu Geheimnissen zu finden. „Das Geheimnis“, so schreibt Simmel, ein „durch negative oder positive Mittel“ getragenes Verbergen von Wirklichkeiten, ist „eine der größten Errungenschaften der Menschheit“ (1992a: 406). Er verweist hier auf die Beziehung zwischen dem, was geheim ist, und dem, was gewusst wird. Die Beziehung der beiden Bereiche, so Simmel, beginne sich in der Moderne zu wandeln, weil viele Dinge, die einst öffentlich zugänglich waren, zunehmend als Geheimnis betrachtet würden. Andererseits würden viele Dinge, die einst Geheimnis waren, zunehmend öffentlich. Wie Nedim Karakayali (2006: 320) zeigte, nutzte Simmel den Bereich der Heimlichkeit (clandestine), um einerseits die Sphäre der Privatheit und des Verborgenen hervorzuheben und andererseits das Magische und Mysteriöse als zentralen Punkt des Alltags zu betonen. Die Kategorie des Fremden taucht ebenfalls auf – sowohl als Person, der ein Geheimnis anvertraut wird (solange der Fremde ein Außenstehender ist, der das Vertrauen der Einheimischen genießt), als auch als eine Beziehung, durch die geheime Potentiale in einer Gesellschaft aufgedeckt werden können, da die Kenntnis des Fremden den Menschen bewusst macht, was sie nicht wissen. Dies verleiht dem Begriff des Nichtwissens im Kontext der Heimlichkeit eine sehr umfassende Bedeutung, denn es beinhaltet das, was gewusst werden muss, das, was unsichtbar gehalten wird, und das, was man aus Angst gar nicht wissen will. Simmel geht es im Prinzip darum zu zeigen, dass das Geheimnis ein die moderne Kultur strukturierendes Prinzip ist. Er schreibt dazu Folgendes:

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„Dennoch ist angesichts unserer zufälligen und mangelhaften Anpassungen an unsere Lebensbedingungen kein Zweifel, dass wir nicht nur so viel Wahrheit, sondern auch so viel Nichtwissen bewahren und so viel Irrtum erwerben, wie es für unser praktisches Tun zweckmäßig ist.“ (1992a: 385-386)

Mit anderen Worten: Neue Interpretationen und Strategien des Handelns basieren auf der Anerkennung immer neuer Formen des Nichtwissens. Diese Anerkennung wird durch das Anzweifeln und Unterbrechen von Routinen, Traditionen oder ehemals akzeptiertem Wissen begünstigt. Alltägliche Routinen können kollabieren, weil neues Wissen neues Nichtwissen aufdeckt. An dieser Stelle der Diskussion soll nun Simmels Idee der objektiven Kultur mit dem Konzept des Nichtwissens verbunden werden. Dafür stütze ich mich auf das, was Simmel in seinem berühmten Essay Der Begriff und die Tragödie der Kultur (Simmel 1998: 195-219) die moderne Beziehung zwischen der subjektiven und objektiven Kultur nannte. Simmel stellt die These auf, dass in der modernen Gesellschaft die Produkte der Kultur zunehmend von der konkreten menschlichen Aktivität getrennt werden und den Menschen als objektive, häufig anonyme Kräfte gegenüberstehen. Individuen fühlen oft, dass sie von kulturellen Elementen umgeben sind, die sie nicht gänzlich verstehen – obwohl es oft sein kann, dass letztere sogar von denselben Menschen gemacht wurden. Zum Beispiel werden Normen und Gesetze, die von Menschen erfunden wurden, zu scheinbar prognostizierbaren und somit objektiven Phänomenen oder „Kräften“. Seiner Ansicht nach folgen die Dinge der subjektiven Kultur, die ursprünglich vom Menschen für den Menschen geschaffen wurden, einer ganz eigenen Entwicklungslogik: „Was der Religion oft als ihr antikultureller Geist vorgeworfen wird, sind nicht nur ihre gelegentlichen Feindseligkeiten gegen intellektuelle, ästhetische, sittliche Werte, sondern auch dieses Tiefere: dass sie ihren eigenen, durch ihre immanente Logik bestimmten Weg geht, in den sie zwar das Leben hineinreißt; aber, welche transzendenten Güter auch immer die Seele auf diesem Wege findet, er führt sie oft genug nicht zu der Vollendung ihrer Totalität, auf die ihre eigenen Möglichkeiten sie weisen und die, die Bedeutsamkeit der objektiven Gebilde in sich aufnehmend, eben Kultur heißt.“ (Simmel 1998: 213)

Für Simmel beinhaltet die subjektive Kultur die Kapazität der Individuen, Elemente der objektiven Kultur für ihre eigenen Zwecke zu transformieren und zu verbessern. Simmel sah, dass Individuen der Partizipation an einer Kultur und der einschränkenden Konsequenzen objektiver Formen, die dem kreativen Prozess eben dieser Kultur entstammen, nicht entfliehen können. Während Simmel

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die Verbindung zwischen Freiheit in der subjektiven Kultur auf der einen und den Mangel an Wissen über die objektive Kultur (z.B. bestimmte Normen) auf der anderen Seite diskutiert, erklärt er: „Die praktischen Konsequenzen dieser beiden Möglichkeiten überlagern sich insofern, dass unsere Handlungen aufeinander ausgerichtet sind. Das Nichtwissen in Form von der Willkür anderer Menschen beeinflusst augenscheinlich trotzdem mein eigenes Verhalten, egal ob dieses Nichtwissen dem Mangel objektiver Determination entstammt oder aber der Unangemessenheit meiner eigenen Wahrnehmung des letzteren.“ (Simmel 1892: 234)

Versteht man es so, können die Effekte des Nichtwissens sich also entweder aus der unterdrückenden Macht der objektiven Kultur entwickeln oder aus der mangelnden Fähigkeit des Subjekts, sinnvoll damit umzugehen. Analytisch gesehen sind die Effekte auf das Individuum dieselben. Was Simmel beobachtete, war, dass das Wachstum der objektiven Kultur zum Teil das Wachstumstempo der subjektiven Kultur übersteigt, so dass die objektive Kultur manchmal den subjektiven Zwängen zuwider läuft – ein Denkmodell, das in den 1920er Jahren von William Ogburn (1967) mit dem Konzept des „cultural lag“ auf den technischen Fortschritt übertragen wurde, in dem „natürlicherweise“ und unabhängig die kulturelle Entwicklung hinter der wissenschaftlich-technischen hinterherhinke (vgl. auch Ellul 1964, Winner 1977). Dies ist in Simmels Schriften der tragische Konflikt, der alle Bereiche der modernen Gesellschaft durchdringt. Außerdem schrieb Simmel bezüglich der intellektuellen Arbeit: „Sobald unser Werk dasteht, hat es nicht nur eine objektive Existenz und ein Eigenleben, die sich von uns gelöst haben, sondern es enthält in diesem Selbstsein – wie von Gnaden des objektiven Geistes – Stärken und Schwächen, Bestandteile und Bedeutsamkeiten, an denen wir ganz unschuldig sind und von denen wir selbst oft überrascht werden.“ (Simmel 1998: 213)

Simmel weist damit auf die Tatsache hin, dass, obwohl die Menschen etwas erfunden haben, ihre eigene Kreation in der Lage ist, sie durch die Form, die sie annimmt, wenn sie Teil der „objektiven“ Kultur wird, zu überraschen. Unter den vielen Schattierungen von Simmels Gebrauch des Begriffs „Kultur“ (vgl. Scaff 1990) ist die wichtigste wohl die Idee von Kultur als ein Prozess, durch den die Menschen ihre eigene „subjektive Kultur“ bilden. Donald Levine (2008: 245) nannte dies den „process by which certain human constructions come to follow their own inner laws of development“. Für Simmel steht diese Beziehung zwischen den zwei Kulturen im Zentrum eines radikalen, oft latent stattfindenden

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Wandels im modernen Zeitalter, in dem die subjektiven Ideen und Intentionen eines Individuums häufig der objektiven Kultur zum Opfer fallen und ein nicht intendiertes Eigenleben entwickeln. Man kann Simmel so interpretieren, dass diese Entwicklung zu immer mehr Nichtwissen führt, dass sie ein Ergebnis der Unfähigkeit ist, objektive Produkte in die subjektive Kultur zu integrieren. Traditionellerweise sollte all jenes, was kaschiert und verheimlicht wurde, in den offenen Bereich des Wissens gerückt werden. Simmels Idee der objektiven Kultur und der Verarbeitung von Nichtwissen beinhaltet allerdings Folgendes: Je mehr neues Wissen, neue Technologien, neue Gesetze und Gewohnheiten generiert werden, desto mehr können Menschen von ihrem eigenen Erfolg überrascht werden. Sie werden sich somit immer häufiger ihres eigenen Nichtwissens bewusst und fühlen sich von ihrem erkannten Nichtwissen eingeengt. Die kontinuierliche Existenz und immer neue Vermehrung von Nichtwissen, ebenso wie die immer bedeutender werdende Rolle von Geheimnissen, konterkariert auf den ersten Blick den Glauben daran, dass das Unbekannte durch die moderne Wissenschaft und die Rationalisierung der Welt aus dem sozialen Leben verbannt werden kann.

A BENTEUER , G EHEIMNISSE UND V ERTRAUEN : E INIGE E RRUNGENSCHAFTEN DES N ICHTWISSENS IN DER Ö FFENTLICHKEIT Ein anderer Bereich, in dem Simmel das Phänomen des Nichtwissens diskutiert, ist das Abenteuer in der Moderne (Simmel 1998). Simmel zufolge ist ein Abenteuer eine freiwillige Unterbrechung des Kontinuums zwischen dem normalen Lebensverlauf und einem ungewöhnlichen Ereignis, auf das jemand gehofft hat. Da das Individuum in einem Abenteuer auf der Suche nach unvorhergesehenen Ereignissen ist, kann es als die Chance verstanden werden, die Kontrolle über den vorhergesehenen Verlust von Kontrolle (zumindest für den Moment) wieder zu gewinnen. Dies kann als antizipierte Überraschung bezeichnet werden. Allerdings ist es auch mehr als das: Es ist etwas, das dem Lebensprozess zuwiderläuft, da sich ein Abenteuer aus dem Zusammenhang des normalen Lebensverlaufs abheben muss. Simmel fährt fort: „Der Abenteurer nun, um es mit einem Worte zu sagen, behandelt das Unberechenbare des Lebens so, wie wir uns sonst nur dem sicher Berechenbaren gegenüber verhalten“ (1998: 30). Dies kann mit dem von Stephen Lyng (2008) hervorgebrachten Konzept des „edgework“ in Verbindung gebracht werden, also mit der freiwilligen Risikobereitschaft. Allerdings musste sich Simmel nicht mit der breiten und unscharfen Vorstellung von

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Risiko, wie sie in der heutigen Soziologie vorherrscht, beschäftigen (vgl. Green 2009).5 Stattdessen beschrieb er die abenteuerliche Grenzarbeit im Sinne eines Prozesses von Versuch und Irrtum oder gar einer alltäglichen „Frickelei“ mit Nichtwissen: „Die Sicherheit, mit der wir – berechtigt oder irrend – um einen Erfolg wissen, gibt dem Tun eine qualitativ besondere Färbung; wenn wir umgekehrt unsicher sind, ob wir dahin gelangen werden, wohin wir aufgebrochen sind, wenn wir das Nicht-Wissen um den Erfolg wissen, so ist das nicht nur eine quantitativ herabgesetzte Sicherheit, sondern bedeutet eine innerlich und äußerlich einzigartige Führung unserer Praxis.“ (Simmel 1998: 30)

Anders gesagt: Die Tatsache, dass eine Abenteurerin genau weiß, was sie nicht weiß, macht das Abenteuer erst wirklich abenteuerlich. Weiterhin: „In jedem Vorkommnis, das uns begegnet, steckt so viel bloß Gegebenes, Äußerliches, Gelegentliches, dass es sozusagen nur eine Quantitätsfrage ist, ob das Ganze als etwas Vernünftiges, einem Sinne gemäß Begreifliches gelten kann, oder ob seine Unauflösbarkeit nach der Vergangenheit hin, seine Unberechenbarkeit nach der Zukunft hin die Färbung des Ganzen bestimmen soll.“ (Simmel 1998: 37)

Diese Position des modernen Individuums in der Welt, das von „der gesichertsten bürgerlichen Unternehmung […] bis zu dem irrationellsten Abenteuer eine kontinuierliche Reihe von Lebenserscheinungen“ aufweist, in denen „das Hingleiten unserer Existenz auf einer Skala, auf der jeder Teilstrich durch eine Wirkung unserer Kraft und eine Preisgegebenheit an undurchdringliche Dinge und Mächte gleichzeitig bestimmt ist, diese Problematik unserer Weltstellung […] lässt uns alle zu Abenteurern werden“ (ibid.). Man kann also Simmels Essay zum Abenteuer folgendermaßen interpretieren: Durch das Wachstum der objektiven Kultur nehmen sowohl Nichtwissen als auch überraschende Wendungen von Ereignissen zu. Worauf kann sich der Abenteurer in der modernen Welt verlassen? Mit Sicherheit auf das Nichtwissen, mit dessen Hilfe er die nächsten Schritte meistern wird!6

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Interessanterweise erklärt Lyng selbst, dass „it would perhaps be more accurate to describe the edgework perspective as a general theory of uncertainty seeking rather than a theory of risk seeking per se“ (Lyng 2008: 109; Herv. im Orig.). Diese Konzeptualisierung und die den Abenteuern im alltäglichen Leben zugeschriebene Wichtigkeit können mit Erving Goffmans Überlegungen zu „fateful activities“ (1967: 260) verbunden werden. Dies sind Handlungen, die problematisch sind, aber

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In Simmels Modell der Entwicklung einer modernen Gesellschaft wird die Lücke zwischen der subjektiven und objektiven Kultur größer – aber dies muss nicht zwangsläufig so sein. Die bewusste Bildung einer objektiven Kultur, ob sie nun die Form wissenschaftlicher Interventionen in der natürlichen Umwelt oder Formen sozialer Interaktionen annimmt, führt immer zu Formen des Nichtwissens und – vor allem in modernen Wissensgesellschaften – zu immer mehr Nichtwissen, was die Ordnung moderner Gesellschaften in Frage stellen kann. Es ist die Entdeckung des Nichtwissens, welche einen Schlüsselaspekt der modernen Welt repräsentiert. Simmel führt nun das Vertrauen als Bindeglied zwischen Wissen und Nichtwissen ein: „Wir bauen unsere wichtigsten Entschlüsse auf ein kompliziertes System von Vorstellungen, deren Mehrzahl das Vertrauen, dass wir nicht betrogen sind, voraussetzt“ (Simmel 1992a: 389). Weiterhin schrieb er: „Vertrauen, als die Hypothese künftigen Verhaltens, die sicher genug ist, um praktisches Handeln darauf zu gründen, ist als Hypothese ein mittlerer Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen um den Menschen“ (ibid.: 393). Vertrauen setzt im Allgemeinen einen Akteur oder eine Partei voraus, die sich in einem Kontingenzverhältnis befindet. Der involvierte Akteur – oder die Partei – wird dann anfällig für das mögliche opportunistische Verhalten der anderen Partei. Die Platzierung von Vertrauen erlaubt es weiterhin, Handlungen durchzuführen, die auf unvollständigen Informationen beruhen.7 Allerdings, so Simmel weiter: „Welche Maße von Wissen und Nichtwissen sich mischen müssen, um die einzelne, auf das Vertrauen gebaute praktische Entscheidung zu ermöglichen, das unterscheidet die Zeitalter, die Interessengebiete, die Individuen“ (1992a: 393-394). In seiner Analyse der sich beschleunigenden Entwicklung der Gesellschaft konstatiert er jedoch, dass nun immer mehr Nichtwissen das Hauptmerkmal der entstehenden objektiven Kultur sei. Simmel schreibt zu diesem Punkt: „Jene Objektivierung der Kultur hat die zum Vertrauen erforderlichen Wissens- und Nichtwissensquanta entschieden differenziert“ (ibid.: 394). Allerdings gibt es in seiner Arbeit keine klare Verbindung zwischen dem erworbenen Wissen und der Intensität des Vertrauens, gerade weil im Falle

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nichtsdestotrotz von einigen Mitgliedern einer Gruppe oder Gesellschaft zum Beispiel als Ehrensache hoch geschätzt werden. Die soziologische Literatur zu Vertrauen ist mittlerweile unüberschaubar geworden. Allgemein wird Vertrauen als eine immer wichtiger werdende Variable in Studien zum Risikomanagement, zur Entscheidungsfindung und in der Organisationsforschung betrachtet. Vgl. hierzu stellvertretend für viele andere die Arbeiten von Endreß (2002), Misztal (1996), Möllering (2006), Nuissl et al. (2002).

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sehr geringen Wissens großes Vertrauen in eine andere Person oder einen Gegenstand existieren kann und vice versa. Wie oben erwähnt, illustriert Simmel die Wichtigkeit von Nichtwissen und Vertrauen durch das Beispiel der Heimlichkeit. Er stellt in der modernen Welt fundamentale Änderungen in der Beziehung zwischen bekannten und unbekannten Dingen fest. Es ist tatsächlich der Fall, dass viele Dinge, die früher ein Geheimnis waren (z.B. sexuelle Intimität), immer öffentlicher werden und Erfahrungen wie persönliche Kontakte mit Fremden (z.B. durch Sitzanordnungen in Nah- oder Fernverkehrszügen) immer anonymer werden, da die Menschen zunehmend ihre „öffentliche Privatsphäre“ schützen, zum Beispiel durch Abwendung ihres Blicks von ihren Mitfahrern. Simmel forderte daher ein „Recht auf Geheimnis“ (Simmel 1992a: 406). In seinem berühmten Exkurs zum Fremden nutzt er die Kategorie des Fremden als eine Person, der einerseits intime Geheimnisse anvertraut werden und durch die andererseits bis dahin unentdeckte Einsichten und Möglichkeiten offengelegt werden. Zu diesem Zweck nahm Karakayali (2006: 325-326) die Unterscheidung zwischen zwei Typen des Fremden vor: der hochqualifizierte Fremde und der Fremde, dem spezielle Fähigkeiten fehlen. Ersterer wird akzeptiert, weil er in der Lage ist, Dinge zu erledigen, zu denen Einheimische nicht in der Lage sind, während Letzterer in Jobs beschäftigt werden kann, die Einheimische nicht erledigen wollen. Dies deutet, so wie ich es verstehe, auf zwei verschiedene Typen von Nichtwissen hin. Im ersten Fall ist Nichtwissen als positiv anzusehen, da die Einheimischen wissen, was sie nicht wissen (eine bestimmte Fähigkeit, die der Fremde besitzt), und vermutlich gern in der Lage wären, es zu wissen. Der zweite Fall involviert einen Typus des Nichtwissens, über den die Einheimischen meist froh sind, und den sie im Bereich des Geheimnisses belassen wollen (z.B. Prostitution). Wir finden bei Simmel eine weitere Form des Geheimnisses, die an der Beziehung zu Fremden beteiligt ist. Diese würde ich „strategisches Nichtwissen in der Öffentlichkeit“ (siehe Tabelle 1) nennen. In seinem Exkurs zur Soziologie der Sinne, der in seinem Buch Soziologie (1992a) unmittelbar vor seinen Ausführungen zum Fremden steht, schrieb er: „Vor der Ausbildung der Omnibusse, Eisenbahnen und Straßenbahnen im 19. Jahrhundert waren Menschen überhaupt nicht in der Lage, sich minuten- bis stundenlang gegenseitig anblicken zu können oder zu müssen, ohne miteinander zu sprechen. Der moderne Verkehr gibt, was den weit überwiegenden Teil aller sinnlichen Relationen zwischen Mensch und Mensch betrifft, diese in noch immer wachsendem Maße dem bloßen Gesichtssinne anheim und muss damit die generellen soziologischen Gefühle auf ganz veränderte Voraussetzungen stellen. Die eben erwähnte größere Rätselhaftigkeit des nur gesehenen ge-

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genüber dem gehörten Menschen trägt, der erwähnten Verschiebung wegen, sicher zu der Problematik des modernen Lebensgefühles bei, zu dem Gefühl der Unorientiertheit in dem Gesamtleben, der Vereinsamung und dass man auf allen Seiten von verschlossenen Pforten umgeben ist. Eine soziologisch höchst zweckmäßige Ausgleichung jener Leistungsdifferenz der Sinne liegt in der sehr viel stärkeren Erinnerungsfähigkeit für das Gehörte gegenüber der für das Gesehene – trotzdem das, was ein Mensch gesprochen hat, als solches unwiederbringlich dahin ist, während er dem Auge ein relativ stabiles Objekt ist.“ (Simmel 1992a: 727)

Seit der Zeit, in der Simmel diese Worte schrieb, hat sich die Erfahrung von Menschen im Zug, im Flugzeug und im Bus, in Warteräumen, in Geschäften und in fast jedem öffentlichen Raum noch schneller verändert. Heutzutage hat die Benutzung von Kopfhörern, um Musik zu hören oder ein Mobiltelefon zu nutzen, sicherlich das verstärkt, was Simmel eine im Vergleich zum Sehen größere Bedeutung des Hörens in der Öffentlichkeit nannte, denn es führt zu strategischen Formen der Nutzung von Nichtwissen in der Öffentlichkeit. Stefan Hirschauer (1999) hat hierzu die Idee beigesteuert, die er in Anlehnung an Erving Goffman „Desinteresse ohne Missachtung“ nennt. Er meint damit so etwas wie normalisierte Nicht-Beziehungen zwischen Menschen in Situationen, wie sie in Aufzügen oder auf Rolltreppen vorkommen, in denen Menschen bewusst fremd bleiben, ohne dabei explizit abweisend zu sein. Es kann daher gesagt werden, dass die Sitzarrangements in Zügen und die Nutzung von Unterhaltungselektronik heute diese zivile Unaufmerksamkeit noch mehr fördern als zu Simmels Zeiten, denn beides hilft menschlichen Akteuren, ihre Präsenz in gewisser Weise zu „widerrufen“ und den anderen anwesenden Personen zu bestätigen, dass man nicht wissen möchte, wie sie aussehen oder was andere tun oder sagen. Ein Mangel an „gegenseitiger Diskretion“, wie Simmel es nannte, kann zum Scheitern vieler Beziehungen führen, denn „sie verfallen in eine reizlos-banale Gewöhnung, in eine Selbstverständlichkeit, die keinen Raum für Überraschungen mehr hat“ (Simmel 1992a: 406). Seiner Ansicht nach sollte sogar ein verheiratetes Paar das Gefühl haben, dass der jeweils andere Geheimnisse, versteckte Tiefen hat, damit beide sich nicht gegenseitig langweilen. An dieser Stelle kommt in seiner Konzeptualisierung bekannter und unbekannter Dinge die Vorstellung von Nichtwissen hinzu. Um ein gesellschaftliches Wesen zu sein, das in der Lage ist, erfolgreich mit seiner sozialen Umwelt umzugehen, benötigt der Mensch klar definierte Bereiche des Unbekannten (siehe Tabelle 1 für einen Vergleich verschiedener Typen des Nichtwissens in Simmels Werk). Zur Wiederholung: Simmel versteht Nichtwissen häufig als eine spezielle Form des Unbekannten. Es ist kein bloßer Mangel an Wissen, nicht Irrtum oder Ahnungslo-

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sigkeit, sondern vielmehr ein klar definierter Bereich dessen, was nicht gewusst wird, etwas, was gebraucht wird, um das alltägliche Leben zu strukturieren.

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ALS

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Simmels Argumentation folgend würde ich nun gern auf die alltägliche Normalität von Nichtwissen hinweisen. Denken wir uns ein einfaches Beispiel: Fragt man Menschen, wann sie sich das letzte Mal verliebt haben und wie es passierte, dann werden sie häufig stolz auf den Zufall verweisen oder sagen, dass sie es nicht genau wissen: „Ich weiß nicht, wie es passiert ist.“; „Ich war nicht auf der Suche, ich wurde wie vom Blitz getroffen.“ und so weiter. Dennoch wird dieses Nichtwissen nicht als ein Defizit an Wissen betrachtet; stattdessen ist es dieses ungewisse Etwas, das wichtig ist, um die Besonderheit – und sogar das „Magische“ – zu „erklären“. Dieses Beispiel verdeutlicht erneut, dass Nichtwissen kein Grund zur Sorge sein muss. Vielmehr kann es eine wichtige Basis für alltägliche individuelle und kollektive Erklärungen und Entscheidungen sein. Mit einem eher kritischen Fokus bringen Soziologen heutzutage weiterhin die Grenzen und (vereinzelten) „dunklen Seiten“ (Wehling 2006) des Wissens ins Blickfeld. Vor diesem Hintergrund kann die vorbeugende Handlung nicht länger auf das Abschätzen und Managen klar kalkulierbarer Risiken beschränkt werden. Stattdessen muss das Problem, dass etwas nicht gewusst wird und nicht vorhergesagt werden kann, in Angriff genommen werden. Die Frage ist erstens, warum etwas nicht gewusst wird, und zweitens – wahrscheinlich wichtiger –, welche Handlungen und Entscheidungen in Anbetracht dieses Mangels an Wissen adäquat sind. Diese beiden Formen des Nichtwissens können, wie Stocking und Holstein (2009) zeigten, ebenso dazu führen, dass Nichtwissen explizit in rhetorischen Behauptungen verwendet werden kann, um in kontroversen Fragen, wie denen des globalen Klimawandels oder der Lücken in Darwins Evolutionstheorie, die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit zu diskreditieren und in der Öffentlichkeit Zweifel zu säen. Strategien wie diese stellen eine Herausforderung dar – sie werfen die Frage auf, wie die Grenzen des wissenschaftlichen Wissens für die Allgemeinheit offengelegt werden können, ohne dabei das öffentliche Vertrauen zu verlieren. Diese ist entscheidend, da alle wissenschaftlichen Prozesse und Innovationen das Wachstum neuen Nichtwissens befördern, indem sie neue Grenzen des Wissens aufdecken. So können durch die breite Lücke zwischen Wissen und Nichtwissen neue Überraschungen entstehen. Anders als in vielen aktuellen Diskussionen über Nichtwissen ist dies in Simmels Arbeit nicht zwangsläufig ein negativer Sachverhalt, sondern ein normaler Prozess der kultu-

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rellen Entwicklung. Die Ergebnisse von Überraschungen aus, sagen wir technischen Entwicklungen, werden von ihm mit neutralen Begriffen wie „Nebenprodukte“ (Simmel 1998: 213) beschrieben, die er als einen normalen Teil jeder modernen sozialen Entwicklung begreift. Simmel sieht keine Synthese und keinen Endpunkt dieser Entwicklung (vgl. Groß 2008). Ein Beispiel, in dem sich das Geheimnis in der reflexiven Wissensgesellschaft als eine der größten Errungenschaften der Menschheit, wie Simmel es nannte, herausstellt, findet man in der in den letzten 20 Jahren hitzig geführten Debatte über das Recht, seine eigene genetische Identität nicht kennen zu müssen. Dieses Thema scheint heutzutage an Bedeutung zu gewinnen. In der sogenannten präventiven genetischen Diagnostik ist es das Ziel, genetische Besonderheiten zu identifizieren, welche die erhöhte Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung im fortgeschrittenen Alter indizieren können (vgl. Wehling 2006). Die präventive genetische Diagnostik wird allgemein als eine hochmoderne Methode der Krankheitsvorbeugung betrachtet. Was hierbei aber problematisch erscheint, ist, dass die Vorhersagen sich auf eine lange Zeitspanne beziehen, wobei es unklar bleibt, wann eine Erkrankung sich manifestieren wird und ob sie es letztlich überhaupt tun wird. Noch wichtiger ist die Gefahr, dass die Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit für alle Betroffenen verschwimmt, da ein ungünstiges Testergebnis Einfluss auf das Gefühl gesunder Menschen und damit auf das Wohlbefinden in ihrem alltäglichen Leben haben kann. Zu wissen, dass man nicht weiß, wann und ob man überhaupt ernsthaft erkranken kann, verängstigt einen mit Sicherheit, wenn diese Möglichkeit erst einmal in den Raum gestellt wurde. Das Recht auf Nichtwissen wird besonders relevant, wenn während des genetischen Testverfahrens Verwandte ebenfalls (ohne ihre Zustimmung) über ihre genetischen Risiken informiert werden (vgl. Duttge 2010). Da die Möglichkeiten der Behandlung und Heilung solcher „Erkrankungen“ häufig begrenzt sind, wirft die präventive genetische Diagnostik den Schatten einer möglichen zukünftigen Erkrankung auf die Gegenwart, meist ohne eine sinnvolle Aussicht auf einen Umgang damit anzubieten (abgesehen von Allerweltstipps wie mehr zu joggen oder mehr Salat zu essen). Das Recht auf Nichtwissen hat daher die Absicherung zum Ziel, dass niemand dazu gezwungen werden kann, Wissen über seine eigenen genetischen Charakteristiken zu erhalten. Entlang dieser Linie argumentieren heute sogar Juristen, dass im 21. Jahrhundert das Recht, zu wissen, und das Recht, nicht zu wissen, mit dem Recht, in Ruhe gelassen zu werden (Duttge 2010: 36), verbunden werden müssen. Das heißt, dass Menschen das Recht bekommen, nicht einmal darüber informiert zu werden, was sie nicht wissen. Dies scheint auf den ersten Blick die moderne Vorstellung von mehr neuem Wissen als Fortschrittsmo-

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tor zu konterkarieren. Das Gegenteil scheint jedoch bei genauerem Hinsehen der Fall zu sein, denn Nichtwissen wird, Peter Wehling folgend, nicht als ein Wissensdefizit, das so schnell als möglich vervollständigt werden sollte, oder gar als ein moralisches Defizit abgewertet, sondern – wahrscheinlich zum ersten Mal in modernen Gesellschaften – als ein Rechtsgut implementiert, dessen Wahrung die Risiken und Mehrdeutigkeiten von (wissenschaftlichem) Wissen abfedern soll (vgl. Wehling 2006: 327).

A USBLICK : W E

DON ’ T KNOW , AND YET



YES WE CAN

Vor etwa hundert Jahren stellte Simmel das Bild einer technisierten Gesellschaft dar, welche auf einer fundamentalen Unsicherheit basiert und durch die konstante Generierung neuen Wissens und neuer technologischer Produkte charakterisiert ist: durch die objektive Kultur. Wie wir gesehen haben, können Simmels Schriften so interpretiert werden, dass dieses Phänomen durch die zunehmende Unfähigkeit zur sinnvollen Implementation und Integration der Produkte der objektiven Kultur in die alltägliche Praxis der subjektiven Kultur in immer mehr Nichtwissen resultiert. Es ist wichtig, zu beachten, dass diese Entwicklung für Simmel nicht unweigerlich zur Verzweiflung führt, sondern dass sie ohne Weiteres in das normale, alltägliche Leben eingebunden wird. In Simmels Arbeit kann die Bedeutung von Nichtwissen und den damit verbundenen unerwarteten Nebenprodukten – sowohl in Beziehung mit anderen Menschen als auch in Beziehung mit Wechselwirkungen mit verschiedenen Formen der objektiven Kultur – als im Zentrum der kulturellen Entwicklung stehend betrachtet werden. Er sah die Produktion von Nichtwissen nicht als eine Abweichung oder undurchsichtige Residualkategorie des Modernisierungsprozesses, sondern als einen normalen alltäglichen Aspekt der modernen Gesellschaft. Man kann Simmel so lesen, dass die Elemente der Überraschung und die Entdeckung von Nichtwissen als die treibenden Kräfte hinter allen sozialen Prozessen und möglicherweise sogar der Moderne selbst sind. Unfälle und Rückschläge im alltäglichen Leben müssen so verstanden nicht Zeichen von Fehlern oder menschlichen Unzulänglichkeiten sein, sondern sind hochwahrscheinlich, unvermeidbar und vielleicht sogar willkommen. Die Produktion neuen Wissens führt immer zu plötzlichen, unerwarteten Ereignissen, so dass das Unbekannte offenkundig wird – etwas, was Simmel „Nichtwissen“ nannte. Die richtige Strategie kann nicht die sein, nichts zu tun oder zu warten, bis neues Wissen verfügbar ist. Simmel möchte mit dem Hinweis auf die Unabhängigkeit der objektiven Kultur verdeutlichen, dass diese

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auch da, wo sie „aus dem Bewusstsein eines subjektiven Geistes erzeugt ist, nach erfolgter Objektivation eine nun von diesem gelöste Gültigkeit und unabhängige Chance der Resubjektivierung besitzt“ (Simmel 1998: 213). Er nahm an, dass, nachdem man sich seines eigenen Nichtwissens bewusst geworden ist, die objektive Kultur erfolgreich „resubjektiviert“ werden muss, wenn auch nur aus dem Grunde, um sie wieder in neue Erfindungen und Errungenschaften der objektiven Kultur einzupassen. Man kann sich dies wie einen Kreislauf vorstellen, der durch verschiedene Abstufungen des Nichtwissens verbunden ist (siehe Tabelle 1), und in dem die objektive Kultur eine Voraussetzung für die subjektive Kultur und vice versa ist. Folglich muss diese rekursive Praxis kontinuierlich die Beachtung des nicht Gewussten einbeziehen. Indem Simmel auf dieses Phänomen hinwies, hat er eine konzeptuelle Grundlage für das Verständnis der Beziehung zwischen dem alltäglichen Wissen und der Produktion von Nichtwissen geschaffen. Außerdem unterstützen seine Überlegungen die Beobachtung, die im ersten Teil dieses Kapitels vorgestellt wurde, nämlich dass die Ungewissheiten, welche die Debatten über die allgemeine Ungewissheit des Lebens in der Wissensgesellschaft umgeben, nicht ausschließlich oder zuerst mit Risikokonzepten interpretiert und analysiert werden, sondern als verschiedene Formen der strategischen oder auch unbeabsichtigten Konstruktion von Nichtwissen verstanden werden sollten.

4. Kollektive Experimente in Natur und Gesellschaft

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DER S TADT ALS L ABOR ZU GESELLSCHAFTLICHEN E XPERIMENTEN Pierre Bourdieu hatte kurz vor seinem Ableben der Wissenschaftssoziologie attestiert, dass sie zu nichts zu gebrauchen sei und dass sie sich aufgrund ihrer relativistischen Spielereien selbst ins Abseits manövriert habe (Bourdieu 2004). Aber auch er würde wohl kaum bestreiten können, dass die Wissenschaftssoziologie mehr als die meisten Bindestrichsoziologien andere akademische Disziplinen sowie auch die weitere Öffentlichkeit regelmäßig mit einflussreichen Begriffen und ausgefallenen Fachtermini beglückt hat. Man denke nur an Robert K. Mertons „role model“, die „unvorhergesehenen Handlungsfolgen“ oder die Rede von der „self-fulfilling prophecy“. Erneut sorgte die sogenannte „neue Wissenschaftssoziologie“, auch „science and technology studies“ (STS) genannt, durch die berüchtigten „science wars“ in den 1990er Jahren über die Fachgrenzen hinaus für Furore. Einige Strömungen der Geisteswissenschaften, einschließlich der Wissenschaftsforschung, wurden insbesondere von einzelnen Naturwissenschaftlern zum Anlass genommen, der vermeintlich postmodernen Relativierung des naturwissenschaftlichen Wahrheitsanspruches den Krieg zu erklären (vgl. Bammé 2004, Kleinman 2000). Bruno Latour gehört nicht ohne Grund zu den Autoren der neuen Wissenschafts- und Technikforschung, dem in den „science wars“ viel Aufmerksamkeit zukam. Bereits in den späten 1970er und 1980er Jahren wusste er mit einfallsreichen Wortschöpfungen, prägenden Konzepten und Redeweisen bis hin zu fast poetischen Formulierungen seine geneigte Zuhörer- und Leserschaft ausgezeichnet zu unterhalten. Seit den 1990er Jahren gehört neben seinen großen Thesen, wie denen, dass wir nie modern gewesen seien oder dass sich die ganze Welt aus

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Hybriden formiere, auch eine kleine, deutlich weniger beachtete Nebenbaustelle zu seinen interessanten Konzepten: die Rede vom kollektiven Experiment, einem Experiment von und mit uns allen. Dieses Konzept verdient weitaus mehr Aufmerksamkeit, will man seine Spekulationen über eine „nicht-moderne Verfassung“ und seine Versuche über die Integration der äußeren Natur in ein bestimmtes Kollektiv, wie es zum Beispiel in seinem Buch Das Parlament der Dinge (2001a) dargelegt ist, ernst nehmen. Im Folgenden geht es daher darum, diesen Seitenstrang in Latours Werk etwas deutlicher herauszuarbeiten und zu zeigen, dass sich seine Forderungen nach einem Parlament der Dinge längst in der Praxis und Theorie des ökologischen Designs finden – freilich ohne seine poetischen Formulierungen (vgl. auch Pelfini 2006). Dabei geht es nicht darum, zu zeigen, dass Latour nichts Neues zu bieten hat, sondern vielmehr darum, dass sich die Grundidee seines Ansatzes spezifizieren lässt und so für empirische Forschungen in der Umwelt- und Wissenschaftssoziologie sowie in vielen weiteren Bereichen der Soziologie und benachbarter Disziplinen fruchtbar werden kann. Zuerst sollen daher im Folgenden historische Beispiele der Konzeptualisierung von Experimenten außerhalb des angestammten Bereiches der Naturwissenschaften vorgestellt werden, um daran anknüpfend Latours Rede von den kollektiven Experimenten, die sich eher am Rande seiner Arbeiten findet, zu diskutieren. Anschließend werde ich seine Überlegungen auf die in ihrem Selbstverständnis „experimentellen“ Praktiken der ökologischen Restaurierung anwenden und hinsichtlich ihrer Nützlichkeit prüfen. Traditionell versuchten Soziologen es zu vermeiden, experimentelle Erkenntnisstrategien auf den Bereich des Sozialen auszudehnen. Bereits Auguste Comte befasste sich mit der Möglichkeit des Experimentierens in der Soziologie. Er ging zwar davon aus, dass das „Experiment im eigentlichen Sinne […] auf den ersten Blick der neuen Wissenschaft [Soziologie] völlig versagt“ bleibe (Comte 1923: 312). „Aber“, so Comte weiter, „sieht man genau zu, so kann man ohne Schwierigkeit erkennen, dass diese Wissenschaft in Wirklichkeit ihrer Natur nach keineswegs eines solchen allgemeinen Hilfsmittels beraubt ist. […] Es genügt hierfür, je nach der Natur der Erscheinungen, zwischen dem direkten und dem indirekten Experimente zu unterscheiden.“ (Comte 1923: 312)

Comte kommt im Folgenden dann bestimmten heutigen Sichtweisen auf das Realexperiment schon recht nahe, wenn er sagt, dass „der wahre philosophische Charakter der experimentellen Methode nicht wesentlich in jener künstlichen Gestaltung der Umstände der Erscheinung liegt, die für den gewöhnlichen

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Gelehrten heute das Hauptmerkmal einer solchen Art von Forschungen ist. Mag der Fall ein natürlicher oder künstlicher sein, wir wissen, dass seine Beobachtung immer dann den Namen Experiment tatsächlich verdient, wenn der regelmäßige Verlauf der Erscheinung auf irgendeine Weise eine ganz bestimmte Veränderung erfährt, ohne dass der spontane Charakter dieser Veränderung die jeder Modifikation der gewöhnlichsten Umstände der Erscheinung eigentümlichste wissenschaftliche Kraft zur besseren Beleuchtung ihrer tatsächlichen Erzeugung zerstören könnte. Namentlich in diesem Sinne kann die experimentelle Methode wirklich zu soziologischen Ermittlungen benutzt werden.“ (Comte 1923: 312-313)

Interessanterweise bescheinigt Comte dann der Biologie, dass sie sich kaum künstlicher Experimente würde bedienen könne, wohingegen er konstatiert, dass es der Soziologie mit der experimentellen Methode gelingen könnte, durch die Beobachtung „pathologischer Fälle“ einen Zugang zur Analyse sozialer Prozesse zu bekommen. Hier schlägt er jedoch plötzlich einen sehr kritischen Ton an, denn er vermisst das Lernen aus solch abweichenden Fällen. Er schreibt: „Sehen wir nicht besonders heutzutage die verderblichsten politischen Experimente mit ebenso unbedeutenden wie irrationalen Modifikationen unaufhörlich erneuert, obgleich schon ihre erstmalige Durchführung hätte genügen müssen, um die Wirkungslosigkeit und Gefahr der vorgeschlagenen Mittel vollkommen kundzutun?“ (Comte 1923: 315)

Comte scheint sich also zu wünschen, dass aus den „natürlichen“ Experimenten, die er in seiner Zeit in der Politik beobachtet, mehr systematische Lernerfolge abgeleitet würden. Wie genau dies geschehen solle, verschweigt er jedoch. In Auseinandersetzung mit Comte und auch John Stuart Mill, der sich ebenso ausführlich mit der Möglichkeit des Experimentierens in den Sozialwissenschaften beschäftigt hatte, bemerkte auch Emile Durkheim: „Wenn die Phänomene nach Belieben des Beobachters künstlich erzeugt werden können, handelt es sich um die Methode des Experiments im eigentlichen Sinne“ (Durkheim 1984: 205). Für Durkheim, der Comtes Überlegungen im Grunde nichts Neues hinzuzufügen hatte, müssen sich soziologische Erklärungen dadurch auszeichnen, dass sie Kausalitätsbeziehungen aufzeigen, indem ein Phänomen mit seiner Ursache oder eine Ursache mit bestimmten Wirkungen verknüpft wird. Er glaubte, dass sich die „sozialen Phänomene offenbar der Anwendung des Experiments entziehen.“ Daher erschien ihm „die vergleichende Methode als die einzige, welche der Soziologie entspricht“ (ibid.). Kurz darauf lässt er jedoch einen Hoffnungsschimmer für das soziologische Experiment aufscheinen. Wenn die Chemie und die Biologie selbstverständlich experimentelle Wissenschaften seien, warum denn nicht auch die Soziologie, deren Untersuchungsgegenstand sich „nur durch eine

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größere Kompliziertheit“ von denen der Naturwissenschaften unterscheide? Diese Sichtweise bringe bestimmte Schwierigkeiten mit sich, so Durkheim, „doch ist nicht einzusehen, warum es hier durchaus unmöglich sein sollte“ Experimente zu nutzen (ibid.: 206). Trotz allem schlussfolgert er, dass man mit dem soziologischen Experimentieren „lediglich eine schlecht definierte Folgeerscheinung von einer wirren und unbestimmten Gruppe von Vorgängen vage ableiten“ kann (ibid.: 208). Die Komplexität des Sozialen ist offensichtlich nicht so einfach zu bändigen. Durkheims französischer Kollege René Worms (1991: 129-137) kommt etwa zur gleichen Zeit zu dem Schluss, dass die Auswertung vergleichbarer Fälle im Prinzip derselben Methode folge wie die Auswertung von Experimenten, weshalb Worms selbstverständlich von „gesellschaftlichen Experimenten“, also Experimenten, die die Gesellschaft selbst initiiert hat, spricht, um hierüber soziale Gesetzmäßigkeiten zu entdecken. Weitere Konzepte zum Verhältnis der Gesellschaft zum Experiment wurden schon mit der Institutionalisierung der Sozialwissenschaften im 19. Jahrhundert kontrovers diskutiert. Die gängigsten Einwände gegen die Anwendung der experimentellen Methode in den Sozialwissenschaften allgemein und der Soziologie im Besonderen sind in der Regel folgende: Anders als in der Natur sind im Bereich sozialer Beziehungen keine Kausalgesetze vorzufinden, da er sich aus Bedeutungen, Intentionen und Institutionen konstituiert. Weiterhin entziehen sich soziale Phänomene der experimentellen Kontrolle und schließlich sind artifizielle Experimente in der Gesellschaft ethisch kaum zu verantworten (vgl. z.B. Comte 1923: 313, Durkheim 1984: 205-213). Diese Einwände müssen ernst genommen werden, wenn man die soziale Wirklichkeit und damit das soziale Experiment idealtypisch ins Labor zwängen möchte. Mit dieser Vorstellung im Kopf hatten amerikanische Soziologen bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Grundzüge eines experimentellen Forschungsdesigns für Untersuchungen von Kleingruppen entworfen (z.B. Angell 1932, Chapin 1932), die sich später aufgrund großer Fortschritte in den statistischen Methoden insbesondere in der amerikanischen Psychologie etablieren konnten (vgl. Dehue 2001). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begannen aber viele andere Sozialwissenschaftler, sich davon zu lösen, das sogenannte Laborexperiment als Idealtypus des Experiments und damit als Vorbild für alle anderen Formen des Experimentierens zu betrachten. Winfried Schulz (1970) diskutiert eine Vielfalt von Definitionen, bei der naturwissenschaftliche Laborversuche nur eine von fünf möglichen Auslegungen des Experimentbegriffs darstellen. Schulz bringt fünf Kerndefinitionen in eine Chronologie, um aufzuzeigen, in welchen Zeiträumen sie besonders bedeutsam waren. Interessanterweise stellt die fünfte Definition in seiner Reihe die am weitesten entwickelte Form des Experiments in

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der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts dar: das Experiment als „gewagtes Unternehmen“, als Reform oder Erneuerung. Leider führt er diesen Aspekt nicht weiter aus (Schulz 1970: 22, vgl. auch Parthey/Wahl 1966: 229-240). Die zweitletzte Form in seiner Auflistung ist der künstliche Aufbau von Maschinerien auf der Laborbank, wie er insbesondere seit dem 17. Jahrhundert entwickelt wurden (vgl. auch Greenwood 1976: 48-71, Siebel 1965: 17-22, Zimmermann 1972). Allgemein kann festgehalten werden, dass die Geschichte der sozialwissenschaftlichen Experimente außerhalb des Labors, also in der weiteren Gesellschaft, äußerst vielfältig ist und sehr verschiedene Schattierungen aufweist. Ein paar weitere Beispiele seien im Folgenden genannt.

D AS L ABOREXPERIMENT DES R EALEXPERIMENTS

ALS

S ONDERFORM

Seit dem Beginn der Institutionalisierung der Soziologie als eigenständige Disziplin haben Soziologen versucht, die Sprache und Methodologie der Naturwissenschaften auf soziale Prozesse zu übertragen. Hierfür ist die Metapher der Gesellschaft oder Stadt als Labor ein Beispiel, die spätestens seit der Gründung des Department of Sociology an der University of Chicago im Jahr 1892 gebraucht wird. Zu dieser Zeit sprach man der soziologischen Forschung das Potential zu, wissenschaftliche Einsichten zu generieren, die der Gesellschaft als Orientierung dienen können. Tatsächlich war der Gedanke, die Stadt Chicago als das gesellschaftliche Labor par excellence zu betrachten, für Albion W. Small (18541926) eine der Kernideen der neuen Disziplin. Man kann diese Laboridee aber in allgemeiner Form bereits im ersten amerikanischen Lehrbuch der Soziologie verfolgen (Small/Vincent 1894). Die beiden Autoren klassifizieren ihr Buch als einen „laboratory guide“ für die Erforschung von Menschen bei ihren alltäglichen Beschäftigungen (ibid.: 15). Small und Vincent glaubten, dass ihr Buch mit Laborhandbüchern der Biologie zu vergleichen sei (ibid.: 17). Das Buch war somit als Werkzeug gedacht, mit dessen Hilfe Studierende der Soziologie Experimente in der Gesellschaft analysieren sollten. Dazu gab es Anleitungen und Vorschläge für das Vorgehen bei spezifischen Experimenten oder Beobachtungen, wobei auch bereits durchgeführte oder von Dritten entworfene Experimente einbezogen wurden (vgl. weiterführend Groß et al. 2005: 59-78). Diese Idee von Gesellschaft als Experimentierraum wurde zunächst in Bezug auf Sozialsiedlungen (social settlements) verwendet. Solche Einrichtungen waren eine Art Wohlfahrtszentrum. Sie waren normalerweise in den ärmeren Vierteln einer Stadt angesiedelt und wurden zur Verbesserung der Lebensbedingun-

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gen eingerichtet sowie zur Untersuchung derselben genutzt. Die konkreten Ziele und Formen dieser Settlements waren im Einzelnen recht unterschiedlich. Außer zur Bezeichnung dieser Settlements wurde der Begriff des Laboratoriums später vor allem in Bezug auf Städte gebraucht (vgl. Park 1929). Andere Soziologen des Chicagoer Departments in den 1890er Jahren gebrauchten den Begriff „soziologisches Labor“, um die Synthese aus „social settlement“ und soziologischer Forschung als einen Teil des gesellschaftlichen Fortschritts darzustellen (vgl. Groß et al. 2005: 59-78). Die Bedeutung soziologischen Wissens geht in den Augen einiger Vertreter der Chicagoer Schule der Soziologie auch mit der zentralen Bedeutung von Sozialreformen einher. Die gesellschaftliche Anwendung neu gewonnenen Wissens und die Entwicklung von Strategien, um dieses Wissen wieder in die Gesellschaft einzuspeisen, wurden beispielsweise in Studien über abweichendes Verhalten sowie Forschungen zu den ökologischen Grundlagen der Gesellschaft, zur Sozialversicherung, zur Entfremdung durch Arbeitslosigkeit oder zum Einfluss von Immigration auf sozialen Wandel angestrebt (zum Überblick siehe Hart 2010). Es ist gerade dieser Zusammenhang von wissensbasierter, strategischer Handlung und methodologisch geleiteter Beobachtung derselben, der in der vorliegenden Diskussion zum strategischen Umgang mit Nichtwissen besonders reizvoll erscheint. 1895 lieferte die Sozialreformerin und Frauenrechtlerin Jane Addams (18601935) ein anschauliches Beispiel für diese Sichtweise auf die soziologische Forschungspraxis und ihre Rolle in der Gesellschaft. Im Vorwort zu einer Sammlung von Artikeln unter dem Titel Hull-House Maps and Papers beschreibt sie die Idee, die den ersten Sozialwohnungen in Hull House in Chicago zugrunde lag: Eine Gruppe von Universitätsgelehrten sollte sich in den ärmeren Vierteln von Chicago ansiedeln, um die Menschen dort zu informieren und sie zu motivieren, an der Lokalpolitik und einem breiteren gesellschaftlichen und intellektuellen Leben teilzunehmen (vgl. Addams 1970: vii-viii). Fünfzehn Jahre später bekannte Addams, dass sie die Idee eines „soziologischen Labors“ ablehnte, denn „settlements should be something much more human and spontaneous than such a phrase connotes“ (Addams 1961: 309). Dennoch spricht Addams, wenn sie Projekte im Hull-House beschreibt oder auf andere Aktivitäten im Zusammenhang mit Sozialwohnungen Bezug nimmt, fast immer von Experimenten. Sie gebraucht den Begriff des Experiments für verschiedene Projekte, beispielsweise für den Einsatz verschiedener nicht-alkoholischer Getränke als Ersatz für Alkoholika oder allgemein auch für Kooperationen mit unsicherem Ausgang, welche die Zusammenarbeit mit anderen Gruppen und Institutionen der Stadt beinhalten. Über den gesamten Band hinweg neigt Addams dazu, über kooperative Experi-

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mente mit anderen Gruppen und Institutionen in der Stadt zu reden. Recht eindrücklich fasst sie zusammen: „The Settlement then, is an experimental effort to aid in the solution of the social and industrial problems which are engendered by the modern conditions of life in a great city. It insists that these problems are not confined to any one portion of a city. It is an attempt to relieve, at the same time, the overaccumulation at one end of society and the destitution at the other; but it assumes that this overaccumulation and destitution is most sorely felt in the things that pertain to social and educational privileges. From its very nature it can stand for no political or social propaganda […] The only thing to be dreaded in the Settlement is that it loses its flexibility, its power of quick adaptation, its readiness to change its methods as its environment may demand. It must be open to conviction and must have a deep and abiding sense of tolerance. It must be hospitable and ready for experiment. It should demand from its residents a scientific patience in the accumulation of facts and the steady holding of their sympathies as one of the best instruments for that accumulation.“ (Addams 1961: 83-85)

Insbesondere der Verweis auf die Flexibilität der experimentellen Methode im Rahmen der Settlement-Entwicklung verweist auf den Anspruch, hier eine methodische Grundlage zu bilden, von der aus sich die Akzeptanz der experimentellen Methode durch kollektives Lernen stärken lässt. Weiterhin lässt sich ihre Erwartung, dass die Bewohner von Hull-House „wissenschaftliche Geduld“ mitbringen, so interpretieren, dass Addams auf einen neuen Vertrag zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit verweist, ein neues Verhältnis, in dem die Wissenschaft öffentlicher wird und sich die Öffentlichkeit im Gegenzug bereit erklärt, sich an der Wissensproduktion (geduldig) zu beteiligen. In diesem Zusammenhang spricht Addams auch von „successful and unsuccessful experiments in selfgovernment“ (1961: 22), deren Erfolg abhängig sei von der Initiierung der Experimente durch die Bevölkerung selbst und nicht durch einen Sozialarbeiter oder einen Wissenschaftler: „If this tremendous experiment was to come to fruition, it must be brought about by the people themselves“ (ibid.: 23). In einem derart initiierten Experiment können die Sozialarbeiter und Wissenschaftler soziale Zusammenhänge lediglich „experimentell“ und gemeinsam mit den gesellschaftlichen Akteuren erforschen. Auch das experimentelle Design kann nur entwickelt werden, wenn die betroffenen Bewohner in teilnehmende Akteure verwandelt werden, die überraschende Wendungen, Fehlschläge und auch Misserfolge zusammen stemmen lernen, um gegebenenfalls das alte Design zu erneuern. Folglich versteht Addams Experimente weder als eine rein laborwissenschaftliche Aktivität, die sich fern realweltlicher Gegebenheiten abspielt, noch

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fasst sie darunter jegliche sozialen Handlungen oder Geschehnisse, die sozialen Wandel bedeuten. Experimente in der Gesellschaft, so legt Addams nahe, bauen immer ein Element der Überraschung ein, das nie vollständig kontrolliert oder durch Planung verhindert werden kann  und auch nicht sollte. Die Vielfalt menschlichen Zusammenlebens macht das gesellschaftliche Experimentiergeflecht so komplex, dass jeder Versuch, es vollständig zu beschreiben oder gar den Verlauf seiner Entwicklung zu prognostizieren, sich als illusorisch erweisen würde. Das Laborexperiment ist für sie sozusagen eine besondere Form des echten Experiments, des Realexperiments (siehe dazu auch Kapitel 1). Menschen sind also nicht Objekte von Experimenten, sondern aktive Teilnehmer, die theoretische Annahmen über das soziale Leben unter realen Bedingungen erproben. Für Robert Park stellt sich dies so dar: „Experiments are going on in every field of social life, in industry, in politics, and in religion. In all these fields men are guided by some implicit or explicit theory of the situation, but this theory is not often stated in the form of a hypothesis and subjected to a test of the negative instances.“ (Park 1921: 177, Herv. im Orig.)

Interpretiert man Park hier ein wenig, dann führt die Gesellschaft demnach Experimente mit sich selbst durch. Lediglich teilweise beeinflusst vom Experimentbegriff der Chicagoer Schule begann Donald T. Campbell (1916-1996) seit den späten 1950er Jahren, erneut über die Möglichkeit nachzudenken, die Logik des Labors auf die Gesellschaft auszuweiten, dies jedoch nicht ohne ausführlich die Probleme und Herausforderungen von Experimenten außerhalb der Laborsituation zu diskutieren. Campbell gewann hierdurch schnell einen großen Einfluss auf die Entwicklung von Sozialexperimenten in den USA. Wenngleich seine Vorstellungen eine deutlich politische und reformerische Färbung hatten, sprach er, nachdem er die Zusammenarbeit mit dem Statistiker Julian C. Stanley begonnen hatte (vgl. Campbell/Stanley 1963), meist von Quasi-Experimenten. Solche Quasi-Experimente waren in ihrer Konzeption recht verschieden von den Überlegungen der Chicagoer Schule zur Gesellschaft als Experimentierfeld. Der Auffassung Campbells und seiner Schüler lag der Gedanke zugrunde, dass sozialreformerische Maßnahmen und Eingriffe experimentell evaluiert werden müssten (vgl. Cook/Campbell 1979), und zwar mit statistischen Methoden. Campbell bemängelte, dass der Einsatz randomisierter Kontrollgruppen in den Sozialwissenschaften bis dato nicht konsequent genug durchgeführt worden sei. Er versuchte, quasi-experimentelle Untersuchungen so aufzubauen, dass entsprechend der Hypothese ein statistisch nachweisbarer Zusammenhang zwischen abhängiger und unabhängiger Variable

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ermittelt werden konnte. Für Campbell und seine Kollegen ist die Überprüfung einer Hypothese valide, wenn eine gefundene Kausalbeziehung auf andere Situationen oder Zeitpunkte übertragen werden kann und generalisierbar ist. In den 1960er Jahren wurde Campbells Konzept der Experimentiergesellschaft auf den Plan gerufen, um mit politischen Programmen zur Aufdeckung sozialer Missstände und zur Verbesserung der Lebensqualität beizutragen. Es fand zudem viele Nachahmer. George Fairweather (1967), Gründer des sogenannten Fairweather-Lodge-Programms in den USA,1 sah das Experiment ebenfalls als Mittel zur Durchführung von Sozialreformen und, wie er es damals schon nannte, sozialen Innovationen. Diese Innovationen sollten von Experimentatoren entwickelt und umgesetzt werden. Soziale Innovationen sind für Fairweather in neuen Lösungswegen für soziale Probleme zu sehen (insbesondere solchen, die mit Arbeitslosigkeit, psychischer Behinderung und Armut verbunden sind), die zusammen mit den Betroffenen entwickelt werden. Fairweather sieht am Beginn eines jeden experimentellen Sozialinnovationsprozesses ein zu definierendes soziales Problem, gefolgt von einer natürlichen Beobachtung (durchaus im Sinne Comtes, siehe oben) und der Herausbildung eines neuen sozialen Subsystems (z.B. seine Lodges, in denen die psychisch Kranken unter Beobachtung zusammenwohnten), welches mit dem alten verglichen werden sollte. Aufgrund des Vergleichs des alten mit dem neuen, sollten Schlussfolgerungen zu Verbesserungen der Missstände vorgelegt werden. In diesem Sinne war die breitere Gesellschaft der Experimentierraum für den Test politischer Reformprogramme. Im Gegensatz zur Vorstellung Campbells und seiner Nachfolger geht es bei heutigen Diskussionen um Realexperimente jedoch darum, Wege vorzuzeichnen, bei denen die breitere Öffentlichkeit – also nicht allein politisch gesteuerte Sozialwissenschaftler – potentiell als Initiator von Experimenten verstanden werden kann und nicht nur in der Rolle des auf das Experiment reagierenden oder sich anpassenden Objektes verharrt. Dies ist wichtig, denn soziologische und historische Analysen zeigen immer deutlicher, dass die Gesellschaft bewusst oder unbewusst in die Forschungsaktivitäten der Wissenschaft verwickelt werden kann (vgl. Balmer 2004, Schwarz 2014, Weyer 1991). In diesem Tenor äußerte sich vor einigen Jahren auch Bruno Latour. In einem mehrfach nachgedruckten und revidierten, im Deutschen zuerst in der Wochenzeitung Die Zeit erschienenen Aufsatz mit dem Titel Ein Experiment von

1

Das Fairweather Lodge Program wurde 1963 von Fairweather gegründet. Es ist ein Rehabilitationsprogramm für psychisch Kranke, das bis heute Bestand hat. Siehe hierzu: www.theccl.org/FairweatherLodge.aspx (zuletzt aufgerufen am 13.05.2014).

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und mit uns allen (Latour 2001b),2 hat er seine These des kollektiven Experimentierens in der Gegenwartsgesellschaft prominent unters deutschsprachige Volk gebracht. „Dass wir in kollektive Experimente verstrickt sind, muss nicht erst lange bewiesen werden“, schreibt er (ibid.: 31) salopp. Warum muss dies nicht weiter bewiesen werden? „Ein Blick in die Zeitung oder die Fernsehnachrichten genügt. Zurzeit sind Tausende von Beamten, Polizisten, Veterinären, Bauern, Zollbeamten, Feuerwehrleuten in ganz Europa dabei, die Maul- und Klauenseuche zu bekämpfen, die in so vielen Landstrichen wütet.“ Neu und verstörend ist die Situation im Jahre 2001 für Latour, weil „die gegenwärtige Epidemie gerade auf die kollektive Entscheidung zurückgeht, nicht zu impfen“ (ibid.). Warum aber folgt er nicht Durkheim sondern bezeichnet die Geschehnisse um die Maul- und Klauenseuche als Experiment? Latour schreibt dazu: „Wir ILQGHQ XQV YLHOPHKU KLQHLQJH]RJHQ LQ GLH XQHUZQVFKWHQ í ZHQQ DXFK YRUKHrVHKEDUHQí)ROJHQHLQHV([SHULPHQWVLPJHVDPWHXURSäischen Maßstab, wie lange nämlich ein nichtgeimpfter Viehbestand ohne einen neuerlichen Ausbruch dieser Krankheit überleben kann“ (ibid.). Die weitere Gesellschaft wird also in diesem Sinne durch ein naturwissenschaftliches Experiment belastet und sogar in es verwickelt, so dass alle Menschen aktive Teilnehmer werden, ob sie wollen oder nicht. Ulrich Beck folgert aus dem Umstand der Verwicklung von Gesellschaft und Wissenschaft, dass dadurch, dass die Naturwissenschaft die Ausbreitung der Forschung aus dem Labor in die Gesellschaft zugelassen habe, sie „ihre exklusive Beurteilung dessen, was ein Experiment besagt, aufgegeben“ hat (Beck 1988: 205). Mit anderen Worten: Es liegt nun auch in der Hand der Soziologie, dieses neue Konzept von Experimenten zu definieren und es in eine präzise Fassung zu bringen, mit der die Gegenwartsgesellschaft besser verstanden werden kann. Für die Popularisierung dieses Versuchs hat Latour, neben Beck und anderen, einiges geleistet. Latour geht im Vergleich zu Beck jedoch noch einen Schritt weiter. Für Beck und seiner Rede von der „Welt als Labor“ (ibid.: 200) oder gar dem „Weltexperiment“ (ibid.: 206) und für Latour „verlaufen die Mauern des Laboratoriums nun um den ganzen Planeten herum. Häuser, Fabriken, Kliniken, Äcker sind zu Zweigstellen der Laboratorien geworden“ (Latour 2001b: 32). Latour behauptet sogar, dass die ganze Welt sich in einem Experiment befinde, wonach Welt und Versuchsanordnung in einem Verhältnis von 1:1 stehen und die Versu-

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Dieser Beitrag ist in verschiedenen Sammelbänden nachgedruckt worden. Obwohl ursprünglich auf Englisch verfasst und als Vortrag auf Englisch gehalten, erschien die erste offizielle englische Publikation des Essays erst (überarbeitet) im Jahre 2011 (Latour 2011).

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che zudem in Echtzeit ablaufen. Was könnte das heißen? Selbst wenn die Naturwissenschaften diesbezüglich ihre exklusive Definitionsmacht verspielt haben sollten, verliert der Experimentbegriff mit Ausführungen wie denen von Latour jegliche Schärfe und somit auch an Attraktivität für die Soziologie, denn so wird Experiment gleichbedeutend mit Entwicklung, Komplexität, Vernetzung und Globalisierung – und damit mit fast allem, was sich ändert. Er könnte damit genauso bedeutungslos werden, wie es die Rede von Resilienz gelegentlich zu werden droht (siehe Kapitel 1). Latour hat jedoch an anderen Stellen seiner Arbeit etwas elaboriertere Versatzstücke zur Beschreibung kollektiver Experimente vorzuweisen. Einer der Kernpunkte von Latours Schriften ist die These, dass die strikte Trennung zwischen der Natur und dem Sozialen eine Fiktion der Moderne darstellt. Diese habe zur Folge, so Latour, dass Menschen als reine Subjekte und Nicht-Menschen als reine Objekte konzipiert werden. Latour setzt dem seine amoderne Variante entgegen. Im Vergleich zur modernen Verfassung, in der die Kammer der Fakten nur von Wissenschaftlern betreten werden dürfe und die der Werte nur von Politikern und „Moralisten“, brauchen in Latours Parlament der Dinge – der nicht-modernen Verfassung – beide Kammern die Zusammenarbeit aller. Nach Latour sollen Wissenschaftler nicht mehr allein für die natürlichen und technischen Objekte, also die Tatsachen oder Fakten im Sinne objektiv existierender Sachverhalte sprechen und Politiker nicht mehr allein für die Subjekte, also die Werte im Sinne menschlicher Werturteile. Auch Nicht-Wissenschaftler sollen bei der Repräsentation der äußeren Natur in einem Kollektiv eine bestimmende Rolle spielen, kurzum: das gesamte Volk. Die Eigenschaften und Interessen der Entitäten, die in das Kollektiv integriert werden, sind durch ein rechtlichöffentliches Verfahren zu bestimmen. Latour schlägt daher vor, nicht mehr zwischen Wissenschaftlern und Nicht-Wissenschaftlern zu trennen, sondern zwischen etablierten und nicht-etablierten Fakten und Werten. Diese sollen in zwei neue Kammern eingeteilt werden, damit jede Kammer eine Kategorie von Fakten und eine Kategorie von Werten zusammenbringt. Diese zwei Kammern entsprechen dann nicht mehr der alten Gewaltenteilung zwischen Fakten und Werten, sondern einer neuen Teilung zwischen einer einbeziehenden Gewalt im Oberhaus und einer ordnenden Gewalt im Unterhaus. Latours Oberhaus kümmert sich um die nicht etablierten Fakten und Werte. Es hat die Aufgabe, menschliche und nicht-menschliche „Anwärter“ außerhalb des etablierten Kollektivs zu analysieren und eine öffentliche Beratung über die Frage zu veranstalten, ob diese Anwärter ins Kollektiv einbezogen werden sollen, das heißt, ob sie weiter beachtet werden sollen (vgl. auch Brown 2009, Kap. 5).

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Für Beobachter, die sich auch nur am Rande mit Beteiligungsverfahren in der Umwelt- und Technologiepolitik befasst haben (siehe hierzu allein Heinrichs et al. 2012, Töpfer et al. 2013, Zschiesche 2012), erscheinen Latours Ausführungen wohl eher als eine abstrakt ausgedrückte Variante verschiedener zivilgesellschaftlicher Versuche, Wissenschaft und Umweltplanung durch Partizipation zu demokratisieren. Latour betont jedoch, dass die Frage nach der Anzahl und den Entitäten, die in einer solchen neuen Gemeinschaft Platz haben, nur durch das, was er übergreifend „kollektives Experiment“ (Latour 2001a: 247) nennt, erkundet werden kann. Kollektives Experimentieren definiert er in seinem Glossar am Ende von Das Parlament der Dinge dann folgendermaßen: „Wenn nicht mehr von einer Natur und mehreren Kollektiven ausgegangen werden kann, muss das Kollektiv die Frage nach der Anzahl der zu berücksichtigenden Entitäten angehen und durch tastende Versuche erkunden, welche von ihnen zu integrieren sind. Das Protokoll dieser Versuche wird von der Gewalt der Verlaufskontrolle definiert. Von dem Wort Experiment, wie es in den Wissenschaften in Gebrauch ist, wird hier die Tatsache übernommen, das es instrumentiert und rar ist, schwer zu reproduzieren, stets umstritten und dass es sich als aufwändiger Versuch darstellt, dessen Ergebnis entziffert werden muss.“ (Latour 2001a: 297)

Insbesondere der letzte Teil von Latours Definition, der auf die Überlappungen mit dem Experimentbegriff der Naturwissenschaften verweisen soll, deutet tatsächlich eher auf Latours wissenschaftssoziologische Auslegung des naturwissenschaftlichen Experiments hin. Das wissenschaftliche Experiment, wie es sich in Lehrbüchern darstellt und wie es wohl auch von Durkheim verstanden wurde, unterscheidet sich von der latourschen Version dadurch, dass vorab eine genau definierte Situation präpariert und anschließend das Verhalten des präparierten Systems beobachtet werden muss, damit eine Hypothese überprüfbar wird. Von einem Experiment wird weiterhin selbstverständlich erwartet, dass es überhaupt nicht rar ist – es muss vielmehr nahezu beliebig wiederholbar sein, um als Experiment zu gelten, das heißt, es muss dasselbe Ergebnis herauskommen, auch wenn es an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten wiederholt wird.3 Bei Latour sieht die Welt des Experiments anders aus: 3

Zwei weitere wichtige Aspekte der Lehrbuchdefinition von Experiment werden bei Latour gänzlich ausgeklammert, weshalb ich hier nicht weiter darauf eingehe. Sie sollten aber angemerkt werden. Es sind dies die Kontrolle der Randbedingungen und die Bedeutung der unabhängigen Variablen, also der Einfluss auf den Experimentaufbau, der aktiv vom Experimentator verändert werden kann, sowie die Erfassung äußerer Einflüsse durch sogenannte abhängige Variablen.

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„Wir sind jetzt alle in kollektive Experimente verstrickt, in denen Menschen und nichtPHQVFKOLFKH :HVHQ ]XVDPPHQJHPHQJW ZHUGHQ í XQG QLHPDQG LVW YHUDQWZRUWOLFK hEHU diese Experimente, die mit uns, von uns, für uns durchgeführt werden, wird kein Protokoll geführt. Niemandem ist ausdrücklich die Verantwortung übertragen, sie zu beaufsichtigen.“ (Latour 2001b: 32)

Eine Voraussetzung für die potentielle Reproduzierbarkeit von Experimenten nennt Latour dennoch: das Versuchsprotokoll. Wer genau soll nun in Zukunft Protokoll führen und wie soll das geschehen? Auch wenn Latour diese Frage explizit stellt, fällt die Antwort bei genauem Hinsehen ziemlich altbacken aus. In seinem Parlament der Dinge sollen Wissenschaftler, Politiker, Ökonomen und Moralisten – wer immer das sein mag – gemeinsam über die Bildung von Tatsachen und Werten entscheiden und die Natur repräsentieren. Von einer Hybridisierung von Menschen und Nicht-Menschen oder gar einer A-priori-Symmetrisierung von Natur und Kultur durch den Begriff des Aktanten, wie in Wir sind nie modern gewesen (Latour 1995) propagiert, ist bei Latour heute keine Rede mehr. Mittlerweile bezeichnet er seinen einstigen Versuch der Symmetrisierung von Natur und Kultur sogar als „naiv, denn Artefakte bleiben Artefakte, auch wenn sie symmetrisiert werden“ (2001a: 352). An anderer Stelle betont Latour, die Akteur-Netzwerk-Theorie beinhalte nicht „die Behauptung irgendeiner absurden ‚Symmetrie zwischen Menschen und nichtmenschlichen Wesen‘. Symmetrisch zu sein bedeutet für uns einfach nicht a priori irgendeine falsche Asymmetrie zwischen menschlichem intentionalem Handeln und einer materiellen Welt kausaler Beziehungen anzunehmen. Manche Einteilungen sollte man nie versuchen zu umgehen, zu überschreiten oder dialektisch zu überwinden. Eher sollte man sie ignorieren und sich selbst überlassen wie ein einstmals wunderschönes Schloss, das nun eine Ruine ist.“ (Latour 2007: 131, Herv. im Orig.)

An anderer Stelle spricht Latour gar von einem „Irrtum in meinem Buch über die Modernen“ (Latour 2001a: 355). In Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft (2007) weist er jedoch plötzlich dem Leser zumindest eine Teilschuld an dieser Lesart seiner Ausführungen zur Symmetrisierung zu. Latour schreibt, er habe die Rede von der Symmetrisierung mittlerweile aufgegeben, da er „bemerken musste, dass die Leser daraus den Schluss zogen, dass Natur und Gesellschaft ‚gemeinsam aufrechterhalten‘ werden sollten, um eine ‚symmetrische‘ Untersuchung von ‚Objekten‘ und ‚Subjekten‘, ‚nicht-menschlichen Wesen‘ und ‚Menschen‘ durchzuführen“ (Latour 2007: 131, FN 22).

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Anstatt über Symmetrisierungen und Hybride nachzudenken, geht es Latour spätestens seit seinem Parlament der Dinge um kooperative Entscheidungsprozesse, in denen die Natur über eine bestimmte Form der Repräsentation ein Mitspracherecht bekommen soll. Die Soziologie des 21. Jahrhunderts sei im Gegensatz zu der früheren „sociology of the social“, so Latour, am besten bedient, wenn sie sich als Disziplin verstehe, in der die Teilnehmer – menschliche und nicht-menschliche – sich explizit damit befassen, „das Kollektiv wieder zu versammeln“ (Latour 2007: 424). Für Latour stehen das Wort „sozial“, die Rede von der sozialen Welt oder das, was die Soziologen des Sozialen als Gesellschaft bezeichnet hatten, für einen hoffnungslosen Versuch, die Wirklichkeit zu erfassen. In Latours Neuordnung des Sozialen will er insbesondere mit Hilfe des klassischen Soziologen Gabriel Tarde (1843-1904) auf die ursprüngliche Bedeutung des Sozialen zurückkommen, um zu zeigen, dass es kein sinnvoll abgrenzbarer Bereich der Wirklichkeit ist, sondern ein Prinzip der Verbindung, Verknüpfung und Beziehung. Dies steht dann nach Latour im Gegensatz zur einer anderen Tradition der Soziologie, die versuchte, das Soziale von den biologischen Organismen oder der äußeren Natur zu trennen. Das Soziale in Latours Neuordnung wird erst dann sichtbar, wenn sich, ausgelöst durch überraschende Abweichungen von akzeptierten Fakten und Werten, neue Kollektive herausbilden, die aus verschiedenen menschlichen und nicht-menschlichen Teilnehmern bestehen und sich zu neuen Assoziationen verfestigen können. Dies alles klingt auf den ersten Blick recht vielversprechend, denn Latour benutzt, bewusst oder unbewusst, mit seinen beiden Kernbegriffen „Kollektiv“ und „Assoziation“ – Letzterer mit dem impliziten Verweis auf Simmels Konzept der Vergesellschaftung (siehe Kapitel 2) – klassische soziologische Termini aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Neuordnung des Sozialen als Rückkehr zum Ursprung der Soziologie, so könnte man es paraphrasieren. Latours kollektive Experimente und die in diesem Rahmen erfolgende Verbindung gesellschaftlicher und naturaler Elemente zu einer Assoziation werden aber erst sinnvoll operationalisierbar und für die empirische Umweltsoziologie fruchtbar, wenn sie sich von ihren abstrakten Allgemeinplätzen und den blumigen Metaphern lösen. Ansonsten wird die Rede von kollektiven Experimenten zu einer Leerformel und ist bestenfalls ein Synonym für schwierige und ausgefallene Beteiligungsverfahren. Mit ein wenig Phantasie können jedoch viele der von Latour eingeforderten und für die Wissenschafts- und Umweltsoziologie zentralen Aspekte der Einbeziehung nicht-menschlicher Akteure in eine soziologische Analyse nachvollzogen werden. Dass sich ein kollektives Experiment – wenn auch ohne seine überfrachtete Metaphorik – selbstverständlich in der wirklichen Welt

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der ökologischen Praxis entfalten und entwickeln kann, soll zur Erhellung von Latours Metaphern im Folgenden gezeigt werden.

D IE F ESTSTELLUNG DER A BWEICHUNG VON E RWARTUNGEN Wie können sich Kollektive aus Menschen und Nicht-Menschen formieren, so dass ihr Zusammenwirken als experimentell verstanden werden kann? In der Praxis der ökologischen Restaurierung wird schon seit mindestens 30 Jahren genau dies versucht: durch die experimentelle Einbeziehung der „Antworten“ natürlicher Entitäten in soziale Entscheidungsprozesse mittels Einnahme einer Position, die die Wechselwirkungen zwischen Natur, Kultur und Mensch ins Zentrum rückt (vgl. Jordan 2006, Ingram 2012, Lorimer/Driessen 2014). Das Ernstnehmen der unerwarteten Vorschläge der Natur äußert sich zum Beispiel in dem, was der Ökologe Bill Jordan (2006: 26) „the deliberate inclusion of unwanted, ‚negative‘ elements, such as dangerous species, or elements such as fire“ nennt. Um diese natürlichen Elemente zu integrieren, braucht es keine metaphorisch überzogene Rede vom Parlament der Dinge, dafür aber ein durchdachtes experimentelles Design für die wirkliche Welt. Zu einem solchen gehört 1. 2. 3.

das beständige Neuverhandeln des Ablaufs des Experiments zwischen heterogenen Akteuren und Aktanten, zu denen auch die Natur gehört, die Einbeziehung – potentiell aller – Bürger als aktive Mitgestalter und Mitforscher sowie ein Verfahren, in dem überraschende Ereignisse („natürliche“ oder „soziale“) so verarbeitet werden, dass sie zu neuem Wissen über natürliche oder „soziale“ Phänomene führen, das in Zukunft nützlich sein wird.

Zur Illustration eines solchen Experiments bietet sich ein Modell an, das im Konzept der Realexperimente in der Wissenschaftsforschung (vgl. Groß et al. 2005), aber in Grundzügen bereits bei John Dewey (1975) und in der Theorie des „experiential learnings“ (Kolb 1984) zu finden ist. Dieses Modell ist gekennzeichnet durch die Verbindung von Erfahren und Handeln bzw. von Wissensanwendung und Wissensgenerierung und damit auch von Fakten und Werten. Den realexperimentellen ökologischen Eingriff, wie meine Kollegen und ich ihn genannt haben (Groß et al. 2005), möchte ich hier als Ergänzung zu Latours kollektivexperimentellem Ansatz heranziehen. Auch Realexperimente sind selbstverständlich fast immer komplexen Verhandlungsprozessen unterworfen,

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die nur zum Teil von Wissenschaftlern oder einer anderen gesellschaftlichen Gruppe gesteuert werden können. Ein gezielter ökologischer Eingriff und eine Gestaltung, sei es in so verschiedenen Bereichen wie dem Management einer kontaminierten Region, dem Design einer neuen Landschaft in ehemaligen Tagebaugebieten oder der Sanierung eines eutrophen Gewässers in den Alpen, beginnen gewöhnlich mit einer Beobachtung. Der oder die Beobachter müssen nicht unbedingt Wissenschaftler sein, Beobachtungen können genauso gut von Spaziergängern, Joggern oder zufällig vorbeifahrenden Bürgern ohne Doktortitel in Bodenphysik durchgeführt werden. Beobachtungsobjekt kann zum Beispiel ein See, eine brachliegende Agrarlandschaft, ein Hinterhof oder ein Fluss sein. Widersprechen die gemachten Beobachtungen den Erwartungen – die Fische im See schwimmen mit dem Bauch nach oben, die Landschaft brennt lichterloh, im urbanen Hinterhof tummelt sich ein Eisbär oder die Farbe des Flusswassers ist rot – so wird höchstwahrscheinlich die hieran anknüpfende Kommunikation über die Verarbeitung der Folgen dieser Abweichung, die man als Überraschung bezeichnen kann, zu einer Neuaushandlung der Wissensbestände über den beobachteten Ausschnitt der Wirklichkeit führen. In der Alltagswelt können Erfahrungsgewohnheiten die Funktion von Erwartungen übernehmen. In wissenschaftlichen Umgebungen leisten dies meist in Hypothesen gefasste Vermutungen. Ohne einen expliziten oder in der Retrospektive rekonstruierten Erwartungshorizont, der einer bestimmten Akteursgruppe zugeschrieben werden kann, kann eine Überraschung jedoch nicht soziologisch sinnvoll registriert werden. Es „setzt einen Beobachter voraus, der eine Abweichung von Erwartungen feststellen kann“ (Luhmann 1990: 216). Darauf aufbauend sind es die „neuen Fakten“ Latours, die die Mitglieder des Kollektivs überraschen und deren Ursachen, Wirkungen und Bedeutungen zum Zeitpunkt der Kommunikation als Überraschung noch umstritten sind. Durch die Wechselwirkung zwischen Mensch und materieller Umwelt können neu initiierte Gestaltungsprozesse eine Eigendynamik entwickeln, die wieder als natürlich empfunden werden kann, weil sie sich einer planvollen Kontrolle entzieht. Diese neuen Dynamiken müssen als „neue Fakten“ verarbeitet werden. Latour will solche neuen Fakten in seinem Parlament von den etablierten Fakten (z.B. dem Gesetz der Schwerkraft), die einen festen Platz in der gemeinsamen Welt haben, trennen. Er behauptet, dass das gewöhnliche Verständnis von Fakten sich lediglich auf die letzte Gruppe beziehe, die aber nur den Endpunkt eines langen Arbeitsprozesses darstelle (Latour 2001a: 132). Abgesehen davon, dass dies eher ein rhetorischer Schachzug zu sein scheint, durch den Latour sein Vierfelderschema aus Fakten und Werten füllen möchte, braucht es diese Unter-

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IN

N ATUR

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scheidung in einem realexperimentellen Design sowieso nicht, denn sie wird durch die Registrierung einer Abweichung von einer Erwartung als Überraschung gefasst. Wichtiger erscheint es hingegen festzuhalten, dass eine Überraschung (neues Faktum) immer eine vom Beobachter abhängige Zuschreibung (Bewertung) ist. Anstatt eine Überraschung und ein akzeptiertes Naturgesetz in Latours Ober- und Unterhaus zu sperren, um diese mit jeweils zwei weiteren Kammern zu verbinden, die dann persönliche (unsichere) sowie akzeptierte (sichere) Werte beinhalten, sollte man sich in der wirklichen Welt über die überraschenden Fakten und die Wertvorstellungen verständigen und gemeinsam aushandeln, ob eine Fortführung der realexperimentellen Gestaltung auch trotz des sich eröffnenden Nichtwissens über die „Antwort“ der Natur vertretbar ist. Nach einer überraschenden Beobachtung wird häufig Unsicherheit über das erkennbar gewordene Nichtwissen (neue Fakten) kommuniziert. Mit verschiedenen Abstufungen des Wissens und insbesondere des Nichtwissens (siehe Kapitel 3) lassen sich Latours nicht-etablierte und damit unsichere Fakten viel genauer erfassen als in seinem Vierfelderschema. Den beteiligten Akteuren eines ökologischen Gestaltungsprojektes stehen dann für die Fortführung einer realexperimentellen Gestaltung zwei Wege der Bewältigung offen, die idealtypisch beide begangen werden sollten: 1. 2.

die Revision und Neuverhandlung des bis dahin akzeptierten Wissens (Latours etablierte Fakten) und damit häufig verbunden die erneute Aushandlung von – durch die veränderte Interessenlage der Akteure möglicherweise neu entstandenen – Werten und Zielvorstellungen.

Bevor es zu einem Eingriff in eine Landschaft kommt, müssen das gegebenenfalls neu erarbeitete Wissen und die Interessenskonstellation einander angepasst werden. Es geht hier weder um eine passive Anpassung noch um eine willkürlich durchführbare Veränderung, sondern um ein Justieren oder ein tastendes Vorgehen des „Kollektivs“, wie es zum Beispiel mit Hilfe von Mediations- und Partizipationsprozessen praktiziert wird. Erst danach sollte es zu einer Entscheidung über einen Eingriff in den beobachteten See, die Post-Agrar-Landschaft, den begrünten Hinterhof oder den Fluss kommen. Die Folgen dieses Eingriffs – und in diesem Sinne eine weitere Antwort der Natur – können dann wieder (gezielt oder zufällig) beobachtet werden. Auf diese Weise ergibt sich ein geschlossener Kreislauf, in dem der Eingriff beeinflusst, was beobachtet wird – und in dem das Ergebnis der Beobachtung wiederum die Gestaltung des Eingriffs bei einem möglichen weiteren Durchlauf durch den Zyklus beeinflusst. In einem solchen Durchlauf können dann auch neu erarbeitete Wissensbestände, also durchaus als

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etabliert geltende Fakten, selbstverständlich in Frage gestellt werden. Über diese experimentellen Zyklen kann sich jedoch eine gewisse Robustheit herauskristallisieren, welche sich aus dem experimentellen und lernoffenen Design ergibt. Robustheit bezeichnet damit die Stabilität der experimentellen Dynamik, auch wenn unvorhergesehene Ereignisse überraschen. Latour würde dies wohl eine sich herausbildende – weil sich stabilisierende – Assoziation aus Menschen und Nicht-Menschen nennen.

E XPERIMENTELLE P RAXIS VON K ONTINGENZ

ALS

P ROZEDURALISIERUNG

Die oben skizzierte Praxis eines zyklischen und experimentellen Vorgehens aufgrund der Wechselwirkung zwischen Menschen und Nicht-Menschen ist in der angewandten Ökologie, der Landschaftsarchitektur oder der ökologischen Renaturierung nichts Ungewöhnliches. Entscheidend ist, dass in dem skizzierten Zyklus alle wesentlichen „Zutaten“ von Latours Parlament der Dinge und seiner Theorie der Integration der nicht-menschlichen Umwelt enthalten sind. Die Sprache der „handelnden Natur“ findet sich zudem selbstverständlich in den Selbstbeschreibungen ökologischer Praktiker und Landschaftsdesigner (vgl. Groß 2003). Nun ist es, wie wir in Kapitel 2 gesehen haben, eine Sache, diese Sprechweise zu registrieren, und eine andere, sie in eine umweltsoziologische Theorie der Interaktion und Kommunikation einzuordnen. Sofern die Soziologie eine Selbstbeschreibung der Gesellschaft ist, ist sie Bestandteil der gesellschaftlichen Sprachspiele. Daher sind die Sprache und die Theorie der Soziologie nicht immunisierbar gegenüber der Sprache und den beobachteten Aktivitäten, die sie zu erfassen sucht. Nimmt man die Selbstbeschreibung der ökologischen Praktiker umweltsoziologisch ernst, muss die außermenschliche Natur hier irgendwie eine „eigene“ Stimme bekommen. Dies ist auch ein Anliegen Latours in seiner Erklärung zu dem, was die von ihm vertretene Akteur-Netzwerk-Theorie eigentlich ist: ein Ansatz, der es erlaubt, dass die beobachtenden Akteure die Theorie schreiben dürfen (vgl. Latour 2007). Das klingt so formuliert jedoch sehr nach einer Variante der alten ethnographischen Faustregel, dass Kultur eine Ansammlung verschiedener fühlbarer, sichtbarer und verbaler Belege ist und sich der „Ethnologe bemüht […], sie über die Schulter derjenigen, für die sie eigentlich gedacht sind, zu lesen“ (Geertz: 1983: 259). Kurzum, auch bei Latour sollen die zu beobachtenden Phänomene ihre Soziologie für uns schreiben. Die Handlungspraxis ökologischer Felder, wie sie oben skizziert wurde, lässt sich so interpretieren, dass in ihr kausale und kommunikative Zurechnungen des

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Handelns wechseln können. Kommunikativ ist die Einstellung der beobachteten Praktiker, Ökologen oder anderen Beteiligten, wenn sie abwarten und beobachten müssen, was sie in der Natur bewirken oder wie die Natur antwortet. Sie befinden sich in einer Situation doppelter Kontingenz, da sie weder wissen, wie die Natur auf ihre Interventionen reagieren wird, noch ihre Interpretation dieser Reaktionen feststeht. Experimentelle Praxis ist dann die Prozeduralisierung dieser Kontingenz. Ein solches Verständnis doppelter Kontingenz unterscheidet sich jedoch von der klassischen Sichtweise, wie sie bei Talcott Parsons oder Niklas Luhmann angelegt war (vgl. Vanderstraeten 2002). Auch im hier dargelegten Verständnis geht es, will man die Metaphorik etwas überdehnen, in gewisser Weise um eine Konstellation zwischen Ego und Alter Ego. Allerdings ist es soziologisch (bis jetzt) noch nicht möglich, die Bewertung der Kontingenz auf Seiten des nicht-menschlichen Akteurs gleichwertig einzuschätzen. An Simmels Wechsel der Beobachtungsebene würde jedoch die Feststellung andocken, dass beide Seiten sich auch jeweils anders „verhalten“ oder reagieren können. Hier anzusetzen und Latours Metaphorik zur Analyse dieser Prozeduralisierung hinzuzuziehen, ist damit weiterhin eine spannende Aufgabe für die Wissenschaftsund Umweltsoziologie sowie für viele weitere Felder der Soziologie. Dies soll in den folgenden Kapiteln weiter ausgeführt werden.

Blühende Landschaften, Altlasten und alternative Energiesysteme

5. Unberechenbare Umwelt

E XPERIMENT

UND

A LLTAG

Neben der Anthropologie und der Ethnologie mit dem Fokus auf „traditionelle“ Gesellschaften zeichnen sich einige sozialwissenschaftliche Forschungsströmungen innerhalb der Wissenschafts- und Technikforschung sowie der Kultur- und Umweltsoziologie dadurch aus, dass sie in den letzten Jahrzehnten die Bedeutung der materiellen Umwelt als Teil von Alltagspraktiken ins Blickfeld gerückt haben (vgl. auch Kapitel 2). In dieser Tradition stehend will ich in diesem Kapitel Phänomene des Wissenschafts-, Planungs-, und Implementierungsalltags in Bezug auf den Umgang mit unberechenbarer Natur diskutieren. Dabei handelt es sich zum einen um Diskussionen, die aus früheren Arbeiten zu ökologischen Realexperimenten hervorgegangen sind. Zum anderen stütze ich mich auf eher kultursoziologisch geprägte Ideen von Praktiken, in denen der ständige Umgang mit dem Unberechenbaren und der Unvermeidbarkeit von Nichtwissen im Fokus der Aufmerksamkeit steht (vgl. auch Kapitel 3). Wichtig ist hier, dass Natur und materielle Dinge, auch wenn sie einstmals von Menschen (mit-)gestaltet wurden, sich „re-naturalisieren“ können. Dadurch werden die involvierten Akteure überrascht und das eigene Nichtwissen wird erkennbar. Dies ist ein entscheidender Punkt. Denn auch wenn in der offiziellen Rhetorik und in den Medien Naturereignisse offenbar nur noch selten als Naturereignisse kommuniziert werden, da sich fast immer eine Entscheidungsinstanz findet, der man Fehler und damit eine Schuld am Eintreten des Ereignisses zuschreiben kann und die dann die Verantwortung für ein „Naturereignis“ tragen muss, so ist es in den kulturellen Praktiken von Akteuren auch in besonders heiklen Situationen doch genau so: Man kann vieles nicht wissen und das wird ernst genommen. Das heißt auch, dass nicht immer ein „Schuldiger“ gesucht wird. Die sich hieraus entwickelnden kulturellen Handlungsstrategien um Umgang mit dem als überraschend empfundenen Auftauchen (vermeintlich) „außerkultu-

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reller“ Faktoren sollen in diesem Beitrag mit dem Konzept der Realexperimente gerahmt werden. Ich gehe dafür wie folgt vor: Zuerst werde ich das Thema „Experimentalität“ und Nichtwissen vor dem Hintergrund der in den vorangegangenen Kapiteln eingeführten Themen und Probleme an verschiedenen Fallbeispielen weiterentwickeln, um die Unvermeidbarkeit des Unberechenbaren und damit auch gelegentlich die positiv evaluierten Aspekte dieser „Normalität“ weiter zu verdeutlichen. Die Fallbeispiele schließen die Diskussion um den Einsatz von Feuer in Renaturierungsprojekten, die konzeptuelle Offenheit in der Stadtentwicklung und Landschaftsplanung, die unberechenbare Rückkehr eines Raubtiers in die Zivilisation, die Gestaltung ehemaliger Tagebaugebiete sowie die Sanierung kontaminierter Altlastenflächen ein. Abschließend sollen Möglichkeiten der Sensibilisierung für das Unberechenbare der Natur eruiert werden, um einige Besonderheiten und Herausforderungen bei der Organisation und Legitimierung von Entscheidungen unter unberechenbarem aber recht genau vorstellbarem Nichtwissen zu verdeutlichen. Im Folgenden geht es darum, (aufbauend auf das vorherige Kapitel) das Experiment als Teil einer Alltagskultur vorzustellen. Der Verweis auf den Alltag soll zum einen an die Unvermeidbarkeit von Unberechenbarkeiten und damit manchmal verbundenen Fehlschlägen erinnern, aber auch kreative Routinen und – auf den ersten Eindruck paradox erscheinend – habitualisierte Verhaltensweisen im Umgang mit Unerwartetem in den Blick rücken. Als empirische Beispiele dienen verschiedene gestaltende und intervenierende Prozessabläufe in räumlich (meist) klar begrenzten Rahmen. Die Beispiele eint, dass es immer um die Erwartung ungeplanter Reaktionen in und von Seiten der „Natur“ geht, sei es in der Form eines plötzlichen Auftauchens von Tieren oder umweltgefährdender Stoffkonzentrationen. Beiden ist gemein, dass sie scheinbar unsichtbar lauern (z.B. Wölfe im Wald) und trotz ausgiebiger Vorerkundungen für die beteiligten menschlichen Akteure überraschend auftreten können. Oder um mit Barbara Adam (1998: 54) zu sprechen: „The visible phenomena making up the landscapes have the invisible constitutive activities inescapably embedded within them.“ Dies nötigt den involvierten Akteuren flexible Reaktionen ab, die eine ständige Anpassung von Strategien und Plänen erfordern. Für die Beschreibung und Analyse der damit verbundenen Strategien wird eine aus den Diskussionen um ökologische Realexperimente stammende konzeptuelle Rahmung herangezogen. Das zentrale Element von Realexperimenten basiert auf der Vorstellung, dass die moderne Gesellschaft experimentell neues Wissen erarbeitet, so dass es möglich wird, die Entwicklung neuer Technologien oder die Gestaltung von Landschaften als gesellschaftlich-institutionelle Lernprozesse zu verstehen. Lösungen werden in der Praxisanwendung entwickelt. Fehlschläge und das Erkennen von

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Nichtwissen können dann – bestimmte organisatorische und kulturelle Bedingungen vorausgesetzt (vgl. Bleicher/Groß 2011, Edmondson 1996, Reason 1997) – in innovative Weiterentwicklungen von Technologien und Gestaltungsstrategien münden. Soziologische Theorien zum Lernen aus Fehlschlägen werden häufig verbunden mit den Diskussionen der letzten 25 Jahre zu den sogenannten „High Reliability Organizations“ (HRO). Dies sind Organisationen, die durch ihre auf flexible Anpassungsmöglichkeiten ausgerichtete Managementkultur konstruktiv auf Fehlschläge reagieren können. Der Fokus dieser Organisationen richtet sich auf kleine Fehler und Prozesse des Scheiterns, um dadurch Hinweise auf zu erwartende größere Fehlschläge zu erlangen. Außerdem wird versucht, so weit als möglich die Entscheidungshoheit nicht streng an Hierarchien, also der Position von Personen in der Organisation auszurichten, sondern an ihrer jeweiligen Expertise im Kontext bestimmter Aufgaben im Alltagsbetrieb der Organisation zu orientieren (vgl. Roberts 1990, Weick/Sutcliffe 2007).1

N ÜTZLICHES N ICHTWISSEN UND EXPERIMENTELLE P RAKTIKEN Außerhalb des Labors können experimentelle Prozesse als beständig neu geformte interaktive Angelegenheiten des alltäglichen Handelns und „Agierens“ in und mit (Natur-)Dingen verstanden werden (vgl. Brand 2011). In der Materialität und in den Naturdingen der Alltagspraktiken treffen sich dann auch Kultur und Natur (vgl. Schatzki 2010). Um der Unvorhersehbarkeit der Natur erfolgreich zu begegnen, müssen die involvierten menschlichen Akteure auf einen kulturellen Vorrat an Handlungsmöglichkeiten zurückgreifen können. Dazu gehört – so eine These dieses Kapitels – an zentraler Stelle der Umgang mit dem, was man nicht weiß, von dem man jedoch weiß, dass man es nicht weiß. Ich folge hier Anregungen des Philosophen und klassischen Soziologen Georg Simmel (siehe Kapi-

1

Als Gegenthese zur Theorie der High Reliability Organizations (HRO) wird normalerweise die zuerst auf Charles Perrow zurückgehende Theorie normaler Katastrophen (Normal Accident Theory, NAT) angeführt, in der die Unausweichlichkeit von Katastrophen propagiert wird, ohne dass sinnvoll daraus gelernt werden kann. Diese wichtige Diskussion (vgl. Hopkins 1999, LaPorte/Consolini 1991, Perrow 2004, Rijpma 2003, Shrivastava et al. 2009) kann an dieser Stelle nicht aufgearbeitet werden. Es werden im Folgenden aber indirekt Erkenntnisse sowohl aus der HRO-Theorie als auch der NAT berücksichtigt.

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tel 3). In dieser Tradition bezieht sich Nichtwissen auf Wissen, das man (noch) nicht haben kann oder darf, dessen Bezugspunkt jedoch formuliert werden kann. Wie oben gesehen, ist der zunehmende Umgang mit Nichtwissen für Simmel gar ein zentraler Indikator für die Entwicklung der Moderne. Er schreibt dazu: „Dass wir unser Wissen und Nichtwissen selbst wissen und auch dieses umgreifende Wissen wiederum wissen und so fort in das potentiell Endlose – dies ist die eigentliche Unendlichkeit der Lebensbewegung auf der Stufe des Geistes“ (Simmel 1999: 310). Um die hier vorgestellte Diskussion über die Experimentalisierung des Alltags konzeptuell zu stärken, möchte ich Simmels Verständnis von Nichtwissen mit dem oben eingeführten Experimentverständnis verbinden. Simmel lässt sich so interpretieren, dass er seinen Kulturbegriff zuerst aus einem (evolutionären) Prozessverständnis heraus entwickelt hat (vgl. Levine 2008, Scaff 1990). Er betrachtet Kultur als eine Kultivierungsleistung, also einen Prozess der Bildung und Aneignung von Kulturgütern wie „Möbel und Kulturpflanzen, Kunstwerke und Maschinen, Geräte und Bücher, in denen natürliche Stoffe zu ihnen zwar möglichen, durch ihre eigenen Kräfte aber nie verwirklichten Formen entwickelt werden“ (Simmel 1992b: 560). In diesen Zusammenhang stellt er dann seine Gegenüberstellung von objektiver und subjektiver Kultur. Wenn nach Simmel Nichtwissen als Normalität aufgefasst wird, dann sind auch Überraschungen etwas Normales. Wenn also mehr Wissen immer auch mehr Nichtwissen mit sich bringt, gewinnt die Frage an Bedeutung, ob und wie Entscheidungen auf Grundlage von zunehmendem Nichtwissen getroffen werden können, wenn Überraschungen zu erwarten sind, und wie entsprechende Entscheidungen legitimiert werden können und dürfen. Das Paradox besteht hier im Versuch, Offenheit und Kontrolle unter einen Hut zu bringen. Das Experiment versinnbildlicht die Hoffnung auf den geordneten Umgang mit gleichzeitiger Ergebnisoffenheit. In vielen Feldern ökologischer Gestaltung lassen sich experimentelle Praktiken der Offenheit und Kontrolle beobachten. Dass sich Beschreibungen mit dem Praxis- und Experimentbegriff lohnen, weil sie dem Selbstverständnis der Akteure häufig gerechter werden als zum Beispiel Rahmungen mit (soziologischen) Risikobegriffen (vgl. Wehling 2011), soll im Folgenden an verschiedenen Beispielen illustriert werden. Da die räumliche und zeitliche Begrenzung des Laborexperiments in einem Realexperiment nicht zu finden ist, sind wissenschaftliche Standards außerhalb der begrenzten Räume des Labors in gewisser Weise oft höher als im abgeschirmten Wissenschaftsbetrieb. Das Auftreten dramatischer Formen des Unberechenbaren und damit das Erkennen von „unknown unknowns“ wird als Möglichkeit immer mitgedacht – oder so scheint es zumindest in den hier vorgestellten Fällen. In der Rekonstruktion zeigt sich, dass durch eine Überraschung, die

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durch einen experimentellen Zugang ausgelöst wurde, erst deutlich wurde, dass man bestimmte Dinge nicht wusste. Genau dies war aber beabsichtigt, nämlich das Nichtwissen vorstellbar werden zu lassen, es zu spezifizieren. Fragen, die sich von soziologischer Seite stellen lassen, wären dann zum Beispiel solche: Welche strukturellen, juristischen oder kulturellen Bedingungen fördern es, dass trotz Nichtwissen gehandelt werden darf? Wann und unter welchen Bedingungen sind experimentelle Praktiken trotz Nichtwissen legitim? Und schließlich: Wo liegen die Grenzen im Umgang mit Nichtwissen und wo muss man es eher als „Ausrede“ betrachten (im Sinne von: „Wir konnten es ja gar nicht wissen.“, i.e., man hat sich nicht genug bemüht)?

F EUER , S TADTENTWICKLUNG

UND

W ÖLFE

Im Folgenden werden verschiedene Formen des Umgangs mit unberechenbarer Umwelt anhand verschiedener Beispielfelder illustriert. Diese sind 1. 2. 3.

der Einsatz „kontrollierter“ Präriefeuer, Implementierungsprozesse in urbanen Räumen und die „Erlaubnis“ der Rückkehr von Wölfen in dicht besiedelte Regionen.

Die Gestaltung von Braunkohletagebaulandschaften, die Sanierung komplex kontaminierter Altlastenbrachflächen sowie die Suche nach alternativen Energiequellen finden sich weiter unten in Einzelkapiteln. Alle hier genannten Felder, so unterschiedlich sie im Einzelnen sein mögen, vereint die enge Verknüpfung zwischen der Erzeugung und Anwendung von Wissen und in diesem Zusammenhang der explizite und, wie argumentiert werden soll, durchaus innovative Umgang mit der Kehrseite des Wissens. Anders ausgedrückt: Der Unberechenbarkeit der Natur wird nicht die Hoffnung entgegengestellt, dass mit mehr Expertise und Forschung irgendwann die Unberechenbarkeit und die Unsicherheiten kontrolliert werden können, sondern die Erkenntnis, dass es Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten zu geben scheint, die trotz – oder gerade wegen – erkanntem Nichtwissen funktionieren. Der Begriff und die Praxis der Ecological Restoration spielten in politischen und ökologischen Diskussionen in Nordamerika seit den späten 1980er Jahren zunehmend eine wichtige Rolle. Dies zeigt ein Blick auf die in den letzten Jahren beträchtlich gewachsene Zahl an Monographien sowie die Zunahme an Diskussionen in populärwissenschaftlichen Publikationen. Seit den 1980er Jahren haben sich verschiedene Strömungen innerhalb dieser Richtung ausdifferenziert.

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Im Kern geht es allgemein um die (naturnahe) Gestaltung, Rekonstruktion oder Sanierung und „Naturierung“ ganzer Ökosysteme. Die Varianten reichen dabei von einer Modellierung eines Systems mit Hilfe historischer Daten bis hin zu einer Neuschaffung von Natur, die sich nicht ausschließlich oder gar nicht an historischen Vorlagen orientiert und entsprechend den Begriff „restoration“ eher fehl am Platze erscheinen lässt. Auch die Vertreter der eher konservativen Seite sind sich jedoch dessen bewusst, dass die strikte „Restaurierung“ zerstörter Ökosysteme streng genommen nicht möglich, aber meist auch nicht gewünscht ist.2 Wie hat man sich ein Renaturierungsprojekt, wie sie insbesondere im mittleren Westen der USA zu finden sind, vorzustellen? Aufgrund des oft lückenhaften Wissens über Ökosysteme gibt es keine durchprogrammierte strategische Handlungsplanung, sondern es muss eine vorsichtige und beobachtende experimentelle Vorgehensweise, zusammengesetzt aus Fach- und Laienwissen, gewählt werden. Man beginnt zum Beispiel mit einem kontrollierten Präriefeuer, um eine fruchtbarere Grundlage für einheimische Pflanzen zu schaffen. Hierzu passt, dass in den Selbstbeschreibungen der menschlichen Akteure die Reaktion der Natur auf diesen gesellschaftlichen Eingriff als Überraschung akzeptiert wird, und es ist fast trivial anzumerken, dass die Natur nicht immer das tut, was sich Menschen vorgestellt haben. Praktiker sind sich jedoch nicht einfach irgendwie der Unvorhersehbarkeit der Natur bewusst (das wäre wenig erstaunlich), sondern es sind genau die unerwarteten Reaktionen der Natur, die herausgefordert werden sollen. Dies lässt sich am besten mit der Bedeutung des bereits erwähnten Einsatzes von Feuer illustrieren. Feuer war immer schon ein wichtiger Faktor für die Entwicklung menschlicher Gesellschaften. Für viele Pflanzen (Pyrophyten) kann Feuer sogar überlebenswichtig sein. Die nordamerikanischen Ureinwohner hatten Feuer zudem seit Jahrtausenden strategisch in der Jagd und zur Förderung von Pflanzenwachstum eingesetzt. Das Wissen über die Bedeutung von Feuer als kreative Zerstörungskraft (um das geflügelte Wort Schumpeters zu bemühen) in den Prärieökosystemen wurde aber erst in den 1940er Jahren wiederentdeckt. Die frühen europäischen Siedler sahen das Feuer nur von seiner zerstörerischen Seite. Für William R. Jordan, der in den 1980er Jahren den Begriff und die daraus hervorgegangene Disziplin „restoration ecology“ etablierte, bedeutet die Entdeckung des Feuers „the formal recognition of the role of fire in the ecology of these prairies, in a

2

Die Literatur zur Entwicklung der ecological restoration ist mittlerweile fast unüberschaubar groß geworden. Für einige neuere Bücher, die auch auf die globalen Unterschiede verschiedener Formen der Renaturierung eingehen, siehe z.B. Comín (2010), Egan et al. (2011), France (2011), Hall (2010) sowie Jordan/Lubick (2011).

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sense the re-discovery of a technology for environmental management that had been practiced by indigenous inhabitants of central North America for thousands of years before the arrival of Europeans“ (Jordan 1993: 272f.). Will man Protagonisten wie Jordan folgen, bedeuten Natur und Natürlichkeit immer schöpferische Zerstörung. Kontrollierte Präriefeuer sind auch eine Strategie, um die Biodiversität zu erhöhen, da viele Pflanzen vom Feuer abhängig sind. Sogenannte Pyrophyten sind Pflanzen, die nicht nur an Feuereinwirkung angepasst sind, sondern sich erst durch Feuereinwirkung fortpflanzen können, da sie die große Hitze für die Samenbildung benötigen. Manche Baumarten können nur keimen, wenn ihre Samen in die nach einem Feuer zurückgebliebene fruchtbare Asche fallen. Das Paradoxon zwischen Offenheit und Kontrolle wird an diesem Beispiel besonders deutlich, denn das bewusste Ausnutzen der unberechenbaren natürlichen Kräfte gehört bei solchen Renaturierungsprojekten zur Planung dazu. Steven Packard, ein früher Praktiker der „ecological restoration“, sagte hierzu deutlich: „Every restorationist knows the ecosystem will respond in unpredictable ways that rise out of itself. That’s precisely what we want to liberate“ (Packard 1993: 14). Und wenn es um Feuer geht, wird Packard noch deutlicher. Am Beispiel einer Grassavanne, die er in den späten 1970er Jahren zu restaurieren begann, illustriert er, wie die natürlichen Kräfte eingesetzt wurden, um die fehlenden, aber in den ursprünglichen Savannen zu findenden Eichen in die bestehenden, übrig gebliebenen Landstriche dieser Savanne zurückzubringen. Er fast dies so zusammen: „We wanted to use natural forces to bring them together, however. So we relied on the fires we were using to restore and maintain the adjacent, open prairies. We let the fires blast into the brush lines as far as they would go. ‚Let the fire decide‘ became our motto. That was the natural scheme; that’s what we wanted.“ (Packard 1988: 14)

In der „Ecological Restoration“ wird also eine Praxis etabliert, bei der das Experimentieren mit offenem Ausgang im Vordergrund steht (vgl. Groß 2003).3 Dass dieses Denkmodell des Umgangs mit unberechenbarer Umwelt nicht nur in relativ dünn besiedelten Regionen zum Einsatz kommen kann, sondern auch im vermeintlichen Gegenteil von Natur, der Stadt, soll im Folgenden gezeigt werden. Daniela Karow-Kluge (2010) hat in ihrer Studie über experimentelle Planungsprozesse in öffentlichen Räumen einige Anregungen dafür geliefert, wie

3

Dass sich diese Einstellung allerdings nur vereinzelt durchgesetzt hat, zeigt der (fragliche) Aufwand, der bei Löschversuchen bei großen Wald- und Buschbränden in den USA betrieben wird (Asendorpf 2011).

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Stadtentwicklung und Landschaftsplanung experimentell vorangetrieben werden können. Sie zeigt auf, dass erst ein experimenteller Zugang zur Stadt- und Regionalplanung es erlaubt, den sich sowieso einstellenden Rück- und Fehlschlägen konstruktiv gegenüberzutreten, und dass die genauen Vorstellungen von der Ausgestaltung der Stadt erst im Prozess der Implementierung entwickelt zu werden brauchen. Dies fußt auf der Beobachtung vieler Stadt- und Raumplaner, dass sich Stadt und Landschaft immer anders entwickeln als es sich Architekten und Planer erdacht haben. Wissen ist daher immer nur Arbeitswissen. Die nie zu vermeidenden Fehlschläge werden aber erst zum Experiment, wenn ein aktives Lernen an das Erwarten des Unvorhersagbaren gekoppelt ist. „Experimente als temporäre Interventionen im Raum“, schreibt Karow-Kluge (2010: 254), „schaffen neue Denkräume, die den Betrachter und Nutzer anspornen, über den ihm bekannten Ort erneut nachzudenken und Fragen zu stellen“. Wahrscheinlich ist es nicht zu gewagt zu sagen, dass auch Nachhaltigkeit nur so funktionieren kann, da die Verbindung zwischen wohl intendiertem, am Leitbild der Nachhaltigkeit ausgerichtetem individuellem Handeln und der Wirkung auf und durch strukturelle Bedingungen nur als Suchprozess zwischen sich ändernden Wissensvorräten und Nichtwissen sinnvoll konzipiert werden kann. Unter Bezeichnungen wie „Urban Labs“, „Reallabore“ oder „Living Laboratories“ (vgl. Dorstewitz 2014, Schneidewind/Scheck 2013, Karvonen/van Heur 2014) wird heute im Rahmen von nutzerintegrierenden Innovationen auf die Wichtigkeit einer frühzeitigen Berücksichtigung der Bedürfnisse von Bürgern als Teil des Anwendungsprozesses hingewiesen. Auch wenn sich diese Ansätze der Stadtteil- und Quartiersentwicklung meist auf die Beschreibung von Strategien zur Erhöhung der Akzeptanz ressourcenschonender neuer Ansätze beschränken und diese gelegentlich propagieren, so lässt die Idee des mehr oder weniger abgeschirmten Labors auf städtischer Quartiersebene doch einige der ursprünglichen Ideen der Realexperimente hinter sich. Mit dem Begriff Realexperiment oder „real-world experiments“ (Groß/Hoffmann-Riem 2005: 270-271) sollte ja gerade der älteren Idee von der „Gesellschaft als Labor“ (Krohn/Weyer 1989) – in der es darum ging, kritisch auf den Punkt zu bringen, dass die Gesellschaft mit den Risiken der modernen Wissenschaft belastet wurde und häufig unwissentlich in Forschungsprozesse hineingezogen wurde – eine positive und aktivere Variante entgegengesetzt werden. Genau wie bei Jane Addams, die, wie wir in Kapitel 4 gesehen haben, das Experiment von der naturwissenschaftlichen Forschung im Labor abgrenzen wollte bzw. dies als eine Sonderform hiervon ansah, sollte es im Konzept der Realexperimente (Groß et al. 2005) um Experimente jenseits des Labors gehen. Es ging dabei um ein Verständnis von Experiment, das den betroffenen Bürgern, „citizen scientists“ oder anderen Stakeholdergrup-

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pen die Initiierung experimenteller Lernprozesse zumindest nahelegte. Ein solches Verständnis würde dann auch bedeuten, dass es in der Hand der Zivilgesellschaft liegt, ob und wann sie mit Risiken und Nichtwissen umgehen will. Die Metapher des Labors impliziert hingegen viel zu deutlich ein Innen und ein Außen und damit ein festgezurrtes Dazugehören oder Ausgeschlossen-Sein, was im Konzept der Realexperimente (Groß et al. 2005) zu vermeiden gesucht und später entsprechend weiterentwickelt wurde (vgl. Groß 2010). Neuere Forschungen unter dem Label „Reallabore“ greifen jedoch fruchtbar die Ideen der Realexperimente auf und haben es sich zum Ziel gemacht, durch eine inter- und transdisziplinäre Zusammensetzung von Forschungsteams und die Einbindung von Praxispartnern sozial relevante Lösungen für die Praxis zu entwickeln. Schneidewind und Scheck (2013) gehen zum Beispiel davon aus, dass das, was sie Reallabore nennen, eine wichtige Rolle für nachhaltige Entwicklung spielen kann, denn viele neue Produkte scheitern trotz ihres hohen Nachhaltigkeitspotentials häufig an mangelnder Nutzerakzeptanz oder entwickeln sich durch unerwartetes Nutzerverhalten in Richtungen, die die erwarteten Einsparungen durch Effizienzverbesserungen zunichte machen (ReboundEffekte). In diesem Rahmen gelangen Städte als Orte von Nachhaltigkeitsprozessen in den Blick der Soziologie. Darüber hinaus wurde in Arbeiten zu experimentellen Gestaltungen vorgeschlagen, ökologische „Aktivitäten“ in die Analyse von Entscheidungen über Gestaltungsprozesse einzubeziehen, um die Unberechenbarkeit der Natur besser verstehen zu können (vgl. Groß 2010). Besonders anschaulich ist hier vielleicht ein Sanierungs- und Renaturierungsprojekt auf Montrose Point im Norden der Stadt Chicago, einer Halbinsel, die etwa einen Kilometer in den Michigansee hineinragt und Teil des Lincoln Park ist. Der Lincoln Park ist ein Grünstreifen, der die gesamte Küste Chicagos von der Innenstadt bis an die Stadtgrenzen im Norden umfasst. In dem von etwa 1996 bis 2008 auf dieser Halbinsel ablaufenden Gestaltungsprozess wurde die Ökologie – als Wissenschaft und als zentraler Lieferant von Informationen über das Ökosystem Montrose – nicht den scheinbar irrationalen Vorstellungen der Bewohner der Nachbarschaft gegenübergestellt, sondern es wurde versucht, diese konsequent in die wissenschaftlich gesteuerte Gestaltungsund Implementierungsarbeit zu integrieren. Durch die so angestoßenen Debatten wurden wissenschaftliche Diskussionen zum Beispiel über das Rastverhalten von Vögeln losgetreten. Für die Gestaltung der Halbinsel lässt sich heute sagen, dass sich die Kooperation zwischen Experten und in Interessensgruppen organisierten Laien trotz aller zähen Verhandlungen bezahlt machte. Verschiedene Gesichtspunkte spielten dabei eine Rolle. Durch die Einbeziehung der Betroffenen, die sie zu Mitgestaltern und Mitforschern werden ließ, erlangte die realexperimentelle

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Vorgehensweise (Planung, Erwartung einer Überraschung, Monitoring, Dokumentation und Möglichkeit der Anpassung des ursprünglichen Plans an neue ökologische und soziale Gegebenheiten), die ja in den Alltag der Bewohner eingriff, eine bessere Legitimationsbasis. Die Experten wurden in den Verhandlungen auch dazu aufgefordert, die Grenzen ihres Wissens offenzulegen. Genau wie auch Experimente im Labor bringen solche Realexperimente Überraschungen mit sich. Wenn Renaturierungsarbeiten jedoch von allen beteiligten Akteuren als inhärent unsicher und von Nichtwissen geprägt verstanden werden, dann können Überraschungen als Chancen betrachtet werden, Neues zu lernen, und müssen nicht mit Fehlschlägen gleichgesetzt werden. Diese Strategie half und hilft bei der Gestaltung von Montrose Point, das Ausmaß von Enttäuschungen bei Überraschungen zu mindern und den Wissensfundus der beteiligten Gruppen auszuschöpfen. Realexperimente können so verstanden als analytisches Instrument genutzt werden, mit dem Überraschungen in abwechselnden Phasen rekursiv angelegter Praktiken abgefedert werden, um sie konstruktiv als Lernmöglichkeit zu nutzen. Wie stellt sich nun diese Art der Analyse von Parkgestaltung in einer Großstadt dar, wenn man sie auf Räume außerhalb der urbanen Zentren anwendet? Am Beispiel der Rückkehr eines Raubtieres in die zivilisierte Welt soll dies nun erläutert werden. Bären, Luchse und Wölfe in heimischen Wäldern sind bei den meisten Landwirten und Forstvereinigungen unbeliebt, auch wenn sich große Teile der Öffentlichkeit eher positiv zur Rückkehr dieser Tiere äußern. In den nationalen Medien wurde der Rückkehr des Wolfs in Teile Sachsens und Brandenburgs in den letzten Jahren besondere Aufmerksamkeit zuteil. Wölfe galten im 18. und 19. Jahrhundert in weiten Teilen Europas als ausgestorben. Erstmals wurde 1998 erneut ein kleines Wolfsrudel in der Lausitz gesichtet (vgl. Stoepel 2004). Im Osten Deutschlands haben sich seitdem einige Wolfsrudel niedergelassen, insbesondere entlang der deutsch-polnischen Grenze. Obwohl sich diese Wölfe nicht in vom Menschen entvölkerten Regionen angesiedelt haben, findet sich in der Lausitz relativ viel Wald und die ehemaligen Militärgebiete bieten gute Lebensbedingungen für Wölfe. Das Beispiel Wolf veranschaulicht jedoch auch die experimentelle Spannung zwischen der Offenheit für Überraschungen („lasst die Wölfe zurückkommen, wenn sie ‚wollen‘“) und der Kontrolle des Unerwarteten. Der Versuch, die Tiere zu kontrollieren, erfolgt, indem viele der „wilden“ Wölfe in der Lausitz mit GPS-Empfängern ausgerüstet werden, damit man sie kontinuierlich verfolgen kann und weiß, wo sie sich „unerwartet“ hinbewegen. Somit wird das unerwartete Verhalten des Wolfes eine verfolgbare, wenn auch nicht immer steuerbare Normalität.

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Wolfgang Bethe, Präsident des Landesjagdverbandes Brandenburg, nannte die Rückkehr des Wolfes eine Bereicherung für die Natur, er betonte jedoch auch, dass Wölfe mit Jägern im Wettbewerb stünden, da Jäger tierschutzgerecht jagen müssen, Wölfe hingegen Beute machen und zwar „egal wie“ (Berliner Morgenpost, 6. Mai 2007). Zu den problematischen Themen der Überwachung der Wolfspopulationen gehört die Entscheidung darüber, wann ein Wolf sich so „schlecht benommen“ hat (sprich: zu viele Tiere auf Bauernhöfen gerissen hat), dass er selbst gejagt werden muss. Oder anders gesagt: An welchem Punkt hat der unberechenbar zurückgekehrte Wolf die „Gastfreundschaft“ der menschlichen Bewohner überstrapaziert?4 Die Versuche, die Unberechenbarkeit des Wolfes auch touristisch zu nutzen, gehen jedoch heute bereits so weit, dass das Kontaktbüro „Wolfregion Lausitz“ in Rietschen (Oberlausitz) aktiv die Öffentlichkeit in den Prozess der Wolfsbeobachtung und in Ansätzen sogar in den der Erforschung dieser Tiere einzubinden versucht. Wanderer und Radfahrer werden dazu eingeladen, auf dem „Wolfsweg“, wie der knapp 45 km lange thematische Rad- und Wanderweg zwischen Nochtem im Westen und Steinbach an der polnischen Grenze heißt, Wolfsspuren zu lesen oder sogar wilde Wölfe zu beobachten. Eine Broschüre des Kontaktbüros lädt dazu ein, Wölfe zu erleben und darüber zu berichten. Die Beteiligung der Öffentlichkeit an diesem Projekt kann als ein Versuch gewertet werden, zu gewährleisten, dass diese zu einer wichtigen Akteursgruppe bei der Etablierung von Wölfen in der Lausitz wird. Anwohner und Touristen sollen also in die Lage versetzt werden, ihre Beobachtungen mit Wissenschaftlern zu teilen, zum Beispiel im wildbiologischen Büro „Lupus“ in Spreewitz. Die Wiederansiedlung von Wölfen in der Lausitz stellt damit einen Fall dar, der sich deutlich von vielen eher museumsartigen Renaturierungsprojekten unterscheidet (vgl. Gobster 2007), da hier die Bürger aktiv einbezogen werden sollen.

4

Derart gelagerte Diskussionen findet man auch in den Niederlanden bei der Neueinführung von Wildpferden und urwüchsigen Rindern (ähnlich den Auerochsen). Siehe hierzu anschaulich die Webseite zum Projekt Wild Experiments unter der Leitung von Clemens Driessen und Jamie Lorimer: http://wildexperiments.com/ (abgerufen am 26.06.2014).

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V ERSUCH MACHT KLUG : N ICHTWISSEN UND EXPERIMENTELLE P RAKTIKEN Die hier vorgestellten Beispiele zeigen, dass es normal scheint, „experimentell“ Entscheidungen zu treffen, obwohl bekannt ist, dass kein vollständiges Wissen vorliegt. Dies könnte auf den ersten Blick als Fahrlässigkeit ausgelegt werden, nicht zuletzt, weil es der modernistischen Sichtweise widerspricht, in der der Mensch als Herr seiner Entscheidungen, seines Schicksals und seiner Umwelt verstanden wird. Die Beispiele hier sollten daher zeigen, dass Nichtwissen von beteiligten Akteuren nicht unbedingt verneint, ausgeklammert oder „klein geredet“ werden muss, sondern offen kommuniziert und bewusst in den Entscheidungsprozess einbezogen werden kann (vgl. auch Kapitel 8). Akteure können also offensichtlich übereinkommen, dass es aktuell nicht sinnvoll oder möglich ist, weiteres Wissen zu erarbeiten, dass das vorhandene Nichtwissen also ausreicht, um verantwortungsvoll zu handeln. Wann und unter welchen Bedingungen sind dann aber experimentelle Praktiken und Entscheidungen trotz Nichtwissen legitim? Auf was für einem kulturellen Vorrat an allgemein zugänglichen Möglichkeiten und „Gebrauchsanweisungen“, mit deren Hilfe man bei klar definiertem Nichtwissen voranschreiten kann, fußen experimentelle Praktiken? Dafür lassen sich vier zentrale kulturelle Faktoren in Altlastensanierungsprojekten erkennen: 1.

2.

3.

Es braucht grundsätzlich die Einsicht, dass das Aufspüren von Ungenauigkeiten, Nichtwissen, aber auch von klaren Fehlern auf eine, um mit James Reason (1997) zu sprechen, „reporting culture“ aufbauen muss, also eine Kultur, in der Akteure bereit sind, Wissenslücken offen zu kommunizieren, und nicht befürchten müssen, dass dies zu Legitimationsverlust führen wird (vgl. Hood 2011). Diesbezüglich ist auch ein Vertrauen der Akteure untereinander nötig. Wenn Zeit- und Geldmangel nicht Grund zum Verzagen sind, sondern dennoch gehandelt wird, dann kann das als „Zutat“ für eine experimentelle Kultur mit unternehmerisch-innovativen Attitüden gewertet werden. In Momenten überraschender Wendungen können bereits kleine Verzögerungen gravierende Auswirkungen haben, so dass zügig Entscheidungen getroffen werden müssen. Die Zeit für die Erarbeitung von neuem Wissen ist einfach nicht immer vorhanden. Wenn man in diesem Kontext von experimentellen Praktiken spricht, geht es immer auch um Wissensgenerierung im Anwendungskontext. Anwendung und Wissensproduktion liegen also zeitlich und räumlich nah beieinander. Greift man in natürliche Prozesse ein, um eine Technologie zu ent-

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4.

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wickeln, kann das zu Überraschungen führen. Diese Überraschungen können nutzbar gemacht und als Anlass für weitere technologisch-wissenschaftliche Entwicklung und auch neue organisatorische Arrangements begriffen werden. Natur kann als Erklärungsressource herangezogen werden, statt Überraschungen auf menschliche Entscheider oder Institutionen zurückzuführen. Das heißt, die Zuschreibung wird auf etwas verschoben, was (noch) nicht bekannt ist.

Auf diese Weise kann eine Sensibilisierung für das Unbekannte stattfinden. Dadurch werden Überraschungen, die den Kurs der Entwicklung und Planung ändern können, nicht grundsätzlich als Fehlschläge kommuniziert, da sie durchaus als außerhalb gesellschaftlicher Entscheidungszusammenhänge und Verantwortlichkeiten liegend angesehen werden können. Dies sollte jedoch nicht als Rückschritt in vormoderne Zeiten gewertet werden, in denen Ereigniszurechnungen außerhalb gesellschaftlicher Entscheidungen gesehen werden durften (z.B. im Schicksal, der Fügung oder dem göttlichen Willen), sondern als zentrales Element einer experimentellen Strategie von Akteuren. Ein solches Element hilft, mit der Komplexität der Situation umzugehen, ohne auf Schuldzuweisungen im Sinne von „das hätten Sie aber wissen müssen“ abstellen zu müssen. Nimmt man insofern das Nichtwissen ernst, verschiebt sich die Zuschreibung von den gesellschaftlichen Entscheidungen auf das Nichtwissen. Dies bedeutet dann auch, dass die Kommunikation von Nichtwissen in eine Entlastungsrhetorik münden kann – im Sinne von „wir konnten es ja nicht wissen“. Der Verweis auf Zusammenhänge, die außerhalb gesellschaftlicher Entscheidungen liegen, bedeutet also nicht automatisch Verantwortungsverweigerung oder Schuldverschiebung ins „Nichts“, sondern zeigt auf einen (noch) nicht erkannten Sachverhalt, der zusammen mit dem Wirken menschlicher Akteure (und deren Entscheidungen) in „experimentellen“ Netzwerken von zentraler Bedeutung sein kann. Die Frage, wie genau festgestellt werden kann, ob eine Akteursgruppe (z.B. ökologische Praktiker, Hydrologen oder ein Ingenieursbüro) genügend in Forschungen und Untersuchungen investiert hat und wann sie plausibel dargelegt hat, dass bestimmte Sachverhalte nicht gewusst werden konnten, und sie sich mit dem Verweis auf erkanntes Nichtwissen ausreichend erklären kann, stellt jedoch auch juristisch eine große Herausforderung dar (Duttge 2010, Hackenberg 1995).5 Wie heikel Nichtwissen als Strategie sein kann, zeigt der

5

Zur Tradition der Forschung zu „verschuldetem Nichtwissen“ (culpable ignorance) in der Philosophie siehe Hacking (1986) und neuerdings wieder Smith (2011).

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Fall des Kaufs des österreichischen Bankkonzerns Hypo Group Alpe Adria (HGAA) durch die Bayerische Landesbank im Dezember 2009. Als sich die HGAA nach dem Kauf als marode herausstellte, gab der Verwaltungsrat der Landesbank an, nicht alles über die finanzielle Situation der Bank gewusst zu haben, weshalb den Rat keine Schuld treffe. Der Vorwurf an den alten Bankchef der HGAA lautete, er habe nur die positiven Informationen über seine Bank herausgerückt, um einen schnellen Verkauf herbeizuführen. Dieser behauptete dann, dass der Vorstand der Bayerischen Landesbank nicht alles habe wissen wollen, um das Geschäft nicht zu gefährden (vgl. Auer 2011). Fälle solcher „Ich wusste weniger als Du“-Strategien finden sich in vielen anderen Bereichen, von der Vergabe von Antidepressiva (McGoey 2010) bis hin zur bewussten Streuung von Nichtwissen in wissenschaftlichen Debatten (Stocking/Holstein 2009). Einfache Lösungen gibt es hierfür nicht. Experimentelle Strategien finden sich daher in erster Linie in Innovationsprojekten und ökologischen Gestaltungsprozessen, bei denen Neuerungen im Zentrum stehen. Hier werden sich daher wohl auch in Zukunft am ehesten Felder für realexperimentelle Aktivitäten entwickeln.

6. Landschaftsdesign als experimenteller Lehrpfad: die Entwicklung postindustrieller Regionen

F ORSCHUNG IM A NWENDUNGSKONTEXT UND DIE A NERKENNUNG VON N ICHTWISSEN Viele Kontroversen über neue Technologien und wissenschaftliche Entwicklungen können als öffentlicher Protest gegen Risiken verstanden werden, die auf die Gesellschaft „abgewälzt“ werden und deren Folgen als sogenannte „dread risks“ (Slovic 1987) eingestuft werden. Dies sind Risiken, die zum einen mit einer geringen Eintrittswahrscheinlichkeit aber potentiell gravierenden Folgen bewertet werden, zum anderen in hohem Maße der Kontrolle und Freiwilligkeit des Einzelnen entzogen sind (vgl. Renn 2014). In diesem Kapitel wird ein Fall diskutiert, der anders gelagert zu sein scheint: Durch öffentlichen Druck fand Forschung im Anwendungskontext statt und es wurden Entscheidungen getroffen, obwohl deutliche Wissenslücken und Unsicherheiten bekannt waren. Bestehende Versorgungsstrukturen, die Funktion der Tagebaue und der alten Industrien sowie damit verbundene Identitätsfragen (von einer Braunkohle- zur Touristenregion) haben sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. Am Beispiel der ökologischen Renaturierung ehemaliger Bergbaulandschaften im Leipziger Südraum wird nachgezeichnet, wie soziale Akzeptanz und wissenschaftliche Glaubwürdigkeit trotz hoher Unsicherheit mit einem experimentellen Rahmen erreicht werden können. Im 6. Rahmenprogramm der Europäischen Kommission (2002-2007) wurde in einem Bericht von Ulrike Felt und Koautoren (2007) unter dem Titel Taking European Knowledge Society Seriously für die europäische Entwicklung ein experimenteller Modus konstatiert. Alfred Nordmann vermerkt hierzu:

108 | E XPERIMENTELLES N ICHTWISSEN „Even an apparently analytic term such as ‚experiment‫ ދ‬serves not only to describe the multiplicity of tentative and open-ended approaches to research policy and identity formation but also to valorize a certain attitude and understanding that might be shared by all Europeans.“ (Nordmann 2009: 280)

Hier besteht ein enger Zusammenhang zu Ansätzen, die davon ausgehen, dass auch die Integration der europäischen Forschungslandschaft durch experimentelle Governance entstehen kann (Szyszczak 2006). Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses kann Europäische Landschaftsentwicklung als offenes Experiment angesehen werden, da Entscheidungsprozesse und Partizipation als Suchprozess wahrgenommen werden. Überraschungen stellen damit eine grundlegende Voraussetzung für effektives Lernen und Experimentieren dar. Obwohl der gesunde Menschenverstand unerwartete Ereignisse als Normalität betrachtet, da nie alles im Vorfeld gewusst werden kann, findet sich in Entscheidungsprozessen die Tendenz – zumindest rhetorisch – alles Unerwartete auszuschließen. Wenn Dinge schiefgehen, kommt es im Normalfall auch zu Schuldzuweisungen (vgl. Lau 2009). Für einen erfolgreichen Umgang mit der Normalität von Pannen sollten daher sowohl die Öffentlichkeit als auch die Wissenschaft Überraschungen offen gegenüberstehen. Ebenso sollte das Potential von Überraschungen als mögliche Quelle von Erkenntnis verstanden werden und nicht die Grundlage für Schuldzuweisungen bilden. Die ist selbstverständlich leichter gesagt als getan. Dass überraschende Effekte in der Landschaftsgestaltung nicht nur wahrscheinlich, sondern unvermeidlich sind und die Konsequenzen solcher Überraschungen durch weitere Forschung nicht verlässlich ermittelt werden können, da sie im Bereich des Nichtwissens liegen, ist zwar in gewisser Weise eine Binsenweisheit, aber um das Nichtwissen erfolgreich einzubeziehen, müssen Akteure häufig „Werkzeuge“ entwickeln, die sich nicht in offiziellen Beschreibungen, Pressemitteilungen und Gesetzestexten finden. Die Gestaltung großflächig veränderter Landschaften muss daher als Praxis konzipiert werden, in der verschiedene Formen der Wissensproduktion, Beobachtung oder Anwendung integriert werden (vgl. Gobster 2012, Groß 2003, Jordan 2006). Entsprechende Netzwerke, bestehend aus einer Vielzahl von Akteuren, umfassen beispielsweise Entscheidungsträger, Stakeholder, Umweltgruppen oder andere Interessengruppen sowie wissenschaftliche Experten. Somit wird eine Forschungsstrategie notwendig, die offen für Veränderungen in den Einstellungen der Akteure ist und besonders auf Kooperation und Verhandlung ausgelegt ist. Sehr häufig sind Ziele, die von Betroffenen verfolgt werden, unvereinbar mit denen von Wissenschaftlern oder In-

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genieuren. Daher werden wissenschaftliche Erkenntnisse und soziale Wertvorstellungen in bestimmten Strategien eng miteinander verbunden. Im Folgenden geht es nun darum zu eruieren, welche Voraussetzungen bei den beteiligten Akteuren gegeben sein müssen, um Projekte mit landschaftsplanerischen Aspekten auf der lokalen Ebene durchzuführen. Im Fokus stehen die Offenheit für Überraschungen, das Wissen über das Unbekannte und der Nutzen experimenteller Prozesse, in denen nicht nur auf Überraschungen reagiert werden kann, sondern die aktiv durch experimentelle Lernprozesse gestaltet werden können, ohne in Beliebigkeit oder unverantwortlichem Ausprobieren zu münden.

F ÖRDERUNG

UND

K ONTROLLE

VON

Ü BERRASCHUNGEN

Am Beginn eines jeden Projektes in der Landschaftsgestaltung oder der Wiederherstellung ökologischer Systeme steht die Beobachtung – so wie im Labor oder beim Realexperiment. Eine Beobachtung in der Welt außerhalb des Labors kann allerdings Probleme mit sich bringen, da gegebenenfalls beobachtende Personen hinzukommen, die im Vorfeld nicht als Experten eingestuft wurden, sich nun jedoch als nicht eingeplante und unabhängige zivilgesellschaftliche Initiativen einbringen können. Peter Wehling (2012) hat hierzu argumentiert, dass verschiedene Formen „uneingeladener“ Beteiligung zivilgesellschaftlicher Gruppen nicht nur wirkungsvoll sein können, sondern demokratisch oft besser zu legitimieren sind als Anhörungsverfahren und „Runde Tische“. Wehling kann dies an den Erfolgen verschiedener Patientenvereinigungen in der Medizin sowie an Umweltund Verbraucherverbänden im Feld der Nanotechnologie verdeutlichen. Bei allen Formen der Beteiligung muss jedoch eine von einer Gruppe getätigte Beobachtung am Anfang stehen, die so lange als normal wahrgenommen wird, wie sie mit den Erwartungen der beobachtenden Akteure im Einklang steht. Projekte zu ökologischen Gestaltungsprozessen bearbeiten jedoch ein komplexes Netz an natürlichen und sozialen Faktoren und es geschieht häufig, dass die Dinge sich nicht so entwickeln, wie anfangs erwartet. So gesehen handelt es sich strenggenommen bei jeder neuen ökologischen oder technologischen Anwendung um ein Unikat, das als Ergebnis eines Experiments begriffen werden kann. Eine Abweichung von einer Erwartung in einem so gelagerten Prozess kann als etwas verstanden werden, was Hannah Arendt in Vita activa oder Vom tätigen Leben (1981) als die besondere Eigenschaft beschreibt, die menschliches Handeln vom reinen Verhalten unterscheidet.

110 | E XPERIMENTELLES N ICHTWISSEN „Es liegt in der Natur eines jeden Anfangs, dass er, von dem Gewesenen und Geschehenen her gesehen, schlechterdings unerwartet und unerrechenbar in die Welt bricht. Die Unvorhersehbarkeit des Ereignisses ist allen Anfängen und allen Ursprüngen inhärent. […] Der Neuanfang steht stets im Widerspruch zu statistisch erfassbaren Wahrscheinlichkeiten, er ist immer das unendlich Unwahrscheinliche; er mutet uns daher, wo wir ihm in lebendiger Erfahrung begegnen – das heißt, in der Erfahrung des Lebens, die vorgeprägt ist von den Prozessabläufen, die ein Neuanfang unterbricht –, immer wie ein Wunder an.“ (Arendt 1981: 216)

Auch wenn Arendt Natur im Sinne eines zyklischen Prozesses verstand und das Wunder menschlichen Handelns als Akt der Befreiung von einer nichtveränderlichen Natur ansah (1981: 116-117), ist die moderne Erwartung, dass die Natur vollkommen verstanden und auch kontrolliert werden kann, in der Gesellschaft weiterhin vorherrschend. Heutzutage ist es jedoch so, dass wissenschaftliche oder ökologische Errungenschaften und Innovationen, die unter künstlich hergestellten und kontrollierten Bedingungen in Laboratorien oder Computersimulationen entwickelt wurden, nicht nur schwer zu kontrollieren sind, sondern immer häufiger Fragen nach ihrer Anwendung und Nützlichkeit in der realen Welt aufwerfen. Die Registrierung von etwas als überraschend ist immer abhängig vom Wissen, Vorwissen und Nichtwissen eines Beobachters. Oder wie Michael Thompson (1986: 452) weiter ausführt: „Of course, an event is not surprising or unsurprising in itself, but only in relation to a particular set of beliefs about how the world is; of course, a surprise is only a surprise if it is noticed by the holder of the beliefs that it contradicts.“ Anders ausgedrückt könnte man sagen, eine Überraschung ist dann überraschend, wenn sie von einer Beobachterin (beispielsweise von einer Soziologin, die Daten für ihre Masterarbeit erhebt) als eine Kommunikation registriert wird, in der die wahrgenommene Realität als qualitativ verschieden von der vorherigen Erwartung beschrieben wird. Wird eine Überraschung von den Akteuren ernst genommen, sind sie gezwungen, ihr vorheriges Wissen in Frage zu stellen. Ein überraschendes Ereignis soll hiermit als ein Geschehnis verstanden werden, das die Aufmerksamkeit auf das eigene Nichtwissen oder das Nichtwissen im Rahmen einer wissenschaftlichen Forschungsfrage lenkt. Eine entsprechende Übereinstimmung darüber, was gewusst wird und was nicht gewusst wird, ist folglich die Voraussetzung, um mit Überraschungen konstruktiv umgehen zu können. Um diese Strategie als „experimentell“ bezeichnen zu können, müssen Beobachter identifiziert werden. Als Beobachter können Individuen, eine Gruppe von Wissenschaftlern oder betroffene Laien verstanden werden. Wiederholte Beobachtungen sind die Voraussetzung dafür, ein Eingreifen oder eine Umset-

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zung überwachen zu können, wodurch sie einem Monitoring-Prozess ähneln, der auch eine Interpretation und eine Dokumentation umfasst. Weiterhin können die Ergebnisse in den nächsten Schritt des Planungsprozesses einfließen und – potentiell – zu neuen Überraschungen führen. Eine solche Rückkopplung führt zu einem besseren Verständnis der Rahmenbedingungen eines Experiments und der kausalen Beziehungen – wobei sich diese nicht nur auf die beobachtbaren Effekte beziehen. Anders als in Strategien des adaptiven Managements ist der experimentelle Ansatz kein rein auf Anpassung basierender Ansatz, da die Akteure sich der Umwelt nicht passiv anpassen, aber auch nicht erfolgreich und umfassend dem Druck der Außenwelt widerstehen. Im vorliegenden Fall interessiert nicht nur die wiederholte Anwendung von Daten, die aus wiederholten Messungen und einem Monitoring entstehen. Obwohl viele Ansätze im „adaptiven Management“ als reaktiv, technozentriert und inkrementell bezeichnet werden können, gibt es trotzdem eine Vielzahl von Beispielen, in denen das Konzept in kommunalen Versuchen des nachhaltigen Ressourcenmanagements und auch in anderen partizipatorischen Prozessen in der Umweltpolitik durchaus experimentelle Züge trägt (siehe Kapitel 1 oder auch Cook et al. 2004, Lockie 2001). Allgemein sollten ökologische Gestaltungsprojekte als Experimente verstanden werden, die dazu genutzt werden, ein besseres Verständnis des Zusammenhangs von öffentlicher Beteiligung und „wissenschaftlicher“ Forschung zu erlangen. Wenn ökologisches Design als Prozess der Integration verschiedener Teile der Gesellschaft und der natürlichen Welt angesehen wird, bei der verschiedene wissenschaftliche und gesellschaftliche Aktivitäten „experimentell“ miteinander verbunden werden und dadurch weitere gesellschaftliche Einflüsse ermöglichen, sollten Strategien gewählt werden, die die Kontrolle und Förderung überraschender Ereignisse in systematischer Form ermöglichen. Dies ist besonders bei der ökologischen Sanierung wichtig, da viele großflächige Landschaftsentwicklungsprojekte in dicht besiedelten Gebieten durchgeführt werden und hier politische wie auch wissenschaftliche Experten häufig gezwungen sind, den impliziten experimentellen Charakter forschungsbasierter Ansätze herunterzuspielen und eine Rhetorik der Sicherheit und des Vertrauens zu verfolgen, damit die öffentliche Akzeptanz nicht schwindet. Im Folgenden wird ein Beispiel experimenteller Strategien vorgestellt, bei dem insbesondere Aspekte der Offenheit für Überraschungen und die Anerkennung von Nichtwissen im Vordergrund stehen. Es handelt sich um den Versuch, ein Tagebaurestloch im Süden Leipzigs in einen attraktiven See zu verwandeln.1

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Diese Fallstudie geht aus verschiedenen Forschungsprojekten am UFZ in Leipzig hervor, die sich mit der Sanierung ehemaliger Bergbaustandorte beschäftigten. Obwohl

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In ganz Europa wurden und werden ehemalige Kohletagebaufelder auf unterschiedliche Art und Weise umgestaltet, aber in den meisten Fällen ist es der primäre Wunsch, die Zielgebiete in naturnahere Gebiete umzuwandeln. Selbstverständlich unterscheiden sich diese Landschaften grundlegend von ihrem Ursprungszustand. Besonders erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang der Südraum Leipzigs, wo eine komplett neue Landschaft entstanden ist und weiter entsteht, das sogenannte „Neuseenland“. Dieses umfasst 16 neue Seen, Naturhabitate sowie Hügel und Freizeitgebiete für lokalen Öko-Tourismus. Wie kam es dazu? Das Ende nicht mehr wirtschaftlich genug erscheinender Formen der Rohstoffgewinnung kann grundlegende strukturelle Veränderungen für ganze Regionen bedeuten. Zu beobachten war und ist dies in den Regionen des Braunkohletagebaus auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Nach 1990 fand hier ein radikaler Umbruch statt, in dem viele Gruben stillgelegt wurden und ein Großteil der Tagebauindustrie (einschließlich Brikettfabriken, Kraftwerke, Kokereien etc.) geschlossen wurde. Seitdem werden viele alte Tagebaugebiete neu gestaltet, oft mit dem Ziel, sie in einen „naturnäheren“ Zustand zu bringen, aber auch, um sie für den Tourismus nutzbar zu machen (vgl. Digby 2010). Besonders eindrucksvoll sind hier die ehemaligen Tagebaue südlich der Stadt Leipzig, in denen bis ins Jahr 1989 über 60 Millionen der in der DDR gewonnenen 300 Millionen Tonnen Kohle pro Jahr abgebaut wurden. In den Jahren nach 1990 wurden hier die meisten Tagebaue geschlossen. Heute ist daraus eine komplett neue Landschaft entstanden und weiterhin am Entstehen. In den frühen 1990er Jahren stellte die Situation in den Bergbaufolgelandschaften eine einzigartige Gelegenheit für die Bewohner dar, den ökologischen und strukturellen Wandel durch kreative Landschaftsgestaltung zu beschleunigen (vgl. Kabisch/Linke 2000, Linke/Schiffer 2002). Von den Seen, die direkt an der südlichen Stadtgrenze von Leipzig liegen, war es der Cospudener See als erster See des Neuseenlandes fertig geflutet war. In den ersten Jahren nach der Beendigung der Bergbautätigkeit füllte er sich durch den steigenden Grundwasserspiegel. Während des aktiven Bergbaus war der Grundwasserspiegel um 80 m abgesenkt worden. Nach 1990 kam das Wasser also „natürlich“ wieder zurück. Die Herausforderungen in den frühen 1990er Jahren, die mit dem ansteigenden

sich das hier vorliegende Kapitel auf andere Themen bezieht, kann der übergreifende Handlungsstrang auch in Groß (2010, Kapitel 6) nachgelesen werden. Dort finden sich Analysen weiterer Aspekte des Planungs- und Gestaltungsprozesses.

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Grundwasser zusammenhingen, waren die Versauerung des Wassers, die Mobilisierung von Schwermetallen und die Gefährdung der Hangstabilität.2 Die Flutung durch das natürlich ansteigende Grundwasser allein ist ein langsamer Prozess. Folglich wurden Möglichkeiten erkundet, wie der Flutungsprozess beschleunigt werden könnte, denn eine Flutung allein mit natürlichem Grundwasser hätte bei einem solchen Tagebaurestloch über 30 Jahre gedauert. Investoren, Stadtplaner und betroffene Bürgergruppen entschieden nun, dass die natürliche Flutung durch die Einleitung von Grundwasser aus den benachbarten, damals noch aktiven Tagebauen in Profen und Zwenkau unterstützt werden sollte.3 Zu diesem Zeitpunkt erwartete man, dass der Wasserstand um 3 cm pro Tag steigen würde (vgl. Strauch/Glässler 1998), aber letzten Endes wusste dies niemand genau, und während die Verfügbarkeit von Flutungswasser durch das ausgepumpte Sümpfungswasser der noch aktiven Tagebaue in der Region gesichert schien, stellten der mögliche Eintrag von Schwermetallen und die erst im Kontext der Anwendung entwickelten Implementierungstechnologien für die Hangstabilität große Fragezeichen dar (vgl. Berkner 2004). Zu den Technologien, die hier mitentwickelt wurden, gehören zum Beispiel neue Verfahren der Fallplatten- und Sprengverdichtung. Insbesondere letztgenannte Technologie, bei der Sprengungen im Gefüge wassergesättigten Lockergesteins zu einer dichteren Lagerung der Partikel und der Verdrängung von Wasser aus den Gesteinsporen führen, hat sich mittlerweile zu einer Standardmethode entwickelt, die in Tagebausanierungsprojekten weltweit angewendet wird. In den frühen 1990er Jahren steckte sie jedoch noch in den Kinderschuhen. Schlussendlich lässt sich sagen, dass viele Dinge einfach in situ ausprobiert wurden – und werden mussten, denn es gab kein Vorbild für das, was nach 1990 an Landschaftssanierungen anstand. Von Resilienz im oben eingeführten Sinne der Stärkung der Widerstandsfähigkeit des bestehenden Systems gegenüber äußeren Einflüssen findet sich hier keine Spur – zum Glück. Ein Vertreter der Regionalen Planungsstelle Westsachsen beschreibt die Situation im Rückblick wie folgt:

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Zum weltweiten Problem der Versauerung bei der Renaturierung und Gestaltung von Bergbaufolgeseen siehe Geller et al. (2013). Der Tagebau in Zwenkau wurde 1999 geschlossen, der Tagebau in Profen wird noch bis 2035 aktiv betrieben. 2004 wurden 8,5 Millionen Tonnen Braunkohle in den noch aktiven Tagebauen im Süden Leipzigs abgebaut. Das ist zwar im Vergleich zum Abbau vor 1990 eine unbedeutende Menge, aber dennoch mehr als in allen anderen Regionen Deutschlands.

114 | E XPERIMENTELLES N ICHTWISSEN „Es gibt für die Dinge, die wir hier an Landschaftssanierung machen, keine Blaupause dahingehend, dass wir sagen können, es gibt irgendwo ein Patentrezept, das ist vorhanden und im Wesentlichen brauchen wir es bloß so zu machen, ein bisschen anpassen und dann funktioniert das. Das heißt also, wenn ich jetzt mal zurückblende: Wir standen im Grunde genommen 1990 da in einer Situation, wo wir wussten, die Mehrzahl der Tagebaue würde kurzfristig stillgelegt werden. Es gab keine Konzepte, was in diesem Rahmen passieren würde. Also ging es zunächst mal darum, überhaupt zeitnah Vorstellungen zu entwickeln, wo man mit der Wiedernutzbarmachung hin will.“ (Interview Februar 2006)

Es war also eindeutig nötig, jenseits des bisher Dagewesenen zu planen und sich nicht auf bestehende Strukturen und Funktionen zu verlassen, da diese (z.B. der Tagebau und damit verbundene Arbeitgeber) nicht mehr da waren. Es ging darum, durch gezielte Eingriffe neue Grundlagen und Strukturen zu schaffen, und nicht um Anpassungsleistungen (adaptive management) oder Fragen der Resilienz im Sinne von Störungsrobustheit. Diese Praxis des „realexperimentellen“ Ausprobierens hat geholfen, mit Nichtwissen zu planen und mit Überraschungen umzugehen. Das Beispiel zeigt dabei erneut, dass erfolgreiche realexperimentelle Strategien (öffentliche) Verständigungen darüber einschließen müssen, ob und wie sich involvierte Akteure auf ein Realexperiment einlassen wollen. In einem experimentellen Design können dann zumindest die Probleme und Voraussetzungen, aber auch das unumgängliche Nichtwissen zur Erreichung einer gesellschaftlich akzeptablen Lösung transparent gemacht werden. Selbstverständlich akkumulieren sich die Probleme in der Aushandlung und Neuverhandlung des experimentellen Designs, aber genau das ist der richtige Ort für sie, und der hier diskutierte Fall zeigt, dass ihre Integration und ihre Bewältigung in überraschungsoffenen Lernprozessen die Entwicklung erfolgreicher Gestaltungsstrategien unterstützten. Die Situation in der Bergbaufolgelandschaft stellte in den frühen 1990er Jahren eine einmalige Gelegenheit dar, ökologische und strukturelle Veränderungen durch kreativen Landschaftsbau zu gestalten. Nachdem Vorschläge und Modelle von verschiedenen Landschaftsplanern und Architekten bewertet worden waren, folgten Bürgeranhörungen und es entstand ein erster übergreifender Rahmen für das „Neuseenland“, der 1991 von der Regionalen Planungsstelle Westsachsen vorgestellt wurde. Dieser allgemeine Rahmenplan wurde in spezifische individuelle Pläne aufgeteilt und es folgten die Erteilung von Lizenzen und Stadtratsbeschlüsse, die darauf abzielten, neue Investoren anzulocken. Gleichzeitig fielen alle Entwicklungen und technischen Umsetzungen unter das Deutsche Bergbaugesetz, das nicht nur den Abbau natürlicher Ressourcen regelt, sondern auch mögliche Renaturierungen und die Nutzung von Bergbaufolgelandschaften und

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Tagebaurestlöchern (vgl. Kremer/Neuhaus 2001). Da es sich bei der Richtlinie für das Betriebsplanverfahren im deutschen Bergbaurecht um keine behördliche Verordnung handelt, sind die Verantwortlichkeiten anderer Behörden nicht betroffen (Züscher 1998: 43), so dass die beteiligten Akteure vergleichsweise frei in der Planung sind und sich ihre Zeitpläne und die Organisation der Arbeit selbst einteilen können. Die ursprünglichen Pläne von 1991 mussten regelmäßig an soziale und auch natürliche Bedingungen angepasst werden. Von den vier Seen des „Neuseenlandes“, die sich am südlichen Rand der Stadt Leipzig erstrecken, war der Cospudener See (Wasseroberfläche: 430 ha) der erste, der im Sommer 2000 komplett geflutet war. Der Markkleeberger See (Wasseroberfläche: 260 ha) folgte im Jahr 2006 und der endgültige Wasserstand des Störmthaler Sees (Wasseroberfläche: 740 ha) wurde im Jahr 2013 erreicht. Im Frühling 2014 wurde dieser See als Badegewässer freigegeben. Damit fehlt noch der Zwenkauer See (Wasseroberfläche: ca. 920 ha). Das seit 2008 fast jährlich verschobene Flutungsende soll nun voraussichtlich 2015 erreicht werden. Südlich von diesem Gebiet befinden sich zwölf weitere Seen, die bereits entstanden sind oder sich im Prozess des Entstehens befinden. Der zuerst fertiggestellte Cospudener See wurde nach einem Dorf benannt, das 1978-1979 umgesiedelt worden war, um dem vorrückenden Braunkohletagebau Platz zu machen. Heute existieren am Süd- und Westufer des Sees Naturhabitate. Am nordöstlichen und am nördlichen Ufer, nah an der Stadt Leipzig, wurden Freizeit- und Vergnügungseinrichtungen geschaffen. Im südöstlichen Teil befindet sich im Markkleeberger Stadtteil Zöbigker ein Hafen, der sich zu einem beliebten Wassersportzentrum der Region entwickelt hat. Mehr als 500.000 Besucher verzeichnet das Naherholungsgebiet um den See pro Jahr. Mehr noch, die Betreiber des Cospudener Sees rühmen sich selbst damit, dass der See eine der besten Wasserqualitäten aller deutschen Seen aufweist. Offiziell wird sie als „sehr gut“ verzeichnet, basierend auf der EG-Badegewässerrichtlinie. Obwohl der See als nährstoffarm deklariert wurde (Leipziger Volkszeitung, 25. Januar 2008), loben lokale Angler häufig die Fische des Sees, speziell Barsch, Forelle und Rotfeder. Lokale Restaurants haben diese Fische auf der Speisekarte. Dass der See so früh – und vom Standpunkt der touristischen Unternehmen und technischen Umsetzung erfolgreich – geflutet werden konnte, war das Ergebnis mehrerer Zyklen der experimentellen Praxis, in denen naturwissenschaftliche Arbeit und soziale Ziele in experimenteller Weise integriert wurden. Dieses Vorgehen half, mit Überraschungen umzugehen und mit spezifischem Nichtwissen zu rechnen. Hierzu gehörten schwere Bodenkontaminationen, die durch die giftigen Emissionen der nun geschlossenen kohle-chemischen Anlagen und Bri-

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kettfabriken hervorgerufen wurden: Wenn das Grundwasser steigt und sogar wenn benachbarte Gruben geflutet werden, können die umliegenden Gebiete durch den Grundwasserkreislauf hiervon betroffen werden. Wie zu erwarten veränderte sich der Säuregehalt des Wassers bemerkenswert, allerdings in deutlich variierenden Graden. 1993 wurden überraschend unterschiedliche Säuregrade verzeichnet, wie der Bergbauseenforscher Martin Schultze bestätigte (persönliche Kommunikation Januar 2008, vgl. Schreck 1998: 71). Ausgehend von dieser Beobachtung und dem verfügbaren Wissen wurde deutlich, dass eine Flutung des Cospudener Sees beschleunigt werden musste, um weitere Versauerungsprozesse zu vermeiden. Laut dem ursprünglichen Plan und Schätzungen aus dem Jahr 1991 sollte die Flutung zwischen 2005 und 2015 abgeschlossen sein. Anfang 1992, nachdem die letzten Bergbauaktivitäten beendet worden waren, füllte sich die Grube nicht nur mit Grundwasser, sondern auch mit Sickerwasser aus den Hängen. Ausgehend vom bestehenden Wissen der Zeit und dem Wissen, dass aus den wenigen vorhergegangenen Flutungen von Tagebaurestlöchern in anderen Gebieten vorlag, wurde 1997, als die beschleunigte Flutung begann, eine neue Schätzung vorgenommen, nach der damit zu rechnen war, dass der Cospudener See seinen vorgesehenen Wasserspiegel von 109 Metern etwa im Jahr 2001 erreichen würde. Doch niemand konnte dies mit Sicherheit sagen. Allerdings setzten der ursprüngliche Plan ebenso wie die Versuche, Finanzierungsquellen ausfindig zu machen, voraus, dass sich externe Bedingungen ändern würden und dass eine Anpassung an diese stattfinden würde.4 Ein wichtiger externer Einflussfaktor war die Nominierung des Sees als Projekt, das für die Weltausstellung EXPO 2000 in Deutschland gestaltet werden sollte.5 Planmäßig sollte die Flutung im Jahr 2000 abgeschlossen werden, pünktlich genug, um zur EXPO im Sommer 2000 Medien sowie Touristen zu diesem großen Revitalisierungsprojekt einladen zu können.

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Dies ist zumindest das, was alle involvierten Stakeholder, die zwischen 2005 und 2008 von mir interviewt wurden, retrospektiv berichten. Das Projekt passte gut zu dieser Veranstaltung, da, anders als bei vorhergegangenen Ausstellungen, die sich stärker auf die Präsentation technologischer Fortschritte konzentriert hatten, bei der EXPO 2000 Lösungen für aktuelle Herausforderungen in der natürlichen Umwelt und angrenzenden Bereichen im Fokus standen. Der Titel der EXPO lautete: „Mensch-Natur-Technik: Eine neue Welt entsteht.“

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Ü BERRASCHUNGEN

Etwas kann als Nichtwissen bezeichnet werden, wenn überraschende Ereignisse Akteure dazu drängen, nach unberücksichtigten oder im Vorfeld unverstandenen Prozessen zu suchen. Nichtwissen im Sinne der Anerkennung der Wissensgrenzen kann empirisch durch die Analyse von Dokumenten und Interviewsequenzen nachgewiesen werden, nämlich wenn in einer rekonstruierten Handlungskette eines Akteurs zum Ausdruck gebracht wird, dass eine Handlungsentscheidung „überraschend“ war und trotz Wissenslücken, Unsicherheit oder finanziellem Druck getroffen wurde. Dies unterscheidet sich von Risikobereitschaft, da das Risiko eines bestimmten Ereignisses bekannt ist sowie auch die Wahrscheinlichkeit seines Eintritts und somit die „Gefahr“ quantifiziert werden kann. Eine Nicht-Entscheidung ist unmöglich, da auch Untätigkeit eine Entscheidung voraussetzt. Rechtliche Verpflichtungen, die eine Renaturierung betreffen, machen es aber häufig schwierig, wenn nicht gar unmöglich, Behörden oder Bergbauunternehmen zum Handeln unter Unsicherheit zu bewegen. Unternehmen fordern in diesem Fall von den Behörden, dass diese ihnen gestatten, Renaturierungsbestrebungen einzustellen. Die Behörden wollen diesen Verzicht allerdings nicht erlauben, wenn das Risiko besteht, dass sie selber wesentliche Verpflichtungen übernehmen müssen. Die öffentliche Erwartung und Hoffnung auf zukünftige Ressourcennutzung erhöht die Nervosität, besonders wenn der öffentliche Zutritt zu potentiell gefährlichen Flächen erwartet wird. Warum war es im hier diskutierten Fall anders? Die Antwort ist nicht so einfach und eindeutig. Allerdings kann davon ausgegangen werden, dass die Entscheidung trotz Wissenslücken hier einfacher war, da das gesamte Gebiet unter das deutsche Bergbaurecht fiel. Daher lag die Verantwortlichkeit für mögliche Fehler und den Umgang mit ihnen in den Händen der früheren Bergbaugesellschaften, womit hier die Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft mbH (LMVB) gemeint ist, die der Nachfolger der Privatisierungsbehörde „Treuhand“ ist. Letztere wurde vom deutschen Finanzministerium 1990 eingesetzt. Dennoch musste mit dem Wissen, dass die zukünftigen Konsequenzen mit den Entscheidungsträgern in Verbindung gebracht werden würden, eine Entscheidung getroffen werden. In diesem Sinne beschreibt ein Vertreter der Regionalen Planungsstelle Westsachsen die Situation, in der eine Entscheidung trotz Nichtwissen getroffen wurde, folgendermaßen: „Die Flutung des Cospudener Sees ist begonnen worden zu einem Zeitpunkt, als wir über die limnologischen Verhältnisse relativ wenig wussten. Da wussten wir was über Versauerung im Wasserkörper und so weiter, ist alles klar, aber über die Grundwassersituation in Kippen und so weiter war das Wissen vergleichsweise gering.“ (Interview Februar 2006)

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Anders ausgedrückt: Man begann zu handeln, obwohl man genau wusste, was nicht gewusst wurde. In einem Interview bestätigte ein weiterer Leiter des Planungsbüros: „Das mag sich seltsam anhören, aber es war die einzige realistische Möglichkeit, die wir hatten […] Damals mussten wir davon ausgehen, dass Dinge falsch laufen können. Aber das kann als Chance angesehen werden.“ Wieder ein anderer meinte: „Es gab keine Alternative dazu […] man muss bei Entscheidungen in der Sache einfach auch mal in Kauf nehmen, dass man sich mal irrt“ (Interviews Februar 2006). In diesem Tenor beschreiben auch viele andere damalige Akteure die Jahre bis 1997/98 als eine Zeit des Experimentierens und der Neuerung, einfach weil Dinge damals nicht besser bekannt waren und daher verschiedene Möglichkeiten ausprobiert wurden. Was bekannt war, waren die Probleme, die sich durch Flutungen einstellten, wie beispielsweise Versauerung oder ein Anstieg des Grundwassers (vgl. Schreck 1998). Die Hauptakteure von 1992 waren der Regierungspräsident, die Stadt Leipzig, die Regionale Planungsstelle Westsachsen, die Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft (LMBV) sowie verschiedene Vertreter der Kommunen und lokale Investoren, insbesondere Geschäftsleute und Investoren aus dem Bereich Freizeit und Tourismus. Die einzige Lösung war es, möglichst schnell möglichst viele Stakeholder gemeinsam an einen Tisch zu bekommen, um abzuschätzen, wie die Dinge laufen könnten und dann die wichtige Frage zu stellen: Wollen wir es jetzt versuchen, trotz der vielen offensichtlichen Unsicherheiten? Das wurde getan. Doch warum es so war, ist noch immer nicht abschließend beantwortet. In vielen anderen Fällen sind die Erwartungen von Überraschungen und die Anerkennung von Nichtwissen so hoch, dass Lähmung das Resultat ist. Neben der Einzigartigkeit des deutschen Bergbaurechts soll hier noch eine andere Erklärung vorgeschlagen werden. Jean-Claude Garcia-Zamor (2004) weist in seiner Studie zur Bürokratie in der ehemaligen DDR auf einen speziellen Typ des „DDR-Pragmatismus“ hin, der in den 1990er Jahren in Ostdeutschland noch in vielen Entscheidungsprozessen verbreitet war. Hier wird herausgestellt, dass vor 1990 „each individual case was decided in a discretionary way. If a decision turned out to be a mistake, it was possible to correct it, regardless of what the rule (the abstract norm) demanded“ (2004: 15). Diese Einstellung und die damit verbundene Praxis, die laut Garcia-Zamor in den 1990er Jahren noch vorherrschend zu finden waren, waren auf lange Sicht gesehen jedoch nicht vereinbar mit den Standards der bundesdeutschen Rechtsgrundsätze. Allerdings könnten sie sehr gut Teil der Erklärung für die Einstellung sein, die innovative Experimente innerhalb des deutschen Bergbaurechts erlaubte und eben auch die Offenheit für überraschende Effekte und das beobachtete experimentelle Lernen umfasste.

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Handeln trotz Nichtwissen erschien somit als normal und als ein pragmatischer Weg, um voranzukommen. Es wurde erkannt, dass man die Fließmenge für die Flutung des Sees beschleunigen kann, wenn Sümpfungswasser aus den benachbarten Minen genutzt wird, was zu der Erwartung führte, dass die Flutung tatsächlich im Frühsommer 2000 abgeschlossen sein würde. Daher wurde geplant, den See rechtzeitig zur EXPO abzuschließen. Im Jahr 1998 mussten Entscheidungen allerdings noch immer auf der Basis von erkanntem Nichtwissen getroffen werden. Die Schnellflutung über die Rohre des Tagebaus Zwenkau erfolgte mit der Zustimmung der Stakeholder, obwohl bekannt war, dass unerwartete Ereignisse wahrscheinlich waren. Dieser Typ von Nichtwissen unterscheidet sich grundlegend von einem Nichtwissen, bei dem eine Überraschung auf eine Situation hindeutet, in der die Wahrscheinlichkeit der Konsequenzen nicht bekannt ist, und bei dem diese Überraschung jede Erwartung übersteigt – das, was Peter Wehling (2006) „nicht erkanntes Nichtwissen“ genannt hatte und was im englischsprachigen Raum oft mit „unknown unknowns“ (Kerwin 1993) umschrieben wird. Dieses Nichtwissen unterscheidet sich ebenfalls von einem allgemeinen Wissen über die Grenzen des Wissens in einem bestimmten Bereich. Es ist eher so, als hätten die beteiligten Akteure der Seegestaltung sich darüber geeinigt, was nicht gewusst wurde, und dieses Wissen für die zukünftige Planung berücksichtigt. Das heißt, sie haben sich entschieden, trotz eines klar abgegrenzten Nichtwissens zu handeln. Für einige der beteiligten Akteure war die überraschende, durch die Werbung für die EXPO-Projekte unterstützte Möglichkeit, dass die Flutung früher als angenommen abgeschlossen werden könnte, sehr willkommen, für andere war diese Möglichkeit weniger wünschenswert. Die Aussicht wurde von denjenigen begrüßt, die sich im Bereich Tourismus eine Existenz aufbauen wollten und hofften, dass sie ihre Läden bereits eine Saison früher würden öffnen können. Sie war weniger beliebt bei vielen Ingenieuren und Unternehmen, die die Seeufer, die Hänge, den Untergrund und die Deiche errichteten, da sie ihre Arbeit stark beschleunigen mussten. Gewöhnlich ist eine schnelle Flutung aus Sicherheitsaspekten, die die Steilhänge und die Böschung betreffen, sinnvoll. Im Falle einer langsamen Flutung müssten die Steilhänge anders gebaut und gesichert werden. Eine schnelle Flutung hat nicht nur einen positiven Effekt auf die Stabilität der Böschung, sondern auch auf die Qualität des Wassers (vgl. Berkner 2001: 53). Im Großen und Ganzen wurde entschieden, das Wasser nicht zu stoppen, so dass die technische Umsetzung aufgrund neuen Nichtwissens stattfinden musste, da die neue Situation neue Wissenslücken eröffnete – diesmal Wissen über die Grenzen des Wissens darüber, wie sich die „beschleunigte Schnell-Flutung“ auf die Stabilität der Bö-

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schung auswirken würde. Die Geschwindigkeit der Flutung zwang die Ingenieure und Wissenschaftler, zu lernen und ihr Wissen darüber zu erweitern, was nicht gewusst wurde. Als Konsequenz dieser extremen Form der Flutung wurden neue Technologien für die Wiedernutzbarmachung verwüsteter Landschaften entwickelt, die jetzt als Wegbereiter für ähnliche Fälle von Landschaftsgestaltung in ehemaligen Tagebaugebieten in Osteuropa und Südamerika angesehen werden (vgl. Berkner 2004: 220). Außerdem wurden durch den Druck, der sich durch die sich verändernden sozialen Bedingungen wie die EXPO ergab, neues Wissen und Expertise entwickelt, die für die Wissenschaft wertvoll sind. Andersherum führt neues und erweitertes Wissen immer auch zu weiterem Nichtwissen. Im Großen und Ganzen handelt es sich bei einer Flutung um einen Prozess, der nicht leicht planbar ist. Wenn die beteiligten Akteure handeln möchten, müssen sie sich darauf verständigen, auch unter Nichtwissen zu handeln. Ein trockenes Jahr oder eine sehr feuchte Saison können als Randbedingung Einfluss auf eine Flutung haben und dazu führen, dass sie frühzeitig abgeschlossen wird oder sich nach hinten verschiebt. Solche Unsicherheiten gelten auch für die anderen, noch im Entstehen befindlichen Seen.

E XPERIMENT UND W ISSENSCHAFT IN DER Ö FFENTLICHKEIT Der Begriff „Robustheit“ taucht in vielen verschiedenen Disziplinen auf – beispielsweise in der Ingenieurswissenschaft, der Computerwissenschaft oder der Verfahrensforschung – und weist dabei unterschiedliche Bedeutungen auf, die sich teilweise sogar widersprechen. Im vieldiskutierten Buch Wissenschaft neu denken (Nowotny et al. 2004) wird der Begriff der Robustheit prominent eingeführt, indem die Frage gestellt wird, wie Wissenschaft so in die Gesellschaft eingebettet werden kann, dass eine „sozial robuste“ Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse oder Entwicklungen gewährleistet werden kann. Im Hinblick auf die soziale Einbettung der Wissenschaft im 21. Jahrhundert schreiben Helga Nowotny und ihre Kollegen: „Kontextualisierung wandert in die private Welt der Wissenschaft ein und dringt bis zu ihren epistemologischen Wurzeln und ihrer alltäglichen Praxis vor, weil sie die Bedingungen beeinflusst, unter denen ‚Objektivität‘ entsteht und deren Zuverlässigkeit geprüft wird.“ (Nowotny et al. 2004: 54)

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Sie schlussfolgern, dass das Eindringen der Gesellschaft in die Wissenschaft dazu geführt habe, dass der „epistemologische Kern“ der Wissenschaft heutzutage leer ist (2004: 225). Und weiter: „Dieser nicht reduzierbare Kern kognitiver Werte und sozialer Praktiken […] durch die sich früher einmal gute von schlechter Wissenschaft unterscheiden ließ (wenn nicht sogar Wahrheit von Unwahrheit), ist mittlerweile einerseits von Kräften durchdrungen, die einst ‚nichtwissenschaftlich‘ genannt wurden, und andererseits auf eine immer größere Zahl von heterogenen Wissensumwelten verstreut oder verteilt. Doch dieses Ergebnis, die Durchdringung und Zerstreuung des epistemologischen Kerns, verdankt sich gerade dem ‚Erfolg‘ der Wissenschaft.“ (Nowotny et al. 2004: 225)

Diese Veränderung hat zur Folge, will man Nowotny et al. folgen, dass Wissenschaft nun das klassische Ideal der verlässlichen und wahren Produktion von Wissen hinter sich lassen und in einen Modus eintreten muss, in dem sozial robustes Wissen produziert werden kann. Wird diese Sicht auf verschiedene Felder der Landschaftsgestaltung angewendet, dann wird die Unterscheidung zwischen robusten sozialen Prozessen und verlässlicher, wahrer Wissenschaft unscharf. Allerdings ist unklar, ob die soziale Robustheit und das dazugehörige Wissen lokal und damit ortsgebunden sind und es sich somit lediglich um eine Forderung nach mehr kontextabhängigem Wissen handelt. Oder wird durch sozial robustes Wissen eine epistemische Veränderung bei der Produktion von ökologischem Wissen konstatiert – wie es zumindest die Rede von der Entleerung des epistemologischen Kerns impliziert? Wie auch immer man zur Analyse von Nowotny et al. stehen mag, auf soziale Systeme übertragen würde dies bedeuten, dass eine robuste Strategie als ein Prozess charakterisiert werden kann, in dem eine übergreifende Verbindung von Forschung und Umsetzung beibehalten wird, obwohl es im Verlauf zu Rückschlägen, Veränderungen und Anpassungen aufgrund von Veränderungen der Ausgangsbedingungen (z.B. bestehenden Wissens) kommt. Durch den Ansatz, Landschaftsgestaltung als Experiment zu betrachten, anstatt ökonomische Anreize, Sicherheit und wissenschaftliche Gewissheit in den Vordergrund zu stellen, verschiebt sich der Entwicklungsfokus weg von der Arbeitslosenrate einer Region oder dem potentiellen Profit, den Investoren erreichen können, hin zur Fähigkeit der Akteure und beteiligten Stakeholder, Fehler zu akzeptieren und diese als Chancen wahrzunehmen, die zum Beispiel dazu führen können, dass verschiedene Versauerungsprozesse im Wasser entdeckt werden. So kann die durch einen experimentellen Ansatz gewährleistete Offenheit für Überraschungen, wie oben dargestellt, zu neuem Lernen führen. Die da-

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mit verbundenen Strategien können anhand zweier Dimensionen verortet werden: Offenheit für Überraschungen und Wissen über das, was nicht gewusst wird – also Nichtwissen. Nimmt man das geschilderte Beispiel als Prüfstein, kann vorgeschlagen werden, dass bei einem hohen Grad an Offenheit und der Anerkennung von Nichtwissen der Erfolg eines experimentellen Prozesses sowohl im sozialen als auch im wissenschaftlichen Sinne steigt. Ein Indikator für soziale Robustheit im oben diskutierten Fall ist, dass Anwohner Läden für Wind-Surfing-Zubehör und Ähnliches eröffnet haben und sich auf die Freizeitangebote und den Tourismus verlassen, die durch die Entstehung des Leipziger Seenlandes bereits entstanden sind und noch erwartet werden. Gleichzeitig entstanden durch den Druck auf Wissenschaftler und Ingenieure, mit der Flutung fortzufahren, neue Forschungsergebnisse, die im Bereich der Entwicklung von Wassermanagement in Osteuropa und Südamerika angewendet werden konnten. Wenn die Akzeptanz von Überraschungen und die Anerkennung von Wissenslücken niedrig sind und die beteiligten Akteure davon ausgehen, dass genügend Wissen vorhanden ist, um zu handeln, wird eine Top-Down-Strategie für die Planung angewendet (keine Offenheit für Überraschungen) und damit verlieren die betroffenen ökologischen Gestaltungsprojekten bzw. Teile von ihnen ihre soziale Robustheit. Im Gegensatz dazu haben Projekte, die über wenig oder gar kein anerkanntes Nichtwissen verfügen, dafür aber offen für Überraschungen sind, das Potential, erfolgreich zu werden, da hier neue Wege ausprobiert werden und der Wert des Lernens aus Fehlern anerkannt wird.

E XPERIMENTELLES V ORGEHEN

ODER

R ESILIENZ ?

Besonders in großflächigen ökologischen Gestaltungsprojekten, in denen die Grenzen zwischen Forschung und Umsetzung als in beide Richtungen durchlässig erscheinen, kann ein experimentelles Vorgehen als gangbarer Weg angesehen werden. Im Fall des Cospudener Sees bestand in den frühen 1990er Jahren eine Offenheit für neue Herausforderungen, auch wenn nur wenig bekanntes Nichtwissen vorhanden war. Für die Situation in den 2000er Jahren kann ein Vertreter der regionalen Planungsbehörde sich seinen Unmut nicht ganz verkneifen: „Aus meiner Sicht überwiegt [heute] eine Risikobetonung gegenüber einer chancenbezogenen Betrachtung bei Weitem. Das ist ganz normal, also ich sag mal, dort haben sich dadurch in erster Linie Planungsbüros aller Couleur produziert und das Schema ist immer das gleiche. Man erkennt ein Problem, das auch tatsächlich ein solches ist, und will letzten Endes Geld verdienen, was legitim ist. Also braucht man einen Auftrag. So, und den

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kriegt man am ehesten, indem man also das Problem thematisiert und sagt, da besteht Untersuchungsbedarf. Das ist auch alles berechtigt und es wird auch nichts verdrängt an Problemen. Es darf aber nicht dazu führen, dass vor lauter Problemdenken […] das Erkennen von Chancen in der Weise verdrängt wird.“ (Interview Mai 2006).

So betrachtet wurde also der offene Ansatz der 1990er Jahre im Laufe des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts aufgegeben, basierend auf der falschen Annahme, dass nun genügend Wissen vorhanden sei bzw. dass man erst zum Handeln kommen könne, wenn man über genügend „sicheres“ Wissen oder zumindest Problemwissen verfüge. Dies führte zu einer sinkenden Bereitschaft, Überraschungen konstruktiv zu verarbeiten, um sie experimentell weiterzutreiben. Forschung im Anwendungskontext, wie sie sich am hier dargestellten Beispiel zeigt, erzwingt jedoch die Offenlegung von heterogenen Daten, Unsicherheiten und Uneinigkeiten zwischen verschiedenen Wissensbeständen und muss gleichzeitig Verantwortung für theoretische Ansätze übernehmen. Eine wichtige Aufgabe in ökologischen Landschaftsdesignprozessen ist es, klarzustellen, dass die involvierten Akteure darüber verhandeln müssen, wie und wann sie mit einem Experiment fortfahren möchten. Natürlich kann es passieren, dass sich in der Gestaltung und weiteren Verhandlung des Designs Probleme anstauen, aber genau hier gehören diese Probleme hin: in den experimentellen Prozess beim Umgang mit Nichtwissen. Folglich muss soziale Verträglichkeit immer mit epistemischer Verlässlichkeit einhergehen. Weiterhin müssen die beteiligten Akteure sich immer dessen bewusst sein, das sie es nicht mit statischen Systemen zu tun haben, sondern mit den Zielen von Personen, mit Werten, Hoffnungen oder sich verändernden Interessengruppen, die sich im Entwicklungsprozess verschieben können.

7. Vor der Hacke bleibt es duster: experimentelles Nichtwissen und die Sanierung kontaminierter Landschaften

N ICHTWISSEN

UND

R ISIKO

Die Feststellung, dass in wissenschaftlichem Wissen die besten Antworten auf gesellschaftlich brennende Fragen begründet sind, wird in den unterschiedlichsten Lebens- und Forschungsbereichen, besonders jedoch in Prozessen und Projekten ökologischer Regulierung und Gestaltung zunehmend kritisch diskutiert. Bei der Durchsicht aktueller Literatur kann man sogar den Eindruck bekommen, dass Unsicherheit über bestehendes Wissen in Entscheidungsprozessen der Normalfall ist (vgl. Jasanoff 2007, Nowotny et al. 2004, Wallerstein 2004, Wibeck 2009). Holzer und May (2005) sehen den kompetenten Umgang mit Unsicherheit und Nichtwissen gar als zentrales Element der Änderungen in Politik und Recht in der von Ulrich Beck und seinen Kollegen als reflexiv bezeichneten Moderne (vgl. Beck/Lau 2004). Wenn dies der Fall ist, stellt sich die Frage, wie und warum genau Akteure Entscheidungen treffen (was sie ja offensichtlich tun), wenn bekannt ist, dass noch kein ausreichendes Wissen zur Verfügung steht. Muss die Entscheidung so lange ausgesetzt werden, bis ausreichendes Wissen geschaffen ist, oder können die Beteiligten trotzdem zu sinnvollem Handeln 0kommen? Das aktive Einbeziehen von Wissensgrenzen (Nichtwissen) scheint eine Möglichkeit darzustellen, mit dieser Situation und den sich aus ihr ergebenden Unwägbarkeiten umzugehen. In der sozialwissenschaftlichen Analyse wurden und werden entsprechende Entscheidungen meist unter dem Aspekt des Risikos diskutiert und rekonstruiert. Im Folgenden wird versucht zu zeigen, dass ein soziologischer Begriff des Nichtwissens hingegen auf wichtige Aspekte verweist, die in verschiedenen Variationen soziologischer Risikoverständnisse ausgeklammert bleiben. Die Registrierung von Nichtwissen wird, so die hier vertre-

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tene These, den Praktiken und Selbstauskünften der zu beobachtenden Akteure viel eher gerecht als verschiedene (soziologische) Risikokonzepte. Anhand eines wichtigen, aber dennoch relativ wenig beachteten (dadurch jedoch möglicherweise von sozialwissenschaftlicher Seite empirisch ungleich leichter zugänglichen) Themas der Umweltpolitik – der Erforschung und Sanierung kontaminierter Böden und Gewässer – werde ich in diesem Kapitel einige Elemente der Kommunikation über Nichtwissen und seiner aktiven Einbeziehung in Entscheidungen diskutieren. Insbesondere weise ich darauf hin, dass im erfolgreichen Umgang mit Nichtwissen eine geschickte Strategie der Rückführung auf außergesellschaftliche Kausalitäten gesehen werden kann, durch die es sachkundig umgangen wird, die Ursachen in menschlichen Entscheidungen zu suchen – ohne jedoch auf etwas von Natur aus Gegebenes abzustellen. Seit den 1970er Jahren werden wachsende Unsicherheiten und gefährliche Folgen der Industriegesellschaft auch in der Öffentlichkeit zunehmend unter dem Risikolabel diskutiert. Das klassische Verständnis von Risiko beruht meist auf einer mathematisch kalkulierten Wahrscheinlichkeit. Risiko bezieht sich so verstanden auf ein mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintretendes, als ungünstig bewertetes Ereignis, multipliziert mit dem Ausmaß des dadurch entstehenden finanziellen Schadens. Die deutsche Soziologie hat sich – wie auch die internationale – seit den späten 1970er Jahren bemüht, eigene Risikodefinitionen zu entwickeln, die sich von den klassischen Risikobegriffen der Ökonomie und der Ingenieur- und Umweltwissenschaften abgrenzen (vgl. Ronge 1982, Short 1984, Luhmann 1993). Als Alternative zum probabilistischen Risikobegriff hat besonders Niklas Luhmann (1993) ein Verständnis geprägt, das auf der Unterscheidung zwischen dem aktiv eingegangenen Risiko und einer fremd verursachten äußeren Gefahr beruht. Ulrich Beck (1986) hat „Risiko“ sogar als Epochenbegriff zu konzipieren gesucht, durch den sich die Konturen des Übergangs der Industriegesellschaft in eine Risikogesellschaft beschreiben lassen.1 Auch wenn das soziologische Anliegen, das klassisch probabilistische Risikoverständnis zu erweitern, nachvollziehbar ist und zumindest in den 1980er Jahren sehr wichtig war, hat es doch zum Teil dazu geführt, dass sich die soziologischen Risikodiskussionen nicht nur vollkommen losgelöst von Entwicklungen in anderen Disziplinen abspielten, sondern auch dazu, dass die auf eigenen Risikokonzepten beruhenden empirischen Aussagen wenig (soziologisch) neue Informationen lie-

1

Auf bestimmte Ungereimtheiten im Risikoverständnis von Ulrich Beck wurde oft hingewiesen, daher soll hier nicht weiter darauf eingegangen werden. Siehe dazu aus ganz verschiedenen Beobachtungsperspektiven v.a. die Arbeiten von Alario/Freudenburg (2003), Alexander/Smith (1996) sowie Campbell/Currie (2006).

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fern. Damit wäre auch in Zukunft keinerlei Anschlussfähigkeit außerhalb der eigenen Disziplin zu erwarten. Für die Disziplin Soziologie, die sich als kritische Selbstbeschreibung der Gesellschaft versteht, stellt diese Außenseiterposition in puncto Risiko einen unglücklichen Zustand dar. Muss das so sein? Eine riskante Entscheidung liegt nach Luhmann dann vor, wenn sie durch eine Abwägung der zu erwartenden (ungünstigen) Folgen vorgenommen wird. Wenn ein Individuum oder eine Gruppe von Menschen ohne ihre Mitentscheidung möglicherweise ungünstigen Ereignissen ausgesetzt sind (z.B. durch eine Naturkatastrophe), besteht hingegen eine Gefahr. Durch die Unterscheidung zwischen Gefahr und Risiko gelingt es Luhmann, eine analytische Trennung zwischen den vom Individuum bewusst in Kauf genommenen oder zu beeinflussenden Risiken und den von ihm nicht zu beeinflussenden Gefahren zu generieren. Die empirische Frage bei einem so allgemein gehaltenen Risikobegriff – und insbesondere, wenn in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft fast alle Zuschreibungen zunehmend als Risiken und nicht mehr als Gefahren verstanden werden sollen (z.B. Luhmann 1993) – ist dann jedoch, welche Entscheidung nicht riskant wäre. Risiko findet sich, so verstanden, überall.2 Ein in diesem Zusammenhang (wahrscheinlich viel zu) oft zitiertes Beispiel Luhmanns ist seine Geschichte über die Erfindung von Regenschirmen. Er schreibt dazu: „Die Gefahr, dass man durch Regen nass wird, wird zum Risiko, das man eingeht, wenn man den Regenschirm nicht mitnimmt. Aber wenn man ihn mitnimmt, läuft man das Risiko, ihn irgendwo liegen zu lassen.“ (Luhmann 1993: 328)

Die Moderne, so hier die implizite These, transformiert praktisch alle Gefahren in Risiken, weil sie immer neue Entscheidungs- und Zuschreibungspotentiale generiert. Im vorliegenden Kapitel wird jedoch eher vom Gegenteil ausgegangen: Durch immer neue Zuschreibungsverflechtungen eröffnen sich auch immer mehr Zuschreibungslücken (z.B. in Form von Nichtwissen), die von Akteuren raffiniert benutzt, umschifft oder sonst wie verarbeitet werden können. Im Anschluss an Luhmann hat Japp (1997) später versucht, Nichtwissen als Teil eines systemtheoretischen Verständnisses von Risiko zu spezifizieren. Riskantes Entscheiden wäre dann eine beobachtbare Entscheidung zwischen Wissen

2

Für ein solches Risikoverständnis gibt es zudem bereits viele andere soziologische – wenngleich eher handlungstheoretisch zu verortende – Konzepte und Begriffe. Siehe allein die Ausführungen zum Konzept der „action“ bei Goffman (1967) oder die klassischen Diskussionen um die Bedeutung von alltäglichen „Abenteuern“ (vgl. Ball 1972, Vester 1987, Wanderer 1987).

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und Nichtwissen. Ganz abgesehen davon, dass, wie Peter Wehling (2006: 196207) anschaulich gezeigt hat, die starre Unterscheidung zwischen Wissen und Nichtwissen im Rahmen der Grenzen der Systemtheorie Luhmanns empirisch unfruchtbar ist, erscheint es gerade bei dieser Variante der systemtheoretischen Risikosoziologie nur konsequent, den so gefassten Risikobegriff gänzlich ad acta zu legen, da er im Grunde als Synonym für „Entscheiden unter Nichtwissen“ gebraucht wird – und damit als Begriff überflüssig ist. Eine Abkehr von einem solchen Risikobegriff als reinem „Attributionsbegriff“ würde die Verwirrung, die dieser außerhalb der Soziologie auslöst, zudem vermeiden helfen. Kritik am systemtheoretischen Risikoverständnis ist kein Einzelfall. Seit einiger Zeit werden gar grundlegende Zweifel an der empirischen Nützlichkeit aller soziologischen Risikobegriffe geäußert (vgl. Green 2009).3 Der Tenor ist, dass bestimmte Aspekte soziologischer Risikotheorien für die Rahmung gesellschaftlicher Makrobeschreibungen sinnvoll sein mögen (z.B. Ulrich Becks Risikogesellschaft), jedoch nicht für die Analyse von Alltagspraktiken und Entscheidungsfindungen (vgl. Scott Jones/Raisborough 2007). Ich schließe mich dieser Beobachtung an und stütze mich im Folgenden auf eine auf Simmel zurückreichende, kultursoziologische Variante des alltäglichen Umgangs mit Nichtwissen. In dieser Tradition bezieht sich Nichtwissen auf Wissen, das man (noch) nicht haben kann oder darf,4 dessen Bezugspunkt jedoch formuliert werden kann (vgl. auch Kapitel 3). Für Simmel umfasst Nichtwissen, wie in Kapitel 3 gesehen, also bereits die Ahnung oder die Spezifizierung von etwas, was nicht gewusst wird. Man kann hier drei grundlegende Formen des Nichtwissens ausmachen. Zum einen ist da das, von dem man weiß, dass man es in einem bestimmten Moment nicht wissen kann, und von dem man sich auch später noch sicher ist, dass man es nicht vorher wissen konnte. Zweitens gibt es das, bei dem einem im Nachhinein klar wird, dass man es hätte wissen können (man hat aber z.B. versäumt, sich kundig zu machen). Dies könnte man auch als Unwissen bezeichnen, da hiermit eher ei-

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4

Dass sich zunehmend auch an anderen Risikokonzepten und insbesondere an bestimmten Formen des Risikomanagements grundlegende Kritik regt, sei hier nur angemerkt. Siehe dazu aktuell und einschlägig Hubbard (2009) und Aven (2010). Dass der Risikobegriff grundsätzlich überflüssig sei, hat Jack Dowie prominent vorgetragen (vgl. Dowie 2000). Siehe zum Thema des Nichtdürfens und dem Phänomen der Verhinderung von Wissensgenerierung in der Forschung im Rahmen des Konzepts der „undone science“ die Arbeiten von Frickel et al. (2010) und Hess (2009).

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ne Selbstverschuldung angedeutet ist.5 Drittens gibt es Nichtwissen in der Form, dass man strategisch etwas nicht oder bestenfalls teilweise wissen will. Vollkommene Abwesenheit von Wissen, in der englischsprachigen Literatur auch „unknown unknowns“ (Kerwin 1993), „ignorance of ignorance“ (Ravetz 1993) oder neuerdings auch wieder „nescience“ (Groß 2010) genannt, gehört zu einer epistemisch anders gelagerten Kategorie des Unbekannten, da niemand etwas über das wissen kann, von dem er noch nicht einmal weiß, dass er es nicht weiß. Bestenfalls im Rückblick kann man sich seiner „unknown unknowns“ bewusst werden. Von daher erscheint es soziologisch wichtig, hier auch begrifflich eine klare Trennung durchzuhalten, da die nicht erkannte Abwesenheit von Wissen – von Wehling (2006) auch „unerkanntes Nichtwissen“ genannt – nur von einem gottähnlichen soziologischen Beobachter registrierbar wäre. Abgesehen von der allgemeinen Beobachtung Simmels kann die Formulierung der Grenzen des Wissens in einem bestimmten (Wissens-)Gebiet, das heißt die Definition von Themen, über die noch keine ausreichenden Erkenntnisse vorliegen und zu deren Erforschung Neuland betreten werden muss, als grundlegender Bestandteil wissenschaftlichen Arbeitens betrachtet werden. Darüber hinaus kann der Begriff Nichtwissen als das normale, aber sich ständig in Bewegung befindliche Gegenstück zu Wissen verstanden werden. Dieses Gegenstück weist darauf hin, dass mehr oder weniger präzise Fragen über das, was nicht gewusst wird, formuliert werden. Die Annahme in diesem Kapitel ist, dass es aktiv in Entscheidungsprozesse einbezogen wird. Stellt man dies dar, so die weitere Annahme, erhält man eine wesentlich empirienähere und damit „realistischere“ Beschreibung von Entscheidungsfindungen als es mit den gängigen soziologischen Risikobegriffen möglich erscheint. Bereits 1985 verteidigte Collingridge seine These, dass man, weil die Folgen einer Technologie in einem frühen Entwicklungsstadium nicht sinnvoll prognostiziert werden können, einen institutionalisierten Umgang mit Nichtwissen („ignorance“) kreieren müsse, denn „errors in policymaking are quite unavoidable; there are more surprises in the real world than in the wildest dreams of policymakers and their forecasting assistants“ (Collingridge 1985: 373). So verstanden sind Überraschungen, die zunehmend häufiger und nicht seltener auftreten, etwas Normales. Wenn also mehr Wissen immer auch mehr Nichtwissen mit sich bringt, gewinnt die Frage an Bedeutung, ob und wie Entscheidungen auf

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Es gibt sicher viele weitere Möglichkeiten, Unwissen zu definieren, aber das hier vertretene Verständnis deckt sich mit dem von Martin Seel (2009: 37, Herv. im Orig.), der unter Unwissenheit „eine tendenziell selbstverschuldete, manchmal sträfliche und darum im Prinzip behebbare Unkenntnis“ versteht.

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Grundlage von zunehmendem Nichtwissen getroffen werden können, wenn Überraschungen zu erwarten sind, und wie entsprechende Entscheidungen legitimiert werden können und dürfen.

U MGANG MIT N ICHTWISSEN IN DER A LTLASTENSANIERUNG Als Altlasten werden Ansammlungen von Schadstoffen in Boden und Grundwasser bezeichnet, die durch Industrieablagerungen oder Betriebsunfälle seit Beginn der Industrialisierung entstanden sind. Die Problematik dieser Stoffkonzentrationen wurde in allen Industrieländern seit Ende der 1970er Jahre im Zusammenhang mit der Umnutzung von Industriebrachen und Deponien als Wohnbauland deutlich. Diese Flächen sind häufig in einem solchen Maß verunreinigt, dass sie sowohl die umgebenden Ökosysteme als auch die menschliche Gesundheit beeinträchtigen können. Trotz zahlreicher Innovationen im Bereich der Erkundungs- und Sanierungstechnologien und der Entwicklung einer vorsorgenden Umweltgesetzgebung in den letzten Jahrzehnten hat das Thema kontaminierter Flächen bis heute nicht an Aktualität eingebüßt. Neben den enormen Kosten, die die Beseitigung von Schadstoffen verursacht, sind die Akteure mit der Herausforderung konfrontiert, trotz unvollständigen Wissens Entscheidungen treffen zu müssen, und es gehört, wie es Akteure selbst ausdrücken, Mut dazu, ein entsprechendes Projekt anzugehen (vgl. Thornton et al. 2007, De Sousa 2008, Franzius et al. 2009). Viele Industriegebiete haben eine lange Kontaminierungsgeschichte. Bis in die 1970er Jahre bestand kaum ein Bewusstsein für die Gefährlichkeit von Chemikalien im Boden und die Stärke ihrer Auswirkungen auf Menschen und Ökosysteme. Das hatte zur Folge, dass die Ablagerung von Produktionsrückständen häufig ohne besondere Vorkehrungen direkt auf dem Firmengelände erfolgte und selten dokumentiert wurde. Ebenso waren kleiner, mit Havarien verbundene Stoffaustritte häufig nur ehemaligen Angestellten bekannt. Akten und Unterlagen über entsprechende Ereignisse fehlen und das Wissen darüber geriet in Vergessenheit. Erschwerend kommt hinzu, dass viele brachgefallene Industriegebiete in den letzten Jahrzehnten von der Natur zurückerobert wurden und die in ihnen verborgene Gefahr als Biotop und häufig auch als Heimat seltener Pflanzen und Tiere „getarnt“ ist. Zusätzlich sind die Schadstoffe im Lauf der Jahre in Abhängigkeit von ihrer chemischen Struktur und der jeweils speziellen geologischen Situation Veränderungen unterworfen – sie entfernen sich, ungesehen, im Untergrund vom ursprünglichen Ort der Kontamination oder werden durch na-

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türliche Prozesse abgebaut und umgewandelt. Diese Unsichtbarkeit bedeutet, dass sich trotz detaillierter Voruntersuchungen in aller Regel nicht alle Details klären lassen und sich die Akteure der Altlastensanierung dessen bewusst sind, dass sie bei Revitalisierungs- und Sanierungsarbeiten immer mit Unerwartetem rechnen müssen (vgl. dazu auch Bleicher/Groß 2011). Bereits 1993 konstatierte der Chemiker und Altlastenexperte Claus dazu sehr deutlich: „Die hohen Erwartungen an Wissenschaft bei der Einschätzung der Gefahren von Altlasten können insgesamt gesehen nicht oder nur unbefriedigend erfüllt werden. Die Perspektive der Wissenschaft ist entweder der Verlust des letzten Restes Glaubwürdigkeit oder eine neue Risiko- bzw. Sicherheitskultur […], bei der Nichtwissen eingestanden wird.“ (Claus 1993: 45)

Im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprogramms SAFIRA II (20062012) wurden Entscheidungsstrukturen und -prozesse in zwei verschiedenen Sanierungsprojekten untersucht, die auf der Fläche der Bahnstadt Ravensburg (Baden-Württemberg) und im Industriegebiet Weißandt-Gölzau (Sachsen-Anhalt) durchgeführt wurden.6 Nach den ersten Analysedurchgängen wurde die Besonderheit des Umgangs mit Nichtwissen in Altlastensanierungen deutlich: Beteiligte Akteure kommunizierten ganz selbstverständlich darüber, dass bestimmte Dinge im Entscheidungsmoment nicht bekannt waren. Auch in Vertragsdokumenten fanden sich Festlegungen, die explizit Nichtwissen gemäß dem oben eingeführten Verständnis einbezogen. Aufgrund dieser Erkenntnis wurden die Materialien nochmals gezielt mit dem Fokus auf Entscheidungen unter Bedingungen des Nichtwissens ausgewertet, um die damit verbundenen Handlungsstrategien herauszuarbeiten.7

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In diesem Forschungszusammenhang wurden Methoden und Strategien zur Erkundung und Sanierung großflächig und komplex kontaminierter Standorte entwickelt (vgl. Behrens/Groß 2010). Weitere Forschungen zum ehemaligen Betriebsgelände von Reynolds Metals (Troutdale, Oregon, USA) konnten im Frühjahr 2010 mit einem Stipendium des American Council on Germany (ACG) für Alena Bleicher durchgeführt werden (siehe hierzu auch Bleicher 2012). Grundlage hierfür waren teilstrukturierte Interviews mit insgesamt 50 Vertretern der Lokalpolitik, der lokalen und regionalen Verwaltung, von Ingenieurbüros, Projektträgern und lokalen Unternehmen, mit Anwohnern sowie mit involvierten Naturwissenschaftlern. Zusätzlich konnte Einblick in interne Dokumente wie Protokolle und Verträge genommen sowie regelmäßig an Projekttreffen teilgenommen werden. Die Interviews wurden transkribiert, zusammen mit anderen Materialien kodiert und mit Hilfe einer Software zur qualitativen Datenanalyse ausgewertet.

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Nichtwissen wurde in den Interviews auf unterschiedliche Weise identifiziert. Zum einen weisen bestimmte negierende Schlüsselbegriffe und Redewendungen wie „das hat keiner gewusst“, „das hat keiner geahnt“ oder „wir wissen es nicht“ ganz direkt auf Wissenslücken hin. Zum anderen kann aus den Darstellungen von Handlungsabläufen darauf geschlossen werden, dass im Moment der Handlung Nichtwissen vorlag: „Im Zuge der Aushubarbeiten wurden organoleptische Auffälligkeiten des Erststoffes festgestellt, Proben genommen und Analysen veranlasst“ (Interview Weißandt-Gölzau, Fachbehörde, November 2006). Es lag somit eine Grundlage zum Handeln und für weitere Untersuchungen vor, weil darauf verwiesen werden konnte, was nicht gewusst wurde („Auffälligkeiten“). Die Analyse von Bodenproben diente dann dazu, Wissen dort zu erarbeiten, wo im Moment noch Nichtwissen bestand. Schließlich sind für den Umgang mit Nichtwissen im Entscheidungskontext Formulierungen wie „es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Handlungsbedarf wegen Kontaminationen gegeben sein wird“ bezeichnend. Zusätzlich zur Information, dass offensichtlich nicht alle Details bekannt sind, wird hier eine durch das Faktum des Nichtwissens erzeugte Erwartungshaltung zum Ausdruck gebracht. Obwohl die Untersuchungsbeispiele in ganz verschiedenen Regionen liegen und sich insbesondere die Rahmenbedingungen für die Flächenentwicklung unterscheiden, ist der Umgang mit der Frage des Nichtwissens im Sanierungsprozess doch sehr ähnlich. Der Standort Weißandt-Gölzau befindet sich in SachsenAnhalt in einer altindustriellen Region, in der seit Ende des 19. Jahrhunderts Braunkohle unter Tage abgebaut und in den 1920er Jahren auf dieser Basis Produktionszweige der chemischen Industrie entwickelt wurden. Im Industriegebiet der kleinen Gemeinde war eine Braunkohleschwelerei angesiedelt, die bis in die 1950er Jahre aktiv war und einen Großteil der heutigen Altlasten verursachte (z.B. durch die Deponierung von Restprodukten sowie kriegsbedingte Benzinverkippungen). Mit der politischen Wende 1989/90 begann in der Region eine tiefgreifende wirtschaftliche Umstrukturierung und Deindustrialisierung, die überwiegend mit der Schließung von Unternehmen und in der Folge mit hoher Arbeitslosigkeit verbunden war. Die in der Gemeinde Weißandt-Gölzau angesiedelten Unternehmen meisterten die Umbrüche vergleichsweise gut, so dass das Industriegebiet heute eines der wenigen prosperierenden der Region ist. Mit dem industriellen Erbe wurden die Akteure im Rahmen der ersten Betriebserweiterungen Ende der 1990er Jahre und insbesondere in Verbindung mit der Erneuerung der Infrastruktur in den Jahren 2005 bis 2007 konfrontiert. Die regionale Wirtschaftssituation in Ravensburg ist von der in SachsenAnhalt grundsätzlich verschieden. Zwar führte in beiden Regionen der Wandel der Wirtschaftsstruktur zu ungenutzten Industrie- und Gewerbeflächen, aller-

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dings sind diese Flächen rar und für Ansiedlungen von Industrie und Gewerbe, aber auch Wohnraum, stark nachgefragt. Es handelt sich um wirtschaftlich prosperierende Regionen. In Ravensburg wurden die Entscheidungen über die Wiedernutzung der Fläche des ehemaligen Güterbahnhofs analysiert. Die Fläche wird seit ca. 20 Jahren nicht mehr für den Güterverkehr benötigt. Wie auch für andere Güterbahnhofsflächen typisch, kam es während des Umladens von Frachten, dem Betanken von Lokomotiven und der Lagerung von Treibstoff in der Vergangenheit häufig dazu, dass umweltschädliche Substanzen verschüttet wurden – ein Vorgang, dem aber keine weitere Bedeutung beigemessen wurde. Zusätzlich waren am Rande des Güterbahnhofsgeländes weitere industrielle und gewerbliche Nutzungen angesiedelt, die größere und kleinere verteilte und nicht registrierte Kontaminationen zur Folge hatten. Im Zusammenhang mit der Neuansiedlung von Nutzungen auf dem Gelände müssen sich die Akteure daher auch mit Fragen der Altlastenbeseitigung auseinandersetzen. In beiden Fällen waren und sind vielfältige Akteure an den Wiedernutzungsund den damit verbundenen Sanierungsaktivitäten beteiligt: Gemeindeverwaltung, Fachverwaltungen auf übergeordneten Ebenen (Region, Land, Staat), lokale Politik, Investoren und Unternehmen sowie Ingenieurbüros. Die besondere Herausforderung bestand jeweils darin, die teilweise gleichzeitig stattfindenden Sanierungsarbeiten und Baumaßnahmen sowie die unterschiedlichen Zuständigkeiten der Akteure zu koordinieren und dabei mit der Tatsache umzugehen, dass zu vielen Zeitpunkten kein vollständiges Wissen über die Altlastensituation vorliegen konnte. Beide Male gab es bei Abschluss des jeweiligen Projektes Neuansiedlungen von Unternehmen und es kam während der Arbeiten nicht zu Unterbrechungen durch Klagen oder gerichtliche Prozesse, so dass die Projekte als erfolgreich bezeichnet werden können. Auf welche Weise das erreicht werden konnte und welche Rolle dabei die aktive Einbeziehung von Nichtwissen in die Entscheidungsprozesse spielte, soll in den nächsten Abschnitten diskutiert werden.

K OMMUNIKATION

VON

N ICHTWISSEN

Basierend auf den allgemeinen Erfahrungen mit der Altlastensanierung seit den 1980er Jahren und den speziellen Kenntnissen über den jeweiligen Standort und seine Vornutzung waren sich Experten und Fachbehörden dessen bewusst, dass Altlasten bei der Revitalisierung ein Thema sein würden und dass trotz sorgfältiger Erkundungsmaßnahmen kein endgültiges Wissen über die Altlastensituation würde vorliegen können (vgl. Brandt 1993). Dieses Wissen über das Nichtwissen wurde aber nicht, wie man vermuten könnte, verschwiegen, sondern in Ent-

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scheidungsprozessen offen kommuniziert, wie die folgenden Beispiele aus Interviews zeigen: „Wir können bei einem derartigen Komplex leider nicht sagen, was diese Gefährdungen tatsächlich für Maßnahmen erfordern. Wir wissen es nicht. […] Ich kann nach wie vor nicht sagen, was ist mit dem Grundwasser. Muss man was tun? Muss man nichts tun? In welchem Umfang muss man was tun? Das bedeutet aber noch nicht, dass ich jetzt, bevor ich diese Gefährdungsabschätzung habe, mit allem anhalten und sagen kann: Wartet mal!“ (Interview Weißandt-Gölzau, Fachbehörde, November 2006) „Ich sage, wir haben jetzt mal gerade beim Rückhaltebecken – haben Sie ja gesehen, wo der Austritt kommt – da werden wir nicht schlussendlich die Ursache erkunden können, wo es denn nun wirklich herkommt, und auch beseitigen können.“ (Interview WeißandtGölzau, Kommunalpolitiker, Februar 2006)

Beide Zitate machen deutlich, dass es nicht möglich war, im Moment der Entscheidungsfindung auf akzeptiertes Wissen zurückzugreifen. Im ersten Zitat zeigt sich weiterhin, dass das Nicht-Gewusste so weit spezifiziert war, dass gesagt werden konnte, was nicht gewusst wurde; der Bezugspunkt des Nichtwissens war klar. Es verdeutlicht auch, dass das Warten auf den Abschluss der klassischen Gefährdungsabschätzung und -bewertung viel zu lange gedauert hätte. In Deutschland wird im Altlastenbereich unter dem Begriff „Gefährdungsabschätzung“ die Gesamtheit der notwendigen Untersuchungen und Beurteilungen der Gefahrenlage einer altlasten-verdächtigen Fläche verstanden. Dem Begriff der „Risikoabschätzung“, der nicht selten auch von Fachleuten verwirrenderweise mit „Gefährdungsabschätzung“ synonym gebraucht wird, liegt eine Bewertung von Stoffen mittels der Methode des wahrscheinlichkeitstheoretischen Risikos zugrunde, die ausschließlich für die krebserregenden Stoffe Anwendung findet. Die Risikoabschätzung stellt somit einen Teil der Gefährdungsabschätzung dar (vgl. Bittens/Merkel 2002). Aus soziologischer Perspektive ist es in erster Linie wichtig zu sehen, dass Handlungsdruck besteht und eine Entscheidung trotz Nichtwissens getroffen wird. Die Tatsache, dass auch Nichtfachleute wie zum Beispiel Kommunalpolitiker kommunizieren, dass es nicht möglich sein wird, endgültiges Wissen zu erarbeiten, weist zudem darauf hin, dass die Akteure tatsächlich nicht nur dem Interviewer gegenüber ihr Nichtwissen kommunizieren, sondern auch untereinander im Entscheidungsprozess auf Wissensgrenzen hinweisen. Die Beteiligten verständigen sich aber nicht nur mündlich darüber, dass nicht alles bekannt ist. Auch in verschiedenen Dokumenten, wie zum Beispiel in Gut-

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achten oder sogar Verträgen, finden sich Formulierungen, die klar machen, dass bestimmte Dinge nicht gewusst werden und dass mit dieser Tatsache umgegangen werden muss: „Da keine Dokumentation vorliegt, kann nicht ausgeschlossen werden, dass im Zuge der [Arbeiten] Handlungsbedarf wegen Kontaminationen gegeben ist. Die Parteien sind sich einig, dass das insoweit bestehende, tatsächlich nicht vorhergesehene Risiko […] einbezogen werden soll.“ (Vertrag zwischen Projektbeteiligten, unveröffentlichtes Dokument)

An dieser Stelle wird offengelegt, dass Nichtwissen akzeptiert werden muss, dass nicht alle Details bekannt sind und dass sich die Beteiligten über diese Tatsache einig sind. Es wird auch deutlich, dass damit von ihnen eine Offenheit gegenüber eventuellen überraschenden Ereignissen gefordert und ein SichEinstellen auf das Unerwartete erwartet wird. Das unterstreicht die Bedeutung der Informationsweitergabe und der Notwendigkeit, Strategien gegen das Vergessen von Informationen gerade im Altlastenbereich zu entwickeln (vgl. Travis 2007). Obwohl es an den Untersuchungsstandorten als normal erscheint, dass Nichtwissen kommuniziert wird, ist das so normal nicht. Nichtwissen zu erhalten, kann strategische Gründe haben, die aus soziologischer Sicht als ebenso wichtig betrachtet werden müssen wie das Offenlegen von Nichtwissen. Für den Besitzer eines auf dem Gelände eines ehemaligen Kasernenstandorts gelegenen Eigenheims kann es beispielsweise existenzielle Nachteile haben, Fragen hinsichtlich der Altlastensituation zu stellen. In aller Regel führt der kleinste Verdacht auf Altlasten zu einer deutlichen und unwiderruflichen Minderung des Grundstückswertes und in der Folge zu Nachforderungen kreditgebender Banken. Auch eine Umweltbehörde kann ein Interesse daran haben, weniger über die von einem Grundstück ausgehende Gefahr zu wissen, weil sich andernfalls besondere Handlungsnotwendigkeiten in Form von komplizierten Projekten ergeben oder eventuell vorangegangene Ungereimtheiten behördlicher Entscheidungen sichtbar werden könnten. Vertreter von Ingenieurbüros hingegen haben ein Interesse daran, Untersuchungsbedarfe zu definieren, da mit jeder aufgeworfenen Frage ein potentieller Auftrag verbunden ist. Nichtwissen hat also auch eine zentrale ordnungserhaltende Funktion, sowohl im Sinne des Erhalts von Nichtwissen als auch im Sinne der Offenlegung desselben (vgl. Moore/Tumin 1949, Smithson 1985). Aus diesem Grund stellt sich die Frage, welche Rahmenbedingungen gegeben sein müssen, damit Beteiligte ihr Nichtwissen in nichtdiffamierender Weise (für sich selbst oder für andere) kommunizieren, und in welchen Momenten es als legitim angesehen wird, trotz Nichtwissen Entschei-

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dungen zu treffen. Im Folgenden sollen daher weitere institutionelle und organisationsseitige Voraussetzungen skizziert werden, um zu zeigen, wann und warum sich Akteure auf den Umgang mit Nichtwissen einlassen können und wollen.

L EGITIMITÄT

VON E NTSCHEIDUNGEN BEI BEKANNTEN W ISSENSLÜCKEN Die oben diskutierten Beispiele zeigen, dass sich die Beteiligten darüber austauschten, dass nicht alle Details im Moment der Entscheidung bekannt waren. Man könnte nun vermuten, dass es in einem solchen Fall der logisch nächste Schritt ist, die offenen Fragen durch Erkundungen, Recherchen, Befragungen und Gutachten zu klären, bevor die nächste Entscheidung getroffen wird, da in modernen Gesellschaften nur diejenigen Entscheidungen als legitim angesehen werden, die auf Grundlage vollständigen Wissens getroffen werden (Lau 2009). Das passiert aber nur zum Teil. Tatsächlich lässt sich feststellen, dass oft Entscheidungen getroffen werden, bevor alle Fragen beantwortet sind. Akteure können also offensichtlich übereinkommen, dass es aktuell nicht nötig oder sinnvoll ist, weiteres Wissen zu erarbeiten, dass das vorhandene Wissen ausreicht, um verantwortungsvoll trotz erkannter Wissenslücken zu handeln. Dafür lassen sich vier zentrale Begründungsmuster erkennen: ökonomische Vernunft, Nichtstun als schlechtere Alternative, Unberechenbarkeit der Natur und akuter Handlungsdruck. Im Muster der ökonomischen Vernunft wird der Mehrwert zusätzlichen Wissens im Vergleich zu den eventuell unerwartet auftretenden Mehrkosten als so gering eingeschätzt, dass kein weiteres Wissen erarbeitet wird. Autoren wie Wildavsky (1988) haben schon lange argumentiert, dass es nicht sinnvoll sei, Ressourcen ausschließlich in die Schaffung von Sicherheiten zu investieren, weil dann im Moment wirklich notwendiger Anpassungen keine weiteren Ressourcen zur Verfügung stehen. Die Begründung, dass Nichtstun die schlechtere Alternative ist, wird dann herangezogen, wenn sich die Beteiligten einig sind, dass das Warten auf eine Entscheidung zum Stillstand der Aktivitäten führen würde und damit nachhaltig negative Auswirkungen auf die Entwicklung des gesamten Projektes hätte. Die Unberechenbarkeit der Natur ist eine dritte akzeptierte Begründung dafür, Entscheidungen auf Grundlage unvollständigen Wissens zu treffen. Dieses Begründungsmuster ist offensichtlich verbreitet und stellenweise bereits institutionalisiert. In Verträgen und gesetzlichen Bestimmungen findet man Hinweise darauf, dass Entscheidungen nach „aktuellem Stand des Wissens“ mit Hilfe der zur Verfügung stehenden technischen Mittel getroffen wurden. Ein sol-

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ches Begründungsmuster untergräbt die modernistische Sichtweise, dass es sich heute bei Entscheidungen zunehmend um „Risiken“ (wie in der Soziologie z.B. bei Luhmann) handele, in denen als unerwünscht erachtete Ereignisse auf gesellschaftliches Verhalten zurückgeführt werden können. Es ist sicherlich richtig, dass die Verantwortung häufig zwischen einzelnen Entscheidungsträgern verschoben wird. Dies geschieht beispielsweise in der Politikberatung, indem die Naturwissenschaft zum Beispiel für die Messung von Grenzwerten herangezogen wird und einer anderen Akteursgruppe die Einschätzung der Grenzwerte überlassen wird. Im Bereich der Altlastensanierung, kann jedoch – wie bereits oben diskutiert – beobachtet werden, dass auf ein nicht-gesellschaftliches Phänomen verwiesen wird (Natur, Zufall oder eben das, was man nicht weiß). Das heißt, die Zuschreibung wird in gewisser Weise externalisiert, sie wird auf etwas verschoben, was (noch) nicht bekannt ist. Das gibt der allgemeinen Annahme, dass das Wissen zum gegebenen Zeitpunkt unvollständig ist, eine eigene Konnotation. Im Zusammenhang mit überraschenden Altlastenfunden im Boden sagte ein leitender Ingenieur in Bezug auf einen unerwartet entdeckten, zwölf Tonnen schweren Tank: „Ich sage mal ganz sicher, dieser Tank, der wollte wahrscheinlich gar nicht dokumentiert werden. Also wo die überall die Tanks gefunden haben. Die sind nicht dokumentiert“ (Ingenieur Weißandt-Gölzau). Der Hinweis auf das „Nicht-dokumentiert-werden-wollen“ des Tanks ist nicht nur als ironische Äußerung zu werten (was sie ganz sicher auch war), sondern ebenso als ein Hinweis darauf, dass das Nichtwissen ernst genommen wird. Man konnte nicht wissen, dass der Tank da war, da dieser (die außergesellschaftliche Welt) es nicht „wollte“. Vertreter früherer Varianten der Akteur-Netzwerk-Theorie (siehe z.B. Callon 2006) hätten hier womöglich ganz andere Anregungen zur Interpretation des „widerspenstigen Containers“ herangeführt, nämlich die des aktiven Einmischens (hier eher: Versteckenspielens) eines nicht-menschlichen Akteurs, denn wenn die Container überleben wollen, dürfen sie nicht gefunden werden. Auch wenn ich hier nicht so weit gehen möchte, kann man sich ähnliche Zuschreibungen zum Beispiel in der Archäologie vorstellen. Es waren nicht die alten Ägypter, die etwas vergraben oder vergessen haben, der Schatz unter einem antiken Haus „selbst“ wollte nicht von den Archäologen aufgespürt werden. Oder wie es ein Blogger auf einer Schiffswrack-Seite ausdrückt: „It seems ships sometimes just do not want to be found.“8 Der zeitliche Abstand scheint die menschlichen Akteure damals von den heutigen Überresten zu entkoppeln. Eine Schuldzuweisung an andere menschliche Akteure (z.B. an das Ingenieursteam, das vor Ort die Bodenproben genommen hatte) erscheint dem inter-

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Siehe http://www.shipwreckcentral.com/ (aufgerufen am 02.11.2009).

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viewten Akteur daher nicht sinnvoll. Sich auf die heute unbekannten Entscheider am Ende des Zweiten Weltkriegs zu versteifen, die möglicherweise die Container im Boden versenkt haben, wäre sicherlich eine weitere Möglichkeit der „Schuldzuweisung“, käme aber auch nur einer spezifizierten Form des Nichtwissens gleich, weil man letztlich nicht weiß, wer dies getan hat. Es ist jedoch in der Zivilprozessordnung mittlerweile so, dass es möglich ist, legitim Sachverhalte als vergessen zu deklarieren. Der Jurist Hackenberg stellt es in seiner Arbeit zur allgemeinen Aufklärungspflicht in der vielfältig geänderten Zivilprozessordnung so dar, dass eine Akteursgruppe sich im Streitfall „auch dann mit Nichtwissen erklären [kann], wenn sie die in Rede stehende Tatsache vergessen hat und sie trotz entsprechender Nachforschungen nicht mehr in der Lage ist, sich der tatsächlichen Geschehnisse zu erinnern“ (Hackenberg 1995: 180).9 Interessanterweise wurde dieses Muster der Schuldzuweisung nur in der Form aufgefunden, dass in Interviews erwähnt wurde, dass das „wahrscheinlich“ damals so gewesen und es mittlerweile vergessen worden sei. Da man nachweislich aber keine Person oder Institution sicher benennen kann, knüpft man die Erklärung – mit Ironie – an den Container „selbst“. Sicherlich ließe sich hier auf den ersten Blick einwenden, dass der Verweis auf eine außergesellschaftliche Kraft zur Entlastungsstrategie für eigene oder von Kollegen bei der Erkundung des Geländes gemachte Fehler werden könnte. Dies wäre sicherlich ein ernst zu nehmender Einwand. Er scheint jedoch im hier diskutierten Beispiel eher wenig treffend, da die Zuschreibung auf einen menschlichen Fehler bei der Untersuchung zur Folge gehabt hätte, neue Untersuchungen, Gutachten und neue Forschungen auf den Weg bringen zu müssen – mit den üblichen Verlängerungen in der Projektzeit und den damit verbundenen weiteren negativen Folgen. In diesem Zusammenhang kann daher akuter Zeitdruck während der Durchführung von Arbeiten als viertes Begründungsmuster der Legitimierung des Entscheidens trotz Nichtwissens genannt werden. Die Zeit drängt sozusagen zum Handeln, weshalb man langwierige rechtliche Schritte vermeidet. In Momenten überraschender Altlastenfunde können bereits kleine Verzögerungen gravierende Auswirkungen haben, so dass zügig Entscheidungen getroffen werden müssen. Die Zeit für die Erarbeitung neuen Wissens ist schlicht nicht vorhanden.

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Dass die Festlegung von Nachforschungspflichten und der Nachweis ausreichender Forschungen im Rahmen des „jeweils Zumutbaren“, wie es juristisch heißt, alles andere als eine einfache Aufgabe ist, legt Hackenberg (1995: 102-147) am Beispiel der Zivilprozessordnung dar. Zu philosophischen Herausforderungen im Bereich des Rechts siehe Smith (2011).

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Interpretieren die in eine Entscheidung einbezogenen Akteure die Situation in einer dieser vier Formen, dann erscheint die Entscheidung trotz unvollständigen Wissens legitim. Legitimität wird in dem Moment, in dem vollständiges wissenschaftliches Wissen noch nicht vorliegt, aber trotzdem Entscheidungen getroffen werden müssen, also offensichtlich neu verhandelt. Im Altlastenkontext handelt es sich um ganz bestimmte Momente, in denen diese Legitimität hergestellt werden kann. Nehmen die Akteure in diesen Fällen das Erkennen von Nichtwissen und die Normalität des Umgangs damit ernst, verschiebt sich auch die Zuschreibung von Fehlern und Versäumnissen, da diese dann nicht mehr bei den beteiligten Akteuren gefunden werden können. Entscheidungen trotz Nichtwissen werden nicht als leichtsinnig angesehen, sondern sind das Ergebnis detaillierter Abwägungen. Überraschungen, die sich in der Folge zeigen können, werden nicht als Fehlschlag kommuniziert, und das übliche Spiel der Schuldzuweisung („Blame Game“) bleibt in diesem Fall aus (vgl. Lau 2009, Hood 2011). Stattdessen erarbeiten die beteiligten Akteure gemeinsame Strategien zum Umgang mit der Situation. Einige dieser Strategien sollen nun zum Abschluss dieses Kapitels diskutiert werden.

E RFOLGREICHE N ICHTWISSENSKOMMUNIKATION BRAUCHT STRIKTE O RGANISATIONSREGELN Aufgrund der Vorkenntnisse über die Standorte und der jahrelangen Erfahrungen in der Altlastensanierung im Allgemeinen sind sich insbesondere Experten darüber im Klaren, dass im Vorfeld einer Sanierung und/oder Baumaßnahme niemals alle Details einer Altlast erkundet werden können, dass demzufolge mit Überraschungen zu rechnen ist und Wissen sozusagen in situ, während der Bauund Sanierungsaktivitäten vor Ort, erarbeitet wird. Gleichwohl ist es aufgrund der bereits erwähnten sozialen Funktion des Nichtwissens nicht ganz naheliegend, dass Akteure ohne Weiteres darüber sprechen, dass sie etwas nicht wissen. Ein gemeinsames Ziel, das von allen Beteiligten ungeachtet der durchaus konträren Interessen der einzelnen Organisationen geteilt wird, scheint die Kommunikation über das Unbekannte und die Kooperation im Verlauf des Projektes, trotz überraschender Altlastenfunde, zu erleichtern. Sehr integrativ ist dabei offensichtlich das Ziel künftiger wirtschaftlicher Entwicklungen auf einem kontaminierten Standort. Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass Brachflächen häufig alte Industriestandorte sind und mit ihrem Entstehen der Verlust von Arbeitsplätzen einherging, weshalb dieses Thema die betroffenen Gemeinden in aller Regel stark beschäftigt.

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Darüber hinaus haben die Persönlichkeiten einzelner Akteure einen entscheidenden Einfluss – nicht nur auf die Gestaltung des Projektes, sondern auch darauf, ob über Nichtwissen kommuniziert wird. Eine gewisse Offenheit gegenüber den Projektpartnern und die Fähigkeit, sich sowohl in die Position des jeweils anderen einzudenken als auch von den Zielen der eigenen Organisation zugunsten des gemeinsamen Projektziels Abstand nehmen zu können, ist sehr hilfreich, wie das folgende Beispiel zeigt: „Es ist die Frage, wie man seine Arbeit versteht. Also meine Aufgabe sehe ich darin, diese Altlasten, Altablagen irgendwann aufzuarbeiten. […] Aber zuerst mal muss man dann in Gesprächen und Verhandlungen wieder gucken, dass man eine pragmatische Lösung findet, wo wir einfach unseren [behördlichen] Anforderungen auch noch gerecht werden.“ (Interview Mitarbeiter Behörde Ravensburg, Juni 2008)

An diesem Beispiel wird deutlich, dass das übergeordnete Ziel, eine neue Nutzung für kontaminierte Flächen zu finden und in diesem Zusammenhang Altlasten zu sanieren, von den Behördenvertretern als sehr wichtig angesehen wird. Zur Zielerreichung werden dann Kompromisse eingegangen und bestehende Handlungsspielräume ausgenutzt. Wenn dagegen strikt an den Vorgaben festgehalten wird, verlaufen Projekte eher schleppend. Mit zunehmender Erfahrung in der Altlastensanierung steigt das Bewusstsein für die Notwendigkeit, Kompromisse einzugehen und von den eigenen Idealvorstellungen (bzw. denen der eigenen Institution) auch einmal abzuweichen. Wird Nichtwissen auf diese Weise kommuniziert und in den Entscheidungsprozess einbezogen, können die beteiligten Akteure ein Bewusstsein für das bekannte Nichtwissen und eine Einstellung des „Vorbereitetseins“ (preparedness) entwickeln, die wiederum dazu führt, dass Strategien für Momente der „erwartbaren Überraschungen“ vorgesehen werden (Collier/Lakoff 2008). In Anbetracht der zahlreichen Unbekannten in einem Sanierungsprozess ist gerade die Weitergabe von Informationen ein wichtiger Punkt. Dazu bedarf es einer klaren Organisationsstruktur. Diese wird einerseits über die Definition von Zuständigkeiten und andererseits durch die Schaffung bestimmter Institutionen erreicht. Die Entwicklung einer gemeinsamen Entscheidungs- und Kommunikationskultur mag aufwändig erscheinen, aber sie ermöglicht es, im Verlauf eines Projektes, auch schwierige Themen anzusprechen und gemeinsam Lösungen zu entwickeln. Eine weitere Institution zur Weitergabe von Informationen waren in allen drei Fallstudien regelmäßige Treffen der Projektbeteiligten, die umso häufiger stattfanden, je komplizierter und unvorhergesehener sich die Altlastensituation darstellte. In besonders wichtigen Fällen kann es, wie im Projekt in Weißandt-

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Gölzau, auch dazu kommen, dass alle wichtigen Akteure für eine bestimmte Zeit direkt vor Ort arbeiten, um dicht am Geschehen zu sein und besonders schnell Entscheidungen treffen zu können. Ein weiteres Element, das sowohl einen schnellen Informationsfluss als auch eine zügige Entscheidungsfindung ermöglicht, ist eine leichte Modifikation der Entscheidungsstruktur und -hierarchie innerhalb der beteiligten Organisationen. Es konnte beobachtet werden, dass den zuständigen Sachbearbeitern eine größere Entscheidungskompetenz übertragen wurde, als es bei Routineaufgaben üblich ist. Diese Beobachtung wurde, wie in Kapitel 5 diskutiert, zuerst bei sogenannten High Reliability Organizations gemacht. In diesen Organisationen wird in Notfallsituationen die formale Hierarchie temporär durch die Hierarchie der Expertise ersetzt, das heißt, die Entscheidungskompetenz wird auf die Personen verlagert, die durch ihre tägliche Tätigkeit das größte Wissen über bestimmte (technische) Details haben. Das kann dann auch der Arbeiter an der Baggerschaufel sein, der zuerst die Veränderung der Bodenfarbe feststellt, die auf Kontaminationen verweist und zum Aussetzen der Arbeiten zwingt. Auf diese Weise entstehen bessere Möglichkeiten, schnell zu reagieren und flexibel zu entscheiden. Schließlich können rechtliche Instrumente wie vertragliche Vereinbarungen oder verwaltungsrechtliche Instrumente wie zum Beispiel ein Auflagenvorbehalt (durch den man sich vorbehält, bei veränderter Situation weitere Auflagen zu erteilen) als langfristig angelegte Strategien verstanden werden. Sie verhindern nicht das Eintreten überraschender Ereignisse, dienen aber der gegenseitigen Absicherung der Beteiligten und schaffen damit Entscheidungssicherheit. Entsprechende vertragliche Vereinbarungen werden zu Beginn eines Projektes ausgehandelt und nehmen, wie oben dargestellt, Formulierungen, die das Unbekannte betreffen, mit auf.

Z URECHNUNG

AUSSERHALB EINDEUTIGER E NTSCHEIDUNGEN Das Beispiel der Altlastensanierung zeigt, dass Entscheidungen getroffen werden, obwohl bekannt ist, dass Nichtwissen vorliegt. Nichtwissen wird von den beteiligten Akteuren jedoch nicht beiseite geschoben, sondern offen kommuniziert und bewusst in den Entscheidungsprozess einbezogen. Auf diese Weise findet, zumindest im Fall von Altlastensanierungen in altindustriellen Regionen, eine Sensibilisierung für das Unbekannte statt. Akteure erreichen damit einen „Zustand des Vorbereitetseins“. Dies führt einerseits dazu, dass die Legitimität

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von Entscheidungen neu verhandelt wird. Andererseits hat es zur Folge, dass Akteure Strategien finden, mit dem bekannten Nichtwissen und den daraus resultierenden Überraschungen umzugehen, flexibel auf Veränderungen zu reagieren und gemeinsam für unerwartete Ereignisse einzustehen, statt einem der Beteiligten die Schuld an einem überraschenden Altlastenfund zu geben. Überraschungen, die den Kurs der Entwicklung und Planung ändern können, gehören zum Alltag der Altlastensanierung und werden nicht grundsätzlich als Fehlschläge kommuniziert, da sie durchaus als außerhalb aktueller gesellschaftlicher Entscheidungszusammenhänge und Verantwortlichkeiten liegend betrachtet werden können. Im hier vorgestellten Verständnis ist dies jedoch weder als Derationalisierung noch als Rückschritt in vormoderne Zeiten zu werten, in denen die Ursache eines Ereignisses außerhalb gesellschaftlicher Entscheidungen gesehen werden durfte (z.B. im Schicksal, der Fügung oder der göttlichen Vorsehung), sondern als eine temporäre Strategie von Akteuren, um mit der Komplexität der Situation umzugehen, ohne auf Schuldzuweisungen abstellen zu müssen – im Sinne von „das hätten Sie aber wissen müssen“. Nimmt man Nichtwissen ernst, verschiebt sich die Zuschreibung von Entscheidungen von der gesellschaftlichen auf eine außergesellschaftliche „Instanz“ oder, wie es bereits Spencer (1875: 17) nannte, es findet eine Beschäftigung mit einem „unbestimmten Etwas“ statt, welches durch die erkannten Ereignisse und ihrer Beziehungen zueinander impliziert wird. Überträgt man realexperimentelles Vorgehen vor diesem Hintergrund auf andere Felder, wie zum Beispiel nachhaltige Essenskulturen, so wird deutlich, dass auch Nachhaltigkeit eigentlich nur als ein experimenteller Suchprozess verstanden werden kann, der sich zwischen individuellem „suchendem“ Handeln und der Erwartung überraschender Widerstände, aber auch sich eröffnender neuer Möglichkeiten, neuer Informationen oder „Aktivitäten“ der vorhandenen Strukturen herausbilden kann. Folgt man beispielsweise den Ernährungsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährungswissenschaft (DGE), stehen diese oft konträr zu den Zielen der Nachhaltigkeit. Gesunde Ernährung und Nachhaltigkeit sind vielfach widersprüchlich, die strukturellen Vorgaben und das wissenschaftliche Wissen sind Änderungen unterworfen. In den zehn Regeln der DGE steht zum Beispiel: „Gemüse und Obst – Nimm ‚5 am Tag‘: Genießen Sie 5 Portionen Gemüse und Obst am Tag, möglichst frisch, nur kurz gegart, oder auch 1 Portion als Saft – idealerweise zu jeder Hauptmahlzeit und auch als Zwischenmahlzeit: Damit werden Sie reichlich mit Vitaminen, Mineralstoffen sowie Ballaststoffen und sekundären Pflanzenstoffen (z.B. Carotinoiden, Flavonoiden) versorgt.“ (DGE 2011)

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Auch wenn diese Regel der DGE keine bestimmten Obst- und Gemüsesorten vorschreibt, so weist die eingeforderte Vielfalt fast automatisch auf Sorten, die nur schwerlich zu allen Jahreszeiten ausschließlich aus der Region stammen können. Selbst wenn die DGE empfiehlt, Fleisch nur in Maßen zu genießen, tut sie dies nicht explizit aus Gründen der Nachhaltigkeit, sondern aus gesundheitlichen Gründen. Weiterhin: Zum einen gilt viel Fisch zu essen als gesund, gleichzeitig leiden die Meere jetzt schon an Überfischung. Anders herum gelten fette Würste als ungesund, sie stellen aber, nimmt man die traditionellen Verarbeitungsregeln von Metzgern zum Maßstab, eine durchaus nachhaltige weil „ganzheitliche“ Verarbeitung vieler Teile des geschlachteten Tiers (und nicht nur der Lendenstücke) dar (vgl. Baier 2011). Hier die richtige Strategie im Sinne von Nachhaltigkeit zu finden ist nicht einfach, insbesondere, da sich Wissen (z.B. über Ernährung) ständig ändern kann. Dies nötigt den Handelnden und den immateriellen Strukturen (Institutionen) flexible Reaktionen und die ständige Anpassung von Strategien und Plänen ab. Handeln, Wissen und die strukturellen Möglichkeiten und Spielräume zum Handeln bedingen sich auch hier gegenseitig. Um der Unvorhersehbarkeit der vorgegebenen Strukturen erfolgreich zu begegnen, steht Akteuren ein kultureller Vorrat, also eine „tool box“ (Swidler 1986) an Handlungsmöglichkeiten zum „Ausprobieren“ zur Verfügung. Mit Hilfe dieses Werkzeugkastens sind Individuen befähigt, Wissen, Erwartungshorizonte oder manchmal auch ausgeklügelte Praktiken für Handlungsstrategien, die sich an oft allgemein formulierten Nachhaltigkeitszielen orientieren, einzusetzen. Praxistheoretisch wird Handeln als eine Aktivität aufgefasst, bei der es nicht zuerst auf individuelle Ziele ankommt, sondern auf implizites Wissen und Können. Die Analyseeinheit soll sich nicht Bei der Analyse soll man sich nicht auf Einzelhandlungen konzentrieren, sondern es sollen „Aktivitäten“ analysiert werden, die im weiteren sozialen und materiellen Kontext eingebettet sind. Wichtig scheint hier, dass materielle Dinge und natürliche Dynamiken als Teil dieser Zusammenhänge von Praktiken verstanden werden können (vgl. Brand 2011, Katz/ Kirby 1991, Schatzki 2010). Diese materiellen Dinge, auch wenn sie einmal von Menschen gemacht oder von diesen überformt wurden, können sich „naturalisieren“ und Handelnde überraschen – wie bei Simmels objektiver Kultur. Die Empfindung als Überraschung zeigt oft, dass etwas außerhalb des Bereichs liegt, der einer klaren menschlichen Handlung oder strukturellen Vorgaben eindeutig zugeschrieben werden kann. Im Alltag, in den Praktiken von Akteuren und auch in besonders heiklen Situationen ist es häufig so: Man kann vieles nicht wissen, das weiß man, und das wird ernst genommen. Kultur kann dabei als ein Werkzeugkasten verstanden werden, der hilft, mit materiellen und immateriellen Strukturen umzugehen. Das Unvorhergesehene im Alltag erfordert aber eine Erweiterung des Kasteninhalts, wenn nachhaltiges Handeln möglich werden soll.

8. Reise zur Hitze der Erde: Geothermie und nachhaltige Energiegewinnung

N ICHTWISSEN

UND

F ORTSCHRITT

Fukushima hat auch die Soziologie daran erinnert, dass Naturereignisse am anderen Ende der Welt ganz schnell auch bei uns (politische) Folgen haben können. Diese führen zum Beispiel zu neuen Forschungsaktivitäten und verstärkten Investitionen in Entwicklungen im Bereich der sogenannten alternativen Energiegewinnung. Auch wenn Wind- und Sonnenenergie u.a. im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahrzehnten soziologisch relativ gut beforscht wurden (vgl. Byzio et al. 2005, Mautz et al. 2008, Kunze 2013), so gibt es aktuell neue Felder wie die der Geothermie und der Gasgewinnung aus Schiefergestein, die in der Soziologie (nicht nur in Deutschland) bis jetzt wenig beachtet wurden. Das steht möglicherweise damit in Zusammenhang, dass alternative und insbesondere erneuerbare Energien normalerweise mit Quellen verbunden werden, die „von oben“ stammen. Dazu gehören die – sicherlich an erster Stelle stehende – Sonnenenergie, das Wasser (aus den Bergen) und der Wind, der am stärksten weit über den Köpfen der Menschen weht. Aus der Tiefe stammen Öl, Kohle und Gas, also all das, was landläufig mit „schlechter“, nicht erneuerbarer Energie in Verbindung gebracht wird. Ob es mit der Oben-Unten-Unterscheidung zusammenhängt, das muss zum jetzigen Zeitpunkt Spekulation bleiben, aber Fakt ist, dass in aktuellen Diskussionen zur Energiewende die Erdwärme oder Geothermie eine Nebenrolle spielt; in vielen Diskussionen und Szenarien taucht sie erst gar nicht auf (vgl. Groß/Mautz 2014: 66-81). Geothermie, von griechisch „geo“ (Erde) und „therme“ (Wärme), wird nach VDI-Richtlinie 4640 folgendermaßen definiert: „Geothermische Energie ist die in Form von Wärme gespeicherte Energie unterhalb der festen Oberfläche der

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Erde, Synonym: Erdwärme.“1 Diese Definition scheint einleuchtend, birgt aber, wie weiter unten weiter diskutiert werden soll, auch einige Probleme. Geothermische Energiegewinnung wurde bis vor etwa zehn Jahren eher an den Kanten tektonischer Platten durchgeführt, weil dort heiße Quellen leicht zugänglich waren. Dies ist heute anders. Auch in Deutschland ermöglichen neue Technologieentwicklungen die effiziente Nutzung geothermischer Hitze zur Stromerzeugung. Die aktuelle Nebenrolle ist aber auch deshalb erstaunlich, weil die Geothermie zu den Energiequellen gehört, die ständig und nach menschlichem Ermessen unbegrenzt zur Verfügung stehen. Strenggenommen ist geothermische Energie zwar keine erneuerbare, aber sicher eine nachhaltige Energiequelle. Wichtiger ist, dass viele Studien der letzten zehn Jahre zum Potential der Geothermie in Deutschland und anderen europäischen Ländern zeigen, dass die neuen technischen Möglichkeiten es theoretisch erlauben würden, bald mehr als die Hälfte der Elektrizität aus Erdwärme zu gewinnen (Paschen et al. 2003, Schilliger 2011). Allgemein wird der Geothermie ein großes Potential zugesprochen (siehe allein Rohloff/Kather 2011). Man muss daher fragen, was – neben der möglichen gefühlsmäßigen Abneigung gegenüber Dingen aus der Tiefe – Gründe für die Randständigkeit der Geothermie in Deutschland und seinen Nachbarländern sind und wie neben der naturwissenschaftlich-technischen Forschung zum Thema auch die sozialwissenschaftliche Forschung darauf konstruktiv reagieren kann. Im Folgenden soll der Umgang mit Nichtwissen von Ingenieuren am Beispiel der Geothermie verdeutlicht werden. Dabei soll die Rolle von Nichtwissen als produktive Ressource verstanden werden. Die Produktivität wird illustriert mit epistemologisch vergleichbaren Vorstellungen der Charaktere aus Jules Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde (franz. Orig. 1864, hier zitiert wird die deutsche Ausgabe von 2011). Diese in einem einem literarischen Text enthaltenen Vorstellungen kann man, in den Worten von Eva Illouz (2011: 46), als „kodifizierte kulturelle Annahmen“ herausfiltern, die helfen, bestimmte Denkmodelle und Wissenschaftsstile zu rekonstruieren. Durch die Hervorhebung einiger aktueller Problemlagen bei der Gewinnung geothermischer Energie soll gezeigt werden, wie manche Vorstellungen der Akteure in Vernes Science-Fiction-Roman aus dem 19. Jahrhundert sich auch in den technischen Strategien der Ingenieure und Wissenschaftler des 21. Jahrhunderts wiederfinden. Damit steht dieses Kapitel in der Tradition von Arbeiten, die Literatur nutzen, um Verbindungen zwischen der heutigen Gesellschaft und der natürlichen – hier: geologischen – Umwelt zu erläutern (vgl. aus unterschiedlichen Perspektiven z.B. Bryson 2002,

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Siehe: www.vdi.de (aufgerufen am 11.11.2013).

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Moore 2014, Stableford 2005), und skizziert damit, wie die Gewinnung geothermischer Energie mit den Beschreibungen der Charaktere aus Vernes Roman und ihrer Strategien, in den Untergrund vorzudringen, neu beschrieben werden kann. Vernes Ausführungen werden dabei nicht als akkurate historische Beschreibungen des geologischen Untergrunds verstanden, sondern die dargestellten Strategien im Umgang mit Unsicherheit und Nichtwissen werden als Quellen kultureller Annahmen über diesen genutzt – Annahmen, die sich typologisch auch heute noch in Selbstbeschreibungen von Ingenieuren und Wissenschaftlern finden lassen. Rosalind Williams (2008) hat vorgetragen, dass die Vorstellungen, die Menschen vom geologischen Untergrund haben, als Blaupause für umweltwissenschaftliche Vorstellungen allgemein brauchbar zu sein scheinen, denn in gewisser Weise gehören sie untrennbar zur Wahrnehmung des Lebensraums oberhalb der Erdoberfläche dazu. Williams geht jedoch noch einen Schritt weiter. Für sie lebten und leben menschliche Gesellschaften immer unterhalb des nicht bewohnten und – zumindest bis jetzt – nicht dauerhaft bewohnbaren Weltraums, weshalb sie sich so verstanden immer schon unterhalb der Oberfläche des Planeten aufgehalten haben und der geologische Untergrund demnach lediglich eine Verlängerung oder Vertiefung dieses „Unterhalb“ ist. In diesem Sinne will der vorliegende Beitrag klassische Science-Fiction-Literatur über den geologischen Untergrund als nichtwissenssoziologische Anregung zur Analyse aktueller geothermischer Energiegewinnung nutzen. Was Vernes Roman für das 21. Jahrhundert instruktiv macht, ist, dass zur Zeit seiner Ersterscheinung im Jahre 1864 das Wissen über die „Innenseite“ der Erde in der Öffentlichkeit oft noch als mysteriös galt und die wissenschaftlichen Interpretationen der Beschaffenheit des geologischen Untergrundes noch nicht abgeschlossen waren (vgl. Greene 1983, Hallam 1992, Lesser 1987). Vergleicht man diese Zeit mit der heutigen, in der wiederum enorme Wissenslücken über die Beschaffenheit des Untergrunds und die Möglichkeiten des Vordringens in ihn offensichtlich werden und zu Mystifizierungen und oft auch (verständlichen) Widerständen in der Bevölkerung führen – man denke zum Beispiel an das Fracking oder Carbon Capture and Storage (CCS) (vgl. Markusson et al. 2012) –, so finden sich kulturelle Ähnlichkeiten zwischen dem Vorgehen der Charaktere in Vernes Roman und heutigen experimentellen Strategien bei der Gewinnung geothermischer Energie. Diese können Aspekte der Energiewende sichtbar machen, die bis dato implizit geblieben sind. Kurzum, Vernes Reise von 1864 erscheint hilfreich, weil sie Vorstellungen von Forschung und wissenschaftlichem Fortschritt aufzeigt, die bestimmte Regeln und Rituale – und vielleicht sogar langlebige „kulturelle Annahmen“ – offenlegen, die sich in ähnlicher Weise auch heute

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in Strategien der geothermischen Energiegewinnung finden lassen. Eine solche Vorgehensweise der Analyse aktueller Themenfelder mit Hilfe von Literatur hat im hier vorliegenden Fall eine weitere Komponente. Folgt man David Edgertons These, dass die Einpassung alter Technologien in neue Zusammenhänge viel wichtiger für den sozialen Wandel sei als die Erfindung neuer Technologien (Edgerton 2007), dann kann man den hier versuchsweise hergestellten Zusammenhang als Hinweis darauf auffassen, dass kulturelle Annahmen und Denkstile (hier: der strategische Umgang mit Nichtwissen) als alte Kulturtechniken zu verstehen sind, die tatsächlich zentraler und erklärungsstärker scheinen als die technischen Neuerungen im Bereich der „Energiewende im Untergrund“. In einem ersten Schritt werde ich einige technische Entwicklungen der geothermischen Energiegewinnung vor dem Hintergrund der deutschen Energiewende diskutieren sowie anschließend die Haupthandlung von Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde kurz skizzieren. Darauf aufbauend werde ich in einem zweiten Schritt den Roman mit Blick auf die „kulturellen Annahmen“ über Wissenschaft und Fortschritt prüfen, um aufzuzeigen, dass diese, was den Umgang mit Nichtwissen angeht, einige interessante epistemische Parallelen zu den heutigen aufzeigen. Kontrastierend soll auch das strategische Ausblenden von Nichtwissen durch Akteure der Technologieentwicklung diskutiert werden, was vor dem Hintergrund der bestehenden rechtlichen Lücken im Bereich Geothermie für eine praktikable Nutzung besonders wichtig scheint.

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UND FLACHE G EOTHERMIE ALS WENIG GENUTZTE E NERGIEQUELLEN Zu den erneuerbaren Energiequellen, gelegentlich auch regenerative oder alternative Energien genannt, zählt man traditionell Biomasse, Wasserkraft, Windkraft und Solarstrahlung, jedoch nur vereinzelt die Geothermie (vgl. Dannenberg et al. 2012, DeGunther 2009, Ehrlich 2013). Auch wenn die Geothermie in der Fachliteratur heute zunehmend zu den erneuerbaren Energiequellen gezählt wird, spielt sie in den aktuellen Diskussionen zur Energiewende in Deutschland, relativ gesehen, eine Nebenrolle; in vielen sozialwissenschaftlichen Diskussionen taucht sie erst gar nicht auf (siehe allein Hennicke/Welfens 2012, Urry 2013) oder wird ebenfalls nur am Rande eingeführt, wie bei Mazur (2013). Dennoch wird ihr zumindest ein großes Potential zugesprochen (vgl. Ehrlich 2013, Rohloff/Kather 2011) und Johannes Winterhagen (2012), häufig ein kritischer Kommentator der Energiewende, bescheinigt ihr trotz aller Risiken und Wissenslücken das Potential eines „Nachwuchsstars“.

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Man kann die Schuld an der Randständigkeit der Geothermie sicher den Verschleierungsstrategien der traditionellen Energieanbieter (vgl. Scheer 2010) in die Schuhe schieben oder, wie Gerhard Matzig (2011) dies medienwirksam tut, dem „Wutbürgertum“, das sich angeblich gegen fast jede Art von Fortschritt wendet. Es gilt aber, wie dieser Beitrag zeigen soll, einige handfeste kulturelle Hindernisse zu bewältigen, die eng mit technischen Herausforderungen verbunden sind und für die bis jetzt wenig und teilweise gar keine Forschungsergebnisse vorliegen. Das Nichtwissen über geothermische Energiegewinnung ist sozusagen offensichtlich, wird jedoch nicht so kommuniziert. Soll das große Potential geothermischer Energiegewinnung als integrativer Teil der Energiewende genutzt werden, muss sich diese Situation ändern. Zu den drängenden Fragen des Umgangs mit Erdbebenrisiken und Nichtwissen gesellen sich heute zunehmend Spannungen zwischen traditioneller Energieversorgung und geothermischer Versorgung, nicht zuletzt, weil Langzeiterfahrungen mit Technologien zur Gewinnung von Energie aus dem Untergrund fehlen. Grundsätzlich teilt sich die Geothermie in die flache oder oberflächennahe (bis 400 m Tiefe) und die tiefe Geothermie (ab 400 m bis 5 km und mehr) ein. Die flache Geothermie nutzt den Untergrund bis zu Temperaturen von 25 °C für das Beheizen und Kühlen von Gebäuden. Hierzu wird Wärme aus dem Erdreich und oberflächennahem Gestein oder aus dem Grundwasser gewonnen. Sie lohnt sich meist nur zur Beheizung von Haushalten in dicht besiedelten Regionen und Städten. Die Erschließung von Erdwärme in Böden, Sedimenten und festen Gesteinen erfolgt über Erdwärmesonden und Erdwärmekollektoren (vgl. Egg/Howard 2011, Schilliger 2011). Auf diesem Wege gewonnene Wärme kann direkt oder über eine Wärmepumpe genutzt werden. Ausgehend von einer Jahresmitteltemperatur von 8,5 °C in Deutschland und einem geothermischen Gradient von 3 °C/100 m liegt die Untergrundtemperatur in etwa 100 m Tiefe bei etwa 1112 °C. Diese Temperatur reicht aus um etwa Bürgersteige oder Brücken im Winter eisfrei zu halten. Umgekehrt ist die Temperatur niedrig genug, um im Sommer damit Gebäude zu kühlen. Zur Nutzung von Wärme aus dem Grundwasser werden in der Regel Brunnenbohrungen bis zu 20 m tief abgeteuft. Dem geförderten Wasser wird die Wärme im Anschluss über eine Wärmepumpe entzogen. Aufgrund der in Deutschland ganzjährig konstanten Grundwassertemperaturen von ca. 8 bis 11 °C ist Grundwasser eine energetisch günstige Wärmequelle und für die oberflächennahe Geothermie besonders geeignet. In Siedlungsgebieten können die Grundwassertemperaturen auch höher sein. Auch wenn sich alle Expertisen darüber einig sind, dass die Nutzung flacher Geothermie in erster Linie in städtischen Regionen sinnvoll ist, sind die empfohlenen Abstände vom einen zum anderen

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Heizsystem und die damit verbundenen möglichen Nutzungskonflikte ein Problem, denn die wieder eingeführte abgekühlte Flüssigkeit könnte zum Beispiel auf einem Nachbargrundstück die dort genutzte Hitzequelle abkühlen. Genaueres weiß man jedoch nicht. Die tiefe Geothermie kann sowohl für Heizzwecke als auch für die Stromerzeugung (ab 100 °C) genutzt werden. Die Speisung der Stromerzeugung bietet sich für Nah-, aber insbesondere für Fernwärmenetze an. In der tiefen Geothermie bezeichnet man heiße und überwiegend trockene Tiefengesteine, bei denen die Wärme im Gestein gespeichert ist, als petrothermale Lagerstätten2. Hydrothermale Lagerstätten hingegen sind tiefliegende, heiße Grundwasserleiter, in denen die Wärme im Thermalwasser gespeichert ist. In der tiefen Geothermie sind insbesondere Temperaturen über 120 °C (besser: 150 °C, siehe unten) volkswirtschaftlich interessant. Elektrische Energie kann hier mit einem hohen Wirkungsgrad direkt über Dampfturbinen erzeugt werden (vgl. Huenges 2012, Stober/Bucher 2012). Allgemein wird der petrothermalen Energie ein riesiges Potential zur Energieversorgung im 21. Jahrhundert zugeschrieben, denn petrothermale Lagerstätten sind nicht auf lokal begrenzte Thermalwasserreservoire angewiesen, so dass eine Erschließung relativ ortsunabhängig möglich ist. In Deutschland stellen petrothermale Lagerstätten ca. 90 Prozent des gesamten geothermischen Stromerzeugungspotentials dar.

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ÜBER DIE

N UTZUNG

DES

U NTERGRUNDES

Die rechtlichen Herausforderungen bei der Etablierung der Geothermie verdeutlichen vielleicht mehr als bei anderen alternativen Energiequellen, dass eine offene Auseinandersetzung über den Umgang mit Nichtwissen geschaffen werden

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Unter dem Begriff petrothermale Lagerstätte versteht man in der Regel heißes Tiefengestein, welches frei von zirkulierenden Thermalwässern ist. Hier werden sogenannte Stimulationsmaßnahmen wie das Hot-Dry-Rock-Verfahren verwendet. Bei diesem Verfahren wird nach der Erschließung durch eine Tiefbohrung in dichtes Gestein, wie zum Beispiel Granit, Wasser unter hohem Druck eingepresst. Dabei entstehen offene Risse im Gestein und somit Raum, durch den dann Wasser zirkulieren kann. Das Wasser nimmt dabei Wärmeenergie aus dem heißen Gestein auf und kann durch eine zweite Bohrung an die Oberfläche gefördert werden. Allerdings sind hier Bodenerschütterungen oder sogar Erdbeben zu beklagen, welche infolge von Stimulationsarbeiten auftreten können (vgl. Giardini 2009, Oppenheimer 2010).

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muss. Eine zentrale Bedingung für einen diesbezüglichen Klärungsprozess könnte darin bestehen, „die unterschiedlichen Wahrnehmungen und -bewertungen des Nichtwissens zunächst als prinzipiell gleichermaßen legitim und begründet anzuerkennen, um dann im jeweiligen Einzelfall in eine Kontroverse einzutreten, ob man eher von temporärem oder dauerhaftem Nichtwissen, von überschaubaren Wissenslücken oder von fundamentaler Ahnungslosigkeit über die möglichen Effekte ausgehen sollte.“ (Wehling 2011: 544-545)

So verstanden würden sozialwissenschaftliche Fragen zur Risiko- und insbesondere zur Nichtwissens-Governance (Boholm et al. 2012, Klinke/Renn 2002, Renn 2009, Wehling 2011) eine ganz andere Dimension erhalten, denn erst durch die Geothermie rückt das Unterirdische langsam in den Blick der Öffentlichkeit und man erkennt, dass die „Governance des Untergrunds“ sowohl technisch und kulturell als auch rechtlich erst am Anfang steht. In den deutschsprachigen Ländern fällt die Nutzung des Untergrundes grundsätzlich unter die Bestimmungen des landeseigenen Bergrechts. Vor dem Hintergrund der zweiten Ölkrise 1979 wurden bei der Erneuerung des deutschen Bundesberggesetzes (BBergG) von 1980 zwar bereits erste Nutzungsregelungen für Erdwärme mit aufgenommen, die dort niedergeschriebenen Regeln verhindern aber häufig sinnvolle Nutzungsmöglichkeiten im 21. Jahrhundert. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass 1980 die Technik zur Geothermiegewinnung noch nicht so weit war und die Verfasser des Bundesberggesetzes deren Möglichkeiten noch nicht erahnen konnten. Ein wichtiges Problem liegt bereits in der oben erwähnten, vom VDI vertretenen Definition dessen, was geothermische Energie ist. Ist diese als „in Form von Wärme gespeicherte Energie unterhalb der festen Oberfläche der Erde“ definiert, dann scheint dies zwar auf den ersten Blick sinnvoll, es wird aber nicht geklärt, woher die im Untergrund gespeicherte Energie stammt. Wird die Wärme zu Speicherungszwecken nämlich aktiv in den Untergrund eingetragen, was heute in vielen Fällen zur Energienutzung im Winter sinnvoll erscheint, dann fällt dies nicht unters Bergrecht. Welches Recht in diesem Fall gilt, ist aber unklar. Hier wird also eine Kluft zwischen „natürlicher“ und „unnatürlicher“ Energie manifestiert, die mit Blick auf die aktuellen technischen Möglichkeiten nicht sinnvoll erscheint. Neben vielen anderen Problemen birgt die oben eingeführte Definition von Erdwärme noch eine weitere Hürde für die effiziente Nutzung (vgl. Benz 2009, Ehrlich 1998). Bis jetzt wird sie an der Temperatur festgemacht, die je nach Fall festgelegt wurde (meist um die 20 Grad). Auch hier scheint es vor dem Hintergrund der technischen Möglichkeiten, durch die bereits kleinste Temperaturge-

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fälle zum Heizen von Wohnräumen oder zur winterlichen Eisfreihaltung von Gehwegen genutzt werden können, nicht sinnvoll, Erdwärme an der Temperatur festzumachen. Neben den oben skizzierten rechtlichen Herausforderungen spielt die Entwicklung von Untertagetechnologien für die Erkundung und Nutzung des geologischen Untergrundes eine zentrale Rolle. In der offiziellen Rhetorik steht hingegen die gesellschaftliche Relevanz im Zentrum, insbesondere im Zusammenhang mit Fragen der Sicherheit bei der Erschließung und Nutzung geothermischer Energieträger. An diesem Punkt finden sich jedoch die ersten großen Forschungslücken. Pirmin Schilliger, der in seinem Buch eigentlich die Geothermie als Alternative zu anderen alternativen Energieträgern etablieren will, schreibt deutlich: „Sowieso gibt es nur wenige, bereits vorliegende Tiefenbohrungen mit Daten, auf die man bei der Modellierung zurückgreifen könnte“ (2011: 113). Allgemein ist die Datenlage für Modellierungen und Risikoabschätzungen so lückenhaft, dass es unverantwortlich wäre, hier überhaupt von Risiken zu sprechen. Es handelt sich im besten Fall um erkanntes Nichtwissen (vgl. Wehling 2011). Rik DeGunther, ein Autor, dem man keine Wissenschaftsfeindlichkeit attestieren kann, fasst den Stand der Strategien zur Suche nach Quellen von Erdwärme so zusammen: „Locating suitable sites [for geothermal energy] is more of an art than a science“ (DeGunther 2009: 214). Grundsätzlich lässt sich sagen, dass sowohl bei der oberflächennahen als auch der tiefen Geothermie die Fündigkeitsrisiken die größte Unsicherheit und damit ein entscheidendes Investitionshindernis bei der Nutzung geothermischer Energie darstellen. Es fehlt nicht nur an ausreichenden Vorerkundungen zu lokalen Besonderheiten, sondern die Ermittlung geothermischen Potentials beruht in vielen Fällen sogar nur auf Literaturwerten (Vienken/Dietrich 2013). Hinzu kommen das Risiko versiegender oder erkaltender Quellen und das Problem fehlender Erfahrung mit dem Langzeiteinsatz der zu verwendenden Technologien sowie nahezu komplettes Nichtwissen zu den Auswirkungen der flächenhaften Nutzung. Neben den Unsicherheiten, verbunden mit Wissens- und Datenlücken bei den Berechnungen der Bohrungen, bestehen hinsichtlich der technischen Grenzen weitere Forschungslücken. Bohrgarnituren für geothermische Bohrungen (wie auch für Gas- und Ölbohrungen) sind zur Steuerung mit Elektronik vollgestopft. Bei Temperaturen über 150 °C funktioniert diese Elektronik nicht mehr. Lukrative Erdwärmekraftwerke (tiefe Geothermie) sind in Deutschland aber erst bei Temperaturen oberhalb von 150 °C wirtschaftlich sinnvoll (vgl. Reich 2009: 133-135). Gebohrt wird dennoch. Im Weiteren geht es darum mit von Jules Verne inspirierten Fragen die ingenieursseitigen Themen der geothermischen Energiegewinnung zu illustrieren.

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J ULES V ERNE , E RDWÄRME UND EXPERIMENTELLES N ICHTWISSEN Jules Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde gehört zu den Klassikern der frühen Science-Fiction-Literatur. Das Buch wurde verschiedentlich verfilmt, die letzten Verfilmungen haben jedoch nur wenig mit der Originalgeschichte zu tun.3 Grundsätzlich stehen diese Filme in der langen Tradition unterhalb der Erdoberfläche spielender Plots. Die Handlung in Vernes Buch beginnt mit dem Hamburger Geologen Otto Lidenbrock, der ein Manuskript aus dem 12. Jahrhundert mit einer verschlüsselten Mitteilung eines isländischen Alchemisten findet. Lidenbrock ist davon überzeugt, dass in dieser Mitteilung eine wissenschaftliche Geheimbotschaft steckt. Sein Neffe und Assistent Axel (der Ich-Erzähler der Geschichte) entziffert das Dokument, aus dem hervorgeht, dass man über einen isländischen Vulkan zum Mittelpunkt der Erde gelangen könne. Lidenbrock will nun dorthin. Axel begleitet ihn. In Reykjavík engagieren sie Hans als Führer. Zu dritt besteigen sie den Vulkan, klettern in den Krater und finden dort den Eingang zu einer Höhle. Von hier an ist die Reise ein einziges Durcheinander und von Zufällen, Überraschungen und wissenschaftlichen Fehlschlägen geprägt. Die drei verirren sich, kommen nach tagelangen Irrfahrten genau dort an, wo sie gestartet waren, etc. Lidenbrocks wissenschaftliche Annahmen werden ständig widerlegt, was von ihm aber zuerst oft nicht erkannt wird. Nur Axel erkennt die Fehler, sagt meist aber nichts. Am Ende müssen sich die Reisenden den Heimweg aus dem Erdinneren freisprengen, wodurch sie ein Erdbeben auslösen. Sie

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Die bekannteste Verfilmung ist wahrscheinlich die oscarnominierte Version von 1959 mit Pat Boone als Assistent Alec McEwen (Axel bei Verne). Neben verschiedenen Fernsehfilmen in den 1980er und 90er Jahren erreichten eine spanische Verfilmung aus dem Jahr 1976 sowie im Jahr 1989 ein Hollywoodfilm unter der Regie von Rusty Lemorande und Albert Pyun einige Berühmtheit. Neben der letzten großen Neuverfilmung von 2008 (mit Brendan Fraser als Prof. Anderson) gab es einige Verfilmungen, die sich zumindest thematisch an Vernes Buch anlehnten (für einen Überblick über alle Verfilmungen bis 2005 siehe Taves 2005). Dazu gehört The Core (deutsch: Der innere Kern) aus dem Jahr 2003, in dem ein Team von Wissenschaftlern mit einem Bohrfahrzeug zum Mittelpunkt der Erde reist, um die sich nicht mehr richtig drehende Erdkugel mittels mehrerer Sprengungen wieder zum ordentlichen Rotieren zu bringen. The Core war der Auslöser einer breiteren Diskussion darüber, inwieweit in Filmen wissenschaftliche Ergebnisse verfälscht werden dürfen – eine Diskussion, die bereits mit Blick auf Vernes Geschichte geführt wurde. Vgl. zum Stand der Forschung in der Geologie des 19. Jahrhunderts und zur Wissenschaftlichkeit in Vernes Buch Lesser (1987) und Schwedt (2011).

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gelangen dann auf einem Floß auf fließender Lava im Krater eines ausbrechenden Vulkans nördlich von Sizilien zurück auf die Erdoberfläche. Auch wenn die Reise wissenschaftlich wenig erfolgreich war, genoss Lidenbrock nach seiner Rückkehr großen Ruhm und die Reise war „auf der ganzen Welt eine Sensation“ (Verne 2011: 308). Geht man davon aus, dass die Unsicherheit und das fehlende Wissen der drei Forscher im Untergrund durchaus vergleichbar sind mit den Wissensbeständen, die heute mit Blick auf die Gewinnung von Elektrizität aus Erdwärme vorhanden sind, dann können uns die Strategien der drei Forscher in Vernes Geschichte aus dem 19. Jahrhundert möglicherweise Blaupausen zur Beschreibung geothermischer Energiegewinnung im 21. Jahrhundert liefern. Dies soll im Folgenden versucht werden. Wie stellen sich Vernes Charaktere dem unumgänglichen Nichtwissen? Während des Abgangs durch einen Schacht stehen die drei Forscher plötzlich vor einer Weggabelung, ohne zu wissen, wie sie weitergehen sollen. Assistent Axel erklärt das weitere Vorgehen nun wie folgt: „Jedes Zögern vor diesem Scheideweg hätte sich sowieso endlos in die Länge gezogen, denn es gab keinen Hinweis, welchen der beiden Wege wir hätten wählen sollen; wir mussten uns völlig auf den Zufall verlassen.“ (Verne 2011: 137)4

Sicherlich würde das Nichtwissen im Rahmen geothermischer Bohrungen heute von offizieller Seite nicht als „zufällige“ Bohrungen beschrieben werden. Es ist aber denkbar, dass der Zufall tatsächlich immer mal wieder bei einzelnen Nachjustierungen eine Rolle spielt, wie es Michael Sohmer (2012: 64) bei der Diskussion verschiedener Möglichkeiten der Positionierung seismischer Messgeräte während der Bohrung nahelegt. Für den Betrachter von Vernes Charakteren ist es allerdings vollkommen einsichtig, dass das Verlassen auf den Zufall der einzig sinnvolle Weg ist voranzukommen. Für die Ingenieure im Bereich geothermischer Bohrungen ist dies möglicherweise auch eher Normalität, sie können es sich aber nicht immer erlauben, dies so deutlich zu sagen, da es als Unverantwortlichkeit betrachtet werden könnte. Assistent Axel wird in Reaktion auf einen Vorschlag Lidenbrocks sogar noch deutlicher: „In diese Blunderbüchse hinabzusteigen“, dachte ich, „wenn sie möglicherweise geladen ist und bei der gerings-

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An anderer Stelle heißt es: „Sofort die Flucht zu ergreifen, wäre ein Gebot der Vorsicht, und das Selbstverständlichste dazu. Aber wir sind ja nicht hierhergekommen, um uns in Vorsicht zu üben“ (S. 231).

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ten Erschütterung losgehen kann, so etwas tun nur Narren“ (Verne 2011: 119).5 Ob dies tatsächlich nur Narren tun, kann allerdings bezweifelt werden. Sich auf den Zufall zu verlassen, wie es die drei Akteure in Vernes Geschichte an der Weggabelung tun, ist in bestimmten Situationen die rationalste Lösung. Jon Elster hat hierfür verschiedene Varianten des Entscheidens unter Unsicherheit vorgeschlagen. Im beschriebenen Fall handelt es sich um Unbestimmtheit (indeterminacy) innerhalb eines bestimmten Rahmens (vgl. Elster 1989: 107-108), das heißt, die Entscheider erkennen, dass sie im Moment mit den Mitteln, die aktuell zur Hand sind, in der verfügbaren Zeit keine bessere Entscheidung treffen können und man nur auf den Zufall vertrauen kann. Eine solche Form der Entscheidung findet sich in den meisten Formen des Vordringens in den Untergrund, da theoretisch zwar mehr Wissen für Entscheidungen generiert werden könnte, dies aber zu lange dauern würde und Chancen auf Vorankommen verspielt würden. Mit der Entscheidung zu warten, bis verlässliches Wissen zur Verfügung steht, wäre damit irrational oder, wie Jon Elster (1989) es nennt, eine Art von Hyperrationalität. Elster (1989: 17; Herv. im Orig.) definiert Hyperrationalität als „the failure to recognize the failure of rational choice theory to yield unique prescriptions and predictions.“ Entscheider müssen damit einsehen, dass auch die Grenzen der Rationalität rational anerkannt werden müssen. Eine solche Situation, in der das Nichtwissen rational anerkannt werden muss, findet sich bei den drei Akteuren in Vernes Geschichte an nahezu jeder Weggabelung, denn es scheint unter den gegebenen Bedingungen keine realistische Chance zu geben, in einem vertretbaren Zeitrahmen hinreichend Informationen zu gewinnen, um den „richtigen“ Weg wählen zu können. Im Fall der heutigen geothermischen Bohrungen kann der Wissensgewinn meist nur im Anwendungskontext erarbeitet werden. Dem entspricht in Vernes Geschichte der Umstand, dass Wissensgewinn nur durch das Voranschreiten auf dem Weg selbst möglich ist; das Wissen über die lokalen Gegebenheiten kann nicht durch Vorabuntersuchungen eingeholt werden. Sicherlich ist es denkbar, dass man in einer solchen Situation umkehrt, um unvorhersehbare Gefährdungen zu vermeiden. Allerdings würde das im Fall der Geothermie bedeuten, dass eine wichtige Chance zur Verringerung der fossilen Energieerzeugung unausgeschöpft bleiben könnte. Stattdessen wird das Wissen über das Nichtwissen als ausreichende Rahmenbedingung für die Entscheidung genutzt weiterzugehen.

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Eine Blunderbüchse ist, wie es in den Erläuterungen zur neusten deutschen Ausgabe der Reise heißt, ein altertümliches Gewehr mit trichterförmigem Lauf (Verne 2011: 320).

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Ganz sicher gibt es jedoch typologische Unterschiede zwischen dem Roman und heutigen Forschungsaktivitäten im Untergrund, die nicht unerwähnt bleiben dürfen. Im Roman riskieren die drei Helden zuerst ihr Leben und im Falle ihres Ablebens Trauer bei den Daheimgebliebenen. Bei geothermischer Energiegewinnung kann bei Unfällen potentiell auch eine Reihe weiterer Personen außerhalb des Kreises der beteiligten Wissenschaftler und Ingenieure in Mitleidenschaft gezogen werden. Um hier das Vorgehen legitim mit Nichtwissen begründen zu können, müsste zumindest ein Vorverständnis der möglichen Konsequenzen und der Möglichkeiten, das Nichtwissen in Wissen umzuwandeln, offengelegt werden. Der Nachweis ausreichender Forschungen zur Eliminierung von Nichtwissen im Rahmen des „jeweils Zumutbaren“, wie es juristisch heißt, ist jedoch alles andere als eine einfache Aufgabe (vgl. Hackenberg 1995). Ludger Heidbrink (2013) argumentiert, dass die Verantwortung für mögliche Negativfolgen dennoch auch dort Entscheidungsträgern zugeschrieben werden sollte, wo die Nebenfolgen aus Sicht der Akteure auf unvermeidbarem Nichtwissen beruhen. Im Fall der im Bereich geothermischer Bohrungen vorliegenden Nichtwissensbestände verschiebt sich, will man Heidbrink folgen, die Frage nach der Verantwortung für durch Nichtwissen entstandene Nebenfolgen auf die Umstände, unter denen das erforderliche Nichtwissen zustande gekommen ist, und auf die Umstände, unter denen Akteuren eine Einflussnahme auf Nichtwissen zuzumuten wäre. Es geht damit um Phasen der Durchführung einer Bohrung, in denen entschieden werden muss, ob und inwieweit das vorhandene Nichtwissen durch weitere geologische Erkundungen oder Modellierungen überhaupt verringert werden kann oder ob ausschließlich ein „learning while doing“ denkbar ist. So verstanden geht es nicht um Verantwortlichkeit, sondern um „vertretbare Unverantwortlichkeit“. Wie genau festgestellt werden kann, dass eine Akteursgruppe (z.B. Hydrologen oder eine Bohrfirma) genügend in Forschungen und Untersuchungen investiert hat, und wann sie plausibel dargelegt hat, dass bestimmte Sachverhalte nicht gewusst werden konnten, kann nicht nur von den beteiligten Ingenieuren entschieden werden. Hierzu muss es ein politisches und gesellschaftliches Übereinkommen geben, das als Legitimationsverfahren dient und auf dessen Grundlage entschieden wird, ob man die Potentiale der Geothermie trotz aller Wissenslücken erschließen möchte.

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A HNUNGSLOS OHNE N ICHTWISSEN : N EUGIERDE UND I RRTÜMER In der Wissenschaftsforschung gilt es seit langem als Allgemeinplatz, dass spekulative und vorläufige Statements als die wichtigsten Schritte im Wissenschaftsprozess betrachtet werden müssen, da sie Denkhorizonte für neues Wissen eröffnen (vgl. prominent z.B. Latour/Woolgar 1986: 75-88, aber auch bereits Fleck 1980). Akzeptiertes Wissen hingegen findet sich eher in Lehrbüchern. In den mit Unsicherheiten beladenen Fragen zur Energiewende und insbesondere zur alternativen Energiegewinnung zeigt sich jedoch die Vorläufigkeit des vorhandenen Wissens in ganz besonderer Weise. Vernes Charaktere erlauben es, Nichtwissen und Irrtümer so zu rahmen, dass ein Umgang mit überraschenden Wendungen als Normalität beschreibbar wird. Der wissenschaftsgläubige Lidenbrock sagt dazu belehrend zu Axel: „Die Wissenschaft, mein Junge, besteht aus Irrtümern, aber aus Irrtümern, die ihre Berechtigung haben, denn sie führen Stück um Stück zur Wahrheit“ (Verne 2011: 208). Allerdings nimmt es Lidenbrock mit seinen eigenen Irrtürmern nicht so ernst. Er lehnt zum Beispiel die These der zentralen Hitze im Erdinneren ab: „Je tiefer ich gelange, umso größer wird meine Zuversicht. […] ich weise die Annahme eines Zentralfeuers vollständig zurück. Und überhaupt: Wir werden ja sehen“ (ibid.: 128).6 Ein bisschen später, nachdem er eine Flüssigkeit aus einem Geysir mit 163 °C gemessen hat, scheint Axel aber zu einer anderen Einschätzung zu gelangen: „Also steigt dieses Wasser aus einem Glutkern nach oben. Das widerspricht entschieden den Theorien des Professors. Ich kann mir eine entsprechende Bemerkung nicht verkneifen. ‚Ach was‘, gibt er mir nur zur Antwort, ‚und inwiefern ist das bitte ein Beweis gegen meine Theorie?‘ ‚Überhaupt nicht‘, sage ich trocken und sehe ein, dass ich es mit absolutem Starrsinn zu tun habe.“ (Verne 2011: 234)

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Lidenbrock bezieht sich hier auf den englischen Chemiker Humphry Davy, der eine eigene Theorie zu Vulkanaktivitäten entwickelt hatte, in der er diese auf rein chemische Reaktionen zurückführte und nicht auf die Hitze in den Tiefen der Erde. Allerdings hatte Davy selbst seine Theorie bereits bei der Erforschung des Ausbruchs des Vesuvs zu Beginn des 19. Jahrhunderts verworfen (Haas 2012: 88, Knight 1992). Andere Theorien des 19. Jahrhunderts gingen davon aus, dass die Erde innen hohl sein könnte, dass die Temperatur nach innen hin abnimmt und allgemein, dass es viele verschiedene Höhlen und Gänge im Erdinneren geben könnte (cf. Greene 1982, Dean 1992, Lesser 1987).

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Hier, wie in vielen anderen Teilen des Romans, werden die Gewissheiten der Charaktere immer wieder in Frage gestellt und wie auch immer ihre Thesen formuliert wurden, die Realität widerlegt sie. Obwohl der Leser des Romans meist den Eindruck hat, dass wissenschaftliche Gewissheiten und endgültige Antworten zum Greifen nahe sind, werden schlussendlich fast keine Lösungen präsentiert. Anders als in kafkaesken Romanen wird in Vernes Reise dies jedoch nie als Problem kommuniziert. Im Gegenteil, die drei Helden fühlen sich in all der Unsicherheit regelrecht wohl; das ist es, was sie zu suchen scheinen. Die Odyssee der Charaktere durch den tiefen Untergrund wird so gesehen vorangetrieben durch das Spannungsverhältnis zwischen einem grenzenlosen Glauben an die Wissenschaft7 und der beständigen Widerlegung wissenschaftlicher Gewissheiten. Wie gehen die Charaktere nun zum Beispiel mit Erdbebenrisiken um? Nach einer von den Forschern ausgelösten Explosion sagt Assistent Axel: „Trotz der Finsternis, des Lärms, der Überraschung, der Aufregung begriff ich, was geschehen war. Hinter dem gesprengten Felsen war ein Abgrund verborgen gewesen. Die Explosion hatte in diesem von Spalten zerfurchten Boden eine Art Erdbeben ausgelöst.“ (Verne 2011: 208)

Vernes Charaktere nutzen jedoch die bedrohlichen Kräfte, die das Erdbeben ausgelöst hat: Sie lassen sich vom Lavastrom auf einem Floß befördern und auf der Insel Stromboli in Italien wieder auf die Erdoberfläche werfen. Auf dem Weg dorthin ist die Orientierungslosigkeit der Charaktere besonders augenscheinlich. Axel sagt: „Wo sind wir? Mit unbeschreiblicher Geschwindigkeit werden wir fortgerissen“ (ibid.: 120). Grundsätzlich aber lässt Axel keinen Zweifel aufkommen, dass Orientierungslosigkeit nicht per se als negativ wahrgenommen wird, denn „Ungeduld und Neugierde trieben uns voran“ (ibid.: 128). Dies gilt auch noch heute, denn wie Stuart Firestein (2012: 65) zusammenfasst: Forschung heißt, eine schwarze Katze in einem völlig dunklen Raum zu suchen und dann zu finden, ohne vorher zu wissen, ob überhaupt eine Katze im Raum ist. Forscher wissen also meist nicht, was sie finden werden, und noch nicht einmal, in welche Richtung sie forschen sollen. Ludwik Fleck hat in seiner berühmten Syphilisstudie die Entdeckungsprozesse der Wissenschaft als eine fruchtbare Irrfahrt beschrieben und mit Kolumbus’ Entdeckung Amerikas verglichen. Kolumbus war sich sicher, Indien zu finden und auf dem Weg dorthin zu sein, doch stattdessen

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An einer Stelle weist Lidenbrock seinen Assistenten Axel zurecht: „Genug jetzt. Wenn die Wissenschaft gesprochen hat, gilt es zu schweigen“ (Verne 2011: 108). Meist muss er das Schweigen bereits an der nächsten Wegbiegung wieder brechen.

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erreichte er Mittelamerika (Fleck 1980: 91-92). In diesem Sinne kann das Nichtwissen als zentrale Triebkraft der Forschung zur Gewinnung von Energie aus Erdwärme verstanden werden. Dies ist nicht verwunderlich, denn, wie weiter oben ausgeführt, stellt die Geothermie als Teil der Energiewende ein sehr neues Forschungsfeld dar. Man findet daher, wie bei allen neuen Forschungsfeldern, in der einschlägigen Fachliteratur häufig widersprüchliche Informationen. Dies macht auch das bestehende Nichtwissen deutlich. Dieses Nichtwissen über den Untergrund kann sowohl Urängste wecken als auch eine große Faszination bewirken. Aber ohne Nichtwissen im oben eingeführten Sinne (Georg Simmel) wäre man ahnungslos.

Z USCHREIBUNG

VON N ICHTWISSEN ALS EXPERIMENTELLES H ANDELN

Verschiedene Vorstellungen über die Hitze im Untergrund basieren möglicherweise auf traditionellen Vorstellungen von der Hölle und von der Unvorhersehbarkeit von Erdbeben und Vulkanausbrüchen, aber eben auch auf populärer Literatur wie Jules Vernes Klassiker der Reise. In dieser Tradition scheint es sehr ratsam, keine schlafenden Monster im Inneren der Erde zu wecken. Dieser eher negative Zugang zu Dingen tief im Untergrund hat sicherlich auch die öffentliche Wahrnehmung und Interpretation der Gewinnung geothermischer Energie beeinflusst. Vor dem Hintergrund unvermeidbarer Unsicherheiten und Wissenslücken bei der Etablierung alternativer Energiesysteme kann für die Entscheidungsfindung zu zukunftsfähigen Strategien geothermischer Energiegewinnung nur ein Weg eingeschlagen werden, bei dem Nichtwissen eingestanden und offengelegt wird, um es in einen demokratischen Diskurs einzupflegen. Insofern kann man Vernes Präsentation der Spannungen zwischen verschiedenen Wissensressourcen (wie an den Hauptdarstellern exemplifiziert) als aufschlussreiche Analogie zum Herauspräparieren von Vorstellungen und Entscheidungsfindungen nutzen, die man heute auch in der Erkundung von Geothermiequellen findet. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass mit Hilfe von Vernes Charakteren gezeigt werden kann, dass eine wichtige Voraussetzung für erfolgreiches Scheitern bei der Gewinnung geothermischer Energie die Bereitschaft dafür ist, nicht nur Nichtwissen einzugestehen, sondern auch Entscheidungen zu treffen, selbst und gerade dann, wenn Nichtwissen erkannt wurde. Dies weist auf die in Kapitel 1 gemachte Beobachtung hin, dass das Erkennen von Nichtwissen der erste Schritt experimentellen Handelns ist, bei dem erhoffte Antworten möglicher-

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weise ausbleiben, aber zumindest andere als die erhofften gefunden werden, so dass aus Nichtwissen neues – wenn auch unerwartetes – Wissen entstehen kann. Wie schon im oben diskutierten Beispiel der Altlastensanierung wirft eine solche Vorgehensweise erneut die Frage auf, inwieweit die Schuldzuweisung an Entscheidungsträger ihr Ziel verfehlt. Die Zuschreibung zielt auch auf das Nichtwissen (man konnte es ja nicht wissen), nicht auf den Entscheider, und wird ebenso auf etwas „Außersoziales“ verschoben, was noch nicht recht verstanden ist, was damit eher einer „Naturkraft“ gleichkommt, denn es ist etwas, was nicht auf soziale Tatsachen im durkheimschen Sinne klar zuordenbar ist. Auf diese Weise kann jedoch eine Sensibilisierung für das Unbekannte stattfinden. Durch diese Sensibilisierungen werden dann Überraschungen, die den Kurs der Entwicklung und Planung ändern können, nicht grundsätzlich als Fehlschläge kommuniziert, da sie durchaus als außerhalb gesellschaftlicher Entscheidungszusammenhänge und Verantwortlichkeiten liegend angesehen werden können. Dies bedeutet dann auch, dass die Kommunikation von Nichtwissen in eine Entlastungsrhetorik münden kann. Zudem können Überraschungen zwar gelegentlich als solche wahrgenommen werden, aber die kausalen Zusammenhänge mit dem eigentlichen Projektverlauf werden nicht immer eindeutig erkannt und damit sind korrigierende Anpassungen nur gelegentlich möglich. Der konstruktive Umgang mit Nichtwissen scheint ein ehrlicher Weg zu sein, der eine Sicherheitskultur skizziert, die die überhöhten Hoffnungen auf sicheres Wissen durch mehr Wissenschaft zu vermeiden sucht. Dies eröffnet eine Chance für pragmatische und experimentelle Strategien, die helfen können, erfolgreich mit unvermeidlichen Überraschungen umzugehen (vgl. Groß 2013), oder wie es Jules Verne durch seinen Erzähler Axel ausdrückt: „Meine Augen waren auf jede Überraschung gefasst, meine Phantasie auf alles Staunenswerte“ (Verne 2011: 266). In diesem Sinne lässt sich mit Hilfe von Vernes Roman ausdrücken, dass das Erwarten und Verarbeiten von Überraschungen kein Zeichen schlechter Wissenschaft sein muss, sondern ein normaler Aspekt von Forschung ist. Er zeigt, dass Lösungen, die sich als einfach und sicher anbieten, sich mit großer Sicherheit als falsch erweisen werden. Dies ist jedoch kein Grund zum Verzweifeln, denn auch wenn Vernes Charaktere keine technische Kontrolle über die Welt im Untergrund haben, lassen sie keinen Zweifel daran, dass sie sich dennoch sehr wohl und sogar zu Hause fühlen. Vielleicht liefert dies auch einen Anreiz dafür, beruhigter mit den unvermeidbaren Unsicherheiten von Forschung und Technik umzugehen – in der Energiewende allgemein und der geothermischen Energiegewinnung im Besonderen. Die Beruhigung mag man daraus ziehen, dass die Normalität nützlichen Nichtwissens bei der experimentellen Fortbewegung im Untergrund eine lange

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Tradition in unserer Kultur besitzt. Beunruhigend ist jedoch sicherlich, dass dieser historische Rückblick verdeutlicht, dass auch in Zukunft keine sicheren Lösungen zu erwarten sind. Auch Energiewenden können scheitern, denn eine Garantie, dass Überraschungen nicht doch als negativ bewertet werden, gibt es nicht. Nur: Ohne Überraschungen bleibt alles beim Alten. Nur Nichtwissen, das man erkennt und benennt, kann man nützlich einsetzen. Ohne überraschend erkannte Wissenslücken könnte kein neues Wissen gedeihen und die Energiewende wäre zum Scheitern verurteilt. Karl Popper (siehe Kapitel 3) hatte dem klugen Ingenieur bereits bescheinigt, dass er nicht nur weiß, was nicht gewusst wird, sondern dieses Wissen auch nutzt, um vorwärtszukommen. Dies scheint auch im Fall der Energiewende der Weg zu sein, da es hierfür keine Blaupausen gibt und neues und sicheres Wissen nur durch das experimentelle Gehen des Wegs selbst gewonnen werden kann.

Zu viel Resilienz

Hindernisse auf dem Weg in die experimentelle Gesellschaft

Resilienz hat sich in den letzten zehn Jahren zu einem Modewort in Politik und Ökologie – und vielen anderen Bereichen – entwickelt. Menschen sollen sich resilient entwickeln, Gesellschaften auch. Die Welt ist bedrohlich, weshalb es ratsam scheint, sich gegen äußere Einflüsse zu schützen. Versteht man Resilienz darüber hinaus als Allheilmittel nicht nur für einen besseren Umgang mit Extremereignissen, dann besteht jedoch die Gefahr der Ausblendung wichtiger Fragen. Die wichtigste Frage ist sicher nicht immer die, wie man die Ökologie oder auch die Wirtschaft stabiler oder robuster machen sollte, um zum Beispiel durch eine Rezession oder andere überraschende Ereignisse ausgelöste Schocks abzufedern, sondern die, wie die Welt umgestaltet werden kann, damit die bestehenden Probleme, die zu den Schocks führten, nicht mehr auftreten oder zumindest Horizonte für ihre Transformation sichtbar werden. Mit Resilienz hingegen hat man ein Konzept zur Hand, das immer nach innen oder zeitlich rückwärtsgewandt ist; das Gleichbleibende ist der Maßstab. Resilienz fördert „Bunkerdenken“ oder bestenfalls Anpassungsdenken, wie bei Neuraths Schiff auf hoher See (Kapitel 1) – also genau das Denken, das oft zu den ökologischen und sozialen Problemen geführt hat, auf die reagiert werden sollte. Am gravierendsten scheint jedoch, dass die Resilienz-Doktrin, trotz aller Rhetorik von Lernen und Selbstorganisation (vgl. allein Folke et al. 2010), keine konkreten Visionen für den Umgang mit einer unsicheren Zukunft zulässt. Die Vorschläge erschöpfen sich normalerweise in Allgemeinplätzen à la: „Resilience thinking suggests that such events [novel shocks] may open up opportunities for reevaluating the current situation, trigger social mobilization, recombine sources of experience and knowledge for learning, and spark novelty and innovation. It may lead to new kinds of adaptability or possibly to transformational change.“ (Folke et al. 2010)

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Kurzum: Resilienz hilft irgendwie immer. Oder alternativ: Nie. Die einzige erkennbare Schnittmenge im Resilienzdiskurs scheint die Verteidigung des Status quo oder bestenfalls eine Verbesserung der Anpassungsfähigkeit („enhancing adaptive capacity“ heißt es bei Holling und Kollegen gerne) zu sein. Selbstverständlich ist es wichtig, einigermaßen unbeschadet durch Krisen zu kommen (vgl. Bercht 2013), aber es sollte auch möglich sein, alternative Strategien zu entwickeln, in denen die Ursachen für die Krisen zumindest erkannt werden. Die Resilienzliteratur suggeriert dies zwar gelegentlich, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie die Herkunft des Resilienzbegriffs nicht ohne Weiteres abschütteln kann – jedenfalls nicht, ohne in schwer aufzulösenden Paradoxien zu landen oder eben in einer Beliebigkeit des Resilienzverständnisses. Hier scheint der experimentelle Umgang mit nützlichem Nichtwissen zumindest eine Möglichkeit zu sein, einen Analyserahmen zu liefern, der zeigt, wie Akteure trotz Wissenslücken konstruktiv Neues generieren können – statt um jeden Preis zu versuchen, unausweichliche Wissenslücken zu eliminieren. Wenn wir die bisherigen Fälle vor dem Hintergrund der Bildung von Nichtwissenskommunikation und der Frage nach der Experimentierfreude in der Gesellschaft Revue passieren lassen, wird deutlich, dass durch experimentell gelagerte Strategien oft kostenintensive und mit zahlreichen Unbekannten konfrontierte Projekte zeitnah abgeschlossen werden können, ohne dass die Akteurskonstellation zerbricht. Hackenberg sagt hierzu deutlich, dass im juristischen Sinne der „Erklärung mit Nichtwissen […] eine Aussagekraft hinsichtlich der Wahrheit oder Unwahrheit der in Rede stehenden Tatsache nicht zu[kommt]“ (Hackenberg 1995: 180). Nichtwissen ist jedoch nicht einfach als eine naturgegebene Gefahr zu verstehen, die man nur hinnehmen kann. Es scheint eher so, dass Nichtwissen zwar externalisiert wird, dass aber dennoch selbstverständlich negative Folgen verantwortungsvoll verarbeitet werden oder zumindest in eine „vertretbare Unverantwortlichkeit“ (Heidbrink 2013) münden können. Sollte sich bestätigen, dass in einer sich abzeichnenden „experimentellen Gesellschaft“ (Groß 2010, Overdevest et al. 2010, Peters 1998) im 21. Jahrhundert Nichtwissen in und aus der Wissenschaft offen kommuniziert und zunehmend als Entscheidungsgrundlage genutzt wird, wird man sich mit der Gefahr seines Missbrauchs in Form von „Verantwortungsentziehung“ allerdings genauer auseinandersetzen müssen. Allgemein liegt der experimentelle Umgang mit Nichtwissen im Trend aktueller Diskussionen um offene Methoden der Handlungskoordinierung in der Europäischen Union (Lang/Bergfeld 2005), um einen „demokratischen Experimentalismus“ (Brunkhorst 1998, Dorf/Sabel 1998) oder um Strategien „experimenteller Governance“ (Sabel/Zeitlin 2010). Grundsätzlich

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passt der experimentelle Umgang mit Nichtwissen auch zu dem, was Karl-Heinz Ladeur (2006: 296) einen Prozess der allgemeinen gesellschaftlichen Umstellung nennt, „von der Orientierung an der Erfahrung und relativ stabilen Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft“ hin zu „hybriden Verschleifungen und Relationierungen von Suchprozessen in Netzwerken“. In solchen „experimentellen“ Suchprozessen gelagerte Entscheidungsprozesse in soziologischen Analysen (z.B. in Kooperation mit Expertise aus der Linguistik und anderen Disziplinen) sichtbar zu machen und zu zeigen, dass Nichtwissen heute schon explizit Teil von Aushandlungsprozessen ist, erscheint damit als eine wichtige Weiterentwicklung und eine Alternative zu risikozentrierten Analysen sowie zu den stark von Resilienz- und Anpassungsdenken geprägten Ansätzen in vielen Sozial- und vor allem Ökowissenschaften. Durch eine experimentelle Rahmung kann zudem aufgezeigt werden, wie Akteure in die Lage versetzt werden können, Projekte erfolgreich durchzuführen und kontextbezogen neues Wissen über das bislang Ungewusste zu generieren. Es geht also oft nicht um Anpassungsressourcen, sondern um Strategien für „Reisen auf’s offene Meer“, um einen Weg in das Unbekannte, auf dem man die Grenzen traditionellen Denkens, wie es bei Bacon heißt, hinter sich lassen soll. Das Konzept des Realexperiments impliziert das Hinter-sich-lassen alter Strukturen und Funktionen, da diese die Gründe für wahrgenommene Probleme beherbergen. Fälle, in denen es sich eher um nicht oder gar anti-resiliente Prozesse handelt, scheinen oft die erfolgreicheren zu sein, wie die Beispiele von der ökologischen Renaturierung bis zur Landschaftsumgestaltung zeigen. Zunehmend haben wir es im Anthropozän mit neuen Ökosystemen zu tun, die sich gar nicht mehr sinnvoll an früheren Zuständen und historischen Daten orientieren können (vgl. Hobbs et al. 2013, Keulartz 2012, Küffer 2013, Lorimer/Driessen 2014, Perring et al. 2013). Dementsprechend sollten sozial-ökologische Veränderungen nicht als resiliente Prozesse konzipiert werden, denn Infrastrukturumstellungen, wie zum Beispiel bei der Energiewende, verlangen nach experimentellen Strategien, da keine Blaupausen für das Erreichen dieser strukturellen Veränderungen vorhanden sind. Es gibt in diesem Sinne keine verlässlichen Strukturen, die man unbedingt beibehalten muss. Dies gewinnt besonders im Rahmen der Energiewende (zumindest in Europa) eine besondere Note, denn es sind zunehmend ländliche Regionen und Dörfer mit weniger als 1000 Einwohnern, die heute schon Zentren technischer und struktureller Innovationen im Energiesektor darstellen und damit das Potential haben, bestehende urban-zentrierte Infrastrukturen zu transformieren. So gesehen wäre dies ein nicht resilienter Prozess. Conrad Kunze (2013) hat zudem gezeigt, dass ländliche Regionen und Kleinstädte gerade deshalb als Zentren der

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erneuerbaren Energieproduktion erfolgreich sind, weil sich hier bestehende Strukturen auflösen – dadurch, dass sich lokale Initiativen entwickeln, die sich grundlegend gegen die eher zentralistischen Organisationsformen der Energieversorgung, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten vorherrschten, richten. Was immer in der Resilienzliteratur nun mit Struktur und „bleibender Identität“ gemeint sein mag, mit Blick auf die erfolgreichen Bestrebungen im Rahmen der Energiewende wird man sagen müssen, dass lediglich bleibende Strukturen zu schaffen nicht der richtige Weg sein kann. Ländliche Regionen können kritische Nischen für strukturelle Veränderung darstellen, da sich hier neue Kooperationsformen zum Beispiel zwischen Landwirtschaft und Energiekooperativen entwickeln können. Giorgio Osti (2014) hat für den ländlichen Raum in Italien konstatiert, dass die Diffusion von Initiativen im Sektor der erneuerbaren Energien als vielversprechender Pfad für eine erfolgreiche Energiewende gesehen werden kann, wenngleich genau hier auch die größten Konflikte zu erwarten sind. Kurzum: Wie wir in den vorhergehenden Kapiteln gesehen haben, scheinen es eher die nicht resilienten Fälle zu sein, die als erfolgreich eingestuft werden können. Zumindest spricht das Ergebnis nicht eindeutig für Resilienz. Man kann abschließend festhalten, dass ein genereller Aspekt der Entwicklung einer experimentellen Alltagskultur darin besteht, dass Akteure mit zunehmender Erfahrung ein besonderes Bewusstsein für Nichtwissen entwickeln können, was dazu führen kann, dass Strategien für den Umgang mit vorstellbaren Überraschungen möglich werden. Auf dieser Grundlage lässt sich beobachten, dass zumindest für zeitlich befristete und auf einen konkreten Raum bezogene Projekte eine experimentelle Alltagskultur ohne Furcht vor dem Unberechenbaren möglich ist. Sie setzt allerdings voraus, dass die Akteure bereit sind, sich für die experimentelle Gesellschaft einzusetzen. Leider ist es jedoch fraglich, inwieweit es in einer Gesellschaft, die sich zunehmend vor allem fürchtet und in den Augen verschiedener Kommentatoren (Stichwort „Wutbürger“) in erster Linie darauf erpicht zu sein scheint, Resilienz im Sinne von Wahrung des Status quo anzustreben, sinnvoll ist, darauf zu verweisen, dass praktisch alle Formen ökologischer Veränderung und Gestaltung letzten Endes nur von Nichtwissen geprägte experimentelle Suchprozesse sein können. Woher kommt das heutige Unbehagen an den weithin sichtbaren Veränderungen, die mit der Energiewende einhergehen? Können (müssen) in den Himmel ragende Windräder, spiegelnde Photovoltaikflächen und sich ausbreitende Maisfelder nicht einfach als das betrachtet werden, was sie sind: äußere Begleiterscheinungen eines Jahrhundertprojekts, das die Mehrheit befürwortet? Es hat möglicherweise auch mit dem zu tun, was im Kern des Resilienzdenkens steckt: Zum einen ist da das offizielle Befürworten von Veränderung, aber auch das tat-

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sächliche Festhalten am Bestehenden; es zeigt sich der Wille zu erneuerbaren Energien, aber ebenso das Festhalten an einem Naturideal von Gleichgewicht und Harmonie. Zumindest lässt sich sagen, dass die Deutschen sehr umweltbewusst sind (Kuckartz 2008). Das bedeutet auch, dass sie sich – wie verschiedene Umfragen zeigen1 – dessen bewusst sind, dass anstelle fossiler Energieträger zumindest mittelfristig alternative Energiequellen, am besten erneuerbare, gefunden werden müssen. Zum anderen besteht – und das ist ein Hauptgrund für den genannten Widerspruch – ein gewisser Konservatismus, denn der Lebensstandard soll mit und durch die Energiewende gleich bleiben, wenn schon nicht steigen. Wird die Gefahr gewittert, dass infolge der Energiewende die Lebensqualität durch Windräder, Stromtrassen, Photovoltaikflächen oder seismische Aktivitäten bei Geothermiebohrungen verringert werden könnte, dann sollen diese Aktivitäten doch bitte an anderer Stelle, weit weg von der eigenen Haustür stattfinden. So gesehen ist das beschriebene Paradox nichts außergewöhnliches (Sankt Floriansprinzip). In ihm leuchten jedoch verschiedene sogenannte innerökologische Konflikte auf. Die mit dem starken Umweltbewusstsein verbundene und sich seit den 1970er Jahren verfestigende ethische Grundstimmung, möglichst wenig an Mutter Natur herumzupfuschen, passt nicht zu einer „Verspargelung der Landschaft“ (vgl. Krauss 2010) durch Windräder, Verspiegelungen durch Photovoltaikparks, geothermischen Tiefenbohrungen oder Trassenbildungen durch die geliebte Heimat. Diese Widersprüche stellen Aspekte dar, die bei anderen Formen des Unmuts in der Bevölkerung weniger zu finden sind. Die Natur, die man mit der Wende hin zu erneuerbaren und damit „sauberen“ Energiequellen schützen will, darf selbstredend für die Hervorbringung der Wende nicht verändert werden. So gesehen ist das Umweltbewusstsein selbst zumindest ein Grund für die zunehmenden Bedenken gegenüber der Energiewende (vgl. Groß 2014). Es fußt auch heute noch auf dem Ideal der unberührten Natur und auf der emotional gefärbten Vorstellung eines Lebens im Einklang mit sich selbst regenerierenden Naturressourcen.

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Hier sei nur auf die aktuellen Umfragen des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW, www.bdew.de), die Umfragen der Agentur für erneuerbare Energien (www.unendlich-viel-energie.de/mediathek), die aktuelle repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid im Auftrag des Bundesverbandes Erneuerbare Energien (BEE) oder die Studie Naturbewusstsein 2013, die vom BfN und dem BMUB veröffentlicht wurde (siehe: www.bfn.de/0309_naturbewusstsein.html), hingewiesen (alle aufgerufen am 11.05.2014).

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Der Mythos von der unberührten Natur als einzig wahre und gute Natur steht hier im Weg. Für eine Überwindung der paradoxen Haltung zur Energiewende müsste sich die Einsicht durchsetzen, dass für einen Erfolg derselben sowohl in der Natur als auch in der sozialen Umwelt Veränderungen notwendig sind, die nichts mit Gleichgewicht, Idylle oder Resilienz zu tun haben (müssen). Dies wäre die Voraussetzung für eine Gesellschaft, die sich auf das unsichere Experiment Energiewende einlassen will. Wenn es allerdings lediglich darum gehen soll, der Angst vor dem Unerwarteten mit immer strengeren Gesetzen, peniblen Vorsorgemaßnahmen und Regulierungen zu begegnen, dann wäre der experimentelle und immer mit Nichtwissen verbundene Weg zu einer nachhaltigeren Gesellschaft verbaut. Insbesondere im Hinblick auf die vielleicht größte gesellschaftliche Herausforderung der kommenden Jahrzehnte, die Etablierung erneuerbarer Energieversorgungssysteme, könnte eine solche Sichtweise auf das Unberechenbare in der Tat ein Problem werden. Die vorherigen Kapitel sollten jedoch gezeigt haben, dass es trotz allem heute schon viele Bereiche in der Praxis gibt, die deutlich „experimenteller“ entwickelt zu sein scheinen, als es die offizielle politische und auch juristische Sicherheits- und Resilienzrhetorik nahelegt.

Literatur

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Nachweise

Die meisten der in diesem Buch befindlichen Kapitel gehen ursprünglich auf Arbeiten zurück, die auf Englisch erschienen sind. Sie wurden für dieses Buch ins Deutsche übertragen. Dabei wurden die Texte teilweise grundlegend überarbeitet, aktualisiert und aufeinander abgestimmt. Es handelt sich im Einzelnen um folgende Quellen: Kapitel 2 basiert in Teilen auf „Unexpected Interactions: Georg Simmel and the Observation of Nature“, Journal of Classical Sociology 1 (3): 395-414, 2001. Die Übersetzung des ursprünglichen Manuskriptes besorgte Franziska Werner. Kapitel 3 nutzt als Hauptquelle „Objective Culture and the Development of Nonknowledge: Georg Simmel and the Reverse Side of Knowing“, Cultural Sociology 6 (4), 2012. Die Übersetzung des ursprünglichen Manuskriptes besorgte Sophia Kluge. Kapitel 4 ist eine stark erweiterte und überarbeitete Version von „The Public Proceduralization of Contingency: Bruno Latour and the Formation of Collective Experiments“, Social Epistemology 24 (1): 63-74, 2010. Das Kapitel greift ebenfalls Teile aus „Collaborative Experiments: Jane Addams, Hull-House, and Experimental Social Work“, Social Science Information 48 (1): 81-95, 2009 auf. Teile von Kapitel 5 basieren auf „Return of the Wolf: Ecological Restoration and the Deliberate Inclusion of the Unexpected“, Environmental Politics 17 (1): 115-120, 2008, sowie auf „New Natures and Old Science: Hands-on Practice and Academic Research in Ecological Restoration“, Science Studies 15 (2): 17-35, 2002.

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Kapitel 6 geht zurück auf „Ignorance, Research and Decisions about Abandoned Opencast Coal Mines“, Science & Public Policy 37 (2): 125-134, 2010. Die Übersetzung des ursprünglichen Manuskriptes besorgte Sophia Kluge. Kapitel 7 geht auf eine gemeinsame Publikation mit Alena Bleicher zurück, die als „Jenseits der Zurechnung auf Entscheidungen: Nichtwissenskommunikation am Beispiel Altlastensanierung“ erschien in: Nina Janich, Alfred Nordmann und Liselotte Schebek (Hg.): Nichtwissenskommunikation in den Wissenschaften, Frankfurt/Main: Peter Lang, 2012. Ich danke Alena Bleicher für die Erlaubnis, auf diese gemeinsame Publikation zurückgreifen zu dürfen. Kapitel 8 baut auf folgendem Essay auf: „Old Science Fiction, New Inspiration: Communicating Unknowns in the Utilization of Geothermal Energy“, Science Communication 35 (6): 810-818, 2013. Eine andere Version hiervon findet sich in: Wehling, Peter (Hg.): Vom Nutzen des Nichtwissens: Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld: transcript, 2015.

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Science Studies Rudolf Stichweh Wissenschaft, Universität, Professionen Soziologische Analysen (Neuauflage) 2013, 360 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2300-0

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Sibylle Peters (Hg.) Das Forschen aller Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft 2013, 262 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2172-3

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