Die Bundeswehr 1955 bis 2005: Rückblenden - Einsichten - Perspektiven 9783486711837, 9783486579581

Im Jahre 2005 konnte die Bundeswehr auf eine 50-jährige Geschichte zurückblicken. Diese Geschichte ist überaus facettenr

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Die Bundeswehr 1955 bis 2005: Rückblenden - Einsichten - Perspektiven
 9783486711837, 9783486579581

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Die Bundeswehr 1955 bis 2005. Rückblenden - Einsichten - Perspektiven

Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland Herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt Band 7

R. Oldenbourg Verlag München 2007

Die Bundeswehr 1955 bis 2005 Rückblenden - Einsichten - Perspektiven

Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes herausgegeben von Frank Nägler

R. Oldenbourg Verlag München 2007

Umschlagabbildungen: Afghanistan: Beobachtung im Schatten eines Waffenträgers Wiesel, 29. April 2002. Foto: Militärhistorisches Museum, Dresden. Kurz nach Aufstellungsbeginn der Bundeswehr: Marschierende Truppe. Foto: Hans H. Siwik, aus: Das Deutsche Heer, Bonn 1957, S. 9. Trotz sorgfältiger Nachforschungen konnten nicht alle Fotografen ermittelt werden. Wir bitten nicht genannte Urheber, sich beim Militärgeschichtlichen Forschungsamt zu melden.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich

© 2007 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Str. 145, D-81671 München Internet: www.oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Satz: Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam Umschlag: Maurice Woynoski, Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam Herstellung: Wuhrmann Druck & Service GmbH, Freiburg

ISBN 978-3-486-57958-1

Inhalt Geleitwort Vorwort

IX XI

Frank Nägler: Einleitung

1

I.

7

Der Neuansatz im Streitkräfteaufbau

Manfred Görtemaker: Einführung

9

Bruno Thoß: Bündnisintegration und nationale Verteidigungsinteressen. Der Aufbau der Bundeswehr im Spannungsfeld zwischen nuklearer Abschreckung und konventioneller Verteidigung (1955 bis 1968)

13

Klaus Larres: Sicherheit mit und vor Deutschland. Der Einfluss der Bundesrepublik auf die USA und das westliche Bündnis in den 50er und 60er Jahren

39

Martin Kutz: Die verspätete Armee. Entstehungsbedingungen, Gefährdungen und Defizite der Bundeswehr

63

Frank Nägler: Muster des Soldaten und Aufstellungskrise

81

II.

Soldatenprofile, Wertewandel und Integrationsanliegen einer Ausbildungsarmee

101

Klaus Naumann: Einführung

103

Eckardt Opitz: »Kämpfer« oder »Denker«? lange und kontroverse Weg zum Studium für angehende OffiziereDer in Deutschland

105

John Zimmermann: Vom Umgang mit der Vergangenheit. Zur historischen Bildung und Traditionspflege in der Bundeswehr

115

VI

Inhalt

Elmar Wiesendahl: Jugend und Bundeswehr. Eine jugendsoziologische Epochenanalyse

131

Gerhard Kümmel: Ein Offizier und Gentleman. Ritterlichkeit im Selbstverständnis des Soldaten und ihre Auswirkungen auf die Geschlechterordnung in der Bundeswehr

147

Horst Scheffler: Von Gruppenseelsorge und Individualseelsorge sowie von kritischer Solidarität und kritischer Sympathie. Entwicklungen in der evangelischen Militärseelsorge im Spiegel der Akten der Gesamtkonferenzen

165

III. Westdeutsche Sicherheitspolitik und Streitkräfte in der medialen Öffentlichkeit und politischen Kommunikation

179

Wolfgang Schmidt: Westdeutsche Sicherheitspolitik und Streitkräfte in der medialen Öffentlichkeit und politischen Kommunikation. Eine Einführung

181

Thorsten Loch: »Stufen zum Erfolg«. Die Werbebotschaften in der Bildkommunikation der frühen Bundeswehr

195

Rudolf J. Schlaffer: Das Wirken des Wehrbeauftragten in der politischen Kommunikation

213

Katja Protte: »APO in der Bundeswehr?« Mediale Selbstvermittlung der Streitkräfte durch die Bundeswehr-Filmschau in den späten 60er und frühen 70er Jahren

231

Joan Κ. Bleicher und Knut Hickethier: Der Blick des Fernsehens auf die Bundeswehr

269

IV. Der gedachte Krieg auf deutschem Boden unter den Vorzeichen von Spannung und Entspannung

291

Dieter Krüger: Einführung

293

Helmut R. Hammerich: Der Fall »MORGENGRUSS«. Die 2. Panzergrenadier-Division und die Abwehr eines überraschenden Feindangriffs westlich der Fulda 1963

297

Axel F. Gablik: »Eine Strategie kann nicht zeitlos sein«. Flexible Response und WINTEX

313

Inhalt

VII

Wolfgang Altenburg: Die Nuklearstrategie der Nordatlantischen Allianz. Vom Gegeneinander zum Miteinander im Ost-West-Verhältnis

329

Olaf Theiler: Die Entfernung der Wirklichkeit von den Strukturen. Die Bedrohungslage der NATO und ihre Wahrnehmung in der westdeutschen Bevölkerung 1985 bis 1990

339

V.

365

Der Anschluss an die moderne Wehrtechnik

Klaus Dieter Leister: Einführung

367

Bernd Lemke: Eine Teilstreitkraft zwischen Technik, Organisation und demokratischer Öffentlichkeit. Waffensysteme der Luftwaffe

369

Dieter H. Kollmer: »Nun siegt mal schön!« Aber womit? Die Aufrüstung des Heeres der Bundeswehr 1953 bis 1972

397

Sigurd Hess: Der Übergang der Marine in das Zeitalter von Führungs-, Waffeneinsatzsystemen und Flugkörpern. Die Phase der Innovation 1963 bis 1976

417

VI. Die Neuorientierung im Zeichen der deutschen Einigung und des veränderten Aufgabenprofils 1990 bis 2005

437

Hans Frank: Einführung

439

Hans Frank: Nur von Freunden umgeben. Die veränderte Sicherheit nach Vereinigung und Uberwindung des Kalten Krieges

441

Gunnar Digutsch: Die NVA und die Armee der Einheit

451

Klaus Naumann: Der Wandel des Einsatzes von Katastrophenhilfe und NATO-Manöver zur Anwendung von Waffengewalt und Friedenserzwingung

477

Robert Bergmann: Eine Neubegründung der Inneren Führung? Soldatenprofil und Einsatzerfahrung

495

Franz H.U. Borkenhagen: Entwicklungslinien aktueller deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik

501

Abkürzungen Die Autoren

519 523

Geleitwort Im Jahre 2005 konnte die Bundeswehr mit berechtigtem Stolz auf 50 Jahre erfolgreiche Friedenssicherung zurückblicken - davon 15 Jahre als Streitkräfte eines vereinigten Deutschlands. 50 Jahre sind, betrachtet man die jüngere deutsche Vergangenheit, eine lange Zeit. Die Bundeswehr besteht damit länger als Wehrmacht und Reichswehr zusammen und mittlerweile auch länger als die deutschen Armeen des Kaiserreichs. 1955 wurden zehn Jahre nach Kriegsende und sechs Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland Streitkräfte aufgestellt, die erstmals konsequent dem Primat der Politik unterstellt und auf das neue Leitbild der Inneren Führung und des Staatsbürgers in Uniform verpflichtet waren. Wie in der Gesellschaft der Bundesrepublik insgesamt, so haben auch in den Streitkräften ehemalige Soldaten der Wehrmacht wesentlich zum Neuanfang beigetragen. Heute können wir mit Genugtuung feststellen, dass die konsequente Einbettung unserer Streitkräfte in das demokratische Gefüge unserer Gesellschaft und unseres Staates und deren Verankerung darin gelungen ist. Nach Ende des Kalten Krieges hat die Bundeswehr sowohl das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten als auch im weiteren europäischen Zusammenhang die Vertrauensbildung unter den früheren Blockgegnern gefördert. Die Bundeswehr als Armee der Einheit ist Realität geworden. Die Konzepte der Gründerväter haben dabei das Zusammenwachsen zur Armee der Einheit maßgeblich unterstützt. Auch als eine Armee im Bündnis hat sich die Bundeswehr bewährt, zudem ist die multinationale Einbindung Ausdruck für 50 Jahre deutscher Solidarität, Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit. Heute ist die Bundeswehr zu einem weltweit operierenden, verlässlichen und professionellen Partner geworden. Überdies erwies sie sich in heimischen wie auswärtigen Notsituationen - von der Hamburger Flutkatastrophe 1962 bis hin zu den Verwüstungen des fernöstlichen Seebebens am Jahresende 2004 - als rasch verfügbarer und effizienter Helfer. Die erfolgreiche Sicherheitsarchitektur des Kalten Krieges, die uns vier Jahrzehnte den Frieden in Mitteleuropa erhalten hat, entspricht nicht länger den Bedrohungen. Im 21. Jahrhundert müssen sich alle Instrumente der Sicherheitsvorsorge daran messen lassen, welche Antworten sie auf eine Vielzahl neuer und nur schwer kalkulierbarer Risiken und Herausforderungen geben können, die an die Stelle einer dominanten Bedrohung mit geografischer und staatlicher Zuordnung getreten sind.

χ

Geleitwort

Die Aufgaben der Bundeswehr wurden deshalb differenzierter als zuvor definiert und neu gewichtet. Als wahrscheinlichste Aufgabe rückt heute die internationale Konfliktverhütung und die Krisenbewältigung, einschließlich des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus, an die erste Stelle des Auftragsspektrums . Mit der einsatzorientierten Neuausrichtung zieht die Bundeswehr die richtigen Folgerungen aus den veränderten Konfliktbildern. Die Streitkräfte werden den neuen Bedrohungen entsprechend organisiert, ausgerüstet und ausgebildet. Das übergeordnete Ziel bleibt dabei jedoch das gleiche wie bei Gründung der Bundeswehr: Es geht darum, die Streitkräfte so zu verändern, dass sie auch morgen noch den Schutz und die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes gewährleisten können. Die Entwicklung der Bundeswehr seit ihrer Gründung vor 50 Jahren zu beschreiben und einzuordnen gehört zu den Aufgaben der historisch-politischen Bildung. Diese trägt damit wesentlich zur Ausformung des Selbstverständnisses deutscher Streitkräfte bei. Hierzu leistet der vorliegende Tagungsband einen wichtigen Beitrag. Er ermöglicht nicht nur den historischen Nachvollzug der Geschichte der Bundeswehr; dies allein wäre bereits verdienstvoll. Darüber hinaus kann die Beschäftigung mit der Entstehung und Entwicklung der Streitkräfte aber auch eine Selbstbesinnung auf die Grundlagen soldatischen Dienens in einer Demokratie anstoßen und somit zur geistigen Orientierung im aktuellen Transformationsprozess beitragen. Ich wünsche daher diesem lobenswerten Tagungsband, dass ihm die gebührende Beachtung innerhalb und außerhalb der Bundeswehr widerfährt.

General Wolfgang Schneiderhan Generalinspekteur der Bundeswehr

Vorwort Aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der Bundeswehr veranstaltete das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) die 47. Internationale Tagung für Militärgeschichte vom 12. bis 16. September 2005 in Bonn im »Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland«. Der nunmehr vorliegende Tagungsband spiegelt mit seinen Beiträgen eine Vielzahl von Aspekten zu der bis an die Gegenwart heranreichenden Geschichte der Bundeswehr. Die Bandbreite der gebotenen Einblicke hängt mit dem Doppelsinn von Geschichte zusammen, die das vergangene Geschehen und dessen Erzählung meint. Ermöglicht wird die historiografische Vielfalt zum einen durch den Umstand, dass die Bundeswehr selbst - salopp und im Sinne eines unvermeidbaren Alterns wohl auch nicht ganz zutreffend formuliert - »in die Jahre gekommen« ist, dass sie mit jedem Tag ihrer Existenz auch ein »Mehr« an Geschichte »gemacht« hat. Sie kann inzwischen auf eine sich über mehr als ein halbes Jahrhundert erstreckende eigene Vergangenheit zurückblicken. Die zunehmend eigene Vergangenheit der Bundeswehr spiegelt sich in der Arbeit des MGFA. Der beginnenden Verdichtung zu einer Bundeswehrgeschichte hat das MGFA bereits vor gut drei Jahrzehnten Rechnung getragen, indem es mit der Veröffentlichung des Bandes »Verteidigung im Bündnis« 1 eine erste Bilanz zu der Vorbereitungs- Aufbau- und Konsolidierungsphase vorlegte. Parallel zu dem weiteren Anwachsen dieser Vergangenheit folgten dann - neben einzelnen Monografien - auf breiter Quellengrundlage ab 1982 die vier Bände der »Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945 bis 1956«2. Darauf aufbauend hat der im MGFA die »Militärgeschichte der Bundesrepublik im Bündnis« betreuende Forschungsbereich die Reihe »Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland« eröffnen können 3 , in der auch dieser Tagungsband als siebte Veröffentlichung erscheint. Dieser Forschungsbereich bildet bereits jetzt mit seinen Publikationen einen zentralen Schwerpunkt in der Arbeit des Amtes. Seine Bedeutung wird mit den kommenden Jahren der Bundeswehr noch größer werden. 1

2

3

Verteidigung im Bündnis. Planung, Aufbau und Bewährung der Bundeswehr 1950-1972. Hrsg. vom MGFA, München 1975. Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945 bis 1956. Hrsg. vom MGFA, 4 Bde, München 1982-1997. Begonnen mit Bruno Thoß, NATO-Strategie und nationale Verteidigungsplanung. Planung und Aufbau der Bundeswehr unter den Bedingungen einer massiven atomaren Vergeltungsstrategie 1952-1960, München 2006.

XII

Vorwort

Neben der zunehmenden Geschichtlichkeit des Gegenstandes ist die im Band abgebildete Vielfalt freilich auch dem immer breiteren Spektrum methodischer Zugänge zuzuschreiben. Dankbar hat hier das MGFA - gerade auch im Verlaufe der Tagung - Anstöße wie auch Hilfestellung seitens benachbarter Wissenschaften und von Zeitzeugen aufnehmen und erfahren können. So finden sich im Folgenden diplomatie- bzw. politikgeschichtliche Ansätze neben bildungs-, sozial-, mentalitäts- oder auch medien- und geschlechtergeschichtlichen Betrachtungen. Darüber hinaus lässt der Band augenfällig werden, dass auch ein operationsgeschichtlicher Blick auf die Vergangenheit der Bundeswehr nicht erst für die Zeit nach der Zäsur von 1989/90 von Belang ist. Vielmehr zeitigt er gleichermaßen für die lange Zeit der vermeintlich statischen Blockkonfrontation aufschlussreiche, nicht selten indes auch erschreckende Befunde. Mit seinen Beiträgen zu fünfzig Jahren Bundeswehr bietet dieser Band also zum einen eine Bestandsaufnahme zur Geschichte der Streitkräfte und zum anderen einen Einblick in die Möglichkeiten historiografischer Bearbeitung. Und wie schließlich auch die weitere Entwicklung der Bundeswehr in den Blick gerät, so werden auch Perspektiven für eine künftige geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihr geboten. Gelegentlich als unzweideutige Positionsbestimmung erkennbar, mitunter sogar als ausdrückliche Werbung gefasst, lassen sich jedenfalls einzelne Beiträge als Plädoyers für den eigenen methodischen Zugriff lesen. Die Kontroversen, die sich daran anschließen mögen, kann der Wissenschaftsbetrieb nur begrüßen. Dessen ungeachtet - und ohne dem Leser dabei vorgreifen zu wollen - scheint mir jedoch in der Summe der aufgrund unterschiedlicher Zugänge gewonnenen Ergebnisse immer noch die beste Lösung für die künftige Arbeit zu liegen. Mein herzlicher Dank gilt zuerst den Autoren, die zumeist als Referenten und Sektionsleiter schon die 47. Internationale Tagung für Militärgeschichte ermöglicht haben, darunter auch Fregattenkapitän Frank Nägler, der, von Major Kai-Uwe Bormann unterstützt, die Tagung in ihren wesentlichen Teilen konzipiert und die Herausgeberschaft für diesen Band übernommen hat. Dies gibt mir Gelegenheit, an dieser Stelle noch einmal - und nicht minder herzlich dem damaligen Bonner Gastgeber, dem »Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland«, für die großzügige Unterstützung bei der Ausrichtung der Tagung und der Big Band des Bonner Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasiums für deren kulturelle Begleitung zu danken. Die Fertigstellung des Bandes lag in den bewährten Händen der Schriftleitung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes. Namentlich danken möchte ich dem Koordinator, Aleksandar-S. Vuletic, und der Lektorin, Ulrike Lützelberger. Um die Bildrechte hat sich Marina Sandig gekümmert, Grafiken und Karten haben Bernd Nogli und Harald S. Wolf bearbeitet. Die Gestaltung hat Maurice Woynoski übernommen, den Satz Antje Lorenz. Ihnen allen danke ich für ihr Engagement.

Dr. Hans Ehlert Oberst und Amtschef des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes

Einleitung: Die Bundeswehr 1955 bis 2005. Rückblenden - Einsichten - Perspektiven Wenn zum fünfzigsten Jahr ihres Bestehens die Geschichte der Bundeswehr betrachtet werden soll, was gilt es dabei zu thematisieren? Für einen historiografischen Zugang legitim wäre es, den Veränderungen mit der jeweils besonderen Andersartigkeit des Vergangenen nachzuspüren. So geraten zunächst die Anfänge und deren Umstände in den Blick. Ebenso hat aber auch die gegenwärtige Bundeswehr hier ihren Platz: Die Beobachtung, dass sie sich jüngst erst auf einen Transformationsprozess eingelassen hat, rechtfertigt die Erwartung an diesen Band, auch sehr zeitnahe Entwicklungen aufzugreifen, also in einem sehr wörtlichen Sinne die gesamte Spanne von fünfzig Jahren unverkürzt einzubeziehen. Diese Überlegung verhilft zwar zu einer ersten Ordnung der Beiträge. Sie mag auch das Erfordernis verdeutlichen, dass unter Berücksichtung der gebotenen Gegenwartsnähe neben dem Historiker und den Vertretern der benachbarten Politik- und Sozialwissenschaften in besonderem Maße auch die zum Teil heute noch in Verantwortung stehenden Zeitzeugen zu Wort kommen. Mit dieser sehr formalen Umgrenzung ist aber kaum etwas zu den inhaltlichen Aspekten gesagt, die bei einer Betrachtung zu fünfzig Jahren Bundeswehr Beachtung verdienen. Bei der näheren Bestimmung der inhaltlichen Ausgestaltung eines Bandes zur fünfzigjährigen Bundeswehrgeschichte gibt die für die Bundeswehr konstitutive Bestimmung des Grundgesetzes einen nicht zu übersehenden Hinweis: »Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.« Aus dieser grundlegenden Zweckbestimmung der Bundeswehr sollten sich auch ihre besonderen Fähigkeiten und Eigenschaften - zumindest die korrespondierenden Forderungen danach ableiten lassen. Anhand dieser drei Aspekte erschließen sich wesentliche inhaltliche Vorgaben dieses Bandes. Wendet man sich dem zentralen Verteidigungsbegriff zu, so fällt auf, dass diese Zweckbestimmung der Bundeswehr der Formulierung nach über die Jahrzehnte unverändert geblieben ist. Spürbar gewandelt hat sich aber der Bezugsrahmen der Verteidigung und am Ende auch das, was unter ihr verstanden wird. Während des Kalten Krieges war die Verteidigung für lange Zeit überhaupt umstritten. Das Prekäre des Vorhabens, die Bundesrepublik zu verteidigen, ging auf eine Gemengelage historischer Erfahrungen und aktueller Bedingungen zurück, die in ihren Konsequenzen nicht selten quer zueinander lagen und 1

Art. 87a GG, Abs. 1, Satz 1.

2

Einleitung

unter denen die frühe Bundesrepublik gleichwohl ihre Position finden musste. Dies kann hier nur angedeutet werden: Als Nachfolgerin des Deutschen Reiches trug sie an dessen Verantwortung für einen Krieg von bis dahin ungekannt totalem Ausmaß, der mit einer katastrophalen militärischen und politischen Niederlage geendet hatte. Eine Konsequenz daraus bescherte dem westlichen Teil des geteilten Deutschland die Lage mitten im europäischen Brennpunkt der machtpolitischen und zugleich ideologischen Konfrontation der beiden Weltblöcke. Belastet durch das historische Erbe, war die Bundesrepublik darum bemüht, aus dem Schatten der vorangegangenen militarisierten, totalitären Ordnung herauszutreten zugunsten eines westlich geprägten freiheitlich-demokratischen Modells. Dies führte sie an die Seite der ehemaligen westlichen Gegner und stellte sie gegen das totalitäre Modell des Sowjetblocks einschließlich des anderen, des sozialistischen Deutschland der DDR. Im Rahmen dieser Option entschied sie sich auch auf Wunsch ihrer Partner in der westlichen Staatengemeinschaft für den Aufbau einer westdeutschen Bündnisarmee. In der Konsequenz dieser nach zehnjähriger vollständiger Entwaffnung umgesetzten Entscheidung wurde sie allerdings konfrontiert mit der Aussicht auf den letztlich unvorstellbaren nuklearen Schrecken, der die Zerstörungen selbst des letzten, totalen Krieges noch vervielfachen würde, sollte die Abschreckung des Kalten Krieges einmal in die >heiße< Verteidigung übergehen. Eben noch einem eigenen totalitären System verhaftet und nun als Teil des >freien< Westens gegen den >totalitären< Osten aufgestellt, dabei mit ehemaligen Gegnern als Deutscher auch gegen Deutsche verbündet, schließlich den Bedrängnissen des jüngst erst beendeten Krieges entronnen und nun mit noch viel größeren Schrecken konfrontiert - dieses in seinen Auswirkungen Widerspruchsvolle der Anfangszeit sollte sich als so prägend für die weitere Geschichte der Bundeswehr wie für die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik erweisen, dass diese Anfangszeit mit einem ersten eigenen Abschnitt unter dem Titel Der Neuansatz im Streitkräfteaufbau thematisiert wird. Das Augenmerk richtet sich hier gleichermaßen auf die für die Bundeswehr belangvolle Perspektive der Bündnispartner und das sicherheitspolitische Interesse der Bundesrepublik wie auf die innere Verfassung der Bundeswehr. Unter der Prägewirkung dieser Ausgangslage entwickelte sich die Bundeswehr. Für die auch heute noch überwiegende Zeitspanne ihrer Existenz erfüllte sie ihren Zweck in dem Maße, wie sie zu einer glaubwürdigen Abschreckung beitrug. Die von Bundespräsident Gustav Heinemartn in seiner Antrittsrede am 1. Juli 1969 getroffene Feststellung: »Nicht der Krieg [...], sondern der Frieden ist der Ernstfall«2, brachte dieses Verständnis auf eine griffige Formel. So angemessen die hierin zum Ausdruck gelangende Verneinung des Krieges für die Lage der Bundesrepublik war, so weit kam diese Wendung dem verbreiteten 2

Ansprache vor dem Deutschen Bundestag und dem Bundesrat in Bonn, 1.7.1969. In: Gustav W. Heinemann, Allen Bürgern verpflichtet. Reden des Bundespräsidenten 1969-1974, Frankfurt a.M. 1974 (= Gustav W. Heinemann, Reden und Schriften, 1), S. 13-20, hier S. 14.

Einleitung

3

Trend entgegen, das Militärische überhaupt zu verdrängen. Für die Streitkräfte lag der Schlüssel zur Erfüllung ihres Abschreckungsauftrages nicht zuletzt in der Integration; dies auf der Bündnis- wie eben auch auf der innerstaatlichen und namentlich gesellschaftlichen Ebene. Für die öffentliche und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Armee stand diese gesellschaftliche Voraussetzung der Auftragserfüllung über weite Strecken indes so sehr im Vordergrund, dass die mit dem Auftrag verbundene Wirklichkeit kaum mehr in Erscheinung trat. Für manchen Beobachter kam dies bei der Debatte um die Bundeswehr dem Verlust der »Kriegsführungsdimension« gleich3. Fraglos war diese Auseinandersetzung mit der Bundeswehr unter dem vorwaltenden Gesichtspunkt ihrer Integration auch den historischen Belastungen geschuldet, und es spiegelte sich darin eine bundesdeutsche Gesellschaft, die gegenüber >ihrer< Bundeswehr noch lange über die Anfangszeit hinaus Distanz wahrte. Gleichzeitig aber ist die intensive Beschäftigung mit dem zivilmilitärischen Verhältnis und der Konvergenz beziehungsweise dem Auseinanderstreben der Entwicklungen in beiden Bereichen zu einem Markenzeichen geworden. Wohl bei keiner anderen (westeuropäischen) Armee hat dieser Aspekt so viel Raum im Rahmen der ihr zugedachten Aufmerksamkeit beanspruchen können wie im Falle der Bundeswehr. Dazu dürfte auch der glückliche Umstand beigetragen haben, dass bis zum Ende des Kalten Krieges die Bundeswehr sich als eine Ausbildungs- und Friedensarmee entwickeln konnte, welcher der Waffeneinsatz unter Kriegsbedingungen erspart geblieben ist. Dem beachtlichen Gewicht eines recht >zivilen< Blickes auf die Bundeswehr soll auch in diesem Band Rechnung getragen werden. Zunächst wendet sich der Abschnitt Soldatenprofile, Wertewandel und Integrationsanliegen einer Ausbildungsarmee der Integrationsproblematik vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Gesellschaft zu, indem er auf verschiedenen Ebenen Betrachtungen bietet, die den Vergleich zwischen gesellschaftlichen und innermilitärischen Trends nahelegen. Ein besonderer Aspekt des Integrationsthemas ist dann einem weiteren eigenen Abschnitt vorbehalten. Dies ergibt sich aus dem Stellenwert, den die mediale Vermittlung im politischen Wirkungszusammenhang moderner westlicher Demokratien für sich reklamieren kann. Mehr und mehr wird die politische Wirklichkeit durch Massenmedien in einem Ausmaß vermittelt, dass Begriffe wie »Mediendemokratie« oder - in kritischer Wendung - »Mediokratie« Eingang in das Vokabular der Politischen Wissenschaften haben finden kön-

3

Vgl. zu der besonderen Akzentsetzung in der bundesrepublikanischen Diskussion HansJürgen Rautenberg, Die Bundeswehr von der Gründung bis zu ihrer Konsolidierung ( 1 9 5 5 / 5 6 - 1 9 6 2 ) . Thesen und Anmerkungen. In: Wiederbewaffnung in Deutschland nach 1945. Hrsg. von Alexander Fischer, Berlin 1986 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung, 12), S. 1 2 5 - 1 4 2 , hier S. 136 f.; siehe auch mit Blick auf ein für unzureichend ausgebildet erachtetes sicherheitspolitisches Diskussionsforum Dieter Wellershoff, Die Sicherheitsvorsorge verlangt eine Gesamtstrategie. In: Europäische Wehrkunde. Wehrwissenschaftliche Rundschau, 36 (1987), 6, S. 3 0 7 - 3 1 6 , hier S. 314.

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Einleitung

nen4. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Untersuchung der medialen Vermittlung der Selbst- bzw. Fremdbilder, die von oder zur Bundeswehr in Schrift und Bild gezeichnet wurden, einen bedeutsamen Stellenwert in der Geschichte der Streitkräfte. Da hierbei gleichzeitig ein erst vor relativ kurzer Zeit etablierter historiografischer Zugang genutzt wird, ist der Abschnitt Westdeutsche Sicherheitspolitik und Streitkräfte in der medialen Öffentlichkeit und politischen Kommunikation mit einer vertiefenden Einführung in einem breiteren Rahmen präsentiert worden. Und doch darf ein Band zur fünfzigjährigen Geschichte der Bundeswehr ihre hinter den Bildern liegende Kernfunktion, die militärische Sicherheitsvorsorge, nicht aus dem Blick verlieren. Für die Dauer des Kalten Krieges war zwar die Raison d'etre der Bundeswehr in ihrem auf Mitteleuropa bezogenen Beitrag zu dem besagten Abschreckungskonzept gelegen. Der hierfür zentrale Rekurs auf die nukleare Dimension des Krieges brachte aber das Kerndilemma mit sich, auf einen Krieg hin rüsten zu müssen, den es seiner Konsequenzen namentlich für die Bundesrepublik wegen um nahezu jeden Preis zu vermeiden galt - dies unabhängig von den Wechselbädern dieser jahrzehntelangen Konfrontation, die Phasen sowohl der Entspannung als auch des verschärften Antagonismus kannte. Zugleich waren hierbei die eigenen Einflussmöglichkeiten begrenzt. Wies dieses Kriegsszenario ohnehin schon aufgrund der besonderen deutschen Akzeptanzproblematik erhebliche Plausibilitätslücken auf, so vergrößerten sich diese noch in der Schlussphase des Kalten Krieges im Zuge der sich rapide wandelnden internationalen Rahmenbedingungen. Das über mehr als drei Jahrzehnte für die Bundeswehr bestehende Problem des Kriegsszenarios greift der Abschnitt Der gedachte Krieg auf deutschem Boden unter den Vorzeichen von Spannung und Entspannung auf. Die militärischen Fähigkeiten der Bundeswehr wurden in der Hauptsache durch ihre Teilstreitkräfte abgebildet. Entsprechend der Entwicklung des Kriegswesens im 20. Jahrhundert fanden diese Fähigkeiten der Teilstreitkräfte ihrerseits ihren charakteristischen Niederschlag in der Leistungsfähigkeit ihrer Waffensysteme. Auch wenn bei der Entscheidung für oder gegen ein bestimmtes Waffensystem nicht immer derart weitreichende Konsequenzen für die Perspektiven einer Teilstreitkraft in Rede standen wie etwa bei der Frage der Ausrüstung mit nuklearen Trägersystemen, verband sich doch mit wichtigeren Waffensystemen nicht selten die Frage einer Verengung oder Erweiterung der Einsatzmöglichkeiten der jeweiligen Teilstreitkraft. Es fällt daher schwer, sich eine Geschichte der Bundeswehr ohne einen Blick auf deren Waffensysteme vorzustellen. Dies gilt gerade auch für die Anfangszeit, zumal sich auch auf technischem Gebiet die zehnjährige Entwaffnung nachhaltig auswirkte. Die Bundeswehr musste darum ringen, auf den Stand des durch die technische

4

Vgl. die Artikel Massenmedien (Wolfgang Hilligen) und Mediendemokratie (Jörg Ulrich). In: Gesellschaft und Staat. Lexikon der Politik. Hrsg. von Hanno Drechsler, Wolfgang Hilligen und Franz Neumann in Verb, mit Gerd Bohlen, München, 10. Aufl. 2003, S. 6 3 5 - 6 3 9 und S. 641 f.

Einleitung

5

Entwicklung vielfach veränderten modernen Gefechtes zu gelangen, was - mit jeweils unterschiedlichem Gewicht bei Heer, Marine und Luftwaffe - nicht nur eine technologische, sondern auch eine fiskalische, politische oder auch volkswirtschaftliche Herausforderung darstellte. Getrennt nach Teilstreitkräften wird dieser Problematik und dem Stellenwert der Waffensysteme im Gefüge der Teilstreitkraft in dem Abschnitt Der Anschluss an die moderne Wehrtechnik nachgegangen. Der letzte Abschnitt des Bandes thematisiert gegenwartsnahe Fragestellungen. Die Neuorientierung im Zeichen der deutschen Einigung und des veränderten Aufgabenprofils greift den Wandel auf, mit dem die Bundeswehr seit der Beendigung des Kalten Krieges konfrontiert ist. Wohl mehr als andere westeuropäische Armeen von den besonderen Bedingungen der Konfrontation der beiden ideologischen Weltblöcke geformt, durfte sie sich von über Jahrzehnte verfestigten, dabei allerdings auch vertrauten Gegebenheiten und Zwängen frei machen und musste sich auf unerwartete Herausforderungen einstellen. Die Auswirkungen dieses Prozesses lassen sich auf vielen Ebenen nachzeichnen. Der Blick auf die Armee der Einheit, auf die Sicherheitspolitik und das operative Geschehen, schließlich auf die Merkmale des Soldaten kann dabei verdeutlichen, inwieweit der Wandel auf den verschiedenen Feldern gleichermaßen grundlegend gewesen ist. Der vorliegende Band zur fünfzigjährigen Geschichte der Bundeswehr soll als ein >Lesebuch< dienen, das möglichst vielen unterschiedlichen Interessen etwas bietet. Er kann für sich allerdings nicht in Anspruch nehmen, allen die Bundeswehr kennzeichnenden Facetten gerecht geworden zu sein. Wichtige Bereiche wie z.B. die Bundeswehrverwaltung oder die Reservisten der Bundeswehr haben hier keine Behandlung gefunden. Es bleibt also nur zu hoffen, dass dieser Band immerhin doch wesentliche Aspekte zur Geschichte der Bundeswehr anspricht. Er ist hervorgegangen aus einer Tagung, die das Militärgeschichtliche Forschungsamt im September 2005 im Bonner Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland veranstaltet hat. Neben den damaligen Sektionsleitern haben nahezu alle Referenten sich der Bitte nicht verschlossen, ihre Vortrage in eine Aufsatzfassung umzuarbeiten. Dass im letzten Abschnitt die Einführung wie auch der erste Beitrag aus der Feder desselben Autors stammen (Hans Frank), geht auf das überaus hilfreiche Entgegenkommen des damaligen Sektionsleiters zurück, der das Referat für den kurzfristig verhinderten Franz H.U. Borkenhagen übernommen hat. Dieser war gleichwohl bereit, einen Aufsatz für den vorliegenden Band zu verfassen, der hier wie der Beitrag von Horst Scheffler ergänzend aufgenommen worden ist. Abschließend möchte der Herausgeber im Anschluss an den Dank des Amtschefs allen Beitragenden für die ihm entgegengebrachte große Geduld herzlich danken.

I. Der Neuansatz im Streitkräfteaufbau

Manfred Görtemaker Einführung

1945 endete für Europa eine Epoche der extensiven Gewalt, die 1914 mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, dieser »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts (»the great seminal catastrophe of this century«), wie der amerikanische Historiker und Diplomat George F. Kennan sie einst nannte, begonnen hatte. Namentlich die Deutschen waren von diesem Geschehen betroffen: Sie waren Protagonisten und Täter oder ließen sich als »willige Vollstrecker« (Daniel Goldhagen) missbrauchen, ehe sie schließlich auch selbst Opfer wurden. Die damit verbundene persönliche Gewalterfahrung und die historische Zäsur des Jahres 1945, als das gerade einmal 74 Jahre alte Deutsche Reich unterging und Europa als Zentrum der Weltpolitik einem amerikanisch-sowjetischen Dualismus wich, wurden von den Deutschen weithin als Schock empfunden, der nahezu alle politischen Debatten der Nachkriegszeit, teilweise bis heute, beeinflusste. Nicht zuletzt galt dies für die Diskussion um einen deutschen Wehrbeitrag, der seit Beginn des Korea-Krieges im Juni 1950 von den Westmächten immer energischer gefordert wurde, um deutsche Unterstützung für die Verteidigung Westeuropas gegen einen möglichen kommunistischen Angriff aus dem Osten zu erhalten. Der Aufbau deutscher Streitkräfte nur fünf Jahre nach Kriegsende war für viele Zeitgenossen damals unvorstellbar: in Deutschland selbst, aber ebenso im benachbarten Ausland. Die Frage, wie Sicherheit vor Deutschland und zugleich mit Deutschland zu gewinnen sei (weil es auch Sicherheit vor der Sowjetunion zu erlangen galt), ist oft untersucht worden. Die Ausformung der bipolaren Welt des Kalten Krieges, die Dominanz der Hegemonialmächte in Ost und West sowie die Gesetzmäßigkeiten des Atomzeitalters, die einen Krieg zwischen den atomaren Giganten mit der Sanktion eines kollektiven Selbstmords belegten und damit praktisch unmöglich machten, schränkten den Handlungsspielraum Deutschlands wirkungsvoll ein. Zudem schien die territorial-politische Teilung den seit 1871 vielfach gescheiterten Versuch, Deutschlands militärische Macht »einzuhegen«, zusätzlich und auf lange Sicht, vielleicht sogar endgültig, zum Erfolg geführt zu haben. Eine ernsthafte Gefahr ging von Deutschland nun jedenfalls nicht mehr aus. Die Frage stellte sich danach eher umgekehrt: Wie war im Kalten Krieg Deutschlands eigene Sicherheit zu gewährleisten? Für die Bundesrepublik lag die Antwort auf der Hand: Angesichts der Unfähigkeit Westeuropas, für seine

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Manfred Görtemaker

Verteidigung selbst zu sorgen, zumal nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), blieb nur die Option einer möglichst engen Anlehnung an die USA innerhalb der Nordatlantischen Allianz. Anders als die DDR im Verhältnis zur Sowjetunion brauchte die Bundesrepublik damit allerdings nicht auf eigene Gestaltungsmöglichkeiten zu verzichten. Auch wenn die noch schwache Bundesrepublik in den frühen 50er Jahren zunächst zu kaum mehr als einem >punching above weight< in der Lage war, wie der Beitrag von Klaus Larres verdeutlicht, der aus der Perspektive der westlichen Supermacht Stellenwert und Handlungsmöglichkeiten der Bundesrepublik betrachtet, bestanden zwischen den USA als Vormacht des euro-atlantischen Bündnisses und dessen übrigen Mitgliedern Abhängigkeiten, die den Vereinigten Staaten die rücksichtslose Durchsetzung ihrer Ziele nicht erlaubten. Davon profitierte auch die Bundesrepublik, die immer wieder eigene Interessen formulieren und zur Geltung bringen konnte. Dies galt umso mehr, als sich im ersten Jahrzehnt nach Gründung der Bundeswehr die Position der Bundesrepublik im westlichen Bündnis zunehmend festigte. Mit erholter Wirtschaft, stabilem Sozialgefüge und zumindest weitgehend realisierter militärischer Rüstung besserte sich die deutsche Situation gerade auf dem Feld strategischer Sicherheitsvorsorge, wie der Beitrag von Bruno Thoß zeigt. So gelang es der Bundesrepublik im Verein mit ihren Partnern, die für das Bündnis gefährliche Entstehung von Zonen ungleicher Sicherheit zu verhindern. Und sie konnte sogar durchsetzen, dass zumindest auf dem Papier die für ihr Überleben existenziell notwendige Verlegung der Vorneverteidigung bis an die Ostgrenze des Bündnisgebietes erfolgte, auch wenn die rüstungspolitischen Voraussetzungen für deren praktische Umsetzung bis Mitte der 60er Jahre noch nicht unbedingt gegeben waren. Immerhin bedeutete die militärstrategische Umorientierung eine außenpolitische Aufwertung der Bundesrepublik. Eine solche Entwicklung war noch wenige Jahre zuvor für undenkbar gehalten worden. Sie signalisierte zwei Jahrzehnte nach dem Ende der nationalsozialistischen Terrorherrschaft und des von Deutschland geführten völkischrassischen Vernichtungskrieges eine wachsende Gleichberechtigung innerhalb des westlichen Bündnisses, wenngleich damit seitens der Alliierten, wenigstens partiell, eine verminderte Rücksichtnahme auf die deutschlandpolitischen Ziele Bonns einherging. In der deutschen Innenpolitik konnte von einer solchen Normalisierung indessen noch lange nicht die Rede sein. Zu tief hatte die Erfahrung von Diktatur und Gewalt in das Leben der Deutschen eingegriffen. Zu stark war der Kontrast zwischen denen, die wünschten, nach den eigenen Taten möglichst rasch zur Tagesordnung überzugehen, und denjenigen, die bereit waren, sich der Verantwortung zu stellen. Was in der Außenpolitik durch die Verbindung von alliierter Kontrolle und Bündnisintegration innerhalb relativ kurzer Frist möglich gewesen war, erwies sich im Innern, unter den Deutschen selbst, als mühseliger und umstrittener Prozess einer »Vergangenheitsbewältigung«, die bis heute andauert und angesichts der Dimension des deutschen Verbrechens vielleicht nie abgeschlossen sein wird. Nicht zuletzt zeigte sich dies in der publizis-

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tischen Auseinandersetzung um das Verhalten der Wehrmacht, das von den einen vehement verteidigt, von den anderen ebenso vehement kritisiert wurde. Die Kontroverse um die Wehrmachtsausstellung ist dafür erst in jüngster Zeit wieder ein Beleg. Auch die Diskussion um die deutsche Wiederbewaffnung in den 50er Jahren war von dieser Polarisierung der Auffassungen überschattet. Der Neuanlauf der Bundeswehr konnte deshalb nicht problemlos bleiben. Der neue deutsche Soldat, wie seit jeher aus militärischer Notwendigkeit eingezwängt in das Korsett von Befehl und Gehorsam, sollte zugleich als Staatsbürger in Uniform Repräsentant der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland sein. Doch konnte dieser Spagat gelingen? Skepsis überwog - auf beiden Seiten. Der Staatsbürger in Uniform musste daher lange um seine Anerkennung kämpfen. Entweder glaubte man ihm nicht den Soldaten, da er allzu zivilistisch daherkam, wie schon der bewusst unmilitärische Uniformschnitt zeigte. Oder man bezweifelte seine freiheitlich-demokratische Grundhaltung, da schwer zu glauben war, dass insbesondere die erfahrenen, älteren Soldaten, die noch in der Wehrmacht gedient hatten, ihre früheren autoritären Auffassungen mit Eintritt in die Bundeswehr abgelegt haben könnten. Natürlich bestand dieses Problem in den 50er Jahren nicht nur bei den Veteranen der Wehrmacht, sondern in der deutschen Gesellschaft allgemein, deren Bevölkerung überwiegend in autoritären Strukturen sozialisiert war. Aber für die Soldaten war der Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart besonders sichtbar, da sie als »Staatsbürger in Uniform« auf ein neues politisches Konzept verpflichtet wurden, das in diametralem Gegensatz zum nationalsozialistischen Totalitarismus stand, darüber hinaus aber auch einen Bruch mit der preußisch-deutschen Wehrtradition insgesamt darstellte. Gewissermaßen als Ausweg aus dem daraus resultierenden politisch-psychologischen Dilemma verlegten sich zahlreiche Veteranen, wie der Beitrag von Martin Kutz verdeutlicht, auf den konsequenten Rückzug in das militärfachliche Spezialistentum. Die »handwerkliche Verengung< machte die Wiederaufnahme des Dienstes für ehemalige Wehrmachtsangehörige selbst unter den neuen, demokratischen Vorzeichen vergleichsweise leicht - wobei vielfach auch der Umstand eine Rolle spielte, dass die Bundesrepublik sich gegen einen Gegner behaupten musste, der schon vor 1945 als Hauptfeind gegolten hatte: die Sowjetunion. Tatsächlich war es zunächst offenbar nicht entscheidend, ob die neuen Soldaten überzeugte Anhänger der politischen Ordnung der Bundesrepublik waren oder ihr eher skeptisch gegenüberstanden. Zwar wurden sie auf das Grundgesetz vereidigt. Aber ob damit auch eine innere Identifizierung mit der neuen Ordnung und ein aktives Eintreten für sie verbunden waren, ließ sich im Einzelfall schwer feststellen. Die Vermutung ist nahe liegend, dass dies zunächst nicht der Fall war, so dass das Konzept des Staatsbürgers in Uniform erst allmählich, nach längerem Übergang, durchgesetzt werden konnte. Die mangelnde Akzeptanz der Inneren Führung bildete vielmehr, wie der Beitrag von Frank Nägler illustriert, einen Teilaspekt der professionellen Rückständigkeit,

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die die Bundeswehr in ihren Anfangsjahren kennzeichnete und die durch eine andere Folge der Gewalterfahrung vor 1945 noch gefördert wurde: dem grundsätzlichen Desinteresse am Militär, das sich besonders dann offenbarte, als das »Wirtschaftswunder« für Vollbeschäftigung sorgte und die Notwendigkeit entfiel, mit dem Dienst an der Waffe zugleich die eigene wirtschaftliche Existenz zu sichern.

Bruno Thoß Bündnisintegration und nationale Verteidigungsinteressen. Der Aufbau der Bundeswehr im Spannungsfeld zwischen nuklearer Abschreckung und konventioneller Verteidigung (1955 bis 1968) Zu den unbestrittenen Grundmaximen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik nach 1945 gehört die Einsicht, dass es nach den beiden Weltkriegen nationale Sicherheitsbefriedigung für die Deutschen nicht mehr geben konnte1 - und dies weder im Osten noch im Westen. Die Aufrüstung beider deutscher Staaten sollte die Militärallianzen der NATO und des Warschauer Paktes einerseits um das jeweilige deutsche Potenzial verstärken, dieses damit aber gleichzeitig im Rahmen reiner Bündnisarmeen kontrolliert halten. Um dem die Wirkung von außen auferlegter Diskriminierung zu nehmen, akzeptierte Bundeskanzler Konrad Adenauer denn auch durchgängig eine von ihm erwartete freiwillige Bereitschaft zu deutscher militärischer Selbstbeschränkung. Ganz selbstverständlich verband er damit allerdings die Verfolgung von drei zentralen nationalen Zielsetzungen: Gleichberechtigung durch Einbindung in den Westen, Erweiterung der staatlichen Souveränität für die junge Bundesrepublik und Schutz ihrer äußeren Sicherheit im Bündnisrahmen2. Diese Hauptanliegen sind mittlerweile zum Allgemeingut in den Analysen westdeutscher Sicherheitspolitik über die Konzeptions- und Aufbauphase der Bundeswehr zwischen 1950 und 1970 geworden. Dabei dominiert in den Darstellungen jedoch durchwegs das Moment der politischen Verfolgung nationaler Interessen durch den Bündnisbeitritt. Die damit gleichzeitig verbundenen nationalen Verteidigungsinteressen, die Adenauer schon in seiner Forderung nach einer Sicherheitsgarantie der 1

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Vgl. dazu neuerdings: Helga Haftendorn, Deutsche Außenpolitik zwischen Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung 1945-2000, Stuttgart, München 2001, S. 9 4 - 1 3 4 . Zu Adenauers außenpolitischen Zielen: Hans-Peter Schwarz, Das außenpolitische Konzept Konrad Adenauers. In: Konrad Adenauer. Seine Deutschland- und Außenpolitik 1945-1963. Hrsg. von Klaus Gotto, Hans Maier, Rudolf Morsey, Hans-Peter Schwarz, München 1975, S. 9 7 - 1 5 5 ; zu ihrer Umsetzung in Bündnispolitik: Hermann-Josef Rupieper, Die NATO und die Bundesrepublik Deutschland 1949-1956. In: Nationale Außenund Bündnispolitik der NATO-Mitgliedstaaten. Im Auftr. des MGFA hrsg. von Norbert Wiggershaus und Winfried Heinemann, München 2000, S. 195-208, S. 199-202; zu den Bedrohungsperzeptionen des Kanzlers: Norbert Wiggershaus, Aspekte westdeutscher Bedrohungsperzeptionen 1946-1959. In: Feindbilder und Militärstrategien seit 1945. Hrsg. von Jürgen Rohwer, Bremen 1992, S. 50-85, hier S. 5 0 - 6 0 .

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Westmächte als Voraussetzung für einen westdeutschen Bündnisbeitritt im Sommer 19503 unmissverständlich geltend gemacht hatte, geraten darüber nur zu leicht ins Hintertreffen. Der Kerngedanke darin war die Forderung gewesen, dass die Bundesrepublik, indem sie Teil der westlichen Allianz wurde, damit automatisch auch in den Genuss der einvernehmlich zur Bündnisdoktrin erhobenen >Forward Defense< gelangte. Die in Himmerod versammelten militärischen Experten hatten dies im Herbst 1950 in die Formel gekleidet: »Der westeuropäische Raum muß soweit ostwärts wie möglich verteidigt werden« 4 . Gleichgültig wie sehr sich davon alternative Überlegungen unterscheiden mochten, etwa die von Kurt Schumacher über eine bis an die Weichsel vorgeschobene5 oder die von Bogislav von Bonin über eine grenznahe Verteidigung6, über eines herrschte quer durch alle innenpolitischen und militärischen Lager Einvernehmen: Bündnisverteidigung im Rahmen einer Risikogemeinschaft machte für den Frontstaat Bundesrepublik nur Sinn, wenn sein Territorium damit aus der bisherigen Rolle eines vorgeschobenen Schlachtfeldes der NATO herauskam. Denn die hohe ökonomische und infrastrukturelle Verwundbarkeit der östlichen Bundesrepublik wie das Überlebensinteresse ihrer Bevölkerung erhoben eine Vorneverteidigung für die westdeutsche Verteidigungsplanung zum »Wert an sich«7. Damit bewegten sich die Verteidigungsabsichten der Bundesrepublik vollkommen in Einklang mit ihren westeuropäischen Partnern. Seit deren Zusammenschluss im Brüsseler Pakt von 1948 hatten es Frankreich und die BeneluxStaaten zur Conditio sine qua non erhoben, dass eine denkbare sowjetische Invasion bereits an den Grenzen des Bündnisses - und das hieß zu diesem Zeitpunkt: an der Rhein-Ijssel-Linie - gestoppt werden sollte. Der westeuropäische Kontinent durfte nicht erneut wie im Zweiten Weltkrieg zuerst von den angelsächsischen Verbündeten geräumt und anschließend langwierig und unter erheblichen Zerstörungen befreit werden8. Nach der transatlantischen Erweiterung der Westunion zum Atlantikpakt hatte dies der Vorsitzende der USStabschefs auch seinen Landsleuten unmissverständlich vor Augen geführt. Die USA könnten im Kriegsfalle nicht auf ihre westeuropäischen Verbündeten zählen, wenn sie sich einer Strategie verschrieben, die diese zunächst durch den 3 4

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Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik (ÄWS) 1945 bis 1956. Hrsg. vom MGFA, 4 Bde, München 1982-1997, hier Bd 3, S. 363-373 (Beitrag Wiggershaus). Hans-Jürgen Rautenberg und Norbert Wiggershaus, Die »Himmeroder Denkschrift« vom Oktober 1950, Karlsruhe 1985, S. 39. Vgl. Ulrich Buczylowski, Kurt Schumacher und die deutsche Frage. Sicherheitspolitik und strategische Offensivkonzeption vom August 1950 bis September 1951, Stuttgart 1951. Vgl. Heinz Brill, Bogislaw von Bonin im Spannungsfeld zwischen Wiederbewaffnung Westintegration - Wiedervereinigung. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Bundeswehr 1952-1955, 2 Bde, Baden-Baden 1987. So Frank Buchholz, Strategische und militärpolitische Diskussionen in der Gründungsphase der Bundeswehr 1949-1960, Frankfurt a.M., Bern, New York, Paris 1991, S. 15-29. Dokumentiert in den Auseinandersetzungen darüber zwischen dem Oberbefehlshaber des Brüsseler Paktes Montgomery und seinem französischen Stellvertreter Lattre de Tassigny, vgl. Nigel Hamilton, Monty: The Field-Marshal 1944-1976, London 1986, S. 730-741.

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Gegner überrollen ließ, um sie dann zu einem späteren Zeitpunkt kräfteraubend zu befreien9. Eben deshalb hatte sich die NATO schon in ihrem ersten Strategiepapier auf die Festlegung verpflichtet, einen Angriff gegen ihr Bündnisgebiet »as soon as practicable« abzufangen und zurückzuschlagen10. Das Entscheidende daran war nicht diese Absichtserklärung zu gemeinsamer Vorneverteidigung, sondern die Fähigkeit zu ihrer praktischen Umsetzung. Selbst differenzierte Kräftevergleiche11 sahen die Sowjetunion und ihre schrittweise aufgerüsteten osteuropäischen Satelliten nämlich als konventionell derart überlegen an, dass die angelsächsischen Seemächte realistisch von zeitweiliger Raumaufgabe auf dem Kontinent ausgingen, bis die eigene nuklearstrategische Gegenoffensive gegen den sowjetischen Kernraum gewirkt haben und die inzwischen mobilisierten amerikanischen Verstärkungen nach Westeuropa herangeführt sein würden12. Die in Lissabon 1952 eingegangene Selbstverpflichtung, den jederzeit als einsatzbereit angenommenen mindestens 100 Divisionen des Ostblocks eine zahlenmäßig adäquate NATO-Streitmacht entgegenzusetzen, in die auch bereits zwölf deutsche Divisionen fest eingeplant waren, hatte sich schon an der Jahreswende 1952/53 in den Mitgliedstaaten weder innenpolitisch durchsetzen noch ökonomisch ermöglichen lassen13. Als wirklich wirksam konnte man mithin lediglich die kriegsverhindernde Fähigkeit der Amerikaner zur nuklearen Abschreckung ansehen. Die USA verfügten aufgrund ihrer atomaren Überlegenheit und abgestützt auf ihre Fernbomber noch bis Anfang der sechziger Jahre über eine faktische Erstschlagskapazität, um die Sowjetunion »in wenigen Stunden in eine rauchende verstrahlte Ruine zu verwandeln«14. Nun war zwar die inneramerikanische >Great Debate< um eine Verstärkung ihres direkten militärischen Engagements in Europa zugunsten der Allianzbefürworter ausgegangen. Die 1951 zusätzlich nach Westeuropa verlegten fünf U.S. Divisionen 9

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Memorandum von General Omar Bradley, 5.4.1949, zit. nach Marc Trachtenberg, A Constructed Peace: The Making of the European Settlement, 1945-1963, Princeton, NJ 1999, S. 101. MC 3 vom 19.10.1949, NATO Strategy Documents. Ed. by Gregory W. Pedlow, Brussels 1996, S. 6; zu den vorangegangenen Auseinandersetzungen darüber im Brüsseler Pakt: Hamilton, Monty (wie Anm. 8), S. 730-766. Für die 50er und 60er Jahre gegenübergestellt bei John S. Duffield, The Soviet Military Threat to Western Europe: US Estimates in the 1950s and 1960s. In: The Journal of Strategie Studies, 15 (1992), S. 2 0 8 - 2 2 7 ; zur generellen Einschätzung sowjetischen militärischen Verhaltens in den 50er Jahren: Michael McGwire, Interpreting Soviet Military Behaviour. In: A History of NATO - The First Fifty Years. Ed. by Gustav Schmidt, Houndsmill, New York 2001, vol. 2, S. 179-195, hier S. 182 f. Christian Greiner, Klaus A. Maier und Heinz Rebhan, Die NATO als Militärallianz. Strategie, Organisation und nukleare Kontrolle im Bündnis. Im Auftr. des MGFA hrsg. von Bruno Thoß, München 2003 (= Entstehung und Probleme des Atlantischen Bündnisses bis 1956, 4), S. 4 9 - 6 3 (Beitrag Greiner). Helmut R. Hammerich, Invasion oder Inflation. Die Aufrüstung Westeuropas und ihre wirtschaftlichen Auswirkungen auf die NATO-Mitgliedsstaaten 1949-1954. In: Militärgeschichte, NF 8 (1998), S. 30-38, S. 3 0 - 3 5 . Zu diesem drastischen Bild als Aufgabenstellung des Strategic Air Command: Paul Bracken, The Command and Control of Nuclear Forces, New Haven, London 1983, S. 183.

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sollten jedoch lediglich als zeitweilig vorgeschobener Schutzschirm wirken, bis im Zuge einer vereinbarten Lastenteilung die westeuropäischen Selbstverteidigungskräfte angemessen aufgewachsen waren15. Eben dazu zeigten sich die Westeuropäer aber, aufgrund innenpolitischer und wirtschaftlicher Grenzen, nicht im Stande. Einen Ausweg aus dem Dilemma nicht zu finanzierender konventioneller Aufrüstung bei vorläufig noch hoher atomarer Überlegenheit des Westens hatten die britischen Stabschefs bereits im Sommer 1952 zur Debatte gestellt und dafür den inzwischen zum Präsidentschaftskandidaten nominierten ersten NATO-Oberbefehlshaber Dwight D. Eisenhower gewonnen16. Ging man davon aus, dass auch die Sowjetunion nicht an einem globalen Krieg mit seinen nuklearen Risiken interessiert sein konnte, dann hatte man sich im Kalten Krieg nicht so ausschließlich wie bisher auf die weniger wahrscheinliche Variante einer direkten Konfrontation, sondern verstärkt auf die Notwendigkeit zu einem langen Atem (long haul) im umfassenden Systemkonflikt einzustellen. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Stabilität gewannen in solcher Perspektive Vorrang vor einer nicht zu finanzierenden lückenlosen Verteidigungsplanung17. Die Grundzüge der daraus seit 1953 in den USA erarbeiteten, im NATOHauptquartier (SHAPE) 1953/54 in operative Planungen umgesetzten und ab 1955 schrittweise in der NATO implementierten Strategie der massiven Vergeltung sahen dazu eine durchgängige Nuklearisierung der Bündnisstrategie als vermeintlich kostengünstigere Option vor. Danach sollte zwar auch weiterhin Kriegsverhinderung durch nukleare Abschreckung absolute Priorität genießen. Bei einem immer ins Kalkül zu ziehenden Scheitern der Abschreckung sollte der Schwerpunkt westlicher Antworten jedoch nicht mehr bei der konventionellen Verteidigung, sondern bei der sofort eingeleiteten Gegenoffensive der nuklear-strategischen >SchwertSchildPentomic< -Division stellte sich daher jetzt auch die Bundeswehr auf kleinere, hoch bewegliche und zum selbstständigen Gefecht unter atomaren Bedingungen geeignete Großverbände ein, die einer ihrer Befürworter bereits Anfang 1956 auf den Begriff von »Atom-Brigaden« brachte58. Nicht aufgegeben war damit freilich das eigenständige Denken in den Kategorien einer beweglichen Gefechtsführung, da man es auch weiterhin als einen »Trugschluß« betrachtete, »daß die Anwendung der Atomwaffe herkömmliche Waffen erübrigt«59. Heusinger würde jetzt und in der Zukunft nicht müde werden, nach einer »Alternative zum Atomkrieg« zu suchen, die der politischen Führung anders als 1914 mehr als eine einzige militärische Option eröffnen und gleichzeitig das sonst kaum lösbare Problem der Zivilverteidigung erleichtern sollte60. Solchem Denken kamen immerhin bereits seit Ende 1956 Formelkompromisse in den NATOGrundsatzdokumenten entgegen, in denen zwar die Vergeltungsstrategie jetzt auch operativ zur Bündnisdoktrin erhoben, gleichzeitig aber die fortdauernde Notwendigkeit einer abwehrstarken NATO-Streitmacht von 30 Präsenzdivisio-

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Thoß, NATO-Strategie (wie Anm. 18), S. 287-290. 144. Kabinettssitzung, 20.7.1956. In: Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung. Hrsg. für das Bundesarchiv von Friedrich P. Kahlenberg, Bd 9: 1956, bearb. von Ursula Hüllbusch, München 1998, S. 486. Deutscher NMR bei SHAPE, Brigadegeneral Graf Kielmansegg an Heusinger, 15.10.1956, BA-MA, BW 17/30. »Deutsche Atom-Brigaden«. In: Europäische Wehr-Korrespondenz, Nr. 4, 25.1.1956; die Umgliederung der U.S. Army ist eingehend beschrieben bei A.J. Bacevich, The Pentomic Era: The US Army between Korea and Vietnam, Washington, DC 1986. Studie Nr. 1 des MFR »Gedanken zur deutschen Verteidigung«, 18.9.1956, BA-MA, BW 17/43. »Gedanken General Heusinger zur Atomkriegführung«, o.D., ebd., BW 2/980 sowie seine Gespräche mit dem Chef des Stabes MFR, Oberst von Hobe, 13.11. bzw. mit dem Unterabteilungsleiter IV A, Oberst de Maiziere, 26.11.1956, Militärisches Tagebuch MFR, ebd., BW 17/36, S. 20 f. bzw. Tagebuch de Maiziere, ebd., Ν 673/v.22.

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nen unterstrichen wurde61. Die Krisen im Herbst 1956 in Ungarn und am Suezkanal hatten schließlich deutlich gemacht, dass es weiterhin auch unterhalb der atomaren Schwelle begrenzte Konflikte geben konnte, die nicht atomar zu beantworten waren. Deshalb teilte man im Verteidigungsministerium die Festlegung von SHAPE »es wird [...] nur einen Krieg geben und das ist der Atomkrieg« in dieser Ausschließlichkeit nicht. Für die Bundesrepublik sei es vielmehr »von ausschlaggebender Bedeutung [...] nach Möglichkeit den Atomkrieg zu vermeiden, um ihr Territorium und ihre Volkssubstanz vor der Vernichtung zu bewahren«62. Die Nuklearisierung der Bündnisplanung und ihre schrittweise Umsetzung in den Streitkräfteprofilen ließen jedoch aus Sicht der Bundesregierung seit Sommer 1956 kein atomares Abseitsstehen der Bundesrepublik mehr zu. Der bislang zögernde Bundeskanzler griff daher jetzt das Diktum seines neuen Verteidigungsministers Strauß in vollem Umfang auf, dass eine Nation ohne Atomwaffen letztlich im Bündnis »deklassiert« oder wie es Adenauer ausdrückte: »Atomprotektorat« sei63. Die daraus abgeleitete atomare Umrüstung der Bundeswehr musste ab 1957 auch ihren Niederschlag in einer offensiveren deutschen Interessenvertretung im Bündnis finden. Das Stichwort dafür war Nichtdiskriminierung als gleichberechtigter Allianzpartner. Hinzu kamen zwei weitere Probleme: die wachsende Skepsis gegenüber der Glaubwürdigkeit des amerikanischen Atomschutzes für Westeuropa, nachdem die USA selbst atomar verwundbar geworden waren, und die notwendige Einsichtnahme in die atomare Zielplanung von SHAPE als Voraussetzung für die eigene Zivilverteidigung. Die Einzelheiten der Debatte um atomare Teilhabe der Bundesrepublik und ihre Umsetzung in einer Atombewaffnung der Bundeswehr können hier nur stichwortartig präsentiert werden64. Der Versuch, über eine Rüstungsgemeinschaft mit Frankreich und Italien 1956/57 den Produktionsverzicht aus den Pariser Verträgen aufzuweichen, gelangte zwar zur Vertragsreife, scheiterte aber im Sommer 1958 an der Verwerfung des Projekts in Paris durch General Charles de Gaulle65. Schon diesen tri-

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»Directive to the NATO Military Authorities from the North Atlantic Council«, 13.12.1956, sowie MC 14/2 »Overall Strategic Concept for the Defense of the North Atlantic Treaty Organization Area« und MC 48/2 »Measures to Implement the Strategic Concept«, beide 23.5.1957, NATO Strategy Documents (wie Anm. 10), S. 269-331. Studie Nr. 3 »Grundlagen-Sammlung für den Deutschen Verteidigungsbeitrag«, 16.11.1956, BA-MA, BW 1/724, Bl. 415-474. Strauß und Adenauer vor dem Bundeskabinett, 20.7. bzw. 19.9.1956, Die Kabinettsprotokolle, B d 9 (wie Anm. 56), S. 485; Schwarz, Adenauer. Der Staatsmann (wie Anm. 51), S. 299. Vgl. dazu v.a.: Kelleher, Germany and the Politics (wie Anm. 29); Christoph Hoppe, Zwischen Teilhabe und Mitsprache. Die Nuklearfrage in der Allianzpolitik Deutschlands 1959-1966, Baden-Baden 1993; Detlef Bald, Die Atombewaffnung der Bundeswehr. Militär, Öffentlichkeit und Politik in der Ära Adenauer, Bremen 1994. Neueste Bewertung des sogenannten FIG-Projekts jetzt bei Ulrich Lappenküper, Die deutsch-französischen Beziehungen 1949-1963. Von der »Erbfeindschaft« zur »entente elementaire 1959-1958«, 2 Bde, München 2001 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitge-

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lateralen Ansatz hatte Adenauer den USA gegenüber im Übrigen als europäisches und nicht als auf nationale Verfügungsgewalt abzielendes Projekt qualifiziert66. In Einschränkungen erfolgreicher war dagegen die deutsche Teilhabe an der von den USA Ende 1957 zugesagten Ausrüstung der NATO-Verbände mit atomaren Trägersystemen. Die Bundeswehr partizipierte daran zunächst bis auf die Ebene von Kurzstreckenraketen. Entscheidend dabei war und blieb die damit eng gekoppelte Festlegung, dass die dazugehörigen Atomsprengköpfe zwar ebenfalls auf deutschem Boden gelagert wurden, im Einsatz aber allein in amerikanischer Verfügungsgewalt verblieben67. Von der Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Europa in den frühen sechziger Jahren wurde Westdeutschland dagegen mit der Begründung bewusst ausgespart, dass die Basen dafür in der Bundesrepublik zu verwundbar seien68. General Lauris Norstad setzte andererseits seit Ende der fünfziger Jahre in den USA wie auf NATO-Ebene Zug um Zug seine Idee einer NATO-Atomstreitmacht in der doppelten Absicht durch, eine eurostrategische atomare Komponente in die Hände des SACEUR zu bekommen und gleichzeitig die Mitbestimmungswünsche der nichtatomaren westeuropäischen Partner zu befriedigen69. Die Bundesregierung stellte sich aktiv hinter den daraus hervorgehenden Plan einer multilateralen Atomstreitmacht (MLF), weil der Weg über eine europäische atomare Mitbestimmung letztlich als die einzige gangbare Variante deutscher atomarer Interessenwahrung erschien70. Die schwere NATO-Krise von 1965/66, ausgelöst vom Scheitern der MLF und verschärft durch den Austritt Frankreichs aus der Militärorganisation, brachte schließlich mit der Schaffung der Nuklearen Planungsgruppe eine Lösung, die wenigstens das wichtigste Anliegen deutscher atomarer Mitbestimmung konsensfähig machte: die Einflussnahme auf die nukleare Zielplanung der Allianz. Seit der Übung LION NOIR vom Frühjahr 1957 gehörte der Einsatz taktischer Atomwaffen auf deutschem Boden zu den umstrittensten Komponenten der NATO-Strategie. Die Festlegungen des SACEUR, sich eigene Atomeinsätze auf Bündnisgebiet strikt vorzubehalten und den Schaden durch hohe Luftdetonationen zu begrenzen, stellten bei näherem Hinsehen nur wenig effektive Aushilfen dar. Das galt auch für die von deutscher Seite entwickelte

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schichte, 49), hier Bd 1, S. 1139-1199, der auch die gesamte dazu erschienene Literatur eingearbeitet hat. Gespräch Adenauer Dulles am Rande des NATO-Gipfels, 14.12.1957: Schwarz, Adenauer. Der Staatsmann (wie Anm. 51), S. 399 f., und Detlef Feiken, Dulles und Deutschland. Die amerikanische Deutschlandpolitik 1953-1959, Bonn 1993, S. 399. Zu Möglichkeiten und Grenzen deutscher atomarer Rüstung: Thoß, NATO-Strategie (wie Anm. 18), S. 3 7 3 - 5 1 1 . Ebd., S. 444 f.; vgl. auch Christian Tuschhoff, Deutschland, Kernwaffen und die NATO 1949-1967. Zum Zusammenhalt von und friedlichem Wandel in Bündnissen, BadenBaden 2002, S. 124 f. Zum Norstad-Plan einer NATO-Atomstreitmacht: Thoß, NATO-Strategie (wie Anm. 18), S. 4 3 8 - 4 5 7 und 4 9 7 - 5 1 1 . Entwicklung und deutsche Haltung zur MLF sind umfassend analysiert bei Hoppe, Zwischen Teilhabe und Mitsprache (wie Anm. 64), S. 7 1 - 2 4 9 .

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»Karte Empfindliche Punkte«71 über Objekte von hohem volkswirtschaftlichen und kulturellem Wert, mit der man wenigstens die sensibelsten Bereiche des Landes als Atomziele auszusparen hoffte. Wie wenig derlei in den durchgespielten Realitäten fruchtete, weil im Zweifelsfalle die Erfüllung der operativen Aufträge Vorrang vor der Schadensminimierung hatte, lässt sich aus den Erfahrungsberichten und Auswertungen der deutschen Teilnehmer bei allen NATOÜbungen der fünfziger und sechziger Jahre ablesen72. Damit sind nur einige der militärischen Probleme aus einer mit Atomwaffen zu führenden Verteidigung auf deutschem Boden angesprochen. Noch weit gravierender musste sie sich auf allen Feldern der Zivilverteidigung auswirken. Sie reichten von der Sicherung lebenswichtiger Ressourcen und Einrichtungen, von den Verkehrswegen und Kommunikationszentralen bis zum Schutz der Bevölkerung und zu ihrer ärztlichen wie ernährungsmäßigen Versorgung. Sie bezogen aber auch den Erhalt beziehungsweise das Wiederingangsetzen kriegsund versorgungswichtiger Produktion sowie die Kriegsbevorratung und Personalsteuerung mit ein. Stellvertretend für das ganze Spektrum mag daraus das besonders drängende Problem von Flüchtlingen und Evakuierten knapp angerissen werden73. Schon um die Operationsfreiheit ihrer Kampfverbände auf deutschem Boden zu erhalten, musste die NATO an einer grundsätzlichen Regelung dieser Frage interessiert sein. Die Erwartung, dem mit einer durchgängigen Politik des >stay at home< begegnen zu können, hatte zwar unter dem Gesichtspunkt eines damit erreichbaren Mindestschutzes und einer Mindestversorgung der Zivilbevölkerung an ihren Wohnorten einiges für sich. Nur waren sich alle Verteidigungsplaner in der Bundesrepublik darin einig, dass die Einhaltung dieser einvernehmlich getroffenen Vorgabe im Bündnis bei einer vorerst nicht zu gewährleistenden Vorneverteidigung auf deutschem Boden Illusion sein musste. Angemessener Schutzraumbau, wie er vom Bundesministerium des Innern als Reaktion auf die Erfahrungen bei CARTE BLANCHE bereits ab Herbst 1955 durch entsprechende Gesetzesvorlagen anzustoßen versucht wurde, stieß als flächendeckendes Prinzip schnell an seine ökonomischen Grenzen. Noch in den achtziger Jahren standen gerade einmal für 2,9 Prozent der Bevölkerung 1,8 Millionen Schutzplätze zur Verfügung, von denen lediglich 400 000 effektiven Schutz unter atomaren Bedingungen versprachen74. Im Übrigen ging man bei den Fachleuten für militärische wie zivile Verteidigung unisono davon aus, dass bei den zu erwartenden tiefen Einbrüchen des Gegners in den Osten der Bundesrepublik und dem massenhaften Einsatz takti71

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Die Karte wurde 1958 entwickelt und bis auf Divisionsebene verteilt, um darauf basierend jederzeit Einspruch gegen geplante Atomeinsätze auf derartige Zielpunkte erheben zu können, BA-MA, BW 17/26. Beispiele dafür bei Thoß, NATO-Strategie (wie Anm. 18), S. 466-482. Eingehend sind dazu die Unterlagen aus NATO-Übungen ausgewertet: ebd., S. 650-681. Hans-Jürgen Schilling, Zum Flüchtlingsproblem in kriegerischen Konflikten. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 8/1981, S. 3-10, und Stellungnahme dazu von Wolfram von Raven, Ausweg - in die Sackgasse? Stellungnahme zum Beitrag von Hans-Jürgen Schilling. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 8/1981, S. 11-14.

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scher Atomwaffen auf beiden Konfliktseiten bestenfalls die zur Evakuierung vorgesehenen Ausbildungskader der Streitkräfte, ausgewählte Fachleute und die Facharbeiter in der Kriegswirtschaft einigermaßen geregelt aus Gefechtszonen abzutransportieren und zu versorgen waren. Mehrere Millionen Bundesbürger würden dagegen aus einer Mischung von >Russen- und Atomangst< panikartig nach Westen flüchten. Zu ihrem Abfließen waren parallel zu den militärischen Vormarschstraßen für NATO-Verbände separate Verkehrswege und nach rückwärts gestaffelte Auffangräume mit entsprechender Notversorgung vorgesehen. Doch die personal- und versorgungstechnischen Vorbereitungen darauf kamen nur sehr schleppend voran. Verhandlungen mit den westeuropäischen Partnern über die Öffnung der Grenzen und die zeitweilige Unterbringung deutscher Flüchtlinge in den Nachbarstaaten stießen an deren eingeschränkte Aufnahmekapazitäten und waren daher nur in Ausnahmefällen möglich75. Erfahrungsberichte aus den Großübungen der NATO gipfelten denn auch an diesem Punkt regelmäßig in dem Eingeständnis nach wie vor nicht erreichter Lösungen. Um die davon völlig überforderten Kräfte des Zivilschutzes nicht von vornherein zu demotivieren, wichen ihre Spielannahmen deshalb dramatisch von den realistischeren Schätzungen der Militärs ab76. Es war ein nüchterner Stabsplaner, der Chef des Stabes des Führungsstabes der Bundeswehr (Fü B), Brigadegeneral Albert Schnez, der nach Einsicht in die NATOPläne für eine atomare Verteidigung seinen Minister im Sommer 1960 mit den daraus für die Bundesrepublik zu ziehenden Folgerungen konfrontierte: »Die Durchführung einer derartigen Planung bedeutet jedoch unweigerlich das Ende der Deutschen Nation, vielleicht auch Europas. Der paradoxe Fall würde Wirklichkeit: ein Teil der Armee übersteht und erringt einen fraglichen >SiegCreative PeaceRapallo Factor< in German Foreign Policy from the 1950s to the 1990s. In: The Federal Republic of Germany since 1949: Politics, Society and Economy before and after Unification. Ed. by Klaus Larres and Panikos Panayi, London [et al.], S. 278-326, hier S. 301 ff.; siehe auch allgemein Axel Frohn, Der >RapalloMythos< und die deutsch-amerikanischen Beziehungen. In: Deutschland in Europa. Kontinuität und Bruch. Hrsg. von Jost Dülffer [u.a.], Frankfurt a.M. 1990, S. 135-153. Vgl. Konrad Adenauer, Erinnerungen, Bd 2:1953-55, 4. Aufl., Stuttgart 1984, S. 440-441. Ebd., S. 441 ff. Vgl. auch Günter Bischof, »Österreichische Neutralität, die deutsche Frage und europäische Sicherheit 1953-1955«. In: Die doppelte Eindämmung. Europäische Sicherheit und deutsche Frage in den Fünfzigern. Hrsg. von Rolf Steininger [u.a.]., München 1993, S. 133-176. Vgl. Robert Murphy, Diplomat among Warriors, New York 1965, S. 486; Rolf Steininger, Zwischen Pariser Verträgen und Genfer Gipfelkonferenz: Grossbritannien und die Deutsche Frage 1955. In: Die doppelte Eindämmung (wie Anm. 28), S. 177-211. Vgl. auch z.B. Daniel A. Gossel, Briten, Deutsche und Europa: die deutsche Frage in der britischen Außenpolitik 1945-1962, Stuttgart 1999, S. 92 ff.; Yvonne Kipp, Eden, Adenauer und die deutsche Frage. Britische Deutschlandpolitik im internationalen Spannungsfeld 1951-1957, Paderborn 2002; Stencer W. Mawby, Containing Germany: Britain and the Arming of the Federal Republic, Basingstoke [et al.] 1999.

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Adenauer war sich des zunehmenden westlichen Desinteresses an der Deutschen Frage und der Bereitschaft, sich mit dem Status quo des Kalten Krieges abzufinden, bewusst. Ab Ende 1954, spätestens aber ab Mitte 1955 war die westliche Deutschlandpolitik tatsächlich in eine neue Phase eingetreten. Diese Phase kann mit Schlagwörtern wie Neutralisierung, Überlegungen über die Errichtung eines Gürtels neutraler Staaten (Neuauflage des Eden-Planes von 1954) und der allmählichen westlichen Bereitschaft zur Anerkennung der DDR charakterisiert werden. Adenauer war davon jedoch wenig begeistert, und ab der zweiten Hälfte des Jahres 1955 ist sein Verhältnis zu den Westmächten, insbesondere zu Großbritannien und den USA, zunehmend von Skepsis gezeichnet30. In den angelsächsischen Ländern rückte nach der geglückten Westintegration der Bundesrepublik die Deutsche Frage immer mehr in den Hintergrund; ja die Deutsche Frage und Adenauers Pochen auf die Wiedervereinigung wurden als zunehmend ärgerlich empfunden. Die USA betrachteten bereits in der zweiten Amtsperiode Eisenhowers den Kanzler immer mehr als stures und unbewegliches Relikt aus den Anfangsjahren des Kalten Krieges, dem es nicht gelang, sich auf das neue internationale Klima einzustellen, das im Wesentlichen mit dem Begriff der »friedlichen Koexistenz« treffend umrissen werden konnte. Adenauer, dem dies nicht verborgen blieb, war zutiefst enttäuscht. Das deutsch-amerikanische Verhältnis wurde aufseiten Adenauers bald durch immer größeres Misstrauen charakterisiert. Aufseiten der USA wurde zunehmend über die Zeit nach Adenauer spekuliert und immer wieder die politische Zuverlässigkeit diverser möglicher Nachfolger des alten Kanzlers erörtert. Trotz der Mitgliedschaft in der NATO und der Aufstellung der ersten Bundeswehreinheiten ab Anfang 1956 kam es zudem auch bald auf militärischstrategischem Gebiet zu ernsten Konflikten mit den USA. Es wurde immer deutlicher, dass der Einfluss der Bundesrepublik auf die Eisenhower-Regierung zurückging. Verantwortlich dafür waren vor allem unterschiedliche Auffassungen darüber, wie der empfundenen sowjetischen Bedrohung am besten zu begegnen sei, damit auch die Realisierung der »New Look«-Konzeption Washingtons (mithin die Einführung der Doktrin der »massiven Vergeltung«).

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Vgl. Klaus Larres, Eisenhower, Dulles und Adenauer: Bündnis des Vertrauens oder Allianz des Mißtrauens? (1953-1961). In: Deutschland und die USA im 20. Jahrhundert. Geschichte der politischen Beziehungen. Hrsg. von Klaus Larres und Torsten Oppelland, Darmstadt 1997, S. 119-150. Vgl. auch Feiken, Dulles und Deutschland (wie Anm. 5), S. 278 ff.; Saki Dockrill, The Eden Plan and European Security. In: Cold War Respite: The Geneva Summit of 1955. Ed. by Günter Bischof and Saki Dockrill, Baton Rouge 2000, S. 161 ff.; Eckart Conze, No Way Back to Potsdam: The Adenauer Government and the Geneva Summit. In: Ebd., S. 190 ff.

IV. Vertrauenskrise und abnehmender Einfluss der Bundesrepublik Der Tod John Foster Dulles im Mai 1959 verstärkte die amerikanische Skepsis gegenüber Adenauers Führungsqualitäten, und der Kanzler fühlte sich danach in der amerikanischen Hauptstadt noch weniger verstanden. Doch bereits die drei Jahre vor Dulles' Tod zeigten, dass es sich bei der Entfremdung, die sich zwischen Adenauer und der Eisenhower-Administration angebahnt hatte, um Divergenzen in ganz grundsätzlichen Fragen handelte. Dies war nicht eine Krise, die lediglich auf das Auswechseln von Personen zurückzuführen war. Insbesondere die Jahre 1956-1959 hatten zu einer tiefen Vertrauenskrise im Verhältnis Adenauers zu den USA geführt und damit zur NATO und zum westlichen Bündnis insgesamt. Zugleich war es für Adenauer und die Bundesrepublik wenig glücklich, dass dieser Zeitraum - vor allem die Jahre 1955/56, die Zeit der Suezkrise und der Gründung der Europäischen Gemeinschaft - mit dem Höhepunkt der relativ dominanten Stellung der USA innerhalb des westlichen Bündnisses zusammenfiel. Immerhin hatten die USA 1954/55 die Mitgliedschaft der Bundesrepublik in der NATO durchgesetzt und sich im gleichen Jahr - trotz aller Widerstände der Regierung Adenauer - auf den Beginn einer Politik der Entspannung mit der Sowjetunion während der beiden Genfer Konferenzen im Juli und September 1955 eingelassen31. Während der Suezkrise machten die USA dann gemeinsame Sache mit der UdSSR und zwangen Großbritannien und Frankreich mittels ganz erheblichen ökonomischen und diplomatischen Drucks, ihr Abenteuer im Nahen Osten jämmerlich abzubrechen. Damit demonstrierten die USA in aller Deutlichkeit, wer der Herr im westlichen Bündnis war32. Doch danach ging es in einem schleichenden, gleichwohl stetigen Prozess bergab mit der amerikanischen Fähigkeit, sich innerhalb des westlichen Bündnisses durchsetzen zu können, zumal die wirtschaftliche Lage der USA sich langsam aber sicher verschlechterte, während sich diejenige der meisten europäischen Länder (und insbesondere auch die ökonomische Situation der Bundesrepublik) deutlich verbesserte. 1957/58 und 1959/60 konnte in den Vereinigten Staaten nicht nur eine erste Nachkriegsrezession beobachtet werden, es flössen auch in erheblichem Maße Dollars nach Westeuropa ab. Zum ersten Mal seit dem Krieg deutete sich zudem ein Handelsdefizit der USA an. Die bislang unangefochtene Stellung Amerikas im Welthandel begann leicht zurückzugehen; sie sollte nie mehr den hohen Stand des Jahres 1957 erreichen. Gut zehn Jahre später, 1968, wurde zum

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Vgl. die diversen Aufsätze in Cold War Respite (wie Anm. 30). Vgl. unten Anm. 39.

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ersten Mal ein deutliches Handelsdefizit erreicht; schaut man nur auf den Export von Konsumgütern, wurde bereits 1959 ein Handeldefizit erwirtschaftet33. Der amerikanische Wissenschaftler Thomas McCormick spricht von »dem langsamen und allmählichen Dahinschwinden der Hegemomie«, das Ende der 50er Jahre begann. Er ist überzeugt, dass das erwähnte Handelsdefizit bereits zu diesem frühen Zeitpunkt dazu führte, dass die amerikanische Industrie mit einer zu schmalen Kapitalgrundlage ausgestattet und nur unzureichend modernisiert wurde. Dies wiederum, so McCormick, sei zum Teil darauf zurückzuführen, dass die USA einen Gutteil ihrer Ressourcen für die Aufrechterhaltung ihrer Vormachtstellung im westlichen Bündnis verwandten34. Präsident Eisenhowers Sorge um die ökonomische und finanzielle Gesundheit der USA war durchaus berechtigt und hatte bereits dazu geführt, dass er gleich nach seiner Amtsübernahme 1953 den sogenannten New Look in der amerikanischen Militärpolitik eingeführt hatte, was die Implementierung der »Strategie der massiven Vergeltung« nach sich zog. Dies bedeutete im Wesentlichen, dass die USA sich von nun an auch auf dem Gefechtsfeld weitgehend auf ihre Atomwaffen verließen, um gegebenenfalls einen Angriff der Sowjets auf Westeuropa oder anderswo zurückzuschlagen. Sie vernachlässigten zunehmend die Stärkung ihrer teuren konventionellen Streitkräfte und verließen sich ganz auf den vielerorts als beunruhigend angesehenen weiteren Ausbau ihres Atompotenzials35. Die deutsche Öffentlichkeit wurde insbesondere durch das NATO-Manöver Carte Blanche 1955 beunruhigt, das den Einsatz von 345 Atombomben vor allem auf deutschem Boden simulierte und dabei gut fünf Millionen Verwundete und Tote namentlich unter der deutschen Bevölkerung in Kauf zu nehmen schien36. Adenauers Misstrauen wurde dagegen nicht so sehr durch Carte Blanche ausgelöst, sondern durch den Mitte Juli 1956 in der New York Times erläuterten Plan des Admiral Arthur W. Radford, des Vorsitzenden der Joint Chiefs of Staff, über die zukünftigen verteidigungspolitischen Schwerpunkte der USA. Nach den Vorstellungen Radfords sollten die amerikanischen Truppen innerhalb von drei Jahren um 800 000 Soldaten auf zwei Millionen verringert werden. Dies wurde mit der zunehmenden Verfügbarkeit von taktischen nuklearen Waffen gerechtfertigt. Es war gar die Rede von einem Rückzug aus Europa und der Konzentration auf die »Festung Amerika«. Bei dem Radford-Plan handelte es sich lediglich um Vorüberlegungen, denen zwar durchaus eine gewisse Be33

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36

Vgl. Thomas J. McCormick, America's Half-Century: United States Foreign Policy in the Cold War, 2nd ed., Baltimore 1995, S. 125 ff. Ebd., S. 125 f. Vgl. Christian Greiner, Die Entwicklung der Bündnisstrategie 1949 bis 1959. In: Die NATO als Militärallianz. Strategie, Organisation und nukleare Kontrolle im Bündnis 1949 bis 1959. Hrsg. von Christian Greiner [u.a.], München 2003 (= Entstehung und Probleme des Atlantischen Bündnisses bis 1956, Bd 4), S. 103 ff.; siehe auch ebd., S. 227 ff., 308 ff.; zudem Saki Dockrill, Eisenhower's New Look National Security Policy, 1953-1961, Basingstoke [et al.] 1996. Siehe AWS (wie Anm. 17), Bd 3, S. 616; Christoph Bluth, Britain, Germany and Western Nuclear Strategy, Oxford 1995, S. 33 f.

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deutung zukam, doch wurden sie während der Zeit des US-Wahlkampfes ventiliert. Eisenhower war sich dessen bewusst, dass öffentliche Hinweise auf Truppenreduzierungen und einen finanzbewussten Präsidenten immer Publikumserfolge waren. Dennoch entbehrten diese Überlegungen nicht jeglicher politischer Substanz, und Adenauer nahm sie zu Recht sehr ernst37. Wohl jeder bundesdeutsche Regierungschef wäre hier alarmiert gewesen. Der Kanzler organisierte ein Botschaftertreffen, schickte seinen Militärexperten General Adolf Heusinger nach Washington, um die bundesdeutschen Bedenken darzulegen, und wandte sich brieflich an John Foster Dulles, der seinen Bruder, den CIA-Chef Allan Dulles, nach Bonn sandte. Den Gebrüdern Dulles gelang es dieses Mal aber nicht, Adenauers Misstrauen wirklich zu besänftigen, auch wenn der sogenannte Radford-Plan schon bald wieder in den Schubladen verschwand. Adenauer vermochte in der Folgezeit sogar die Weiterentwicklung der »New Look«-Strategie hin zu einer richtigen »trip-wire«-Strategie zu verhindern. Bonn erhob heftige Widerstände gegen im Bündnis aufkommende Vorstellungen, dass die NATO nur noch über recht wenige konventionelle Streitkräfte zu verfügen brauche. Stattdessen sollte der Westen nach diesen Überlegungen im Angriffsfalle recht schnell die Eskalation zu einem Atomkrieg herbeiführen. Dies stand zumindest in diversen Strategiepapieren. Im Wesentlichen aus Rücksicht auf Adenauer lehnte Eisenhower die Weiterentwicklung dieser Vorstellungen jedoch vorerst ab. Die Eisenhower-Administration ließ daher nach wie vor zu, »dass die Bundesrepublik wichtige Parameter für die westliche Strategie setzte, selbst wenn sie den amerikanischen Präferenzen zuwiderliefen« 38 . Doch seit dem Radford-Plan traute Adenauer der Eisenhower-Regierung immer weniger über den Weg. Und tatsächlich sollten die deutsch-amerikanischen Unstimmigkeiten schon bald im Zuge der Suez-Krise weitere Nahrung erhalten. Die Suez-Krise im Oktober/November 1956 war letztlich durch die Weigerung von Außenminister Dulles entstanden, die dem blockfreien Ägypten zunächst gemachte Zusage zur Finanzierung des Assuan-Staudammes einzulösen. Daraufhin verstaatlichte der ägyptische Staatspräsident Gamal Abdel Nasser den Kanal am 26. Juli, was Ende Oktober zu der ohne Wissen der USA abgesprochenen britisch-französisch-israelischen Invasion Ägyptens führte. Unverzüglich forderten sowohl die USA als auch die Sowjetunion den sofortigen Rückzug der drei Invasoren von ägyptischem Territorium.

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38

Vgl. für eine gute Zusammenfassung der wesentlichen Elemente, Hubert Zimmermann, Money and Security: Troops, Monetary Policy and West Germany's Relations with the United States and Britain, 1950-1971, Cambridge [et al.] 2002, S. 87-95; vgl. auch Henning Köhler, Adenauer. Eine politische Biographie, Berlin [u.a.] 1994, S. 942-944; Feiken, Dulles und Deutschland (wie Anm. 5), S. 364 ff. Für die amerikanischen Planungen siehe auch detailliert Klaus A. Maier, Die Vorabgenehmigung (Predelegation) des Einsatzes von Nuklearwaffen. In: Die NATO als Militärallianz (wie Anm. 35), S. 359 ff. Vgl. Schake, NATO-Strategie und deutsch-amerikanisches Verhältnis (wie Anm. 2), S. 369.

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Eisenhower war nicht zuletzt zutiefst darüber verärgert, dass ihn die beiden europäischen Verbündeten über ihre Absicht im Dunkeln gelassen hatten. Er fürchtete ganz zu Recht, wie sich zeigen sollte, dass die Invasion den gesamten Nahen Osten gegen die westlichen »Imperialisten« und damit gegen den Westen als Ganzes aufbringen und der Sowjetunion die Tür in eine bisher vom Kommunismus weitgehend unberührte wichtige Region öffnen würde. Er zögerte daher nicht, wirtschaftliche Sanktionen gegen die engsten Verbündeten zu verhängen, um seine Forderung eines sofortigen Rückzuges der Briten und Franzosen durchzusetzen. Eisenhower weigerte sich, London Öl zu liefern, als die Briten Washington darum baten, nachdem die Länder des Nahen Ostens ein Ölembargo gegen die Aggressoren verhängt hatten. Der Präsident unterstützte Großbritannien ebenfalls nicht, als London sich um eine Anleihe beim Internationalen Währungsfonds bemühte, als kurz nach Ausbruch der Suezkrise der Wert des Pfund Sterlings auf den internationalen Devisenmärkten dramatisch sank. All dies führte schon recht bald, und zum großen Verdruss der Franzosen und Israelis, zum einseitigen Rückzug der Briten vom Suezkanal. Großbritannien war nichts anderes übrig geblieben, als klein beizugeben. Der sowjetische Ministerpräsident Nikolaj Bulganin hatte zudem fast zeitgleich mit der negativen Reaktion Eisenhowers damit gedroht, London und Paris nuklear zu bombardieren39. Adenauer war zutiefst besorgt; ihn beunruhigte vor allem, dass die USA und die Sowjetunion womöglich nicht nur im Nahen Osten, sondern auch anderswo bereit sein könnten, gemeinsame Sache zu machen. Er scheute sich nicht, sich inmitten der Krise auf einen Staatsbesuch nach Paris zu begeben und damit demonstrativ die französische und britische Suez-Invasion zu unterstützen, allerdings unterließ er entsprechende verbale Äußerungen. Der Kanzler glaubte auch einen Zusammenhang zu erkennen zwischen der gemeinsamen amerikanisch-sowjetischen Politik in der Suez-Krise und dem Radford-Plan. Er befürchtete, dass die beiden Supermächte sich nun bald die Herrschaft der Welt teilen und zu einer nuklearen Verständigung kommen würden, ohne Rücksicht auf die nationalen Interessen der kleineren Partner zu nehmen40. Von Adenauers tiefer Vertrauenskrise in Bezug auf die USA erfuhr die Öffentlichkeit kaum etwas. In der Öffentlichkeit betonte der Kanzler nach wie vor sein großes Vertrauen in Präsident Eisenhower und die Zukunft des westlichen Bündnisses. Doch Adenauers immer tieferes Misstrauen gegenüber den USA ließ sich nicht mehr so einfach eliminieren. Im Februar 1957, und insbesondere nach Zündung der ersten britischen Wasserstoffbombe am 15. Mai 1957, hatte 39

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Zur Suez-Krise vgl. vor allem Jonathan Pearson, Sir Anthony Eden and the Suez Crisis: Reluctant Gamble Basingstoke [et al.] 2003; Diane B. Kunz, The economic diplomacy of the Suez Crisis, Chapel Hill 1991; Cole C. Kingseed, Eisenhower and the Suez Crisis of 1956, Baton Rouge 1995; auch Keith Kyle, Suez, London 1992; daneben Peter G. Boyle, The Hungarian Revolution and the Suez Crisis. In: History, 90/300 (2005), bes. S. 556 ff. Vgl. Köhler, Adenauer (wie Anm. 37), S. 947-949; Felken, Dulles und Deutschland (wie Anm. 5), S. 376 ff.; Konrad Adenauer, Erinnerungen (wie Anm. 27), Bd 3: 1955-1959, Stuttgart 1967, S. 222-228.

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bereits die geheime atomare Zusammenarbeit zwischen Bonn und Paris begonnen. Die deutsch-französische Zusammenarbeit war ohnehin durch die Kooperation zur Schaffung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mittels der im März 1957 unterzeichneten Römischen Verträge zunehmend enger geworden. Gemeinsam hoffte man nun, innerhalb von fünf Jahren Atomwaffen produzieren zu können41. Diese Entwicklung war im Grunde nicht überraschend. Da die NATO unter amerikanischer Führung immer mehr den Schwerpunkt auf die nukleare Abschreckung legte, stellte man sich in Bonn zunehmend die Frage, welchen Sinn es haben mochte, eine neue Armee aufzustellen, die nicht über Nuklearwaffen verfügte. Zumindest - so forderte man bald - sollte Bonn im Zuge der militärischen Gleichberechtigung über die NATO Zugang zu taktischen Nuklearwaffen erhalten und in den Besitz der notwendigen Trägersysteme gelangen. Auch wenn dies in den USA auf ein gewisses Verständnis stieß, war die EisenhowerAdministration insgesamt nicht bereit, die Bundeswehr mit Atomwaffen auszurüsten und damit den Kreis der Atommächte zu erweitern. Außenminister Dulles hoffte stattdessen, mit der UdSSR zu einem nuklearen Abrüstungsabkommen zu gelangen, denn auch Moskau hatte kein Interesse an der Weiterverbreitung von Atomwaffen. Dies passte Adenauer ganz und gar nicht. Er misstraute der Zusammenarbeit der Supermächte zutiefst. Zudem hatte er immer weniger Vertrauen in den amerikanischen Präsidenten, der über den Einsatz von Kernwaffen in Europa zu entscheiden hatte und dabei wusste, dass sein eigenes Land durch sowjetische Nuklearwaffen erreichbar und damit der Vernichtung ausgesetzt war. Adenauer wollte zwar keinesfalls auf den atomaren Schutz der USA verzichten, doch strebte er sicherheitshalber die eigene europäische Atombombe an. Die Verabschiedung der »Zwei-Schlüssel-Konzeption« durch den NATO-Rat im April 1957 befriedigte ihn nur bedingt. Dadurch sollten die US-Streitkräfte in Europa weiterhin die Verfügungsgewalt über die nuklearen Sprengköpfe in Europa behalten, während die Europäer, einschließlich der Bundesrepublik, den »zweiten Schlüssel« für die zu ihrer Verwendung erforderlichen Trägersysteme erhalten sollten42. In der westdeutschen Öffentlichkeit führte dies zu großen Auseinandersetzungen. Adenauers saloppe und sicherlich nicht ernst 4

'

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Vgl. zu einer vorzüglichen Studie, die sich hauptsächlich mit der Rolle der westdeutschen Nuklearpolitik in der Frühphase des Kalten Krieges beschäftigt, Mark Trachtenberg, Constructed Peace. The Making of the European Settlement, 1945-1963, Princeton 1999. Siehe auch Hans-Peter Schwarz, Erbfreundschaft. Adenauer und Frankreich, Bonn 1992; Per Fischer, Der diplomatische Prozeß der Entstehung des deutsch-französischen Vertrages von 1963. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 41 (1993), S. 101-116; Eckard Conze, Hegemonie durch Integration? Die amerikanische Europapolitik und ihre Herausforderung durch de Gaulle. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 43 (1995), S. 2 9 7 - 3 4 0 . Vgl. Christoph Hoppe, Zwischen Teilhabe und Mitsprache. Die Nuklearfrage in der Allianzpolitik Deutschlands 1959-1966, Baden-Baden 1993; Mathias Küntzel, Bonn und die Bombe. Deutsche Atomwaffenpolitik von Adenauer bis Brandt, Frankfurt a.M. 1992; Johannes Steinhoff und Reiner Pommerin, Strategiewechsel. Bundesrepublik und Nuklearstrategie in der Ära Adenauer-Kennedy, Baden-Baden 1992.

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gemeinte Äußerung, dass taktische Nuklearwaffen im Grunde nur eine Weiterentwicklung der alten Artillerie seien, war dabei wenig hilfreich. In Parlament und Öffentlichkeit verbreiteten Adenauer und Verteidigungsminister Franz Josef Strauß zudem den Eindruck, dass die NATO und die USA Druck auf die Bundesregierung ausübten, ihre Bereitschaft zu erklären, die Bundeswehr mit Nuklearwaffen auszurüsten. Doch dies war keineswegs der Fall. Im Gegenteil: Dulles war über die westdeutschen Bestrebungen keinesfalls erfreut und unterstützte sie nicht. Stattdessen sorgten die nur recht langsamen Fortschritte bei dem Aufbau einer angestrebten Martnschaftsstärke von einer halben Million bundesdeutscher Soldaten für zusätzliche Spannungen zwischen Washington und Bonn. Daneben führten Ende 1957 und Anfang 1958 auch erneute Spekulationen der Westmächte über die Errichtung neutraler und entmilitarisierter Zonen in Mitteleuropa, die sich insbesondere über einen großen Teil des Gebiets der Bundesrepublik erstreckten, dazu, Adenauers großes Unbehagen über die strategische Politik des Westens weiter zu verstärken43. Noch während die Auseinandersetzungen über die westliche Nuklearpolitik und die Doktrin der massiven Vergeltung anhielten, begannen die USA sich allmählich von der Doktrin abzuwenden und der »Strategie der flexiblen Antwort« zuzuwenden. Danach sollten die westlichen Streitkräfte in der Lage sein, mit angemessen starken konventionellen, taktisch-nuklearen beziehungsweise strategischen Kräften auf einen Angriff entweder auf der vom Gegner gewählten Ebene oder mit einer vorbedachten Eskalation zu reagieren. Verteidigungsminister Strauß fürchtete jedoch, dass dies den Status quo der Bundesrepublik als Nichtatommacht festschreiben würde. Vor allem aber schien damit wieder einmal die nukleare Abkoppelung Amerikas von Europa im Falle ernster Kriegshandlungen möglich zu werden. Würden die USA wirklich Nuklearwaffen und nicht nur konventionelle Waffen einsetzen, wenn dann die nukleare Bombardierung amerikanischer Städte durch die UdSSR drohte? Adenauer war davon jedenfalls immer weniger überzeugt44. Die USA versuchten diesem Misstrauen entgegenzuwirken, so etwa 1957 mit dem Angebot an die Alliierten, ihnen ballistische Mittelstreckenraketen zur Verfügung zu stellen. 1959 bot Washington dann den Europäern die Beteiligung an einer multilateralen Atomstreitkraft an (MLF), die unter der Kontrolle des NATO-Oberkommandierenden stehen sollte. Adenauer hatte argumentiert, dass auch die Bundeswehr über die modernsten Waffen verfügen müsse. Die äußerst umstrittene MLF, die den Europäern kein wirkliches atomares Mitspracherecht zu geben schien, wurde jedoch nie verwirklicht, wenn die Idee auch

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Für die nicht zuletzt von dem amerikanischen Diplomaten George Kennan, dem polnischen Außenminister Rapacki und dem britischen Oppositionsführer Gaitskell propagierten Pläne vgl. Feiken, Dulles und Deutschland (wie Anm. 5), S. 453 ff.; Hans-Gert Pöttering, Adenauers Sicherheitspolitik 1955-1963. Ein Beitrag zum deutsch-amerikanischen Verhältnis, 2. Aufl., Düsseldorf 1976, S. 134 ff. Vgl. Messemer, Konrad Adenauer. Defense Diplomat on the Backstage (wie Anm. 2), S. 246 ff.

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unter John F. Kennedy wiederbelebt wurde, was beinahe zu ihrer Realisierung geführt hätte45. Die Wahl de Gaulies zum letzten Ministerpräsidenten der Vierten Republik am 1. Juni 1958 bedeutete das Ende der geheimen deutsch-französischen nuklearen Zusammenarbeit. De Gaulle stoppte das Unternehmen im Juli, glaubte er doch, dass Frankreich durchaus in der Lage sei, alleine eine solche Waffe herzustellen46. Die seit dem Frühjahr 1957 zu beobachtenden sowjetischen Warnungen gegen eine atomare Aufrüstung der Bundeswehr lassen möglicherweise den Schluss zu, dass das Ultimatum Chruscevs, das im November 1958 die zweite Berlin-Krise auslöste, »auch gegen den atomaren Ehrgeiz der Bundesrepublik gerichtet gewesen ist«, doch ist dies keinesfalls sicher47. Die Gründe für das sowjetische Ultimatum vom 27. November 1958 sind nach wie vor nicht völlig geklärt, trotz des vor einigen Jahren erschienenen sehr detaillierten Buches von Rolf Steininger. Doch spielte der Versuch, die staatsrechtliche Anerkennung der DDR durchzusetzen, eine ganz zentrale Rolle48. Auf die lange zweite Berlinkrise kann hier nicht näher eingegangen werden. Sie dauerte im Grunde von Chruscevs Ultimatum im November 1958 bis zum Bau der Berliner Mauer im August 1961, wenn auch mit einer langen Unterbrechung. Das Misstrauen Adenauers gegenüber der abwartenden und in seinen Augen allzu nachgiebigen Haltung des gesamten westlichen Bündnisses wuchs dramatisch an. Der britische Premierminister reiste gar zu Sondierungen nach Moskau und Dulles verkündete seine »Agententheorie«: Grenzschutzdienste der DDR sollten als Organe betrachtet werden, die in sowjetischem Auftrag handelten. Für Adenauer waren all dies völlig inakzeptable Positionen49. Im Januar 1959 glaubte Adenauer dann sogar deutliche Anzeichen für eine veränderte Haltung der USA zur Wiedervereinigung zu erkennen. Während einer Pressekonferenz am 13. Januar 1959 hatte Dulles erwähnt, dass freie gesamtdeutsche Wahlen nicht »der einzige Weg seien, auf dem eine Wiedervereinigung erreicht werden könnte«50. All dies fand bei Adenauer keinerlei Verständnis und bestätigte ihn stattdessen in seinem Misstrauen. Adenauer war 45

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Vgl. die nach wie vor nützliche Studie von Dieter Mahncke, Nukleare Mitwirkung. Die Bundesrepublik Deutschland in der atlantischen Allianz 1954-1970, Berlin 1972. Vgl. auch David N. Schwartz, NATO's Nuclear Dilemmas, Washington 1983, S. 82 ff.; siehe auch den guten, konzeptionell interessanten Aufsatz von Steve Weber, Shaping the postwar balance of power: multilateralism in NATO. In: International Organization, 46 (1992), 3, S. 6 3 3 - 6 8 0 . Vgl. Franz Josef Strauß, Die Erinnerungen, Berlin 1989, S. 349. Vgl. Steininger, Der Mauerbau (wie Anm. 1). Zur Berlinkrise, vgl. Anm. 1 sowie Fritz Lenze, US-West German Relations during the Berlin Crisis, 1958-1960, Ann Arbor 1984; Adenauer, Erinnerungen (wie Anm. 27), Bd 3, S. 439 ff.; William Burr, Avoiding the Slippery Slope. The Eisenhower Administration and the Berlin Crisis, November 1958-January 1959. In: Diplomatic History, 18(1994), S. 177-205. Vgl. Felken, Dulles und Deutschland (wie Anm. 5), S. 494 ff.; Burr, Avoiding the Slippery Slope, S. 182 ff. Zitiert nach Köhler, Adenauer (wie Anm. 37), S. 1016; siehe auch Felken, Dulles und Deutschland (wie Anm. 5), S. 491 ff.

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überzeugt, dass die USA »sorglos, zu sorglos« seien, und drängte auf einen »ganz harten Kurs« gegenüber Moskau und auf westliche »Einigkeit und Geschlossenheit« 51 . Nur de Gaulle schien ihm noch vertrauenswürdig zu sein, was letztlich 1963 auch zum sogenannten Elysee-Vertrag führte. Alles in allem erhöhte die zweite Berlin-Krise weiter das Misstrauen Adenauers gegenüber den Westmächten. Immerhin wurde durch die Krise die Bedeutung der Vier Mächte betont und der Bundesrepublik wieder eine passive Rolle in der internationalen Politik zugewiesen. Zunehmend glaubte der Kanzler, eine versteckte Agenda des Westens zu erkennen, die nicht den deutschen Interessen entsprach.

V. Die Negierung des Sonderstatus der Bundesrepublik Spätestens 1961 wurde deutlich, dass die neue amerikanische Regierung unter Präsident John F. Kennedy beabsichtigte, einen neuen Kurs im Kalten Krieg einzuschlagen und der Bundesrepublik im westlichen Bündnis eine weniger wichtige Rolle zuzuerkennen. Die Politik der neuen Kennedy-Administration zeigte in den Augen Bonns endgültig, dass Adenauer zunehmend weniger politisches Verständnis und allgemeines Wohlwollen aus Washington entgegenschlug52. Ähnliches war in London schon mit dem Regierungsantritt Harold Macmillans im Januar 1957 zu beobachten gewesen. Die neuen politischen Führungsgenerationen in Washington und London waren immer weniger gewillt, die Sonderstellung der Bundesrepublik und des Bundeskanzlers im westlichen Bündnis zu akzeptieren. Der Kanzler war dagegen überzeugt, dass die Westmächte dem Drängen der sowjetischen Politik auf die Hinnahme des deutschland- und weltpolitischen Status quo zunehmend nachgaben, um eine Ära der Entspannung einzuläuten, die die Deutsche Frage ausklammerte und ignorierte, und nicht zuletzt aus finanziellen Gründen die Augen vor der nach wie vor bestehenden militärischen Bedrohung aus dem Osten verschlossen. Ab dem Ausscheiden und dem baldigen Tod von John Foster Dulles im Mai 1959 war Adenauers Bedeutung im westlichen Lager endgültig zurückgegangen. Dies war in erster Linie auf die veränderten weltpolitischen Konstellationen zurückzuführen. Auch seine ab der Bundespräsidentenwahl von 1959 umstrittenere Stellung in der bundesrepublikanischen Innenpolitik verstärkte diese

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Vgl. Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Staatsmann, 1952-1967, Stuttgart 1991, S. 490; Köhler, Adenauer (wie Anm. 37), S. 1017; Feiken, Dulles und Deutschland (wie Anm. 5), S. 497 f. Vgl. zu einem Überblick über die Außenpolitik Kennedys: Robert Dallek, An Unfinished Life. John F. Kennedy, 1917-1963, Boston 2003, S. 607 ff.; siehe auch Frank Costigliola, Kennedy, the European Allies, and the Failure to Consult. In: Political Science Quarterly, 110 (1995), I, S. 105-123.

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Tendenz53. Adenauers rapide abnehmendes Durchsetzungsvermögen ab Ende der 50er Jahre zeigte aber auch, dass die persönliche Wertschätzung des Kanzlers durch Dulles von nicht zu unterschätzender Bedeutung gewesen war. Sie hatte zu der Entwicklung des Sonderstatus und des großen Einflusses beigetragen, den sich Adenauer in der Ära Eisenhower/Dulles im Bündnis hatte erkämpfen können. Diese Vermutung wurde für Adenauer zur Gewissheit unter Eisenhowers Nachfolgern Kennedy und Lyndon B. Johnson. Beide Präsidenten drängten auf einen Ausbau der konventionellen Optionen des Bündnisses und waren dabei »weniger als ihre Vorgänger gewillt, die Bundesrepublik die Bedingungen und das Tempo der strategischen Entwicklung der NATO bestimmen zu lassen«. Der deutschen Außenpolitik gelang es unter Adenauer so wenig wie unter Ludwig Ehrhard, die amerikanische Neuorientierung rückgängig zu machen, was sich im Verlauf der 60er Jahre zu einer erheblichen Belastung in den deutsch-amerikanischen Beziehungen entwickeln sollte54. Abgesehen von dem Arger der Europäer darüber, in der Kubakrise in keinster Weise konsultiert worden zu sein, und dem Unverständnis über die zunehmend tiefere Verwicklung der USA in den Vietnamkrieg gab es auch immer größere Differenzen in der Frage, wie Moskau von einem Angriff auf Westeuropa abzuhalten sei. Insbesondere führte das Drängen der USA auf eine konventionelle Aufrüstung der europäischen Streitkräfte - dem im Grunde nur die Bundesrepublik wirklich nachkam - dazu, dass das Vertrauen in den nuklearen Schild der USA immer weiter abnahm. 1961 führte die wiederaufgelebte Berlinkrise zu einer heftigen Auseinandersetzung darüber, in welchem Ausmaß die NATO sich bei der Verteidigung Europas auf konventionelle Streitkräfte verlassen sollte. Dies waren die Differenzen um die nukleare Mitwirkung der Alliierten. Sie drehten sich anfänglich um die Einführung der »Multilateral Force« (MLF) und damit um ein nukleares Mitspracherecht der Alliierten55. Zunehmend konzentrierten sich die langen und teilweise sehr erbittert geführten Auseinandersetzungen innerhalb der NATO jedoch auf die von der Kennedy-Administration befürwortete neue Strategie der Flexible Response. Der Streit dauerte bis in das Jahr 1967 an und wurde auch dann nur mühsam überwunden. Die von Washington betriebene Strategie der Direktverteidigung und der vorbedachten Eskalation ließ dem Einsatz konventioneller Streitkräfte vor allem auch auf dem Boden der Bundesrepublik wieder größeren Raum. Für die amerikanischen Protagonisten dieses Strategiewechsels wurde mit der Anhebung der nuklearen Schwelle die Abschreckung glaubwürdiger. In den Augen der westdeutschen Kritiker schien dies jedoch 53

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Vgl. Daniel Koerfer, Kampf u m Kanzleramt. Erhard und Adenauer, Stuttgart 1987, S. 2 2 7 ff. Vgl. Schake, NATO-Strategie und deutsch-amerikanisches Verhältnis (wie Anm. 2), S. 363 f. und Joachim Arenth, Die Bewährungsprobe der Special Relationship. Washington und Bonn ( 1 9 6 1 - 1 9 6 9 ) . In: Deutschland und die USA im 20. Jahrhundert (wie Anm. 4), S. 151 ff. Siehe Anm. 44.

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lediglich die Wahrscheinlichkeit eines Krieges zu erhöhen; die Schutzzusagen früherer amerikanischer Regierungen schienen nicht mehr zu gelten. Kennedy und Johnson waren allem Anschein vor allem daran interessiert, für die USA den Schaden zu begrenzen, auch wenn dadurch Westeuropa einem höheren Risiko ausgesetzt wurde 56 . Obwohl es der Bundesrepublik schließlich gelang, bedeutende Änderungen hinsichtlich der Flexible Response durchzusetzen, blieb es ihr versagt, die unterschiedlichen Positionen Frankreichs und Amerikas miteinander zu versöhnen. Kein Kompromiss schien möglich zu sein. Diese mangelnde Kompromissbereitschaft hinsichtlich der Strategie führte in den 60er Jahren zu einer ernsten Belastung des deutsch-amerikanischen Verhältnisses. Die Bundesrepublik versuchte verzweifelt es zu vermeiden, sich zwischen der Erhaltung der amerikanischen Beistandszusage und der französisch-deutschen Kooperation zum Aufbau einer europäischen Ordnung entscheiden zu müssen, was schließlich auch gelang. Die Vereinigten Staaten erlangten 1967 die Zustimmung der NATO zur Einführung der Flexible Response. Das westdeutsche Vertrauen, dass Deutschlands Sicherheit allein durch eine starke Verteidigung in der NATO und durch den Beistand der USA gewährleistet sei, war jedoch unwiderruflich verloren gegangen57.

VI. Schlussfolgerung Den Höhepunkt der deutsch-amerikanischen Beziehungen im Kalten Krieg bildeten sicherlich die Jahre von 1949 bis 1955. Dies war auch die Zeit, in der der Einfluss der Bundesregierung auf die amerikanische Außenpolitik am größten war. Während dieser Jahre besaß die Regierung Adenauer reale Möglichkeiten, auf die Ausgestaltung der amerikanischen Deutschland- und Europapolitik in ihrem Sinne einzuwirken. Gerade die ökonomische und vor allem die sicherheitspolitische Schwäche der Bundesrepublik während dieser Zeit ermöglichte das. Hinzu kamen außerordentlich gute persönliche Beziehungen zwischen Adenauer und führenden amerikanischen Politikern und die hohe Wertschätzung, die der Kanzler in den USA genoss. Man stimmte mit seinen außenpolitischen Zielen, darunter nicht zuletzt mit seinem profunden Antikommunismus überein und war von seinem Durchsetzungsvermögen in der deutschen und europäischen Politik beeindruckt.

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Vgl. Schake, NATO-Strategie und deutsch-amerikanisches Verhältnis (wie Anm. 2), S. 364, 371 f.; Bluth, Britain, Germany and Western Nuclear Strategy (wie Anm. 36), S. 105 ff.; Schwartz, NATO's Nuclear Dilemmas (wie Anm. 45), S. 136 ff. Schake, NATO-Strategie und deutsch-amerikanisches Verhältnis (wie Anm. 2), S. 364; Bluth, Britain, Germany and Western Nuclear Strategy (wie Anm. 36), S. 130 ff.

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Dies alles änderte sich 1954/55 mit der erfolgreichen Westintegration der Bundesrepublik. Während die USA unter dem Eindruck der ansteigenden militärischen und insbesondere nuklearen Stärke Moskaus zunehmend auf einen Kurs der friedlichen Koexistenz mit der Sowjetunion einzuschwenken begannen, hielt Adenauer von dieser Politik rein gar nichts. Insbesondere verloren die USA das Interesse an der Deutschen Frage. Für die Westmächte, wie auch allmählich für die UdSSR, war die Deutsche Frage zwar nicht gelöst, aber doch zumindest vorübergehend beigelegt worden. Man konnte sich anderen, drängenderen Problemen zuwenden, wie etwa der Sicherung des nuklearen Gleichgewichts und des militärischen Friedens. Je mehr Adenauer sich dieser Tendenz der internationalen Politik widersetzte, desto mehr verlor er an Einfluss auf die Politik der USA. Diese Entwicklung setzte sich fort unter den Regierungen Kennedy und Johnson, als unter Adenauers Nachfolgern Erhard und Kiesinger auch alte persönliche Bindungen und die Erinnerung an die Aufbauleistungen der Bundesrepublik in den frühen 50er Jahren und an die enge deutschamerikanische Kooperation während dieser Zeit allmählich zu verblassen begannen. Das harte politische Tagesgeschäft und weniger der Verweis auf gemeinsame antikommunistische Werte begann auch die deutsch-amerikanischen Beziehungen zu bestimmen. Dennoch verlor die Bundesregierung nie völlig das Vertrauen in Washington; Bonn verlor auch nie ganz die Möglichkeit, Einfluss auf die amerikanische Außenpolitik zu nehmen und sie in gewissem Maße gelegentlich mitgestalten zu können. Die Flexible Response zeigt dies beispielsweise. Zwar übernahm die Regierung Erhard dieses neue Strategiekonzept der NATO nur widerwillig und ohne große Überzeugung, doch nachdem das Beharren der USA auf der Flexible Response deutlich geworden war, setzte sie sich stark für das neue Konzept ein. Die Debatte über die neue Strategie drohte immerhin die NATO zu spalten. Bonn übernahm eine führende Rolle dabei, den durch die Auseinandersetzungen entstandenen Schaden zu begrenzen; und es gelang auch, wichtige Modifikationen bei den USA durchzusetzen, durch die das neue strategische Konzept nicht nur für Bonn, sondern auch für die meisten europäischen NATO-Länder erheblich annehmbarer wurde. Insbesondere trug die Regierung Erhard dazu bei, Strukturen zu schaffen, die in der Zukunft den politischen Meinungsaustausch innerhalb der NATO fördern würden. Bonn hatte entscheidenden Anteil daran, dass die Nukleare Planungsgruppe (NPL) der NATO fortentwickelt wurde, durch die die Verbündeten regelmäßig über das Nuklearpotenzial und die Nuklearstrategie der USA informiert werden sollten58. Die Bundesrepublik hatte sich auch dafür ausgesprochen, dass die Annahme der Flexible Response mit einer Überprüfung der künftigen Aufgaben der NATO verknüpft werden sollte. Dies führte zum Harmel-Bericht, der sowohl die Abschreckung als auch eine Politik der Entspannung als fundamentale Ziele der NATO formulierte. Der Harmel-Bericht trug zudem entscheidend dazu bei, 58

Vgl. Schake, NATO-Strategie und deutsch-amerikanisches Verhältnis (wie Anm. 2), S. 373.

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dass der Riss in der NATO, der in den 60er Jahren entstanden war, wieder weitgehend gekittet werden konnte59. Dennoch - im Vergleich zu den Jahren 1949 bis 1955 war der Einfluss der Bundesrepublik auf die USA in den 60er Jahren deutlich zurückgegangen. Aber die 50er Jahre müssen auch als Ausnahmejahre angesehen werden, während derer die USA großes Interesse daran hatten, die Einflussnahme der Bundesrepublik auf die Politik der USA zuzulassen. Daher sollte die schwierige Zusammenarbeit der späteren Jahre nicht nur an der relativen Harmonie dieser Ausnahmezeit gemessen werden.

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Ebd.

Martin Kutz Die verspätete Armee. Entstehungsbedingungen, Gefährdungen und Defizite der Bundeswehr I. Die Fragestellung Mit dem Topos von der verspäteten Armee wird meistens die Tatsache beschrieben, dass die Etablierung von Streitkräften und die dazugehörige Wehrverfassung in ein schon festgelegtes Verfassungsgefüge erfolgte. Dies ist aber eine Verkürzung von Sachverhalten und Problemen, denn die neuen Streitkräfte waren auch in anderer Hinsicht »verspätet«. Uber die durchweg positiven Folgen der Einpassung der Bundeswehr in ein schon funktionierendes demokratisches Verfassungssystem ist viel Erhellendes publizierte worden 1 . Hier sei nur daran erinnert, dass die unveränderbaren Grundrechtsartikel der Maßstab für die innere Ordnung der Bundeswehr geworden sind und jahrhundertealte Vorstellungen vom richtigen Soldatsein außer Kraft gesetzt haben. Außerdem waren die negativen historischen Erfahrungen mit dem deutschen Militär maßgeblich für viele Neuerungen: Die Bündelung der Befehls- und Kommandogewalt beim Minister, die Parlamentarisierung der Streitkräftekontrolle, die Einrichtung des Instituts des Wehrbeauftragten, all dies sind Reflexe auf solche Erfahrungen, die, durch allgemeine Rechtsbindung und zivile Militärverwaltung verstärkt, Konsequenzen eines Willens zur Vermeidung alter Fehler waren2. Dass erst zehn Jahre nach Ende des Krieges und erst nach der Errichtung eines demokratischen Staatswesens das Militär nachträglich in die vorhandene Ordnung eingebaut werden musste und nicht, wie 1919, schon vor der Durchsetzung des labil gebliebenen demokratischen Staates unübersehbarer und zugleich demokratiefeindlicher Machtfaktor war, ist der deutschen Demokratie sehr gut bekommen. Dieser Teil der Wiederbewaffnungspolitik war erfolgreich Insbesondere: Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik (AWS) 1945 bis 1956. Hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, 4 Bde, München 1982-1997. Diese Bände bringen eine Fülle an Material, das vor dieser Veröffentlichung weit gestreut war. Vgl. Martin Kutz, Reform als Weg aus der Katastrophe. Über den Vorbildcharakter der preußischen Reformen 1808-1818 und die Vergleichbarkeit der Situationen von 1806 und 1945 für Arbeit und Denken Baudissins. In: Innere Führung - zum Gedenken an Wolf Graf Baudissin. Hrsg. von Hilmar Linnenkamp und Dieter S. Lutz, Baden-Baden 1995.

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und hat sich als zukunftsträchtig erwiesen. Er betrifft aber im Kern »nur« den politisch-juristischen Rahmen, in dem sich die Bundeswehr bewegen musste. Die hinter dem Topos von der verspäteten Armee sich verbergenden Aspekte von Verspätung systematisch zu untersuchen ist aber bisher vernachlässigt worden. Diese Problematik ist eng verbunden mit der Frage, wie es gelingen konnte, mit Offizieren der Wehrmacht, deren antidemokratische Grundhaltung und deren enge Verquickung mit dem NS-Regime evident war, eine Armee aufzubauen, die nie eine Gefahr für die demokratische Ordnung unseres Landes wurde. Welche Rolle spielte also - das Defizit an demokratischen Orientierungen, die damit verbundene Rückwärtsorientierung der Gründergeneration - die schon im Kriege sichtbare professionelle Rückständigkeit - die veralteten Vorstellungen vom Offizierberuf und von der Offizierausbildung - und der Drang, sich und die Wehrmacht als Institution zu rehabilitieren? Es gilt, nicht nur diese Einzelaspekte genauer zu beschreiben, es muss auch geklärt werden, welche außen- und innenpolitischen Rahmenbedingungen das heikle Verfahren einer demokratieverträglichen Wiederbewaffnung begünstigt haben und welche Voraussetzungen des Erfolges auch in der Gründergeneration selbst trotz deren Vorleben gegeben waren.

II. Die Rahmenbedingungen Im Gegensatz zum Ende des Ersten Weltkrieges, als die Parole geglaubt wurde, man sei im Felde unbesiegt, war die Niederlage 1945 total. Auch wenn nicht öffentlich artikuliert - das Bewusstsein des moralischen und des professionellen Versagens war weit verbreitet. Die Entzauberung des Soldatenberufes war vollständig. Millionen Deutscher hatten dieses Versagen miterlebt, hatten die Unmenschlichkeit militärischen Verhaltens am eigenen Leibe erfahren 3 , hatten das sinnlose Hinauszögern der Kapitulation nicht verstanden 4 , hatten den politischen Fanatismus ihrer Vorgesetzten und den Terror gegen sich und ihre Kame-

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Als eindringliches Tagebuch Erich Kuby, Mein Krieg. Aufzeichnungen aus 2129 Tagen, Berlin 1999 (Erstausgabe München 1975); »Ich will raus aus diesem Wahnsinn«, Deutsche Briefe von der Ostfront 1941-1945. Aus sowjetischen Archiven. Hrsg. von Anatoly Golovchansky [u.a.], Wuppertal 1991; »Ich habe die Metzelei satt und laufe über«. ... Hrsg. von Jörg Kammler, Fuldabrück 1985. Manfred Messerschmidt, Die Wehrmacht. Vom Realitätsverlust zum Selbstbetrug. In: Ende des Dritten Reiches - Ende des Zweiten Weltkrieges. Im Auftr. des MGFA hrsg. von Bruno Thoß und Hans-Erich Volkmann, München, Zürich 1995; Manfred Messerschmidt, Die Wehrmacht in der Endphase. Realität und Perzeption. In: Die Zukunft des Reiches. Gegner, Verbündete und Neutrale (1943-1945). Im Auftr. des MGFA hrsg. von Manfred Messerschmidt und Ekkehart Guth, Herford, Bonn 1990 (= Vorträge zur Militärgeschichte, 13).

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raden5 noch in bedrückender Erinnerung und waren als kleine Leute Zeuge von Offiziersfehlverhalten bis hin zur militärisch getarnten Offiziersdesertion gewesen. Dem Normalbürger konnte man über Militär und Krieg nichts mehr vormachen. In Ost und West war deshalb die Ablehnung einer Wiederbewaffnung Mehrheitsüberzeugung6. Ein anderer Aspekt der Entzauberung des Soldatenberufes war, dass ihm in den neuen Streitkräften die Privilegien und Statuszuweisungen der Vergangenheit verweigert wurden und - ideologische Auseinandersetzungen dazu außer Acht gelassen - dieser Beruf faktisch einer wie jeder andere auch wurde. Der Soldat war »Verteidigungsbeamter« geworden, akzeptierte die Zuweisung aber, weil sie soziale Sicherheit auch für die vielen bot, denen der Einstieg in die zivile Berufswelt nur bedingt geglückt war. Außerdem hatten die Soldaten die sichtbare Entmachtung der Spitzenmilitärs zu akzeptieren, die ohne Kommandogewalt, ohne strategische und operative Kompetenz den Kommandobehörden der NATO und deren strategischen Konzepten unterstellt worden waren. Dazu kam die höchst kritische Einstellung der Öffentlichkeit zu allem, was Militär bedeutete. Selbst die Bildzeitung war noch Anfang der 60er Jahre auf Distanz zur Bundeswehr. Das führte schon in den ersten Jahren der jungen Armee dazu, dass die Söhne aus den alten Soldatenfamilien und aus den sogenannten gehobenen Gesellschaftsschichten, die früher in der Armee die »sozial erwünschten Kreise« genannt wurden, den Soldatenberuf mieden. Sie hatten interessantere, angesehenere und lukrativere Positionen in Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung im Visier. Die Bundeswehr war deshalb schon in den 60er Jahren gezwungen, jeden Tauglichen einzustellen, der Berufs- oder Zeitsoldat werden wollte. Das hatte ab der Mitte der 60er Jahre weitreichende und sehr positive Folgen für die demokratische Verlässlichkeit der Armee, insbesondere aber für die des Offizierkorps7. Die Spielräume der alten Garde waren also gering. Sie wurde politischparlamentarisch effektiv kontrolliert, hatte mit der zivilen Bundeswehrverwaltung als ungeliebter Kontrollinstanz zu leben, sah sich einer ablehnenden Bevölkerung gegenüber; die Medien waren höchst effektive Wachhunde und die professionellen Vorgaben kamen aus dem NATO-Hauptquartier. Die traditionelle Sonderrolle im Staatsgefüge war vorbei. 5

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Rolf-Dieter Müller, Wolfram Wette und Gerd R. Ueberschär, Wer zurückweicht, wird erschossen. Kriegsalltag und Kriegsende in Südwestdeutschland 1944/45, Freiburg i.Br. 1985; Joachim Schröder, »Ich hänge hier, weil ich getürmt bin«. Terror und Verfall im deutschen Militär bei Kriegsende 1945. In: Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten. Hrsg. von Wolfram Wette, München, Zürich 1995; Fritz Wüllner, Die NS-Militärjustiz und das Elend der Geschichtsschreibung. Ein grundlegender Forschungsbericht, Baden-Baden 1991; Manfred Messerschmidt und Fritz Wüllner, Die Wehrmachtsjustiz im Dienste des Nationalsozialismus, Zerstörung einer Legende, BadenBaden 1987. Detlev Bald, Militär und Gesellschaft 1945-1990. Die Bundeswehr der Bonner Republik, Baden-Baden 1994. »Volksarmee schaffen - ohne Geschrei«! Studien zu den Anfängen einer >verdeckten Aufrüstung< in der SBZ/DDR 1947 bis 1952. Im Auftr. des MGFA hrsg. von Bruno Thoß, München 1990 (= Beiträge zur Militärgeschichte, 51). Detlev Bald, Der deutsche Offizier. Sozial- und Bildungsgeschichte des deutschen Offizierkorps im 20. Jahrhundert, München 1982.

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III. Das »neue« alte Personal Wir sollten uns von der Legende verabschieden, dass die Bundeswehr von Offizieren aufgebaut wurde, die von der Demokratie gänzlich überzeugt waren. Das Offizierkorps bestand notwendigerweise aus ehemaligen Wehrmachtoffizieren. Nach 1945 hatten sich die höheren Offiziere als politisch verführte, unpolitische Nur-Soldaten stilisiert, die nichts mit dem NS-Regime gemein hatten. Vergessen, verschwiegen oder verdrängt war der hohe Anteil an Parteimitgliedern im Offizierkorps, vergessen war, dass schon nach dem Heiratserlass von 1935 der Offizier nicht nur selbst nationalsozialistischer Gesinnung sein musste, sondern auch für die seiner Ehefrau zu garantieren hatte. Vergessen auch, dass er einen nationalsozialistischen Erziehungsauftrag gegenüber seinen Untergebenen hatte8. Dazu kam, dass insbesondere die ältere Generation noch auf den Bürgerkrieg mit der Linken in Deutschland eingeschworen war9 und im Krieg gegen den »jüdischen Bolschewismus« keine Bedenken gezeigt hatte10. Nun ist es eine der heikelsten Unternehmungen, über die kollektive Mentalität einer sozialen Gruppe gesicherte Aussagen zu machen. Über die Gründergeneration der Bundeswehr und deren soziales Umfeld gab es eine solche Untersuchung bisher nicht. Kürzlich erschienen sind zwei Arbeiten, die jedoch wichtige Aspekte des Themas erfassen. Das sind einmal von Sönke Neitzel die Abhörprotokolle des britischen Geheimdienstes im Gefangenenlager für Generale in Trent Park, Großbritannien11 und dann eine Studie von Klaus Naumann über Offiziere in der Nachkriegszeit. Beide Studien sind nicht repräsentativ12, die eine, weil nur 63 Generale (und 22 Stabsoffiziere) von etwa 2500 Generalen abgehört wurden, die andere, weil es um Personen ging, die möglicherweise für brauchbar in demokratieverträglichen Streitkräften gehalten wurden, also eine Auswahl. Beide Studien zeigen aber Mentalitäten, die auch aus anderen Zu8

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Manfred Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS-Staat. Zeit der Indoktrination, Hamburg 1969; Manfred Messerschmidt, Die Wehrmacht als tragende Säule des NS-Staates (1933-1939). In: Die Wehrmacht im Rassenkrieg. Der Vernichtungskrieg hinter der Front. Hrsg. von Walter Manoschek, Wien 1996; Armin Nolzen, Von der geistigen Assimilation zur institutionellen Kooperation. Das Verhältnis zwischen NSDAP und Wehrmacht, 1943-1945. In: Kriegsende 1945 in Deutschland. Im Auftr. des MGFA hrsg. von Jörg Hillmann und John Zimmermann, München 2002 (= Beiträge zur Militärgeschichte, 55). Francis L. Carsten, Reichswehr und Politik 1918-1933, Köln 1964; Georg Eliasberg, Der Ruhrkrieg 1920, Bonn-Bad Godesberg 1974; Eberhard Lucas, Märzrevolten im Ruhrgebiet, Frankfurt a.M. 1970. Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941-1945, Stuttgart 1978; Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944. Hrsg. von Hannes Heer und Klaus Naumann, Hamburg 1995. Sönke Neitzel, Abgehört. Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942-1945, Berlin 2005. Klaus Naumann, Generale in der Demokratie. Generationengeschichtliche Studien zur Bundeswehrelite, Hamburg 2007. Aus der weitgehenden Ubereinstimmung, die dieser kleine Personenkreis mit dem militärischen Verhalten der noch im Kampf stehenden Generalskameraden zeigt, kann bei den Gefangenen in Trent Park zumindest auf typische Denkweisen geschlossen werden.

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sammenhängen indirekt erschlossen werden können und ein Licht auf diese Generation werfen. In den Protokollen, die Neitzel veröffentlicht hat13, wird die Enge militärischen Denkens besonders in der Bewertung der Kämpfe 1945 deutlich. Kaum einer distanziert sich von der Endkampfmentalität, alle sind stolz, dass sie bis zur Gefangennahme »ihre Pflicht getan haben«. Eine Kooperation mit den Siegern wird zwar von einigen diskutiert, aber auf die Nachkriegszeit verschoben und von unrealistischen Bedingungen abhängig gemacht. Einsicht in die strategische Lage, insbesondere in die Aussichtslosigkeit der deutschen Kriegführung, ist nur bei einer absoluten Minderheit zu erkennen. Der zweite Komplex ist die Uneinsichtigkeit der Generale in Bezug auf die deutschen Kriegsverbrechen und ihre ungebrochene Affinität zum NS-Regime. Dezidiert ablehnend äußern sich nur wenige, zwei Drittel zeigen sich als ungebrochen regimetreu. Als solche erweisen sich auch fast alle Stabsoffiziere. Das Klima in den Lagern wird von den »Nazis« - so der Ausdruck der Briten - bestimmt, und das, obwohl sowohl deutsche Kriegsverbrechen wie auch die Vernichtung der europäischen Juden bekannt sind und untereinander diskutiert werden. Selbst ein relativ offener und kritischer General kommt zu dem technokratisch rationalen Schluss, man habe einen Fehler gemacht, weil man auch jüdische Frauen und Kinder ermordet habe und weil die Morde nicht verheimlicht wurden. Beim Thema 20. Juli wird erst recht die Regimetreue dieser Generale deutlich. Nur wenige verteidigen die Gruppe um Beck und Stauffenberg. Dabei wird auch der Eid auf Hitler zur Sprache gebracht - allerdings anders als nach 1945. Der Eid wird hier noch nicht diskutiert als Zwangsinstrument zur Gehorsamserzwingung wie nach 1945, sondern als moralische Selbstbindung und als Rechtfertigung für die Regimetreue. Uberdeutlich wird in den Protokollen auch die Karriereorientierung. Das Bedauern darüber, dass die hoffnungsvolle militärische Laufbahn nun zu Ende sei, dass man keine Rolle mehr spielen werde, ist groß, groß auch der Wunsch nach sichtbarer Anerkennung. Das Bemühen um eine Beförderung aus dem Gefangenenlager heraus - übrigens mit Erfolg oder um die nachträgliche Verleihung hoher Orden erscheint aus der heutigen Sicht geradezu gespenstisch. Ganz lächerlich wirkt, wenn der letzte Befehlshaber der deutschen Streitkräfte in Afrika zum Trick greift, um sein Ritterkreuz öffentlich tragen zu können: Da das Zeigen von Gegenständen mit Hakenkreuz verboten war, dreht er seine Auszeichnung einfach um und präsentiert deren Rückseite. Für fünf Generale lässt sich der Weg in die Bundesrepublik prototypisch nachzeichnen. General Kurt Meyer (»Panzermeyer«) und Hermann-Bernhard Ramcke (der »Verteidiger von Brest«) gehören zur Kategorie der Unbelehrbaren. Trotzdem - oder deshalb - werden Meiers Erinnerungen sogar heute noch Die deutschen Generale und wenige Stabsoffiziere wussten nicht, dass sie abgehört wurden, haben sich also völlig ungeniert unterhalten, weil sie glaubten, im Kameradenkreis keine Rücksicht nehmen zu müssen. Sie zeigen deshalb ungeschminkt ihre technokratische Bedenkenlosigkeit, und, wo vorhanden, ihre NS-Orientierung.

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in einschlägigen Kreisen in- und außerhalb Deutschlands gekauft und geschätzt. General Kurt Freiherr von Liebenstein, der sich im Lager schon vom NS-Regime distanzierte und zur kleinen Gruppe der Hitlergegner gehörte, ist von diesen der einzige, der in die Bundeswehr übernommen wurde, allerdings erhielt er kein Truppenkommando, sondern wurde Befehlshaber eines Wehrbereichskommandos. General Heinrich Eberbach hat schon im Lager, aber auch später in der Bundesrepublik über sich selbst sehr kritisch geäußert, er habe wohl gravierende Fehler gemacht und sei wohl den Herausforderungen seines Amtes nicht immer gewachsen gewesen. Damit gehört er zu einer verschwindend geringen einsichtigen Minderheit. Besonders interessant ist der Wortführer der Regimetreuen, Ludwig Crüwell, der im Lager versuchte, auch die Kritiker auszugrenzen und zu disziplinieren. Als das Buch von Neitzel der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, war auch der Sohn Crüwells anwesend. Er berichtete, dass er seinen Vater nach 1945 nur als beredten Propagandisten der Demokratie erlebt habe14. Eine Zeit lang war er sogar als Befehlshaber des deutschen EVG-Kontingents und als möglicher erster Generalinspekteur der Bundeswehr im Gespräch15. Klaus Naumann hat ebenfalls eine vergessene Quelle zu Haltung und Gesinnung der Generale und höheren Stabsoffiziere, allerdings aus der Zeit der späten 40er und frühen 50er Jahre ausgewertet16. Dabei handelt es sich um Protokolle, die der Deutsch-Amerikaner und Emigrant Hans Speier im Auftrag der Rand Corporation von Interviews angefertigt hat, deren Zweck es unter anderem war auszuloten, welche Generale der Wehrmacht für eine Wiederverwendung in westdeutschen Streitkräften infrage kämen17. Aus Naumanns Untersuchungen geht hervor, wie sehr sich diese Offiziere auch nach dem Krieg noch in den alten Bahnen bewegten. Er konstatiert, dass es nur wenige Demokraten unter ihnen gab, die sich selbst als Außenseiter, sogar zum Teil als Vorzeigedemokraten wahrnahmen18 und als solche von ihren ehemaligen Kameraden behandelt wurden. Das Ideologisch-Nationalsozialistische haben die Interviewten verständlicherweise abgelegt. Die meisten erwiesen sich aber in ihren Äußerungen über ihre Vergangenheit und über aktuelle militärische Fragen als kar-

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Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.12.05: Kind hört mit. Georg Meyer, Adolf Heusinger. Dienst eines deutschen Soldaten 1915 bis 1964, Hamburg, Berlin, Bonn 2001. Ich habe Klaus Naumann zu danken, dass er mir nach Veröffentlichung seines Buches erlaubt hat, die folgenden Ergebnisse für diese Studie zu nutzen. Siehe jetzt Klaus Naumann, Generale (wie Anm. 11). Niedergeschlagen haben sich Ergebnisse von Speiers Forschung in folgenden Texten: Foreign Policy and International Communication. A Case Study of German Rearmament, Sept. 1953 (Speier Papers, Box 22). German Rearmament and the Old Military Elite. In: World Politics, Oct. 1953, S. 147-168. German Rearmament and Atomic War. The Views of German Military and Political Leaders. Evanston - White Planes 1957, alle Angaben nach Klaus Naumann, Generale (wie Anm. 11). Dazu gehörten Gerhard Graf von Schwerin, Leo Freiherr Geyr von Schweppenburg, Robert Knauss, Wolf Graf von Baudissin und Frido von Senger und Etterlin. Naumann, Generale (wie Anm. 11), S. 116.

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riereorientierte, traditionsgebundene Gewalttechnokraten19 mit einer durchgängig opportunistischen Grundhaltung, die vor allem dadurch zum Ausdruck kam, dass sie ihre Anpassung an die politischen Bedingungen als selbstverständlich ansahen oder wegen der Selbstverständlichkeit gar nicht thematisierten. Auch innerhalb der Generalität wurde diese Mischung aus Expertentum und Opportunismus thematisiert20. Speier berichtete 1953, dass Graf Schwerin davon ausgehe, dass »jene ehemaligen Mitglieder des deutschen Offizierskorps, denen es leicht gefallen war, mit den Nazis zusammenzuarbeiten, denen viele von ihnen ihre Karrieren verdanken, auch die sein werden, die sich durchsetzen, während die antinazistischen Kräfte bereits jetzt kurz gehalten werden und verärgert abseits stehen«, und fuhr fort: »Ich fragte bei Schwerin genauer nach und bin vollständig überzeugt, daß er nicht auf der Basis vager Vorbehalte verallgemeinert, sondern Namen und Adressen nennen kann, um seine Meinung zu belegen21.« Naumann konnte aber auch feststellen, dass Speiers Interviewpartner in den 50er Jahren22 aus ihrer Reserve gegenüber der Demokratie herauskamen und zum Teil Kooperationsbereitschaft mit dem neuen Staat unter bestimmten Bedingungen zeigten. Wichtigste Bedingung dieser Generation war ihre moralisch-politische Rehabilitierung. Adolf Heusinger und Hans Speidel haben nach schwierigen Vorverhandlungen von Dwight D. Eisenhower unerwartet schnell dessen Ehrenerklärung erreicht, die so weit ging, dass die Initiatoren Sorge hatten, sie in Gänze zu veröffentlichen23. Und seit dem Bundestagswahlkampf 1953 gab es geradezu einen Wettlauf der politischen Parteien um die Wählergunst der ehemaligen Soldaten. Die Erklärungen von Konrad Adenauer oder Kurt Schumacher waren in dieser Hinsicht genauso opportunistisch wie umgekehrt das Verhalten der Ehemaligen, die sich damit zufrieden gaben24. Für sie galt nämlich nur die öffentliche Erklärung etwas sowie die Freilassung der verurteilten Kriegsverbre-

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Eine solche Bezeichnung scheint gerechtfertigt, auch wenn Generalleutnant Helmut Staedtke ein Extremfall blieb, der noch im Mai 1953 sagt: »Wenn ich überzeugt bin, daß ich eine Ordo, die in Gott gegründet ist, zu verteidigen habe [...] dann spielt es im geistlichen Bereich keine Rolle, ob ich dabei kaputt gehe oder selbst übrig bleibe. Und dann gehe ich den Weg selbst dann, wenn ich weiß, daß Tod und die Vernichtung beider Teile der Erde sein Ende sein werden.« Auf einer Arbeitstagung am 24. Mai 1953, zitiert nach Naumann, Generale (wie Anm. 11), S. 131. So äußerte sich z.B. der Generalmajor a.D. Erich Dethleffsen, lt. Klaus Naumann, Generale (wie Anm. 11), S. 110. Hans Speier, Old Military Elite, S. 154, zitiert nach Naumann, Generale (wie Anm. 11), S. 117 f. Zu dieser Zeit hat Hans Speier eine weitere Serie von Interviews geführt, bei denen auch eine besondere Zurückhaltung der Interviewten wegen einer gewünschten oder erwarteten Wiederverwendung erkennbar wurde. Naumann, Generale (wie Anm. 11), S. 108. Vgl. Georg Meyer, Adolf Heusinger (wie Anm. 15), insbes. S. 4 3 5 - 4 3 9 . Krafft Freiherr Schenck zu Schweinsberg, Die Soldatenverbände in der Bundesrepublik. In: Studien zur politischen und gesellschaftlichen Situation der Bundeswehr, Erste Folge. Hrsg. von Georg Picht, Witten, Berlin 1965.

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eher. Keiner von diesen hat aus guten Gründen versucht, eine juristische Rehabilitierung in einem Wiederaufnahmeverfahren zu erreichen. Aber diese vehement vertretene Auffassung vom sauberen, ehrenwerten Kampf der Wehrmacht haben viele Veteranen als ihre Lebenslüge in die Bundeswehr hineingetragen und dazu benutzt, das wirklich Neue in der Bundeswehr zu diskreditieren oder auf ihr wehrmachtstypisches Verständnis umzudenken und umzubiegen. Das gilt insbesondere für den Umgang mit der Inneren Führung25. Der Opportunismus der Angehörigen der ehemaligen Wehrmachtelite hatte neben der generellen Übereinstimmung mit dem NS-Regime auch ganz handfeste Gründe. Die Aufrüstung nach 1933 hat dieser durch die Weltwirtschaftskrise gebeutelten Generation nicht nur eine berufliche Zukunft, sondern auch ungeahnte Karrierechancen eröffnet26. Man war dem Regime dankbar und hat das durch einen Gehorsam zurückgezahlt, der vor keiner moralischen Zumutung haltmachte27. In den letzten Kriegsjahren hatte man sogar gelernt, sich militärisch sinnlosen Forderungen zu beugen28. So trainiert, den Primat der Politik zu akzeptieren, konnten die noch ungewohnten Zumutungen des demokratischen Systems eigentlich sehr viel leichter ertragen werden. So sehr außerhalb des gesellschaftlichen Grundkonsenses musste man sich außerdem nicht fühlen. Ein unterdrückter, aber noch höchst virulenter Antisemitismus war in den 50er oder frühen 60er Jahren auch in der Gesellschaft noch wirksam29. Der Nationalsozialismus galt vielen noch als gute Idee, die nur sehr schlecht in die Praxis umgesetzt worden war, und die Demokratie, wie auch 1918/19, noch als vom Ausland zwangsweise importiert. Dazu kam, dass auch in der Gründungsphase der Bundeswehr ideologische Angebote vorlagen, die eine gereinigte Anknüpfung an die NS-Zeit erlaubten. Aus dem Krieg gegen den »jüdischen Bolschewismus« war durch Weglassen des Antisemitismus die Brücke zum »abendländisch« christlich aufgeladenen Antikommunismus der 25 26

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Schon im Amt Blank. Vgl. Dietrich Genschel, Wehrreform und Reaktion. Die Vorbereitung der Inneren Führung 1951-1956, Hamburg 1972. Nicht zu vergessen die Käuflichkeit eines Teils der Generalität. Vgl. Gerd R. Ueberschär und Winfried Vogel, Dienen und Verdienen. Hitlers Geschenke an seine Eliten, Frankfurt 1999. Vgl. Anm. 10. Die verbrecherischen Befehle sind abgedruckt in: Unternehmen Barbarossa, Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion 1941. Hrsg. von Gerd. R. Ueberschär und Wolfram Wette, Paderborn 1984. Außerdem Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941-1944, Hamburg 1999. Etwa Ardennenoffensive, Alpenfestung, Schlacht um Budapest, Nerobefehl, Festungen Königsberg und Breslau. Wie desaströs die professionellen Standards inzwischen waren, zeigt die Studie von Andreas Kunz, Wehrmacht und Niederlage. Die bewaffnete Macht in der Endphase der nationalsozialistischen Herrschaft 1944-1945, München 2005. Zum Antisemitismus in Deutschland vgl. Frank Stern, Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg, Gerlingen 1991; Werner Bergmann und Rainer Erb, Wie antisemitisch sind die Deutschen? Meinungsumfragen 1945-1995. In: Antisemitismus in Deutschland. Zur Aktualität eines Vorurteils. Hrsg. von Wolfgang Benz, München 1995. Interessant ist, dass nach der Gründung der Bundesrepublik der Antisemitismus demonstrativer wurde.

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Adenauerzeit leicht zu schlagen30, und die Aufrüstung in der DDR bot emotionale Haltepunkte, die die Bürgerkriegsmentalität der Reichswehr nahtlos in die neue Zeit einfügen ließen. Heute sind diese damals höchst virulenten politischen Emotionen weitgehend vergessen. Sie haben die frühe Bundeswehr bis in den Alltagsbetrieb geprägt. »Osterfahrung« war das Schlagwort, mit dem auch Nachkriegskarrieren gemacht wurden und dabei ging es um mehr als nur die Erfahrung in den Abwehrschlachten 1943/45. Dieser Typus des opportunistischen Gewalttechnokraten war natürlich in der Lage, eine Analyse der außenpolitischen Machtverhältnisse rational zu Ende zu denken. Das Ergebnis war klar: Restdeutschland hatte gegen die Sowjetunion keine Chance. »Europa« war deshalb das Hoffnungswort31, das in der Endphase des Krieges schon Goebbels zur Mobilisierung zu nutzen versucht hatte, und »Amerika« musste nach diesen Vorstellungen die materiellen Voraussetzungen schaffen. So wurden die neuen deutschen Streitkräfte als zweite verbesserte Auflage der Wehrmacht ohne Nationalsozialismus, aber mit dem Material und der Logistik der USA gedacht. Sie sollten im Bewegungskrieg der Sowjetunion Paroli bieten. Die Bundeswehr wurde mit Offizieren aufgebaut, die sich in der Masse so verstanden. Ihnen standen nur wenige wirkliche, überzeugte Demokraten gegenüber. Zum Kern ehemaliger Wehrmachtoffiziere stießen die Mitglieder des Bundesgrenzschutzes, einer Formation, der schon in den 60er Jahren nachgesagt wurde, dass sie ein traditionalistisches Paradesoldatentum pflegte32. Außerdem wurden die vielen aus den alliierten Dienstgruppen33, die aus den militärischen Strukturen seit Kriegsende nie ausgeschieden waren, in die Bundeswehr integriert. Diese waren vom Wehrmachtsoldaten über die Gefangenschaft und den Dienst in militärischen Strukturen bei den Alliierten in die neue Bundeswehr übergetreten. Personalpolitischer Neubeginn war also nicht feststellbar, zumal beim Rekrutieren von Stabs- und Subalternoffizieren bei Weitem nicht die Sorgfalt bei der Einstellung galt wie bei den Spitzenmilitärs, die vom Personalgutachterausschuss ausgewählt wurden34. Ab 1961 hat darin jeder taugliche Offizier, selbst der, der vorher aus guten Gründen abgelehnt wurde, in die Bundeswehr eintreten dürfen.

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Vgl. z.B. Maria Mitchell, Materialism and Secularism: CDU Politicians and National Socialism, 1945-1949. In: Journal of Modern History, 67 (1995), S. 278-308, hier S. 298-308. Axel Schiidt, Eine Ideologie im Kalten Krieg. Ambivalenzen der abendländischen Gedankenwelt im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Von der Kriegskultur zur Friedenskultur? Zum Mentalitätswandel in Deutschland seit 1945. Hrsg. von Thomas Kühne, Münster, Hamburg, London 2000; Axel Schildt, Zwischen Abendland und Amerika - Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999. Franz Albrecht Klausenitzer, Die Diskussion um die Innere Führung. Zum Verhältnis von Bundeswehr und Öffentlichkeit. In: Studien zur politischen und gesellschaftlichen Situation der Bundeswehr, Zweite Folge. Hrsg. von Georg Picht Witten, Berlin 1966, S. 169. Dienstgruppen und westdeutscher Verteidigungsbeitrag. Vorüberlegungen zur Bewaffnung der Bundesrepublik Deutschland. Hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Boppard a.Rh. 1982. Α WS (wie Anrn. 1), Bd 3, S. 1020 ff. (Beitrag Meyer).

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Neben vielen anderen Faktoren kann also festgehalten werden, dass die strukturellen Rahmenbedingungen des demokratischen Staates, der politische Opportunismus der Gründergeneration der Bundeswehr und die politischideologischen Angebote der Aufstellungszeit wichtige Voraussetzungen des gelungenen Aufbaus der Bundeswehr waren. Zugleich wird eine soziale und ökonomische Tatsache, wie in der westdeutschen Gesellschaft insgesamt, diesen Erfolg stabilisiert haben: Der ökonomische Aufstieg Westdeutschlands und die dadurch ermöglichte soziale und wirtschaftliche Integration der »Verlierer« des Zusammenbruchs des NS-Regimes, zu denen ja auch die Berufssoldaten der »braunen Jahre« gehört hatten. Erstmals war Demokratie erfolgreich in Deutschland und Erfolg überzeugt Opportunisten jeglicher Ausrichtung am meisten.

IV. Die professionelle Rückständigkeit Vernünftigerweise ist zu erwarten, dass die Generalität einer Armee, die gerade einen Weltkrieg vollständig verloren hat, sich damit befasst, die Gründe ihres professionellen Scheiterns genauestens zu untersuchen und daraus die Konsequenzen für eine Modernisierung der Streitkräfte zu ziehen. Fatalerweise führte aber die Rechtfertigung des moralischen Versagens auch dazu, das professionelle Versagen zu leugnen, schönzureden oder zu rechtfertigen. Eine unübersehbare Rolle spielte dabei der Generalstabschef Hitlers, General Franz Halder. Da er im Zuge der Verhaftungen nach dem 20. Juli auch in KZ-Haft genommen worden war, übersahen vor allem die Amerikaner seine Rolle im Krieg gegen die Sowjetunion. Es steht fest: Wäre 1945/46 in Nürnberg bekannt gewesen, was die historische Forschung inzwischen über ihn zutage gefördert hat, hätten die Alliierten auch Halder als Kriegsverbrecher gehängt35. Halder bekam die Möglichkeit, in der Historical Division der US-Armee Studien über den Zweiten Weltkrieg aus deutscher Sicht zu verfassen und verfassen zu lassen36. Da er die Autoren dieser Studien in der ersten Nachkriegszeit aus amerikanischen Mitteln mit Wohnung, Nahrung und Geld weit über das damals Normale hinaus versorgen konnte, waren seine Zuarbeiter auch von 35 36

Christian Hartmann, Halder, Generalstabschef Hitlers 1938-1942, Paderborn 1991. AWS (wie Anm. 1), Bd 1, S. 680 ff. (Beitrag Meyer); Christian Greiner, »Operational History (German) Section and the Naval History Team«. Deutsches militärstrategisches Denken im Dienste der amerikanischen Streitkräfte von 1946 bis 1950. In: Militärgeschichte. Hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Stuttgart 1981, S. 400-433; Bernd Wegner, Erschriebene Siege, Franz Halder, die »Historical Division« und die Rekonstruktion des Zweiten Weltkrieges im Geiste des deutschen Generalstabes. In: Politischer Wandel, organisierte Gewalt und nationale Sicherheit. Beiträge zur neueren Geschichte Deutschlands und Frankreichs. Hrsg. von Ernst Willi Hansen, Gerhard Schreiber und Bernd Wegner, München 1995.

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ihm abhängig. Halder hat massiven Einfluss auf den Inhalt und die Bewertungen in diesen Arbeiten genommen. Ziel war es, Hitler die Schuld am Krieg und an seiner verbrecherischen Kriegführung zuzuschieben und damit die Generalität reinzuwaschen sowie deren professionelles Versagen auch auf die Interventionen Hitlers zurückzuführen 37 . So wurde die moralische Frage zum Instrument, die Diskussion über das professionelle Versagen zu verhindern. Diesen Studien deutscher Generale über den Zweiten Weltkrieg wurde nicht nur von amerikanischer Seite geglaubt, weil sie vor allem dem aktuellen Hauptgegner galten, sie galten auch in der Geschichtswissenschaft lange als solide und verlässlich38. Um so mehr haben sie das Selbstverständnis der Gründergeneration der Bundeswehr geprägt. Wenn selbst die Sieger des Krieges diese Arbeiten und deren Bewertungen offensichtlich sehr schätzten, warum sollte man dann kritisch mit seiner eigenen Vergangenheit umgehen? Damit unterblieben eine kritische Analyse der Gründe des Scheiterns und eine professionelle Neuorientierung. Übrig blieb die Verarbeitung des großen Traumas, des Scheiterns im Osten. Hier wurde aber in schlechter deutscher Tradition der Blick auf Operatives und vor allem auf die Taktik verengt. Aber selbst in dieser Frage erfolgte keine ehrliche Analyse. Der Verlust des letzten Restes militärischer Logik im letzten Kriegsjahr stand nicht zur Debatte39. Noch Mitte der 50er Jahre war die große Sorge im Amt Blank unter den Operateuren, wie man die vielen Merkblätter der letzten eineinhalb Kriegsjahre, die der Truppe für den Krieg im Osten zugedacht waren, aus den Beutearchiven der USA zurückerhalten könne. Die Befürchtung bestand, die dort fixierte »Osterfahrung« könne verloren gehen40. Die gewalttechnokratische Grundorientierung verhinderte, sowohl die politische Entwicklung in Deutschland und außerhalb seiner Grenzen zu verstehen als auch die sozialen, ökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen militärischen Planens und Handelns korrekt wahrzunehmen. Dass die deutsche Gesellschaft von 1955 oder 1970 sich wesentlich von der der 30er und 40er Jahre unterschied, wurde nur als Störfaktor wahrgenommen, ebenso die Veränderungen in der Mentalität der nachwachsenden Generation. Innermilitärisch wurde versucht, hier programmatisch gegenzusteuern 41 .

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Franz Halder, Hitler als Feldherr, München 1949. Siehe Wegner, Erschriebene Siege (wie Anm. 36). Vgl. wieder Kunz, Wehrmacht und Niederlage (wie Anm. 28). Α WS (wie Anm. 1), Bd 3, S. 603 ff. (Beitrag Greiner); Martin Kutz, Reform und Restauration der Offizierausbildung der Bundeswehr, Baden-Baden 1982, S. 25. Deutlich wurde das an der Generalskrise 1965, der Rolle von Heinz Karst im Amt Blank und an der Verbreitung der Schriften von Karst und Hans-Georg von Studnitz im Offizierkorps der Bundeswehr. Vgl. Heinz Karst, Das Bild des Soldaten. Versuch eines Umrisses, Boppard 1964; Hans-Georg von Studnitz, Rettet die Bundeswehr, Stuttgart 1967; vgl. dazu auch die Berichte des Wehrbeauftragten.

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Teilweise selbst in wesentlichen Bereichen von Militärtechnologie fehlte das Verständnis 42 . Die Luftwaffe war wie im Krieg bis in die 70er Jahre nicht in der Lage, das moderne Gerät richtig zu handhaben 43 . Die Generalität zeigte sich zudem hilflos in Sachen Atombewaffnung. Bis Mitte der 50er Jahre zum Beispiel zögerte General Heusinger, die Atomwaffen überhaupt ins militärische Kalkül einzubeziehen. Als die Atomwaffen aber auch in der Führung der Bundeswehr akzeptiert waren, stemmte sich eben diese Führung vehement gegen die Änderung der US-Strategie von der Massive Retaliation zur Flexible Response44. All diese Defizite und Fixierungen hatten langfristige Folgen in der Bundeswehr. Da man seit Jahrzehnten des strategischen Denkens entwöhnt war, blieb die Orientierung an operativer Führung und Taktik. Da man, für den aufmerksamen Beobachter sichtbar, Teilchen im Getriebe der US-Strategie war und auf strategischer Ebene deshalb auch nicht gefordert wurde, fiel diese Beschränkung auch nicht auf. Das hatte fatale Folgen für die Ausbildung von Offizieren und Generalstabsoffizieren. Diese orientierte sich an den in der NS-Zeit reduzierten Ausbildungsgängen und verfestigte so intellektuelle Standards, die schon im Krieg nicht mehr hinreichend waren 45 . Als die ehemaligen Soldaten wieder einberufen wurden, waren sie zehn Jahre aus dem Geschäft, hatten sich militärisch nicht weitergebildet und nur im extremen Einzelfall eine professionelle Beobachtung militärischer und militärtechnischer Entwicklungen betrieben. Waren sie schon aufgrund der NSideologisch reduzierten Ausbildung der 30er Jahre und des Krieges selbst im Kriege nicht mehr auf der Höhe ihrer Zeit gewesen46, so waren sie in diesen Fragen nun so rückständig, dass die Personalabteilung des Ministeriums schon 1956/57 energisch eine verbindliche Fort- und Weiterbildung forderte - allerdings ohne Erfolg47. Bildung wurde erst Ende der 60er Jahre ein Thema in der

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AWS (wie Anm. 1), Bd 4, S. 1-185 (Beitrag Abelshauser); Peter Schlotter, Rüstungspolitik in der Bundesrepublik. Die Beispiele Starfighter und Phantom, Frankfurt 1975. Bernd Lemke [u.a.], Die Luftwaffe 1950 bis 1970. Konzeption, Aufbau, Integration, München 2006 (= Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland, 2). Axel Gablik, Strategische Planung in der Bundesrepublik Deutschland 1955-1967: Politische Kontrolle oder militärische Notwendigkeit, Baden-Baden 1996; Axel Gablik, »Von da an herrscht Kirchhofsruhe«. Zum Realitätsgehalt Baudissinscher Kriegsbildvorstellungen. In: Gesellschaft, Militär, Krieg und Frieden im Denken von Wolf Graf von Baudissin. Hrsg. von Martin Kutz, Baden-Baden 2004. Die Darstellung des Sachverhaltes bei Georg Meyer, Adolf Heusinger (wie Anm. 15), ist nicht nur in Bezug auf Heusingers Vorstellungen von Atomwaffen und amerikanischer Strategie wohlwollend. Trotzdem wird auch Heusingers Fixierung auf Panzerdivisionen und Bewegungskrieg ohne Atomwaffen deutlich (vgl. S. 481-509). Martin Kutz, Reform (wie Anm. 40); Heinz Loquai, Qualifikations- und Selektionssysteme für Eliten in bürokratischen Organisationen. Eine soziologische Analyse der Ausbildung und Auswahl deutscher Generalstabs- und Admiralstabsoffiziere, Freiburg i.Br. 1980. Das ganze Ausmaß an Inkompetenz bei Kunz, Wehrmacht und Niederlage (wie Anm. 28). Martin Kutz, Reform (wie Anm. 40), S. 75 ff.

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Bundeswehr 48 , als man selbst mit reduzierten Einstellungsvoraussetzungen den Offizierbedarf nicht mehr decken konnte. Dazu kam die Fixierung auf die Vorstellung von der Notwendigkeit der Homogenität der militärfachlichen Auffassungen, die wie früher üblich über taktische Grundsätze hinaus auf die traditionellen Muster vom Soldatenberuf ausgedehnt wurde. Die harsche Betonung dieser Auffassung war auch als Pluralismusfeindlichkeit in gesellschaftlichen und politischen Vorstellungen erkennbar. Nicht umsonst galt die Bundeswehr der ersten eineinhalb Jahrzehnte als CDU-Armee. Was im Laufe der Jahrzehnte in der Bundeswehr an Modernisierung doch durchgesetzt wurde, kam nicht aus ihr selbst, sondern wurde durch Überreden und politischen Druck von außen etabliert49. Auch in diesen Fragen blieb die Bundeswehr lange eine verspätete Armee.

V. Die Bundeswehr als Kompromissarmee Es konnte in den 50er Jahren nur ein Drahtseilakt sein, öffentliche Meinung, die politisch divergierenden Kräfte in den gesellschaftlichen Institutionen, wie zum Beispiel in Jugendverbänden, Gewerkschaften, Parteien und Kirchen, und die alten Soldaten zu einer gemeinsamen Lösung der Wiederbewaffnung zu bringen. Was zudem heute nahezu völlig vergessen ist, dass wegen der allgemeinen Ablehnung der Wiederbewaffnung nur kleine Gruppen, Minderheiten aus den verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Bereichen, bereit waren, sich dem Thema emsthaft zu widmen und dass sie dazu auch erst überredet werden mussten 50 . Nur zwischen ihnen und den Parlamentsparteien einerseits und den planenden Militärs und deren Kameraden im Hintergrund andererseits fand überhaupt eine ernsthafte Auseinandersetzung um die neuen Streitkräfte statt. Bundeskanzler Adenauer hatte sich zudem wegen dieser heiklen innenpolitischen Gemengelage dazu entschlossen, trotz der Zweidrittelmehrheit seiner Regierungskoalition Gewerkschaften und Sozialdemokratie in die Verhandlungen einzubinden 51 . Damit war klar, dass es eine Armee, die nicht den Einwänden der kompromissbereiten Kräfte der Opposition entgegen käme, nicht geben 48

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Der Anstoß kam allerdings von unten. Junge Offiziere wurden von der öffentlichen Debatte um Bildungskatastrophe und Bildungspolitik angesteckt und boten so einigen einsamen Rufern im Führungsstab der Streitkräfte (FüS) Anknüpfungspunkte. Minister von Hassel konnte laut eigener Auskunft vor dem Bundestag sich gegen seine Generäle in der Luftwaffe nicht durchsetzen. Die Starfighterkrise wurde erst von seinen Nachfolgern einigermaßen gemeistert. Hier lag vor allem die Aufgabe Baudissins, in seinen Schriften und Vorträgen für die neuen Streitkräfte zu werben. Außerdem: Handbuch Innere Führung. Hrsg. vom Bundesministerium für Verteidigung, Bonn 1957; Vom künftigen deutschen Soldaten. Hrsg. von der Dienststelle Blank, Bonn 1955. Α WS (wie Anm. 1), Bd 3, S. 473-513 (Beitrag Ehlert).

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würde. Die Parlamentarier aller Parteien waren zudem entschlossen, die neuen Streitkräfte politisch zu kontrollieren. Weimarer Verhältnisse sollten auf jeden Fall unmöglich sein. Das war um so mehr notwendig, als der Rekurs der Traditionsoffiziere genau auf die Weimarer Strukturen zielte. Auch wenn die Himmeroder Denkschrift nur dem kleinen Kreis ihrer Autoren bekannt war, so war die darin zum Ausdruck gebrachte militärpolitische Haltung unter den ehemaligen Offizieren doch Gemeingut. Der »unpolitische Soldat«, der dem Staatsoberhaupt als Oberbefehlshaber zu Gehorsam verpflichtet sein sollte, war Wunsch der militärischen Akteure. In dieser personenbezogenen Bindung an das Staatsoberhaupt blieb ja auch die Tradition des 19. Jahrhunderts gewahrt. Heusinger und Speidel gingen in der Schlussphase der Verhandlungen sogar so weit, Adenauer mit ihrer Forderung zu konfrontieren, dass sie sich ziviler Kontrolle nicht unterstellen könnten. Ein Zivilist als Oberkommandierender war für viele Ehemalige undenkbar und die parlamentarische Kontrolle wurde als »Mitarbeit und Mithilfe« des Parlaments uminterpretiert52. Beide Seiten, die alten Soldaten und die Interessenten aus den demokratischen Institutionen, standen also vor einem Dilemma. Die Soldaten wussten, dass eine neue Armee nur mit Zustimmung des Parlamentes zu bekommen war, die militärkritischen Kräfte waren damit konfrontiert, dass sie nur mit den ehemaligen Wehrmachtsoldaten die Streitkräfte etablieren konnten. Jede Seite hatte somit ein gehöriges Maß an Vetomacht. Der Zwang zur Einigung war etabliert, bei dem das Parlament in Grundsatzfragen am sehr viel längeren Hebel saß, weil es selbst ja auch durch die Verfassung und ihre Prinzipien gebunden war. Der Vorteil der Offiziere bestand darin, dass vor allem Adenauer kein Interesse an den professionellen Fragen hatte. Ihm ging es nur um Streitkräfte als politische Instrumente für die Politik der Westintegration und zur Erlangung der Souveränität, und darum, deren politische Kontrolle zweifelsfrei zu sichern53. Selbst die sowjetische Bedrohung spielte eine untergeordnete Rolle. Aus dieser Situation wurde der Gründungskompromiss entwickelt54. Allerdings sind sich beide Seiten weder der Tatsache bewusst gewesen, dass die Bundeswehr eine Kompromissarmee sein würde, noch waren sich alle darüber im Klaren, dass dieser Kompromiss sehr labil war, weil er sozusagen genau auf dem steilen Grad zwischen prinzipiell unvereinbaren Auffassungen erreicht 52

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Hans Speidel und Adolf Heusinger an Konrad Adenauer am 5. Sept. 1955: »Der Primat der Politik gegenüber der militärischen Führung und aller militärischen Erwägungen, die politische Kontrolle und die politische Verantwortung werden von allen künftigen Soldaten freudig bejaht... Die selbstverständliche parlamentarische - nicht zivile - Kontrolle bedeutet, richtig angewandt, Mitarbeit und Mithilfe«. Zitiert nach Detlef Bald, Generalstabsausbildung in der Demokratie, Koblenz 1984, S. 25. II, 1 vom 15.4.1955, de Maiziere: »... der Bundeskanzler fordert möglichst schnell Truppen«, zitiert nach Genschel, Wehrreform (wie Anm. 25), S. 345, Anm. 66; Lars Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff, Deutsche Legenden. Vom Dolchstoß und anderen Mythen der Geschichte, Berlin 2002. Vgl. auch Martin Kutz, Militär und Gesellschaft im Deutschland der Nachkriegszeit. In: Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Ute Frevert, Stuttgart 1997.

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worden war. In der Bundeswehr war dann auch bald vergessen, dass dieser Kompromiss die Bedingung ihrer Existenz war. Am deutlichsten wurde er vom Militär und konservativen Spitzenpolitikern im Wahljahr 1969 öffentlich infrage gestellt55. Der Kompromiss lässt sich auf vier Ebenen festmachen. Er kam auf der politischen Ebene, im innermilitärisch-organisatorischen Bereich, bei der Personalpolitik und bei den professionellen Standards zustande. 1. Auf der politischen Ebene bestand er darin, mit Hilfe der traditionellen Wehrpflicht eine hochgerüstete, voll mechanisierte Wehrpflichtarmee zur Landesverteidigung nach Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges mit maßgeblicher Beteiligung von ehemaligen Wehrmachtsoldaten aufzubauen. Dafür wurde die SPD-Forderung nach einer Berufsarmee verworfen; die Bundeswehr musste sich der demokratischen Verfassung unterwerfen, sich eine rigide Kontrolle durch Parlament, Regierung und Verwaltung gefallen lassen sowie auf eigene Kommandostrukturen oberhalb der Divisions- und Korpsebene zugunsten der NATO-Integration verzichten56. 2. Auf der innermilitärischen Ebene konnten die Traditionalisten überlieferte Strukturen, Wehrmachtspersonal, Traditionalismen im Alltagsbetrieb und ihre moralische Lebenslüge von der Ehrenhaftigkeit des Verhaltens und Kämpfens der Wehrmacht im Kriege aufrecht erhalten57. Dafür mussten sie die Regularien demokratischer Rechtsstaatlichkeit, die prinzipielle und formelle Akzeptanz der Inneren Führung, die Kontrolle durch den Wehrbeauftragten und einen begrenzten Zugriff auf die Soldaten, nämlich nur im Dienst und auf militärischem Gelände, akzeptieren58. 3. Personalpolitisch konnte man sich zunächst an den Reformern für diesen Kompromiss rächen. Man konnte ihre Karriere zwar nicht verhindern, wohl aber ihren Zugriff auf die Truppe. So wurden die im Verständnis der Traditionalisten Unzuverlässigen, allen voran Wolf Graf von Baudissin und vielleicht auch Johann Adolf Graf von Kielmansegg, auf die »Strafliste West« gesetzt59. Sie kamen in die Spitzenpositionen bei der NATO und sollten dort den aufgeschlossenen Offizier, den deutschen militärischen Demokraten, repräsentieren. Zu Hause machten die »Zuverlässigen« Karriere. Unausgesprochen galt als Maßstab der Zuverlässigkeit das loyale Verhalten in der Wehrmacht im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944. Langfristig musste man sich aber doch der strukturellen Kontrolle auch in personalpolitischen Fragen beugen. Zivil, katholisch-konservativ, aber demokratisch gesinnt, hat diese Kontrolle auch die 55

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Donald Abenheim: Bundeswehr und Tradition. Die Suche nach dem gültigen Erbe des deutschen Soldaten, München 1989. Dies noch stärker in der Phase der EVG-Verhandlungen, vgl. AWS (wie Anm. 1), Bd 2, S. 3 - 2 3 4 . Inhaltlich wird diese Vorstellungswelt deutlicher bei der Agitation der Soldatenverbände in den 50er Jahren. Vgl. Schenck zu Schweinsberg, Die Soldatenverbände (wie Anm. 24). Vgl. dazu die alten Fassungen von Soldatengesetz, Wehrdisziplinarordnung, Wehrbeschwerdeordnung, Wehrpflichtgesetz. Eine interne Bezeichnung, die die Einstellung zu den »Reformern« ebenso charakterisiert wie zu den internationalen integrierten Stäben.

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protestantische Dominanz im Offizierkorps nachhaltig gebrochen. Damit wurde zudem ein personalpolitischer Kompromiss, wenn auch erst im Laufe der Jahre, auf Dauer etabliert. 4. Auf der Ebene militärisch-professioneller Orientierungen fand der letzte Kompromiss statt. Deutsches Militär lebte bis dahin vom Offensiv-Gedanken. Man konnte sich militärischen Erfolg nur vorstellen, wenn man die Initiative in der Hand behielt, und man hatte diese Vorstellungswelt von der unteren Truppenführung bis ins strategische Kalkül fest etabliert. Im Verteidigungsbündnis der NATO war für diese Ansichten seit der Änderung der amerikanischen Strategie 1953 zu Gunsten strategischer und taktischer Atomwaffen kein Platz. Deutsches Militär musste eine Defensivstrategie, ja eine Abschreckungsstrategie anstelle einer Strategie raumgreifender Operationen akzeptieren. Trotzdem etablierte es Truppen, die auch für den operativen Bewegungskrieg geeignet waren, und pflegte - wenn auch mit Unterbrechungen - traditionelles operatives Denken und versuchte es, wie zu Reichswehrzeiten, in »Führerreisen« oder »Generalstabsreisen« für Spitzenmilitärs wach zuhalten 60 .

VI. Fazit: Der halbierte Paradigmenwechsel Der Kompromiss bei Gründung der Bundeswehr beruhte im Wesentlichen auf den eigentlich unvereinbaren Prinzipien deutscher oder preußisch-deutscher militärischer Tradition sowie des traditionellen Verständnisses von Militär, Politik und Gesellschaft einerseits und den demokratischen Prinzipien andererseits, wie sie durch das Grundgesetz rechtlich etabliert und, praktisch in Anlehnung an westeuropäische, nordamerikanische Erfahrungen gewachsen waren. Diese Differenz blieb nicht auf die »Väter« der Bundeswehr beschränkt. Der Kompromiss hatte zudem einen Strukturdefekt zur Folge, mit dem die Bundeswehr bis in die 70er Jahre handfeste Probleme hatte. Gelungen war die Reform des juristischen und politischen Rahmens für die Streitkräfte. Die Verfassungsprinzipien waren bis ins Soldatengesetz und die Wehrbeschwerdeordnung durchgesetzt, die politische Kontrolle sogar weitergehend gelungen als heute. Schwerwiegend negative Folgen hatte aber die Tatsache, dass den alten Militärs der Betrieb, die innere Ordnung, der »Geist der Truppe« überlassen worden war.

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Vgl. Christian Greiner, Nordatlantische Bündnisstrategie und deutscher Verteidigungsbeitrag, 1954 bis 1957. In: Entmilitarisierung und Aufrüstung in Mitteleuropa 1945-1956. Hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Herford 1983; sowie AWS (wie Anm. 1), Bd 2, S. 630-648, 738-746 (Beitrag Meier-Dörnberg). Auch untersucht in einer Jahresarbeit an der Führungsakademie der Bundeswehr. Karl-Georg Habel, Die Generalstabsreisen als Mittel operativer Schulung: Historische Entwicklung - Methode für heute?, unveröffentlichtes Manuskript, Hamburg 1994.

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Hinter der offiziellen Fassade der neuen Ordnung wurden aber die Mythen gepflegt: Der unpolitische Soldat, die saubere Weste der Wehrmacht, die professionelle Einzigartigkeit, die nur durch die Eingriffe Hitlers zuschanden kam. Als Generalangriff auf diese Haltung wurden Geist und Inhalt des Konzeptes der Inneren Führung verstanden 61 . Gegen sie wurde intern polemisiert, und nach außen wurde sie in Festtagsreden gelobt. Der zähe Kampf gegen die Durchsetzung der Inneren Führung war oft durchaus erfolgreich, vor allem wenn die politischen Instanzen sich nicht mit aller Kraft für sie einsetzten. Für die professionellen Standards geradezu fatal war, dass das Ausbildungssystem auf dem fachlichen Niveau der NS-Zeit eingefroren wurde, einem Niveau, das schon zwanzig Jahre früher den Anforderungen nicht gerecht geworden war62. In diesen Sektoren, also im Bereich Innere Führung und Ausbildung, sind die Reformbemühungen am Desinteresse und der Ignoranz der Politik sowie am verbohrten Traditionalismus der Soldaten gescheitert. So blieb die Reform von 1955/56 ein Torso. Erst durch die Bildungsreform von 1970/75 gewann sie die ihr zugedachte Gestalt. Trotzdem hatten Änderungen stattgefunden, die man getrost an die Seite der preußischen Reformen von 1808/1813 unter Scharnhorst, Gneisenau, Boyens und - meist vergessen - Clausewitz63 stellen kann. Sie waren zumindest die tiefgreifendsten Reformen dieser Zeit im Militärwesen und sind zusammen mit der Bildungsreform in ihren Langzeitwirkungen gar nicht zu überschätzen.

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Der deutlichste Angriff kam von Hans Georg von Studnitz, Rettet die Bundeswehr, Stuttgart 1967, ein Buch, das im Offizierkorps weit verbreitet war und heftig diskutiert wurde. Späte Ausläufer dieser Haltung finden sich in der sogenannten Schnez-Studie. Vgl. Militär - Gehorsam - Meinung. Dokumente zur Diskussion in der Bundeswehr. Hrsg. von Hans Heßler, Berlin, N e w York 1971. Dazu gibt es eine breite Dokumentenlage schon bei den Studien aus der Historical Division, in der Himmeroder Denkschrift oder in Texten von Heusinger, Speidel, de Maiziere u.a. Clausewitz war als Bürochef Scharnhorsts auch an den Arbeiten zur preußischen Militärreform beteiligt.

Frank Nägler Muster des Soldaten und Aufstellungskrise Über »Muster des Soldaten« und »Aufstellungskrise« handeln heißt zunächst das 1955/56 vorliegende Konzept des »Staatsbürgers in Uniform« vorstellen. Anschließend geht es um die Aufstellung, genauer: um die hierbei zutage tretenden Rekrutierungskrisen. Ein Stichwort könnte in diesem Zusammenhang lauten: »zu alt«. Dem wäre jedoch sogleich ein zweites hinzuzufügen: »zu wenig«! Beides zeitigte in der Truppe unmittelbare Konsequenzen für die Umsetzung des Konzeptes. Der personelle Mangel ließ die Praxis hinter der Norm herhinken. Mehr noch aber veränderte er die Norm selbst. Die abschließende Betrachtung wendet sich am Beispiel der Vorgesetztenverordnung dem Einfluss zu, den namentlich das »zu wenig« auf die Formulierung der Norm, auf den »Staatsbürger in Uniform«, genommen hat.

I. Der »neue« Soldat Die westdeutschen Streitkräfte sollten mit einem sehr neuen Konzept beginnen: Der das Sachgebiet Innere Führung 1953 begründende Erlass verlangte, »den Typ des modernen Soldaten« erst noch »zu schaffen«. Er sollte gleichzeitig »freier Mensch, guter Staatsbürger und vollwertiger Soldat« sein1. Die eigentliche Herausforderung lag hier in der Vermittlung dieser drei Seiten, insbesondere in der Vereinigung des freien Menschen mit dem vollwertigen Soldaten. Die von Wolf Graf von Baudissin vorgestellte Lösung des Problems zeichnete sich durch folgende drei Merkmale aus: Erstens wurde dem freien Menschen dadurch Rechnung getragen, dass die Zumutung des militärischen Dienstes und die damit verbundenen Einschränkungen auf das Maß sachlich unabweisbarer Notwendigkeit zurückgenommen wurden. Die vorgesehenen hierarchischen Strukturen orientierten sich vor allem an funktionalen Zusammenhängen, die sich aus dem partnerschaftlich aufgefassten Zusammenwirken prinzipiell Gleicher im Rahmen zumeist kleiner

BA-MA, BW 9/411, fol. 24, Dienststelle Blank, Regelung der »Inneren FührungBürgerkrieges< bei Graf Baudissin. Als Mensch hinter Waffen. Hrsg. und kommentiert von Angelika Dörfler-Dierken, Göttingen 2006, hier die Ausführungen der Hrsg. auf S. 46; vgl. dagegen Martin Kutz, Historische Wurzeln und historische Funktion des Konzeptes Innere Führung (1951-1961). In: Staatsbürger in Uniform - Wunschbild oder gelebte Realität. Hrsg. von Kurt Kister und Paul Klein, Baden-Baden 1989 (= Militär und Sozialerinnerungen, 3), S. 11-34, hier S. 11,15-24. Vortragsmanuskript IV Β Oberst Graf Baudissin, Situation und Leitbild des Soldaten (Sonthofen Mai 1956), S. 1, BA-MA, Ν 493/v. 36 (Nachlass von Wangenheim); [Baudissin], Situation und Leitbild (wie Anm. 2), S. 17 (Hervorhebung im Original).

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de, als »kriegstüchtig« erweisen6. Im Sinne dieser Schlagkraft hatte dabei die Indienstnahme des Soldaten für das Lager der Demokratie zwingend zur Folge, dass er auch seiner eigenen Freiheit wegen würde dienen können müssen, »denn wir können nicht von dem Soldaten verlangen, dass er die Freiheit verteidigen soll, wenn wir ihm selbst alle Freiheit nehmen«7. Der als Staatsbürger in Uniform bezeichnete politische Soldat war zusammen mit dem auf ihn zugeschnittenen liberalen Binnengefüge der Streitkräfte nicht eine bloße weitere Bedingung neben dem am Krieg orientierten Erfordernis der Schlagkraft, sondern deren Voraussetzung. Dies bedeutete jedoch keineswegs, dass der Rekrut bereits als guter Staatsbürger in die Streitkräfte eintreten musste. Eher im Gegenteil: Mit durchaus realistischem Blick auf die bundesrepublikanische Gesellschaft der mittleren 50er Jahre befand Baudissin drittens, dass »nicht alle als Staatsbürger die Uniform anziehen« würden, dass ebensowenig große Teile der Wehrpflichtigen wie der Freiwilligen als Staatsbürger kämen. Es war unter diesen Umständen 8 gerade an der die freiheitliche Rechtsordnung soweit wie nur möglich abbildenden Binnenordnung der Streitkräfte, die Soldaten für die grundlegenden Entscheidungen des Grundgesetzes zu gewinnen9. 6

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Vgl. Vortragsmanuskript IV Β Oberst Graf Baudissin, Situation und Leitbild des Soldaten (Sonthofen Mai 1956), dort im Zusammenhang S. 6, 13 f., 16 f., BA-MA, Ν 493/v. 36 (Nachlass von Wangenheim); auch in: [Baudissin], Situation und Leitbild (wie Anm. 2), S. 22, 38, 41-43; Baudissin, Probleme praktischer Menschenführung (wie Anm. 2), S. 635 (Zitat), 637-639. Referat Baudissins vom 14.7.1953 vor Mitgliedern des Sicherheitsausschusses des Bundestages, auszugsweise abgedruckt in: Wolf Graf von Baudissin, Soldat für den Frieden. Entwürfe für eine zeitgemäße Bundeswehr. Hrsg. und eingel. von Peter von Schubert, München 1969, S. 151-155, hier S. 152: »Diese militärische Ordnung ist nur noch denkbar als Ausschnitt der Gesamtordnung. Sie kann dem Soldaten zeigen, was er eigentlich zu schützen hat. Diese Ordnung muß daher rechtsstaatlich sein. Sie muss die Würde des einzelnen achten und muss ihm soviel Freiheit einräumen, wie es überhaupt nur möglich ist, damit er Verantwortung üben und sich bewähren kann. Denn auch darüber sind wir uns klar: Auf dem Gefechtsfeld des heißen und des kalten Krieges kann nur derjenige Soldat bestehen, der an Verantwortung gewöhnt ist. Ein innerer Zwiespalt zwischen dieser militärischen und der allgemeinen Ordnung würde ja tötend sein; denn wir können nicht von dem Soldaten verlangen, dass er die Freiheit verteidigen soll, wenn wir ihm selbst alle Freiheit nehmen. Gerade in der militärischen Ordnung wird der einzelne junge Mensch den Beweis finden, ob es der Gemeinschaft mit der freiheitlichen Ordnung überhaupt ernst ist oder nicht.« Vgl. auch Baudissin, Probleme praktischer Menschenführung (wie Anm. 2), S. 639; Vortragsmanuskript IV Β Oberst Graf Baudissin, Situation und Leitbild des Soldaten (Sonthofen Mai 1956), S. 4 f., BA-MA, Ν 493/v. 36 (Nachlass von Wangenheim); auch in: [Baudissin], Situation und Leitbild (wie Anm. 2), S. 23 f. Die Haltung gegenüber dem 20. Juli 1944 mag als signifikantes Indiz für die Identifikation mit der freiheitlichen Ordnung der Bundesrepublik gelten. Im April 1956 waren lediglich 18 % der in einer vom Allensbacher Institut veranstalteten Erhebung Befragten willens, »eine Schule nach einem Widerstandskämpfer« benennen, knapp die Hälfte (49 %) war dagegen, 33 % zeigten sich unentschieden. Vgl. Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1957. Hrsg. von Elisabeth Noelle und Erich Peter Neumann, Allensbach 1957, S. 145. Sehr bündig zusammengefasst einmal im Referat Baudissins vom 21.6.1954 vor Mitgliedern des Sicherheitsausschusses des Bundestages, abgedruckt in: Baudissin, Soldat für den Frieden (wie Anm. 7), S. 232-236, hier S. 232-234, und sodann im Vortrag Baudissins vor

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Der Soldat konnte nach diesem Modell die Belastungen des Dienstes ertragen und dessen Forderungen auftragsgerecht nachkommen, weil er im Dienst Freiheit und auch die damit einhergehende Verantwortung erfahren hatte. Die Innere Führung, die den guten Staatsbürger nicht als Bedingung, sondern mehr als Ergebnis eines freiheitlichen Binnengefüges begriff, war so die Voraussetzung des Staatsbürgers in Uniform und damit des kriegstüchtigen Soldaten bzw. der Schlagkraft der Bundeswehr. Uber weite Strecken spiegelte das zugrunde gelegte Kriegsbild noch die Weltkriegserfahrung. Atomwaffen erschienen anfänglich als Abschreckungsinstrumente und nicht als Waffen der Gefechtsführung. Als die Nuklearwaffen in diese Rolle rückten, zeitigte dies jedoch keine grundlegende Änderung des Konzeptes, sondern im Gegenteil eher noch dessen Bestätigung. Wie die militärische Führung der Bundeswehr überhaupt, so wurde auch Baudissin mit den konkreten Planungen für eine nukleare Verteidigung Westdeutschlands in ministerieller Verantwortung erstmals im Zusammenhang mit der Stabsrahmenübung Lion Noir 1957 vertraut gemacht. Diese Übung stellte den ausgedehnten Kernwaffeneinsatz für die Gefechtsführung auf dem Boden der Bundesrepublik schonungslos auch unter Einbeziehung des Verteidigungsbeitrages der Bundeswehr in Rechnung. Dies ließ von der Warte der Inneren Führung aus den Charakter des Krieges indessen unangetastet. Wieder betonte Baudissin die wesentlich ideologische Qualität der »totale[n] Auseinandersetzung zweier Lebensanschauungen, die mit allen Mitteln, auf allen Lebensgebieten und jenseits aller gewohnten Unterscheidungen und Grenzen ausgetragen« werde10. Auch blieb es bei den aus dem Grundcharakter des Krieges abgeleiteten Konsequenzen, wie überhaupt die Nuklearisierung der NATO-Strategie sich zwar in einem wohl nur sehr schwer vermittelbaren Sinne, dennoch aber geradezu nahtlos einfügen ließ in die mit diesem Staatsbürger in Uniform verbundene verfassungspatriotische Perspektive. Stand Baudissin zuvor schon aufgrund der Frontstellung gegen das Totalitäre Kollektiven wie »Vaterland« oder »Nation« mit einiger Skepsis gegenüber, was den zentralen Rückbezug auf die Bewahrung »freiheitlicher Existenz« um so eindrucksvoller hervortreten ließ11, so erschien im Bild des nuklearen Krieges dieser Rückbezug sogar nur noch als der einzig mögliche: Sehr vorsichtig zwar, aber doch deutlich genug vermerkte Baudissin in seinem Erfahrungsbericht zu Lion Noir die Schutzlosigkeit von

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dem Sicherheitsausschuss des Bundestages über >Das Bild des zukünftigen deutschen Soldatenkünftige deutsche Soldat< vorgestellt wurde 16 , erschien dort nicht nur die »Liebe zu Vaterland und Heimat« wieder als ein tragendes Motiv des Dienens17, sondern es wurde das freiheitliche Binnengefüge der Streitkräfte u.a. auch von dem Vorhandensein einer Mehrheit von Staatsbürgern abhängig gemacht, die »von den moralischen 12

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B A - M A , Ν 717/467 (Nachlass Graf Baudissin), Handakte Lion Noir, Auswertung des L I O N N O I R unter dem Gesichtspunkt der Inneren Führung, 3. Entwurf, S. 14 f. Ebd., S. 7 f. Vgl. dazu die noch in der W e h r m a c h t gängigen Vorstellungen, z.B. Geheimer Erlaß des Oberbefehlshabers des Heeres, Generaloberst von Brauchitsch, über die Erziehung des Offizierkorps, 18.12.1938, abgedruckt in: Klaus-Jürgen Müller, A r m e e und Drittes Reich: 1 9 3 3 - 1 9 3 9 . Darstellung und Dokumentation, Paderborn 1987, S. 1 8 0 - 1 8 2 , hier S. 181: »Die Lebensaufgabe des Offiziers erhält ihre Krönung erst vor dem Feinde.« Dagegen jetzt stellvertretend für zahlreiche Belege Baudissin, Probleme praktischer Menschenführung (wie A n m . 2), S. 639: »Der absolute Krieg kennt und bringt nicht mehr Frieden, sondern endet mit weitgehender Vernichtung des Lebens. Sein Ausbrechen zu verhindern m u ß heute das Ziel aller [...] Verantwortlichen sein. Gerechtfertigt erscheint er nur noch als Verteidigung letzter menschlicher, d.h. freiheitlicher Existenz. So werden die Streitkräfte z u m notwendigen Übel einer freiheitlichen Lebensordnung [...] D e m Soldat bleibe nur noch [...] durch ein H ö c h s t m a ß an Kriegstüchtigkeit zur Abschreckung beizutragen.« Hervorhebung im Original. Zu strukturellen und konzeptionellen Kontinuitätsbögen zwischen namentlich der späten W e h r m a c h t und der frühen Bundeswehr vgl. grundlegend Bernhard R. Kroener, Auf dem W e g zu einer »nationalsozialistischen Volksarmee«. In: Von Stalingrad zur Währungsreform. Hrsg. von Martin Broszat [u.a.], München 1988, S. 6 5 1 - 6 8 2 ; Jürgen Förster, V o m Führerheer der Republik zur nationalsozialistischen Volksarmee. In: Deutschland und Europa. Kontinuität und Bruch. Gedenkschrift für Andreas Hillgruber. Hrsg. von Jost Dülffer [u.a.], Berlin 1990, S. 3 1 1 - 3 2 8 . V o m künftigen deutschen Soldaten. Gedanken und Planungen der Dienststelle Blank, Bonn 1955. Vgl. V o m künftigen deutschen Soldaten (wie A n m . 16), S. 11.

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Energien der Demokratie durchdrungen« seien18. Genau in diesem Sinne galt der »Staatsbürger als Voraussetzung des Soldaten«, wurde im Blick auf die Jugend die vormilitärische Einschärfung des »Pflichtbewußtsein[s]« zur Vorbedingung militärischer Auftragserfüllung erklärt19. Was bei Baudissin mehr als Ergebnis einer freiheitlichen Binnenverfassung des Militärs galt - der gute Staatsbürger war hier deren Voraussetzung. Diese alternative Vermittlung zwischen freiem Menschen und vollwertigem Soldat war von Anfang an präsent. Allerdings trat sie noch nicht in aller Schärfe als Gegensatz in Erscheinung. Hauptverfasser der erwähnten Broschüre war über weite Strecken der nachmalige Gegenspieler Baudissins Heinz Karst, der indes damals als »engster Mitarbeiter« des Grafen mit ihr eine getreue Wiedergabe der »Konzeption vom Staatsbürger in Uniform« abgefasst haben wollte20. Eine zeitgenössische Richtigstellung Baudissins ist dem Verfasser nicht bekannt21. Und selbst noch im politischen, namentlich parlamentarischen Raum, ohne dessen Unterstützung die vereinten Anstrengungen von Baudissin und der Rechtsabteilung nie zu dem in der Wehrgesetzgebung realisierten Ziel gelangt wären, fehlte es zuweilen an der Bereitschaft, den Staatsbürger in Uniform mit allen seinen Konsequenzen zu akzeptieren. Welchen Schwierigkeiten der politische Soldat der Bundeswehr dort begegnete, lässt sich am Beispiel des Wahlrechtes demonstrieren. Fraglos zählt es zu den wesentlichen Merkmalen demokratischer Partizipation. Das Wahlrecht dem Staatsbürger in Uniform uneingeschränkt einzuräumen war aber Mitte der 50er Jahre alles andere als selbstverständlich. Nicht zuletzt diejenigen, die gemäß einem polemischen Rückblick als die eigentlichen Adressaten der Inneren Führung galten - die Sozialdemokraten - 2 2 , hatten einige Mühe, das passive Wahlrecht des Soldaten 18 19 20

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Vom künftigen deutschen Soldaten (wie Anm. 16), S. 25 f. Vgl. ebd., S. 27 f. (Hervorhebung im Original) und S. 57. Vgl. u.a. das Schreiben von Karst an MinDir Dr. Holtz, 26.8.1955, in: BA-MA, Ν 690/v. 129a (Nachlass Karst). Dies mag an dem später als »produktives Mißverständnis« identifizierten Unterschied zwischen dem Freiheitsbegriff Baudissins und dem in das Grundgesetz eingeflossenen gelegen haben. Jedenfalls lässt sich eine an der Pflichtenethik Kants angelehnter Vorstellung von Freiheit leichter mit etatistischen Denkmustern in Verbindung bringen als die Orientierung an einschlägigen westeuropäischen Traditionen. Unabhängig davon lagen damals bereits zwei sehr unterschiedliche Lesarten des Staatsbürgers in Uniform vor. Vgl. Martin Kutz, Reform als Weg aus der Katastrophe. In: Innere Führung. Zum Gedenken an Wolf Graf von Baudissin. Hrsg. von Hilmar Linnenkampf und Dieter S. Lutz, BadenBaden 1995, S. 71-93, hier S. 82-84. Am 19.3.1969 hielt der Stellvertretende Inspekteur des Heeres, Generalmajor Hans Hellmuth Grashey, an der Führungsakademie der Bundeswehr eine Rede vor den Teilnehmern der ersten Generalstabslehrgänge, in der er sich mit deutlichen Worten von dem Konzept der Inneren Führung distanzierte. In der Öffentlichkeit wurde er mit den Worten zitiert, die Innere Führung sei eine »Konzession an die SPD« gewesen, um deren Zustimmung zur westdeutschen Aufrüstung zu erlangen. Es sei für die Bundeswehr jetzt an der Zeit, »diese Maske nun endlich ab[zu]legen, die wir uns damals vorgehalten haben«. Der Spiegel, 23 (1969), Nr. 15, 7.4.1969, S. 33; vgl. dazu Donald Abenheim, Bundeswehr und Tradition. Die Suche nach dem gültigen Erbe des deutschen Soldaten, München 1989 (= Beiträge zur Militärgeschichte, 27), S. 176 f.

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zumal auf Landes- und Gemeindeebene zu akzeptieren. Jedenfalls fanden sich die sozialdemokratischen Mitglieder im Rechts-, Beamtenrechts- und anfänglich auch im Verteidigungsausschuss unversehens in einer Ablehnungsfront mit den konservativen Kritikern der Wählbarkeit im Kabinett Adenauer 23 . Fraglos eilte also die Konzeption Baudissins ihrer Zeit voraus24. Mit dem für die politische Ordnung der Bundesrepublik erst noch werbenden Soldatenmuster war sie allerdings Mitte der 50er Jahre in gewisser Hinsicht auf solche »Vorauseile« auch angelegt. Etwa zehn Jahre später, im April 1965, gelangte die Aufstellung der Bundeswehr mit der Unterstellung der 12. Panzerdivision unter die NATO zu einem ersten, vorläufigen Abschluss 25 . Kurz zuvor hatte die Kritik des Wehrbeauftragten, Vizeadmiral a.D. Hellmuth Heye, an den inneren Zuständen der Bundeswehr den Generalinspekteur, ab dem 1. Januar 1964 General Heinz Trettner, dazu veranlasst, eine sozialwissenschaftliche Erhebung in der Bundeswehr zum Zustand der Inneren Führung in Auftrag zu geben 26 . In der augenscheinlich brisanten Untersuchung - immerhin ordnete Staatssekretär Karl Gumbel die Kassierung der ersten Fassung an27 - wurde auch die Frage gestellt: »Verhindert nach Ihrer Meinung die Innere Führung in ihrer derzeitigen Form eine sachgerechte harte Ausbildung und schwächt damit die Kampfkraft?« Von nahezu allen befragten Dienstgrad- und Status-Gruppen wurde diese Frage mehrheitlich bejaht. Allein unter den Generalen und Obersten fand sich eine Mehrheit für die laut »Handbuch Innere Führung« immer noch geltende amtliche Lesart des Zusammenhangs. 73 Prozent der Generale und 59 Prozent der Obersten sahen keinen Widerstreit zwischen den Maximen der Inneren Führung und der Sicherstellung der Schlagkraft. Schon bei den Oberstleutnanten wechselte dieses Verhältnis: 17 Prozent erkannten eine entscheidende, 35 Prozent eine geringfügigere Schwächung, nur noch 46 Prozent verneinten die Frage. In den weiteren Offiziergruppen setzte sich dieser Trend kontinuierlich fort: Je jünger der Dienstgrad, desto häufiger und intensiver wurde das Verhältnis zwischen den 23

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Hierzu zählten neben dem skeptischen Regierungschef selbst vor allem der Vizekanzler Franz Blücher (FDP) wie auch der Bundesminister für Angelegenheiten des Bundesrates Heinrich Hellwege (DP); vgl. zu den Kabinettsberatungen des Soldatengesetzes die 87. Kabinettssitzung, 22.6.1955, Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung. Hrsg. für das Bundesarchiv von Hans Booms, Bd 8: 1955, Boppard a.Rh. 1997, S. 379 f.; zur Diskussion im Rechtsausschuss vgl. Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages, Berlin, Deutscher Bundestag, 2. Wahlperiode (WP), 16. Ausschuss, Protokoll Nr. 91, 6.12.1955, S. 5 - 1 1 ; zu den Verhandlungen im Beamtenrechtsausschuss siehe Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages, Berlin, Deutscher Bundestag, 2. WP, 9. Ausschuss, Protokoll Nr. 46, 18.1.1956, S. 4 - 7 ; zum Verlauf der Auseinandersetzung im Verteidigungsausschuss vgl. Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages, Berlin, Deutscher Bundestag, 2. WP, Ausschuss für Verteidigung, 78. Sitzung, 15.2.1956, S. 25-31 und ebd., 81. Sitzung, 20.2.1956, S. 4 - 2 7 . So auch das Urteil bei Ulrich Simon, Die Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft. Das Ringen um die Innere Führung, Heidelberg, Hamburg 1980, S. 109-111, 156 f., 325 f. Vgl. die Meldung in der vom Verteidigungsministerium herausgegebenen Zeitschrift Soldat und Technik, 8 (1965), S. 245. BA-MA, BW 2/7893, Schreiben Generalinspekteur an Minister, 3.3.1966, gez. Trettner. BA-MA, BW 2/7893, Schreiben Fü Β I an Minister, 2.3.1965, gez. Köstlin, dort Vermerk vom 7.4.1965 mit Entscheidung des Staatssekretärs.

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Erfordernissen der Inneren Führung und denen der Schlagkraft als Zielkonflikt aufgefasst. Bei den Leutnanten schließlich erkannten 39 Prozent eine entscheidende, 34 Prozent eine geringßigigere und nur 26 Prozent keine Schwächung2S. Nach diesem Trend hat es den Anschein, als hätte am Ende der ersten Aufstellungsphase das Konzept der Inneren Führung noch avantgardistischere Züge gewonnen. Damit nicht genug, sich der ihr zugedachten Aufholjagd zu versagen, schien sich die Zeit in entgegengesetzte Richtung sogar entfernt zu haben. Es liegt nahe, die Gründe hierfür auch in dem Aufstellungsprozess selbst zu suchen.

II. Der krisenhafte Aufstellungsprozess Die Aufstellung der Bundeswehr war durch einen - zurückhaltend formuliert krisenartigen Verlauf gekennzeichnet. Bereits 1956 waren die größten Verwerfungen zu verzeichnen. Als die ersten Ausbildungseinheiten formiert wurden, gingen die Planungen für den 31. Dezember 1959 noch von einer Zielgröße von 583 200 Soldaten aus29. Dies deckte sich noch weitgehend mit der am 16. September 1955 dem Bündnis mitgeteilten Endstärke von 605 000 deutschen Soldaten30. Noch vor Ablauf des ersten Aufstellungsquartals wurde der Orientierungsrahmen verändert, indem ein allerdings schon zum 31. Dezember 1958 einzunehmender Umfang von in etwa 500 000 (499 711) Mann festgeschrieben wurde31. Bis in den Herbst 1956 blieb es in etwa bei diesem geplanten Endumfang. Eine Bestandsaufnahme vom 25. Oktober nannte als bisherige Zielvorstellung ca. 524 000 Soldaten32. Zwei Wochen später gab der neue Minister Franz Josef Strauß die radikale Neuplanung bekannt: Bis zum 31. März 1961

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BA-MA, BW 2/7893, Systemforschung - Forschungs- und Beratungsinstitut für angewandte Sozialwissenschaften: Zur inneren Situation der Bundeswehr, S. 67-69. Nach der Tabelle ebd., S. 67 war ein ähnlicher Trend bei den Unteroffizieren zu beobachten: Unter den (älteren) Berufsunteroffizieren antworteten mit nein, ja, aber nur in geringem Maße, bzw. ja, und zwar entscheidend: 29 %, 38 %, 32 %; unter den (jüngeren) Unteroffizieren auf Zeit: 15 %, 37 %, 47 %; unter längerdienenden Mannschaften: 38 %, 40 %, 21 %; unter Wehrpflichtigen: 48 %, 36 %, 14 % (Hervorhebung vom Verf.). BA-MA, BW 2/2747, fol. 20, Abt. IV - Sonderausschuss von Baer, 31.1.1956, Aufstellungsplanungen betreffend, Anl. 3. BA-MA, BW 2/2787, fol. 311, 319-324, Bundesminister für Verteidigung, II/3/Grp. 2 - 2 0 , 16.9.1955, Erläuterungen zum ARQ 1955. BA-MA, BW 2/2747, fol. 2, Der Staatssekretär, IV D 2, Verfügung vom 28.3.1956, Gesamtaufstellungsplanung betreffend, gez. Rust; ebd., fol. 3 f., Leiter IV, Aufzeichnung über Gesamtaufstellungsplanung, 28.3.1956. BA-MA, BW 2/2475, IV D 2, 25.10.1956, Forderung nach einer Neuplanung der Streitkräfte, gez. Jordan, S. 1. Eine mit Stand 25.7.1956 vorgelegte Planungsunterlage sah als Jahresendstärke für 1959: 518 286, für 1960: 524 109 Soldaten vor; vgl. BA-MA, BW 2/2475, IV D 2, 25.7.1956, Militärische Gesamtplanung betreffend, gez. Jordan, Anl. 1.

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sollte d e r U m f a n g der B u n d e s w e h r lediglich auf 3 4 3 0 0 0 M a n n z u n e h m e n 3 3 für d e n A u f w u c h s auf n u r n o c h z w e i Drittel der u r s p r ü n g l i c h geplanten Stärke w u r d e jetzt d o p p e l t so viel Zeit veranschlagt. Die z u einer g r u n d l e g e n d e n Planungsrevision z w i n g e n d e erste Aufstellungskrise, die schließlich im Sturz v o n Verteidigungsminister T h e o d o r Blank gipfelte, g i n g auf ein vielfältiges Ursachengeflecht zurück 3 4 . G a n z z u A n f a n g fehlte es einer leistungsfähigen A n n a h m e o r g a n i s a t i o n 3 5 , darin trat d a s Finanzier u n g s p r o b l e m in d e n V o r d e r g r u n d , d a s - o h n e bereits gelöst w o r d e n z u sein 3 6 im F r ü h s o m m e r 1 9 5 6 überlagert w u r d e v o n der Sorge, bereits z u m E n d e des Jahres bei d e n angestrebten 96 0 0 0 Soldaten sich auf eine L ü c k e v o n 3 0 0 0 0 ungedienten, also j u n g e n Freiwilligen einstellen z u müssen 3 7 . A l s die daraufhin eingeleiteten W e r b e m a ß n a h m e n tatsächlich Erfolge zeitigten u n d die Personalabteilung d e n für E n d e 1956 v o r g e s e h e n e n P e r s o n a l u m f a n g mit n u r g e r i n g e m Z e i t v e r z u g glaubte sicherstellen z u können 3 8 , ließ der Offenbarungseid der Liegenschaftsabteilung alle Hoffnungen, die der N A T O z u g e s a g t e n Planziele erreic h e n z u können, z u Makulatur w e r d e n . Im Vorblick auf d e n 1. April 1 9 5 7 fehlten 3 0 0 0 0 Unterbringungsplätze 3 9 . Die W e r b u n g e n m u s s t e n angehalten u n d die Einberufungen ausgesetzt w e r d e n 4 0 . Bis z u m Jahresende stieg die A n z a h l derer, die sich beworben, dabei als geeignet e r w i e s e n hatten u n d n u n auf ihre Einstellung warteten, auf 2 2 000, d a r u n t e r 10 0 0 0 Ungediente 4 1 . D u r c h a u s mit Recht 33

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BA-MA, BW 2/2722, fol. 74, Handakte Heusinger, Notiz über die Sitzung des Bundesverteidigungsrates am 9.11.1956. Vgl. hier vor allem Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik. Hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd 3, München 1993, S. 750-844 (Beitrag Greiner). Vgl. die Erklärungen des Leiters der Personalabteilung Karl Gumbel in der Abteilungsleiterrunde, BA-MA, BW 2/2050, fol. 15, Kurzprotokolle der Abteilungsleiterbesprechungen, 12. Besprechung vom 18.1.1956. BA-MA, BW 2/2050, fol. 45, Kurzprotokolle der Abteilungsleiterbesprechungen, 20. Besprechung vom 7.3.1956 (Bemerkung von Staatssekretär Josef Rust); ebd., fol. 67 f., Kurzprotokolle der Abteilungsleiterbesprechungen, 26. Besprechung vom 25.4.1956, (Ausführungen des Leiters der Haushaltsabteilung Volkmar Hopf); BA-MA, BW 2/2475, IV D 2, 25.10.1956, Forderung nach einer Neuplanung der Streitkräfte, gez. Jordan, S. 1; dort der Hinweis auf eine Finanzierungslücke von 20 Mrd. DM. BA-MA, BW 2/2050, fol. 83-88, Kurzprotokolle der Abteilungsleiterbesprechungen, 29. Besprechung vom 23.5.1956. Der Leiter der Personalabteilung schlüsselte die Endstärke für 1956 bei dieser Gelegenheit auf in 12 500 Offiziere, 11 000 >gehobene< Unteroffiziere, 16 500 >einfache< Unteroffiziere und 56 000 Mannschaften. BA-MA, BW 21/52, Tätigkeitsbericht der Annahmeorganisation, 30.4.1957, S. 44; vgl. auch ebd., S. 63, danach zeigte das Bewerberaufkommen Ungedienter zwischen Sommer 1956 und Frühjahr 1957 folgenden Verlauf: Juni 1956 - 5500; Juli 1956 - 5600; August 1956 14 400; September 1956 - 13 900; Oktober 1956 - 11 900; November 1956 - 7300; Dezember 1956 - 4500; Januar 1957 - 7800; Februar 1957 - 6800; März 1957 - 5100; sodann BA-MA, BW 2/2050, fol. 185, Kurzprotokolle der Abteilungsleiterbesprechungen, 42. Besprechung vom 23.8.1956. BA-MA, BW 2/2051, fol. 4-7, Kurzprotokolle der Abteilungsleiter-Besprechungen, 44. Besprechung vom 14.9.1956; ebd., fol. 31, Kurzprotokolle der Abteilungsleiter-Besprechungen, 48. Besprechung vom 17.10.1956. Vermerk in BA-MA, BW 2/2051, fol. 27, Kurzprotokolle der Abteilungsleiter-Besprechungen, 47. Besprechung vom 10.10.1956. BA-MA, BW 21/52, Tätigkeitsbericht der Annahmeorganisation, 30.4.1957, S. 45.

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befand der als Verteidigungsminister bereits zurückgetretene Blank vor dem CDU-Bundesvorstand, dass das Freiwilligenaufkommen groß genug gewesen sei, dass ihm aber die (mit Flüchtlingen und Alliierten belegten) Kasernen gefehlt hätten, womit er der Finanzverwaltung die Schuld zuwies 42 . Was Blank noch verbuchen konnte - eine ausreichende Bewerberlage - , war für seinen Nachfolger Franz Josef Strauß bald unerreichbar; eine zweite, länger anhaltende Aufstellungskrise schloss sich an. Die sich in der Bundesrepublik abzeichnende Vollbeschäftigung trocknete den Zustrom an Freiwilligen regelrecht aus. Bei den Offizieranwärtern fiel das Aufkommen ungedienter Bewerber von 6875 im Jahre 1957 fortgesetzt auf den vorläufigen Tiefstand von 3565 im Jahre 1961, wobei sich auch die Anzahl der sich darunter befindenden Abiturienten von (3626) 1958 auf (2095) 1961 nahezu halbierte. Trotz aller flankierenden Maßnahmen, zu denen auch die bis 1963 fortgeführte Einstellung ehemaliger Wehrmachtoffiziere zählte, unterschritt der Anteil der Offiziere ab 1959 mit 6 Prozent, 1962 sogar 5,1 Prozent, die für die Bundeswehr vorgesehene Norm von 6,5 Prozent zum Teil erheblich43. Noch dramatischer verlief die Entwicklung bei den Unteroffizieren. Konnten 1957 noch 38 200 ungediente Freiwillige eingestellt werden, so war dieses Aufkommen 1961 auf 18 100 Einstellungen eingebrochen. Die Stammnorm von 31,4 Prozent wurde nur im Jahr der Kaderaufstellung 1956 mit 36,2 Prozent übertroffen, schon 1958 lag der Unteroffizieranteil bei 22,4 Prozent und in den Folgejahren nur geringfügig darüber. Für längere Zeit musste die Bundeswehr mit nur zwei Dritteln des vorgesehenen Unteroffizierkorps auskommen 44 . Zu allem Uberfluss musste sich gerade das Heer im Zuge der von Strauß eingeleiteten Umstellung auf die modernen Waffen noch einer tief greifenden Umstrukturierung unterziehen. Offiziere verblieben dort von 1958 bis 1960 im Schnitt nur 17 Monate, 1961 nur 16 Monate auf ihren Dienstposten 45 . Der erste Jahresbericht des Wehrbeauftragten erwähnte Einheiten, die innerhalb einer Frist von drei Jahren den Wechsel von zehn Disziplinarvorgesetzten oder in nur neun Monaten vier Chefs erlebt hatten 46 . Mitte 1959 hatte sich infolge des unzureichenden Nachwuchses, der Kommandierungen und Neuaufstellungen die Offizierlücke im Feldheer bei 30 Prozent eingependelt. Sie erwies sich als so gravierend, dass der organisatorische Aufbau für ein Drei Vierteljahr ausgesetzt

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Ausführungen Blanks in der Sitzung des CDU-Bundesvorstands vom 23.11.1956. In: Adenauer: >Wir haben wirklich etwas geschaffene Die Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1953-1957. Bearb. von Günter Buchstab, Düsseldorf 1990, S. 1118 f. Vgl. BA-MA, BWD 13/106, Ρ III 1-Az.: 16-10-01 TgbNr. 7797/64, 16.11.1964, Die Offizierlage in der Bundeswehr, S. 58, 82, 88. BMVtdg Ρ III 1-Az.: 16-10-02, Oktober 1963, Die Unteroffizierlage in der Bundeswehr, S. 27 f., 38. BMVtdg Ρ III 1-Az.: 16-10-02, Oktober 1963, Die Unteroffizierlage in der Bundeswehr, Anl. 11. Deutscher Bundestag, 3. WP, Drucksache 1796, Der Wehrbeauftragte, 8.4.1960, Jahresbericht 1959, gez. von Grolman, S. 3,10.

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wurde 47 . Was das Rekrutierungsdefizit und die Personalfluktuation bei den Unteroffizieren für die Truppe bedeuteten, rechnete die Personalabteilung 1963 am Beispiel eines Panzergrenadierbataillons vor. Von 171 planmäßig vorgesehenen Unteroffizierstellen waren lediglich 57, also ein Drittel dienstpostengerecht besetzt, im Ausbildungsdienst von 85 gar nur 22, also etwas mehr als ein Viertel48. Welche Konsequenzen hatte diese krisenhafte Entwicklung für die Qualität des Führungskorps? Mit dem zunächst infrastrukturell, dann durch die Arbeitsmarktlage bedingten Fehlen junger Freiwilliger verstärkte sich eine im Zuge der Kaderaufstellung nach einer zehnjährigen Unterbrechung ohnehin gegebene Schieflage im Altersaufbau, welche die Personalabteilung früh schon als »Kopflastigkeit« identifiziert hatte49. Besonders drastisch wirkte sich dies bei den Hauptleuten aus, die vielfach als Chefs verwendet werden mussten. 1957 lag der Altersdurchschnitt dieser Gruppe von Offizieren gut zwei Jahre, 1961/62 sogar etwa vier jähre über dem damals seitens der Personalabteilung für angemessen erachteten Durchschnittsalter von 38,6 Jahren50. Das Offizierkorps der frühen Bundeswehr war jedoch nicht nur überaltert, es war auch hinsichtlich der persönlichen Voraussetzungen wie der beruflichen Prägung sehr heterogen. Unter den insgesamt in die Bundeswehr übernommenen 13 438 kriegsgedienten Offizieren 51 waren ältere Stabsoffiziere, die noch in der Reichswehr ihren Dienst angetreten hatten, sodann die jüngeren Stabsoffiziere, die in der Wehrmacht eine Friedensausbildung erhalten hatten, schließlich die Kriegsoffiziere, die zu einem nicht geringen Teil aufgrund ihrer >Frontbewährung< aus dem Unteroffizierkorps aufgestiegen waren 52 . Hinzu kamen am Anfang die wenigen Leutnante, die allein auf eine Vordienstzeit in Polizeiverbänden, in erster Linie im

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BA-MA, BW 2/20038a, Zustandsbericht Nr. 3/59, 28.9.1959, gez. Heusinger, 7 S., hier S. 1; ebd., Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 3 - 5 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-13). BMVtdg Ρ III 1-Az.: 16-10-02, Oktober 1963, Die Unteroffizierlage in der Bundeswehr, S. 35 f. BA-MA, BW 1/15737, Bundesminister für Verteidigung, III, 9.7.1956, Vermerk die Erfüllung des 96 000-Mann-Programms betreffend, 3 S., gez. Gumbel. Ebd. auch ein zweiseitiger Aktenvermerk III Β 2 vom 13.6.1956, aus dem die frühzeitig sich selbst noch unter den Vorgaben des 96 000-Programms abzeichnende >Kopflastigkeit< bzw. >Überalterung< der Streitkräfte erhellt. Während 1956 die Stellen der Stabsoffiziere zu 100 % und die der Hauptleute zu 80 % besetzt werden könnten, sei dies bei den Leutnanten nur 40-50 % der Fall. Ein ähnliches Missverhältnis w u r d e für die Unteroffiziere gesehen. BA-MA, BWD 13/106, Ρ III 1-Az.: 16-10-01 TgbNr. 7797/64, 16.11.1964, Die Offizierlage in der Bundeswehr, S. 70 f. Vgl. die Aufstellung in BA-MA, BWD 13/106, Ρ III 1-Az.: 16-10-01 TgbNr. 7797/64, 16.11.1964, Die Offizierlage in der Bundeswehr, S. 88. Danach wurden 1955/56: 8140, 1957: 1560, 1958: 1166, 1959: 1104, 1960: 822, 1961: 479, 1962: 141 und 1963 schließlich 26 >kriegsgediente< Offiziere in die Bundeswehr übernommen. Vgl. die in den Rückblenden auf das Jahr 1956 von Baudissin vorgenommenen Einteilungen und Charakterisierungen - vgl. BA-MA, Ν 493/v. 11, IV B-1831/56 (Nachlass von Wangenheim), Zustandsbericht über die Innere Führung, 10.11.1956, 10 S., gez. Baudissin; BA-MA, Ν 717/8 (Nachlass Graf Baudissin), fol. 2-6, Tagebuch Baudissin, Jahresbericht Innere Führung 1956, auf den unter dem Sammeleintrag 16.12.56-10.1.57 (ebd., fol. 1) verwiesen wird. In der Kategorisierung weitgehend ähnlich Müller-Lankow in seinem Vortragsmanuskript (Truppenamt 14.12.1961), Material ZInFü, Z.U.A. 0.2.1.0., S. 10-17.

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Bundesgrenzschutz (BGS) zurückblicken konnten. Diese sehr unterschiedlichen Karriereprägungen verbanden sich zudem noch mit sehr breit gestreuten Bildungsvoraussetzungen. Hier traten ausgerechnet in dem Segment die größten Defizite auf, das nach dem Konzept der Inneren Führung und den daraus abgeleiteten rechtlichen Vorschriften von den dienstlichen Anforderungen her ein Höchstmaß an Kompetenz voraussetzte: nämlich bei den Einheitsführern. Noch 1961 genügte im Urteil des stellvertretenden Kommandeurs der Schule für Innere Führung die Mehrheit der damals als Chefs verwendeten Offiziere allenfalls »knapp den Mindestanforderungen«, dies vor allem deswegen, weil den >Kriegsoffizieren< neben der gründlichen Friedensausbildung in der Regel die hinreichende Bildung, das Abitur, fehle53. Während 1961 unter den Generalen und Obersten über 90 Prozent, unter den Oberstleutnanten annähernd 85 Prozent das Abitur aufwiesen, waren es bei den Majoren nur noch zwei Drittel. Der diesbezügliche Tiefpunkt wurde aber bei den Hauptleuten erreicht, von denen 19 Prozent über den Volksschulabschluss, 36,7 Prozent die Mittlere Reife und noch nicht einmal die Hälfte, nämlich 44,2 Prozent, über das Reifezeugnis verfügten. Knapp drei Viertel der jungen Leutnante hatten demgegenüber das Abitur erworben 54 . Es bedarf gewiss keiner großen Fantasie, sich die Schwierigkeiten vorzustellen, denen sich die Chefs bei der Umsetzung des zumindest im Blick auf den freiheitlich-rechtsstaatlichen Bezug ungewohnten und allein darum schon anspruchsvollen Konzeptes der Inneren Führung gegenüber sahen. Nimmt man noch hinzu, dass für die Innere Führung einschlägige Vorschriften entweder als >Vorläufer< in der Truppe kursierten oder zum Teil erst lange nach Aufstellungsbeginn zur Verfügung standen - sehr zum Leidwesen Baudissins traten z.B. die Wehrbeschwerdeordnung erst am 30. Dezember 1956, die Wehrdisziplinarordnung erst am 1. April 1957 in Kraft55 -, dann erscheint der Rückgriff auf die jeweils noch präsente vormalige Dienstpraxis nachgerade als zwangsläufig. Über die Veteranen ist zweifelsfrei vieles aus der Zeit vor der Inneren Führung in die Bundeswehr gelangt. Aber genügt es, bei der Suche nach den Gründen für die mangelnde Akzeptanz der Inneren Führung auf die Rolle der übernommenen Wehrmachtangehörigen zu verweisen? Immerhin teilten sie keineswegs ein einheitliches Dienstverständnis. Auf sehr dramatische Weise verdeutlichte das Iller-Unglück vom 3. Juni 1957, dass es im Kaderpersonal der frühen Bundeswehr diesbezüglich ein Verständigungsproblem gab. Denn der Tod von 15 wehrpflichtigen Rekruten war auch eine Folge von Auffassungsunterschieden, die zum Verhält53

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Vortragsmanuskript Müller-Lankow (Truppenamt 14.12.1961), Material ZInFü, Z.U.A. 0.2.1.0., S. 13-15. Ebd., Tabelle ohne Seitenzählung (zu S. 14). Von den Oberleutnanten/Leutnanten hatten 73,6 % das Abitur. Wehrbeschwerdeordnung (WBO) vom 23. Dezember 1956, BGBl. I, S. 1066 ff.; Wehrdisziplinarordnung (WDO) vom 15. März 1957, BGBl. I, S. 189 ff.; vgl. hierzu auch die diesbezügliche Kritik von Baudissin, BA-MA, Ν 493/v. 11, IV B-l 831/56 (Nachlass von Wangenheim), Zustandsbericht über die Innere Führung, 10.11.1956, S. 2.

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nis von Sicherheit und kriegsnaher Ausbildung wie auch hinsichtlich der Gewähr, die ein Dienstplan bot, im Offizierkorps des Kemptener Luftlande-JägerBataillons bestanden56. Überdies wies der Befund von 1964 gerade bei den ältesten Offizieren noch die größte Nähe zum Konzept der Inneren Führung aus. So sehr ihnen auch die in der Regel größere Distanz zum Truppenalltag das Bekenntnis zu einer (1964 gegenüber 1955 bereits revidierten) amtlichen Konzeption erleichtert haben mag, ist doch auch nicht auszuschließen, dass sich unter den befragten Obersten und Generalen von 1964 jene jüngeren Stabsoffiziere von 1956 befanden, von denen Baudissin am Ende des ersten Aufstellungsjahres noch die größte Unterstützung seines Projektes aus der Truppe erwartet hatte57. Neben dem Einfluss jener, welche kamen, war - so die These dieses Beitrages - von wenigstens gleichem Gewicht der Einfluss jener, die fernblieben. Die Führung des politischen Soldaten, wie er im Reformkonzept Baudissins vorgesehen war, erforderte den hinsichtlich seiner Bildung qualifizierten jungen Offizier. Dieser war 1955/56 auch vorgesehen. Im Heer war damals nach einer aufstellungsbedingten Übergangsfrist, in der die Ausbildungszeit bis zur Beförderung zum Leutnant von anfänglich 18 Monaten schrittweise verlängert werden sollte, ab dem Herbst 1959 eine Regelausbildung von drei Jahren bis zur Ernennung zum Offizier geplant58. Darüber hinaus sollten sich die Leutnante aller Teilstreitkräfte an einer universitätsnahen Wehrakademie ein halbes, am Ende sogar ein Jahr namentlich politikwissenschaftlichen und historischen Problemen zuwenden können59. Einwände der Haushaltsabteilung, des Bundesrechnungshofes und des Bundesfinanzministeriums, dann auch der Führungsstäbe der Teilstreitkräfte, mangelndes Interesse des Verteidigungsministers Strauß, vor allem aber der dringende Bedarf der Truppe an jungen Offizieren ließen jedoch die Initiativen des Führungsstabes der Bundeswehr zur Einrichtung der Wehrakademie bis Mitte der 60er Jahre durchweg im Sande verlaufen60. Zudem wurden die Aus56

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Vgl. BA-MA, BW 2/2572, Bundesminister für Verteidigung VÜI-191/57, Bericht der vom Herrn Bundesminister für Verteidigung eingesetzten Kommission zur Untersuchung des Illerunglücks am 3. Juni 1957,17.7.1957, gez. Dr. Barth, Schwatlo-Gesterding, Büschleb, 34 S. mit Anl. BA-MA, Ν 717/8 (Nachlass Graf Baudissin), fol. 2, Tagebuch Baudissin, Jahresbericht Innere Führung 1956. Vgl. BA-MA, BW 2/1164, Schreiben Abt. V, V A-V A 5 an Abt. III, 18.6.1956, Ausbildungsplanung betreffend, Übersicht in Anl. 1. Vgl. Vom künftigen deutschen Soldaten (wie Anm. 16), S. 97; BA-MA, BW 2/6268, II/l Gr. 1, Wissenschaftliche Ausbildung der Leutnante an der Akademie der Streitkräfte, 12.7.1955, gez. i.V. Karst. Vgl. hierzu u.a. BA-MA, BW 2/6268, BdF-II C/8-a-We 0306-11/57, Blatt 4 zum STANProtokoll vom 16.7.1957 (Verhandlung am 25.6.1957); ebd., Bundesrechnungshof Vert B(G) 27/58, 30.8.1958, an Bundesminister für Verteidigung, nachrichtlich Bundesminister der Finanzen, Lehrplanentwurf für die Wehrakademie betreffend, gez. i.V. Rausch; BMVtdg Η II 1-Az.: 1 0 - 1 5 - 1 0 an Fü Β I 5, 14.6.1961, gez. Schroers; ebd., Fü Β I 4-Az.: 1 6 - 0 5 - 1 0 an Referate der Abteilungen Η, Ρ und VR der Führungsstäbe, OffizierAusbildung betreffend, 31.10.1962, gez. Karst; ebd., Fü L IV 1-Az.: 1 6 - 0 5 - 1 0 an Referate der Abteilungen Η, Ρ und der Führungsstäbe, Offizier-Ausbildung betreffend, 28.11.1962, gez. in Vertretung Grosse; ebd., Fü Η I 3-Az.: 1 6 - 0 5 - 1 0 an Fü Β I 4, Offizier-Ausbildung betreffend, 30.11.1962, gez. Graf von Bothmer; Fü Η IV 3-Az.: 1 6 - 0 5 - 1 0 an Fü Β I 4, Offi-

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bildungszeiten für den Berufsoffizier des Heeres nach dem Stand von 1964 nur auf zwei, statt der ursprünglich vorgesehenen drei Jahre verlängert61. Schließlich drängte der Führungsstab des Heeres angesichts des zahlenmäßig unbefriedigenden Aufkommens an jungen längerdienenden Zeit- und Berufsoffizieren darauf, die Lücken durch Übernahmen von Reserveoffizieren soweit möglich zu vermindern. Dem 1963 amtierenden Generalinspekteur, General Friedrich Foertsch, kamen hierbei indes wegen des deutlich kürzeren lehrgangsgebundenen Ausbildungsvorlaufes der Reserveoffiziere Bedenken (zwischen 1960 und 1963 betrug er für Reserveoffiziere in etwa ein halbes Jahr, für Berufsoffiziere hingegen über eineinhalb Jahre). Dennoch wurden Anfang der 60er Jahre im Heer Reserveoffiziere vermehrt in das Dienstverhältnis eines Zeitbzw. Berufssoldaten übernommen62. Insgesamt führte so das Ausbleiben eines quantitativ hinreichenden Offiziernachwuchses nicht nur in der Truppe zu empfindlichen Lücken, sondern auch zu einer Besetzung der Dienstposten mit jungen Offizieren, denen die Qualifizierungsmöglichkeiten beschnitten worden waren und die im Lichte der ursprünglichen Planungen als minder qualifiziert gelten mussten. Früh schon und dann auch wiederholt bemängelten die Zustandsberichte und -meidungen dies als Missstand63. Das aufkommensbedingte Bildungs- und Ausbildungsdefizit der jungen Offiziere musste fast zwangsläufig zu Schwierigkeiten in der Umsetzung des Staatsbürgers in Uniform beitragen. Aber noch in einem weiteren, mehr mittelbaren, darum aber nicht weniger wirkungsmächtigen Zusammenhang trug das Problem des Personalersatzes zur Aushöhlung des ursprünglichen Konzeptes bei. Wie in einem Brennspiegel verdeutlichen die Vorgänge im Rahmen der Änderung der Vorgesetztenverordnung 1960 diesen Kontext.

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zier-Ausbildung betreffend, 8.11.1962, gez. Görnandt; FüM III 2 an Fü Β I 4, OffizierAusbildung betreffend, 30.11.1962, gez. Schuhart; bezeichnend für das Desinteresse von Strauß war seine Anfang 1962 getroffene Entscheidung, noch nicht einmal den vorgeschlagenen Versuchslehrgang für 30 Leutnante zuzulassen. Vgl. BA-MA, BW 2/6268, FÜBI5, Sprechzettel Generalinspekteur für MFR-Sitzung am 7.11.1961, 6.11.1961 und ebd., Anlage zu Der Militärische Führungsrat, Kurzprotokoll Nr. 78, 9.11.61, handschriftliche Bemerkung auf einem Beiblatt durch den Herrn Minister, 2.1.1962, gez. St. BA-MA, Β WD 13/106, Ρ III 1-Az.: 16-10-01 TgbNr. 7797/64, 16.11.1964, Die Offizierlage in der Bundeswehr, S. 36. BA-MA, BW 2/2460, Zustandsbericht Nr. 2/62, 4.1.1963, gez. Foertsch, S. 3. Zu den Ausbildungsgängen der Offiziere des Heeres vgl. die Übersichten in: Taschenbuch für Wehrfragen. Hrsg. von Hans-Edgar Jahn und Kurt Neher, 4 (1960/61), S. 110 f. und Taschenbuch für Wehrfragen. Hrsg. von Hans-Edgar Jahn und Kurt Neher, 5 (1963/64), S. 114 f.; zu den Übernahmen vgl. BA-MA, ΒWD 13/106, Ρ III 1-Az.: 16-10-01 TgbNr. 7797/64, 16.11.1964, Die Offizierlage in der Bundeswehr, S. 89 - danach waren es 1961: 61,1962: 101 und 1963:152. Vgl. BW 2/20038, Zustandsbericht Nr. 2/59, 30.6.1959, Anl. 2: Zustandsmeldungen, Zustandsmeldung Heer, S. 5; BA-MA, BW 2/2454, Zustandsbericht Nr. 1/60, 11.4.1960, Anl. 2: Zustandsmeldungen, Zustandsmeldung Heer, S. 3; BA-MA, BW 2/3111, Zustandsbericht Nr. 1/64, 4.6.1964, Anl. 2: Teil Β 1: Besonderheiten zur Personallage, S. 3; Anl. 3: Teil C 1: Einzelbericht Heer, S. 4.

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III. Die Neubestimmung des Staatsbürgers in Uniform im Rahmen der Revision der Vorgesetztenverordnung In deutlicher Abkehr von dem früher geltenden, zeitlich, räumlich wie sachlich uneingeschränkten allgemeinen Vorgesetztenverhältnis hatte die ab 1956 geltende Fassung der Vorgesetztenverordnung die Befehlsbefugnis auf der Basis der jeweils höheren Dienstgradgruppe (Offiziere, Feldwebel, Unteroffiziere, Mannschaften) in der Regel auf den Bereich innerhalb der Kompanien und auch dort nur auf den Dienst beschränkt. Ganz dem nunmehr im Mittelpunkt stehenden funktionalen Zusammenhang gemäß war demgegenüber die Dienststellung von herausragender Bedeutung. Wem nach der organisatorischen Gliederung die Führung von Soldaten zugefallen war, der besaß im Dienst diesen gegenüber die Befehlsbefugnis. Außerhalb des Dienstes kam solche Kompetenz nur noch den zuständigen Disziplinarvorgesetzten zu, wenn man einmal von den Ordnungsdiensten und Notfallregelungen absieht64. Dieses vor allem an der Funktion ausgerichtete Vorgesetztenverhältnis wurde bereits Ende der 50er Jahre wieder infrage gestellt. Den Verantwortlichen im Ministerium schwebte der Rückgriff auf ein älteres hierarchisches Modell vor, welcher die Einheit des ursprünglichen Konzeptes der Inneren Führung zu lockern drohte. Die Tragweite, welche die angestrebte Revision für den Staatsbürger in Uniform haben würde, scheint ihnen auch nicht verborgen geblieben zu sein. Jedenfalls legt der Blick auf die Umstände der Novellierung diesen Eindruck nahe. Im Frühjahr 1960 befasste die im Führungsstab der Bundeswehr für die Innere Führung zuständige Unterabteilung den Beirat für Fragen der Inneren Führung mit einer Initiative, die auf eine begrenzte Wiedereinführung des allgemeinen Vorgesetztenverhältnisses zielte. Einer uneingeschränkten Rückkehr zu den früheren Bestimmungen hätte das Soldatengesetz im Wege gestanden, das bestimmt hatte, dass aufgrund »des Dienstgrades allein [...] keine Befehlsbefugnis außerhalb des Dienstes« bestehe. In dem von Baudissin beratenen Gremium stießen jedoch auch die begrenzten Revisionsvorstellungen auf eindeutigen Widerstand. Der Vertreter des Ministeriums versicherte daraufhin dem Beirat, diesen vor einer endgültigen Entscheidung noch einmal zu beteiligen65. Es sollte indes anders kommen, und der Vergleich mit einem Coup erscheint hier keineswegs abwegig. Mit dem Datum vom 6. August 1960 - also während der Parlamentsferien - erschien im Bundesgesetzblatt eine novellierte Vorgesetztenverordnung, mit der ohne eine Befristung auf den Dienst sowohl das allgemeine Vorgesetztenverhältnis innerhalb umschlossener militärischer Bereiche wiederhergestellt als auch die Befehlsbefugnis der unmittelbaren Vorgesetz64

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Verordnung über die Regelung des militärischen Vorgesetztenverhältnisses vom 4.6.1956, BGBl. I, S. 459 f. BA-MA, BW 2/16286, Beiratsakten, Niederschrift über die 7. Sitzung des Beirates für Fragen der inneren Führung am 17. und 18.3.1960 in Schloss Auel, S. 4 - 9 ; zur gesetzlichen Schranke siehe Gesetz über die Rechtsstellung des Soldaten (Soldatengesetz), 19.3.1956 (BGBl. I, S. 114), § 1, Abs. 4.

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ten unterhalb der Ebene des Disziplinarvorgesetzten erweitert wurde66. Der Beirat war zuvor dazu nicht noch einmal gehört worden. Beträchtlicher Unmut herrschte aber nicht nur dort67, sondern - von erheblicher größerer Bedeutung auch im Verteidigungsausschuss. Nach weithin auch geteilter Auffassung hätte das parlamentarische Gremium zwar nicht zwingend an der Novellierung beteiligt werden müssen, zumal man sich seitens des Ministeriums gerade noch innerhalb des gesetzlichen Rahmens bewegt hatte, jedoch hätte die Tragweite des vorgenommenen Einschnittes es nahegelegt, die einvernehmlich 1956 getroffene und mit ihren Teilen auch aufeinander abgestimmte Regelung nun auch im Dialog zwischen Ausschuss und Ministerium einvernehmlich weiterzuentwickeln68. Die Behandlung der Novelle im Ausschuss zeigte dann schließlich auch, im welchem Maße mit ihr Veränderungen des ursprünglichen Leitbildes verbunden waren. Das Ministerium hatte für die Veränderung der Vorgesetztenverordnung drei voneinander getrennte Begründungen vorgelegt, von denen zwei sich ausschließlich auf Probleme der Friedensbundeswehr bezogen. Eingangs bezeichnete der Generalinspekteur, General Adolf Heusinger, unumwunden das Personalgewinnungsproblem als das eigentliche Motiv hinter der Novellierung. Seine Argumentation kreiste in der Hauptsache um das Anliegen, angesichts des ausbleibenden Nachwuchses mit allem Nachdruck in der Armee eine Positionsverbesserung des Unteroffiziers herbeizuführen. Vor diesem Hintergrund hätten Minister und Truppenkommandeure die Überprüfung der Vorgesetztenverordnung für notwendig erachtet69. Für die Einführung nicht mehr vorrangig funktional begründeter hierarchischer Strukturen wurde das Argument der Attraktivitätssteigerung im Dienste der Personalgewinnung angeführt. Das damit doch sachfremde Motiv wurde anderntags dann auch von Staatssekretär Volkmar Hopf dementiert. Er bestritt, dass die Erweiterung des Vorgesetztenkreises geeignet sei, das Ansehen der Unterführer zu heben. Wenngleich er dieses Dementi wieder abschwächte - »in der Kaserne [sei es] allerdings doch« 66

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Vgl. Zweite Verordnung zur Änderung der Verordnung über die Regelung des militärischen Vorgesetztenverhältnisses, 6.8.1960 (BGBl. I, S. 684), dort § 1; siehe auch VMB1. 1960, S. 505. Vgl. BA-MA, BW 2/16286, Beiratsakten, Schreiben Fü Β I-Az.: 35-10 an Staatssekretär über Generalinspekteur, 26.10.1960. Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages, Berlin, Deutscher Bundestag, 3. WP, Ausschuss für Verteidigung, 88. Sitzung, 29.9.1960, S. A 6 (Erklärung Heusingers zur Auffassung von Minister Strauß und Staatssekretär Hopf); zu den hier namentlich einschlägigen Ausführungen des Ausschussvorsitzenden Dr. Jaeger vgl. ebd., S. Β 14; ferner seine Erklärungen im Verlauf der anschließenden Sitzung, Deutscher Bundestag, 3. WP, Ausschuss für Verteidigung, 89. Sitzung, 6.10.1960, S. 5 - 7 ; vgl. darüber hinaus auch folgende Wortmeldungen: ebd., S. 7 (Dr. Fritz Zimmermann, CDU/CSU), S. 8 (Wolfgang Döring, FDP), S. 12 (Willi Berkhan, SPD), S. 20, 23 (Staatssekretär Volkmar Hopf), S. 26 (Karl Herold, SPD), S. 30 (Franz Lenze, CDU/CSU), S. 36 (Heinz Pöhler, SPD); die ebd., S. 1 f. von dem SPD-Abgeordneten Fritz Eschmann bezüglich der juristischen Unbedenklichkeit angemeldeten Zweifel sind eine eindeutige Minderheitsmeinung geblieben. Vgl. Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages, Berlin, Deutscher Bundestag, 3. WP, Ausschuss für Verteidigung, 88. Sitzung, 29.9.1960, S. A 1-5.

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d e m Ministerium » u m die soziale u n d dienstliche H e b u n g des Unteroffiziersberufes« g e g a n g e n führte H o p f als H a u p t m o t i v die W a h r u n g v o n Disziplin u n d O r d n u n g in d e n dicht belegten T r u p p e n u n t e r k ü n f t e n an 7 0 . G e g e n die B e g r ü n d u n g d e s Staatssekretärs spricht allerdings die Beobachtung d e s d a m a l s in F ü h r u n g s v e r a n t w o r t u n g stehenden Grafen Baudissin, dass die A n z a h l der Verstöße g e g e n die Disziplin u n e r w a r t e t niedrig gelegen habe. Dieser Befund w i r d d u r c h die d a m a l i g e E n t w i c k l u n g z u m i n d e s t der s c h w e r w i e g e n d e n Disziplinarvergehen a u c h bestätigt. Als die Revision der V o r g e s e t z t e n v e r o r d n u n g v o m Ministerium betrieben w u r d e , n a h m die A n z a h l der einschlägigen B e s o n d e r e n V o r k o m m n i s s e i m Verhältnis zur Gesamtzahl der Soldaten nicht n u r keineswegs zu, s o n d e r n im Gegenteil auffällig ab. V o n ein e m disziplinlosen H a u f e n w a r die B u n d e s w e h r a u c h n a c h des Staatssekretärs eigenen A n g a b e n n o c h weit entfernt. D e m g e g e n ü b e r hatte schon z u v o r der F ü h r u n g s s t a b d e s H e e r e s in seiner A n f a n g d e s Jahres abgegebenen Z u s t a n d s m e l d u n g eben v o r d e m H i n t e r g r u n d der fühlbaren Personalschwierigkeiten auf eine Ä n d e r u n g der V o r g e s e t z t e n Verordnung gedrängt 7 1 . Alles dies w i e a u c h d a s recht g e w u n d e n ausgefallene D e m e n t i H o p f s deutet d a r a u f hin, dass der eigentlich d r ä n g e n d e B e w e g g r u n d für die teilweise Rückkehr z u m allgemeinen Vorgesetztenverhältnis in d e m defizitären Personalersatz gelegen hatte. Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages, Berlin, Deutscher Bundestag, 3. WP, Ausschuss für Verteidigung, 89. Sitzung, 6.10.1960, S. 14-19. Die Diskussion im Beirat, in der das zunehmende Drängen der Truppe zugunsten einer Änderung der Vorgesetztenverordnung auf Anfang 1959 datiert wurde, fand am 17. und 18. März 1960 statt; wenig später konnte der Meldung der Unterabteilung Fü Β I zu dem unter dem 11.4.1960 abgegebenen Zustandsbericht der Bundeswehr entnommen werden, dass im Vergleich zu den vorangegangenen Meldungen die Verbreitung der hier einschlägigen schweren Disziplinwidrigkeiten ein weiteres Mal ab Sommer 1958 fortgesetzt abgenommen hatte: von einer Größe von etwa 1000 Soldaten je Fall auf ca. 3000 Soldaten je Fall. Der zuvor abgegebene Zustandsbericht enthielt die mit dem Personalmangel auf eine Erweiterung der Vorgesetztenverordnung drängende Zustandsmeldung des Fü H. Vgl. im Zusammenhang BA-MA, BW 2/16286, Beiratsakten, Niederschrift über die 7. Sitzung des Beirates für Fragen der inneren Führung am 17. und 18.3.1960 in Schloss Auel, S. 4 - 8 ; BA-MA, BW 2/20037, Zustandsbericht Nr. 4/59, 19.1.1960, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 8 - 1 0 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-39); sodann Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages, Berlin, Deutscher Bundestag, 3. WP, Ausschuss für Verteidigung, 89. Sitzung, 6.10.1960, S. 21. Gemäß den Meldungen des Fü Β I zu den Besonderen Vorkommnissen kam auf der Basis der in den jeweiligen Zustandsberichten abgegebenen Anfangs- und Endstärkemeldungen (nach Rechnung des Verfassers, F.N.) ein Fall grober Disziplinwidrigkeiten (Gehorsamsverweigerungen, tätliche Angriffe gegen Vorgesetzte, übrige schwere Disziplinverstöße, Untergebenenmisshandlungen) im jeweiligen Berichtszeitraum jährlich auf 933 Soldaten (BA-MA, BW 2/20036, Zustandsbericht Nr. 5/58, 11.9.1958, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 35); 1254 bzw. 1153 Soldaten (ebd., Zustandsbericht Nr. 6/58, 13.12.1958, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 48 f.); 1446 bzw. 1333 Soldaten (BA-MA, BW 2/20038, Zustandsbericht Nr. 1/59, 12.3.1959, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 44 f.); 2101 bzw. 1927 Soldaten (ebd., Zustandsbericht Nr. 2/59, 26.6.1959, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 43 f.); 2356 bzw. 2193 Soldaten (BA-MA, BW 2/20038a, Zustandsbericht Nr. 3/59, 28.9.1959, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 30 f.); 2764 bzw. 2581 Soldaten (BA-MA, BW 2/20037, Zustandsbericht Nr. 4/59, 19.1.1960, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 65 f.); 3065 bzw. 2902 Soldaten (BA-MA, BW 2/2454, Zustandsbericht Nr. 1/60, 11.4.1960, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 60-62).

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Wenn diese Interpretation zutrifft, dann war es das Personalersatzproblem, von dem mittelbar auch eine Umdeutung des Staatsbürgers in Uniform ausging. Denn die dritte, diesmal von Brigadegeneral Werner Willi Drews vorgetragene Begründung für die Änderung der Vorgesetztenverordnung brachte eine von dem ursprünglichen Konzept bereits deutlich abweichende Lesart des Leitbildes. Darin Baudissin nicht unähnlich, bezog sich der nunmehr für die Innere Führung zuständige Unterabteilungsleiter bei seinem Plädoyer für die Revision des Vorgesetztenverhältnisses nahezu ausschließlich auf die Forderungen, die ein zukünftiger Krieg an den Soldaten der Bundeswehr stellen würde. Wie bei dem 1955/56 entfalteten Kriegsbild war das Geschehen auf dem Gefechtsfeld von dem Zusammenwirken der mehr nur in lockerem Zusammenhang agierenden kleinen Einheiten gekennzeichnet. Keine Rede war dagegen mehr von der umfassenden politischen Dimension des Krieges. Dementsprechend erschien auch die politische Qualität des Staatsbürgers in Uniform von seiner militärischen gelöst. Nach den Ausführungen von Drews stand die Rücksicht auf die freiheitliche Ordnung gleichwertig neben der Rücksicht auf die Zwänge des Krieges, die Berücksichtigung des einen war nicht mehr Bedingung für das Bestehen des anderen. Die Bindung der Schlagkraft an das freiheitlich auszulegende Binnengefüge der Streitkräfte war aufgehoben. Vom politischen Zusammenhang absehende, rein fachlich-militärische Kriterien erschienen jetzt maßgeblich. Im Blick auf die Vorgesetztenverordnung rückte Drews anders als vordem den drohenden Ausfall vertrauter Vorgesetzter in den Mittelpunkt der Überlegungen: Die Kampfkraft müsse auch unter diesen Umständen erhalten und der Soldat dementsprechend bereits im Frieden an die Befehlsbefugnis des ihm persönlich unbekannten Vorgesetzten gewöhnt werden. Gleichzeitig habe der Friedensbetrieb der Bundeswehr auch insofern den Soldaten an den Ernstfall heranzuführen, als ihm die Permanenz des Dienstes, die im Kriege gegeben sei, auch im Frieden durch eine Einebnung des Unterschiedes zwischen Dienst und Freizeit nahegebracht werden sollte. Beidem diente die neue Vorgesetztenverordnung mit der teilweisen Rückkehr zum allgemeinen Vorgesetztenverhältnis und der Lockerung der Bindung der Vorgesetztenkompetenz an den Dienst72. Mit der Beschneidung des dem Soldaten ursprünglich zugedachten Freiraumes entfiel auch der Gedanke an eine Werbung für die freiheitliche Ordnung. Statt dessen war es nach dem Tenor der Einlassungen von Heusinger und Drews an Politik und Gesellschaft, für den jetzt vorausgesetzten pflichtbe72

Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages, Berlin, Deutscher Bundestag, 3. WP, Ausschuss für Verteidigung, 88. Sitzung, 29.9.1960, S. Β 2 - 1 2 , u.a. dort Β 5 f.: »Jede militärische Regelung, auch die der Neuordnung des Vorgesetztenverhältnisses, ist nicht nur vom Frieden [...] sondern auch von den Gegebenheiten des Krieges aus zu sehen [...] Ich glaube, hiernach [i.e. nach den »späteren Kampfaufträge[n]«] muß sich die Anforderung, die wir an die Truppe zu stellen haben, mindestens genauso richten wie nach der selbstverständlichen anderen Forderung der Einordnung der Bundeswehr in Staat und Verfassung und einer Menschenführung, wie sie dem Lebensgefühl des heutigen Menschen entspricht. Diese Forderungen stehen gleichwertig nebeneinander. Ich glaube nicht, daß wir den Gesichtspunkt des Ernstfalles bei der Betrachtung all dieser Probleme aus dem Auge verlieren dürfen.«

Muster des Soldaten und Aufstellungskrise

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wussten Staatsbürger zu sorgen. Ihre Argumentation spiegelte den Wunsch nach einer dem Militär näheren Gesellschaft, wie er damals gerade auch in den Zustandsmeldungen vom Führungsstab des Heeres zum Ausdruck gebracht worden war. Der hatte an der Wende zu den 60er Jahren zur Hebung der »Wehrbereitschaft« u.a. gefordert, im Zuge der staatsbürgerlichen Vorbereitung die Jugend zu »Verteidigungsbereitschaft« zu führen73. Fraglos trug die im Zuge solcher Entpolitisierung des Krieges vorgenommene Trennung des freien Menschen vom vollwertigen Soldaten dazu bei, dass die Maximen von Innerer Führung und Schlagkraft - wie 1964 von den jüngeren Offizieren bestätigt - als konkurrierende und nicht mehr in einem Bedingungsgefüge aufeinander verweisende Ziele identifiziert werden konnten. Indem das eigentlich Neue des Staatsbürgers in Uniform - die im Blick auf seine Kriegstauglichkeit vorausgesetzte Parteinahme für den freiheitlichen Rechtsstaat - abgeblendet wurde, konnten auch die Verbindungslinien zu vorangegangenen deutschen Streitkräften stärker in den Vordergrund treten. Dies musste um so leichter fallen, als die Innere Führung von 1955/56 auch 1960 noch nicht tiefer im politisch-parlamentarischen Raum verankert erschien. Es ist wohl bezeichnend für das Vorauseilen des Konzeptes von Baudissin, dass diese Trennung der politischen Seite des Staatsbürgers in Uniform von dessen vermeintlich rein militärischen Qualität im Verteidigungsausschuss ein verbreitetes Echo fand. Jedenfalls machten sich vor allem die Abgeordneten der die Regierung tragenden Unionsfraktion wie auch der Liberalen diese Trennung mit den entsprechenden Konsequenzen zu eigen, die - etwa mit der gewünschten Einebnung des Unterschiedes zwischen Dienst und Freizeit - auf eine fühlbare Beschneidung des dem Soldaten ursprünglich eingeräumten Freiraumes hinausliefen74. So betrachtet sorgten nicht zuletzt die, die fernblieben, für eine Aushöhlung des Staatsbürgers in Uniform - zum einen, indem sie Lücken rissen bzw. zu dem Rückgriff auf minder Qualifizierte zwangen, zum anderen, indem sie (wie im Falle der Revision der Vorgesetztenverordnung) dazu beitrugen, sogar noch die Norm zu verändern. Allerdings zeigte sich bei der Diskussion im Ausschuss auch, dass immerhin die Sozialdemokraten ihre Verbindung zur Inneren Führung nun gefunden hatten. Deren Wortmeldungen hielten nun an dem ursprünglichen Konzept fest75. 73

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Vgl. zu Heusinger: Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages, Berlin, Deutscher Bundestag, 3. WP, Ausschuss für Verteidigung, 88. Sitzung, 29.9.1960, S. A 3; zu Drews ebd., S. Β 9 f.; zu dem Wunsch des Fü Η nach einer dem Militär näheren Gesellschaft vgl. u.a. BA-MA, BW 2/20037, Zustandsbericht Nr. 4/59, 19.1.1960, Anl. 2: Zustandsmeldungen, S. 5 f., 8 (Zustandsmeldung Heer, S. 2-39). Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages, Berlin, Deutscher Bundestag, 3. WP, Ausschuss für Verteidigung, 89. Sitzung, 6.10.1960, die Wortmeldungen S. 8 (Dr. Fritz Zimmermann), S. 28-31 (Franz Lenze), S. 32 f. (Dr. Georg Kliesing), S. 3 3 - 3 6 (Dr. Maria Probst) und S. 8-10, 41 (Wolfgang Döring). Vgl. Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages, Berlin, Deutscher Bundestag, 3. WP, Ausschuss für Verteidigung, 89. Sitzung, 6.10.1960, S. 38 f. (Helmut Bazille); vgl. auch ebd., S. 2 f. (Fritz Eschmann), S. 11-13 (Willi Berkhan), S. 26 (Paul), S. 27 f. (Karl Herold), S. 36 f. (Heinz Pöhler).

II. Soldatenprofile, Wertewandel und Integrationsanliegen einer Ausbildungsarmee

Klaus Naumann Einführung

Wohl lässt sich das Gründungsdatum der Bundeswehr mit einiger Sicherheit fixieren (freilich gibt es eine Konkurrenz der Stichtage), und auch das Ende der Aufstellungsphase, der Moment, als die Bundeswehr gewissermaßen fertig war, lässt sich rückblickend datieren. Aber auch als die verfassungsrechtlichgesetzlichen Grundlagen gelegt, die Organisationsstrukturen ausgebildet, das Personal komplettiert, die Leitbilder entwickelt und die Ausführungsbestimmungen festgeschrieben waren, blieb die Organisation Bundeswehr in stetem Umbau begriffen. Dieser andauernde Prozess war unter den Bedingungen des Kalten Kriegs, rüstungstechnologischer Innovationen, haushaltspolitischer Restriktionen und immerwährend knapper Zeiten und Fristen mit erheblichen Anstrengungen verbunden - und bezeichnete doch so etwas wie eine organisationsweltliche Normalität. Was eben als vollendet, abgeschlossen oder komplett galt, verfiel nach kurzer Frist schon dem Gebot der Optimierung, Nachbesserung oder Anpassung. Systemstrukturen, einmal konstituiert, unterlagen hinfort den Imperativen »sekundärer Politik«, wie Franz Xaver Kaufmann mit Blick auf die Sozialpolitik formuliert hat, die auf veränderte Umweltbedingungen reagieren muss, um dem Organisationszweck, dem Auftrag, weiterhin gerecht werden zu können. Beobachten ließ sich dies in den zurückliegenden fünfzig Jahren Bundeswehrgeschichte beispielsweise an der steten Erneuerung von Waffengenerationen und Ausrüstungen, aber auch am fortwährenden Wandel grundlegender Organisationsmuster. Zudem war die Bundeswehr als Wehrpflicht- und Freiwilligenarmee auch in personeller Hinsicht in steter Umbildung begriffen, denn stets galt es, den Mannschaftsbestand zu erneuern, Nachwuchs heranzuziehen und neue Führungskader auszubilden. Man konnte (und kann) diesen Austauschprozess des Personals als fortwährende Sozialisationsanstrengung, d.h. als An- und Einpassung neuer Soldaten in die vorhandenen Organisationsstrukturen, beschreiben, und doch liegt in einem solchen Austausch auch ein Moment der Erneuerung und des Organisationswandels, zumindest aber die Chance dazu. Verschiedene Soldaten- und Offiziergenerationen sind durch die Bundeswehr geprägt worden - aber nicht weniger haben auch sie der militärischen Organisationskultur ihren Stempel aufgedrückt. Insofern gehören Wandel und Veränderung und das damit verbundene Spezifisch-Unfertige zum Organisationsalltag; nicht nur im Gefecht, auch im normalen Dienstbetrieb handelt der Soldat, metaphorisch gesprochen, ins Unge-

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Klaus Naumann

wisse. Damit mag man sich abfinden, aber je stärker das Erfordernis von struktureller Flexibilität und Organisationstoleranz empfunden wird, desto lauter meldet sich in der Regel der Ruf nach verbindlichen Normen, festen Leitbildern und verlässlichen Werten. Daran ist nichts auszusetzen, denn die Fähigkeit zu Wandel und Veränderung setzt ein hohes Maß an Handlungs- und Erwartungssicherheit voraus. Gleichwohl haben sich aber Zeit ihrer Existenz auch die Leitnormen und -bilder der Bundeswehr in einem steten Prozess der Überprüfung, Reininterpretation und Weiterentwicklung befunden, ohne dass dieser jemals zu einem definitiven Abschluss gekommen wäre. Sie scheinen fest und unveränderlich, besonders dort, wo sie in Gesetzestexte oder Dienstvorschriften Eingang gefunden haben oder gar »ewige« Werte aufrufen, und dennoch ist ihre Realisierung nicht denkbar, ohne den geistigen Spagat zwischen Normentreue und Situationsspezifik zu meistern. Die Dauerdiskussionen, die in dieser Hinsicht die auch hierin »unfertige«, das heißt sich wandelnde - Bundeswehr begleitet haben, zeugen also nicht von einem geistigen Mangel- oder Ausnahmezustand, sondern sind die ganz normalen Begleiterscheinungen organisatorischer Entwicklung man denke nur an die inzwischen selbst schon klassische Frage, was denn nun eigentlich (oder: heute) Innere Führung sei oder welches Soldaten- und Offizierbild den jeweils neuesten Erfordernissen gesellschaftlicher, militärischer oder technologischer Entwicklungen am besten entspreche und wie darauf mit den Mitteln von Bildung, Ausbildung und Erziehung zu antworten sei. Wie virulent solche Themen sind und in einer »lernenden Organisation« auch sein müssen, unterstreichen die Beiträge in diesem Abschnitt. Mit den Fragen nach dem Verhältnis von »Kämpfer« und »Denker« (Eckardt Opitz), nach dem Umgang mit der Vergangenheit und den Richtwerten der Traditionspflege (John Zimmermann), nach dem ambivalenten Verhältnis der Jugend zur Bundeswehr (Elmar Wiesendahl) und nach den Maximen des soldatischen Verhaltenskodex (Gerhard Kümmel) sind Probleme berührt, die - gerade weil sie in den unmittelbaren Organisationsalltag der Bundeswehr hineinreichen und unter den Bedingungen beschleunigten Wandels (»Transformation«) eine neuerliche Selbstverständigung, wenn nicht neue Antworten verlangen - kaum anders präsentiert werden können als kontrovers. Dies gilt auch für den Bereich, dem doch noch am ehesten eine feste Gründung im Dauerhaften zugeschrieben werden sollte. Wie der Blick auf die Geschichte der evangelischen Militärseelsorge (Horst Scheffler) aber zeigt, war die seelsorgerliche Betreuung des Soldaten angesichts des Wandels ebenfalls mit der Herausforderung einer dann wiederum strittigen Veränderung konfrontiert. Es zeigt sich daran sehr deutlich, dass eine Historisierung der »alten« Bundeswehr noch lange kein Zurücksinken in unverbindlich-ferne Vergangenheiten bedeutet, aber auch kein ehrfürchtiges Staunen über die so gänzlich fremde Welt von gestern erzeugt. Vielmehr sind die folgenden Beiträge interessante Beispiele einer interventionistischen Geschichtsbetrachtung, deren Anstöße wie Befunde nicht zuletzt in aktuellen Irritationen ihren Ausgangs- und Orientierungspunkt genommen haben, um dann in der Vergegenwärtigung historischer Befunde Argumente zur zeitaktuellen Urteilsbildung zu vorzulegen.

Eckardt Opitz »Kämpfer« oder »Denker«? Der lange und kontroverse Weg zum Studium für angehende Offiziere in Deutschland

I. Einleitung Der in der Überschrift des Beitrags apostrophierte Gegensatz Denker-Kämpfer war nicht nur zu Beginn der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, als es darum ging, Offiziere an Universitäten auszubilden, Gegenstand von vehement ausgetragenen Kontroversen, sondern er ist ein zutiefst historischer, denn er ist seit Jahrhunderten literarisch dokumentiert. Gottfried von Straßburg erzählt in seinem um 1210 entstandenen Epos »Tristan und Isolde« nicht nur eine der klassischen europäischen Liebesgeschichten mit tragischem Ausgang, sondern im - meist wenig beachteten - Anfang auch die Antagonismen einer ritterlichen Karriere: Ein junger Mann, bestimmt für militärische und politische Führungsaufgaben, wird zunächst mit einem »wisen man« auf eine Bildungsreise geschickt »durch vremede Sprache im vremedin land«; darüber hinaus hat ihn ein Exerzitienmeister in jenen Künsten zu unterweisen, die jungen Edelleuten anstehen: Reiten, Waffenführen, Ringen, Schwimmen, Turniere bestreiten und Jagen. Mit Abstand folgt noch, sich in einem Saiteninstrument zu üben. Doch dann hat noch die Auseinandersetzung mit den Büchern zu erfolgen, und das bedeutet das Ende jugendlicher Unbesorgtheit und Freiheit: »der buoche lere und ir getwanc was siner sorgen anevanc1«. Die von Gottfried von Straßburg zu Beginn des 13. Jahrhunderts ausführlich beschriebenen Inhalte und Wertschätzungen blieben bei nur geringen Abweichungen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bestehen. Während des Dreißigjährigen Kriegs klagte der Wedeler Pastor und Dichter Johann Rist darüber, dass Schwerter und Bücher nicht in denselben Händen zu finden seien2. Gottfried von Strassburg, Tristan. Hrsg. von Gottfried Weber, Darmstadt 1983, S. 59 (Vers 2085 f.). Johann Rist[en], Himlischer Lieder [...] das Vierte Zehn, Lüneburg 1642, Dedicatio [sine pagina]; ausführlich zitiert bei: Eckardt Opitz, »Gute Künste, Exercitia, Sprache und Sitten erlernen«. Ein Beitrag zur norddeutschen Adelserziehung im 17. Jahrhundert. In: Quantität und Struktur. Festschrift für Kersten Krüger zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Werner Buchholz und Stefan Kroll, Rostock 1999, S. 366 f.

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Seit der Aufklärung, in Preußen seit Gerhard von Scharnhorst, setzte sich die Auffassung durch, dass der Offizier über ein gewisses Maß an Bildung verfügen müsse, um seinen Beruf ordentlich ausüben zu können. Es dauerte aber annähernd 100 Jahre, bis das Abitur zur Voraussetzung für die Ausbildung zum Offizier gemacht wurde. Das schloss gebildete Offiziere nicht aus. Helmuth von Moltke erhielt den Orden »Pour le merite« sowohl in der militärischen als auch in der Friedensklasse 3 . Ernst Jünger war von Bundespräsident Karl Carstens zu ähnlichen Ehren vorgeschlagen worden, allerdings ohne Erfolg4. Die Reichswehr versuchte einerseits, möglichst viele der alten Traditionen zu pflegen, war aber auch darauf bedacht, Experimente einzugehen, die darauf aus waren, die Fesseln des Versailler Vertrags zu lösen oder sie zumindest zu lockern. Dazu gehörten auch die sogenannten Reinhardt-Kurse, die es einer kleinen Gruppe von Offizieren (1932/33) ermöglichten, in Berlin an der Universität und an der Hochschule für Politik ein Studium zu absolvieren 5 . Der rasche Aufbau der Wehrmacht nach 1935 brachte derartige Experimente zum Erliegen. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ging es vor allem darum, die Verluste möglichst schnell auszugleichen. Bildung und Herkunft spielten, wie Bernhard R. Kroener überzeugend nachgewiesen hat, eine immer geringer werdende Rolle6.

II. Die Himmeroder Denkschrift von 1950

Fragen der Ausbildung zu erörtern gehörte nicht zum Aufgabenkatalog der Expertenkommission. Gleichwohl enthält die Denkschrift einen Abschnitt »VI. Ausbildung« 7 . Darin wird ausgeführt, dass es in der Bundesrepublik zwar eine große Zahl gedienter und kriegserfahrener Soldaten gebe, gleichwohl müsse sorgfältig ausgebildet werden: »Der Ausbildungsstand in der deutschen Wehrmacht wenigstens in den beiden letzten Kriegsjahren war durchaus ungenügend. Wirk-

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Soldatisches Führertum. Hrsg. von Kurt von Priesdorff, Bd 10, H a m b u r g [o.J.], S. 374. Paul Noack, Ernst Jünger. »Eine Biographie«, Berlin 1998, S. 320 f. Rainer Wohlfeil, Reichswehr und Republik (1918-1933). In: Handbuch zur deutschen Militärgeschichte 1648-1939. Hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd 3, Teil VI, München 1979, S. 176 f. Bernhard R. Kroener, Auf dem Weg zu einer »national-sozialistischen Volksarmee«. Die soziale Öffnung des Heeresoffizierkorps im Zweiten Weltkrieg. In: Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland. Hrsg. von Martin Broszat [u.a.], München 1988, S. 651-682. Hans-Jürgen Rautenberg u n d Norbert Wiggershaus, Die »Himmeroder Denkschrift« vom Oktober 1950. Politische u n d militärische Überlegungen für einen Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur westeuropäischen Verteidigung, 2. Aufl., Karlsruhe 1985, S. 49-53.

»Kämpfer« oder »Denker«?

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lieh geschulte Ausbilder waren bei Kriegsende und sind dementsprechend heute nicht sehr zahlreich vorhanden8.« Die Himmeroder Experten wollten sich bei der Ausbildung eng an die »Wehrmächte der Westalliierten« anlehnen; »Paten-Wehrmächte« sollten gesucht werden, deren Vorschriften etc. es zu übernehmen galt. Erst nach Aufstellung der Einheiten sollte die Einrichtung von Waffenschulen erfolgen. Wichtige Teile der Ausbildung sollten im Ausland erfolgen. Wehrmachtstraditionen werden in der Denkschrift nicht erwähnt. Ein Leitbild für den Offizierberuf, etwa das in der Wehrmacht geförderte des Kämpfers, wird nicht genannt. Die Himmeroder Denkschrift entstand im Oktober 1950 unter dem Eindruck des am 25. Juni begonnenen Korea-Kriegs. Eile schien geboten, deshalb galt es primär, ehemalige Soldaten der Wehrmacht auf neue Waffen und Geräte umzuschulen. Erst danach sollten Strukturen für eine künftige Armee im Friedensdienst geschaffen werden. Das Scheitern der EVG und die bei der Aufnahme in die NATO eingegangenen Verpflichtungen zum Aufbau von umfangreichen Streitkräften innerhalb kürzester Zeit setzten die Planer erneut unter Druck und zwangen zu Improvisationen über einen langen Zeitraum hinweg.

III. Planungen im »Amt Blank« Seit 1951 gab es eine Behörde, in der die Vorbereitungen für die Aufstellung eines künftigen deutschen Kontingents im Rahmen der zu schaffenden EVG getroffen wurden, darunter auch das Referat Ausbildung, in dem der Aufbau einer traditionellen militärischen Ausbildungsorganisation geplant wurde. Dabei ist bereits sehr früh die Notwendigkeit betont worden, die für die moderne Kriegführung erforderlichen Spezialisten dadurch zu gewinnen, dass geeignete Offiziere ein Fachstudium absolvierten9. Parallel dazu entwickelten die Mitarbeiter des Referats »Inneres Gefüge« ein grundsätzlich anderes Modell. Sie empfahlen, die künftigen Offiziere so auszubilden, dass dabei die militärfachlichen Elemente mit solchen (sozial-)wissenschaftlicher Provenienz verbunden würden. Wolf Graf von Baudissin und seine Mitarbeiter haben sich mit ihrem Konzept nicht gegen das derjenigen durchsetzen können, die dem Leitbild des Kämpfers verpflichtet waren und die Wissenschaft mit Ideologie verwechselten. Der Druck, unter dem die Bundeswehr nach 1955 aufgebaut werden musste, erlaubte es kaum, konkurrierende Modelle der Offizierausbildung gründlich zu 8 9

Ebd., S. 49. Martin Kutz, Reform und Restauration der Offizierausbildung der Bundeswehr. Strukturen und Konzeptionen der Offizierausbildung im Widerstreit militärischer und ziviler Interessen, Baden-Baden 1982 (= Militär, Rüstung, Sicherheit, 8), S. 25 ff.

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diskutieren oder sich gar auf Experimente einzulassen. Den Mut, etwas ganz Neues zu konzipieren, gab es weder bei den Politikern noch bei den Militärs. Als im Oktober 1952 nach geeigneten Offizieren für den »Lehrstab Bonn« gesucht wurde, gab es einen Kriterienkatalog für die Auswahl: » - einwandfreier Charakter, - hoher Persönlichkeitswert, - hervorragende Bewährung im Kriege, dabei - besonders beim Heer - längere Verwendung an der Ostfront, - schöpferische Begabung, - Lehrbefähigung, - überdurchschnittliches fachliches Wissen und Können«10. Ganz am Ende stand dann noch: »Friedenserfahrung als Erzieher und Ausbilder«. Die Ausbildung künftiger Ausbilder war auf Lehrgänge konzipiert, die in der Regel nicht länger als 10 Wochen dauern sollten. 1954, als fest damit gerechnet wurde, dass es zur EVG und in derselben zu einem deutschen Kontingent kommen werde, hatten sich die Referate im Bonner Amt Blank darauf verständigt, dass eine zweijährige Ausbildung für angehende Offiziere zwar wünschenswert, eine sechsmonatige aber nur zu leisten sei. Die Ausbildung sollte teilstreitkraftspezifisch stattfinden, aber eine »allgemeinwissenschaftliche Ausbildung« enthalten, die - sieht man genauer hin neben politischer Ausrichtung nicht viel mehr als das implizierte, was man Allgemeinbildung nennt. Parallel zu den Planungsaktivitäten im Amt Blank gab es eine breite öffentliche Diskussion über die Inhalte, die bei der Ausbildung der künftigen Offiziere eine Rolle spielen sollten. Die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und mit der Wehrmacht wurde dabei - wenn auch vorsichtig - betont11. Als es konkret darum ging, einen ersten Lehrgang für Offizieranwärter zu konzipieren, den »Lehrgang A«, brachen noch einmal die »Traditionalisten« auf, um gegen die »Reformer« zu kämpfen und Letztere zu besiegen. Der erste Lehrgang fand in Sonthofen statt, auf der ehemaligen »NS-Ordensburg«, die erst auf erheblichen politischen Druck hin den Namen »Generaloberst BeckKaserne« erhielt12. Die Analyse der Planungsjahre ist deshalb nicht leicht, weil die bisher vorliegenden Arbeiten nicht weniger kontrovers sind als die Debatten, die sie zum Gegenstand haben. Über Jahrzehnte wurde der Gegensatz zwischen Reformern (= Baudissin) und Traditionalisten thematisiert und - mit Blick auf die Offizierausbildung - oft auch mit der Dichotomie »Kämpfer-Denker« verbunden, die ja weniger ein Gegensatz als vielmehr - wie das Wort Dichotomie eigentlich besagt - eine Zweiteilung ist. 10 11 12

Zit. nach ebd., S. 29. Schicksalsfragen der Gegenwart. Handbuch politisch-historischer Bildung. Hrsg. vom Bundesministerium für Verteidigung, Innere Führung, 6 Bde, Tübingen 1957-1961. Vgl. Kutz, Reform (wie Anm. 9), S. 42.

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IV. Die Offizierausbildung während der Aufbauphase der Bundeswehr 1 9 5 6 - 1 9 6 4 Obgleich in den Jahren nach 1956 offen nie so ausgesprochen, galt de facto die Devise: So viel Wehrmacht wie möglich, so viel Innere Führung wie nötig. Und an dieser Devise orientierten sich auch Rekrutierung und Ausbildung des Offizierkorps. Während bei den Stabsoffizieren das Prüfverfahren für eine gewisse Auswahl sorgte13, gab es für die Einstellung jüngerer Offiziere, die bereits in der Wehrmacht gedient hatten, weit weniger resolute Einstellungskriterien. Die Bundeswehr brauchte sehr schnell Offiziere im Rang Leutnant bis Hauptmann. Zu denen, die angenommen wurden, gehörten viele, die wenige Jahre später an den Prüfverfahren für den Aufstieg in die Riege der Stabsoffiziere (»Majorsecke«) scheiterten. Dazu kamen die »Spätheimkehrer«, jene Soldaten, die erst nach 1955 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft entlassen wurden und deren soziale Wiedereingliederung häufig durch die Bundeswehr erfolgte. Zu besonderen Diskussionen und nachfolgenden Problemen hat die Übernahme von Angehörigen des BGS in die Bundeswehr geführt. Während bei den jungen Polizeibeamten keine Bedenken bestanden, sie in die neuen Streitkräfte aufzunehmen, waren die Vorbehalte gegenüber den älteren Bewerbern groß; ihnen wurde »Kommissgeist« nachgesagt, nicht zuletzt deshalb, weil sich unter ihnen viele ehemalige Angehörige der Waffen-SS befanden 14 . Aber auch das Drängen auf die Übernahme von BGS-Beamten in die Bundeswehr signalisiert, wie groß der Personalbedarf in den Jahren nach 1956 war. Im Rückblick kann festgestellt werden, dass es eine Orientierung an den allgemeinen Bildungskonzeptionen, die nach der Mitte der 50er Jahre zur Verfügung standen, während der Aufbauphase der Bundeswehr kaum gegeben hat. Die Offizierausbildung orientierte sich am Mangel an Bewerbern und war darauf ausgerichtet, möglichst schnell kurz ausgebildete Offiziere der Truppe zur Verfügung zu stellen. An die Seite der schlecht ausgebildeten Wehrmachtoffiziere traten somit nicht weniger schlecht ausgebildete »Selbstgestrickte«, die als Führer von Wehrpflichtigen bestellt waren, die zu »Staatsbürgern in Uniform« erzogen werden sollten.

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Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik (AWS) 1945 bis 1956. Hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, 4 Bde, München 1982-1997, hier Bd 3, S. 1020 ff. (Beitrag Meyer). Ebd., S. 1141 f.

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V. Der »Drei-Stufen-Plan« von 1963 Ob die Feststellung der Unzulänglichkeit beim Ausbildungsablauf der Bundeswehr 1963 zu einer Rückbesinnung auf Einsichten aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg geführt hat, ist schwer nachweisbar. Immerhin war es Theodor Heuss, der erste Bundespräsident, der 1959 in einer viel beachteten Rede an der Führungsakademie in Hamburg nicht nur den oft zitierten Satz, »>spät kommt er, doch er kommtNur-Fachleute< zu gewinnen.« Neben der Verwirklichung des »Drei-Stufen-Plans« sei auch »die enge Verbindung zu den Universitäten hergestellt« worden19. 15 16 17 18 19

Theodor Heuss, Soldatentum in unserer Zeit, Tübingen 1959, S. 16 f. Jean Jaures, Die neue Armee, Jena 1913, S. 269. Unzureichend: Mark Speich, Kai-Uwe von Hassel - Eine politische Biographie, Phil. Diss. Bonn 2001. Vgl. Kutz, Reform (wie Anm. 9), S. 86 ff. Gerhard Schröder, Der Offizier in unserer Zeit, Bonn 1969, S. 14 f.

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VI. Die Neuordnung von Bildung und Ausbildung in der Bundeswehr nach 1971 Der 1965 eingeleitete Versuch, die Offizieraus- und -Weiterbildung von Grund auf zu reformieren, wurde vor allem wegen des größer werdenden Personalmangels verzögert oder kam gar nicht voran; so ist die Wehrakademie in Hilden über einen Modell-Lehrgang nicht hinausgekommen. Der Neuansatz von 1965 war durchaus modern und fand auch außerhalb der Bundeswehr Anerkennung, er wurde aber durch die immer schnellere Entwicklung in der Gesellschaft, in Wissenschaft und Technik sowie durch den Umstrukturierungsprozess im Bildungswesen überholt 20 . Im Zuge der Bestandsaufnahme, die Helmut Schmidt als Verteidigungsminister nach 1969 für viele Zweige seines Geschäftsbereichs einleitete, wurde auch das Ausbildungswesen untersucht 21 . Den zunehmenden Mangel an Führungspersonal zu beheben - darum ging es vor allem aus militärischer Sicht forderte einschneidende Maßnahmen. Die Bildungskommission, unter dem Vorsitz Thomas Ellweins (eines Professors und nicht eines Generals!) stellte im Mai 1971 in ihrem Gutachten fest: »Der Auftrag der Bundeswehr erfordert die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte. Die Einsatzbereitschaft wird wesentlich von Zahl und Ausbildungsstand der Soldaten bestimmt. Wird die Ausbildung in den Streitkräften verbessert, ist zu erwarten, dass die Bereitschaft zu Erst- und Weiterverpflichtungen wächst. Eine größere Zahl von Bewerbern erleichtert die zur Qualitätssteigerung notwendige Auswahl. Aufgrund einer solchen Auswahl und der anschließenden verbesserten Ausbildung werden Können und Leistungsfähigkeit der Ausbilder gesteigert. Beide bestimmen [...] die Qualität der Ausbildung insgesamt, verbessern das innere Gefüge der Streitkräfte und vermindern ihre Nachwuchssorgen. Verbesserungen im Bereich von Bildung und Ausbildung sind demnach ein wesentliches Mittel zur Erhöhung der Einsatzbereitschaft der Streitkräfte22.« Die Entscheidung, längerdienende Offiziere an eigenen Hochschulen auszubilden und das Studium mit zivil anerkannten Diplomen abzuschließen, ist innerhalb und außerhalb der Streitkräfte heftig diskutiert worden. Dabei war der Vorwurf, die Wissenschaft solle militarisiert werden, genauso absurd wie jener, dass das Studium die Offizieranwärter ihrem Beruf entfremde. Die Diskussion darüber, ob ein wissenschaftliches Studium dem Offizier zuträglich sei, ist auch noch geführt worden, als sich die ersten Absolventen der Hochschulen längst in der Truppe bewährt hatten.

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Vgl. Kutz, Reform (wie Anm. 9), S. 89. Weißbuch 1970. Zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage der Bundeswehr, Bonn 1970, S. 128 ff. Neuordnung der Ausbildung und Bildung in der Bundeswehr. Gutachten der Bildungskommission an den Bundesminister der Verteidigung, Bonn 1971, S. 24.

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Jürgen Brandt, damaliger Generalinspekteur der Bundeswehr, gab in seiner Ausbildungsweisung 1980 zu bedenken: »Langer Friedensdienst kann dazu verleiten, die intellektuellen Fähigkeiten überzubewerten. Aber im Gefecht wiegen die Eigenschaften des Charakters oft schwerer als die des Verstandes23.« Das war eindeutig ein Rückfall in Denkweisen des 19. Jahrhunderts. Das Misstrauen gegenüber dem zivilen Einfluss an den Universitäten war beim Heer besonders groß. Deshalb wollte die größte Teilstreitkraft die Offizieranwärter erst nach der Ausbildung zum Zugführer an die Hochschulen schicken, als militärisch sozialisierte beziehungsweise gefestigte Persönlichkeiten. Erst im Jahre 2005, 32 Jahre nach Eröffnung der Hochschulen, stellte auch das Heer sich auf die von Luftwaffe und Marine von Anfang an bevorzugte Reihenfolge ein: erst Studium, dann militärfachliche Ausbildung. Gerade die Entwicklung nach 1990 hat gezeigt, wie professionell die studierten Offiziere ihre Aufgaben wahrzunehmen vermochten. Das lange gehegte Misstrauen war unbegründet. Inzwischen ist auch untersucht worden, wie die studierenden Offizieranwärter damit fertig werden, sowohl die akademische als auch die soldatische Lebenswelt erkunden zu müssen. Dabei hat sich gezeigt, dass in den letzten Jahren die Attraktivität der zivilen Berufsperspektive zugunsten der soldatischen geringer geworden ist. Aber auch für angehende Berufsoffiziere ist das angestrebte Studienfach von entscheidender Bedeutung. Eine von Arwed Bonnemann 1999 vorgelegte Studie kommt zu folgendem Resümee: Das akademische Studium »hat seit über 20 Jahren für die Offizierausbildung eine Bedeutung angenommen, die nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Das Studienangebot ist zunächst ein Garant dafür, dass der Offizierberuf auch für Studienberechtigte attraktiv wird, die sonst ein Studium an den Landesuniversitäten aufgenommen hätten. Damit nähert sich der Offizierberuf indirekt anderen akademischen Berufen an. Zum anderen hat das akademische Studium in Form seiner Lehrinhalte und der Personen des wissenschaftlichen Bereichs eine entscheidende Sozialisationsfunktion für den Offizierberuf durch die Teilhabe und das Erkennen wissenschaftlicher und allgemein-gesellschaftlicher Abläufe und Prozesse. Gerade die Einbindung in eine gegenüber der soldatischen alternative Lebenswelt macht dieses Ausbildungsmodell so einmalig und so bedeutungsvoll für die berufliche Professionalisierung des Offiziers24.«

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Zitiert nach Kutz, Reform (wie Anm. 9), S. 5. Arwed Bonnemann und Ulrike Hofmann-Broll, Studentische Orientierungen zwischen akademischer und soldatischer Lebenswelt. Evaluation an den Universitäten der Bundeswehr, Baden-Baden 1999 (= Forum Innere Führung, 4), S. 189.

»Kämpfer« oder »Denker«?

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VII. Schlussbemerkungen

Neue Aufgaben erfordern neue Ausbildungskonzepte. Auch tatsächlich oder scheinbar Bewährtes bedarf der Überprüfung. Dabei ergeben sich drei grundsätzliche Orientierungsmuster: a) Eine solide militärfachliche und wissenschaftliche Grundausbildung in etablierten Fächern, kombiniert mit traditionellen militärischen Tugenden und Fähigkeiten, bilden die Basis für die Vermittlung der für die Bewältigung der aktuellen Aufgaben erforderlichen Kenntnisse. b) Eine Ausbildung, die weniger statisch ist, sich vorwiegend an den jeweils aktuellen Anforderungsprofilen ausrichtet, um schnell auf wechselnde Lagen reagieren zu können, d.h. ein hohes Maß an Variabilität aufweist. c) Ein Mittelweg: Eine Ausbildungsstruktur, die statische und variable Module enthält (wobei selbstverständlich auch die statischen Module ständiger Revision bedürfen). Die Entscheidung, die Offizierausbildung der Bundeswehr in einem erheblichen Teil eigenen Hochschulen zu übertragen, war richtig. Dieser Teil der Ausbildung produziert Offiziere, die über ein hohes Maß an generellem Urteilsvermögen verfügen, das sie überdies gründlich trainiert haben. Sie sind imstande, sich nachdenkend mit ihren Aufträgen auseinanderzusetzen, zu denen auch die Anwendung von Gewalt gehören kann. Viele Armeen unserer NATO-Partner streben eine Verstärkung der wissenschaftlichen Elemente bei der Ausbildung ihrer Offiziere an. Sie haben z.B. Kooperationsvereinbarungen mit Universitäten getroffen. Das signalisiert, dass auch dort die soldatische und die akademische Lebenswelt nicht länger Gegensätze sind. Einen so radikalen Schritt, wie ihn die Bundeswehr vor über 30 Jahren getan hat, ist bisher aber keine andere Armee der Welt gegangen. Daraus ergeben sich selbstverständlich Fragen (wie bereits angedeutet): a) Soll die Bundeswehr an dem Modell festhalten, für das sie sich 1972 entschieden hat? b) Was muss sie tun, um die Leistungsfähigkeit dieses Modells zu überprüfen? c) Muss sie nach neuen Lösungen angesichts aktueller Anforderungen an die Streitkräfte suchen? Nach Abschluss der Neustrukturierung muss auch geprüft werden, ob die Ausbildung des Führungspersonals nach wie vor passend ist. Die Bundeswehr besteht seit 50 Jahren; seit 32 Jahren werden Offiziere an Hochschulen beziehungsweise Universitäten ausgebildet. Der Anzug, der eine ganze Generation lang getragen wurde, ist doch - selbst wenn er von bester Qualität war - ganz schön alt geworden. Bedarf es eines neuen Zuschnitts? Das ist eine Frage, die der Historiker nur dann beantworten kann, wenn er sich weit über den Zaun seines eigentlichen Geheges beugt. Ohne die Grenzen seines Faches zu überschreiten, kann er aber feststellen, dass der jahrhundertelang gepflegte Gegensatz zwischen Denker oder auch Wissenschaftler und Kämpfer bei der Definition des Offizierberufs heute jeglicher Aktualität entbehrt.

John Zimmermann Vom Umgang mit der Vergangenheit. Zur historischen Bildung und Traditionspflege in der Bundeswehr Dass die Bundeswehr heute, ein halbes Jahrhundert nach ihrer Gründung, eine Armee ist, die fest verwurzelt inmitten einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft steht, dürfte weithin akzeptiert sein. Ihre Soldatinnen und Soldaten zeigen tagtäglich und gerade unter den lebensbedrohenden Einsätzen überall auf der Welt, dass sie tatsächlich nach den Grundsätzen der Inneren Führung Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in Uniform sind. Die Würde des Menschen ist für sie in Ausbildung und Einsatz so unverletzlich, wie es das Grundgesetz in seinem ersten Artikel fordert. Die durchaus und leider immer wieder zu konstatierenden gegenteiligen Fälle sind in ihrer Zahl dagegen so gering, dass sie weit unter dem gesamtgesellschaftlich festzustellenden Maß stehen. Es sind Einzelfälle - so sehr jeder einzelne Vorfall auch abzulehnen und zu bedauern ist. Das ist das eine Bild, das die Bundeswehr heute abgibt, und darauf können alle Soldatinnen und Soldaten seit ihrem Bestehen stolz sein. Eine effektive Armee in einer Demokratie geschaffen zu haben, die seit nunmehr fünf Jahrzehnten ihren Beitrag zur Erhaltung des Friedens geleistet hat und in den neuen Einsätzen zur Wiederherstellung oder Sicherung des Friedens leistet, ist aller erdenklichen Ehren wert1. Ein anderes Bild der Bundeswehr ist in letzter Zeit vor allem von denen geprägt worden, welche die Entscheidung des Bundesministers der Verteidigung zur Aberkennung des Traditionsnamens »Mölders« heftig - und dies in der Öffentlichkeit - bekämpften. Da wurden Anzeigen geschaltet, Politiker mobilisiert und Kameraden verunglimpft, weil sie anderer Überzeugung waren. Betrachtet man diesen Vorgang näher, so fällt auf, dass der mit weitem Abstand größte Teil der Protestierenden ehemalige Soldaten waren, allerdings mit einem klaren Schwerpunkt auf höhere und höchste Ränge. So liest sich die Unterzeichner-Liste der Anzeige in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom

Siehe dazu die inzwischen rasch nacheinander erscheinenden Veröffentlichungen zur Geschichte der Bundeswehr, hier vor allem: Entschieden für Frieden. 50 Jahre Bundeswehr 1955 bis 2005. Im Auftr. des MGFA hrsg. von Klaus-Jürgen Bremm, Hans-Hubertus Mack und Martin Rink, Freiburg i.Br. und Berlin 2005.

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19. März 2005 beinahe als Ehemaligen-Who's who der Luftwaffe2. Das verwundert den Historiker dann doch und weckt das Interesse für die Hintergründe dieser Feststellung. Bevor der Blick auf die historischen Umstände fällt, erscheint die Klärung vonnöten, was überhaupt Tradition ist und welche Funktion ihr in der Bundeswehr zugewiesen wird3. Nur so erschließt sich die Bedeutung des soeben erwähnten Vorgangs, wie umgekehrt die sogenannte Mölders-Debatte auch einen entsprechenden Klärungsbedarf hat erkennen lassen4. Für die Bundeswehr gilt seit dem 20. September 1982 der Erlass, den der damalige Bundesverteidigungsminister Hans Apel als Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege in der Bundeswehr befohlen bzw. herausgegeben hat5. Dort definiert die Nr. 1 eindeutig: »Tradition ist die Überlieferung von Werten und Normen. Sie bildet sich in einem Prozeß wertorientierter Auseinandersetzung mit der Vergangenheit«, um in Nr. 2 fortzufahren: »Maßstab für Traditionsverständnis und Traditionspflege in der Bundeswehr sind das Grundgesetz und die der Bundeswehr übertragenen Aufgaben und Pflichten.« Damit wird unzweideutig formuliert, dass nichts traditionswürdig sein kann, was nicht mit der Werteordnung der Verfassung konform geht. In der Konsequenz spiegelt sich diese Feststellung unter anderem im Umgang mit Kasernenbenennungen wider, für die Nr. 29 vorschreibt: »Kasernen und andere Einrichtungen der Bundeswehr können mit Zustimmung des Bundesministers für Verteidigung nach Persönlichkeiten benannt werden, die sich durch ihr ganzes Wirken oder eine herausragende Tat um Freiheit und Recht verdient gemacht haben.« Die eindimensionale Rückbesinnung auf rein handwerklich erfolgreiche Militärs ist folglich keineswegs ausreichend, und es steht zu hoffen, dass Debatten 2

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Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 19.3.2005; unter den Unterzeichnern fanden sich 116 ehemalige Soldaten, davon 72 Generale a.D., 21 Obersten a.D., 21 übrige Stabsoffiziere a.D. und zwei Feldwebeldienstgrade a.D. In einer anderen Anzeige in der »Welt« vom 6.6.2005 fordern u.a. 41 Generale, 18 Oberste, 40 übrige Stabsoffiziere und ein Hauptmarvn - alle a.D. - vom Bundesminister der Verteidigung »sein Bekenntnis zum guten und bewährten Soldatentum« und lehnen »eine Traditionspflege ab, die allein auf Widerstand im Dritten Reich oder Aufbaudienst in der Bundeswehr beruhen soll«. Zur Tradition und dem Traditionsverständnis in der Bundeswehr siehe die einzige wissenschaftliche Gesamtdarstellung von Donald Abenheim, Bundeswehr und Tradition. Die Suche nach dem gültigen Erbe des deutschen Soldaten, München 1989 (= Beiträge zur Militärgeschichte, 27), sowie stellvertretend für die Kritiker Ralph Giordano, Die Traditionslüge. Vom Kriegerkult in der Bundeswehr, Köln 2000, und Jakob Rnab, Falsche Glorie. Das Traditionsverständnis der Bundeswehr, Berlin 1995. Als ein Beispiel unter vielen siehe den Leserbrief von Franz Heinrich Kreitz (Tübingen) in der FAZ vom 8.6.2005, der sich stößt an einer: »historisch-methodologischen Sichtweise, die ich nicht billigen kann, denn er [Heiner Möllers; J.Z.] legt an Personen und Geschehnisse der Geschichte [...] Maßstäbe, die sich an den heutigen >Werten< ausrichten«. BMVg Fü S I 3 - Az 35-08-07 vom 20.9.1982, Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege in der Bundeswehr (auch ZDv 10/1, Anl. 2/5), abgedruckt in: Abenheim, Bundeswehr (wie Anm. 3), S. 230-234.

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wie die um den Wehrmachtoffizier Werner Mölders die Rückbindung an Recht und Freiheit nachhaltig verdeutlichen. Dabei gilt es jedoch die Trennlinien zu beachten, die im Erlass zwischen Geschichte, Brauchtum oder Konvention und eben Tradition gezogen werden. Tradition ist Teil der Gegenwart, richtet sich in die Zukunft und zieht dafür die Vergangenheit zurate. Aus jener wiederum können nur solche Taten, Ereignisse und Personen als Beispiel, wenn man so will als Vorbild, dienen, die mit den Grundlagen des Gemeinwesens der Gegenwart übereinstimmen. Da dieses Gemeinwesen, die Bundesrepublik Deutschland, auf Werten beruht wie an erster Stelle der Menschenwürde, wie Freiheit und Gleichheit, folgt unmittelbar, dass Institutionen einer Diktatur für eine Vorbildrolle nicht infrage kommen können. Davon unbenommen ist die Einzelfallprüfung bezüglich der Menschen, die in einer Diktatur lebten. Sie haben - und auch das ist Teil des heutigen Rechtsverständnisses und Menschenbildes - ein Anrecht darauf. Hierfür gelten das Grundgesetz zuerst und dann jene auf ihm basierenden Rechtsvorschriften als Maßstab, für Soldaten also zuletzt der sogenannte Traditionserlass. Das Grundgesetz mit seinen Werten und Normen kann folglich als Filter betrachtet werden, durch den die Geschichte gesiebt werden muss, um Beispielhaftes für die Gegenwart zu finden. Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass alles, was den Filter nicht passiert, aus der deutschen (Militär-)Geschichte getilgt werden soll. Im Gegenteil: Es muss und wird im Bereich der Geschichtswissenschaft aufgearbeitet und in der Bundeswehr auf dem Gebiet der Historischen und Politischen Bildung den Soldatinnen und Soldaten vermittelt. Ernsthaft und sachlich betrieben, kristallisieren sich dann die Ereignisse, Taten und Persönlichkeiten heraus, die sich in der Geschichte beispielhaft um die heute gültigen Werte verdient gemacht haben. Sie sind folgerichtig zu tradieren, alle anderen zu thematisieren; das ist gleichzeitig Aufgabe und Ziel in der Historischen und Politischen Bildung in der Bundeswehr, um am Ende die Ausbildung dessen zu ermöglichen, was die Innere Führung von der Armee als Gesamtkonstrukt fordert: den Staatsbürger, die Staatsbürgerin in Uniform 6 ! Damit ist die Tradition, ist das Traditionsverständnis der Bundeswehr unweigerlich verwoben mit dem Konzept der Inneren Führung: Wer die Innere Führung tatsächlich verinnerlicht hat, kann in der Überlegung zur Tradition zu keinem anderen logischen Schluss gelangen als zur Einsicht, dass es eben nur mit Recht und Freiheit »Entschieden für Frieden« geht, so wie es der Eid des Soldaten auf die Verfassung verlangt. Dafür können Soldaten, die für das genaue Gegenteil standen, kein Vorbild abgegeben, schon gar nicht, wenn sie »nur« Soldaten waren. Wie die Geschichte zeigt, reicht das nicht aus für den »Staatsbürger in Uniform«! Und genau darin liegt historisch betrachtet das Problem, das es nun aufzuzeigen gilt: Die lange Weigerung beziehungsweise die Schwierigkeiten der Soldaten, sich auf die Innere Führung im Truppenalltag 6

Siehe hierzu zuletzt Frank Nägler, Innere Führung: Zum Entstehungszusammenhang einer Führungsphilosophie für die Bundeswehr. In: Entschieden für Frieden (wie Anm. 1), S. 321-340.

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einzulassen, zieht sich nämlich wie ein roter Faden durch die Entwicklungsgeschichte der Bundeswehr 7 . Diese wiederum ist eng verknüpft mit der Entwicklung des politischen Gemeinwesens der Bundesrepublik insgesamt 8 . Eine Diskussion, wie sie unlängst um Mölders geführt worden ist, ist deswegen nicht neu. Sie ist im Gegenteil seit den ersten Überlegungen zur Gründung einer westdeutschen Armee von Anfang an und immer wieder zu beobachten. Bezieht man dann in die Betrachtung mit ein, dass sie darüber hinaus stets aufs Neue mit den gleichen Argumenten polarisierte, wird zweierlei deutlich: Erstens ist die Auseinandersetzung um das gültige Erbe des deutschen Soldaten in letzter Konsequenz nie etwas anderes gewesen als die Auseinandersetzung der bundesrepublikanischen Gesellschaft mit der nationalsozialistischen Vergangenheit; dass sich die Diskussionen um die Tradition stets um die Frage drehten, ob und was aus der Wehrmacht überlieferungswürdig für die Bundeswehr ist, mag dies hinreichend belegen 9 . Zweitens: Gedanken um die Tradition der Bundeswehr machte man sich in der Vergangenheit innerhalb wie außerhalb der Streitkräfte immer nur dann, wenn allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen diese erforderten. Diesen Zusammenhang zwischen dem schwierigen Aufbau der Armee und der westdeutschen Zivilgesellschaft sah bereits Theodor Blank in aller Deutlichkeit10. Vor dem Bundestag erklärte er im Juni 1955: »Wir müssen Streitkräfte aus dem Nichts aufbauen [...] Wir bauen sie zudem in einem Staat auf, der an einer kaum bewältigten Vergangenheit zu tragen hat, in einer jungen Demokratie, die um ihr Ansehen oft noch im eigenen Volk zu ringen hat11.« Wie recht er damit hatte, belegt eine Umfrage aus dem selben Jahr: 1955 fanden nicht nur die kaiserlichen Farben Schwarz-Weiß-Rot mit 43 Prozent mehr Anklang als Schwarz-Rot-Gold mit 38 Prozent; 45 Prozent sahen auch das Kaiserreich als die Zeit an, in der es Deutschland am besten ergangen sei, hart gefolgt von den gerne euphemisierten Jahren des Nationalsozialismus zwischen 1933 und 1939 mit 42 Prozent. Über Menschen wie Göring hatten derweil im Juli 7

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Jörg Echternkamp, Wut auf die Wehrmacht? Vom Bild der deutschen Soldaten in der unmittelbaren Nachkriegszeit. In: Die Wehrmacht. Mythos u n d Realität. Im Auftr. des MGFA hrsg. von Rolf-Dieter Müller u n d Hans-Erich Volkmann, München 1999, S. 1058-1080. Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999; Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung 1945-1955, 5. Aufl., Bonn 1991; Christoph Kleßmann, Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955-1970, Göttingen u n d Bonn 1988. Ulrich de Maiziere, Die Bundeswehr - Neuschöpfung oder Fortsetzung der Wehrmacht. In: Die Wehrmacht (wie Anm. 7), S. 1171-1183; Hans-Adolf Jacobsen, Wehrmacht und Bundeswehr - Anmerkungen zu einem umstrittenen Thema soldatischer Traditionspflege. In: Die Wehrmacht (wie Anm. 7), S. 1184-1191. Zur Dienststelle Blank vgl. Dieter Krüger, Das Amt Blank. Die schwierige Gründung des Bundesministeriums für Verteidigung, Freiburg i.Br. 1993 (= Einzelschriften zur Militärgeschichte, 38). Theodor Blank, Für eine demokratische Volksarmee. In: Bulletin des Presse- u n d Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 178 vom 14. November 1952, S. 1575 f.

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1952 3 7 P r o z e n t d e r B e f r a g t e n e i n e g u t e M e i n u n g , ü b e r Hitler i m m e r h i n n o c h 2 4 Prozent 1 2 . D i e s l a g i n d e s n i c h t daran, d a s s s i c h d i e D e u t s c h e n n i c h t m i t ihrer j ü n g s t e n V e r g a n g e n h e i t b e f a s s t hätten. N e u e r e V e r ö f f e n t l i c h u n g e n b e l e g e n , d a s s s i c h d i e D e u t s c h e n sehr w o h l b a l d n a c h K r i e g s e n d e » g e r a d e z u b e s e s s e n m i t ihrer Vergangenheit u n d deren Identifikationsfiguren beschäftigten«13. Fortsetzungsrom a n e i m L a n d s e r m i l i e u in Illustrierten w i e d e m »Stern« o d e r d e r » Q u i c k « fand e n r e i ß e n d e n A b s a t z , u n d a u c h F u n k u n d F i l m r e a g i e r t e n auf e i n e r h e b l i c h e s Interesse 1 4 . A n v o r d e r s t e r Front w a r e n hier b a l d d i e e h e m a l i g e n G e n e r a l e der W e h r m a c h t z u f i n d e n , d i e m i t i h r e n M e m o i r e n d a s S i n n g e b u n g s k o n s t r u k t ihrer f r ü h e r e n Tätigkeit g a n z s o z u s t r u k t u r i e r e n v e r s u c h t e n , w i e d i e v o r m a l i g e n e i n f a c h e n S o l d a t e n d i e s taten: Sie rekurrierten a l l e s a m t auf e i n e n v e r m e i n t l i c h z e i t l o s g ü l t i g e n m i l i t ä r i s c h e n W e r t e k a n o n m i t d e n S t ü t z p f e i l e r n »Pflichterfüll u n g « , » V a t e r l a n d s v e r t e i d i g u n g « u n d »Ehre« 1 5 . D a s » W o f ü r ? « w u r d e v o n i h n e n freilich n i c h t thematisiert; N a t i o n a l s o z i a l i s m u s u n d Krieg w u r d e n f e i n säuberlich v o n e i n a n d e r getrennt 1 6 .

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Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd 2: Deutsche Geschichte 1933-1990, Bonn 2004 (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung, 463), S. 169, sowie grundsätzlich Rudolf Morsey, Die Bundesrepublik Deutschland. Entstehung und Entwicklung bis 1969, München 1995; Die Republik der fünfziger Jahre. Hrsg. von Jürgen Weber, München 1989. Michael Schomstheimer, Die leuchtenden Augen der Frontsoldaten. Nationalsozialismus und Krieg in den Illustriertenromanen der fünfziger Jahre, Berlin 1995, S. 10, und Michael Schomstheimer, »Harmlose Idealisten und draufgängerische Soldaten«. Militär und Krieg in den Illustriertenromanen der fünfziger Jahre. In: Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944. Hrsg. von Hannes Heer u n d Klaus Naumann, 2. Aufl., Hamburg 1995, S. 634-650, und Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945-1961). Hrsg. von Ursula Heukenkamp. Amsterdam, Atlanta 2001 (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, 50,1 und 2). Wolfgang Schmidt, »Wehrzersetzung« oder »Förderung der Wehrbereitschaft«? Die Bundeswehr und der westdeutsche Kriegs- und Militärfilm in den fünfziger und sechziger Jahren. In: Militärgeschichtliche Zeitschrift (MGZ), 59 (2000), S. 387-405; Bernd Hey, Zwischen Vergangenheitsbewältigung und heiler Welt. Nachkriegsdeutsche Befindlichkeiten im Spielfilm. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU), 52 (2001), 4, S. 229-237; Habbo Knoch, Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001. Zur Verortung insgesamt siehe Krieg und Militär im Film des 20. Jahrhunderts. Im Auftr. des MGFA hrsg. von Bernhard Chiari, Matthias Rogg und Wolfgang Schmidt, München 2003 (= Beiträge zur Militärgeschichte, 59), und die dort angeführte Literatur. John Zimmermann, Das Bild der Generäle - Das Kriegsende 1945 im Spiegel der Memoirenliteratur. In: Der Krieg im Bild - Bilder vom Krieg. Hamburger Beiträge zur Historischen Bildforschung. Hrsg. vom Arbeitskreis Historische Bildforschung, Frankfurt a.M. [u.a.] 2003, S. 187-211; Friedrich Gerstenberger, Strategische Erinnerungen. Die Memoiren deutscher Offiziere. In: Vernichtungskrieg (wie Anm. 13), S. 620-629. Gabriele Rosenthal, Vom Krieg erzählen, von den Verbrechen schweigen. In: Vernichtungskrieg (wie Anm. 13), S. 651-663. Weiterführend siehe Von Boll bis Buchheim: Deutsche Kriegsprosa nach 1945. Hrsg. von Hans Wagener, Amsterdam [et al.] 1997; Harald Welzer, Kumulative Heroisierung. Nationalsozialismus und Krieg im Gespräch zwischen den Generationen. In: Mittelweg 36, 10(2001), 2, S. 57-73, sowie zur Vorgeschichte: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd 9/1 und 9/2: Die deut-

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Damit w a r der Grundstein für ein Erinnerungskollektiv gelegt, das sich nicht nur in beiden deutschen Staaten etablieren konnte 1 7 - u n d damit seine allgemeine Wirkungsmächtigkeit unterstreicht - , es läutete auch einen jahrzehntelangen gesellschaftlichen Prozess ein, der jüngst in die v o n T h o m a s Kühne herausgearbeitete »Viktimisierungsfalle« mündete 1 8 . Insofern ist es also nicht verwunderlich, dass die Anfangszeit der Bundeswehr v o n Soldaten geprägt war, die abseits aller politisch g e w ü n s c h t e n dekretierten Traditionen ihren eigenen U b e r z e u g u n g e n nachhingen und diese in die neue A r m e e mit einbrachten 1 9 . Zeitgleich zur G r ü n d u n g der B u n d e s w e h r gab sich die westdeutsche Gesellschaft hinsichtlich des Nationalsozialismus als »entlastet und entschuldigt« 2 0 . Gedenkrituale wie der seit 1950 in der Bundesrepublik begangene Volkstrauertag trugen d e m auch geschichtspolitisch Rechnung, indem sie ein Bild v o n der W e h r m a c h t transportierten, »das durch soldatische Ehrbegriffe

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sehe Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. Im Auftr. des MGFA hrsg. von Jörg Echternkamp, München 2004/05. Kurt Pätzold, Ihr wäret die besten Soldaten. Ursprung und Geschichte einer Legende, Leipzig 2000; Gerhart Hass, Zum Bild der Wehrmacht in der Geschichtsschreibung der DDR. In: Die Wehrmacht (wie Anm. 7), S. 1100-1112; Jürgen Danyel, Die Erinnerung an die Wehrmacht in beiden deutschen Staaten. Vergangenheitspolitik und Gedenkrituale. In: Die Wehrmacht (wie Anm. 7), S. 1139-1149. Das nahezu deckungsgleiche Vorgehen jenseits der Elbe in der DDR bzw. der NVA belegt den Bedarf einer Wiederverwendung ehemaliger Wehrmachtsoldaten ungeachtet ideologischer Unterschiede. Allerdings wurden sie dort nur zur Gewinnung notwendiger fachlicher Expertisen benutzt und alsbald die meisten wieder entlassen, während dies im Westen nicht geschah. Siehe dazu Rüdiger Wenzke, Das unliebsame Erbe der Wehrmacht und der Aufbau der DDR-Volksarmee. In: Die Wehrmacht (wie Anm. 7), S. 1113-1138; hierzu grundsätzlich Stefan Fingerle, Waffen in Arbeiterhand? Die Rekrutierung des Offizierkorps der Nationalen Volksarmee und ihrer Vorläufer, Berlin 2001; Daniel Niemetz, Besiegt, gebraucht, gelobt, gemieden. Zum Umgang mit ehemaligen Wehrmachtoffizieren im DDR-Militär. In: Deutschland-Archiv, 32 (1999), S. 378-392, sowie zur Verortung Militär, Staat und Gesellschaft in der DDR. Forschungsfelder, Ergebnisse, Perspektiven. Im Auftr. des MGFA hrsg. von Hans Ehlert und Matthias Rogg, Berlin 2004 (= Militärgeschichte der DDR, 8). Thomas Kühne, Die Viktimisierungsfalle. Wehrmachtverbrechen, Geschichtswissenschaft und symbolische Ordnung des Militärs. In: Der Krieg in der Nachkriegszeit. Der Zweite Weltkrieg in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik. Hrsg. von Michael Th. Greven und Oliver von Wrochem, Opladen 2000, S. 183-196. Reinhard Stumpf, Die Wiederverwendung von Generalen und die Neubildung militärischer Eliten in Deutschland und Österreich nach 1945. In: Entschieden für Frieden (wie Anm. 1), S. 73-96; Wolfram Wette, Die deutsche militärische Führungsschicht in den Nachkriegsjahren. In: Lernen aus dem Krieg? Deutsche Nachkriegszeiten 1918 und 1945. Beiträge zur historischen Friedensforschung. Hrsg. von Gottfried Niedhart und Dieter Riesenberger, München 1992, S. 39-66; Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik (AWS) 1945 bis 1956. Hrsg. vom MGFA, 4 Bde, München 1982-1997, hier Bd 1, S. 577-735 (Beitrag Meyer). Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NSVergangenheit, München 1996, S. 20; Hartmut Berghoff, Zwischen Verdrängung und Aufarbeitung. Die bundesdeutsche Gesellschaft und ihre nationalsozialistische Vergangenheit in den fünfziger Jahren. In: GWU, 49 (1998), S. 96-114. Auch juristisch wurde dies entsprechend umgesetzt: Die beiden Straffreiheitsgesetze vom 31.12.1949 und vom 17.7.1954 wurden mit überwältigenden Mehrheiten vom Deutschen Bundestag verabschiedet; Winkler, Der lange Weg (wie Anm. 12), S. 166 f.

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und den Gedanken der Pflichterfüllung bestimmt wurde«21. Der Mythenbildung, wie wir sie bis heute kennen, wurde so ebenso Tür und Tor geöffnet wie der Möglichkeit, in die neue westdeutsche Armee eben dieses vermeintlich Gute und Tradierungswürdige der ehemaligen Wehrmachtsoldaten zu integrieren22. Der argumentative Schulterschluss der vormaligen Wehrmachtsgeneralität in ihren Memoiren mit den Befindlichkeiten ihrer ehemaligen Untergebenen zeigt dabei den Weg, der auch in den Anfängen der Bundeswehr verfolgt worden ist. Im Gegensatz dazu standen von Anfang an die Bemühungen von Gründungsvätern wie Baudissin, die Wehrmacht als Institution eines verbrecherischen Regimes auszublenden, beziehungsweise nur die Vertreter aus ihren Reihen als Vorbilder in die neue Armee zu übernehmen, deren Haltung mit den Werten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik kompatibel war, so die Angehörigen des militärischen Widerstandes23. Aus diesem Grund stellte die Einstellung zum Widerstand, insbesondere dem des 20. Juli 1944, das wesentliche Entscheidungskriterium für den Personalgutachterausschuss bei der Frage nach der Wiederverwendung ehemaliger Wehrmachtoffiziere dar. Im Juni 1951 sprachen sich allerdings nur 40 Prozent aller Deutschen für die »Männer des 20. Juli« aus24. Gleichwohl ist festzustellen, dass der Weg, den die Männer und Frauen des Widerstandes zurückzulegen hatten, um wirklich als traditionswürdig in der Bundeswehr angesehen zu werden, nun schon fast ein halbes Jahrhundert währt. Die Traditionswürdigkeit des Widerstandes ist längst noch nicht bei all ihren Soldatinnen und Soldaten angekommen25. Militärische Tradition aber spielte tatsächlich erst ab 1958 eine relevante Rolle beim Aufbau der neuen Streitkräfte, als mit der Einsetzung des Beirats fiir Fragen der Inneren Führung ein zivil und militärisch besetztes Gremium installiert wurde, das sich immer intensiver mit diesem Thema befasste26. Schon im Blick auf die Tagung in Himmerod ist dagegen von einem namentlich nicht genannten ehemaligen Luftwaffenoffizier die Aussage überliefert, das Wort Tradition werde keinen Platz im Vokabular des zukünftigen deutschen SoldaDanyel, Die Erinnerung (wie Anm. 17), S. 1149. Siehe dazu im Uberblick: Die Wehrmacht (wie Anm. 7). Nachkriegsdebatten und Traditionspflege. Hrsg. von Detlef Bald, Johannes Klotz und Wolfram Wette, Berlin 2001. 23 Wolf Graf von Baudissin, Nie wieder Sieg. Programmatische Schriften 1951-1981. Hrsg. von Cornelia Bürthe und Claus von Rosen, München 1982. 24 Winkler, Der lange Weg (wie Anm. 12), S. 169. 25 p e t e r Steinbach, Widerstand und Wehrmacht. In: Die Wehrmacht (wie Anm. 7), S. 1150-1170; zur unterschiedlichen Wahrnehmung siehe Jürgen Danyel, Der 20. Juli. In: Deutsche Erinnerungsorte. Hrsg. von Etienne Frangois und Hagen Schulze, Bd 2, Sonderausgabe München 2003, S. 220-237. 26 Gerhard Barth, Wie steht die Bundeswehr zur deutschen soldatischen Tradition? In: Information für die Truppe, 1958, S. 4 9 - 5 1 ; Norbert Wiggershaus, Zur Debatte um die Tradition künftiger Streitkräfte 1950-1955/56. In: Hans-Joachim Harder und Norbert Wiggershaus, Tradition und Reform in den Aufbaujahren der Bundeswehr, Herford, Bonn 1985 (= Entwicklung deutscher militärischer Tradition, Bd 2), S. 7 - 9 6 ; Abenheim, Bundeswehr (wie Anm. 3), S. 57-59. 21

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ten haben27. Erst die Einsicht, dass es erstens ein Bedürfnis nach Tradition in den Streitkräften gab und dass sich zweitens dieses Bedürfnis angesichts des Fehlens klarer politischer Richtlinien selbst bediente, führte ab 1959 zu den Überlegungen, die schließlich in den ersten sogenannten Traditionserlass von 1965 mündeten 28 . Dessen Inhalte und Aussagen waren Beleg für die reale Entwicklung der neuen deutschen Armee, in der sich auf der gesamten Breite von der Organisation über die Operationsführung bis hin zum Inneren Gefüge neben vielem Neuen eben auch vieles Alte fand. Traditionalistische und reformistische Strömungen waren hier eine Verbindung eingegangen, die sich mitnichten an der Trennlinie zwischen militärischen und zivilen Aufbauarbeitern scheiden ließ29. Alle Seiten hatten die Notwendigkeiten, aber auch die Möglichkeiten erkannt, die die veränderte politische Weltlage im Zuge der Bipolarisierung und des Kalten Krieges generiert hatte. Deutsche Soldaten wurden wieder gebraucht und waren so als potenzielle Wähler wie als Fachleute gefragt. Nicht nur in Deutschland, auch bei den ehemaligen Kriegsgegnern setzte sich diese Einsicht relativ rasch, spätestens aber mit den Verwerfungen des Korea-Krieges durch 30 . Die sogenannten Ehrenerklärungen Adenauers wie Eisenhowers hatten genau diesen Hintergrund, schienen aber ebenso denjenigen in die Hände zu spielen, die das Ansehen des deutschen Soldaten wiederhergestellt sehen wollten. Und da die ersten Vorgesetzten praktisch auf allen Führungsebenen aus der Wehrmacht stammten 31 , zeitigte dies einen Effekt, den ein Baudissin von Anfang an als problematisch identifiziert hatte: Dass sich nämlich die Vorbilder der jeweiligen Vorgesetzten tradieren würden; ein Personenkreis also, der wohl die Sozialisation der Gründerväter abbildete, nicht aber der gewünschten Sozialisierung in der Bundesrepublik Deutschland nach den Vorgaben des Grundgesetzes entsprach 32 . Besonders die Berufssoldaten neigten schon damals dazu, sich Bei27

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Hans-Jürgen Rautenberg, Aspekte zur Entwicklung der Traditionsfrage in der Aufbauphase der Bundeswehr. In: Tradition als Last? Legitimationsprobleme der Bundeswehr. Hrsg. von Klaus-M. Kodalle, Köln 1981, S. 133-151, hier S. 137. Zu Himmerod siehe auch die Schilderung bei Georg Meyer, Adolf Heusinger. Dienst eines deutschen Soldaten 1915-1964, Hamburg [u.a.] 2001, S. 413-426, sowie S. 510-522 zu dessen Verhältnis zur Inneren Führung. Abenheim, Bundeswehr (wie Anm. 3), S. 34-36. Der Erlass ist abgedruckt auf S. 225-229. Ebd., S. 38 f. Zur Wirkung des »Korea-Schocks« siehe auch Meyer, Adolf Heusinger (wie Anm. 27), S. 399-403; zu den Konsequenzen für die »Wiederbewaffnung« siehe Görtemaker, Geschichte (wie Anm. 8), S. 294-300, sowie grundsätzlich Klaus-Jürgen Bremm, Wehrhaft wider Willen? Die Debatte um die Bewaffnung Westdeutschlands in den fünfziger Jahren. In: Entschieden für Frieden (wie Anm. 1), S. 283-298. Unter den ersten 152 000 Freiwilligenmeldungen, die bis z u m 1. August 1955 vorlagen, befanden sich alleine über 120 000 von ehemaligen Offizieren u n d Unteroffizieren der Wehrmacht (40 613 Offiziere, 87 089 Unteroffiziere); Görtemaker, Geschichte (wie Anm. 8), S. 341. Gotthard Breit, Das Staats- und Gesellschaftsbild deutscher Generale beider Weltkriege im Spiegel ihrer Memoiren, Boppard a.Rh. 1973 (= Militärgeschichtliche Studien, 17). Zur Entwicklung der Bundesrepublik zu einem stabilen Gemeinwesen auf der Basis starker demokratischer Traditionen siehe Gerhard A. Ritter, Über Deutschland. Die Bundesrepu-

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spiele zu wählen, die sich auf Gefechtsführung und -taktik, also das reine Handwerk, beschränkten 33 . Insgesamt waren zwar alle Beteiligten letztlich bereit, die Zeichen der Zeit anzuerkennen, doch galt dies nur für die große Linie; sobald es an die Einzelheiten ging, brachen sich die deutlichen Meinungsverschiedenheiten wieder Bahn34. Diese Einsicht lief freilich völlig quer zum Vorhaben Baudissins, eine »Armee ohne Pathos« schaffen zu wollen, entsprach jedoch der Absicht Heusingers aus dem Jahre 1954: »Nicht daran rühren - eigene Traditionen wachsen lassen«35. Dabei führte das Bild des »neuen« deutschen Soldaten, wie es immer zielstrebiger von Baudissin umrissen wurde, im Kern letztlich nur Gedanken weiter fort, die von den Preußischen Reformern zu Beginn des 19. Jahrhunderts bereits erdacht worden waren 36 . Sie hatten in Überlegungen eines Karl von Rotteck im Vormärz ebenso Eingang gefunden wie in die noch bis zum Ersten Weltkrieg propagierten Vorstellungen der Sozialisten und Sozialdemokraten vom »Bürgersoldaten« 37 . Ideologisch standen sie somit im genauen Gegensatz zu dem Soldatenbild, das bis zum Untergang des »Dritten Reiches« die Realität in den deutschen Streitkräften gebildet hatte. Die Baudissin'schen Gedanken waren folglich keinesfalls neu, an eine tatsächliche Umsetzung war aber noch nie konsequent herangegangen worden. Damit ist die sich rasch entwickelnde Opposition gegen den zu schaffenden »Staatsbürger in Uniform«, wie sie sich in den 50er Jahren - und teilweise bis heute - nicht nur in den Soldaten- und Veteranenverbänden ausbildete, jedoch nur bedingt zu erklären. Die Gegner sahen darin vor allem eine weitere Maßnahme im Rahmen eines groß angelegten Umerziehungsprogrammes der Kriegsgegner. Dem stellten sie ein vermeintlich deutsches Bild gegenüber, das es zu tradieren galt38.

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blik in der deutschen Geschichte, München 1998. Demgegenüber stehen Soldaten, zu deren Militär- und Männlichkeitsvorstellungen gerade jüngst eine richtungweisende Studie vorgelegt worden ist; vgl. Rene Schilling, »Kriegshelden«. Deutungsmuster heroischer Männlichkeit in Deutschland 1813-1945, Paderborn, München [u.a.] 2002. Abenheim, Bundeswehr (wie Anm. 3), S. 73. Ebd., S. 58-66. Zu der Auseinandersetzung um die Orden und der letztlich gesetzlichen Regelung siehe ebd., S. 65 und die Anm. 23; zu diesen und anderen Problemen beim Aufbau der Bundeswehr im Überblick siehe auch Görtemaker, Geschichte (wie Anm. 8), S. 338-347; Winkler, Der lange Weg (wie Anm. 12), S. 146-182. So Heusinger auf der Tagung in Bad Tönisstein am 16./17.9.1954, zitiert nach Rautenberg, Aspekte (wie Anm. 27), S. 143. Zu Heusinger selbst siehe die sich ihrer historischen Persönlichkeit mit unverkennbarer Sympathie nähernde Biographie von Meyer, Adolf Heusinger (wie Anm. 27). Wolf Graf von Baudissin, Die Bedeutung der Reformen aus der Zeit deutscher Erhebung für die Gegenwart. In: Wehrkunde, 7 (1958), S. 81-85; Wolf Graf von Baudissin, Soldatische Tradition und ihre Bedeutung in der Gegenwart. In: Wehrkunde, 5 (1956), S. 430-437. Vgl. z.B. Jean Jaures, Die neue Armee, Jena 1913. Detlef Bald, Militär und Gesellschaft 1945-1990. Die Bundeswehr der Bonner Republik, Baden-Baden 1994, sowie Detlef Bald, Vom Kaiserheer zur Bundeswehr. Sozialstruktur des Militärs, Bern [u.a.] 1981.

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Die Quintessenz dieser Einschätzung zeigte sich schon in den ersten Jahren nach der Gründung der Bundeswehr: Das offiziell implementierte Koordinatensystem des »Inneren Gefüges« kam in der Truppe mehrheitlich nicht an, wurde als »inneres Gewürge« verballhornt oder als »weiche Welle«, mancherorts auch schlicht als »Quatsch« negiert. Angesichts des oktroyierten Charakters der Richtlinien reagierte die Truppe stattdessen mit der Wiederbelebung von Konventionen der Wehrmacht 39 . Spätestens dadurch wurden die ohnehin schon begonnenen, auf die Fixierung einer gültigen Tradition gerichteten Bestrebungen katalysiert. Als absolutes Novum in der deutschen Militärgeschichte unterschrieb der damalige Bundesminister der Verteidigung, Kai-Uwe von Hassel, am 1. Juni 1965 den Erlass »Bundeswehr und Tradition« 40 . Beinahe konsequent hielt die Mehrheit der deutschen Öffentlichkeit die Regelung auf dem Erlasswege für im negativen Sinne typisch deutsch. General a.D. Gerd Schmückle erinnerte sich noch im April 1986 an diesen Vorgang mit den Worten: »Man muß schon Deutscher sein, um schriftlich festzulegen, was Tradition zu sein hat«41. Und so zeigte sich schon bei diesem ersten sogenannten Traditionserlass, dass er, obwohl politisch wesentlich und für die öffentliche Meinung relevant, in der Truppe nicht wirksam wurde. Größtenteils stieß er bei der Mehrheit der Soldaten deswegen auf Ablehnung, weil er bei ihnen schon keinen klaren Konsens vorfand, was Tradition an sich überhaupt sein sollte. Die Verwechselung mit dem Begriff Geschichte beziehungsweise Geschichtsverständnis war von Anfang an sein ständiger Begleiter, was dazu führte, dass die Masse der Vorgesetzten den gesamten Erlass ihren Untergebenen gar nicht vermittelte. Sie bemängelten vor allen Dingen den Umgang mit der jüngsten deutschen Vergangenheit, die eben auch die ganz persönliche Vergangenheit dieser Vorgesetzten war. Genau um diese nicht oder kaum bewältigte Vergangenheit ging es aber inzwischen innerhalb der gesamten westdeutschen Gesellschaft ab Mitte der 1960er Jahre. Eine neue, rein bundesrepublikanisch sozialisierte Generation rückte bisher nicht gestellte oder nicht beantwortete Fragen in den Vordergrund. Die sogenannte 68er-Bewegung war dabei nur Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Umwälzung, die aufgrund der Wehrpflicht und der Verankerung der Bundeswehr im politischen Gemeinwesen nicht spurlos an der Armee vorbei gehen konnte42. Immerhin beförderte sie eine grundsätzlichere Reflexion der jüngsten deutschen Geschichte und gleichzeitig der Umstände der Gründung des eigenen Staates, seiner Verfasstheit und seines Zustandes. Wichtige 39

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Abenheim, Bundeswehr (wie Anm. 3), S. 118 f., sowie ausführlich dazu Hans-Peter Stein, Symbole und Zeremoniell in deutschen Streitkräften vom 18. bis z u m 20. Jahrhundert. 2., Überarb. Aufl., Herford u n d Bonn 1986, S. 127-284. Bundesarchiv-Militärarchiv (BA-MA), BW 2/4238, Fü BI 4 - Az 35-08-07, 1.7.1965, abgedruckt in: Abenheim, Bundeswehr (wie Anm. 3), S. 225-229; zu den Vorentwürfen u n d der Entstehungsgeschichte siehe ebd., S. 130-152. Zitiert nach ebd., S. 130. Gerd Langguth, Die Protestbewegung in der Bundesrepublik Deutschland 1968-1976, Köln 1976; zur sozio-politischen Entwicklung im Überblick siehe Görtemaker, Geschichte (wie Anm. 8), S. 475-524.

Vom Umgang mit der Vergangenheit

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Arbeiten wie die Manfred Messerschmidts43 und Klaus-Jürgen Müllers44 wiesen derweil sehr viel intensivere ideologische Verbindungen zwischen Nationalsozialismus und Wehrmacht nach, als es der bis dato gültige Konsens der »Verdrängungsgesellschaft« zugelassen hatte. Das wiederum rief eben jene Soldaten auf den Plan, die damals in der Wehrmacht und nun in der Bundeswehr gedient hatten und dienten45. Gleich mehrere Krisen waren die Folge, die freilich für sich nicht immer im direkten Zusammenhang mit der Frage der Tradition standen, wohl aber mit den Auswirkungen des Primats der Politik, genauer: mit den zivilen und militärischen Zuständigkeiten beziehungsweise Entscheidungskompetenzen zu tun hatten46. Im Kontext der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der Zeit wurde daraus jedoch rasch eine Diskussion um die Stellung des Soldaten innerhalb der Gesellschaft. Eine Anti-Reform-Bewegung vor allem innerhalb der Heeresführung um Brigadegeneral Heinz Karst, den General des Erziehungs- und Ausbildungswesens im Heer, versuchte diese Situation, in der das demokratische System der Bundesrepublik scheinbar von rechts und links bedroht war, zu nutzen, um nicht nur wider den sich ausbreitenden Zeitgeist vorzugehen, sondern auch gleich den ungeliebten Reformen Baudissins und seiner Inneren Führung den Garaus zu machen. Die dahinterstehende Sprengwirkung zeigte sich in einer Rede des Stellvertretenden Inspekteurs des Heeres, Generalmajor Hans-Hellmuth Grashey, die er im Moltke-Saal der Führungsakademie vor den ersten beiden Jahrgängen hielt, die den Generalstabslehrgang absolviert hatten. Für den aus seiner Sicht besorgniserregenden Zustand der Bundeswehr sah er drei Gründe: erstens die aufgeblasene Bundeswehrverwaltung, zweitens die Rolle des Wehrbeauftragten und drittens eben das Konzept der Inneren Führung; dabei forderte er, »doch endlich die Maske vom Gesicht [zu] nehmen«. Der anwesende Oberst Eberhard Wagemann widersprach ihm zwar sofort vor versammelter Zuhörerschaft, wurde dafür aber von Grashey abgekanzelt; immerhin war es in der Folge dann Grashey, der vorzeitig in den Ruhestand verabschiedet wurde47. Doch dies war nur der Startschuss für eine beinahe anderthalbjährige Diskussion um die Gültigkeit und Beibehaltung der Inneren Führung. Selbst der 43

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Manfred Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS-Staat. Zeit der Indoktrination, H a m b u r g 1969. Klaus-Jürgen Müller, D a s Heer und Hitler. Armee und nationalsozialistisches Regime 1933-1940, Stuttgart 1969 (= Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte, 10). De Maiziere, Die Bundeswehr (wie Anm. 9), S. 1180, spricht noch 1999 davon, d a s s die Wehrmacht ein von Hitler »politisch missbrauchtes Instrument« gewesen sei. Siehe dagegen den Forschungsstand im selben S a m m e l b a n d bei Hans-Erich Volkmann, Von Blomberg zu Keitel - Die Wehrmachtführung und die Demontage des Rechtsstaates. In: Die Wehrmacht (wie Anm. 7), S. 47-65; Hans-Erich Volkmann, Zur Verantwortlichkeit der Wehrmacht. In: Ebd., S. 1195-1222; Gerhard L. Weinberg, Rollen- und Selbstverständnis des Offizierkorps der Wehrmacht im NS-Staat. In: Ebd., S. 66-74; Karl-Heinz Janssen, Politische und militärische Zielvorstellungen der Wehrmachtführung. In: Ebd., S. 75-84. Hans-Jürgen Rautenberg, Streitkräfte und Spitzengliederung - z u m Verhältnis von ziviler und bewaffneter Macht bis 1990. In: Entschieden für Frieden (wie Anm. 1), S. 107-122. Abenheim, Bundeswehr (wie Anm. 3), S. 176-178.

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damalige Bundeskanzler, Kurt Georg Kiesinger, griff in die Debatte ein und stellte am 18. Juni 1969 auf der Hauptversammlung des Bundeswehrverbandes in Bad Godesberg den Staatsbürger in Uniform in Frage48. Bald darauf reagierte auch das Verteidigungsministerium, und der Generalinspekteur forderte die Inspekteure der Teilstreitkräfte auf, Reformierungsvorschläge auszuarbeiten. Während sich Luftwaffe und Marine zurückhaltend dazu äußerten, verlangte der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Albert Schnez, in seinen als »SchnezStudie« bekannt gewordenen »Gedanken zur Verbesserung der inneren Ordnung des Heeres« in der Konsequenz nach dem Soldaten sui generis. Unter anderem interpretierte er dazu die gültige Traditionspflege so, dass die Truppe »zur Geschichtslosigkeit verurteilt und ohne verpflichtendes Traditionsbewusstsein« sei. Dagegen forderte er die politische und militärische Führung auf, sich »klar und deutlich zur deutschen Soldatentradition [zu] bekennen«. Außerdem verlangte er »eine Reform an >Haupt und GliedernBeruf wie jedem anderenTheorie< [Ideal] und >PraxisKrieger< selbst in unterschiedlichen Kulturen zu geradezu erstaunlich ähnlichen (militär-)ethischen Forderungen gelangen«20. 16

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Gerd Hankel, Kriegsverbrechen und die Möglichkeiten ihrer Ahndung in Vergangenheit und Gegenwart. In: Forum >BarbarossaRitterlichkeitpro-female< but because they perpetuate gender stereotypes, their long term consequences may be anything but benevolent 51 .« »Thus, paternalistic chivalry may be a barrier to gender equality 52 .« Die »Anwendung der ritterlichen Höflichkeit gegenüber den Frauen [ist] ein gefährlich wirksames, weil liebenswürdiges und ahnungslos akzeptiertes Mittel [...] das Statusgefälle zwischen Mann und Frau aufrecht48 49 50

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Schmerl/Steinbach, Ritterlichkeit (wie Anm. 45), S. 62. Viki, The >true< romantic (wie Anm. 47). Viki, The >true< romantic (wie Anm. 47). Vgl. auch John T. Jost and Mahzarin R. Banaji, The role of stereotyping in system-justification and the production of false-consiousness. In: British Journal of Social Psychology, 33 (1994), S. 1 - 2 7 . Stephen E. Kilianski, Wanting it both ways: Do women approve of benevolent sexism? In: Sex Roles, September (1998). In: URL: (letzter Zugriff 23.11.2005). Viki, The >true< romantic (wie Anm. 47). Vgl. auch Kilianski, Wanting it both ways (wie Anm. 51); Jost/Banaji, The role of stereotyping (wie Anm. 50).

Ein Offizier und Gentleman

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zuerhalten« 53 . Frauen wirken folglich an der Zementierung des Status quo mit.

V. Schlussfolgerung Die vorangegangenen Ausführungen über den Begriff der Ritterlichkeit und seine Rolle und Bedeutung in der Gegenwart hinterlassen ein ambivalentes Bild: Auf der einen Seite spielt Ritterlichkeit eine maßgebliche Rolle bei der Entwicklung des Kriegsvölkerrechts; auf der anderen Seite kann ritterliches Verhalten als eine wesentliche Ausprägung des subtilen, wohlwollenden Sexismus verstanden werden und in den Streitkräften die Integration von weiblichen Soldaten und die Herausbildung einer modernen Geschlechterordnung in der militärischen Organisation ohne klare Status- und Hierarchieabstufungen qua Geschlechtszugehörigkeit erschweren. Somit bleibt als Aufforderung an die Streitkräfte und ihre Verantwortlichen, die Soldaten und Soldatinnen für diesen Sachverhalt zu sensibilisieren. Aus-, Weiter- und Charakterbildung im Rahmen eines Integrations- oder Gender-Trainings sind einmal mehr die entscheidenden Stichworte.

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Schmerl/Steinbach, Ritterlichkeit (wie Aran. 45), S. 65.

Horst Schettler Von Gruppenseelsorge und Individualseelsorge sowie von kritischer Solidarität und kritischer Sympathie. Entwicklungen in der evangelischen Militärseelsorge im Spiegel der Akten der Gesamtkonferenzen »Also, wie man es macht, ist es falsch!«

I. Die erste Gesamtkonferenz Die erste Gesamtkonferenz fand vom 10. bis zum 17. Dezember 1956 im Pastoralkolleg der Evangelischen Kirche im Rheinland in Rengsdorf bei Neuwied statt1. Die zweiundzwanzig Militärgeistlichen wussten damals allerdings nicht, dass sie die Teilnehmer einer Gesamtkonferenz waren. Einberufen hatte die Verwaltungsstelle für die evangelische Militärseelsorge (Evangelisches Kirchenamt für die Bundeswehr - EKA) beim Bundesminister für Verteidigung in Bonn zum ersten Lehrgang für Pfarrer in der Bundeswehr. Zunächst nicht eingeladen für die volle Dauer wurden die seit April 1956 tätigen Wehrbereichsdekane, weil man ihnen neben bereits drei durchgeführten Dekanekonferenzen keinen weiteren Lehrgang zumuten wollte. Doch diese protestierten sofort, denn sie wollten von dem Tagungsprogramm nicht ausgeschlossen sein. Das zukünftige EKA korrigierte die Einberufung mit einem Schreiben vom 4. Dezember 1956, unterzeichnet von Dekan Albrecht von Mutius, dem späteren dritten Generaldekan, in dem es heißt: »Liebe Brüder! Also, wie man es macht ist es falsch2!« Dieser erste Lehrgang für die Pfarrer in der Bundeswehr ist dann doch gut verlaufen. Im Bericht über diesen Lehrgang wird besonders herausgehoben, dass eine regelmäßige Zusammenkunft der Militärgeistlichen dringend erforderlich ist, weil die Pfarrer ein lebendiges Gemeinschaftsbewusstsein entwickeln müssten und die technische Durchführung ihrer Arbeit einen regelmäßi-

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Vortrag (gekürzt) gehalten auf der 50. Gesamtkonferenz in Lüneburg am 18. Januar 2005. Die Akten zu den Gesamtkonferenzen befinden sich im Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr (EKA) in Bonn unter Az. 36-15-16-01. Nachweise aus diesen Akten werden im folgenden mit EKA und dem betreffenden Jahr benannt. EKA 1956.

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gen Erfahrungsaustausch erfordere. Eine besondere Ausbildung und Schulung benötigten die Pfarrer für den Lebenskundlichen Unterricht3.

II. Drei durchgängige Fragenkomplexe Seitdem haben die Gesamtkonferenzen jährlich stattgefunden. Drei Fragenkomplexe durchziehen alle bisherigen 49 Konferenzen. Sie sind unabhängig vom jeweiligen offiziellen Konferenzthema, und sie sind belegt in den jeweiligen Berichten der Generaldekane. Sie sind in besonderer Deutlichkeit immer dann in den Akten zu finden, wenn diese die Protokolle zur Gruppenarbeit auf den Gesamtkonferenzen ausweisen. Denn die Protokolle geben die Erfahrungen und Einschätzungen der Militärgeistlichen aus den Standorten wieder. Diese drei Fragenkomplexe sind: - die Debatte um den Militärseelsorgevertrag - der Lebenskundliche Unterricht - und die protestantische Existenz, bzw. die Berufsrolle des Militärgeistlichen. Als im Jahr 1959 auf der vierten Gesamtkonferenz in Ratzeburg erstmals Generaldekan Friedrich Hofmann den Bericht des Generaldekans vortrug, legte er dar, dass die Militärseelsorge von vornherein unter anderen Lebens- und Arbeitsbedingungen stehe als andere kirchliche Werke: »Bei der Militärseelsorge sehen wir uns in der eigenartigen Situation, dass die Kirche in einer Synode mit - wie man so schön sagt - überwältigender Mehrheit dieses Werk ins Leben gerufen hat - und dass trotzdem vom gleichen Augenblick an die Existenzberechtigung dieses jungen Werkes angezweifelt wurde, ja wir uns einem organisierten Widerstand gegenübergestellt sehen4.« Diesen Widerstand gegen ihre Arbeit erlebten die Militärpfarrer als demütigend. So ist es verständlich, dass sie mit einer Haltung reagierten, die ihrerseits nicht mehr befragt werden durfte. Im Jahr 1966 tagte die 11. Gesamtkonferenz unter dem Gesamtthema Freiheit und Bindung in Glücksburg. In einer Arbeitsgruppe suchten die Militärpfarrer nach Antworten auf die Fragen, ob es für die Freiheit der Verkündigung in der Militärseelsorge Sicherheiten gebe und ob der Status des Bundesbeamten eine Gefährdung der Freiheit bringe. Im Protokoll der Arbeitsgruppe ist die nicht mehr zu befragende staatskirchenrechtliche Position formuliert: »Einhellig wurde betont, dass der Militärseelsorgevertrag das denkbar größte Maß für die Sicherung der Möglichkeit freier Verkündigung darstellt5.«

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Ebd.

EKA1959. EKA 1966.

Von Gruppenseelsorge und Individualseelsorge

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Diese vermeintliche staatskirchenrechtliche Klarheit blieb unbeeinträchtigt durch die im selben Protokoll als »praktische Erwägungen« zusammengetragenen Anfragen. Damit, dass die rechtliche Basis für die uneingeschränkte Verkündigung gegeben sei, sei aber noch lange nicht gesagt, dass diese Freiheit im praktischen Vollzug der Verkündigung nicht immer wieder infrage gestellt oder gar aufgehoben werde. Das Protokoll nennt dann einige Gefahrenmomente für die freie Verkündigung in der Militärseelsorge. Als erste Gefahr wird die zu große Solidarität mit der militärischen Gruppe angesehen. Sie tauche zwar bei jeder Gruppenseelsorge auf, sei beim Militärpfarrer jedoch besonders groß, weil er ausschließlich an die soldatische Gruppe gewiesen ist, die eine besonders starke Prägekraft besitzt. Die ständig virulenten Vereinnahmungstendenzen auf der mittleren und unteren Ebene des Militärs seien eine ständige Frage an die persönliche Vollmacht des Militärpfarrers. Als eine zweite Gefahr werden Erwartungen des Staates an die Militärseelsorge gesehen, die diese nicht erfüllen darf. Im Protokoll heißt es dazu: »Richtig ist, dass der Staat Erwartungen hegt bezüglich des Dienstes der Militärseelsorge, und zwar für seinen eigenen Bereich. Ihm ist etwas bewusst davon, dass der christliche Glaube, wenn er echt ist, Auswirkungen hat. Es ist theologisch nicht illegitim, wenn der Staat vom Evangelium ordnende und aufbauende Kräfte für die menschliche Gemeinschaft erhofft. Aber die Erwartungen des Staates und die Leitlinien der Verkündigung werden sich nie voll decken, gelegentlich müssen sie sich sogar widersprechen. Die consecutiva fidei dürfen nicht dem militärischen Zweckdenken untergeordnet werden.« Als ein Beispiel für diese Gefahr führt das Protokoll den Lebenskundlichen Unterricht an. Der Staat erwarte vom Lebenskundlichen Unterricht eine Hilfe zum Tragen der Verantwortung als Waffenträger. Er dürfe aber nicht hindern, dass die vom Evangelium geweckte Entscheidungsfreiheit den einen oder anderen der Soldaten auch zum Standpunkt der Wehrdienstverweigerung nötigen könnte. Eine wichtige Frage sei es daher, ob bei den vielfachen Erwartungen gegenüber dem Dienst die Kritik an diesen Erwartungen laut und deutlich genug werden könne. Eine weitere Schwierigkeit sahen die Militärpfarrer darin, dass die Notwendigkeit, mit den Soldaten zusammenzuarbeiten, sie in ihrer kritischen Funktion hemmt. »Man ist schnell bereit, auszubügeln und zu bagatellisieren, weil man schon an die nächsten Terminabsprachen denkt. So kann man um des Arbeitsklimas willen zum Judas werden.« Ferner wird festgehalten, dass das Militär die Militärpfarrer allzu gern auf die Individualseelsorge beschränken möchte. Militärseelsorge als Gruppenseelsorge, die auf das Innere Gefüge einwirkt, werde vielfach als Amtsanmaßung zurückgewiesen. Soldaten lebten gern nach dem Satz, der Himmel gehöre den Spatzen und den Pfaffen, die Welt aber gehört uns. Das Protokoll schließt selbstkritisch mit der Einsicht: »Wir stehen in Gefahr, dass wir um des lieben Friedens willen den Soldaten mitunter notwendige kritische Anfragen ersparen und damit das Evangeli-

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Horst Schettler

um entscheidend verkürzen [...] Wir sehen, im praktischen Vollzug der Verkündigung der Militärseelsorge ergeben [sie] sich immer wieder eine Fülle von Gefahrenmomenten, die die Freiheit der Verkündigung einschnüren können. Diese Gefahren klar zu erkennen und ihnen immer von neuem zu begegnen, das ist [...] die protestantische Existenz des Militärpfarrers 6 .«

III. Gruppenseelsorge und kritische Solidarität Zur Vermeidung der hier aufgezeigten Gefährdungen hat die evangelische Militärseelsorge das anspruchsvolle Konzept der Gruppenseelsorge und der kritischen Solidarität entwickelt. In der Rückschau sagte 1986 der erste Militärbischof Hermann Kunst auf der 31. Gesamtkonferenz in Bad Hersfeld: »Wir sollten eine Gruppenseelsorge für Soldaten aufbauen. Wir wollten [...] uns um Konkretion in Sachfragen mühen und bei jenen Dingen, die in der Entscheidung des Staates allein lagen, die jeweils damit verbundenen ethischen Fragen anmelden und wach halten [...] Ganz gewiss waren Glaube und Gebet das Fundament unseres Dienstes. Aber dies bagatellisiert nicht die Pflicht zu einer Denkleistung. U m sie ging es in allen großen Fragen, die wir angefasst haben 7 .« Militärbischof Kunst fand für die geforderte Denkleistung die Unterstützung der Wissenschaft. In zwei von ihm angeregten Arbeitsgruppen an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (F.E.S.T.) in Heidelberg ließ er für den Unterricht und die Seelsorge der Militärpfarrer die ethischen Konzeptionen ausarbeiten. Die Ergebnisse wurden in zwei Publikationen den Militärpfarrern vermittelt. Die erste war bereits 1959 das von Günter Howe herausgegebene Buch Atomzeitalter - Krieg und Frieden, das die Arbeitsschritte dokumentiert, die zu den Heidelberger Thesen zu Atomzeitalter, Krieg und Frieden führten 8 . Die zweite waren die ab 1965 veröffentlichten drei Folgen der Studien zur politischen und gesellschaftlichen Situation der Bundeswehr9. In der programmatischen Einführung erläuterte der Vorsitzende der Kommission, Professor Georg Picht, das Konzept der Gruppenseelsorge und der kritischen Solidarität. Militärseelsorge sei heute nur noch im größeren Zusammenhang der kritischen Mitverantwortung der Kirche für die Welt, in der sie steht, zu begreifen. Die Kirche habe deshalb in allen Bereichen des Staates und der Gesellschaft die Pflicht, die unbequemen Fragen zu stellen. Obsolet ist hiernach eine Militärseel6 7

8 9

EKA1966. Hermann Kunst, Entstehung und Auftrag der Militärseelsorge. In: Zu verkünden den Reichtum Christi. 30 Jahre Militärseelsorge in der Bundeswehr. Hrsg. vom Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr, Bonn 1986 (= Beiträge aus der ev. Militärseelsorge, 50), S. 20. Atomzeitalter - Krieg und Frieden. Hrsg. von Günter Howe, Witten, Berlin 1959. Studien zur politischen und gesellschaftlichen Situation der Bundeswehr, 3 Bde. Hrsg. von Georg Picht, Witten, Berlin 1965 f.

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sorge in der überlieferten Form der Identifikation von kirchlichem und militärischem Auftrag oder gar in der Form der Unterordnung der kirchlichen Mittel unter militärpolitische Zwecke. Picht entfaltete die These von Militärbischof Kunst, das Pathos der Armee sei der Friede 10 , in dem Anspruch, Militärseelsorge sei im Atomzeitalter nur zu vertreten, wenn sie die radikale Ablehnung jedes heute noch denkbaren Militärsystems als eine gleichberechtigte Möglichkeit christlichen Handelns in ihre Unterweisung einbeziehe 11 . Auf der 11. Gesamtkonferenz im Jahr 1966 in Glücksburg war Generaldekan von Mutius nach dem Tod von Generaldekan Hofmann erstmals für den Bericht des Generaldekans verantwortlich. In dem Wissen, das der Anspruch des Konzepts der Gruppenseelsorge und der kritischen Solidarität nicht gleich von allen Militärpfarrern und Soldaten verstanden werde, erläuterte er die mit diesem Konzept aufgetragene Spannung von Distanz und Solidarität. Was ihm bei dieser ganzen Problematik immer wieder neu klar geworden sei, ist die Bedeutung, die der Begriff der »Spannung« für unser Leben hat. Ohne die innere Kraft, Spannungen auszuhalten - und dazu gehört eine geistige Anstrengung - , seien die Probleme nicht mehr zu bewältigen, und zwar nicht nur gedanklich, sondern auch im Vollzug des Lebens. Dies sei für die Militärseelsorge von großer Bedeutung, aber auch besonders schwer. Denn gerade Soldaten sind Leute, die von ihrem Beruf her vereinfachen müssten, weil sie zum Entschluss und zum Handeln drängen müssen. Daher sei es eine nicht leichte Aufgabe, bei diesen Menschen Verständnis für diese geistige Anstrengung zu wecken, sie zu ermutigen, Spannungen zu verstehen und auszuhalten. Erst diese Situationserhellung verschaffe den Soldaten heute überhaupt die Existenzberechtigung und hindere sie daran, die Dinge zu simplifizieren und damit ihre eigene Aufgabenstellung zu kompromittieren. Generaldekan von Mutius ermutigt Militärpfarrer und Soldaten, die Spannung von Solidarität und Distanz durchzuhalten: »Wenn wir die kritische Solidarität wirklich durchhalten wollen - und wir müssen es - müssen wir immer daran denken, dass Kritik nicht das Primäre in unserem Auftrag ist, sondern in die Verkündigung des Wortes Gottes in Gesetz und Evangelium hineingehört. Denn diese Verkündigung von Gesetz und Evangelium führt in die »Krisis« hinein, der sich auch militärisches Handeln stellen muss, und die etwas anderes ist als übliche Kritik. Je klarer wir also die befreiende Kraft des Evangeliums verkünden, desto eher wird man uns hören, wenn wir kritische Fragen stellen, weil sie dann Ausfluss jener Verkündigung sind12.« Ein Jahr später, auf der 12. Gesamtkonferenz 1967 in Neuendettelsau, erklärte er nochmals sein Verständnis von kritischer Solidarität. »Die Solidarität, um die es bei diesem Stichwort geht, ist die Dahinwendung zum Dienst an die Welt. Es geht hierbei nicht um irgendeine Loyalität. Diesen Begriff [...] sollte man tunlichst vermeiden. 10 11 12

Kunst, Entstehung und Auftrag (wie Anm. 7), S. 21. Studien (wie Anm. 9), Bd 1, S. 8, 12 f. EKA 1966.

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Bei dem Wort >kritisch< geht es nicht um eine allgemeine Kritisiererei, sondern um jene innere Distanz, die aus der Bindung ans Evangelium erwächst. Es geht um jene Krisis, die am Kreuz von Golgatha offenbar geworden ist.« Spezielle Prüfsteine, ob die kritische Solidarität ausgehalten wird, waren ihm die Predigten zu Eid und Gelöbnis und zum Volkstrauertag und die Frage der Kriegsdienstverweigerung. Hierbei sollten die Militärpfarrer den Offizieren dazu verhelfen, die Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung als ein Zeichen der Freiheit zu erkennen, die zu verteidigen ist. Nur unter diesem Gesichtpunkt wird ihnen verständlich werden, warum man dieser Gruppe von Menschen soviel Beachtung schenkt. Im Jahr 1970 auf der 15. Gesamtkonferenz in Bad Gandersheim verdeutlichte Generaldekan von Mutius die Spannung von Solidarität nochmals am Lebenskundlichen Unterricht. Dieser schien ihm besonders bezeichnend zu sein für jenen exponierten Schnittpunkt von Kirche und Gesellschaft, an dem die Militärpfarrer ihren Dienst tun. »Wir alle sind uns klar darüber, was für eine schwierige Aufgabe wir damit übernommen haben [...] Dabei werden wir nicht darum herumkommen, dass Kirche und Staat diesen Unterricht aus sehr unterschiedlichen Intentionen bejahen: Lebensfragen sollen vom Evangelium her interpretiert werden - so sieht es die Kirche. Die Militärseelsorge soll einen Beitrag zur Orientierung des jungen Menschen geben - so sieht es der Staat. Wie wir mit diesen unterschiedlichen Aufgaben fertig werden, wird ein Beitrag zu der gesellschaftspolitischen Aufgabe der Kirche überhaupt sein.« Generaldekan von Mutius sah im Lebenskundlichen Unterricht deshalb für beide Teile ein Risiko: Der Pfarrer sei in der Gefahr, von seinem eigentlichen Auftrag unversehens abzuweichen. Hier müsse er sich ständig kritisch im Zaume halten. Dies gelinge ihm aber nicht durch eine Themenauswahl etwa nur religiöser Dinge, vielmehr nur in der rechten Distanz und Solidarität zur aufgegebenen Fragestellung. Und der Staat werde sich gefallen lassen müssen, dass die Tätigkeit des Pfarrers im Unterricht keineswegs immer nur dem dient, was er sich davon erhofft, im Gegenteil gelegentlich sogar auch einmal eine Infragestellung der militärischen Intention intendiert13.

IV. Erwachsenenbildung und Emanzipation Die 18. Gesamtkonferenz im Jahr 1973 in Bad Nauheim nimmt in der Reihe der Gesamtkonferenzen einen herausragenden Platz ein. Sie war die erste Konferenz nach dem Ausscheiden von Militärbischof Kunst und dem Rücktritt von Generaldekan von Mutius. Sie ist die einzige Konferenz, deren Referate und 13

EKA1970.

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G r u p p e n p r o t o k o l l e v o m E K A in e i n e m T a s c h e n b u c h publiziert w o r d e n sind 1 4 . Ihr T h e m a lautete: Militärseelsorge - ein Beitrag zur Erwachsenenbildung. N a c h drei V o r t r ä g e n zur B i l d u n g s d i s k u s s i o n in Staat, Gesellschaft u n d Kirche w u r d e in z e h n A r b e i t s g r u p p e n diskutiert. Eine A r b e i t s g r u p p e befasste sich mit d e m die d a m a l i g e B i l d u n g s d e b a t t e p r ä g e n d e n Begriff der E m a n z i p a t i o n . Sie differenzierte das V e r s t ä n d n i s dieses Begriffs in funktionale u n d dysfunktionale E m a n z i pation. Im Protokoll ist festgehalten: » U n t e r dysfunktionaler E m a n z i p a t i o n w i r d die g e g e n das j e w e i l i g e S y s t e m gerichtete V e r h a l t e n s w e i s e verstanden. M i t Hilfe v o n K o n f l i k t a u f d e c k u n g o d e r gar P r o v o k a t i o n v o n Konflikten soll das jeweilige S y s t e m nicht nur verändert, s o n d e r n völlig ü b e r w u n d e n w e r d e n . Im H i n t e r g r u n d dieses Em a n z i p a t i o n s m o d e l l s steht die Sicht der Gesellschaft als Konfliktgesellschaft. I m G e g e n s a t z zur dysfunktionalen will die funktionale E m a n z i p a t i o n im R a h m e n des S y s t e m s v e r ä n d e r n d w i r k e n , o h n e die G r u n d l a g e n desselben aufzulösen. D i e funktionale E m a n z i p a t i o n fühlt sich an die V e r f a s s u n g geb u n d e n , sie will v o n der Verfassung, die sie als A n s p r u c h betrachtet, ausgeh e n d , ein M e h r an gerechter Verfassungswirklichkeit 1 5 .« In s e i n e m S c h l u s s w o r t a m E n d e der K o n f e r e n z verknüpfte Militärbischof Sigo L e h m i n g die g e w o n n e n e n Einsichten z u B i l d u n g u n d E m a n z i p a t i o n mit d e m den Militärpfarrern vertrauten K o n z e p t der Gruppenseelsorge u n d der kritischen Solidarität. W i e z u v o r G e n e r a l d e k a n v o n M u t i u s b e n a n n t e Militärbischof Lehm i n g das Risiko für Staat u n d Kirche, w e n n sie sich w i e in der Militärseelsorge aufeinander einließen, weil Solidarität die Bereitschaft voraussetze, sich in der B e g e g n u n g mit d e m a n d e r e n in den a n d e r e n hinein zu verändern. Beide, Kirche u n d Staat, m ü s s t e n dieses Risiko u m ihres A u f t r a g s willen e i n g e h e n u n d wagen. U n t e r A u f n a h m e d e s Arbeitsgruppenergebnisses z u m Emanzipationsbegriff legte Militärbischof L e h m i n g d a n n die K o n s e q u e n z e n für den L e b e n s k u n d l i chen Unterricht dar. Er forderte auf, die funktionale E m a n z i p a t i o n als wesenhaftes E l e m e n t in den L e b e n s k u n d l i c h e n Unterricht einzubeziehen. S o k ö n n e weiterentwickelt werden, w a s im G r u n d g e s e t z des Staates u n d in der Verfassung der A r m e e unter M e n s c h e n w ü r d e , Freiheit u n d V e r a n t w o r t u n g s o w o h l für den Einzelnen als auch für d a s G a n z e verstanden w e r d e . Militärbischof L e h m i n g beschloss sein Fazit mit der W e r t u n g , er k ö n n e im K o n f e r e n z e r g e b n i s nicht nur keinen W i d e r s p r u c h , s o n d e r n ein d u r c h a u s a n g e m e s s e n e s Verhalten der evangelischen Militärseelsorge zu d e m Selbstverständnis der B u n d e s w e h r finden, w e n n sie für den L e b e n s k u n d l i c h e n Unterricht u n d ihren e i g e n e n Vollzug darin die funktionale E m a n z i p a t i o n fordere 1 6 .

14

15 16

Militärseelsorge - ein Beitrag für die Erwachsenenbildung. Eine Dokumentation. Hrsg. vom Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr, Bonn 1973. Militärseelsorge (wie Anm. 14), S. 151 f. Ebd., S. 2 2 - 2 4 .

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V. Keine Zeit für Träumer - tief greifender Bewusstseinswandel - Kurswechsel »Als Militärseelsorge sind wir weder irgendeine austauschbare oder auswechselbare Gruppenseelsorge - falls es so etwas überhaupt geben kann noch gehen wir einfach darin auf, Jugend- oder Männerseelsorge unserer Kirche zu sein. Das Wort Militärseelsorge weist uns immer wieder an die besonderen Fragen und Probleme der Gruppe Bundeswehr, in der wir unseren Dienst tun.« Mit diesen Worten bestimmte im Jahr 1974 auf der 19. Gesamtkonferenz in Bayreuth Reinhard Gramm als neuer Generaldekan in seinem Bericht die Position der evangelischen Militärseelsorge. Zugleich distanzierte er sich von der im Vorjahr konzipierten Leitidee der funktionalen Emanzipation17. Im Jahr darauf, 1975 auf der 20. Gesamtkonferenz in Mülheim an der Ruhr, stellte er einen tief greifenden Bewusstseinswandel fest, erklärte das Ende des Zeitalters »der Träumer, Seher, Propheten und Utopisten« und wies der Militärseelsorge den rechten Kurs zu dem bedrohten, geängstigten, enttäuschten und in jedem Fall skeptischen Menschen18. Mit diesem Ansatz führte Generaldekan Gramm zunächst nahezu unbemerkt die evangelische Militärseelsorge auf einen neuen Kurs. Er löste das bisherige Konzept der Gruppenseelsorge und der kritischen Solidarität auf. Zwar hielt er grundsätzlich am Auftrag der Gruppenseelsorge fest, sprach selbst jedoch - besonders wenn er das Verhältnis von Militärseelsorge und Innerer Führung reflektierte - von der Humanisierung des Menschen und seiner Lebensbedingungen militärischen

Alltags

Humanisierung

( 1 9 7 6 i n B a d Z w i s c h e n a h n ) , v o n d e r Humanisierung

im Interesse

der Streitkräfte

des Menschen

des

(1979 in Malente) u n d v o n der

(1981 in N e u - U l m ) . D e n A n s p r u c h der

kritischen

Solidarität wandelte er in eine kritische Sympathie. In einem Vortrag auf der Gl/Al-Tagung an der Schule der Bundeswehr für Innere Führung in Koblenz im Jahr 1978 sagte er: »Statt kritischer Solidarität gebrauche ich heute einmal den Begriff der kritischen

Sympathie.

Sympathie gegenüber der Bundeswehr heißt nicht: Ich finde Dich, liebe Bundeswehr, sympathisch, nett, attraktiv. Sympathie - aus dem Griechischen kommend - heißt ursprünglich Mitleiden, Mitfühlen. Sympathie gegenüber der Bundeswehr gibt jenem Zerrbild von Kirche den Abschied, die meint, fernab von den Niederungen einer hominisierten, aber nicht humanisierten Welt, auf der einsamen Spitze eines hohen Turmes zu stehen, um als tugendreiner und allwissender Wächter den tief drunten armen, sich plagenden Zeitgenossen christliche Rezepte für ihre Dreckarbeit zu geben19.« 17 18 19

EKA1974. EKA 1975. Reinhard Gramm, Militärseelsorge und Innere Führung. In: Information für die Truppe, 1978, 11, S. 32-51, Zitat S. 48-50. Nachgedruckt in: Streitkräfte im Wandel. Soldat Schutzmann für den Frieden. Hrsg. vom Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr, Hannover 1990, S. 174-187, Zitat S. 185.

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Mit dieser Akzentverschiebung von der kritischen Solidarität zur kritischen Sympathie hat die evangelische Militärseelsorge die bisherige kritische und emanzipatorische Ausrichtung in ihrer Arbeit verloren.

VI. Der Bedingungsrahmen militärischer Gewaltanwendung Am deutlichsten zeigte sich der Kurswechsel in der Frage nach der ethischen Legimitation der militärischen Gewaltanwendung. Unter dem Gesamtthema Macht und Gewalt - dem Frieden verpflichtet stellte sich die evangelische Militärseelsorge auf der 21. Gesamtkonferenz im Jahr 1976 in Bad Zwischenahn dieser Frage. Schon im Offizierbrief Nr. 10 (1975) hatte Militärdekan Winfried Sixt (Mainz) gefragt, was zu tun sei, wenn die Abschreckung versagt. Man meinte, die von Georg Picht im Jahr 1965 gegebene Antwort reiche nicht mehr aus, jeder Soldat wisse, dass er nicht mehr dazu da sei, den Krieg zu führen, sondern ihn zu verhindern 20 . Auf dieser Gesamtkonferenz diskutierten die Militärpfarrer einen von Generaldekan Gramm kurz zuvor vorgelegten Bedingungsrahmen militärischer Gewaltanwendung. Nach ihm wäre für einen Christen die Teilnahme an einer militärischen Gewaltanwendung möglich, denkbar oder notwendig, wenn dieselbe 1. als allerletztes Mittel 2. im ausschließlichen Dienst der Verteidigung 3. mit angemessenen militärischen Mitteln 4. bei maximaler Schadensbegrenzung 5. in verantwortbarer Zielsetzung 6. zum Zweck der Wiederherstellung des Friedens 7. in ständiger Bereitschaft zur Verhandlung geschieht 21 . Im schriftlich herausgegebenen Konferenzergebnis wurde zwar noch anerkannt, dass der Einsatz des Christen für den Frieden die persönliche Bereitschaft zum Leiden, zum Opfer, zum Gewaltverzicht und zum Martyrium einschließe. Doch diese besonderen christlichen Strategie-Elemente (Leiden, Verzicht, Hingabe) seien im Hinblick auf die Verantwortung für diese Welt nur begrenzt anwendbar. Was einzelne Christen auf sich nähmen, könne für eine pluralistische Gesellschaft nicht verpflichtend gemacht werden. Sie bilde mit dem ganzen Volk eine unteilbare Verantwortungs-, Haftungs- und Schuldgemeinschaft 22 .

20 21

22

Studien (wie Anm. 9), Bd 1, S. 21. Reinhard Gramm, Der Friede ist ein ernster Fall. In: Konflikt um den Frieden. Hrsg. vom Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr, Bonn 1976 (= Beiträge aus der ev. Militärseelsorge, 17), S. 13. Konferenzergebnis. In: Macht und Gewalt - dem Frieden verpflichtet. Hrsg. vom Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr, Bonn 1976 (= Beiträge aus der ev. Militärseelsorge, 18), S. 42-45.

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Die Stimmungslage auf dieser Gewaltkonferenz traf Militärbischof Lehming in seinem Schlusswort: »Wenn man heute über den Frieden spricht, dann kann man die Meinung hören, der Friede sei schon hinreichend definiert mit der Abwesenheit von Krieg. Wir wollen nicht gering davon reden, dass der Krieg abwesend ist. Man kann aber auch davon reden hören, dass der Friede ein Prozess sei [...] Und deswegen möchte ich jetzt zu diesem Frieden als Prozess etwas sagen: Ich glaube nicht, dass wir noch sehr lange die Chance haben - und dies sage ich als Ergebnis meiner Beurteilung der politischen Situation, in der wir leben - vom Frieden als einem Prozess zu sprechen23!« Wenn Militärbischof Lehming die Rede vom Frieden als Prozess ansprach, nahm er ein in der damaligen evangelischen Militärseelsorge geläufiges Argumentationsmuster auf. Militärbischof Kunst hatte an der F.E.S.T. in Heidelberg nämlich noch eine dritte Kommission mit Studien zur Friedensforschung und Friedensethik beauftragt. Die seit dem Jahr 1969 vorgelegten Studienergebnisse24 wurden von den Militärpfarrern in Unterricht und Seelsorge übernommen, vor allem das von Gerhard Liedke und Wolfgang Huber entwickelte Paradigma vom Frieden als Prozess und als Mehrebenenproblem. Beschrieben wurde der Friedensprozess als Minimierungsprozess in den Dimensionen der Gewalt, der Not, der Unfreiheit und der Angst auf den Ebenen und in den Bereichen des Individuums, der Kleingruppen, der Großgruppen, der Gesellschaft, der Region und der Welt25. Militärbischof Lehming fürchtete allerdings, für einen solchen Prozess bliebe keine Zeit, weil die Kraft des Faktischen der militärischen Potenziale umschlagen könnte in den Konflikt. Die Völker glitten dann in den Krieg und die Lichter gingen aus in Europa. Diese Furcht vor einem neuen Weltkrieg ängstigte nicht nur den Militärbischof. Carl Friedrich von Weizsäcker hatte in seinem Buch Wege in der Gefahr dem Thema der 22. Gesamtkonferenz im Jahr darauf in Freiburg - die Wahrscheinlichkeit des dritten Weltkrieges analysiert. Der britische General Sir John Hackett veröffentlichte eine Studie in der Form eines Romans mit dem Titel Der dritte Weltkrieg. Hauptschauplatz Deutschland. In der hier angenommenen politi-

schen und militärischen Lage war der Beginn des dritten Weltkrieges auf den 4. August 1985 datiert. Verteidigungsminister Georg Leber schrieb in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (12.2.1979): »Der Krieg ist machbar26«. Die evangelische Militärseelsorge hatte die Ängste und Sorgen vor einem Krieg schon vor der erst nach dem NATO-Doppelbeschluss im Jahr 1979 rasch wachsenden Friedensbewegung wahrgenommen und nach Antworten auf die 23 24

25

26

Ebd., S. 48. Studien zur Friedensforschung. Hrsg. von Georg Picht und Heinz Eduard Tödt, 15 Bde, Stuttgart 1969-1976. Siehe auch: Gerhard Liedke, Das christliche Verständnis von Schalom. In: Militärseelsorge im Dialog. Ein Dienst der Kirche in der Bundeswehr, Bielefeld, Frankfurt a.M. 1975, S. 35-42. Carl Friedrich von Weizsäcker, Wege in der Gefahr, München 1969; John Hackett, Der dritte Weltkrieg. Hauptschauplatz Deutschland, München 1987; Georg Leber, Der Krieg ist machbar. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 12.2.1979.

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Fragen nach den Konsequenzen für die Soldaten gefragt. Vier Jahre nach der Gesamtkonferenz in Bad Zwischenahn, im Jahr 1980 auf der 25. Gesamtkonferenz in Saarbrücken, hat Generaldekan G r a m m dann den Kurswechsel in seinem Bericht bestätigt: »Nachdem lange v o m Offizier als einem Beruf wie jedem anderen gesprochen wurde, hat die Evangelische Militärseelsorge kritisch gegensteuernd seit einigen Jahren auf die herausgehobene Verantwortung des Soldaten für Töten und Sich-Töten-lassen hingewiesen [...] Unsere Aufgabe wird es d a r u m bleiben, die damit verbundenen Fragen von Macht, Gewalt, Frieden, Bedingungsrahmen, Verantwortungs-/Konfliktethik, Notwehr, Nothilfe, Schuld, Schuldübernahme und Rechtfertigung weiter zu bedenken 2 7 .« Einzelnen Widerspruch gab es gegen die in Bad Zwischenahn eingenommene friedensethische Ausrichtung schon während der Konferenz und in der Nacharbeit. Die Akten belegen kritische Stellungnahmen der Militärdekane Hartmut Heinrici (Evangelischer Wehrbereichsdekan I, Kiel) und Joachim Beer (Neubiberg) sowie der Militärpfarrer Wilhelm Drühe (Düsseldorf), Rolf Bick (Friedewald) und Bernd Kunhardt von Schmidt (Washington, USA). Heinrici zeigte die veränderte Berufswelt der Soldaten in der Bundeswehr auf, in der man weder eine einheitliche Motivation für das Soldatsein noch eine allein militärische Ausbildungssituation zum Waffenhandwerker für ethische Entscheidungskriterien voraussetzen könne. Beer und Drühe erinnerten an das gewaltfreie Zeugnis des Jesus von Nazareth und befürchteten einen ideologischen Gebrauch der Begriffe Verantwortungs-, Haftungs- und Schuldgemeinschaft. Kunhardt von Schmidt fragte präzise, ob jetzt die kritische Solidarität epochal abgeschlossen sei und ob poimenetisch, also seelsorgerisch, eine neue Epoche eingeläutet werden soll 28 . Nachdrücklichen Widerspruch erfuhr die evangelische Militärseelsorge aus der Evangelischen Kirche in Deutschland. Besonders heftig reagierte die Evangelische Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer (EAK) in Bremen. Die EAK befürchtete, die evangelische Militärseelsorge gebe mit ihrem Konferenzergebnis die kirchliche Gemeinschaft auf, die von der Synode der EKD in Berlin-Spandau 1958 im Synodalbeschluss Wir bleiben unter dem Evangelium zusammen formuliert wurde und über die Komplementaritätsformel der Heidelberger Thesen von 1959 und der Losung Friedendienst mit und ohne Waffen vom Kirchentag in Hannover 1967 durchgehalten worden war. Der Hamburger Pastor Martin Hennig brachte mit seiner Kritik die Argumente des Widerspruchs auf den Punkt: »Es berührt eigentümlich, wenn die in der Bundeswehr tätigen Seelsorger Thesen veröffentlichen, die sich weithin als Rechtfertigung gängiger militärpolitischer Strategien lesen, wie sie auch in N A T O - D o k u m e n t e n zu lesen sind. Die mit der Komplementaritätstheorie angedeutete Spannung zwischen konsequenter Ablehnung des Waffendienstes einerseits und der Billigung des Krieges unter bestimmten Bedingungen andererseits ist mit dem 27 28

EKA 1980. EKA 1976.

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Arbeitsergebnis der Militärpfarrer-Konferenz vom April 1976 aufgehoben zugunsten einer Rechtfertigung des Krieges in Anlehnung an die UNCharta. Diese ist an die Stelle theologisch verantwortbarer Kriterien getreten29.« Kirchenpolitisch gerieten die evangelischen Militärpfarrer innerhalb der EKD und in den Landeskirchen noch weiter in die Rolle der Außenseiter, wenn auch der aufgebrochene friedensethische Konflikt in zwei Krisengesprächen zwischen den Leitungspersönlichkeiten der EKD und der evangelischen Militärseelsorge entschärft wurde. Die Militärpfarrer rückten positioneil noch enger zusammen. In informellen Gesprächen versicherte man sich, die echten Freunde seien die Soldaten, besonders die Offiziere; die Feinde aber säßen in den Kirchen. Generaldekan Gramm muss diese Entwicklung vorausgesehen haben. In der Vorbereitung zur Gesamtkonferenz in Bad Zwischenahn schrieb er in einem Arbeitspapier über die Gefahren des Themas: »Da Kontroverspunkte aufgezeigt werden müssen, droht eine Polarisierung innerhalb der Pfarrerschaft. Um sie zu vermeiden, müssten die Ergebnisse nicht als gusseiserne Dogmatik, sondern als zu bedenkende Bausteine deklariert werden [...] Um Gefahren zu begrenzen, müsste von vornherein auf bestimmte Begriffe und Gefahrenfälle verzichtet werden. Wiewohl die in der Lehre vom gerechten Krieg enthaltenen Kernpunkte erläutert werden müssen, darf der Begriff selbst nicht genannt werden30.« In der Sache hat die evangelische Militärseelsorge ihren Kurs durchgehalten. Ein Beleg hierfür ist das im Jahr 1985 vom EKA herausgegebene Arbeitsbuch De

officio. Zu den ethischen Herausforderungen

des Offizierberufs31.

Angehalten hat

auch die von vielen Militärpfarrern als Kränkung erlebte Stigmatisierung durch Kollegen in den Kirchen. Verschärft wurde diese Entwicklung, als im Zuge der Einheit Deutschlands zunächst nach 1990 nicht eine einheitliche evangelische Militärseelsorge in den Streitkräften des vereinten Landes aufgebaut werden konnte, sondern eine weitere Strukturdebatte um den Militärseelsorgevertrag und mögliche Alternativen in der EKD sowie in den west- und ostdeutschen Landeskirchen eröffnet wurde.

VII. Einsatzbegleitung und Individualseelsorge Infolge der Wiedervereinigung Deutschlands übernahm die Bundeswehr seit 1991 in einem sich ständig ausweitenden Umfang weltweit Einsätze im Ausland. Hierbei war von Anfang an unstrittig, dass die Militärpfarrer die Soldaten 29 30

31

EKA 1976. EKA 1976 - Der Militärgeneraldekan, Bonn-Bad Godesberg, 26.5.1975, Betr.: Gesamtkonferenz 1976 Bad Zwischenahn; hier: Überlegungen zum Konferenzthema »Gewalt«. De officio. Zu den Herausforderungen des Offizierberufs. Hrsg. vom Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr, Hannover 1985.

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begleiten. Dabei sollten sich die Militärpfarrer nach Weisung der Leitung der evangelischen Militärseelsorge aus den - anfangs unter den Soldaten kontrovers diskutierten - politischen und militärischen Fragen heraushalten. Militärbischof Hans-Georg Binder schrieb an die Militärpfarrer, es sei nicht ihre Aufgabe, politische und juristische Antworten zu geben. Die Ordination verpflichte den Militärpfarrer, die Soldaten als Gemeindeglieder seelsorgerlich zu begleiten, unabhängig davon, ob er den militärischen Einsatz bejahe oder nicht32. Militärbischof Hartmut Löwe bekräftigte diese Einstellung: »Pfarrer lassen Soldaten nicht im Stich, wenn es kritisch wird. Der Hirt gehört zu seiner Herde, der Militärpfarrer zu den ihm anempfohlenen Soldaten 33 .« Beide Militärbischöfe sahen die Aufgabe des Militärpfarrers vorrangig im persönlichen Gespräch mit den Soldaten, diesen zu Klärungen zu verhelfen (Binder), bzw. in der Grenzsituation militärischer Gewaltanwendung und damit extremen Lebenssituation ein Gesprächspartner zu sein (Löwe) 34 . Konzeptionell hat sich die evangelische Militärseelsorge mit der Ausrichtung auf das seelsorgerliche Gespräch ganz der Individualseelsorge zugewandt. Wie sich dies auf das Berufsverständnis des Militärpfarrers auswirkt, zeigt das Protokoll einer Arbeitsgruppe der 39. Gesamtkonferenz aus dem Jahr 1994 in Bad Segeberg. Die Konferenz stellte sich der Herausforderung der Seelsorge im Auslandseinsatz unter dem Thema Begleiten - Mahnen - Trösten - wie viel Seelsorge schuldet die Kirche den Soldaten in Krise und Konflikt? Die Militärpfarrer einer Arbeitsgruppe befassten sich mit der Frage, wie der Militärgeistliche bei einem Einsatz im Ausland vor Ort arbeiten könne. Sie stellten fest, es sei wünschenswert, dass der Militärpfarrer in Entscheidungsgänge der militärischen Führung einbezogen werde. Diese Erwartung lasse sich noch im Sinne eines Konzepts von Militärseelsorge als Gruppenseelsorge verstehen. Die Arbeitsgruppe fügte aber hinzu, die Einbeziehung in die Entscheidungsgänge der militärischen Führung sei wünschenswert, »insoweit sie sich auf das persönliche Ergehen des Einzelnen beziehen« 35 . Hier begreift sich Militärseelsorge ausschließlich als Individualseelsorge. Dass die Evangelische Kirche in Deutschland diese Entwicklung zur Individualseelsorge mit ihrer Synodalentscheidung vom 7. November 2002, innerkirchlich statt von Militärseelsorge von Seelsorge in der Bundeswehr zu sprechen, verstärkt hat, sei als Randnotiz hier angemerkt.

32 33

34

35

EKA, Verteiler D, 30.7.1992. H a r t m u t Löwe, Dürfen Militärpfarrer Soldaten in Kampfeinsätze begleiten? In: Für Ruhe in der Seele sorgen. Evangelische Militärpfarrer im Auslandseinsatz der Bundeswehr, Leipzig 2003, S. 46. Hierzu auch Peter Michaelis, Die neue Herausforderung - Seelsorge im Auslandseinsatz In: Zwischenbilanz. Hrsg. v o m Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr, Leipzig 2003, S. 1 2 8 - 1 4 0 . E K A 1994.

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VIII. »Wie man es macht, ist es falsch« »Also, wie man es macht, ist es falsch!« Dieser Satz zum Auftakt in der Planung eines Lehrgangs, aus dem die Konferenzfolge erwuchs, deren 50. Tagung unlängst stattgefunden hat, sagt ja nicht, dass alles falsch war. Er besagt, was man tut, hätte oft auch anders getan werden können. Er verhindert, dass Bestehendes als absolut gesetzt wird. Er verhindert einseitige Sichtweisen. Militärseelsorge vollzieht sich nicht nur in der Gruppenseelsorge. Militärseelsorge beschränkt sich nicht ausschließlich auf Individualseelsorge. Sie bedarf immer der kritischen Solidarität und bisweilen auch der kritischen Sympathie. In seinem letzten Bericht auf der 36. Gesamtkonferenz im Jahr 1991 in Friedrichshafen wandte sich Generaldekan Reinhard Gramm gegen das Denken in falschen Alternativen, etwa der Militärpfarrer sei der Verkündiger des Evangeliums oder der Gruppenseelsorger. Dann aber sprach er ein Vermächtnis zugunsten der Gruppenseelsorge: »Beim Gruppenseelsorger kommt hinzu, dass er der besonderen Lage seiner Gemeindeglieder Rechnung trägt. Er hat die Umwelt zu erforschen, in der seine Botschaft verkündigt werden soll, er hat in die Welt der Hörer einzutreten, sie aufzusuchen und zu verstehen [...] Darum ist die Militärseelsorge nicht nur eine Ortsangabe, sondern auch eine Inhaltsangabe. Durch den besonderen Ort, an dem wir stehen, ergeben sich auch Inhalte, die in dieser Ausprägung in der übrigen Kirche nicht vorkommen und nicht vorkommen können36.« Diesem Wort zur Gruppenseelsorge lässt sich ein Wort zur kritischen Solidarität, genau eigentlich zu den Folgen der kritischen Solidarität, anschließen. Der inzwischen verstorbene Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Peter Beier, sah in seinem Vortrag zum Konzept der kritischen Solidarität im Jahr 1993 auf der 38. Gesamtkonferenz in Daun i.d. Eifel das Kritische in den Kriterien des Evangeliums gegeben, um dann zu folgern: »Gute Militärseelsorge erweist sich eben darin, dass sie an ganz bestimmten entscheidenden Punkten den Mut hat, sich zwischen die Stühle zu setzen37.«

36 37

EKA1991. Peter Beier, Das Konzept der kritischen Solidarität und der Dienst der Kirche in den Streitkräften. In: Kirche unter den Soldaten. Beiträge aus der Evangelischen Militärseelsorge I. Hrsg. vom Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr, Bonn 1993, S. 49-55, Zitat S. 54.

III. Westdeutsche Sicherheitspolitik und Streitkräfte in der medialen Öffentlichkeit und politischen Kommunikation

Wolfgang Schmidt Westdeutsche Sicherheitspolitik und Streitkräfte in der medialen Öffentlichkeit und politischen Kommunikation. Eine Einführung Es waren sicherlich nicht die Bilder, derer man sich erinnerte, als über 50 Medienvertreter z.B. unter der Überschrift »Erfreulich zivil« (Frankfurter Rundschau) der Öffentlichkeit von der Aushändigung der Ernennungsurkunden an die ersten Freiwilligen der neuen Bundeswehr am 12. November 1955 berichteten 1 . Und das lag gewiss nicht nur an dem Neuen, was man sah und hörte. Keiner intonierte den Parademarsch. Lediglich 12 von 101 Soldaten hatten eine schlichte mausgraue Uniform zweireihigen Zuschnitts, die keinerlei Ähnlichkeiten mit traditioneller deutscher Uniformmode aufwiesen. Der Rest trug Straßenanzüge und ließ eine augenscheinliche Zivilität erkennen. Nur mäßig schmückten wenige Blumenbuketts, ein übergroßes Eisernes Kreuz als plakative Reminiszenz vergangener militärischer Zeiten und schwarz-rot-goldene Fahnen an der Wand als Symbole der demokratischen Gegenwart die zur Feierstunde dekorierte Ausbildungshalle der alten Ermekeil-Kaserne in Bonn. Auch am 20. Januar 1956, dem von den Streitkräfteplanern zum eigentlich ersten öffentlichen Auftritt der neuen Streitkräfte bestimmten Tag, konnten die Bild- und Printmedien keine martialisch inszenierten westdeutschen Soldaten der Öffentlichkeit präsentieren 2 . Allzu unfertig, behelfsmäßig und stockend gingen die ersten Schritte des meist mit veralteten Waffen aus amerikanischen Beständen begonnenen Truppenaufbaus vonstatten. Obwohl nun schon 1000 Soldaten in Uniformmänteln und mit Stahlhelm im Karree vor dem Bundeskanzler standen, bestimmte der in einen schwarzen Mantel gehüllte und sein Haupt vor dem Wind durch einen Homburg schützende Staatsmann Konrad Adenauer die in der Wochenschau dem Kinopublikum gezeigte Szene an jenem nasskalten Wintertag im Soldatenlager Andernach. Er tat es auch mit dem, was und wie er es sagte: An der Seite der Verbündeten solle die Wiederbewaffnung 1

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Bruno Thoß, Allgemeine Wehrpflicht und Staatsbürger in Uniform. SchamhorstForschung und Scharnhorst-Rezeption in der Bundesrepublik und in der Bundeswehr. In: Gerhard von Scharnhorst. Vom Wesen und Wirken der preußischen Heeresreform. Hrsg. von Eckardt Opitz, Bremen 1998, S. 147-162, hier S. 147. Vgl. exemplarisch die Wochenschauen Welt im Bild 177 vom 16.11.1955 und Neue Deutsche Wochenschau 303 vom 18.11.1955 bzw. 309 vom 30.12.1955, (Zugriff am 19.12.2006) URL: .

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zur Erhaltung des Friedens und der Freiheit beitragen. Die noch zu schaffende militärische Stärke diene allein der Verteidigung und stelle keine Bedrohung dar 3 . Seine rheinische Sprachmelodie war zudem kaum imstande, militant zu wirken. Zwanzig Jahre vorher sahen vergleichbare Akte nicht nur deutlich anders aus, sie wurden auch ganz anders kommuniziert. Leni Riefenstahl inszenierte zur Wiedereinführung der Wehrpflicht anlässlich des Parteitages der NSDAP im Jahre 1935 für das Kino einen Kurzfilm unter dem Titel »Tag der Freiheit unsere Wehrmacht«. Die Freiheit, die der Titel kündete, verstand sich hier freilich als militärische Stärke der nationalsozialistischen Wehrmacht. Sie galt es mit expressiver Ästhetik und suggestiven Stilmitteln zu visualisieren und zu rühmen. Wie unter einer Brücke fährt die Kamera unter gekreuzten Bajonetten hindurch. Morgenimpressionen im Zeltlager wechseln sich ab mit markanten Silhouetten von Soldaten. Der Film zeigt Ausschnitte einer Rede Hitlers an die Soldaten, die im Rückgriff auf das »Diktat von Versailles« des deutschen Volkes Ehre wiederherstellen sollten. Eine anschließende Militärparade bildet die Überleitung zu einem gemeinsamen Manöver von Heer und Luftwaffe. Hektische, aber präzise Aktionen steigern sich vom Kampf der Infanterie über den Einsatz der Panzerkampfwagen hin zum Angriff einer Flugzeugstaffel. Rasch wechselnde Einstellungen, schnelle Kamerafahrten, martialische Körpersprache durch Nahaufnahmen, Panoramen über das in Rauch und Staub gehüllte Gefechtsfeld sowie ein O-Ton aus Geschrei und Knallgeräuschen schaffen eine dramatische Dynamik, dazu bestimmt, die Zuschauer im Zeichen der Verbundenheit von Volksheer, nationalsozialistischer Bewegung und Volk emotional für die Wehrmacht als krönende Erscheinung der deutschen Geschichte zu begeistern. Eine mit dem Deutschlandlied untermalte Flugzeugformation, die als Hakenkreuz am Himmel ein unübersehbar mystisch-sakrales Zeichen bildet - , ein Leitstrahl, der in die Zukunft weist 4 . Das sahen die Volksgenossen vier Jahre später im Wochenschauprogramm, als zum 50. Geburtstag Hitlers am 20. April 1939 stundenlang die Truppenteile mit den neuesten Waffen über die Ost-WestAchse in Berlin paradierten. Wenig später perfektionierte man die ideologische und ästhetische Visualisierung des nationalsozialistischen Krieges. Ein von Propagandaministerium und Wehrmacht gleichermaßen gespeister Medienverbund überzog das Ereignis des Krieges mit Hilfe immer wiederkehrender referenzieller Bildmuster mit einem ideologischen Ordnungssystem - vornehmlich über die an die Kriegsnotwendigkeiten fallweise angepassten Texte. Männliches Pathos kennzeichnet den Typus des im nationalsozialistischen Sinn heldischen, Siegeszuversicht ausstrahlenden deutschen Soldaten als Teil eines komplexen technisch-militärischen und rassistischen Organismus. Marschsäulen der Soldaten, vorrückende Panzer, angreifende Flugzeuge werden ornamental gestal-

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Konrad Adenauer. Reden 1917-1967: eine Auswahl. Hrsg. von Hans-Peter Schwarz, Stuttgart 1975, S. 314-316. David Culbert and Martin Loiperdinger, Leni Riefenstahl's Tag der Freiheit: The Nazi Party Rally Film. In: Historical Journal of Film, Radio and Television, 2 (1992), 1, S. 3-40.

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tet. Mit kurzen Schnitten arrangiert, mit suggestivem Kommentar und Musik hinterlegt, formt die Dramaturgie Bilder eines geordneten, planvollen und routinierten Arbeitens. Zweifel am Sieg scheinen so ausgeblendet 5 . Obwohl die militärische Niederlage Deutschlands nur wenige Jahre später eine totale war, bestimmten solche Bilder nach 1945 in Deutschland ganz erheblich die kollektive Erinnerung an den vergangenen Krieg. Kriegsfilme, Illustriertenberichte, unzählige Bildpublikationen, Memoiren und sogenannte Tatsachenberichte, die sich weitgehend ohne Filter des visuellen, aber auch partiell des textlichen Fundus der Kriegspropaganda bedienten, spülten als massenkulturelle Mediatoren namentlich in der Bundesrepublik eine von der Niederlage entkontextualisierte Landserikonografie in die Köpfe6. Mit der Fixierung, etwa durch die fiktionalen Kriegsspielfilme und die im Gewand von Dokumentationen daherkommenden Kompilationsfilme aus altem Wochenschaumaterial, die sich in den 50er Jahren als Welle über die bundesdeutsche Medienöffentlichkeit ergossen 7 , auf die militärischen Leistungen wurde der deutsche Soldat in homophober Kameradschaft als Facharbeiter des Krieges vorgestellt, der sein Handwerk perfekt beherrschte 8 . Bestenfalls verstrickt in die schicksalhaften Zeitläufe, ohne dass das spezifische Bedingungsgefüge des rassenideologischen Vernichtungskrieges aufgelöst wurde. Abgesehen vielleicht von Wolfgang Staudtes 1946 gedrehtem Film »Die Mörder sind unter uns«, in dem Geiselerschießungen in der Sowjetunion eine zentrale Rolle spielten, thematisierten gerade fiktionale bzw. semi-fiktionale Spielfilme oftmals einen bloßen heroischen Realismus, paradigmatisch etwa in der Verfilmung von Carl Zuckmayers »Des Teufels General« im Jahre 1955, worin vor der Folie um das tragische, tatsächlich weitgehend selbst verschuldete Schicksal des Fliegers Ernst Udet das Thema des Freundesopfers mit im Zentrum steht. Anstatt als entlarvte Propaganda alle Wirkung einzubüßen, »erreichten Goebbels' Wochenschauen und PK-Fotografien ihre wahre Popularität somit erst nach 1945«9 jedenfalls was den kommerziellen Erfolg anbelangte. Der trat aber dann genau in dem Zeitraum ein, als die westdeutsche Wiederbewaffnung innerhalb der Gesellschaft kontrovers verhandelt wurde. Stand beides nun in einem kommunikativen Zusammenhang? Die Zeitgenossen empfanden das jedenfalls so! Paradigmatisch nachzuvollziehen an den Reaktionen auf jene Bilder, die Hans Hellmut Kirst in seinem Roman »08/15« 1954 hervorrief und die ein Jahr später im Film Millionen von 5 6 7

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Gerhard Paul, Bilder des Krieges - Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn [u.a.] 2004, S. 236-247. Detlef Hoffmann, Vom Kriegserlebnis zur Mythe. In: Mythen der Nationen. 1945 - Arena der Erinnerungen, Bd 1. Hrsg. von Monika Flacke, Mainz 2004, S. 151-172. Philipp von Hugo, Kino und kollektives Gedächtnis? Überlegungen zum westdeutschen Kriegsfilm der fünfziger Jahre. In: Krieg und Militär im Film des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Bernhard Chiari, Matthias Rogg und Wolfgang Schmidt, München 2003 (= Beiträge zur Militärgeschichte, 59), S. 453-477. Habbo Knoch, Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001 passim. Paul, Bilder des Krieges (wie Anm. 5), S. 271.

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Kinobesuchern erreichten. So korrespondierte die darin angeprangerte unmenschliche Ausbildungspraxis der Wehrmacht mit einer deutlich messbaren Forderung innerhalb der Gesellschaft, dass solches zukünftig nicht wieder geschehen möge. Kirst brachte die in die Zukunft gerichteten Sorgen auf den Punkt, als er am Schluss des Romans schrieb: »Und jetzt wird die Kaserne wieder geräumt und ausgebessert. Möge den Soldaten, die hier Dienst tun müssen, erspart bleiben, was fünfzehn Jahre vorher dort geschah! Es muss sich manches ändern. Nur dann sind Kasernen mit verlässlichen Menschen zu füllen10.« Der am retrospektiven Fall geführte Diskurs um die innere Verfasstheit der zukünftigen westdeutschen Armee bewegte nicht nur die Intellektuellen, wie Äußerungen Heinrich Bolls oder jener Schriftsteller, ehemaligen Soldaten und Journalisten belegen, denen die kulturpolitische Zeitschrift »Der Monat« unter dem Titel »Des Teufels Hauptwachtmeister« eine öffentliche Plattform ihrer Argumente bot11. Die im literarischen Gewand daherkommende Forderung Kirsts war im Übrigen auch demoskopisch zu messen. Eine repräsentative Mehrheit von 60 Prozent der Bundesbürger forderte eine Reform der militärischen Dienstvorschriften, weil die Umstände menschenverachtender Ausbildung von ihnen erlebt worden waren, so dass die Zustimmung bei den Männern mit 72 Prozent noch deutlich darüber lag12. Berücksichtigt man die in der damaligen Zeit »von der überwiegenden Mehrheit der Deutschen geteilte Überzeugung, dass Medien erzieherische Wirkungen auf die Rezipienten ausüben sollen und können«13, dann erklären sich die teilweise heftigen Reaktionen auf »08/15«, wie die Forderungen von Bundestagsabgeordneten um den, je nach politischer Couleur, Verkauf oder Nicht-Verkauf des Romans in der Bonner Bundeshausbuchhandlung oder die Debatte um den selbst auferlegten Werbeboykott einiger Tageszeitungen14. Ohne dass Studien zur Rezeption vorlagen, bewertete das Bundespresseamt, offizielles Sprachrohr regierungsamtlicher Vorstellungen und seit 1954 auch zuständig für Öffentlichkeitsarbeit in Verteidigungsfragen, diesen Roman als Medium »antisoldatischer Massenbeeinflussung« oder gar als »Untergrabung des Verteidigungswillens in der Bundesrepublik«15. Um die Wehrbereitschaft der Jugend nicht noch mehr absinken zu lassen, ging man auf dem Kommunikationsfeld des hier exemplarisch beleuchteten Soldatenromans 10

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Hans Hellmut Kirst, Null-Acht-Fünfzehn. Die abenteuerliche Revolte des Gefreiten Asch, Wien, München, Basel 1954, S. 396. Des Teufels Hauptwachtmeister. Eine Debatte rund um »08/15«. In: Der Monat, 1954, 69, S. 2 4 5 - 2 6 3 . Wolfgang Schmidt, »Barras heute«, Bundeswehr und Kalter Krieg im westdeutschen Spielfilm der frühen sechziger Jahre. In: Krieg und Militär im Film des 20. Jahrhunderts (wie Anm. 7) S. 501-541, hier S. 502. Wolfgang Mühl-Benninghaus, Vergeßt es nie! Schuld sind sie! Zu Kriegsdeutungen in den audiovisuellen Medien beider deutscher Staaten in den vierziger und fünfziger Jahren. In: Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in den deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945-1961). Hrsg. von Ursula Heukenkamp, Amsterdam, Atlanta 2002 (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, 50/2), S. 743-757, hier S. 744. Wolfgang Kraushaar, Die Protest-Chronik 1949-1959. Eine illustrierte Geschichte von Bewegung, Widerstand und Utopie, Bd 2 : 1 9 5 3 - 1 9 5 6 , Hamburg 1996, S. 966 f. Waren Sie Soldat? In: Der Spiegel, 1954,16, S. 3 7 - 4 0 .

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zum Gegenangriff über. 1956 erhielten z.B. 460 Jugenddörfer bzw. Jugendheime kostenlos Bücher im Gesamtwert von 50 000 DM, die sich »mit soldatischen Dingen befassen«16. Neben »Nachtflug« von Antoine de Saint-Exupery befand sich darunter auch recht Kriegsverherrlichendes: von Wolfgang Frank »Die Wölfe und der Admiral«; von Cajus Bekker »Kampf und Untergang der Kriegsmarine«; von Desmond Young »Rommel« und von Peter Bamm »Die unsichtbare Flagge«. Angesichts solch obrigkeitlicher Steuerungen verwundert es nicht, dass eine mit der zunehmend politisierten und polarisierten Öffentlichkeit einhergehende ideologiekritische film- und literaturhistorische Forschung der 60er und 70er Jahre etwa Kriegsfilme als »Filmpropaganda für die Wehrbereitschaft« und »Kino für die Wiederbewaffnung« bezeichnete. Ganz im Sinne einer unter Adenauer betriebenen etatistischen, autoritären Mediensteuerungspolitik 17 deutete man sie als ein relevantes Mittel der Bundesregierung zur Durchsetzung der Aufrüstung und mentalen Militarisierung gegen den Willen der Bevölkerung18. Auch wenn diese eindimensionale Sichtweise auf deren so verstandene Wirkung im Lichte neuerer Forschungen in solch absoluter Form nicht mehr aufrechterhalten werden kann und in der Zuschreibung dieser spezifischen Medienprodukte neben ökonomischen Begründungen für deren Erscheinen heute unter der Perspektive eines kulturhistorischen Ansatzes vor allem die Bewältigungsfunktion des eigentlich sinnlosen Kriegserlebnisses betont wird19, darf der zeitgenössische Erwartungshorizont nicht unberücksichtigt bleiben. Komplementär zu den medienpolitischen Vorstellungen des Kanzlers, wonach die journalistische Berichterstattung und Kommentierung im Sinne eines nationalen Konsenses die Ziele der Bundesregierung mit tragen sollte20, erwarteten gerade die Spitzenvertreter der frühen Bundeswehr von solchen Filmen durchaus einen Beitrag »zur rationalen Einsicht in die Notwendigkeit einer sittlich begründeten Bereitschaft zur Verteidigung unserer Lebensform«21. Wenn also gefordert wurde, wie besonders pointiert vom ersten Generalinspekteur Adolf Heusinger beim Film »Nacht fiel über Gotenhafen« (Deutschland 1959), »der Leistung des deutschen Soldaten in der Vergangenheit gerecht [zu werden] und 16

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Bundesarchiv (BA), Β 145/811, A u f z e i c h n u n g betr. Verteilung von Büchern an Jugendh e i m e z u r F ö r d e r u n g des W e h r g e d a n k e n s im Sinne d e r Öffentlichkeitsarbeit in Verteidig u n g s f r a g e n , 2.3.1956. Christina v o n H o d e n b e r g , Konsens u n d Krise. Eine Geschichte d e r w e s t d e u t s c h e n Medienöffentlichkeit 1945-1973, Göttingen 2006 (= M o d e r n e Zeiten. N e u e Forschungen z u r Gesellschafts- u n d Kulturgeschichte des 19. u n d 20. Jahrhunderts, XII), S. 153. Wilfried v o n Bredow, F i l m p r o p a g a n d a f ü r die Wehrbereitschaft. Kriegsfilme d e r Bundesrepublik. In: Film u n d Gesellschaft in Deutschland. D o k u m e n t e u n d Materialien. Hrsg. von Wilfried v o n B r e d o w u n d Rolf Zurek, H a m b u r g 1975, S. 316-326. Vgl. Martin Osterland, Gesellschaftsbilder in Filmen. Eine soziologische U n t e r s u c h u n g des Filmangebots der Jahre 1949-1964, Stuttgart 1970. Paul, Bilder des Krieges (wie A n m . 5), S. 274 f. H o d e n b e r g , Konsens u n d Krise (wie A n m . 17), S. 156. W o l f g a n g Schmidt, »Wehrzersetzung« oder »Förderung der Wehrbereitschaft«? Die B u n d e s w e h r u n d d e r w e s t d e u t s c h e Kriegs- u n d Militärfilm in d e n f ü n f z i g e r u n d sechziger Jahren. In: Militärgeschichtliche Zeitschrift (MGZ), 59 (2000), 2, S. 387-405, hier S. 395.

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damit zur Aufgeschlossenheit der Öffentlichkeit gegenüber dem Wehrgedanken« beizutragen 22 , dann bediente dies nicht allein das weitverbreitete Narrativ von deutschen Opfern zwischen 1939 und 1945. Dahinter steckte vielmehr ein öffentlichkeitspolitisches Kommunikativ, das die Westintegration mit den propagandistischen Anforderungen des Kalten Krieges kompatibel zu machen suchte. Gemeint war dabei vor allem auch eine antikommunistische Linie als Voraussetzung für eine effektive Verteidigung. Insofern entsprach es dieser Logik, dann keine materielle Unterstützung vonseiten der Bundeswehr zu leisten, wenn zu befürchten stand, dass ein Film »Tendenzen Vorschub leisten kann, die zu einer vornehmlich emotional verankerten Ablehnung aller Verteidigungsanstrengungen, gleich unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen«23 führen konnte: z.B. beim Filmprojekt »Strafbataillon 999« (Deutschland 1959), wo in drastischen Szenen menschenunwürdige Ausbildungsrituale gezeigt wurden. Diese könnten in der Öffentlichkeit den Eindruck entstehen lassen, dass solche Praktiken nicht ein Ausfluss des NS-Systems, sondern eine zwangsläufige Begleiterscheinung, wenn nicht gar eine natürliche Erscheinungsform von Streitkräften seien. Überdies, so die bundeswehrinterne Filmkritik, entfalteten die darin gezeigten, als realistisch bezeichneten Filmbilder eine die Moral untergrabende Wirkungsmacht. Man stieß sich daran, dass sich im Verlauf der Handlung ausgerechnet der »einzige Kriminelle zu einem recht passablen und tüchtigen Landser, der überall durchkommt«, entwickelt habe24. Mit dem Bild des Verbrechers als dem Protagonisten des Heroischen konnte wahrlich nicht das medial transportiert werden, was man sich bei der Bundeswehr von einer solchen Figur im Kampf gegen die kommunistische Bedrohung wünschte: »Dass Heldentum etwas sinnvolles ist«25. Eine solche Deutung lieferte gewiss auch nicht Bernhard Wicki in seinem nach dem Roman von Manfred Gregor gedrehten Film »Die Brücke«, der ebenfalls 1959 in die Kinos kam und dessen Darstellungsmuster ganz gezielt Jugendliche ansprechen sollte. Zu sehen ist die Geschichte einer Schulklasse, die Ende April 1945 eingezogen und in einem sinnlosen Endkampf aufgerieben wird - hilflose Kindersoldaten als ein Symbol für die Absurdität des Krieges, zu verstehen als radikalpazifistische Konsequenz nach dem Motto »Nie wieder Krieg«. Dieses massenmedial verbreitete emotionale Deutungsangebot musste zwangsläufig konträr zum militärischen Gegenentwurf der Bundesrepublik dieser Zeit stehen. So nimmt es nicht wunder, dass die für psychologische Rüstung der Soldaten bestimmte Zeitschrift »Information für die Truppe« in der ihr bis Mitte der 60er Jahre über weite Strecken eigenen Art grobmaschiger antikommunistischer Argumentation darauf abhob, in solchen Sichtweisen einen nur »dem Osten« dienenden gefährlichen Kurzschluss zu sehen. Gegenüber einem solchen »Frieden des großen Zuchthauses«, das vom Thüringer 22 23 24 25

Schmidt, »Wehrzersetzung« (wie Anm. 21), S. 391. Ebd., S. 395. Typisch: Strafbataillon 999. In: Information für die Truppe, 5 (1960), 3, S. 185. Ebd.

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Wald bis an den Chinesischen Ozean reichte, wollte man vielmehr auf dem Posten bleiben, »entschlossen zur Verteidigung, notfalls mit allen Mitteln, notfalls mit allen Konsequenzen« 26 . Wurde ein noch dazu jugendlicher Held am Ende gar als Deserteur gezeigt, wie in Wolfgang Staudtes Film »Kirmes« (Deutschland I960), dann half dies aus der Sicht militärischer Filmkritiker nur dabei, den Widerstandswillen gegenüber »Moskau mit seiner Machtgier« zu schwächen 27 . In der Tat hatte der Regisseur diesen Film als bewussten Akt gegen die westdeutsche Bewaffnung und insbesondere gegen die Ausrüstung der Bundeswehr mit atomaren Trägersystemen inszeniert. So beginnt der Film mit einer fröhlichen Szene auf einer DorfKirmes, auf der an ihren Uniformen deutlich erkennbar sich auch junge Bundeswehrsoldaten vergnügen. Plötzlich findet man beim Aufstellen einer Bude die sterblichen Uberreste eines deutschen Soldaten. Rasch ist klar, dass es sich um einen ehemaligen Bewohner des Dorfes handelt, der als Deserteur im Alter von 18 Jahren bei Kriegsende umgekommen ist. Mit dem Bild einer Mauer, auf der ein Plakat mit der Aufschrift »Atomtod droht« klebt, setzt die Rückblende zu den Geschehnissen des Jahres 1945 ein. Vor dieser Mauer fand eine standrechtliche Erschießung statt. Die mediale Inszenierung und Repräsentanz von vergangenem und gegenwärtigem Militärischen machte es in ihrer Gleichzeitigkeit und tatsächlichen wie scheinbaren Aufeinanderbezogenheit den für den Streitkräfteaufbau Verantwortlichen durchaus schwer, den rechten Weg zu finden. Auch im Hinblick auf die medialen Prägungen der Akteure sowie die bislang geschilderten Voraussetzungen und Zielsetzungen verwundert es dann kaum, wenn das alte/neue militärische Establishment in der Bundesrepublik mit »Missstimmung und Verärgerung« auf das reagierte, was die Medien in den Gründungswochen von der Bundeswehr zu sehen bekamen und was sie davon der Öffentlichkeit vermittelten: das einer postheroischen Metapher gleichende Bild von Soldaten ohne Uniformen. Dabei wollte man doch nicht zuletzt auch den Verbündeten demonstrieren, dass es die Deutschen ernst meinten mit dem Einlösen ihrer Bündnisverpflichtungen und dass sie nun endlich funktionstüchtige Truppen aufstellten - deren vergangenem Bild entsprechend, nur jetzt unter demokratischem Vorzeichen. Aus dieser Perspektive qualifizierte man die Veranstaltung am 12. November 1955 als reine »Schaunummer für die Presse« ab. Misstrauisch blickten auch manche ausländische Beobachter auf das »Modetier« (Gerd Schmückle) Bundeswehr, namentlich auf den unprätentiösen Stil, den der Kommandeur des Soldatenlagers Andernach pflegte und über den die Presse unter der Schlagzeile »Armee ohne Knobelbecher« (Adelbert Weinstein) berichtete. Ein Augenzeuge, der in den folgenden Jahren eine bedeutende Rolle innerhalb der Kommunikations- und Medienorganisation der Streitkräfte spielen sollte, erinnerte sich dazu:

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Information für die Truppe, 4 (1959), 11, S. 691 f. Neue Filme. In: Information für die Truppe, 5 (I960), 10, S. 709 f.

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»Er [der militärische Stil; W. Sch.] passte nicht zu dem Bild, das sich die Weltöffentlichkeit - oder zumindest weite Teile von ihr - vom deutschen Militär machte. Es fehlten die heiseren Kommandoschreie, der Lärm der Präsentiergriffe, das Dröhnen des Paradeschritts, die barbarische Härte, die Junker in Uniform. Es fehlten die Seelenschinder sowohl wie die Geschundenen. Da es an den negativen Ausdrucksformen, an die Teile der Weltöffentlichkeit glaubten, so offensichtlich mangelte, befürchteten diese Besucher groteskerweise, dass sich damit auch die anerkannten Tugenden der deutschen Armee - Tapferkeit, Disziplin, Ausdauer und andere mehr - verflüchtigt haben könnten28.« Wenn es denn angesichts der bislang referierten, scheinbar spannungsgeladenen Bedeutung und Wirksamkeit der medialen Vermittlung von Soldatenbildern einer Begründung bedürfte, warum es sich im Rahmen der Erforschung der Geschichte der westdeutschen Sicherheitspolitik und Streitkräfte lohnen kann, sich ihrer als eines Mediums der politischen Kommunikation zuzuwenden, dann seien wenigstens zwei Argumente angeführt. Zunächst ist es eine ereignisgeschichtliche Tatsache, dass die Debatte um die westdeutsche Wiederbewaffnung eine öffentliche war, die auch medial äußerst kontrovers geführt wurde. Hinzu kam, dass die Streitkräfte unter den Bedingungen einer freiheitlichen Verfassung und zunehmend offenen Gesellschaft nicht mehr durch Tabus geschützt waren wie noch während der nationalsozialistischen Diktatur. Selbstverständlich wussten die für den Streitkräfteaufbau Verantwortlichen dies von Anfang an. Seit der Vorbereitungsphase der westdeutschen Aufrüstung bemühte sich deshalb die »Dienststelle des Beauftragten des Bundeskanzlers für die mit der Vermehrung der alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen«, so die offizielle (Tarn-)Bezeichnung der nach ihrem Leiter kurz Amt Blank bezeichneten Planungsbereiche für die neuen Streitkräfte, zunächst den theoretischen Entwurf - also die demokratiekompatible Verankerung und darauf gründende innere Verfasstheit - , dann deren tatsächliche Umsetzung der späterhin (1956) Bundeswehr genannten Armee der Öffentlichkeit verständlich zu machen. Trotzdem blieb ein tatsächliches oder gefühltes Unverständnis, reflektiert durch die Medien. Das 1969 im Rahmen einer von dem Inspekteur des Heeres Generalleutnant Albert Schnez verantworteten Studie »Gedanken zur Verbesserung der inneren Ordnung des Heeres« gefällte Urteil, wonach u.a. Schriftsteller, Publizisten, Regisseure und Fernsehmoderatoren die Abneigung gegen den Wehrdienst stärken würden, gipfelte in der gleichermaßen hilflosen, wirklichkeitsfremden und auch haltlosen Forderung: »Bei den zuständigen Stellen ist darauf hinzuwirken, dass das von den meisten Fernsehanstalten in die breiteste Öffentlichkeit ausgestrahlte, vielfach nicht den Tatsachen entsprechende Bild der Streitkräfte, ihrer Führer und Soldaten durch eine sachgerechte Darstellung ersetzt wird sowie falsche

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Gerd Schmückte, Öffentliche Meinung und Bundeswehr. Soldat und Journalist - Nur: Seid nett zueinander?. In: Armee gegen den Krieg. Wert und Wirkung der Bundeswehr. Hrsg. von Wolfram von Raven, Stuttgart 1966, S. 307-325, hier S. 311 f.

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Berichterstattungen in gleichen Publikationsmedien equivalent [sic!] begegnet werden kann29.« Zieht man den Fokus hier weiter auf, dann blickt man an dieser Stelle auf einen wesentlichen Aspekt der das 20. Jahrhundert bestimmenden Konkurrenz zwischen Demokratien und totalitären Anti-Demokratien. Diese setzte nicht nur einen massiven politischen Orientierungs- und Legitimierungsdruck frei, sondern sie erzwang auch im Anschluss an die Medienrevolution im 19. Jahrhundert neuartige Formen und Praktiken der sozialen Kommunikation. Wenn man hier einen Offentlichkeitsbegriff unterlegt, »der den hinter den Medien stehenden permanenten >Apparat< und damit die Rolle von Publizisten - Journalisten, Verlegern, medial präsenten Intellektuellen, Fotografen etc. - hervorhebt«30, dann zählt zum »etc.« zweifelsohne auch der von der Bundeswehr geschaffene Apparat für Informations- und Öffentlichkeitsarbeit. Über die Untersuchung dieser spezifischen Medienorganisation, ihrer kommunikativen Praktiken und vermittelten Inhalte lässt sich dann ermitteln, auf was für ein Selbstbild sich die westdeutsche Gesellschaft und ihr politisches System auf dem sehr sensiblen Feld von Sicherheitspolitik und Streitkräften verständigten, wie sie ihre Ordnung legitimierten, stabilisierten und reproduzierten. Gerade vor der Kontrastfolie der vorangegangenen nationalsozialistischen Diktatur mit ihrem auf den Krieger zentrierten Ideal mag es sich als Beitrag zu einer Demokratiegeschichte dann zeigen, wie tief auch auf diesem Gebiet die überkommene militärische Häutung vonstatten ging und wie nachhaltig die demokratischen Bestimmungsgrößen im Sinne einer auch inneren Demokratisierung von den Streitkräften rezipiert worden sind. Einer weiteren Erkenntnis leitenden Perspektive, sich im Rahmen der Forschungen zur Geschichte der Bundeswehr mit deren medialer Kommunikation näher zu befassen, liegen moderne historiografische Forschungsströmungen zu Grunde. Sie speisen sich aus einer banalen Feststellung und einem Forschungsdesiderat zugleich: nämlich, dass »das mediale Setting von massenhaften Printund Bildmedien sowie die flächendeckende Radio- und Fernsehkultur als der historisch spezifische Modus der öffentlichen Selbstverständigung in der Zeitgeschichte gelten muss, der in der Historie jedoch bisher kaum hinreichend Berücksichtigung gefunden hat«31. Eine Begründung für die darin liegende Forderung findet sich im Übrigen in der Definition von Zeitgeschichte, die ja klassisch als »Epoche der Mitlebenden« (Hans Rothfels) umrissen wird. Unter den Bedingungen des eben angedeuteten Mediensettings war und ist die Lebenswelt der heutigen Mitlebenden »bestimmt von der alltäglichen Gegenwart der Audiovision, ihre Erfahrung von Wirklichkeit auch vermittelt über die Klänge von Schallplatte und Radio, die Fotos in den Illustrierten, die bewegten

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Bundesarchiv-Militärarchiv (BA-MA), BW 1/17333, Pag. 70. Hodenberg, Konsens und Krise (wie Anm. 17), S. 25. Bernd Weisbrod, Medien als symbolische Form der Massengesellschaft. Die medialen Bedingungen von Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert. In: Historische Anthropologie, 9 (2001), S. 270-283, hier S. 280.

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(Ton-)Bilder in Wochenschauen, Spielfilmen und Fernsehen«32. Der Soziologe Niklas Luhmann bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt: »was wir über die Gesellschaft, ja über die Welt[,] in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien« 33 . Tatsächlich durchlebt die deutsche Geschichtswissenschaft insgesamt einen Paradigmenwandel, der jüngst als »visual turn« bezeichnet wurde 34 . So ist inzwischen zu konstatieren, dass namentlich in der Zeitgeschichte die bislang verbreitete Geringschätzung vor allem (audio-)visueller Massenquellen einer gewissen Aufgeschlossenheit gewichen ist. Uber die Untersuchung etwa dieser das 20. Jahrhundert bestimmenden Medien sind neue Erkenntnisse über das Verhältnis von Macht, Staat und Politik, zur gesellschaftlichen Sinnstiftung oder zur kollektiven bzw. individuellen Identitätsbildung zu erhalten 35 . Komplementär zu einer zentralen Signatur des 20. Jahrhunderts, konzentrierten sich die unter solchen Fragen stehenden Studien häufig - aber keineswegs ausschließlich - auf die Untersuchung von Gewaltphänomenen 36 . In dem Maße aber, in dem kulturelle Deutungsmuster Eingang finden in die Erklärung vergangener sozialer Phänomene und Prozesse, müssen die sie vermittelnden Medien über deren eigene innere Logik37 hinausgehend kontextualisiert und auf ihren Funktions-, Wirkungs- und Wahrnehmungszusammenhang hin untersucht werden 38 . Wenn also unter »visual history« verstanden wird, »Bilder über ihre zeichen32

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Thomas Lindenberger, Vergangenes Hören und Sehen. Zeitgeschichte und ihre Herausforderungen durch audiovisuelle Medien. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 1 (2004), (Zugriff am 19.12.2006) URL: . Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, 2. Aufl., Opladen 1996, S. 9. Perspektivisch Bernd Roeck, Visual turn? Kulturgeschichte und die Bilder. In: Geschichte und Gesellschaft, 29 (2003), S. 294-315. Zur Begrifflichkeit und zum bisher erreichten Stand der Forschung vgl. Gerhard Paul, Von der Historischen Bildkunde zur Visual History. Eine Einführung. In: Visual History. Ein Studienbuch. Hrsg. von Gerhard Paul, Göttingen 2006, S. 7-36. Lindenberger, Vergangenes Hören und Sehen (wie Anm. 32). Exemplarisch Cornelia Brink, Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin 1998; Frank Becker, Bilder von Krieg und Nation. Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864-1913, München 2001; Habbo Knoch, Die Tat als Bild; Krieg und Militär im Film; Mythen der Nationen. 1945 - Arena der Erinnerung, 2 Bde. Hrsg. von Monika Flacke, Mainz 2004; Paul, Bilder des Krieges (wie Anm. 5); Mediale Mobilmachung I. Das Dritte Reich und der Film. Hrsg. von Harro Segeberg, Paderborn 2004. An Beispielen aus »zivilen« Themenfeldern seien genannt: Axel Schildt, Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und »Zeitgeist« in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995; Cord Pagenstecher, Der bundesdeutsche Tourismus. Ansätze zu einer Visual History. Urlaubsprospekte, Reiseführer, Fotoalben 1950-1990, Hamburg 2003. Exemplarisch Werner Faulstich, Die Geschichte der Medien, 4 Bde, Göttingen 1996-2002; Jürgen Wilke, Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Köln 2000; Handbuch der Mediengeschichte. Hrsg. von Helmut Schanze, Stuttgart 2001. Besonders eindrucksvoll bei Jost Dülffer, Über Helden - Das Bild von Iwo Jima in der Repräsentation des Sieges. Eine Studie zur US-amerikanischen Erinnerungskultur seit 1945. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 3 (2006), 2, (Zugriff am 19.12.2006) URL: .

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hafte Abbildhaftigkeit hinaus als Medien zu untersuchen, die Sehweisen konditionieren, Wahrnehmungsmuster prägen, historische Deutungsweisen transportieren und die ästhetische Beziehung historischer Subjekte zu ihrer sozialen und politischen Wirklichkeit organisieren«39, so eignen sich audiovisuelle Medien aus der und über die Bundeswehr in besonderem Maße für ein weiteres Ausloten zivil-militärischer Interaktionsprozesse unter den Bedingungen einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung 40 . Angesichts eines im 20. Jahrhundert immer breiter gewordenen, oft interdependenten Medienspektrums mit dennoch spezifischem Charakter und in Anlehnung an die von der modernen Militärgeschichte vertretene interdisziplinäre Multiperspektivität ist solch eine Forderung allerdings nur einzulösen über einen »pragmatischen Mix verschiedener methodischer Ansätze«41. Exakt im Schnittpunkt des eben referierten Begründungszusammenhangs steht der Aufsatz von Thorsten Loch zu den Werbebotschaften in der Bildkommunikation der frühen Bundeswehr. Konkret werden die in der Freiwilligenund Nachwuchswerbung der Bundeswehr über Zeitungsannoncen präsentierten öffentlichen Soldatenbilder in den Blick genommen. Zum einen geht es darum, die Selbstrepräsentanz der Streitkräfte der Zeit um 1960, der von Loch in Anlehnung an den zeithistorischen Epochendiskurs als »Wendezeit« bezeichneten Phase zwischen einem Jahrzehnt des Wiederaufbaus und den dynamischen 60er Jahren, vorzustellen. Zum anderen sollen darüber tiefere Erkenntnisse über das Verhältnis zwischen Armee und Gesellschaft erlangt werden. Bereits die Tatsache, dass das Verteidigungsministerium 1955 eine Hamburger Werbeagentur mit der Erarbeitung von Werbelinien beauftragte, die sich in der Wirtschaftswerbung einen Namen gemacht hatte, verweist im Sinne modernisierungsgeleiteter Adaption auf eine im Unterschied zu der bis 1945 in Deutschland betriebenen Nachwuchsrekrutierung strukturelle Anpassungsbereitschaft der militärischen Auftraggeber. So kann der Autor nachweisen, dass die wesentlichen Einflussgrößen auf die Bildgestaltung aus der in marktwirtschaftlichen Kategorien denkenden Agentur stammten und sich an der Zielgruppe orientierten. Weil Werbeanzeigen in ihrer Eigenschaft als Medien der Kommunikation in der Regel eine Kombination verschiedener schriftlicher und bildlicher Zeichen aufweisen, werden als Analyseinstrument dabei sinnvollerweise die Methoden der Semiotik zur Anwendung gebracht. Gewiss, es sind höchst abstrakte Motive, mit denen das visuelle Register die Linien »Bau mit«, »Stufen zum Erfolg« und »Ein Weg zum Erfolg« zu repräsentieren sucht; denen jedoch das verbale Register zielgruppengemäß neben ideologisch-ethischen Angeboten (Schutz der freiheitlichen Lebensordnung; Bewahrung des Friedens) auch spezifische Motive der bundesrepublikanischen Gesellschaftsordnung 39 40

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Paul, Von der Historischen Bildkunde zur Visual History (wie Anm. 34), S. 25. Vgl. Wolfgang Schmidt, Die bildhafte Vermittlung des Staatsbürgers in Uniform in den Anfangsjahren der Bundeswehr. In: Wolf Graf von Baudissin 1907-1993. Modernisierer zwischen totalitärer Herrschaft und freiheitlicher Ordnung. Hrsg. im Auftr. des MGFA von Rudolf J. Schlaffer und Wolfgang Schmidt, München 2007, S. 165-188. Paul, Von der Historischen Bildkunde zur Visual History (wie Anm. 34).

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zuweist: aussichtsreicher Beruf, berufliche Fortbildung, gutes Anfangskapital nach Ende der Dienstzeit, finanzielle Sicherheit. Während Thorsten Loch aufgrund nicht vorhandener empirischer Quellen nur vorsichtig kommunikative Absichten und Wirkungen bilanziert, diese könnten allenfalls als Produkte eines komplexen Beobachtungsvorgangs bewertet werden und gäben keine unmittelbare Auskunft über die Frage nach der Integration der Armee in die Gesellschaft, zeichnet Rudolf J. Schlaffer ein markanteres Bild medialer Wirkungen. Das Wirken des Wehrbeauftragten in der politischen Kommunikation ist sein Thema - konkreter ausgeführt an jener Artikelserie »In Sorge um die Bundeswehr«, die der damalige Wehrbeauftragte Hellmuth Heye 1964 in der Zeitschrift »Quick« veröffentlichte. Mit seinen Hinweisen auf Skandale und Missstände auf dem Gebiet der Inneren Führung evozierte er Bilder einer längst als vergangen geglaubten militärischen Ausbildungspraxis. Als demokratische Antwort auf die Verhältnisse innerhalb der Armee vor 1945 geschaffen, kontrolliert der Wehrbeauftragte im Auftrag des Deutschen Bundestages die verpflichtend gemachten, demokratiekompatiblen Binnenverhältnisse der Streitkräfte. Restaurativen, auch außerhalb des Verfassungsgebots liegenden Tendenzen wirkungsvoll entgegen zu treten, wie sie sich Anfang der 60er Jahre in der Bundeswehr einstellten, schien angesichts des dem Amtsinhaber eingeräumten Berichtsrechts gegenüber dem Bundestagspräsidenten aber kaum zum Erfolg zu führen. Weil der Wehrbeauftragte sich als Instrument der sozialen Kontrolle verstand und diese entsprechend dem vom Autor herangezogenen systemtheoretischen Modell nur in Form von Interaktion und Kommunikation mit allen Akteuren eines solchen Prozesses (Soldaten, Parlament, Bundeswehrführung, Öffentlichkeit) erfolgreich bewältigen konnte, entschloss sich der damalige Amtsinhaber erstmals zum Schritt in die Öffentlichkeit. Indem Schlaffer nachweisen kann, dass weniger um die Frage, ob die vom Wehrbeauftragten erhobenen Vorwürfe berechtigt waren, sondern vielmehr um die Form, in der die Kritik an die Öffentlichkeit gebracht worden war, heftig gestritten wurde, gibt er Antworten auf zwei Phänomene demokratischer Gesellschaften. Nur als der Wehrbeauftragte über die Medien als Lobbyist in eigener Sache kommunizierte, gelang es ihm im engeren Sinn, seinen Kontrollauftrag wirkungsvoll zu erfüllen. Das gilt im Übrigen bis heute. Zum anderen markiert Heyes Kommunikation mit der Öffentlichkeit einen damals so empfundenen politischen Tabubruch. Nicht wenige namentlich der politischen Klasse sahen darin ein unstatthaftes plebiszitäres Mittel, das imstande sein könnte, die demokratischen Institutionen zu gefährden. Somit drehte sich die Auseinandersetzung im Kern um eine Neubestimmung des Verhältnisses der staatlichen Organe zur Gesellschaft und umgekehrt. Indem sich Illustrierte über die Heye-Affäre in der Folge als ein breite Schichten erreichendes Forum politischer Diskussion etabliert hatten, war eine Antwort auf die Frage gegeben, wer und in welcher Form in Zukunft an öffentlichen Angelegenheiten - wie die skandalösen Vorgänge in der Bundeswehr es nun einmal waren - beteiligt sein sollte. Die sich in dieser dynamischen Umbruchszeit der 60er Jahre darüber entwickelnde politische Öffentlichkeit, also jenes Beziehungsgefüge von medi-

Einführung

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aler Debatte, öffentlicher Meinung und politischer Entscheidungsfindung, betraf »den Grundcharakter der noch ungefestigten westdeutschen Demokratie« ganz unmittelbar 42 . Der sich im Gefolge von Vietnamkrieg, Studentenprotesten und politischem Wechsel zur sozial-liberalen Koalition um 1970 beschleunigende Wertewandel machte gerade auch vor einer auf der Wehrpflicht gründenden Armee wie der Bundeswehr nicht halt. Wie sie damit umging, zeigen die in dieser Zeit gedrehten, als Selbstbeschreibung einer militärischen Teilgesellschaft bzw. Teilöffentlichkeit in Mediendiskursen zu verstehenden Filme der BundeswehrFilmschau, einem nach innen - hauptsächlich auf die Wehrpflichtigen - gerichteten Medium zur Identitätsstiftung für den Auftrag und die Ziele der Bundeswehr. Gewiss trifft es zu, dass sich die Geschichte der Bundeswehr als Prozess permanenter Neuverortung zwischen zeitlosen militärischen Tugenden, Kriegserfahrungen, Ansprüchen des demokratischen Staates und einer militärkritischen Öffentlichkeit beschreiben lässt. Aber ging es tatsächlich so weit, wie Katja Protte es mit der Überschrift ihres Beitrages »APO in der Bundeswehr?« anzudeuten scheint, dass die mediale Selbstvermittlung zu einer Einfallspforte außerparlamentarischer Aktivitäten wurde, darin eingeschlossen gegebenenfalls Kritik an Vietnamkrieg und Notstandsgesetzen? Davon konnte zwar keine Rede sein. Aber weil die Bundeswehr-Filmschau nicht als ein Medium einer Gegenöffentlichkeit angelegt wurde, traditionelle militärische Formen einer Gesellschaft im Wandel zu propagieren bzw. gegen sie zu verteidigen, sondern als ein nach außen durchlässiges Medium, repräsentierte sie sich und die Bundeswehr als Ganzes als Teil der fortschrittlichen Kräfte in der Bundesrepublik. Zum zeitgemäß und selbstvergewissernd vermittelten Soldatenbild gehörte es eben, Beiträge über den Auftritt einer Beat-Gruppe bei einem Jagdbombergeschwader oder das Auftreten von langhaarigen Soldaten bei einer Vertrauensmännertagung zu senden. Die methodisch in einem kontextuellen Bogen von ästhetischen zu historiografischen Betrachtungen ausgefeilt analysierten Filmbeispiele demonstrieren, dass die Bundeswehr in diesem Medium aufgeschlossen auf die Liberalisierungsund gelassen auf die Radikalisierungstendenzen der Zeit reagiert hat. Hier spielten auch die gesamtgesellschaftlich erprobten neuartigen Formen politischer Kommunikation eine Rolle, die im Zuge des Wahlkampfs besonders vonseiten der SPD zur Anwendung gebracht worden waren - jene Partei, die ab 1969 nicht nur mehr Demokratie wagen wollte, sondern deren Verteidigungsminister nach einer kritischen Bestandsaufnahme mit tiefen Schnitten die Bundeswehr reformierte. Dazu passt, dass die Bundeswehr-Filmschau experimentierfreudig wenigstens die Formen medienwirksamer, leicht provokativer Aktionen der jugendlichen Protestkultur in ihr dramaturgisches Repertoire aufnahm, wenngleich die politischen Kernthemen kaum ausgewogen behandelt wurden. Zudem bestätigt die Autorin auch hier den generell für die bundesdeutsche Medienöffentlichkeit zu konstatierenden generationellen Wechsel innerhalb 42

Hodenberg, Konsens und Krise (wie Anm. 17), S. 31 f.

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der Medienelite. Der für die Bundeswehr-Filmschau über Jahrzehnte verantwortliche zivile Redakteur gehörte jener »45er«-Generation an, deren spezifische Handlungsmuster »sich in typischen Haltungen zur Demokratie und zum Vorbild des Westens« niederschlugen43. Dessen Biografie und Berufsauffassung hatten einen großen Einfluss auf die visuelle Selbstvermittlung der Bundeswehr. Bei den bislang vorgestellten Betrachtungen stand das von der Bundeswehr generierte und kommunizierte Selbstbild im Mittelpunkt der Untersuchungen. Aber wie sah es um deren Präsenz und Präsentation in jenem zentralen Medium westdeutscher gesellschaftlicher Selbstverständigung aus - dem Fernsehen, das Ereignisse sinnlich anschaulich und oftmals aktuell jedem Einzelnen in der Gesellschaft zu vermitteln imstande ist? Joan Κ. Bleicher und Knut Hickethier gehen in ihrem aus medienwissenschaftlicher Perspektive geworfenen Blick auf die Sicht des Fernsehens auf die Bundeswehr von der Prämisse aus, dass Betroffene sich selbst meist verzerrt und verfälscht dargestellt sehen, weil ihr Eigenbild vom Fremdbild abweicht. Uber die Analyse von Programm und narrativen Mustern spannen sie dabei einen großen Bogen zielgerichteter Beobachtungen auf fünfzig Jahre journalistischer wie dokumentarischer Berichterstattung sowie fiktionaler Beiträge. Von einer grundsätzlich kontroversen, misstrauischen Thematisierung vor dem Hintergrund einer unseligen deutschen militärischen Tradition, wie sie für die 50er bis 70er Jahre konstatiert wurde, ist in der Tendenz heute deutlich weniger zu sehen. Gerade mit Blick auf Häufigkeit und Inhalte bei fiktionalen Formaten scheint die Bundeswehr seit den 80er Jahren - trotz kritischer Berichte etwa über die NATO-Nachrüstung in anderen Programmformaten - nachgerade »mediensexy« geworden zu sein. Für die Autoren gründet dieses mediale Zeichen einer »Normalisierung« im Verhältnis von Bundeswehr und Fernsehen, angepasst an die politischen und sozialen Prozesse der letzten Jahrzehnte, in der offensichtlichen Stabilität des demokratischen Gemeinwesens und der inzwischen (tatsächlich oder vermeintlich?) geschwundenen Angst vor einer möglichen Militarisierung der Gesellschaft. Dennoch bleibt die Warnung im Raum, dass über die mittlerweile unangefochtenen Kooperationen zwischen Bundeswehr und öffentlich-rechtlichen Sendern die Medien als vierte Gewalt in der Gesellschaft ihre Aufgabe öffentlicher und kritischer Kontrolle staatlicher Machtorgane aufgeben könnten. Die damit zusammenhängende Frage, ob sich die Zusammenarbeit in der Zukunft zu einer Gefahr für das demokratische Grundverständnis der Bundeswehr entwickeln könnte, das ja auch durch die öffentliche Kritik an bestimmten Vorgängen mit geprägt worden ist, soll nicht nur als zukünftige Forschungsperspektive ausdrücklich befürwortet werden. Sie trifft vielmehr den gemeinsamen Kern der nachfolgenden materialgesättigten Analysen, die am spezifischen Untersuchungsgegenstand westdeutsche Sicherheitspolitik und Streitkräfte Sichtachsen schlagen wollen auf die neue historiografische Beschäftigung mit (audio-)visuellen Quellen und damit zugleich einen Beitrag leisten für eine unter demokratiegeschichtlichen Prämissen stehende Geschichte der Bundesrepublik. 43

Hodenberg, Konsens und Krise (wie Anm. 17), S. 246.

Thorsten Loch »Stufen zum Erfolg«. Die Werbebotschaften in der Bildkommunikation der frühen Bundeswehr1 Eine der langlebigsten innenpolitischen Kontroversen, die die junge Bundesrepublik seit ihren Anfangsjahren bis in die späteren Jahrzehnte hinein immer wieder begleitete, war die Diskussion um das Verhältnis zwischen »Gesellschaft und Bundeswehr« 2 . Ungeachtet der Tatsache, dass mit dieser scheinbaren Dichotomie wenig trennscharfe Bezeichnungen für in sich extrem heterogene Gruppen gegenübergestellt werden, könnte sich die Debatte darauf reduzieren lassen, ob die Bundeswehr als Organ der Exekutive der Bundesrepublik Deutschland Teil eben jener Gesellschaft war, deren Recht und Freiheit sie tapfer zu verteidigen schwor. Die Debatte kreiste oft um die Frage, ob in den Streitkräften restaurative Kräfte am Werk seien, die das überlieferte Bild vom deutschen Soldatentum wiederherstellen wollten 3 und auf eine Unterwanderung und Militarisierung 4 der bundesdeutschen Gesellschaft, speziell ihrer Jugend abzielten - ob also letztlich die Bundeswehr wie die Reichswehr kein Garant demokratischer Verhältnisse, sondern ihr Totengräber war. Diese Auseinandersetzung, die ein Stück bundesdeutscher Streit- und somit Kulturgeschichte kennzeichnet, kann hier weder in ihrer ganzen Breite dargestellt, noch zu einer Auflösung geführt werden. Auch ist das Feld, auf dem sich die tatsächliche oder auch nur scheinbare Auseinandersetzung um die Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft vollzog, vielfältig und weist ein entsprechendes Kaleidoskop an Themen auf. Wenn hier mit den in der Freiwilligen- und Nachwuchswerbung der Bundeswehr präsentierten öffentlichen 1

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In Gedenken an Ingo Wessels (+ 15. Juni 2006), Oberst a.D., stv. Brigadekommandeur und Kommandeur Brigadeeinheiten der Panzerbrigade 21 »Lipperland« 1996-2003, genannt »Panzeringo«. Er lehrte mich, was es heißt, mit Auftrag und durch Vertrauen zu führen. Neuerlich siehe Detlef Bald, Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte. 1955-2005, München 2005; zu zeitgenössischen Debatten siehe z.B. Wie integriert ist die Bundeswehr? Zum Verhältnis von Militär und Gesellschaft in der Bundesrepublik. Hrsg. von Ralf Zoll, München, Zürich 1979. Donald Abenheim, Bundeswehr und Tradition. Die Suche nach dem gültigen Erbe des deutschen Soldaten, München 1989 (= Beiträge zur Militärgeschichte, 27), S. 1. Zur These der Militarisierung der Jugend vgl. Berthold Meyer, Bernd Sandhaas, Ulrich Storz, Gabriele Zanolli, »Wir produzieren Sicherheit«. Sozialisations- und Integrationsfunktion des Militärs als Unterrichtsthema, Waldkirch i.Br. 1976 (= Tübinger Beiträge zur Friedensforschung und Friedenserziehung, 4), S. 13.

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Soldatenbildern ein Schnittpunkt von »Bundeswehr und Gesellschaft« gewählt wurde, kann auch er daher nicht mehr sein als eine Facette dieser Auseinandersetzung. Gerade die in den Werbeanzeigen verbreiteten äußeren Soldatenbilder weckten bei den Menschen innere Bilder5, die Angstvorstellungen im kulturellen Gedächtnis6 der Deutschen beschworen, wie die Leserbriefe auf die erste Werbeanzeige im Wochenmagazin »Der Spiegel« beispielsweise zeigen7. Anhand der in den Werbeanzeigen vermittelten Soldatenbilder wird im Folgenden einerseits der Frage nachgegangen, welche Botschaften visuell in den Anzeigen transportiert wurden, andererseits gerät mit den hier ausgewählten Anzeigen auch das Verhältnis von Gesellschaft und Bundeswehr in den Blick. Die hier präsentierten Bilder erschienen um 1960 und fungierten als Brücke zwischen dem Jahrzehnt des Wiederaufbaus8 und den dynamischen 60er Jahren9, die als »Wendezeit«10 beschrieben werden. Der vorliegende Beitrag skizziert zunächst Überlegungen zur Bildkommunikation der Werbeanzeigen (1), um im Lichte dieser theoretischen Überlegungen die Maßnahmen der Freiwilligenwerbung der Bundeswehr vorzustellen (2). Dann werden die Werbelinien »Stufen zum Erfolg« (3) und »Bau mit!« (4), die um 1960 erschienen, gemäß den Anforderungen der Historischen Bildkunde gedeutet, um das Bild nachzuzeichnen, das die Bundeswehr von sich präsentierte oder präsentieren ließ, um junge Männer zum freiwilligen Wehrdienst zu bewegen. Gleichzeitig dient die Untersuchung als Illustration für die Aussagenreichweite der Historischen Bildkunde.

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Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. 3. Aufl., München 2006 (= Bild und Text), S. 11. Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart, Weimar 2005. Diese beschrieben bei Thorsten Loch, Die Historische Bildkunde in der Militärgeschichtsschreibung: Das frühe Soldatenbild in der Freiwilligenwerbung der Bundeswehr von 1956. In: Bildungs- und kulturgeschichtliche Bildforschung. Tagungsergebnisse - Erschließungshorizonte. Hrsg. von Rudolf W. Keck, Sabine Kirk und Hartmut Schröder, Baltmannsweiler 2006, S. 63 f. Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre. Hrsg. von Axel Schildt und Arnold Sywottek, ungekürzte, durchges. und aktual. Studienausgabe, Bonn 1998. Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften. Hrsg. von Axel Schildt, Detlef Siegfried und Karl Christian Lammers, 2. Aufl., Hamburg 2003 (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, 37). Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik. Hrsg. von Matthias Frese, Julia Paulus und Karl Teppe, 2. Aufl., Paderborn, München, Wien, Zürich 2005 (= Forschungen zur Regionalgeschichte, 44).

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I. Bildkommunikation Johann Gustav Droysen rechnete bereits in seinen Vorlesungen zur Geschichte Bilder, verstanden als Bild- und Kunstwerke, den Denkmälern zu. Damit wies er ihnen die Funktion zu, sowohl Uberrest als auch Erinnerung zu sein11. Doch erst seit den 30er Jahren, initiiert durch den Osloer Historikertag von 1928, befasste sich die deutsche Geschichtswissenschaft intensiver mit der Quelle Bild und entwickelte erste Ansätze für eine Historische Bildkunde als Subdisziplin der Geschichtswissenschaft. Durch die Wirren des Zweiten Weltkrieges unterbrochen, lebte die Historische Bildkunde im Wesentlichen erst zu Beginn der 80er Jahre wieder auf. Der Hamburger Professor und Militärhistoriker Rainer Wohlfeil erweiterte sie um Elemente des Kunst- und Kulturwissenschaftlers Erwin Panofsky12. Beide fanden zueinander, weil ihre Untersuchungsgegenstände Schnittmengen bildeten: das religiöse mittelalterliche oder freuneuzeitliche Kunstwerk. Dies führte zu einer unbemerkten methodischen Konzentration auf eben solche Bilder, die als Kunstwerke verstanden, und zu einer Ausblendung derjenigen Bilder, die in erster Linie als kommunikative Medien begriffen werden konnten. Seit den 90er Jahren öffnete sich die Geschichtswissenschaft überwiegend jedoch methodisch unreflektiert - solchen Bildern, die den Alltag der deutschen Gesellschaft seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in Fotografie, Film und Werbegrafik begleiteten. Arbeiten wie die Frank Kämpfers, die das Bild bereits früh zeichentheoretisch untersuchten, blieben unbeachtet13. Dabei geriet das Bild nicht allein in den Blick der Historiker. Viele Disziplinen wandten sich dem Bild in all seinen Formen und Wahrnehmungsfacetten zu. Im deutschsprachigen Raum ist eine allgemeine Bildwissenschaft das Ergebnis: der Versuch, der mannigfaltigen Natur des Bildes nachzuspüren und sie zu verstehen14.

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Johann Gustav Droysen. Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. Hrsg. im Auftrag der Preussischen Akademie der Wissenschaften von Rudolf Hübner, 2. Aufl., München, Berlin 1943, S. 53-55. Rainer und Trudl Wohlfeil, Das Landsknechts-Bild als geschichtliche Quelle. Überlegungen zur Historischen Bildkunde. In: Militärgeschichte. Probleme - Thesen - Wege. Im Auftr. des MGFA ausgewählt und zusammengestellt von Manfred Messerschmidt, Klaus A. Maier, Werner Rahn und Bruno Thoß, Stuttgart 1982 (= Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte, 25), S. 81-99; Rainer Wohlfeil, Das Bild als Geschichtsquelle. In: Historische Zeitschrift (HZ), 243 (1986), S. 91-100; Historische Bildkunde. Probleme - Wege Beispiele. Hrsg. von Brigitte Tolkmitt und Rainer Wohlfeil, Berlin 1991 (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 12). Frank Kämpfer, »Der rote Keil«. Das politische Plakat. Theorie und Geschichte, Berlin 1985. Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden. Hrsg. von Klaus Sachs-Hombach, Frankfurt a.M. 2005.

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Bildern wird Macht zugesprochen15. Diese, häufig auch vorschnell vonseiten der (wissenschaftlichen) Öffentlichkeit zugestanden, basiert auf der Eigenschaft des Bildes zur Vermittlung von Informationen. Dabei bezieht sich diese Fähigkeit der Informationsvermittlung weniger auf ästhetische oder künstlerische Elemente, sondern vielmehr auf die Wahrnehmung des Bildes als kommunikatives Medium16. Worauf basiert die Fähigkeit zur Bild- oder visuellen Kommunikation? Sie ist nicht allein in der »assoziativen Kraft«17 der Bilder und auch nicht in erster Linie im Spannungsfeld von »Authentizität und Inszenierung von Bilderwelten«18 zu suchen, sondern vielmehr in dem humanspezifischen Prozess der Bedeutungsvermittlung selbst. Kommunikation ist der zentrale Begriff dieser so verstandenen Historischen Bildkunde. Es ist zu unterscheiden zwischen einem kommunikativen Handeln des Absenders, der sich nicht sicher sein kann, im Zuge der Massenkommunikation seine Zielgruppen erreicht zu haben, und einer tatsächlichen Kommunikation. Diese tritt ein, sobald der Empfänger die Nachricht aufnimmt, dekodiert und mit dem Absender seinerseits Verbindung aufnimmt, also reagiert. Hierin wird Kommunikation als ein reziproker Prozess deutlich. Gleichwohl gilt es zu bedenken, dass der Begriff Kommunikation wie der des Mediums nicht einheitlich und meist inflationär genutzt wird19. Bilder können also nicht nur als Kunstwerke, sondern als kommunikative Medien und somit als eine Kombination verschiedenster Zeichen verstanden werden20. Damit die Kommunikation zwischen Sender und Empfänger erfolgreich etabliert wird, muss nicht nur das Verstehenwollen des Empfängers vorausgesetzt werden, sondern auch das Verstehenkönnen. Kombinationen von Zeichen ergänzen sich zu Zeichensystemen, die bestimmten Codes folgen, die in der Regel innerhalb einer Kultur oder Gesellschaft entwickelt, tradiert und fortentwickelt werden und letztlich Konventionen unterliegen. Einer der wesentlichen Ansätze zum Verständnis der kommunikativen Absicht der Werbeanzeigen liegt in der Bedeutungsebene von Denotation und Konnotation verborgen. Die Werbeanzeigen bilden auf einer ersten Ebene mit 15

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Propaganda. Von der Macht des Wortes zur Macht der Bilder. Hrsg. von Thilo Eisermann, Dirk Maczkiewitz und Raoul Zühlke, Hamburg 1998 (= 20 ,h Century Imaginarium, 2); Bernd B. Schmidt, Die Macht der Bilder. Bildkommunikation - menschliche Fundamentalkommunikation, Aachen 2002 (= Berichte aus der Sozialwissenschaft); Klaus SachsHombach, Die Macht der Bilder. In: Zeitschrift für Ästhetik und Kunst (ZfÄuK), 42 (1998), 2, S. 175-189. Klaus Sachs-Hombach, Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft, Köln 2003. Marion G. Müller, Grundlagen der visuellen Kommunikation. Theorieansätze und Analysemethoden, Konstanz 2003, S. 83. Authentizität und Inszenierung von Bilderwelten. Hrsg. von Thomas Knieper und Marion G. Müller, Köln 2003. Zur Kommunikationswissenschaft siehe Roland Burkart, Kommunikationswissenschaft. Grundlagen und Problemfelder. Umrisse einer interdisziplinären Sozialwissenschaft. 4., Überarb. und aktual. Aufl., Wien, Köln, Weimar 2002, S. 2 0 - 7 5 ; zur Medienwissenschaft siehe Knut Hickethier, Einführung in die Medienwissenschaft, Stuttgart 2003. Hickethier, Einführung in die Medienwissenschaft (wie Anm. 19), S. 63.

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dem Abgebildeten die reine Bedeutungsebene ab (Denotation). Dahinter verborgen liegt jedoch eine über diese primäre Bedeutung hinausgehende weitere Bedeutungsebene (Konnotation), deren Erkennen »in der Regel ein komplexes kulturelles Wissen erfordert und [...] deshalb nicht von allen Rezipienten vollzogen« wird21. Genau hierin liegt unter anderem die Vielschichtigkeit der Bilder begründet. Nicht allein ihre Polyvalenz als innere oder äußere Bilder, sondern auch die Tatsache, dass Bildkommunikation als wahrnehmungsnahe Form der Kommunikation verstanden werden kann22, verdeutlichen, dass das Lesen der Bilder in erster Linie davon abhängt, ob der Adressat den gleichen Zeichenvorrat mit dem Adressenten teilt. Zur Illustration: Ein im Jahre 1960 auf einem Werbeplakat23 abgebildeter Panzer denotiert nicht allein einen Kampfpanzer eines besonderen Typs, sondern konnotiert darüber hinaus auch Kraft, Dynamik, Gewalt, Elend, Zerstörung, Krieg und Tod. Ein Mensch aus einem anderen Kulturkreis, der die Auswirkungen eines Kampfpanzers noch nie erlebt hat, füllt diese zweite Bedeutungsebene anders oder aber gar nicht aus. Das bedeutet im Übrigen auch, dass Werbung keine neue Sprache kreiert, sondern sich grundsätzlich in einem Zeichensystem bewegt, das dem Empfänger bekannt ist. Werbebilder sind sowohl Bedeutungsträger als auch Vermittler von Informationen. Vor allem Werbeanzeigen dienen ihrem Zweck nach ausschließlich der Informationsvermittlung, um einen Kunden über ein Produkt zu informieren, ihn von seinem Wert zu überzeugen und letztlich zum Kauf zu animieren. Sie vermitteln im tatsächlichen Sinne ein Bild, eine Vorstellung von einem Gegenstand24. Als historische Quelle stellen Werbebilder in ihrer Analyse regelmäßig eine Herausforderung dar25. Um zu verstehen, was abgebildet ist und durch das Bild kommuniziert wird, bedarf es zunächst einer Einordnung in den historischen Kontext. Dieser darf sich jedoch nicht allein auf die politische Geschichte beziehen, sondern muss auch die Produktionsverfahren und Distributionstechniken der Bilder verstehen, um die Bildgattving Werbeanzeige der Bundeswehr richtig einordnen zu können. In weiteren Schritten werden die Bildinhalte zuerst beschrieben und dann gedeutet. Der abschließende vierte Schritt bleibt einer schwer zu ermittelnden Wirkungs- und Wahrnehmungsgeschichte vorbehalten. Das entscheidende Verfahren für die Historische Bildkunde liegt im Element der Bilddeutung. Die Subdisziplin muss aufgrund der Vielfältigkeit der Bilder mit einem ebenfalls multiplexen Instrumentarium reagieren können. Eine an kunstgeschichtHickethier, Einführung in die Medienwissenschaft (wie Anm. 19), S. 67. Sachs-Hombach, Das Bild (wie Anm. 16), S. 97. 23 VVerbeplakate der Bundeswehr siehe bei Thorsten Loch, Nachwuchswerbung im Spannungsfeld von Bundeswehr und Gesellschaft. In: Entschieden für Frieden: 50 Jahre Bundeswehr 1955 bis 2005. Im Auftr. des MGFA hrsg. von Klaus-Jürgen Bremm, HansHubertus Mack und Martin Rink, Freiburg i.Br. 2005, S. 425-438. 24 Sachs-Hombach, Das Bild (wie Anm. 16), S. 97. 25 Zu meiner Analysemethodik siehe Loch, Die Historische Bildkunde (wie Anm. 7), S. 57-75, als auch die Dissertationsschrift: Thorsten Loch, Das Gesicht der Bundeswehr. Soldatenbilder im Kontext medialer Kommunikationsstrategien der Freiwilligenwerbung 1956 bis 1980 (Veröffentlichung in Vorb.). 21

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lieh orientierten Fragestellungen ausgerichtete Arbeit kann sich weiterhin auf die Überlegungen Wohlfeils stützen. Geht man jedoch von einem modernen Werbemedium aus und erkennt die Fähigkeit der Werbeanzeige zur Bildkommunikation an, müssen andere Techniken der Bilddeutung genutzt werden. Das hier vorliegende Verständnis des Bildes orientiert sich weniger an kunstgeschichtlichem Interesse als vielmehr an kommunikations- und beeinflussungsgeschichtlich ausgerichteten Fragestellungen, was dem auf Persuasion abzielenden Bildmedium Werbeanzeige eher entspricht. Daher werden hier Elemente der Semiotik gewählt, um das Bild zu deuten und somit letztlich umfassend analysieren zu können. Die Semiotik eignet sich auch deswegen, weil in Anzeigen regelmäßig sowohl schriftliche wie bildliche Zeichen verwendet werden, die sich in verbale und visuelle Register unterscheiden lassen. Von beiden gehen Informationen auf die denotativen und konnotativen Bedeutungsebenen aus. Welche Aussagen können aus den hier vorgelegten Werbeanzeigen der Bundeswehr gewonnen werden, welche Informationen liefern sie dem heutigen Betrachter, die über die Aussagen in den schriftlichen Quellen hinausgehen?

II. Die Nachwuchswerbung der Bundeswehr Armeen benötigen Soldaten für die verschiedensten Verwendungen. Sie rekrutieren ihren Nachwuchs aufgrund staatlicher Anordnung, wie beispielsweise des Kantonssystems oder der Wehrpflicht. Sie bemühen sich aber auch um freiwillig länger Dienende, die in der Regel Dienstposten für Unteroffiziere oder Offiziere besetzen. Neben den im Laufe der deutschen Militärgeschichte sich wandelnden staatlichen Rekrutierungssystemen blieb die Werbung - das Sich-Bemühen dem Wortsinne nach - für länger dienenden Nachwuchs bis 1945 eine Konstante: Sie war im Heer Aufgabe des jeweiligen Regiments, folgte also einer dezentralen Praxis. Diese änderte sich durch die Bundeswehr. Nach der Verkündung des Wehrpflichtgesetzes am 21. Juli 1956 nahm im Bundesministerium für Verteidigung26 (BMVg) das zur Abteilung IV (Streitkräfte) und hier zur Unterabteilung C (Ausland/Inland) gehörende Referat 7 für »Grundlagen der Wehraufklärung und Freiwilligenwerbung« mit der Publikation erster Werbeanzeigen seine öffentlich wahrnehmbare Arbeit auf27. Nicht mehr dezentral durch den einzelnen Truppenteil, sondern zentral durch ein Referat im BMVg wurde die Werbung von Soldaten nun organisiert. Dieser Wechsel in der deutschen Militärgeschichte ist Ausdruck eines gesellschaftlich-wirtschaftlichen Wandels. Werbung verstanden die Zeitgenossen nun überwiegend nicht mehr als Anwerbung von Soldaten, sondern sie bemerkten eine Verschiebung vom 26 27

Erst seit 1961 Bundesministerium der Verteidigung. Bundesarchiv-Militärarchiv, Freiburg i.Br. (BA-MA), BW 2/8533, Gliederung nach Umstrukturierung des Amtes Blank zum BMVg mit Stand vom 22.11.1955.

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militärischen Bedeutungsfeld in das der Wirtschaft. Niederschlag findet dieses neue semantische Verständnis in der seit den 20er Jahren zunehmenden Wirtschaftswerbung. So beauftragte das BMVg Ende 1955 eine Hamburger Werbeagentur mit der Erstellung eines Gutachtens zur Freiwilligenwerbung. Aufgrund mangelnden Fachwissens für eine an den Regeln der Wirtschaftswerbung orientierte Freiwilligenwerbung der Bundeswehr einerseits und andererseits wegen der geringen personellen Ausstattung des Referats selbst verließ sich die Bundeswehr auf die Zusammenarbeit mit zivilen Werbeagenturen. In dieser Kooperation und auch in der Nutzung demoskopischer Umfragen sind wesentliche Einflussgrößen auf die Bildgestaltung in den Medien der Nachwuchswerbung zu suchen. Die Nachwuchswerbung der Bundeswehr lässt sich zwischen 1956 und 1980 in drei Phasen unterteilen28. Die hier vorgestellten Anzeigen bilden das Gelenk zwischen der ersten und zweiten Phase. Sie werben für Berufsoffiziere und Offiziere auf Zeit. Die Bundeswehr zeichnete in allen drei Phasen einen postheroischen Soldatentypus, das heißt einen im Vergleich zur Wehrmacht nicht kämpfenden, martialisch oder heroisch dargestellten Krieger, sondern einen defensiv und schützend, unpathetisch wirkenden Soldaten. Während der ersten Jahre der Werbung waren die Bilder zudem dadurch gekennzeichnet, dass sie visuelle Verbindungen und Analogien zur bildlichen Darstellung des Soldaten der Wehrmacht29 vermieden. Hierin spiegeln sich sowohl die Leitideen einer Parlamentsarmee und die Abkehr von einem vermeintlichen »deutschen Militarismus« als auch Ergebnisse demoskopischer Umfragen, die die Protesthaltung von Teilen der deutschen Bevölkerung zu berücksichtigen hatten. Dies gilt es in der Bildanalyse zu beachten. Werbeanzeigen schließen nicht nur per se einen Adressaten in ihre Botschaft ein, sondern unterliegen in ihrem Produktionsprozess einem Beobachtungsvorgang, der demoskopische Untersuchungen genauso wie Marktanalysen einbezieht. Zu diesem Verständnis ist die Werbeforschung und mit ihr die abhängige Nachwuchswerbung der Bundeswehr um 1960 allerdings noch nicht vorgedrungen. Trennschärfere Instrumente der Sozialwissenschaften etablierten sich erst Ende der 60er Jahre zu Beginn des folgenden Jahrzehnts, was der Nachwuchswerbung seit den 70er Jahren einen Erfolgsschub beschert hat. Allen Maßnahmen zum Trotz scheinen die Werbebemühungen Ende der 50er Jahre nicht zum gewünschten Erfolg geführt zu haben. Schon ab der zweiten Hälfte des Jahres 1958 konnten nicht mehr alle freien Stellen besetzt werden. Dies führte zu internen Diskussionen über die Organisation und die inhaltliche 28

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Siehe hierzu Loch, Das Gesicht der Bundeswehr (wie Anm. 25), oder knapper Thorsten Loch, Soldatenbilder im Wandel. Die Nachwuchswerbung der Bundeswehr in Werbeanzeigen. In: Visual History. Ein Studienbuch. Hrsg. von Gerhard Paul, Göttingen 2006, S. 265-282. Wolfgang Schmidt, »Maler an der Front«. Zur Rolle der Kriegsmaler und Pressezeichner der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. In: Die Wehrmacht. Mythos und Realität. Im Auftr. des MGFA hrsg. von Rolf-Dieter Müller und Hans-Erich Volkmann, München 1999, S. 635-684.

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Ausrichtung der Werbung. Es wurde deutlich, dass die gesellschaftlich nur wenig akzeptierte Bundeswehr auch ökonomisch mit der prosperierenden Wirtschaft nicht konkurrieren konnte. Die Abgrenzung vom bisherigen Soldatenbild des heroisch wirkenden Wehrmachtsoldaten allein vermochte nicht genügend Männer zum freiwilligen Dienst in den Streitkräften zu bewegen. Die Botschaften in den Anzeigen begannen nun erstmals wirtschaftliche Vorteile und Ausbildungsvorteile für einen späteren Zivilberuf zu betonen. Gleichwohl setzten sich diese Werbebotschaften erst in der dritten Phase, in der zweiten Hälfte der 60er Jahre durch. Die zweite Phase, die Jahre zwischen 1960 und 1964, hingegen war geprägt durch eine Uberbetonung des Ethos. Woher dieses, zwar durchaus weiterhin postheroische, aber mit normativen und überspitzt formuliert restaurativen Elementen gezeichnete Soldatenbild kam, ist nicht eindeutig nachzuvollziehen. Gerade in diesen - das Normative betonenden Anzeigenserien zwischen 1960 und 1964 ist einer der Gründe für die schwerwiegenden Personallücken der 60er Jahre zu suchen: die Botschaften der Nachwuchswerbung erreichten die Zielgruppe nicht, die überwiegend am sozialen und materiellen Aufstieg teilhaben wollte. Die Werbeanzeigen der Bundeswehr sind von der ersten Anzeigenlinie an in drei Elemente unterteilt. Sie bestehen aus Grafik, Text (Copy) und einem Coupon. Der Coupon, als Element des verbalen Registers, dient in allen Annoncen der Verbindungsaufnahme des Interessierten mit der Bundeswehr, der auf diesem Wege weiterführendes Informationsmaterial bestellen kann. Auf diese Weise wird aus der bislang einseitigen kommunikativen Handlung des Absenders eine tatsächliche Kommunikation. Somit dient der Coupon nicht nur einem Appell, sondern dem Absender auch als Rückkoppelungsinstrument und als Messinstrument des Werbeerfolgs. Welche konkrete Gestalt diese Kommunikation in der Bundeswehrwerbung annahm, erhellt der Blick auf die beiden Anzeigenlinien, die 1960 erschienen und für Offiziere auf Zeit und Berufsoffiziere warben. Bei erstem Hinsehen unterscheiden sie sich nicht. Ihre grafische Gestaltung ähnelt sich, und doch sind ihre Botschaften unterschiedlich.

III. »Stufen zum Erfolg« - Faktische Anreize für Zeitsoldaten Dieser Linie liegen drei verschiedene Anzeigenmotive zugrunde, von denen hier zwei näher betrachtet werden (Abb. 1-2) 3 0 . Sie folgt einem abstrakten Grundmotiv, das für die Annoncen jener Zeit eher die Ausnahme darstellte. Die Linie warb für Offiziere auf Zeit und stellte eine Reaktion auf schwindende Bewerberzahlen einerseits, aber auch auf Umfrageergebnisse über die beruflichen Vorstellungen der Zielgruppe andererseits dar. 30

Aus BA-MA, BW 2/20194, Fü Β V II, Az.: 01-55-05-25, Werbung durch Plakate, Inserate usw.

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A b b . 1:

B r i n g t d i e W e h r d i e n s t z e i t e i n e n S t i l l s t a n d in d e r Entwicklung?

Das

Gegenteil

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beruflichen

Der .Offizier

Z e i t " g e w i n n t w e r t v o l l e Erkenntnisse, reiche E r f a h r u n g -

auf und

durch eine g r o ß z ü g i g e D b e r g a n g s b e i h i l f e - ein gutes A n -

f a n g s k a p i t a l . Ein n e u e r

Weg:

O F F I Z I E R A U F Z E I T bei der

BUNDESWEHR Die Dienstzeit b e t r ö g t mindestens d r e i , höchstens z w ö l f Jahre. Einstellurrgsvoraussetzungen: Höchstalter 24 J a h r e , Reifezeugnis o d e r entsprechender B i l d u n g s s t a n d . I n A u s n a h m e f ä l l e n g e n ü g t auch d i e m i t t l e r e Reife, w e n n eine der V e r w e n d u n g entsprechende Berufsausb i l d u n g abgeschlossen w u r d e . D i e Einstellung e r f o l g t a m 1. A p r i l oder o m 1. O k t o b e r . Auskünfte e r t e i l t d i e O f R z i e r b e w e r b e r - P r ü f z e n t r a l e der Bundeswehr K ö l n , Hohe Straße 113. (Diesen Abschnitt ohne w e i t e r e Vermerke im Briefumschlag einsenden) A n das Bundesministerium für V e r t e i d i g u n g ( O Z 1 4 / « 6 ) Bonn, Ermekeilstr. 27. Ich e r b i t t e I n f o r m a t i o n s · * und Bewerbungsunterlagen" über d i e Truppeno f f i z i e r l a u f b a h n i m D i e n s t v e r h ä l t n i s eines O f f i z i e r s auf Zeit i n Heer - Luftwaffe - Marine* Name:

Vorname:

Geb.-Datum

__

S c h u l b i l d u n g : Mittelschule - G y m n a s i u m - Ingenieurschule ( H T l ) * Schulabschluß a m : Schule:

mit: mittl. Reife-Reifeprüfg, ( A b i t u r ) - HTl-Absdiluß* Klasse:

Erlernter Beruf:

Prüfung o m :

(

Kreis:

) Ort:

Straße: • Zutreffendes unterstreichen, bitte in Blockschrift a u s f ü l l e n .

204

Thorsten Loch

Das visuelle Register denotiert im oberen Drittel der Anzeige (Abb. 1) eine schwarze Fläche, die mit weißen Linien rechtwinklig durchzogen ist und wie eine gekachelte, dunkle Wand wirkt. Am unteren rechten Rand ist die Fläche nicht durchgezogen; sie wird durch eine weiße Fläche begrenzt. Diese Farbkombination lässt dadurch einen (weißen) Treppenaufgang vor einer (schwarz) gekachelten Wand erscheinen. Auf dem schwarzen Hintergrund sind zudem ein Bundesadler auf weißem Grund und ein von links unten nach rechts oben verlaufender weißer Pfeil abgebildet. Das abstrakte visuelle Register wird durch das verbale Register näher erläutert. Es setzt unmittelbar unterhalb der Grafik ein und ist dreigeteilt. Es wird durch zwei Schriftzüge dominiert. Als eine Art Headline fungiert dabei die handschriftlich anmutende Zeile »Stufen zum Erfolg«. Der Schrifttyp - dem visuellen Register zuzuordnen - bewirkt nicht nur eine persönliche Note, sondern unterstreicht darüber hinaus eine gewisse Appellfunktion. Ein weiterer beherrschender Schriftzug bildet die Mitte der Anzeige mit »Offizier auf Zeit bei der Bundeswehr«, wobei Letzterer in dem zeittypisch dynamischen Schriftzug einer Groteske gehalten ist und ein entsprechend dynamisches und unkonventionelles Bild der Streitkräfte vermittelt. Das verbale Register enthält zudem zwei größere Fließtexte, wovon der untere in allen drei Anzeigen dieser Linie identisch ist und allgemeine Informationen über die Dienstzeit in der Bundeswehr bietet. Der obere Fließtext ist individuell gehalten und beinhaltet verbale Persuasionen, die das visuelle Register erst näher bestimmen helfen. Eingeleitet durch die Frage »Bringt die Wehrpflicht einen Stillstand in der beruflichen Entwicklung?« weist das verbale Register auf eine in der Zielgruppe verbreitete Meinung hin: Wehrdienst - als Wehrpflichtiger oder als Zeitsoldat - sei verlorene Zeit, da die Bundeswehr keinen »echten« Beruf bieten könne und der finanzielle Anreiz zu gering sei31. Dies wiederum entspricht dem Wunsch der jungen Männer, am sozialen und wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben zu können. So wurde der Wehrdienst als eine Unterbrechung dieses beruflichen Aufstiegs wahrgenommen. Dieser weitverbreiteten Meinung trat diese Linie entgegen, indem sie also bereits im Copy diese Ansicht provozierend aufgriff, um sie schon im folgenden Satz vehement zu verneinen und ins Gegenteil zu verkehren. Der Beruf des »Zeitoffiziers« wird als Chance beschrieben, ein gutes Anfangskapital für einen späteren Zivilberuf zu erlangen, einerseits durch das Sammeln wertvoller Berufserfahrungen, andererseits durch die Auszahlung großzügiger Übergangsgebührnisse. Damit stellte das verbale Register den Beruf des Offiziers auf Zeit und somit den Erfahrungsschatz und die Übergangsgelder als einen neuen Weg, als die Stufen zum Erfolg dar. Insofern korrespondieren verbales und visuelles Register. So wird der denotierte Wappenadler zum Synonym für die Bundeswehr, die am Anfang des durch den weißen Pfeil dargestellten Erfolges des Betrachters steht. Eine auf gegenwärtigen Erfahrungen basierende Konnotation mit dem visuellen Register könnte auf einen erfolgreichen »Börsenchart« schließen lassen; ob dieser aber den Zeitgenossen des Jahres 1960 so allgegenwärtig gewesen ist, bleibt zu hinterfragen. Nichtsdestotrotz indiziert der aufsteigende Pfeil Erfolg und wirkt somit über den Adler auf die Bundeswehr zurück. 31

BA-MA, BW 1/382523, Kurzbefragung durch EMNID, Folge Nr. 5.

205

»Stufen zum Erfolg« Abb. 2:

Es darf keinen Stillstand in der beruflichen Entwicklung geben, und so soll uns auch die Wehrdienstzeit im Berufsleben vorwärt» bringen. Der .Offizier auf Zeit" kehrt ins Zivilleben zurück mit wertvollen Kenntnissen, praktischen Erfahrungen und - einem guten Anfangskapital. O F F I Z I S E R

A U F

SC Κ I T

fettl

d M

BUNDESWEHR Die Dienstzeit beträgt mindestens drei, höchstens zwölf Jahre. Einstellungsvoraussetzungen: Höchstalter 24 Jahre, Reifezeugnis oder entsprechender Bildungsstand. In Ausnahmefällen genügt auch die mittlere Reife, wenn eine der Verwendung entsprechende Berufsausbildung abgeschlossen wurde. Die Einstellung erfolgt am 1. April oder am 1. Oktober. Auskünfte erteilt die Offizierbewerber-Prüfzentrale der Bundeswehr K ö l n , Hohe Straße 113. (Diesen Abschnitt ohne weitere Vermerke im Briefumschlag einsenden) An das Bundesministerium für Verteidigung ( O Z 13/ 4€6) Bonn, Ermekeilstr. 27. Ich erbitte Informations-' und Bewerbungsunterlagen* über die Truppenoffizierlaufbahn im Dienstverhältnis einej Offiziers auf Zeit in Heer - Luftwaffe - Marine* Name: Vorname: Geb.-Datum Schulbildung: Mittelschule - Gymnasium - Ingenieurschule (HTl)* Schulabschluß am: mit: mittl. Reife - Reifeprüfg. (Abitur) - HTL-Abschluß* Klasse: Schule: Prüfung am: Erlernter Beruf:

(

) Ort:

Kreis:

Straße: Zutreffendes unterstreichen, bitte in Blockschrift e r f ü l l e n .

206

Thorsten Loch

Auch die zweite hier vorgestellte Anzeige dieser Linie (Abb. 2) ist vergleichbar aufgebaut. Auch ihr visuelles Register konnotiert den »Weg zum Erfolg«. Auch hier steht der Adler als Symbol für die Bundeswehr am Anfang des beruflichen Aufschwungs. Dieser ist durch eine weiße breite Linie vor einem schwarzweißen Raster dargestellt. Während die berufliche Entwicklung zunächst zu stagnieren scheint, beginnt auf Höhe des Bundesadlers der sofortige Aufstieg; die Bundeswehr steht hier also für den Aufschwung nach einer Zeit des Stillstands. Der Fließtext verrät ebenfalls, dass der Dienst in den Streitkräften um 1960 als »Stillstand in der beruflichen Entwicklung« gesehen und dies mit dem Offizier auf Zeit als Berufsalternative bestritten wurde. Der ins Zivilleben zurückkehrende Soldat brächte demnach wertvolle Kenntnisse und ein gutes Anfangskapital mit. Deutlich wird mit beiden Anzeigen, dass der negativen Einschätzung der Zielgruppe zum Wehrdienst entgegengewirkt werden sollte. Die Mittel, die dazu artikuliert wurden, lagen im Bereich faktischer Anreize. Ethische oder gar pathetische Ansätze fehlten ganz. Obwohl die Anzeigenbilder keine Soldaten abbildeten und somit recht abstrakt waren, blieben sie der bisherigen Linie treu: Sie stilisierten ein deutsches Militär, das weder kämpfend noch heroisierend präsentiert wurde. Vielmehr verdichtete sich hier die Verbindung zwischen Bundeswehr und Erfolg. Zwar wurde weder präzisiert, wie hoch das Übergangsgeld sei, noch wie man sich die »wertvollen Ergebnisse« vorzustellen habe, doch vermittelten die Anzeigen den Eintritt in eine erfolgreiche zivile Berufswelt. Die Bundeswehr wird nicht nur postheroisch, sondern auch als Bestandteil des bundesdeutschen Berufslebens dargestellt. Die Argumente, die einen potenziellen Bewerber ansprachen, konnten lauten: Obwohl alle sagen, die Bundeswehrzeit ist verlorene Zeit, kann ich dort wertvolle Erfahrungen für einen späteren Zivilberuf sammeln - und zusammen mit den Übergangsgebührnissen einen guten Grundstock für später legen - die Bundeswehr ist kein Zeitverlust, sondern ein Weg zum Erfolg.

IV. »Bau mit!« Ethische Anreize für den künftigen Berufssoldaten Die folgende Anzeigenserie erschien ab Dezember 1959; auch sie bestand aus drei Anzeigen, von denen hier zwei besprochen werden (Abb. 3-4) 32 . Im Gegensatz zur oben beschriebenen wandte sie sich jedoch an künftige Berufsoffiziere. Ihr Erscheinungsbild war ebenfalls abstrakt. Die Gestaltung oblag einer Stuttgarter Anzeigen-Expedition. Die Auflage sollte 700 Tageszeitungen mit über 16 Millionen Exemplaren umfassen33. 32 33

Aus BA-MA, BW 2/20194, Fü Β VII, Αζ:. 01-55-05-25, Werbung durch Plakate, Inserate usw. BA-MA, BW 2/20194, Fü Β VII 2, Az.: 01-55-05-25 vom 2.12.1959 (Tagesdatum handschriftlich, unleserlich).

»Stufen zum Erfolg«

207

Abb. 3:

Wir bauen

ein Haus

mit sicheren M a u e r n u n d

schützenden

Dach.

Bauherr

Bundeswehr

ist d a f ü r

ist u n s e r S t a a t ,

verantwortlich,

daß

d a s H a u s b e w o h n e n , in R u h e Ihrer A r b e i t u n d in F r i e d e n

leben

können.

und ein aussichtsreicher

einem

und

die

alle,

die

nachgehen

Eine schäne

Aufgabe

Beruf:

OFFIZIER VIR BUNDESWEHR Zum 1. Oktober und 1. April (für A p r i l - Einstellung Meldeschluß 31. J a n u a r 1960) eines jeden Jahres werden O f f i z i e r - A n w ä r t e r eingestellt. Höchstalter für zukünftige Berufsoffiziere 28 Jahre, für Fliegendes Personal 25 Jahre. Reifezeugnis einer Höheren Lehranitalt oder sonstige Hodistimlreife ist Voraussetzung. Schüler entsprechender Lehranstalten können sich als Bewerber vormerken lassen. (Diesen Abschnitt ohne weitere Vermerke im Briefumschlag einsenden) A n Bundesministerium für Verteidigung (BO 14/ ) Bonn, Ermekeilstraöe 27. Ich erbitte Informations- und Bewerbungsunterlagen über die Offizier - Laufbahn in Heer - Luftwaffe - Marine. (Zutreffendes unterstreichen) Name:

Vorname:

Geb.-Datum

Reifeprüfung am : Beruf / Schule / Klasse: (

) Ort·

Straße:

__ Kreis:

_

_

208

Thorsten Loch

Das visuelle Register in Abbildung 3 denotiert mehrere weiße und schwarze geometrische Flächen, in deren Mitte ein Bundesadler steht. Unterstrichen wird die Fläche durch einen weißen Balken mit der Inschrift »Bau mit!«. Visuelles und verbales Register sind hier unmittelbar miteinander verbunden. Allein durch den Appell zum Mitbauen - die Schriftart verstärkt ihn visuell - wird die Grafik als ein stilisiertes Gebäude erkennbar, in dessen Mitte der Bundesadler, also die Bundesrepublik oder die Bundeswehr steht. Das Fundament des Hauses ruht auf jenem weißen Balken, der zur Mitarbeit aufruft. Das verbale Register unterteilt sich erneut in die hervorgehobenen Zeilen »Bau mit!« und »Offizier der Bundeswehr«, sowie in zwei Fließtexte. Der untere Fließtext ist in beiden Abbildungen identisch und vermittelt allgemeine Informationen über Einstellungsvoraussetzungen. Der obere Textbaustein hingegen ist individuell gehalten und enthält den eigentlichen Werbetext. Demnach bauen wir ein Haus mit sicheren Mauern und einem schützenden Dach - somit werden die abstrakten geometrischen Flächen im visuellen Register definitiv als ein Gebäude erkennbar - , die Analogie zu den Anfängen der westdeutschen Sicherheitspolitik einerseits, aber auch zum »Häuslebau« des Wirtschaftswunders wird deutlich. Vor allem die Nutzung des Possesivpronomens »wir« ist doppeldeutig. Es bezieht sich zum einen auf die Bundeswehr, zum anderen bezieht es aber den Betrachter in die Botschaft mit ein und ermöglicht ihm so die Identifikation mit der Sache. Der normative Ansatz tritt deutlicher in den Vordergrund, wenn von der Verantwortung der Bundeswehr gegenüber dem Staat und seinen Bürgern gesprochen wird, zu deren Schutz und Frieden diese Sicherheitsarchitektur errichtet wird. Obwohl dem Zeitgenossen sehr wohl die Gefahren des Kalten Krieges und die Auseinandersetzungen um Berlin, Prag oder Budapest bewusst gewesen sind und er somit von der Notwendigkeit zum weiteren Aufbau der Bundeswehr und der NATO überzeugt gewesen sein mochte, präsentierten sich hier die Streitkräfte wenig kriegerisch oder militant. Ähnlich verhält es sich in Abbildung 4. Hier dominiert zunächst das verbale Register mit seiner Headline Bau mit! Auch hier ist diese mit der mittleren, ebenfalls dominanten Headline Offizier der Bundeswehr verbunden und verdeutlicht den Appell. Das visuelle Register folgt erneut einem abstrakten Grundmuster. Es präsentiert grafische Flächen, die sich als Mauerstück und Betonwand identifizieren lassen und an eine Baustellenszene erinnern. Ob hier eine visuelle Anspielung an die Politik des Containment der NATO gegenüber dem Warschauer Pakt beabsichtigt war, oder ob lediglich erneut ein Motiv gewählt wurde, das in der Lage war, die verbale Botschaft visuell zu verstärken, bleibt hier offen. Es sind nämlich die dargestellten Bausteine unserer Bundeswehr - Leistung und Tüchtigkeit - , die den Zweck haben, die freiheitliche Lebensordnung zu schützen und den Frieden zu bewahren. Somit steht der Adler im visuellen Register stellvertretend für die Bundeswehr, die einen Beitrag zur Verteidigung der bundesdeutschen Gesellschaft leistet. Interessant ist auch hier, dass die Bundeswehr mit Attributen wie Frieden bewahren und schützen umschrieben wird. Auch hier wird also das bisherige Muster, die Streitkräfte nicht aggressiv oder heroisch, sondern defensiv und eben postheroisch darzustellen, weiter fortgeführt.

209

»Stufen zum Erfolg

Abb. 4:

Leistung

und

Tüchtigkeit sind

die

Bausteine

B u n d e s w e h r . W i r brauchen iunge, tüchtige die

als

schönen

Berufsoffiziere und

großen

lebensordnung

mitarbeiten Aufgabe:

wollen

Unsere

schützen u n d d e n Frieden

unserer

Menschen, an

einer

freiheitliche bewahren!

W i r fordern viel, doch w i r bieten - n e b e n finanzieller Sicherheit - v o r a l l e m eins: Freude a n der A r b e i t !

OFFIZIER DER BUNDESWEHR Zum 1. Oktober und 1. April (Für April-Einstellung Meideschluß 31. Januar 1960) eines jeden Jahres werden Offizier-Anwärter eingestellt. Höchstalter für zukünftige Berufsoffiziere 28 Jahre, für Fliegendes Personal 25 Jahre. Reifezeugnis einer hteberen-tehramtcrtt oder sonstige Hochschulreife ist Voraussetzung. Schüler entsprechender Lehranstalten können sich als Bewerber vormerken lassen. (Diesen Abschnitt ohne weitere Vermerke im Briefumschlag einsenden) A n Bundesministerium für Verteidigung (BO 13/ ) Bonn, ErmekeilstraBe 27. Ich erbitte Informations- und Bewerbungsunterlagen über die O f f i z i e r - L a u f b a h n in Heer - Luftwaffe - M a r i n e . (Zutreffendes unterstreichen) Name:

Vorname ι

Geb.-Datum

Reifeprüfung a m : Beruf / Schule / Klasse: (

) Ort:

Strode ι

Kreis ι

210

Thorsten Loch

Im Übrigen wurde die Linie durch das am Mitzeichnungsgang beteiligte Referat Fü Η 13 kritisiert. Eine hier nicht abgebildete Anzeige erinnerte zu sehr im visuellen Register an einen Stacheldrahtverhau = (!) - ein Eindruck, den es zu vermeiden gelte. Anzeige 3 wurde als »einigermaßen brauchbar« und Anzeige 4 als nicht sonderlich erbaulich bewertet, da die Grafik zu sehr an einen Briefkasten erinnere34. Die Linie Bau Mit! betonte einen ethischen Ansatz. Nicht in erster Linie materielle Anreize, wie Übergangsgelder oder Erfahrungsvorteile für einen späteren Zivilberuf, wurden beworben, sondern es wurde an das Ehr- und Pflichtgefühl des potenziellen Berufssoldaten, an den Offizier der Bundeswehr appelliert. Diese Linie steht in Analogie zur Plakatserie Mach mit!, die ebenfalls um 1960 erschien35. Auch sie nutzte einen Appell, indem sie zur Mitarbeit aufrief. Gleichwohl wurde dort weniger auf ethische oder materielle Argumente abgezielt; vielmehr wurden teilstreitkraftspezifische militärische Erlebniswelten präsentiert. Auch hier zeigte man einen Soldatentypus, der als postheroisch zu charakterisieren ist. Das Bild, das sich die Gesellschaft aus den öffentlich verbreiteten Soldatenbildern machen konnte, war weit von dem Bild entfernt, das sie von deutschem Militär allgemein oder der Wehrmacht im speziellen haben konnte. Dabei wurde die Bundeswehr immer als eine leistungsbereite, aber defensiv ausgerichtete Armee präsentiert. Ungeachtet dieser Diskrepanz hat die Werbung kein irreführendes Bild gezeichnet. Die in der Freiwilligenwerbung verwendeten Bilder sind allerdings das Produkt eines komplexen Beobachtungsvorgangs, nämlich der Beobachtung der Zielgruppe durch die Meinungs- und Motivforscher. Sie berieten und schlugen solche Bilder vor, von denen angenommen werden konnte, dass sie die Zielgruppe am besten zu erreichen in der Lage waren. Letztlich aber sind auch Einflussgrößen aus der Bundeswehr selbst zu verzeichnen. Auch wenn dieses öffentlich verbreitete Bild der Bundeswehr weiterhin ohne das charakteristische Pathos der Wehrmacht auskam, beginnt doch mit dieser Linie zeitlich gesehen eine Abkehr von abstrakten und sich von der Wehrmacht distanzierenden Bildern und hin zu den das Ethos betonenden Anzeigenserien, die bis etwa Mitte der 60er Jahre in Umlauf waren. Es sind diese Linien mit ihrem berufsethischen Ansatz, die die Suche der Bundeswehr nach ihrem Platz in der bundesdeutschen Gesellschaft ausdrücken. So gesehen kommen diese Anzeigen einem Hilferuf gleich: Es ist das Dilemma im Selbstbewusstsein der Streitkräfte, einerseits zwar für die Sicherheitsarchitektur der jungen Republik verantwortlich zu sein, gleichzeitig aber zu glauben, durch die Gesellschaft nicht akzeptiert und abgelehnt zu werden36. Dies ist ein unmittel34 35 36

BA-MA, BW 2/20194, Fü Η I 3, Az.: 01-55-05-25 vom 10.12.1959. Siehe Loch, Nachwuchswerbung (wie Anm. 23), S. 390, 4 2 5 - 4 3 8 . Inwiefern es sich hierbei um eine Perzeption der Bundeswehr oder eine historische Tatsache handelt, bleibt angesichts eines Desiderats der inneren Verhältnisse der Bundeswehr offen. Es bleibt aber anzumerken, dass es weder die Bundeswehr, noch die Gesellschaft gab.

»Stufen zum Erfolg«

211

barer Ausdruck der eingangs aufgeworfenen Diskussion über die Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft. Von ihrem berufsethischen Ansatz wird sich die Nachwuchswerbung Mitte der 60er Jahre beginnen zu verabschieden und sich mit Linien wie »Unteroffiziere - Meister ihres Fachs« oder »Wir produzieren Sicherheit« auf Argumente verlagern, die für die 70er und 80er Jahre typisch bleiben werden: Die Bundeswehr als Ausbildungsstätte und verlässliche militärische Größe im westlichen Bündnis. Das Grundmotiv des postheroischen Soldaten bildet weiterhin den Roten Faden.

V. Zusammenfassung In diesem Beitrag wurden zwei Anzeigenlinien der Nachwuchswerbung der Bundeswehr betrachtet. Beide erschienen ab Ende 1959. Sie liegen zeitlich sowohl an der Grenze der 50er und 60er Jahre - repräsentieren also einen eventuellen Aufbruch in das Jahrzehnt demokratischen Wandels - als auch zwischen zwei organisatorisch und inhaltlich zu differenzierenden Phasen der Freiwilligenwerbung. Dabei ging der Beitrag der Frage nach, welches Soldatenbild in die Öffentlichkeit transportiert wurde, und zudem, ob hieraus Aussagen über das Verhältnis von Gesellschaft und Bundeswehr gezogen werden können. Im Hinblick auf das veröffentlichte Soldatenbild muss geurteilt werden, dass auch die hier vorliegenden Linien dem seit 1956 präsentierten und im Vergleich zur Wehrmacht als postheroisch zu charakterisierenden Leitbild folgten. Die Bundeswehr wurde defensiv, das heißt schützend und bewahrend, niemals aggressiv, kämpfend oder bedrohlich dargestellt. Wenn die ersten Anzeigen der Jahre 1956/57 von dem Versuch der Etablierung der Bundeswehr in der Gesellschaft geprägt waren - Vermeidung einer Anlehnung an die Wehrmacht, Schaffung einer identifizierenden Haltung mit »Unserer Bundeswehr« - , so wurde nun in der Zielgruppenansprache nach Zeitsoldaten und Berufssoldaten differenziert. Dem potenziellen Zeitsoldaten präsentierte die Werbung materielle Anreize, wie Ubergangsgebührnisse und Ausbildungsvorteile, den kommenden Berufssoldaten hingegen versuchte sie mit dem Dienst am Staats- und Gemeinwesen zu motivieren und lieferte ihm somit überwiegend ethische Argumente. Was sagen die Bilder dem heutigen Betrachter noch? Welche Aussagen über die schriftlichen Quellen hinaus können sie liefern? Anhand der Anzeigenlinie Bau mit! könnte geurteilt werden, die Bundeswehr habe hier über die Nachwuchswerbung bewusst ein Element der Restauration oder der normativen Orientierung in die Öffentlichkeit transportieren wollen. Lässt sich dies aber tatsächlich aus diesen Anzeigenbildern herauslesen? Zweifelsohne sind die Bilder dementsprechend zu deuten. Aber ohne schriftliche Überlieferungen diese liegen leider nicht vor - können keine Aussagen über die eventuellen Kommunikationsabsichten getroffen werden. Folgten also diese und die nach-

212

Thorsten Loch

folgenden Linien einem Versuch zur Militarisierung der Gesellschaft oder zeigten sie nicht vielmehr, wie wenig die Streitkräfte bislang in die Gesellschaft integriert gewesen sind? Oder finden sich in den Anzeigen Ergebnisse demoskopischer Umfragen und somit Beobachtungen der Zielgruppe durch die Werber und die werbetechnische Umsetzung? Letztlich sind Bilder im Allgemeinen und Werbeanzeigen im Speziellen wichtige Quellen. In ihnen spiegelt sich aber nicht die Verfasstheit ihrer jeweiligen Zeit wider. Sie bilden weder eine Innen- noch eine Außenansicht auf die Bundeswehr ab. Sie sind das Produkt eines komplexen Beobachtungsvorganges in einer komplexen und bisweilen undurchsichtigen Organisations- und Entscheidungsstruktur, die es nicht erlauben, in ihnen einen eindeutigen Repräsentanten vergangener Zeiten zu erblicken.

Rudolf J. Schlaffer Das Wirken des Wehrbeauftragten in der politischen Kommunikation Die »Heye-Affäre« mündete im November 1964 in ein politisches Desaster. Dieses Ergebnis resultierte zum einen aus der Diffamierung der Person Helmut Guido Heyes, zum anderen aus der Beschränkung des Wehrbeauftragtenamtes, schließlich aus dem Mangel an politischer Kultur sowie demokratischem Verständnis der Entscheidungsträger in der frühen Bundesrepublik Deutschland. Um aber das Wirken des Wehrbeauftragten im politischen System, und hier vor allem auf dem Feld der Kommunikation, analysieren zu können, bedarf es einer kurzen theoretischen Herleitung des Kommunikationsbegriffs und seine Verortung in der politischen Systemgeschichte. Das Amt des Wehrbeauftragten wurde als verspätete Institution seit 1956 in das politische System der Bundesrepublik integriert. Der parlamentarische Auftrag, jährlich einen Tätigkeitsbericht abzugeben, verschaffte ihm eine öffentliche Wirkung. Es wurde damit zu einem »Hilfsorgan der Öffentlichkeit«. Besonders deutlich wurde dieser Effekt in der »Heye-Affäre«, die sich aber vor allem deshalb zu einer Affäre entwickelte, weil die Nachrichten unkalkuliert und ungesteuert gesendet wurden. Dabei stehen in den folgenden Ausführungen weniger das Interesse und die Art des Mediums im Blickfeld, sondern die Absicht des Verursachers sowie die Reaktion innerhalb des politischen und militärischen Systems. Schließlich stellt sich die Frage nach den Folgen einer solchen Affäre für die weitere Entwicklung.

I. Kommunikation in der politischen Systemgeschichte Die Kommunikationsebene zwischen den Akteuren in politischen Entscheidungsprozessen ist ein wesentlicher Faktor für die Durchsetzung von Interessen. Politisches Handeln als Ausdruck von Herrschafts- und Machtprojektion ist begleitet von Aktion wie Interaktion zwischen den mittelbar und unmittelbar beteiligten Personen. Kommunikation bildet daher den zentralen Bezugspunkt

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Rudolf J. Schlaffer

innerhalb einer differenzierten m o d e r n e n Gesamtgesellschaft 1 . Unbedingte Voraussetzung für eine erfolgreiche Verständigung unter den Partnern bleibt ein möglichst hoher Vorrat an gemeinsamen Zeichen 2 . In einem solchen semiotischen Diskurs, dessen begriffliche Erklärung w e d e r theoretisch noch methodisch bisher geleistet w o r d e n ist, kommunizieren Institutionen oder fest etablierte H a n d l u n g s z u s a m m e n h ä n g e wie Milieus bzw. Berufsfelder miteinander, u m damit die »Reproduktion von Ungleichheit u n d Herrschaft« vorzunehmen 3 . Mittelbare Kommunikationsformen, beispielsweise d u r c h Medien, wie auch unmittelbare, durch die Gegenwart der Personen auf verbale und nonverbale Weise hergestellte F o r m e n sind kein ausschließliches Kennzeichen eines d e m o kratischen Staates in der Moderne 4 , sondern eine übergreifende Realität sozialen Handelns 5 . Das »soziale Handeln« als Schlüsselbegriff der Soziologie mit den Elementen »Interaktion« und »Kommunikation« fand in den vergangenen Jahren eine verstärkte Berücksichtigung in der historischen Sozialforschung im Allgemeinen 6 und in der zeitgeschichtlichen i m Besonderen 7 . Gerade die Macht 1 2 3 4

5 6

7

Vgl. Niklas Luhmann, Einführung in die Theorie der Gesellschaft. Hrsg. von Dirk Baecker, Heidelberg 2005, S. 24-25, 61-86. Manuel Schulz, Kommunikation aktiv, Neuwied 1999, S. 16-18. Lutz Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme: Theorien, Methoden Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003, S. 236. Unter der Moderne versteht man in der historischen Forschung gemeinhin die Epoche, die mit der demokratisch-industriellen Gesellschaftsordnung begann, die ihren Ursprung in England im 17. und 18. Jahrhundert hatte. Mit dem Begriff soziale Moderne wird vor allem die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in einem demokratischen Staat verstanden. Vgl. Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999, S. 174 f. In der Soziologie bezeichnet die Moderne eine funktional differenzierte Gesellschaft. Vgl. Luhmann, Einführung (wie Anm. 1), S. 260-285; Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim, Individualisierung in modernen Gesellschaften - Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie. In: Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. Hrsg. von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim, Frankfurt a.M. 2004, S. 17-20; Jürgen Habermas, Individuierung durch Vergesellschaftung. In: Riskante Freiheiten, S. 437-446, hier S. 441, 445. Vgl. zum Begriff des sozialen Handelns bei Hans Paul Barth, Schlüsselbegriffe der Soziologie. Eine Einführung mit Lehrbeispielen, 6. Aufl., München 1994, S. 30-47. So beispielsweise Anuschka Tischer, Der Wandel politischer Kommunikation im Kriegsfall: Formen, Inhalte und Funktionen von Kriegsbedingungen der Kaiser Maximilian I. und Karl V. In: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, 9 (2005), 1, S. 7-28; Andreas Gestrich, Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 103). Vgl. Klaus Kamps, Die offene Gesellschaft und ihre Medien. Transformations- und Modernisierungsprozesse, Bonn 1998. Weitere wichtige Veröffentlichungen zu dieser Thematik legten bisher vor: Knut Hickethier, Mediengeschichte. In: Einführung in die Medienwissenschaft. Konzeption, Theorien, Methoden, Anwendungen. Hrsg. von Gebhard Rusch, Wiesbaden 2002, S. 171-188; Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Hrsg. von Jürgen Wilke, Köln [et al.] 1998; Dieter Prokop, Medien-Macht und MassenWirkung. Ein geschichtlicher Überblick, Freiburg im Breisgau 1995; Axel Schildt, Der Beginn des Fernsehzeitalters. Ein neues Massenmedium setzt sich durch. In: Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre. Hrsg. von Axel Schildt und Arnold Sywottek, ungekürzte, durchges. und aktual. Studienausgabe, Bonn 1998, S. 477-492; Axel Schildt, »Massengesellschaft« und »Nivellierte Mittelschicht«.

Das Wirken des Wehrbeauftragten

215

der Medien als »vierte Gewalt« wurde lange Zeit unterschätzt und der politischen Handlungsfähigkeit von Akteuren, seien es Personen oder Institutionen, untergeordnet. Das große Wirkungspotenzial medialer Prozesse hinsichtlich der Entscheidung der Akteure wurde dabei kaum berücksichtigt 8 . In der politischen Kommunikation fungiert die gesendete Nachricht fast ausschließlich als Mittel zur Durchsetzung von Macht und Herrschaft. In demokratischen Gesellschaften ist dabei die Frage nach jenen kommunikativen Strukturen aufgeworfen, welche die Öffentlichkeit zu gewährleisten im Stande sind. Die Öffentlichkeit zeigt sich auch in der Bundesrepublik Deutschland weniger als eindimensionale, kritische bürgerliche Öffentlichkeit, sondern als spezifische Vieldimensionalität 9 . Der Kampf um die vorherrschende Meinung im öffentlichen Diskurs, und damit einhergehend, um Zustimmung zur eigenen politischen Handlungsweise dominiert das Denken der Akteure. Die Realität solcher politischen Kommunikation verweist dabei auf einen Politikbegriff, der weniger eine Kunst als vielmehr den Kampf um Macht beschreibt. Macht auszuüben und durchzusetzen als Ziel politischen Wollens bedarf einer kunstvollen Vermittlung des Kontextes in einer Nachricht. Daher ist die Kontextualisierung von politischer Kommunikation eine unabdingbare Voraussetzung für die Analyse der Prozesse 10 . In der modernen politischen Systemgeschichte steht nicht mehr der Staat als Ganzes im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern diese Stelle haben Teilbereiche wie das politische, gesellschaftliche, aber auch das militärische System eingenommen. Nicht nur das Handeln von Eliten, Organisationen und Institutionen kann damit analysiert werden, auch die Ursachen und die Folgen der Entscheidungsprozesse kommen in den Blick. Die Kontrolle von Regierungsund Verwaltungshandeln, die Legitimität des Regierungsaktes wie die Projektion von politischer Macht sind dabei wichtige Kategorien 11 . Moderne politische

8

9

10

11

Zeitgenössische Deutungen der westdeutschen Gesellschaft im Wiederaufbau der 1950er Jahre. In: Eliten im Wandel: Gesellschaftliche Führungsschichten im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Klaus Saul. Hrsg. von Karl Christian Führer, Münster 2004, S. 198-213. Andreas Schulz, Der Aufstieg der »vierten Gewalt«. Medien, Politik und Öffentlichkeit im Zeitalter der Massenkommunikation. In: Historische Zeitschrift, 270 (2000), S. 65-97. Vgl., Cultures of Communication from Reformation to Enlightenment: constructing publics in the early modern German lands. Ed. by James van Horn Melton, Aldershot [et al.] in Abgrenzung zu Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962. Siehe weiterhin: Sprache des Parlaments und Semiotik der Demokratie. Studien zur politischen Kommunikation in der Moderne. Hrsg. von Andreas Dörner und Ludgera Vogt, Berlin, New York 1995 (= Sprache, Politik, Öffentlichkeit, 6), sowie Die Kommunikation der Medien. Hrsg. von Jürgen Fohrmann und Erhard Schüttpelz, Tübingen 2004 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 97). Vgl. Thomas Mergel, Politikbegriffe in der Militärgeschichte. Einige Beobachtungen und ein Vorschlag. In: Was ist Militärgeschichte? In Verbindung mit dem Arbeitskreis Militärgeschichte e.V. hrsg. von Thomas Kühne und Benjamin Ziemann, Paderborn 2000 (= Krieg in der Geschichte, 6), S. 141-156. Peter Borowsky, Politische Geschichte. In: Geschichte. Ein Grundkurs. Hrsg. von HansJürgen Goertz, Reinbek b. Hamburg 1998, S. 475-488, hier S. 483-487. Vgl. Jost Dülffer, Militärgeschichte und politische Geschichte. In: Was ist Militärgeschichte? (wie Anm. 10),

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Rudolf J. Schlaffer

Geschichte bedarf für eine tiefere Analyse der Wirkungszusammenhänge der Berücksichtigung von Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft, in denen das Militär in der Demokratie einen oft verkannten, aber dennoch wesentlichen Teilbereich darstellt. Modernisierungstheoretisch betrachtet beschreibt solch eine Geschichte gesellschaftlich den sozialen und staatlich den politischen Wandel, eng verbunden mit und angetrieben von der wirtschaftlichen Entwicklung, die ihrerseits durch den technischen Fortschritt befördert wird 12 . Der politische Akteur handelt in einem soziokulturellen und sozioökonomischen Geflecht13. Dieser Zusammenhang gilt im soziokulturellen Bereich besonders für das Amt des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages. Diese politische Institution war mit der Kontrolle der Streitkräfte beauftragt worden, um den Soldaten vor willkürlichen Handlungen innerhalb des militärischen Systems zu schützen. Vor diesem Hintergrund vollzogen sich Interaktion und Kommunikation in vier zentralen funktionalen Spannungsfeldern: erstens im Gesetzesauftrag, zweitens in der Stellung innerhalb des parlamentarischen Systems, drittens im Verhältnis zur Bundeswehr und viertens in der Öffentlichkeit 14 . Das Amt bietet sich in seiner Funktion als soziales Korrelationsinstrument für politische Kommunikation im gesellschaftlichen System geradezu beispielhaft an. Die These, wonach es unvermeidbar sei, zu kommunizieren, stützt sich vor allem auf eine mit sozialpsychologischen Methoden vorgenommene Analyse von Kommunikationsabläufen 15 . Innerhalb des politischen Teilbereichs der Gesellschaft, insbesondere in Bezug zum Militär, aber auch in der Interaktion mit den übrigen Domänen wurde diese These von der Geschichtswissenschaft noch nicht in den Blick genommen. Daher gilt es, sie mit folgenden Fragen am historischen Beispiel zu überprüfen: Wie kommunizierte der Wehrbeauftragte seinen politischen Auftrag, der darin bestand, das Militär zu kontrollieren? Inwieweit konnte ungesteuerte Kommunikation eine politische Krise verursachen?

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S. 127-140; Mergel, Politikbegriffe in der Militärgeschichte (wie Anm. 10); Jutta Nowosadtko, Krieg, Gewalt u n d Ordnung. Einführung in die Militärgeschichte, Tübingen 2002, S. 150-154. Weitere Überlegungen zur Militärgeschichte bei Beatrice Heuser, Kriegswissenschaft, Friedensforschung oder Militärgeschichte? Unterschiedliche kulturelle Einstellungen zum Erforschen des Krieges. In: Militärgeschichte - Erfahrung u n d Nutzen. Beiträge z u m 80. Geburtstag von Reinhard Brühl. Hrsg. von Detlef Nakath u n d Lothar Schröter, Potsdam 2005, S. 119-146. Anja Rullmann, Modernisierung und Dependenz. Paradigmen internationaler Kommunikationsforschung, In: Internationale Kommunikation: eine Einführung. Hrsg. von Miriam Meckel und Markus Kriener, Opladen 1996, S. 19-48, hier S. 20-23. Christoph Cornelißen, Politische Geschichte. In: Geschichtswissenschaften. Eine Einführung. Hrsg. von Christoph Cornelißen, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 2000, S. 133-144, hier S. 143. Vgl. Monika Wienfort, Monarchie in der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1993. Vgl. Rudolf J. Schlaffer, Der Wehrbeauftragte 1951 bis 1985. Aus Sorge u m den Soldaten, München 2006 (= Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland, 5). Paul Watzlawick, Janet Η. Beavin u n d Don D. Jackson, Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, 10. Aufl., Bern, Stuttgart, Toronto 2000, S. 46.

Das Wirken des Wehrbeauftragten

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II. Der Wehrbeauftragte als »Hilfsorgan der Öffentlichkeit« Das Amt des Wehrbeauftragten kann deswegen als ein anregendes Beispiel für politische Kommunikation dienen, weil der Wehrbeauftragte auf mehreren Ebenen agiert. In der funktionalen Ebene wird er aufgrund seines Auftrages tätig. Er kontrolliert die Bundeswehr und kommuniziert mit ihr. Seine Gesprächspartner handeln dabei als Funktions- und Interessenträger zugleich. Der Wehrbeauftragte befindet sich bei der Wahrnehmung seiner Tätigkeit in einem ständigen Intra-Rollenkonflikt oder in einer Sandwich-Position. Charakteristisch besonders für Führungskräfte im mittleren Management beschreibt eine solche Position den Vorgesetzten gleichsam als ein »armes Würstchen«, eingezwängt zwischen Erwartungen und Forderungen von oben wie unten16. Der Wehrbeauftragte gerät in dieses Verhältnis von oben durch die Regierungsmehrheit im Parlament und von unten durch die Petenten. Sein Amt ist geprägt durch den unüberbrückbaren Interessenkonflikt zwischen der Exekutive, die auf Strukturund Funktionserfordernisse der Streitkräfte ausgerichtet bleibt, und den Rechtsund Freiheitsansprüchen der Soldaten. Deshalb ist es auch von einem Dauerkonflikt und einer verstärkten Krisenanfälligkeit gekennzeichnet gewesen17. Für die Aufgabenwahrnehmung des Wehrbeauftragten ergaben sich daher unterschiedliche Kommunikationsformen mit den dazu gehörigen jeweiligen Adressaten der Nachricht. Mit den Funktionsvertretern im Verteidigungsministerium musste er aus pragmatischen Gründen zusammenarbeiten, um Informationen zu erhalten, aufzuklären und abzuhelfen, während er es bei den von Interessen Geleiteten, hier vor allem den Petenten oder Parlamentariern, mit Personen zu tun hatte, die sich mit einem Anliegen an ihn wandten, um von ihm funktionale Hilfe zu erhalten. Der sachliche Aspekt überwog in der Kommunikation mit der politischen Leitung, der militärischen Führung und der Truppe, jedoch floss hier oftmals auch ein persönlicher mit ein. Die Interaktion mit der politischen Leitung fand zumeist in Verbindung mit den politischparlamentarischen Entscheidungsträgern und Gremien statt. Auf dieser Ebene wurde zumeist sachlich kommuniziert. Mit den Medien, Lobbyisten und der Öffentlichkeit verfolgte der jeweilige Amtsinhaber eine Interessenkommunikation, in der er selbst als Lobbyist in eigener Sache auftrat. Auf dieser Kommunikationsebene lag zwar nicht sein funktionaler Hauptauftrag, wohl aber sein größtes Wirkungspotenzial. Nur im Verbund mit der Öffentlichkeit konnte der Wehrbeauftragte schließlich seinen Kontrollauftrag gegenüber der Bundeswehr und seinen Informationsauftrag gegenüber dem Parlament zur Geltung bringen

Friedemann Schulz von Thun, Johannes Ruppel und Roswitha Stratmarvn, Miteinander reden: Kommunikationspsychologie für Führungskräfte, 2. Aufl., Reinbek b. Hamburg 2000, S. 15-17. Wolfgang R. Vogt, Militär und Demokratie. Funktionen und Konflikte der Institution des Wehrbeauftragten, Hamburg 1972, S. 232-235, hier S. 320.

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und erfüllen. Im Weiteren steht aber nicht die Kommunikation mit den Petenten, sondern mit den politischen und militärischen Funktionsträgern im Blickfeld18. Das Amt des Wehrbeauftragten war in den ersten zehn Jahren seiner Entwicklung von 1959 bis 1969 mehreren Krisen ausgesetzt. Diese wirkten sich aber letztlich nicht negativ aus, sondern beförderten geradezu die Konsolidierung. Seinem Wesen nach war es als Institution angelegt, die Interessengegensätze ausgleichen, Konflikte lösen und Vertrauen bilden sollte. Die Bundeswehr erkannte zwar erst nach langen Jahren der Konfrontation die Vorteile, die auch ihr mit dem Kontrolleur zugefallen waren, wusste aber spätestens seit den 70er Jahren um dessen wichtige politische und öffentliche Wirkung. Der Wehrbeauftragte konnte die Bundeswehrführung durch seine Feststellungen be- oder entlasten. Die Mängelbeseitigung war wichtiger geworden als die bloße Dementierung und Abwehrhaltung. Den Soldaten aller Ebenen kam diese konfrontative Kooperation zugute, denn sie profitierten von den Abhilfemaßnahmen unmittelbar. Dies führte auch bei ihnen zu einer Wahrnehmungsänderung. Der Wehrbeauftragte wurde seither überwiegend als Anwalt bzw. Verbündeter und weniger als »Oberaufpasser« gesehen. Hinter diesen funktionalen Aspekten schimmerten immer wieder biografische durch. Die Persönlichkeit des jeweiligen Amtsinhabers war für die Entwicklung des Amtes und seine kommunikative Wirkung von erheblicher Bedeutung. Die beiden ehemaligen Angehörigen der Wehrmachtelite, Generalleutnant a.D. Helmuth Otto von Grolman und Vizeadmiral a.D. Hellmuth Guido Heye, verliehen dem Amt vor allem in der Bundeswehr erst einmal mehr Respekt durch ihre militärische Vergangenheit denn als Wehrbeauftragte 19 . Als mit dem Juristen Matthias Hoogen, der zwar während des Krieges in der Wehrmachtjustiz verwendet worden war, ein Berufspolitiker, der zudem nur über eine dünne parlamentarische Mehrheit verfügte, zum Wehrbeauftragten gewählt wurde, war dies mehr ein Ausdruck der Aushilfe als einer konstruktiven Besetzung. Das Ansehen Hoogens im parlamentarischen wie im öffentlichen Raum, aber auch innerhalb der Bundeswehr war gering, jedoch stellte es die weitere Notwendigkeit des Amtes nicht ernsthaft infrage. Mit dem Regierungswechsel von der Großen zur sozial-liberalen Koalition 1969 wurde mit Fritz-Rudolf Schultz erstmals der Vertreter einer kleinen Partei in das Amt gewählt. Er war somit eine Konzession an den Juniorpartner FDP durch die SPD. Sein Nachfolger Karl Wilhelm Berkhan 1975-1985 war der erste Spitzenpolitiker in diesem Amt. Zwar waren alle vorherigen Amtsinhaber profilierte und kompetente Wehrexperten, jedoch konnte der Vorwurf, das Amt werde mit

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Zur Kommunikation zwischen dem Wehrbeauftragen und Petenten siehe Schlaffer, Der Wehrbeauftragte (wie Anm. 14). Dies zeigte sich auch in der Form. Beide wurden im offiziellen Schriftverkehr meist mit ihrem ehemaligen Wehrmachtdienstgrad in der Anrede angeschrieben.

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parteipolitisch verdienten Honoratioren besetzt, nie ganz entkräftet werden 20 . Aber mit dem vormaligen Stellvertreter des Verteidigungsministers übernahm erstmals ein Spitzenrepräsentant der politischen Führung der Bundeswehr diese Funktion. Seine internen Kenntnisse sowohl auf dem politischen als auch auf dem Streitkräftefeld zeigten in seiner Amtszeit Wirkung. Doch profitierte gerade er von den Leistungen seiner Vorgänger in einem hohen Maße, vor allem in der Frage der Kompetenz. Seine Amtsperiode schloss die Konsolidierung ab und leitete eine Gestaltungsphase ein. Der Wehrbeauftragte war nunmehr nicht nur fest etabliert, er hatte sich auch im Staatsgefüge eine bedeutende Position gesichert. Besonders die öffentliche und kommunikative Wirkung des Amtes wurde nicht mehr unterschätzt. Deshalb gab es auch kaum noch Vereinnahmungs- oder Ausgrenzungsversuche seitens der Bundeswehr. Die Streitkräfte wussten inzwischen mit dem parlamentarischen Kontrollorgan umzugehen. Der immanente Dualismus zwischen dem Verteidigungsressort und dem Amt des Wehrbeauftragten blieb aber erhalten. Zwar entwickelte sich das Amt nicht zu einem Gegenministerium, konnte aber auch nicht in die jeweilige Parteidisziplin eingebunden werden. Der Wehrbeauftragte erarbeitete sich eine überparteiliche Stellung, die ihm zu einem konstruktiven Anwalt der Soldaten und Sachwalter der Streitkräfte im Deutschen Bundestag werden ließ. Diese Entwicklung war freilich mehr den Personen als allein der Funktion geschuldet.

III. Die »Heye-Affäre« als Beispiel für ungesteuerte politische Kommunikation Nach dem unrühmlichen Abgang des ersten Wehrbeauftragten von Grolman aufgrund einer privaten Affäre übernahm mit Hellmuth Heye im Jahr 1961 eine militärisch und politisch profilierte Person das Amt. Seine Amtszeit sollte vom Skandal in Nagold geprägt werden, der 1963 mit dem Tod des wehrpflichtigen Fallschirmjägers Gerd Trimborn seinen Kulminationspunkt erreichte. Vor allem aufgrund dieses Vorfalles sah sich Heye veranlasst, die Öffentlichkeit über die Entwicklungen in der Bundeswehr zu informieren, zumal er sich von seinem Auftraggeber, dem Deutschen Bundestag, nicht ausreichend wahrgenommen fühlte. Er entschloss sich, im Juni und Juli 1964 den bereits vorgelegten Jahresbericht für 1963 sinngemäß in der Illustrierten Quick mit der Schlagzeile »In Sorge um die Bundeswehr« zu veröffentlichen. Darin wies er auf das problematische Verhältnis der Reichswehr zur Weimarer Republik hin: »Es ist bedauerlich, es aussprechen zu müssen: Wenn wir das Ruder nicht jetzt herumwerfen, entwickelt sich die Bundeswehr zu einer Truppe, wie wir sie nicht gewollt 20

Vogt, Militär und Demokratie (wie Anm. 17), S. 326. Das Amt sei lediglich eine Versorgungsstelle für Auslaufmodelle und zweitrangige Politiker gewesen (Interview des Verfassers mit Prof. Dr. Wolfgang R. Vogt), 9.7.2003.

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haben. Der Trend zum Staat im Staat ist unverkennbar 21 .« Mit dem Verweis darauf, dass er machtlos sei, diese Entwicklung zu verhindern, rechtfertigte Heye sein ungewöhnliches Vorgehen 22 . Der Wehrbeauftragte, der sich in den Positionskämpfen zwischen Reformern und Traditionalisten 23 innerhalb der Vgl. In Sorge um die Bundeswehr, München 1964 (= Dokumentationsreihe wichtiger Quick-Berichte, Bd 2), S. 14-20, 7 8 - 8 3 . Die aus drei Berichten bestehende Serie und ein Artikel von Franz Josef Strauß sind in dem Sonderdruck der Quick-Berichte mit dem Titel »In Sorge um die Bundeswehr« zusammengefasst worden, Zitat auf S. 78. Ebd., S. 78: »Ich war bei Amtsantritt der Überzeugung, die Entwicklung in diesem Sinne beeinflussen zu können. Heute muß ich bekennen, daß dies reines Wunschdenken war. Nach dem neuen Stil muß man in der Bundeswehr mehr und mehr suchen. Mehr noch: Die Möglichkeit, kraft meines Amtes diese enttäuschende Entwicklung aufzuhalten, wird zunehmend beschnitten. Das gilt auch für alle reformfreudigen Kräfte in der Bundeswehr.« Diese wurden von Baudissin immer mit »die Gestrigen« bezeichnet: »Mir ist es nie so deutlich geworden wie bei meinem Bonnbesuch, wie sehr sich die Entwicklung in der Bundeswehr zuspitzt. Die Gestrigen haben mit ihrem hierarchischen Ubergewicht, der grösseren Einfachheit und Vordergründigkeit dessen, was sie anbieten, unter der schützenden Hand von Strauss und bis zum gewissen Grade auch Lübkes, mit dem deutlichen Concensus der politischen Provinz und bei erlahmender Wachsamkeit von Opposition und Oeffentlichkeit erheblich Boden gewonnen, sie fühlen sich jedenfalls eindeutig im Kommen und wirken entsprechend stark auf Attentisten und - sagen wir - die Freiheitlichen.« Archiv der sozialen Demokratie (AdsD), NL Erler, Mappennummer 143 (A), Schreiben Graf Baudissin an Fritz Erler vom 18.2.1963.

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Bundeswehr der Seite der reformorientierten Kräfte zugehörig einordnete24, erkannte nach knapp neun Jahren Bundeswehr und dreijähriger eigener Tätigkeit bereits den Rückzug der Reformer. Die »Innere Führung« verkam seiner Meinung nach immer mehr zu einem Lippenbekenntnis. Die Traditionalisten, so die Reformer, wollten in der Bundeswehr ein traditionelles, vor allem autoritär geführtes Militär restaurieren. Mit dem ehemaligen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß, den die »Spiegel-Affäre« zum Rücktritt gezwungen hatte25, pflichtete einer der Väter des Bundeswehraufbaus Heye in Teilen bei, warf ihm aber durch die einseitige Konzentration auf unerfreuliche Einzelfälle eine gewisse Betriebs- und Problemfremdheit vor und bezweifelte besonders die Angemessenheit des Publikationsforums. Heye hätte, so Strauß, demnach erkennen müssen, welches Aufsehen und welche Sensation er mit der Artikelserie auslösen würde: »Diese Serie musste zu einer Sensation werden. Nicht etwa, weil ihr Inhalt so aufsehenerregend ist. Sie wurde deshalb zur Sensation, weil das ganze Thema mit der >unbewältigten Vergangenheit und mit der noch weniger bewältigten Zukunft zusammenhängt26.« Diese Handlung Heyes resultierte in der ersten Phase aus einer unbewältigten Vorgeschichte, führte zu einer von ihm in ihrer Reichweite unkalkulierten Aktion in der zweiten Phase und endete drittens in einem politischen Desaster. In der ersten Phase wies der Wehrbeauftragte sowohl die Parlamentarier als auch die politische und militärische Führung im Zeitraum von 1962 bis Mai 1964 immer wieder auf Fehlentwicklungen in der Bundeswehr hin. Zwar waren die Probleme den Politikern wie Militärs schon vorher bekannt, jedoch fühlten sie sich durch die frühe Zusage der Regierung an das NATO-Bündnis, in einem kurzen Zeitraum von drei Jahren eine Bundeswehr mit fast einer halben Million Soldaten aufzubauen, in ein enges und vor allem alternativloses Konzept eingezwängt. Diese ambitionierte Zusage hatte sich bereits als Illusion erwiesen, denn im Jahr 1958 befand sich die Bundeswehr noch weit davon entfernt, die Zielvorgabe zu erreichen. Umso nachdrücklicher musste den Verbündeten aber der weiterhin bestehende feste Wille, die Bundeswehr schnell aufzubauen, demonstriert werden. Diskussionen um angebliche Fehlentwicklungen waren deshalb unerwünscht - und dies auch dann noch, als sich die Bundeswehr ihren Aufstellungszielen immer mehr annäherte. Die durchaus berechtigten Warnungen passten daher überhaupt nicht in die Verteidigungs- und Bündnispolitik der Bundesregierung und in die Aufbaubestrebungen in den Führungsstäben. Die Nachrichten Heyes an die Sicherheitspolitiker und die Militärführung wur24

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AdsD, NL Erler, Mappennummer 143 (A), Schreiben Graf Baudissin an Heye vom 28.6.1963: »Seitdem Ministerium und Koblenzer Schule in erster Linie in psychologischer Rüstung machen, ist offenbar der Wehrbeauftragte zum letzten Hort der Inneren Führung geworden.« Während dieser Affäre versicherte der damalige Generalinspekteur, General Friedrich Foertsch, im Namen der Inspekteure und Kommandierenden Generale und Admirale dem Minister Strauß das Vertrauen und die Loyalität. Vgl. Bundesarchiv-Militärarchiv (BA-MA), BW 2/15621, Loyalitätserklärung vom 16.7.1962. Franz Josef Strauß, Die Bundeswehr - ein Spätheimkehrer. In: In Sorge um die Bundeswehr (wie Anm. 21), S. 37-41, hier S. 37.

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den systemintern zwar als zutreffend bewertet, nach außen mussten sie aber, um den weiteren Aufbau nicht noch weiter zu verzögern und die Truppe nicht zu verunsichern, dementiert werden. Die Kommunikation zwischen dem Wehrbeauftragten auf der einen und dem Auftraggeber sowie Kontrollobjekt auf der anderen Seite vollzog sich zwar noch auf einer gemeinsamen sachlichen Ebene, unterschied sich aber diametral in den jeweiligen Interessen. Die Sandwich-Position zeichnete sich bereits ab und verstärkte die Selbstrezeption des Wehrbeauftragten als »armes, machtloses Würstchen«. Die Abwehrhaltung bzw. bewusste Ignoranz von führenden Politikern wie Soldaten, deutlich vor allem auch in der Behandlung des Jahresberichtes, den Heye nicht direkt vor dem Bundestag vertreten durfte, beförderte seinen Vertrauensverlust in diese Partner. Heye verstand das negative Feed-back als Missachtung seiner Person und verlagerte damit die Kommunikation von der sachlichen auf eine emotionale Ebene. Die Nachricht, die somit in der zweiten Phase von einer sachlichen auf eine emotionale Ebene gehoben worden war, unterlag nun keiner rationalen Steuerung mehr. Heye reagierte mit Trotz und suchte nach Kompensationsmöglichkeiten. Diese schien er, so seine Meinung, in der Quick gefunden zu haben. Er bediente sich des Mediums, um mit ihm die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Die Konsequenzen seiner Aktion hatte er indes völlig verkannt. Die von ihm weit unterschätzte Wirkung seiner öffentlichen Handlung in der politischen Kommunikation mit den Verantwortungsträgern zementierte in dieser Phase die emotionale wie irrationale Konfrontation. Nach der Aktion Heyes und einer ersten abwehrenden Reaktion von Regierungspolitikern und der militärischen Führung glitt der Diskurs immer weiter ab. Sowohl bei manchen Politikern und Soldaten als auch bei Journalisten wie in der öffentlichen Meinung überhaupt setzte sich die Uberzeugung durch, dass Heye weit über das Ziel hinausgeschossen sei. Einzig der scheinbar ungeheuerliche Vorgang, die Artikel in einer Illustrierten veröffentlicht zu haben, dominierte fortan die Kontroverse. Viele Kritiker störten sich mehr an der Form und weniger an der Frage, ob der Inhalt vielleicht doch zutreffend war27. Besonders Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel, sodann der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses Richard Jaeger und der Generalinspekteur, General Heinz Trettner, betrachteten sich als angegriffen28. Aber auch Bundeskanzler Ludwig 27

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Vgl. Staatsbürger Heye. In: Süddeutsche Zeitung vom 23.6.1964: Während im offiziellen Bericht die neutrale Er-Form (der Wehrbeauftragte) gewählt wurde, verwendete man im Quick-Artikel das lebhafte Ich. AdsD, NL Erler, Mappennummer 143 (A), Schreiben Graf Baudissin an Fritz Erler vom 6.7.1964: »Liest man allerdings die hysterischen Reaktionen des Ministers wie des Generalinspekteurs und zählt dazu die vielen Gespräche, dann wird immer deutlicher, wie recht Heye in der Sache hat [...] Solche Emotionalität entspringt dem schlechten Gewissen des Ertappten, vor allem aber der Ablehnung parlamentarischer Kontrolle wie öffentlicher Kritik [...] Ich meine, man sollte diese Nachlese in der Diskussion zu Heyes Gunsten nutzen und sich vor die Truppe stellen, die von >oben< schlechter gemacht wird, als sie ist, bzw. die man krampfhaft in eine Gegenposition zum Wehrbeauftragten zu stellen sucht.«

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E r h a r d w e r t e t e d i e A r t i k e l als A u s d r u c k e i n e r g r u n d s ä t z l i c h n e g a t i v e n Einstell u n g H e y e s z u r B u n d e s w e h r u n d glaubte, d i e S o l d a t e n v o r i h m s c h ü t z e n z u m ü s s e n 2 9 . S o l c h e s c h w e r w i e g e n d e n V o r w ü r f e k o n n t e n d i e p o l i t i s c h u n d militärisch Verantwortlichen, die diese Entwicklung zu vertreten hatten, nicht auf sich b e r u h e n lassen. Sie g i n g e n z u r G e g e n o f f e n s i v e über. H e y e w o l l e d i e A u s e i n a n d e r s e t z u n g in d i e P r e s s e t r a g e n , s o w u r d e v o r n e h m l i c h a r g u m e n t i e r t , u n d h a b e d e s h a l b z w e i u n t e r s c h i e d l i c h e B e r i c h t e v o r g e l e g t 3 0 . D e r J a h r e s b e r i c h t enth a l t e a n d e r e A u s s a g e n als d i e Qu fei:-Artikel 3 1 . E i n e w i s s e n s c h a f t l i c h e A n a l y s e b e i d e r B e r i c h t e , d i e a n g e b l i c h a n d e r S c h u l e für I n n e r e F ü h r u n g d e r B u n d e s w e h r in K o b l e n z d u r c h g e f ü h r t w o r d e n w a r , e r w i e s sich als F a l s c h m e l d u n g in d e r P r e s s e 3 2 . S y n o p s e n k a m e n aber z u d e m E r g e b n i s , d a s s b e i d e H e y e - B e r i c h t e d a s s e l b e a u s s a g t e n , n u r d e r S p r a c h g e b r a u c h u n t e r s c h i e d l i c h sei 3 3 . N o c h b e v o r d e r e r s t e A r t i k e l a m 16. Juni 1 9 6 4 e r s c h i e n , w a r d i e politische u n d m i l i t ä r i s c h e F ü h r u n g d e r B u n d e s w e h r i m Ü b r i g e n a m 12. J u n i ü b e r d i e V e r ö f f e n t l i c h u n g u n t e r d e r S c h l a g z e i l e »In S o r g e u m d i e B u n d e s w e h r « inform i e r t w o r d e n 3 4 . In einer A u s s p r a c h e a m 2 0 . Juni 1 9 6 4 z w i s c h e n H e y e u n d v o n H a s s e l blieben d i e F r o n t e n j e d o c h v e r h ä r t e t . G e n e r a l T r e t t n e r erließ d a r a u f h i n a m 29. Juni e i n e n u m s t r i t t e n e n T a g e s b e f e h l a n d i e T r u p p e , in d e m e r v o n einer » S t u n d e d e r A n f e c h t u n g « s p r a c h u n d g l a u b t e , sich d a m i t v o r d i e a n g e b l i c h a n g e f e i n d e t e n S o l d a t e n z u stellen 3 5 . E r b e h a u p t e t e s o g a r , d a s s d i e H e y e - A r t i k e l 29

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Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP), NL Heye, 1-589-003/1, Brief Heye an Erhard vom 30.9.1964; ACDP, NL Kliesing, 1-555-044/3, Brief Heye an Kliesing vom 7.9.1964. Vgl. AdsD, NL Erler, Mappennummer 144 (A), Schreiben Oberst a.D. Franz von Gaertner an Fritz Erler vom 22.6.1964: Gaertner spricht hier von »frisierten Berichten« und »Übertreibungen«. Ebenso ACDP, NL Hellmuth Heye, 1-589-003/1, Niederschrift der Äußerungen Jaegers gegenüber der Deutschen Presseagentur vom 15.6.1964. Diese Bewertung Jaegers erfolgte ohne genaue Kenntnis des Artikelinhalts, da dieser erst am 16.6. offiziell erschien. Dem widersprach Heye im Grundsätzlichen entschieden, in der Akzentuierung durch die Art der Veröffentlichung gab er Unterschiede zu. »Im übrigen bin ich der Auffassung, daß die notwendige Diskussion sich in erster Linie mit der Sache zu befassen hat, der gegenüber die Form oder die Wahl dieser oder jener Illustrierten nicht ins Gewicht fällt.« AdsD, NL Erler, Mappennummer 147 (B), Schreiben Heye an Richard Jaeger vom 3.8.1964. AdsD, SPD-Bundestagsfraktion, 4. W.P., Mappe 795, dpa-Mitteilung vom 19.7.1964, Analyse ergab keine wesentlichen Unterschiede in den Heye-Berichten; BA, Β 136/6883, Schreiben Direktor Wissenschaftlicher Forschungs- und Lehrstab bei der Schule der Bundeswehr für Innere Führung an FüB 14 vom 14.8.1964 betreffend »Äußerungen Dr. Schreeb zum Bericht des Wehrbeauftragten«: »Von einer wissenschaftlichen Untersuchung, die als offizielle Analyse des Wiss. F.- u. L.-Stabes bei InFüSBw gelten könne, war nicht die Rede.« ACDP, NL Heye, 1-589-003/1, Ergebnisse der Synopse beider Berichte vom 21.10.1964. ACDP, NL Heye, 1-589-003/1, Schreiben H.J. Schmoll (Redaktion Quick) an den Sts. Ludger Westrick vom 12.6.1964. Weh' dem der weiterdenkt! Eine Dokumentation zu Heyes »In Sorge um die Bundeswehr«. Hrsg. von den Freunden des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Vizeadmiral a.D. Hellmuth Heye, München 1964, S. 30-33; ACDP, NL Heye, 1-589-003/1, Sprechzettel WB für die Unterredung mit v. Hassel am 20.6.1964; Bundesarchiv (BA), Β 136/6883, Tagesbefehl des Generalinspekteurs, General Trettner, vom 26.6.1964, Ver-

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in der Truppe Ungehorsam verursacht hätten. So forderte der damalige Oberst im Generalstabsdienst und ehemalige SPD-Referent für Sicherheitsfragen Friedrich Beermann den SPD-Fraktionsvorsitzenden Fritz Erler am 5. Juli schriftlich auf: »Lassen Sie bitte nicht locker und lassen Sie sich die einwandfreien Beweise vorlegen, dass der Heyeartikel Ungehorsam bei der Truppe verursacht hat. Hat er dies, so ist das schlimm, hat aber Trettner nur den angeblichen Ungehorsam erfunden, so drängen Sie ihn bitte so lange, bis er geht [...] Sollte der Generalinspekteur den Ungehorsam erfunden haben, so können Sie sicher sein, dass er auch fähig ist, Handlungen zur erfinden, die den Notstand oder die Spannungszeit rechtfertigen36.« Die Krise beschränkte sich nicht nur auf die politische Ebene, sondern auch die Kluft zwischen Reformern und Traditionalisten innerhalb der militärischen Führung wurde immer deutlicher erkennbar. Diese Diskussion um die Innere Führung wurde beispielsweise in der DDR als Beweis für den restaurativen und neofaschistischen Charakter der Bundeswehr gewertet und dementsprechend publizistisch ausgeschlachtet. Die kommunistischen Staaten hatten bisher alle Jahresberichte gezielt für ihre Propaganda genutzt. Dabei war der offizielle Bericht meist in einer »normalen Weise auf wenige negative und krasse Beispiele reduziert« worden, aber erst die Artikelserie in der Quick löste eine »großangelegte propagandistische Offensive«37 aus, die im gesamten medialen Ensemble der DDR verbreitet wurde38. Dabei interessierten weniger die eigentlichen Probleme, mit denen die Soldaten im Unterkunftsbereich oder in der Wohnungsfürsorge zu kämpfen hatten, sondern vornehmlich die Anzeichen für die dahinter vermutete >Schleifermentalität< der Vorgesetzten in der Bundeswehr. Für die Medien im In- und Ausland stellte der Bericht darüber hinaus aber eine willkommene Informationsquelle dar, von deren sensationsähnlichem Gehalt eine bestätigende Wirkung für Stereotypen über eine ansonsten kaum bekannte, aber immanent gefährliche Organisation ausging.

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merk Referat 10 für Abteilungsleiter I vom 2.7.1964 betreffend »Tagesbefehl des Generalinspekteurs der Bundeswehr«: »In der Truppe soll der Tagesbefehl gut aufgenommen worden sein. Jedoch erscheint die Formulierung >Stunde der Anfechtung< als mißverständlich, weil sie als Ausdruck einer verbreiteten Resignation gewertet werden kann, die in dieser verallgemeinernden Form kaum zutreffen dürfte, nachdem Bundesregierung, Bundestagspräsident und Fraktionen sich eindeutig vor die Bundeswehr gestellt haben.« AdsD, NL Erler, Mappennummer 143 (A), Schreiben Oberst i.G. Friedrich Beermann an Fritz Erler vom 5.7.1964. Bundesarchiv (BArch), 136/6883, FüB VII 9, Psychologische Kampfführung, Material zur kommunistischen Propaganda: Die kommunistische Propaganda zu den Berichten des Wehrbeauftragten, S. 2. Ebd., S. 5: So beispielsweise im Deutschlandsender vom 16.6.1964: »Es war nicht der Tag der Wahrheit, an dem Heye sich zu Worte meldete, es ist die Sorge, daß all die schönen Pläne, die DDR zu liquidieren, die Ostgrenzen zu revidieren, den zweiten Weltkrieg doch noch zum siegreichen Ende zu führen, daß all diese Pläne scheitern könnten.«

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E r h a r d : „Zurück, H e y e ! L a s s e n Sie das Mänteltfien wieder fallenI" Karikatur Horst Schrade,

aus: Neues Deutschland

vom 20.6.1964,

Seite 5

In der weiteren Auseinandersetzung veränderte sich die Kontroverse: Aus einer unterschiedlichen Rezeption des Zustandes der Inneren Führung zwischen dem Wehrbeauftragten auf der einen und der politischen Leitung sowie militärischen Führung der Bundeswehr auf der anderen Seite wurde immer mehr ein parteipolitischer Konflikt. Während die SPD-Politiker mehr zu Heye tendierten, bezogen die Unionspolitiker meist eindeutig Stellung gegen ihn. Beide Parteien wurden aber nicht müde zu betonen, allein das Wohl der Bundeswehr im Auge zu haben. Die teilweise unsachliche Berichterstattung in den Medien verursachte eine breite öffentliche Debatte über die Affäre, zudem führten die Aussagen der Politiker wiederum zu einer sofortigen Reaktion 39 . Aufgrund des hitzigen Schlagabtausches fürchtete Heye, dass in der parlamentarischen Behandlung der Affäre im September und Oktober 1964 weniger über die Sache diskutiert als vielmehr aus Verlegenheit die Form beanstandet würde. Für ihn war die Publikation in der »Quick« mit dem Ziel eines Aufrütteins der Öffent39

AdsD, Depositum Schmidt, Mappennummer 5145, Schreiben Wilhelm Keim an Helmut Schmidt vom 7.7.1964; Schreiben Helmut Schmidt an Wilhelm Keim vom 13.7.1964: Keim hielt Schmidt seine angeblich negativen Äußerungen über Heye vor; Schmidt entgegnete ihm, dass er (Keim) lediglich auf die einseitige Darstellung der BILD-Zeitung hereingefallen sei.

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lichkeit d u r c h a u s » s t a n d e s g e m ä ß « , j e d o c h w a r e r sich d e r W i r k u n g , d i e e r erz i e l e n w ü r d e , e n t g e g e n d e r A n s i c h t v o n Strauß, bei W e i t e m n i c h t b e w u s s t . E r » w o l l t e e i n e n P f l a s t e r s t e i n in d e n B a c h w e r f e n , d a ß eine A t o m b o m b e

daraus

g e w o r d e n ist« 4 0 , h a t t e i h n selbst ü b e r r a s c h t . H e y e e r h i e l t v o n v i e l e n S o l d a t e n w e i t g e h e n d Z u s t i m m u n g 4 1 . Bis z u m 17. S e p t e m b e r 1 9 6 4 g i n g e n in d e r D i e n s t stelle d e s W e h r b e a u f t r a g t e n s p o n t a n 1 9 2 z u s t i m m e n d e u n d 5 3 a b l e h n e n d e R e a k t i o n e n v o n a k t i v e n u n d e h e m a l i g e n S o l d a t e n aller D i e n s t g r a d e ein 4 2 . D i e B e s o r g n i s H e y e s sollte sich in d e r w e i t e r e n A u s e i n a n d e r s e t z u n g allerd i n g s a u c h b e w a h r h e i t e n : N i c h t d e r Inhalt w u r d e i m W e s e n t l i c h e n z u m Z a n k apfel, s o n d e r n d i e F o r m d e r V e r ö f f e n t l i c h u n g . S o s e h r sich a u c h d i e S P D m i t i h r e m F r a k t i o n s v o r s i t z e n d e n E r l e r s o w o h l in öffentlichen S t e l l u n g n a h m e n als a u c h in d e r P l e n a r d e b a t t e i m D e u t s c h e n B u n d e s t a g m ü h t e , d i e sachorientiert zu halten, führte m a n d a n n d e n Schlagabtausch

Diskussion

ausschließlich

emotional über die F o r m der Veröffentlichung. Generalleutnant W o l f Graf v o n B a u d i s s i n 4 3 s c h r i e b als K o m m a n d e u r d e s NATO-Defense-College

in P a r i s bereits

i m Juni 1 9 6 4 a n F r i t z E r l e r : » E b e n h ö r e i c h e t w a s v a g e v o n e i n e m H e y e - A r t i k e l in d e r >QuickMachtübernahme< zeichnet sich ab: er will offensichtlich in Redaktion machen. Im Gespräch mit ihm (25.7.66) vorläufig abgewimmelt.« Vgl. BA-MA, BW 1/115087, unpag.: Pressereferat, OTL Wolf, Gedanken zur Bildung des derzeitigen Informations- und Pressestabes, Bonn, 15.12.1972; Weißbuch 1971/1972. Zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Entwicklung der Bundeswehr. Hrsg. im Auftr. der Bundesregierung vom Bundesminister der Verteidigung, Bonn 1971, S. 124. Von Juni 1967 bis Oktober 1974 leitete Kapitän zur See Hans Müller-Belau das Referat. Vgl. Heinz Hund, 20 Jahre »Information für die Truppe«. Ein Rückblick ohne Zorn, eher mit leiser Wehmut. In: Information für die Truppe, 21 (1976), 4, S. 39-54, hier S. 49. Diese und die folgenden biografischen Angaben zu Koller beruhen auf der Auskunft der Deutschen Dienststelle (WASt), Berlin, Schreiben vom 21.9.2006, und einem Telefoninterview mit seiner Witwe Eva Koller am 5. September 2005.

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fentlichkeit in der Bundesrepublik seit Ende der 50er Jahre zugeschrieben 25 . Dass sich Koller intensiv mit den Erfahrungen seiner Generation auseinandergesetzt hatte, zeigt sein 1961 erschienener Roman »Tanzender Torso«, der autobiografische Züge trägt26: »Ein junger Soldat, ein Flieger, stürzt aus großer Höhe, aus Jugendkraft und Überheblichkeit ab und bleibt schwerverwundet und hilflos auf fremder Erde liegen. Er muß umlernen und erkennen, daß er ein Torso ist - für den Rest seines Lebens. Er hat Schuld auf sich geladen. Er ist kein Herrenmensch.« 1951 bis 1956 arbeitete Koller als Pressereferent und Leiter der Pressestelle der Evangelischen Akademie Bad Boll. Die evangelischen Akademien spielten damals eine wichtige Rolle als Diskussionsforen und bildeten Kristallisationskerne der intellektuellen Verständigungsprozesse in der frühen Bundesrepublik27. Hier traf er auf Wolf Graf von Baudissin, der seit 1951 in der Vorläuferorganisation des Bundesverteidigungsministeriums, dem »Amt Blank«, mit der Konzeption der »Inneren Führung« und dem Leitbild des »Staatsbürgers in Uniform« befasst war 28 . Baudissin holte Koller 1956 ans neu gegründete Verteidigungsministerium. Neben Tätigkeiten in der Schriftleitung der »Information für die Truppe« und der »Schriftenreihe Innere Führung« arbeitete er als Fachberater für Film, Funk und Fernsehen als Mittel der militärischen Information und übernahm 1961/62 schließlich federführend die redaktionelle Betreuung der Filmschau29. Koller erweist sich auch insofern als typischer Vertreter der »45er«Generation, als er bereits relativ jung, als knapp Vierzigjähriger, in eine zumindest nominell einflussreiche Position aufrückte, die er im Wesentlichen 25 Jahre lang einnahm. Es wird jedoch bei der Analyse einzelner Filmberichte noch genauer zu fragen sein, inwieweit sich der Einfluss eines »45ers« festmachen lässt und in welchem Verhältnis er als Vertreter eines organisationsinternen, an eine

25

26 27

28

29

Vgl. Christina von Hodenberg, Konsens u n d Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945-1973, Göttingen 2006, bes. S. 41-43, 245-292; Klaus Naumann, Nachkrieg als militärische Daseinsform. Kriegsprägungen in drei Offiziersgenerationen der Bundeswehr. In: Nachkrieg in Deutschland. Hrsg. von Klaus Naumann, Hamburg 2001, S. 444-471, Zitat S. 445. Naumann, der sich speziell auf Offiziere der Bundeswehr bezieht, gliedert die Geburtskohorten etwas anders als Hodenberg in Kriegsoffiziere (Aufbaugeneration der Bundeswehr, Jahrgang 1913 bis 1921), Flakhelfer-Generation (die extrem kriegsgeschädigten und dezimierten Folgejahrgänge) u n d Kriegskinder (in den 30er Jahren Geborene). Martin Koller, Tanzender Torso, Boppard a.Rh. 1961, Klappentext. Vgl. Axel Schildt, Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999 (= Ordnungssysteme, 4), S. 111-149. Vgl. Uwe Hartmann, Frank Richter u n d Claus von Rosen, Wolf von Baudissin. In: Klassiker der Pädagogik im deutschen Militär. Hrsg. von Detlef Bald, Uwe Hartmann und Claus von Rosen, Baden-Baden 1999 (= Forum Innere Führung, 5), S. 210-226; Graf von Baudissin. Als Mensch hinter den Waffen. Hrsg. und kommentiert von Angelika DörflerDierken, Göttingen 2006, bes. S. 22-24, 27-47, 146-158. Vgl. BA-MA, BW 2/9710, unpag.: Entwurf, Betr.: Antrag für Α 14-Stelle (Chefredakteur »Das Fenster«), 27.6.1961; Bundeswehramt, Arbeitsgebiet Innere Führung, Leiter an Merkur-Druckerei GmbH, Bonn, 7.12.1961.

» A P O in der Bundeswehr?«

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militärisch geprägte Teilöffentlichkeit gerichteten Mediums zu den Massenmedien der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit stand30. Bis März 1967 erfolgte die Filmschauherstellung als Fremdproduktion durch die Deutsche Wochenschau GmbH; danach wurde - der Aktenlage nach aus Kostengründen - auf eine Koproduktion zwischen Bundeswehramt und der Hans Reitz Filmproduktion, Wiesbaden, umgestellt31. In einem Rückblick von 1976 beschreibt Koller die Situation jedoch anders - , sicher verklärend, aber bezeichnend für das Selbstverständnis der Redaktion32: »Die Leute von der Wochenschau waren natürlich alte Hasen in diesem Handwerk. Der Chef-Cutter, hervorragender Fachmann, hatte schon im Kriege die Wochenschau geschnitten. Leider merkte man das dem Schnitt an: es ging sehr heldisch zu in der Bundeswehr-Filmschau, es gab zuviel Marschmusik. Und es war nicht einfach, die guten Leute davon zu überzeugen, daß wir es lieber ein wenig weniger bierernst und heroisch hätten, ein wenig moderner, leichter, >cooler< [...] Wegen des allzu heldenhaften Stils [...] wurde die Filmschau im Truppenjargon auch >Durchhaltefilm< genannt. Nicht ganz zu Unrecht. So ging die Bundeswehr mehr und mehr dazu über, auch eigene Berichte mit eigenem Kamera-Personal zu drehen.« Auf den ersten Blick mutet die Behauptung paradox an: Eine traditionell militärische Filmsprache ist auf den zu starken Einfluss einer zivilen Produktionsfirma zurückzuführen, während möglichst weitgehende Einflussmöglichkeiten der Bundeswehr einen unheroischen, modernen Stil gewährleisten. Diese Erklärung erscheint weniger überraschend, wenn man sie unter einem generationsgeschichtlichen Ansatz betrachtet: Koller identifiziert die Bundeswehr hier mit seiner eigenen Generation, deren berufliche Prägung als Medienschaffende - im Gegensatz zur Prägung der alten Wochenschaumitarbeiter - nicht mehr im Krieg stattgefunden hatte. Die Bundeswehr ist für den Zivilbediensteten Koller kein Arbeitsplatz, an dem er sich als ehemaliger Leutnant durch besonders schneidiges, militärisches Auftreten profilieren müsste. Vielmehr sieht er seine Aufgabe darin, einem zu engen traditionell-militärischen Verständnis - gleichviel, ob es von militärischer oder ziviler Seite kommt - seine Vorstellung von Modernität entgegenzusetzen. Er bedient sich sogar - wenn auch nur in Anführungsstrichen - eines Jugendjargons (»cooler«), der seine Kenntnis und Offen30

31

32

Zu den Begriffen »massenmediale Öffentlichkeit«, »Teilöffentlichkeit« und »organisationsinterne Öffentlichkeit« vgl. Jörg Requate, Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse. In: Geschichte und Gesellschaft, 25 (1999), S. 5-32, bes. S. 7, 11 f. Vgl. BA-MA, BW 2/9710, unpag.: S I 6, M. Koller, Redaktion »Das Fenster«, Entwurf! Betr.: Gefährdung der BwFilmschau »Das Fenster«, Bonn, 31.10.1966; vgl. auch Georg Roeber und Gerhard Jacoby, Handbuch der filmwirtschaftlichen Medienbereiche. Die wirtschaftlichen Erscheinungsformen des Films auf den Gebieten der Unterhaltung, der Werbung, der Bildung und des Fernsehens, Pullach b. München 1973, S. 699 f. Martin Koller, Info. Die Filmschau der Bundeswehr. In: Information für die Truppe, 21 (1976), 4, S. 64-73, hier S. 66. Ab 1972/73 wurde die Filmschau nicht mehr als Koproduktion mit einer zivilen Firma hergestellt, sondern komplett als Eigenproduktion von Bundesverteidigungsministerium und Bundeswehramt. Vgl. BA-MA, BW 2/15379, unpag.: Fü S I 5, Redaktion »Bundeswehr-Filmschau« an Referatsleiter Fü S I 5, Herrn KptzS Müller-Belau, Bonn, 12.6.1972.

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heit gegenüber der aktuellen Jugendkultur signalisieren soll. In dieses Bild passt durchaus ein Beitrag wie »>The Lords< und die Starfighter«, der wenige Monate nach der Kündigung des Vertrags mit der Deutschen Wochenschau GmbH entstanden ist. Die Herstellung der Bundeswehr-Filmschau weist nicht nur die für Filme typische, stark arbeitsteilige Organisation auf, sondern ist auch durch das engverzahnte Ineinandergreifen militärischer und ziviler Instanzen im Bundesverteidigungsministerium mit seinem komplizierten Mitprüfungssystem gekennzeichnet33. Zur entscheidenden Rohschnittabnahme trafen sich zum Beispiel regelmäßig Vertreter des Film-Bild-Ton-Referats (bis 1970/71), des Bundeswehramtes, der Produktionsfirma und des Referats »Geistige Rüstung - Truppeninformation« (ab 1970/71 »Staatsbürgerliche Bildung, Truppeninformation«). Hinzu konnten - je nach Themen der Filmberichte und ihrer politischen Bedeutung - eine Vielzahl von Vertretern weiterer Bereiche des Verteidigungsministeriums bis hin zum Generalinspekteur kommen sowie anderer Bundeswehreinheiten und -dienststeilen, die direkt von der Berichterstattung betroffen waren. Allerdings nutzten die Beteiligten keineswegs regelmäßig die ihnen hier gegebenen Mitwirkungsmöglichkeiten. 1969 beklagte Koller in seinem Jahresabschlussbericht, die Rohschnittabnahmen seien zu einer Farce geworden, der aktuelle Leiter der Unterabteilung »Personal/Innere Führung« habe noch nie eine Filmschau gesehen. Gleichzeitig monierte er, dass »kritische Berichte oder Tonarten, die von der Truppe immer wieder gefordert werden, weil jeder weiß, dass nicht alles vollkommen ist«, beim gegenwärtigen Mitprüfungssystem unmöglich seien34. Jedoch nicht nur das komplizierte Mitzeichnungswesen beeinflusste die Inhalte der Filmschau; die Redaktion konnte nur über Ereignisse in der Truppe berichten, wenn sie rechtzeitig davon erfuhr. Ein geregelter Informationsfluss scheint nicht in der Organisation des Filmschauwesens angelegt gewesen zu sein. Die Themenauswahl ging in vielen Fällen allein auf die Initiative der Redaktion zurück35. Die monatliche Vorführung der Filmschau war laut Erlass des Verteidigungsministeriums von den Kommandeuren und den Leitern für alle Einheiten und Angehörigen einer Dienststelle, also auch Zivilbedienstete, dienstlich an-

33

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35

Vgl. Katja Protte, Auf der Suche nach dem Staatsbürger in Uniform. Frühe Ausbildungsund Informationsfilme der Bundeswehr. In: Krieg und Militär im Film des 20. Jahrhunderts. Im Auftr. des MGFA hrsg. von Bernhard Chiari, Matthias Rogg und Wolfgang Schmidt, München 2003 (= Beiträge zur Militärgeschichte, 59), S. 569-610, hier S. 5 7 0 - 5 7 5 . BA-MA, BW 2/15379, unpag.: Fü S I 6, Bundeswehr-Filmschau, Redaktion, Skizze einer Aktennotiz, Betr.: Jahresabschluß 1969, November 1969. Eine Auflistung der Teilnehmer findet sich in der Regel in den Ergebnisprotokollen der Rohschnittabnahmen zu den einzelnen Monatsschauen. Vgl. BA-MA, BW 2/9712-9717. Vgl. Skizze einer Aktennotiz, Betr.: Jahresabschluß 1969 (wie Anm. 34). Koller beklagt hier zum wiederholten Mal, dass die Redaktion noch nicht ausreichend über Ereignisse in der Truppe informiert wird. Der einleitende Standardtext der Filmbegleitblätter bat »um rechtzeitige Hinweise auf besondere Ereignisse in der Truppe, die sich für einen Filmbericht eignen«.

»APO in der Bundeswehr?«

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zuordnen36. Die Zentrale Dienstvorschrift (ZDv) 12/1 »Geistige Rüstung« veranschlagte monatlich eine Stunde für Vorführung und anschließende Diskussion im Rahmen der Aktuellen Information37. Während sich die Heftreihe »Information für die Truppe« in erster Linie an Offiziere richtete, waren die Hauptzielgruppe der Filmschau Wehrpflichtige und Zeitsoldaten38. Die BundeswehrFilmschau wurde jedoch auch für die Öffentlichkeitsarbeit genutzt, z.B. durch Jugendoffiziere und Reservistenverbände. Sie wurde ausländischen Militärattachestäben und alliierten Kommandostellen ebenso zur Verfügung gestellt wie zivilen nichtgewerblichen Verteilerorganisationen und Fernsehanstalten. Um 1970 wurden ca. 250 Kopien monatlich hergestellt, wobei es innerhalb der Bundeswehr Vorführringe gab39. Auf das zentrale Problem der Bundeswehr-Filmschau ging Koller selbst in seinem heiter gehaltenen Rückblick aus dem Jahr 1976 ein: »aus der Truppe kommt hin und wieder Anerkennung an die Redaktion. Die Masse der Zuschauer gehört aber zur schweigenden Mehrheit 40 .« Der große Unbekannte war das eigene Publikum. Da sich die Soldaten den Besuch der Filmschau nicht aussuchen konnten, gaben Besucherzahlen keine Rückschlüsse darüber, ob der Geschmack der Zielgruppe getroffen wurde. Zuschauerumfragen, wie sie Ende der 60er Jahre veranstaltet wurden, ließen zwar grobe Tendenzen erkennen, erbrachten aber vor allem das Ergebnis, dass den Vorschriften zum Trotz höchstens 60 % der Soldaten die Filmschau überhaupt zu sehen bekamen41.

III. »Jugend im Aufbruch« Mit einer Mischung aus Widerwillen und Faszination beobachteten Erwachsene in den 60er Jahren eine Jugend, die sich in ihrem Aussehen und Auftreten, ihrem Geschmack, ihren politischen und moralischen Wertvorstellungen anscheinend grundlegend von anderen Generationen unterschied. Jugendforschung hatte Hochkonjunktur und fand weite Rezeption in den Massenmedien. Mit den Studentenprotesten und der APO erreichte das Interesse der Massenmedien um 1967/69 einen Höhepunkt42.

36 37 38

39 40 41

42

Vgl. VMB1 (wie Anm. 14), 1961,19, S. 330; 1972, 8, S. 143. Vgl. BA-MA, Β WD 3, ZDv 12/1 Geistige Rüstung, Bonn, Januar 1966, S. 17. Vgl. z.B. BA-MA, BW 2/9710, unpag.: S I 6. Redaktion »Das Fenster«, Koller an Oberfeldwebel Walter Schaller, 21.10.1966; Gefr. Roland Sann an Koller, Sonthofen, 8.2.1964. Vgl. Roeber/Jacoby, Handbuch (wie Anm. 31), S. 700 f., 720. Koller, Info (wie Anm. 32), S. 73. Vgl. IMZ (wie Anm. 2), Bundeswehr-Filmschau 12/1969, 1; BA-MA, BW 2/9713, unpag.: Begleitblatt zu 12/1969; Skizze einer Aktennotiz, Betr.: Jahresabschluß 1969 (wie Anm. 34). Vgl. z.B. Viggo Graf Blücher, Die Generation der Unbefangenen. Zur Soziologie der jungen Menschen heute. Unter Mitarbeit von Detlef Kantowsky, Düsseldorf, Köln 1966, Klappentext, S. 8 f., 321-387. Siehe auch Anm. 12.

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Auch die bundeswehrinternen Medien bildeten hier keine Ausnahme. Während die »Information für die Truppe« seit März 1968 die mehrteilige, sehr differenzierte Artikelserie »Der junge Mensch in unserer Welt« des Erziehungswissenschaftlers Heinrich Kupffer veröffentlichte 43 , plante auch Koller mehrere Leitthemen zur Problematik »unruhige Jugend« 44 : »1) Portrait einer Generation«, »2) Jugend im totalitären Staat«, »3) Die Welt von morgen«, »4) Wo kann ich helfen? Hinweis auf die vielen Möglichkeiten für junge Menschen, sich zu engagieren, sich einzusetzen«, »5) Friedensdienst mit und ohne Waffe« am Beispiel eines Oberleutnants der Reserve zwischen Verteidigungsbereitschaft und Entwicklungshilfe. Von den Planungen wurden schließlich nur Punkt 1) und 3) als eigenständige Leitthemen umgesetzt; Elemente der anderen Themen finden sich aber zum Teil in diesen Beiträgen wieder. Als erstes Leitthema dieser Planung erschien in der September-Filmschau 1968 der etwa zehnminütige Filmessay »Jugend im Jahr 2000«. Der Beitrag beginnt mit der emphatischen Beschwörung einer technisierten Welt. Eine startende Weltraumrakete bildet den Einstieg, rhythmisierte Schnittfolgen mit Bildern des modernen Lebens folgen. Ein Sprecher aus dem Off kommentiert: »Das Jahr 2000 ist bereits unter uns. Die Voraussetzungen zur vollständigen Technisierung unseres Lebens sind geschaffen [...] Die Menschen, die das Jahr 2000 gestalten werden, sind in unserer Zeit geboren, leben unter uns und erhalten in unserer Zeit wesentliche Eindrücke.« Bilder aus dem Schulunterricht einer Obersekunda, die Clausewitz' Wort »Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln« diskutiert, leiten zum veränderten Kriegsbild im Atomzeitalter über. Zu eher traditionell wirkenden Soldatenbildern aus alten Bundeswehr-Filmschauen mit kurzhaarigen, ernst und entschlossen blickenden Männern meist undefinierbaren Alters fordert der Sprecherkommentar abschließend: »Die große Aufgabe nun für uns, die Jugend, besteht in der totalen Mobilmachung der Vernunft. Es erfordert heute eine große Reife, Soldat zu sein. Er muss die Fähigkeit haben, den Widerspruch, der in seiner Aufgabe liegt, zu verstehen: Waffen entschlossen zu bedienen - aber den Krieg ebenso entschlossen zu verabscheuen. Einen anderen Weg in die Zukunft gibt es nicht.« Der abgehoben-abstrakt, in keiner Weise jugendlich wirkende Sprecherkommentar verwendet zwar - etwas unvermittelt - die vereinnahmende erste Person Plural (»uns, die Jugend«); tatsächlich behandelt der Beitrag das Thema Jugend aber nur am Rande. Stattdessen wird ausgiebig und mit sichtlicher Freude an der filmischen Umsetzung »Science Fiction« inszeniert und über das Bindeglied der Kinder und Jugendlichen, die im Jahr 2000 erwachsen sein werden, das zeitgenössische Bild des »Abschreckungssoldaten« als Zukunftsmodell präsentiert. Deutlicher als der Sprecherkommentar erklärt der Text des Filmbe43

44

Information für die Truppe, 13 (1968), 3, S. 172-189. Weitere Artikel der Reihe ebd., 4, S. 278-289; 5, S. 342-353; 6, S. 424-434. BA-MA, BW 2/9711, unpag.: Fü S I 6, Redaktion »Bundeswehr-Filmschau«, Notiz, Betr.: »Bundeswehr-Filmschau«. Planung, Bonn, 29.2.1968.

»APO in der Bundeswehr?«

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gleitblattes, dass auch auf dem Gebiet der Friedenssicherung »die Zukunft bereits begonnen« habe. Die Ableitung eines vernunftbetonten, abgeklärten Soldatenbildes aus den Erfordernissen der technisierten, modernen Welt war ein gängiges Erklärungsmuster, das schon in den 50er Jahren zum Repertoire von Bundeswehrfilmen gehörte45. Die erste systematische Annäherung an das Phänomen »unruhige Jugend« erfolgte in der November-Filmschau 1968 mit dem etwa neuneinhalbminütigen Leitthema »Jugend im Aufbruch«. Einleitend werden ältere Menschen auf der Straße nach ihrem Bild von der heutigen Jugend befragt und äußern sich skeptisch bis völlig verständnislos: »Die sind doch alle balla balla!« Bei der weitverbreiteten Vorstellung einer enthemmten, nicht mehr lenkbaren Jugend setzt der Beitrag an und greift die von der Öffentlichkeit am stärksten wahrgenommenen Phänomene auf: Beatmusik und Studentenproteste. Auf Stichwort folgen Aufnahmen eines Auftritts der Band »The Rainbows« mit ihrem Hit »My Baby Baby Balla Balla« und wild tanzenden Teenagern bzw. Twens. Zu diesen Bildern nennt ein Sprecher nüchterne Zahlen: In der Bundesrepublik gebe es rund 12 Millionen Einwohner im Alter zwischen 15 und 25 Jahren. »Aber an diesen 600 bilden sich die Nachbarn dieses Tanzschuppens ihr Urteil. Die heutige Jugend ist die lauteste, einfallsloseste und verdorbenste Jugend aller Zeiten.« Eine weitgehende Öffnung gegenüber jugendlichem Musikgeschmack wie in dem Beitrag »>The Lords< und die Starfighter« von 1967, die fast anbiedernd wirken kann, findet hier nicht statt. Die Bilder bleiben fremd und befremdlich für Erwachsene stehen. Entschieden wird jedoch Stellung dagegen bezogen, das Phänomen zu dramatisieren und Jugendliche pauschal zu verurteilen. Das nächste Schlaglicht setzen Bilder von Studentendemonstrationen und Polizeieinsätzen. Die ausgewählten Szenen wirken zum Teil fast schon surreal, wenn etwa eine Gruppe Jugendlicher ein großes Kreuz hochhält und damit auf die Wasserwerfer zu marschiert (siehe Abb. 3 und 4 auf S. 233). Stellung für die eine oder andere Seite wird nicht bezogen. Ein Sprecher erklärt aus dem Off: »Eine Welle enttäuschter und entfesselter Jugendlicher, dabei viele Studenten, flutete durch Deutschlands Universitätsstädte. Tomaten, aber auch Steine, gegen Schlagstöcke und Wasserwerfer. Auch diese Ereignisse, gekennzeichnet von Hysterie und fast opernhafter Theatralik prägten weitgehend das Meinungsbild des Bürgers über die heutige Jugend. Dabei wurden einerseits diese Vorfälle einer Minderheit angelastet, andererseits aber das Werturteil über die gesamte Jugend pauschal gefällt [...] Oder sind es nicht viel mehr ihre radikalen Töne, die jede andere Melodie überdecken?« Statt Sprechchören und Lautsprecherdurchsagen erklingt nun klassische Musik. Es folgen Bilder eines jugendlichen Musik-Ensembles und anderer Jugendlicher, die ernsthaft einem Hobby nachgehen, sich beruflich fortbilden, sich sozial, kirchlich oder international engagieren. Das positive Engagement vieler unauffälliger junger Leute erscheint als Argument gegen Pauschalurteile über die 45

Vgl. Protte, Auf der Suche nach dem Staatsbürger in Uniform (wie Anm. 33), S. 592-594.

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Jugend. Hier konnte die Filmschau an einen Themenkreis anknüpfen, der seit ihrer Gründung zum festen Kanon gehörte: Sinnvolle Freizeitgestaltung und der freiwillige Einsatz für die Gemeinschaft werden immer wieder unter dem Motto »Nachahmung ist nicht verboten!« als wichtiger Teil des soldatischen Alltags vorgeführt46. Auch das Leitthema der Mai-Ausgabe 1968 »Nobelpreisträger von morgen?« über Wehrpflichtige, die am Wettbewerb »Jugend forscht« teilnehmen, gehört in das Umfeld dieser Thematik. Nach den unpolitisch wirkenden Bildern zeigt der Beitrag »Jugend im Aufbruch« junge Menschen, die sich am politischen Leben beteiligen. Der Sprecherkommentar zeichnet dazu verständnisvoll das Bild einer politisch wachen, wenn auch nicht immer ausgewogen urteilenden Generation, betont aber auch, dass das Fundament ihres politischen Engagements die freie Medienöffentlichkeit der Bundesrepublik sei: »Allen, die es nur wollen, steht ein weltweites Informationsnetz zur Verfügung. Keine Generation zuvor hatte diese Möglichkeiten. Richtige Information liefert Wissen um Zusammenhänge, also Argumente. Und gute Argumente sind die Voraussetzung für jede konstruktive Kritik.« Zum Sprechertext wird die Auslage eines Zeitungskioskes gezeigt, beginnend mit der internationalen Presse, dann den gängigen Tageszeitungen unterschiedlichster Ausrichtung. Schließlich endet die Sequenz - nach einem kleinen Schlenker über den »Playboy« - mit dem Nachrichtenmagazin »Der Spiegel«, das in den 50er Jahren zu einem Leitmedium der kritischen Öffentlichkeit geworden war und auch kritisch über die Bundeswehr berichtete47. Als nächstes werden zwei studentische Redner gezeigt: einer wendet sich in einer bewegten Straßenszene an andere Jugendliche, der andere erklärt ruhig und sachlich, dass sich die Studenten von dieser Demonstration erhoffen, der Öffentlichkeit klarzumachen, dass es nicht nur um die Verbesserung der eigenen Studienbedingungen, sondern des gesamten Bildungssystems gehe. Der Sprecherkommentar hebt zwischen diesen beiden Szenen auf eine sehr grundsätzliche Ebene ab. Es geht um nichts weniger als die Grundfesten der bundesrepublikanischen Gesellschaft: »Die Verfassung der Bundesrepublik ist eine der liberalsten der Welt. Sie ermöglicht es jedem, seine Meinung zu äußern, auch demonstrativ. Natürlich ist eine Verfassung keine biblische Gebotstafel. Sie muss immer wieder geprüft und eventuell veränderten Bedingungen angeglichen werden. Der Wunsch nach politischer Reformation ist legitim.« Der Beitrag bewertet bis hierher das politische Engagement der Jugend grundsätzlich positiv, auch wenn seine Ausdrucksformen für ältere Generationen befremdlich erscheinen mögen. Die Bundesrepublik wird als eine Gesellschaft präsentiert, deren freiheitliche Grundordnung und kritische Öffentlichkeit eine politisch wache Jugend erst möglich gemacht hat und diese auch verkraften kann. Dann wird jedoch gezeigt, wo die Grenzen der Toleranz liegen. Zu Bil46

47

Vgl. z.B. IMZ (wie Anm. 2), Bundeswehr-Filmschau »Das Fenster« 11/1962, 8. Freizeit; 12/1964, 6. Fahnenjunker auf der Bühne; 1/1967, 3. Soldaten helfen. Vgl. Hodenberg, Konsens und Krise (wie Anm. 25), bes. S. 306 f., 359, 449 f.

»APO in der Bundeswehr?«

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dem einer Veranstaltung mit Rudi Dutschke, auf der es zu Krawallen und Handgreiflichkeiten kommt, erklärt der Sprecherkommentar: »Zur Gefährdung aber der demokratischen Ordnung führt die Radikalisierung politischer Ansichten. Demokratie braucht keine radikale Jugend, sondern eine wache Jugend, eine, die nicht erst mobil wird, wenn ihre eigene Nasenspitze gefährdet ist.« Nach der Gefährdung der Demokratie im Inneren geht der Beitrag zu Bildern vom sowjetischen Einmarsch in Prag über: Panzer und Soldaten, die reglos vor sich hinstarren, während Bürger versuchen, mit ihnen zu reden. Ein Sprecher aus dem Off kommentiert: »Harte öffentliche Kritik und Diskussionen mit Regierung und Politikern auf der einen Seite, Zwiesprache mit den Panzern auf der anderen. Ausgeträumt der Traum von der freien Meinung und der freien Entfaltung der Persönlichkeit. Diese Soldaten, die auf ein anderes Kommando hören, können keine Fragen beantworten und auf keine Kritik eingehen. Wir leben in einem Land mit vielen Mängeln, aber mit dem großen Vorzug der Freiheit. Wer aber glaubt, aus diesem Land durch Revolution ein Paradies machen zu können, ist ein Träumer, der den Begriff Freiheit verkennt.« Damit begibt sich der Beitrag auf die vertraute Diskursebene des Kalten Krieges. Immer wieder warnte die Bundeswehr-Filmschau, wie etwa mit dem Leitthema der März-Ausgabe 1967, im Sinne der Totalitarismustheorie vor »Radikalismus - Gefahr von >rechts< und >linksThe Lords< und die Starfighter« hatte Beatmusik keineswegs dauerhaft Einzug in die Filmschau gehalten. Bis in die 70er Jahre hinein dominierten Jazz und Big-Band-Sound. Auch ist bezeichnend, dass keine der aggressiveren, eher an den »Rolling Stones« orientierten Rockbands gezeigt wurde, sondern eine von den »Beatles« inspirierte, fantasievoll kostümierte Beatgruppe wie »The Lords«, die auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen als wesentlich 53

54 55

Das an Offiziere gerichtete Monatsheft »Information für die Truppe« druckte einen Artikel, der in seiner Ausrichtung zwar ähnlich war, aber auf zu offensichtliche Agitation verzichtete. Vgl. Das Thema des Monats: Der Krieg in Vietnam. In: Information für die Truppe, 12 (1967), 1, S. 2-34. Vgl. Hodenberg, Konsens und Krise (wie Anm. 25), bes. S. 254-276, 448 f. Vgl. z.B. IMZ (wie Anm. 2), Bundeswehr-Filmschau 6/1967, 4. »Big Band« in Uniform; 8/1967,1. Fremde Soldaten im Land; 11/1967,1. Zum Volkstrauertag.

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akzeptabler für ein bürgerlich-intellektuelles Publikum galt als Rock-Sänger in Jeans und Lederjacken56. In der redaktionellen Gestaltung ging die Bundeswehr-Filmschau um 1968 jedoch durchaus auf das veränderte Rollenverständnis von Jugendlichen ein und übernahm journalistische Mittel, die auch die öffentlich-rechtlichen Medien damals verwendeten, um dem Wunsch nach stärkerer Partizipation entgegenzukommen57. Während bis Mitte der 60er Jahre in der Filmschau längere Redebeiträge vor allem Politikern und Generalen vorbehalten waren und O-Ton bzw. Moderation gegenüber einem Sprecherkommentar aus dem Off eine geringe Rolle spielte, kamen nun auch gelegentlich jüngere Soldaten zu Wort. So durfte der Obergefreite Gerhard Alzen im ersten Quartal 1968 zweimal einen Beitrag über »ostzonale Propaganda« moderieren, wobei sich Alzen allerdings betont altklug und erwachsen gab58. Dieser Trend ist selbst in primär waffentechnisch ausgerichteten Beiträgen merklich. So stellt in der April-Ausgabe 1969 ein Unteroffizier selbst die wichtigsten Merkmale seines neuen Raketen-JagdPanzers vor. Im Dezember 1968 gab ein Moderator Einblicke in den Arbeitsalltag des Filmschau-Teams und forderte auf, sich an einer Meinungsumfrage zu beteiligen. Ein Jahr später fasste das Filmbegleitblatt die Ergebnisse zusammen: »Gut angekommen sind Berichte über Manöver mit viel Aktion und soldatischem Einsatz, gern gesehen wird auch die Vorstellung neuer Waffen und technischer Geräte. Viele bejahen auch die Hinweise zur Verkehrserziehung. Nicht gefallen haben die Berichte mit zuviel >Großem BahnhofSchönfärbereigrauen AlltagThe Lords< und die Starfighter« mit der positiven Enttäuschung der unterstellten Erwartung spielt, dass die Bundeswehr konservativ, altmodisch und unflexibel sei. Der etwa viereinhalbminütige Bericht »>outside< heißt > Außenseiten« über ein Musical »der theaterbesessenen Artilleristen von Luttmersen« geht jedoch über den Spaßfaktor und das hedonistische Lebensgefühl hinaus, das der Luftwaffen-Beitrag vermitteln sollte. Mit deutlicher Sympathie stellt die Filmschau Luttmersen als eine in jeder Hinsicht moderne Kaserne dar mit modernen Gebäuden, einer »bestimmt nicht konventionellen Monumentalplastik« und Köpfen, in denen etwas »Besonderes« steckt. Dann wird Oberleutnant Hans-Joachim Müller-B or chert vorgestellt: »32 Jahre, verheiratet, Vater zweier Sprösslinge, hier auf dem Weg zum Dienst«. Es erfolgt ein Schnitt zum Probenraum der Theatergruppe. Im Bild erscheint wieder Müller-Borchert, diesmal mit langen verfilzten Haaren und einer Lederjacke, die ein großes Peace-Zeichen auf dem Rücken trägt: »... und das ist er auch. Als Hippie verkleidet [...] die Mutter seiner Kinder mimt eine Lesbierin f...] Sie alle wirken mit beim Musical >outsideoutside< bringt keine Kritik an der Gesellschaft durch Bundeswehrsoldaten, und wenn das Theaterspielen etwas mit der Bundeswehr zu tun hat, dann in erster Linie dahingehend, dass wir einmal weg wollen von dem Tag der offenen Tür und von den Aufführungen der Musikkorps, die alle rein militärischen Bezug haben, sondern wir wollen zeigen, das Denken des Soldaten hört nicht am Kasernentor auf. Wenn die Wirkung für die Bundeswehr durch diese Theateraufführung dahingehend ist, dass man in der Öffentlichkeit erkennt, dass die Soldaten eben auch ganz normale Staatsbürger sind, dann glaube ich, haben wir den Zweck, den wir eigentlich erreichen wollten, erreicht.« Oberleutnant Müller-Borchert ergänzt: »Wir wollten, meine ich, nichts anderes, als Argumente zu sammeln, die in der Jugend, zumindest in kleinen Minderheiten vorhanden sind, und sie einmal an die Öffentlichkeit bringen. Dass die Öffentlichkeit nun ein solches Interesse gezeigt hat, wie es hier der Fall war, im Gegensatz zu unseren bisherigen Aufführungen, hat uns selbst dabei überrascht und vielleicht ein bisschen überrollt. Dabei ist uns natürlich klar, dass hier jeder entsprechend seiner Tendenz auch in uns eine Tendenz hinein interpretieren kann. Dieses Risiko muss man dabei eingehen.« In diesem Bericht spielt die Öffentlichkeit eine große Rolle. Es sind angeblich Presse und Fernsehen, die überreagieren und APO in der Bundeswehr wittern. Die Bundeswehr selbst, in Gestalt der Bundeswehr-Filmschau, reagiert hingegen mit einer gelassenen, ausgewogenen Berichterstattung. Nicht der Sprecherkommentar, sondern die betroffenen Soldaten selbst rücken mit der souveränen Erläuterung ihrer Motive das schiefe Bild wieder gerade. Im Zentrum des Beitrags steht der Soldat als Staatsbürger wie jeder andere. Er darf sich in seiner Freizeit auch kritischen Themen widmen - es ist sogar erwünscht und unterstützenswert, wenn er dies in angemessener Weise tut. Am Ende erweist sich, dass das Problem eigentlich gar keines war. Mit dem Beitrag »>outside< heißt >Außenseiten« führte die Filmschau an einem ungewöhnlichen Beispiel vor, was es 1970 bedeuten konnte, »Staatsbürger in Uniform« zu sein, und lieferte zugleich erwünschte Verhaltensmuster für die Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit mit: Keine Angst haben, auch heiße Eisen anzupacken, aber souverän, gelassen und aufgeschlossen bleiben, um Kritik von Anfang an den Wind aus den Segeln zu nehmen. Vom journalistischen Standpunkt aus tut die Filmschau selbst genau das, was auch in linksliberalen Massenmedien eine beliebte Strategie im Umgang mit Phänomenen der Jugendkultur war: Die spektakulären und äußerst medienwirksamen Provokationen aufgreifen und möglichst noch etwas dramatisieren, um dann sachlich zu erklären, dass alles sehr viel harmloser sei, als es aussieht62.

62

Vgl. Hodenberg, Konsens und Krise (wie Anm. 25), S. 403 f.

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2. Dienst tun »ohne viel Pathos« Der Leitbeitrag der Bundeswehr-Filmschau vom März 1970 gehörte zu einer losen Folge über Einödstandorte. Der etwa achtminütige Bericht »... treu zu dienen. Die einsamen Männer einer Radarstation« beginnt mit dem Spruch »Meckern ist der Stuhlgang der Seele« und greift die gängigen Klagen auf, an einen unattraktiven Standort versetzt worden zu sein. Dann nimmt die Kamera eine Einheit in den Blick, die wirklich Grund zum Klagen hat, die MarineFernmeldestelle Staberhuk auf der Ostsee-Insel Fehmarn. Aufnahmen von einer Fahrt durch eine trostlos wirkende winterliche Einöde werden mit O-Tönen Staberhuker Soldaten unterlegt. Unter anderem erklärt ein Soldat mit schleppender Stimme: »Wenn man diesen Flecken Erde hier sieht und diese Trostlosigkeit hier miterlebt, besonders im Winter, so hat man nur diesen einen Wunsch: nach Hause zu fahren oder versetzt zu werden von dieser Station. Aber beides ist uns sehr schlecht möglich, denn es gibt sehr wenig Leute in der Marine, die diese Fachrichtung haben, und darum hängen wir hier am Ende der Welt und müssen aushalten.« Ein anderer stellt mit entschlossener Stimme fest: »Wir sind eine Station, wie man's so nennt, die an der Front liegt.« Der Sprecherkommentar erklärt, dass die Aufgabe der Staberhuker die Überwachung der Bewegung von Schiffen der Warschauer-Pakt-Staaten sei. Zum Thema Freizeit bringt der Bericht bittere O-Töne zu Bildern vom Arbeitsalltag und von desillusioniert und lethargisch wirkenden Soldaten, die Karten spielen, die Fische im Aquarium füttern oder Modellflugzeuge basteln: »Da gibt's eben nur die eine Beschäftigung. Man geht an Land, wie es so schön heißt, und haut sich den Pickel voll.« - »Man trinkt, man trinkt und trinkt, um diese Eintönigkeit zu überbrücken. Und durch diesen vielen Trinken [sie] passieren Sachen nachher, die einem manchmal leid tun.« - »und was die Mädchen angeht, na ja, da sagt man eben Marinewanderpokale, im allgemeinen. Ansonsten ist hier wirklich nichts los.« Die für die Bundeswehr-Filmschau ungewohnt deutlichen Worte der Soldaten werden am Ende vom Sprecherkommentar wieder abgefedert: »Kein Zweifel: Sie haben nicht das große Los gezogen, die Soldaten von Staberhuk, die hier ohne viel Pathos einfach ihren Dienst machen, wie es von ihnen verlangt wird [...] Sie meckern manchmal, und besonders oft bei schlechtem Wetter und im Winter. Aber wenn sie sich beschweren, dass sie am Ende der Welt seien, dann spürt man auch ein wenig Stolz heraus. Stolz darauf, dass sie gebraucht werden. Besonders hier.« Dieser Beitrag sollte den Soldaten das Gefühl geben, dass sie stolz sein dürfen auf den harten Dienst, den sie leisten, und er hebt gleichzeitig den pädagogischen Zeigefinger gegenüber denen, die mit weniger Grund meckern. Vermittelt wird das Bild einer postheroischen Auftragserfüllung, eines Dienens ohne Pathos63. Begeisterung, Schneidigkeit und markige Worte werden vom Wehr63

Zum Typus eines postheroischen Militärs und dem Grundmotiv des unpathetischen Soldaten vgl. auch Thorsten Loch, Soldatenbilder im Wandel. Die Nachwuchswerbung der Bundeswehr in Werbeanzeigen. In: Visual History. Ein Studienbuch. Hrsg. von Gerhard Paul, Göttingen 2006, S. 265-282, hier S. 279; Thorsten Loch, Nachwuchswerbung im

»APO in der Bundeswehr?«

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Pflichtigen nicht erwartet, er darf auch mal öffentlich meckern. Hauptsache, er tut seinen Dienst. Er muss seine Rolle als »Abschreckungssoldat« ausfüllen, auch wenn das eingeschränkte Freizeitmöglichkeiten, gleichförmige Tätigkeiten und das Aushalten von Langeweile und Eintönigkeit erfordert. Denn, wie Bundespräsident Gustav Heinemann bei seiner Vereidigung am 1. Juli 1969 erklärte: »Nicht der Krieg ist der Ernstfall, in dem der Mann sich zu bewähren habe, wie meine Generation in der kaiserlichen Zeit auf den Schulbänken unterwiesen wurde, sondern heute ist der Frieden der Ernstfall, in dem wir alle uns zu bewähren haben64.« Insbesondere zeigt der Bericht über die Staberhuker, dass sich die Sagbarkeitsregeln in der Bundeswehr-Filmschau Anfang der 70er Jahre erweiterten und die wiederholt von Zuschauern wie Redaktion geäußerte Kritik an zuviel »Schönfärberei« des soldatischen Alltags und dem Ausblenden von Problemen oder Misserfolgen ernst genommen wurde. In der Oktober-Ausgabe 1972 erschien sogar ein Beitrag unter dem Titel »Moneten durch Musik. Versuch einer Wohltätigkeitsveranstaltung« über eine völlig missglückte Hilfsaktion. Unteroffiziere des Jagdbomber-Geschwaders 33 in Cochem-Brauheck veranstalteten ein Konzert mit Dieter Thomas Heck zugunsten der Kindergärten der Stadt und des Soldatenhilfswerks. Sie hatten jedoch nicht mit den erheblichen Gagenforderungen der Stars gerechnet. Das Publikum blieb aus. Statt Spendengelder einzusammeln, schrieben die Unteroffiziere rote Zahlen.

3. »Jäger und Journalisten« Die »Härte«, die in dem Beitrag über den Einödstandort Staberhuk immer wieder angeführt wurde, ist das Leitmotiv des Berichts »Die Jäger. Bewährte Truppe unter neuem Namen« in der Bundeswehr-Filmschau vom Juli 1971 (siehe Abb. 5 und 6 auf S. 254). Der etwa vierminütige Leitbeitrag rückt den harten, durchtrainierten Einzelkämpfer ins Blickfeld. Kameraführung und Sprechertext folgen auf den ersten Blick eher traditionellen Darstellungsmitteln des Militärfilms. Der Jäger, an dem die Kamera zu Beginn des Beitrags ab- und aufwandert, erscheint überindividuell als soldatischer Typ, der durch Großaufnahmen auf seine Waffen, Uniformteile und Ausrüstungsgegenstände charakterisiert wird. Stahlhelm und Tarnfarbe im Gesicht verstärken diesen Eindruck. Der Sprechertext besteht aus apodiktisch formulierten, kurzen Hauptsätzen: »Bewährt und jetzt unter neuem Namen: die Jäger. Der neue Name steht für die Panzergrenadiere der 2. und 4. Division. Harte Männer sind es seit eh und je, harte Männer, die sich im unwegsamen und schwierigen Gelände erst richtig wohlfühlen. Sie sollen in erster Linie für Abwehrgefechte in panzerungünstigen Gegenden eingesetzt werden. Nicht sehen und nicht hören lassen ist ihre Devise. Unvermutet zuschlagen ist ihr Rezept.«

64

Spannungsfeld von Bundeswehr und Gesellschaft. In: Entschieden für Frieden (wie Anm. 12), S. 425-438, hier S. 431 f. Zit. nach: Information für die Truppe, 19 (1969), 8, S. 531-536, hier S. 531.

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Katja Protte

Abb. 5 und 6: »Die Jäger. Bewährte Truppe unter neuem Namen«, aus: Bw-Filmschau 7/1971

Abb. 7 und 8: »Markenzeichen einer Kompanie«, aus: Bw-Filmschau 2/1972

»APO in der Bundeswehr?«

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Der Text könnte soldatisch-markig klingen, wenn sich die Sprecherstimme aus dem Off nicht eines bewusst heiter-gelassenen, einfühlsamen, aber auch leicht ironisch-distanzierten Tonfalls bedienen würde. Dieses Stilmittel wird in einem Teil der Bundeswehrfilmproduktion seit den 50er Jahren verwendet und entsprach auch bestimmten Darstellungskonventionen im zivilen Film und Fernsehen. Es vermittelt ein Gefühl von Sicherheit und Nähe, ohne den Zuschauer zu stark zu vereinnahmen oder ihm eine rein militärische Perspektive aufzuzwingen und seine zivile Identität in Frage zu stellen65. Auch ist der kernig und etwas vierschrötig wirkende Jäger aus der Anfangssequenz nicht das einzige Soldatenbild, das dieser Filmbeitrag präsentiert. Denn, wie ein Sprecher aus dem Off mitteilt, was sich hier abspielt, »soll einer aus Euren Reihen, ein Reporter mit Schulterklappen, ein Soldat berichten«. Der junge Unteroffizier, der als Reporter fungiert, verkörpert ein ganz anderes Männlichkeitsideal, das bei aller militärischen Haltung dem Popstar-Ideal des schlaksigen, eloquenten Twens nahe kommt, das Jugendillustrierte dieser Zeit propagierten 66 . Die Filmschau lässt hier nicht nur einen jungen Soldaten selbst zu Wort kommen, sondern ist auch dem Zeitstil folgend zum »du« übergegangen, wenn sie sich an ihre Zuschauer wendet. Kriegsnah wirkende Bilder von einem Angriff auf das »vom Feind besetzte« Übungsdorf »Bonnland« und der anschließende Häuserkampf bilden den Rahmen für weitere Aufnahmen aus der Ausbildung: Kampfbahn, Uberwinden schwierigen Geländes in schwindelerregender Höhe, Judo und Karate. Der Arbeitstitel des Beitrags lautete nicht ohne Grund »Hammelburg: Jäger und Journalisten«. Die Jäger bildeten nur einen Teil des Filmberichts. Anlass für die Aufnahmen war die Vorführung der neuen Jägerkonzeption an der Kampftruppenschule Hammelburg am 8. Juni 1971 vor der Presse67. Die Filmschau nutzte diese Gelegenheit, um sich des Kunstgriffs der Berichterstattung über die Berichterstattung zu bedienen. Die Anwesenheit der Journalisten vermittelt den Eindruck eines großen öffentlichen Interesses an einem Bereich der soldatischen Ausbildung - und eben nicht nur an Skandalen wie der Starfighter-Krise. Der junge »Reporter mit Schulterklappen« holt sogar zwei Journalisten von der Deutschen Presseagentur (dpa) für zwei kurze Interview-Sequenzen vor die Kamera. Während sich Soldaten in Zeiten der Vietnamkriegsproteste und steigender Kriegsdienstverweigererzahlen gegenüber Presse und Öffentlichkeit häufig in einem Rechtfertigungszwang sahen, drehte die Filmschau nun den Spieß um. Hier sind es die Journalisten, die sich rechtfertigen müssen. Die erste Frage des Soldaten an die Journalisten lautet: »Waren Sie jemals Soldat?« Während der sportlich wirkende dpa-Journalist mitteilt, er sei weißer Jahrgang, sagt sein Kollege ohne weitere Begründung: »Ich bin nie Soldat gewesen.« Ob beab65 66 67

Vgl. Protte, Auf der Suche nach dem Staatsbürger in Uniform (wie Anm. 33), S. 599. Vgl. Fahlenbrach/Viehoff, Die Dynamisierung (wie Anm. 6), S. 136. Vgl. BA-MA, BW 2/9715, unpag.: Fü S I 5, Redaktion »Bundeswehr-Filmschau«, Einladung zur Rohschnittabnahme der Bundeswehr-Filmschau 7/71, Bonn, 23.6.1971; Fü S I 5, Redaktion »Bundeswehr-Filmschau«, Betr.: Planung für Folge 7/71 und die weitere Arbeit, Bonn, 9.6.1971.

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sichtigt oder nicht, der bärtige, blasse Brillenträger scheint sich in der Interviewsituation deutlich unwohl zu fühlen. Er kratzt sich, schaut zu Boden, scharrt mit den Füßen, während der wesentlich jüngere »Soldat mit Schulterklappen« selbstbewusst aufgereckt vor den beiden professionellen Journalisten steht und nachhakt: »Aus welchem Grund haben Sie sich dann heute bei dieser Vorführung eingefunden?« Beide betonen, dass sie besonders die Härte der Ausbildung interessiert und die körperliche Fitness, die nötig ist, um in der Ausbildung zu bestehen. Abschließend fragt der Soldat die Journalisten, ob sie glauben, dass die Bundeswehr das Land im Verteidigungsfall wirklich ernsthaft schützen könnte. Die Antworten entsprechen vollkommen der offiziellen Position der Bundeswehr: »Die Bundeswehr alleine bestimmt nicht, höchstens in Zusammenhang mit der NATO.« - »Ich würde dazu sagen, dass die Bundeswehr auf der anderen Seite natürlich aber ein wesentlicher Bestandteil der NATO ist.« Dieser Beitrag ist in mehrfacher Hinsicht interessant für das Anliegen der Bundeswehr-Filmschau, den Soldaten dabei zu helfen, »sich selbst wiederzufinden«. Auf einer ganz pragmatischen Ebene vermittelt der Einsatz eines jungen Soldaten als Reporter den Eindruck, dass die Bundeswehr unter Umständen die Gelegenheit bietet, schon einmal Erfahrungen in einem Traumberuf zu sammeln, der mit Soldat sein auf den ersten Blick wenig zu tun hat. Die Möglichkeiten, die die Zeit bei der Bundeswehr für das spätere Fortkommen im Zivilberuf bot, waren immer wieder Thema in der Filmschau und spielten auch eine wichtige Rolle in der Nachwuchswerbung68. Auf der Suche nach Elementen eines zeitgemäßen Soldatenbildes vermittelt der Beitrag einen Eindruck von soldatischer Härte, die kein Fremdkörper im modernen Leben ist. Im Heer wurde zu dieser Zeit der Einzelkämpfer als »Markenzeichen« propagiert - der Soldat, der nicht nur moderne Waffensysteme beherrschte, sondern durch körperliche Fitness und individuelle Härte im Sinne der Strategie der »Flexible Response« auch in einem konventionellen Krieg vielseitig einsetzbar war69. Die Ausbildung wies Elemente wie Judo und Karate auf, die sich auch im zivilen Fitnessbereich zunehmender Beliebtheit erfreuten. Dass Anfang der 70er Jahre in der Bundeswehr-Filmschau immer wieder das Element der »Härte« betont wurde, könnte einerseits auf das Bestreben zurückgehen, angesichts zunehmender Liberalisierung im formalen Bereich des soldatischen Lebens zu belegen, dass dies nicht auf Kosten der Kampfkraft gehe. Andererseits ist hierin vielleicht auch ein Versuch zu sehen, den Begriff soldatischer Härte an zivile Trends anzudocken und so zu modernisieren. Gerade Journalisten der 68er-Generation folgten beispielsweise dem Leitbild des »streitbaren Kämpfers«, der »harte« Fragen stellt70. Zwar verneint 68 69

70

Vgl. Loch, Nachwuchswerbung (wie Anm. 63), S. 434 f. Oberstleutnant Lutz Wolf, Einzelkämpfer: ein Markenzeichen des Heeres. In: Jahrbuch des Heeres, 3 (1971), S. 74; vgl. auch Rudolf J. Schlaffer, Anmerkungen zu 50 Jahren Bundeswehr: Soldat und Technik in der »totalen Verteidigung«. In: MGZ, 64 (2005), 2, S. 487-502, hier S. 500 f. Vgl. Hodenberg, Konsens und Krise (wie Anm. 25), S. 295, 303, 422.

» A P O in der Bundeswehr?«

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ein Artikel über die Pressevorführung der Jäger in »Bundeswehr aktuell« explizit, dass die Einzelkämpfer »Partisanenanwärter«, »Trapper« oder »Guerillas« seien71. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass viele Jugendliche zwar die Bundeswehr ablehnten72, aber durchaus Sympathien für den Typ des Guerilla-Kämpfers hegten, und der Einzelkämpfer diesem Ideal zumindest in seiner optischen Erscheinung am nächsten kam. Auf der Ebene der Beziehungen zwischen Bundeswehr und Öffentlichkeit liegt der Beitrag ganz auf der Linie der sozial-liberalen Koalition, die eine sehr viel offensivere Öffentlichkeitsarbeit betrieb als ihre Vorgänger. Das Weißbuch 1970 stellte fest73: »In den fünfzehn Jahren ihres Bestehens hat die Bundeswehr einen festen Platz im öffentlichen Bewusstsein erlangt. Auch Form und Inhalt der an ihr geübten Kritik sind Zeichen der Normalisierung. Hier geht es der Bundeswehr nicht schlechter und nicht besser als anderen [...] Presse, Funk und Fernsehen haben in den letzten Jahren zunehmend dazu beigetragen, die innere Entwicklung der Streitkräfte für die Öffentlichkeit durchsichtig zu machen.« Willy Brandt gab den Soldaten im Vorwort des Weißbuchs mit auf den Weg: »Die Bundeswehr braucht sich nicht zu bemitleiden, sondern kann sich ihrer Aufgabe mit Selbstvertrauen widmen.« Wenn der Filmschau-Beitrag über »Jäger und Journalisten« eine zentrale Aussage hat, dann die, dass sich die Bundeswehr nicht zu verstecken braucht, sondern den Massenmedien selbstbewusst gegenübertreten kann.

V. »Ein neuer Stil« Im Zusammenhang mit der »Kritischen Bestandsaufnahme«, die die sozialliberale Koalition in ihrer Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 auch für die Bundeswehr angekündigt hatte, notierte Martin Koller »Kritik und Selbstkritik« für den Jahresabschluss 196974. Er beklagte, dass eine »Ein-MannRedaktion« überfordert sei. Von 53 Themen 1969, die zwar alle mehr oder weniger intensiv redaktionell geplant, vorbereitet und bearbeitet worden seien, hätten nur 14 Themen von Planung bis Abschluss der Gestaltung in den Händen der Redaktion gelegen. Aktuelle Berichte seien fast unmöglich, da sie meist erst acht bis zehn Wochen später die Truppe erreichten. Höchstens 60 % bekämen die Filmschau zu sehen. Zwischen Fü S I 6, Fü S VII 5, Bundeswehramt 71

72

73 74

In Hammelburg ist man nicht zimperlich. Jäger und Einzelkämpfer sind keine »Ranger«. In: Bundeswehr aktuell, 18.6.1971. Siehe den Beitrag von Elmar Wiesendahl, Jugend und Bundeswehr. Eine jugendsoziologische Epochenanalyse, in diesem Band. Weißbuch 1970 (wie Anm. 11), S. 116 f. Siehe Anm. 34.

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und Produktionsfirma gebe es erhebliche Reibungsverluste. Außerdem vermerkte Koller: »An sich ist eine filmische Monatsschau im Fernsehzeitalter hoffnungslos altmodisch: die alten Wochenschauen - einst die aktuellste Bildberichterstattung - kämpfen um ihre Existenz und weichen ins Feuilleton aus.« Er schlägt vor, sich endlich für einen neuen Titel zu entscheiden, die Produktion auf Farbe umzustellen und eventuell einen Moderator einzuführen, um sich dem Fernseh-Stil anzupassen. Viele von Kollers Vorschlägen wurden in den nächsten Jahren umgesetzt. Der Hauptunterschied, der bei der Untersuchung der Bundeswehr-Filmschau in den frühen 70er Jahre auffällt, ist jedoch die veränderte Darstellung der Leitung des Bundesverteidigungsministeriums. Minister, Staatssekretäre und Generale traten in den 60er Jahren eher sporadisch mit Neujahrsansprachen, bei Reden, Amtsübergaben und anderen offiziellen Anlässen in der Filmschau auf. Aus den Akten entsteht der Eindruck, dass es vor allem Koller war, der versuchte, Amtsträger für Porträts, Interviews oder Ahnliches zu gewinnen, und dass nur ein Teil seiner Planungen letztlich zustande kam75. Beiträge wie in der Dezember-Ausgabe 1967, in der Generalinspekteur Ulrich de Maiziere scheinbar in einem zwanglosen Gespräch mit Soldaten während des Manövers »Hermelin« zu sehen ist, blieben die Ausnahme. Der Wunsch, von der statischen, hochoffiziellen Darstellung wichtiger Persönlichkeiten zu einem ungezwungenen, persönlicher wirkenden Stil überzugehen, ist schon in diesem Beitrag unverkennbar. Da die Filmschau davon ausging, dass de Maiziere während des Manövers kaum Zeit haben würde, wurden die Aufnahmen auf dem HubschrauberLandeplatz bzw. dem Übungsgelände der Bonner Hardthöhe nachgestellt76. Auch der Stil der Fragen und Antworten wirkt sehr viel lockerer als sonst, wenn junge Soldaten im Gespräch mit Generalen gezeigt wurden. Als erstes fragt ein Gefreiter: »Herr General, es gibt Leute, die behaupten, vor der Bundeswehr hat niemand in der Welt Angst. Was halten Sie davon?« Der Generalinspekteur antwortet: »Ich frage mich: warum soll man Angst vor uns haben? Wir wollen doch niemandem etwas tun. Und wir wollen vor allen Dingen nicht angreifen. Die Aufgabe der Bundeswehr ist es, den Frieden zu sichern und die Bundesrepublik gegen einen Angreifer zu verteidigen. Und dazu - meine ich - sind wir zusammen mit unseren Verbündeten stark genug. Und das glauben unsere Verbündeten, und das glaubt jeder, der uns angreifen wollte, auch.«

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Vgl. z.B. BA-MA, BW 2/9711, unpag.: Fü Η I 3, Vermerk für Herrn Inspekteur des Heeres, Bonn, 13.10.1967; Fü S I 6, Redaktion »Bundeswehr-Filmschau«, Notiz, Betr.: »Bundeswehrfilmschau« 4/68. Leitthema, Bonn, [März 1968]. Koller schlug vor, Porträts der Inspekteure der Teilstreitkräfte für die Filmschau herzustellen. Warum sein Vorschlag nicht umgesetzt wurde, geht aus den Akten nicht hervor. Vgl. BA-MA, BW 2/9713, unpag.: Fü S I 6, Redaktion Bundeswehr-Filmschau, Notiz. Betr.: Folge 12/67. hier: Gespräch mit Genlnsp, Bonn, 16.11.1967; Fü S I, Fü S I 6 an Herrn Generalinspekteur a.d.D., Betr.: Bundeswehr-Filmschau Folge 12/67. hier: Planung Interview Genlnsp, Bonn, 2.11.1967.

» A P O in der Bundeswehr?«

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Im Zusammenhang mit dem Halbjahresbericht 1971 notierte Koller Überlegungen zur Darstellung der Leitung des Bundesverteidigungsministeriums in der Filmschau77: »Während in früheren Jahren sich die Redaktion der BW-Filmschau bemühte, Minister, Staatssekr. nicht in der BW-Filmschau darzustellen, unter Berufung auf eine Meinungs-Umfrage in der Truppe [1968/69], die ergab, daß die Masse der Zuschauer technische oder sportliche Reportagen jeder Darstellung >hoher Tiere< vorziehe, Seit Oktober 69: Bemühung, die neue Leitung gut zu verkaufen. Anfangs: erhebliche Schwierigkeiten, da Referent FilmBild-Ton ein v.d. CDU geförderter Oberst (Büchner), Redaktion jedoch abhängig von Titelverwalter. Erst seit Umgliederung und nach endgültiger Entscheidung, daß Fü S I 5 voll verantwortliche Redaktion für Filmschau und zugleich Titelverwalter, mehr Möglichkeiten. Alle bis dahin produzierten Berichte über Minister od. Staatssekr. gegen Widerstand des >Filmreferats< und im Nachgeordneten Bereich. Jetzt: möglichst in jeder Folge ein Thema über Leitung.« Koller vermerkte explizit, dass die Redaktion seit Ende 1969 versucht habe, einen »neuen Stil« einzuführen, dessen Maßstab das Fernsehen sei, und »hierbei die neue Leitung zu Wort und zu Bild kommen zu lassen«. Bei aller Subjektivität legen diese Notizen sowie der sprunghafte Anstieg von Beiträgen im »neuen Stil« nahe, dass Anfang der 70er Jahre auch die Leitung selbst die Möglichkeiten auf neue Weise wahrnahm, die die Bundeswehr-Filmschau »der politischen und militärischen Führung [bot], die Masse der Soldaten durch das bewegte Bild persönlich anzusprechen«78. Schon der Wahlkampf der SPD hatte einen neuen Stil des Umgangs von Politikern mit den Medien gezeigt79. Während die Bundeswehr-Filmschau 1969 keinen Bericht über die politische und militärische Leitung enthielt und hiermit wohl teilweise tatsächlich auf die Ergebnisse der Zuschauerumfrage vom Dezember 1968 reagierte, wurde 1970 eine Ansprache des Verteidigungsministers Helmut Schmidt zum Jahreswechsel gezeigt. Der Parlamentarische Staatssekretär Karl Wilhelm Berkhan erschien in der April-Folge in einem Gespräch mit Wehrpflichtigen zum Ende des Zweiten Weltkrieges vor 25 Jahren, während der Leitbeitrag der Mai-Ausgabe ausführlich die Entstehung des neuen Weißbuchs zeigte. Auch die JanuarAusgabe 1971 begann mit Helmut Schmidt, jedoch nicht mehr mit einer traditionellen Neujahrsansprache. Stattdessen erweckt der Beitrag »Guten Flug, guten Marsch, gute Fahrt!« den Eindruck, als habe das Filmschau-Team Schmidt überraschend auf dem Köln-Bonner Flughafen in Wahn abgefangen, um ihm einige Fragen zu stellen. Wie das Filmbegleitblatt ausführt, kommt Schmidt »mit ei77

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BA-MA, BW 2/15379, unpag.: Redaktion »Bundeswehr-Filmschau«, Fü S I 5, Martin Koller, Halbjahresbericht 71. Notiz, Betr.: Darstellung der Leitung des Hauses in der Bundeswehr-Filmschau. BA-MA, BW 2/9713, unpag.: Fü S I 6, Müller-Belau an P.R. Min., Min.Rat Dr. Wieck, Aktennotiz, Betr.: Bundeswehr-Filmschau, hier: Ministeransprache an alle Soldaten der BW, Bonn, 6.11.1969. Vgl. Daniela Münkel, Die Medienpolitik von Konrad Adenauer und Willy Brandt. In: Archiv für Sozialgeschichte, 41 (2001), S. 297-316, hier S. 313-316.

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nem Sikorsky-Hubschrauber von der Hardthöhe. Er hat es eilig, wie immer. Er will weiter. Nach Brüssel oder nach Hamburg oder nach München. Wir haben uns eingefunden, denn wir wollen ein Interview von Helmut Schmidt haben zum Jahreswechsel für die Bundeswehr-Filmschau.« Schmidt knurrt »Wegelagerer«, als er das Kamerateam sieht, beantwortet aber natürlich doch die Fragen zu den Aufgaben der Bundeswehr 1971, zum Wettrüsten und zum Alltag der Soldaten. In einem Konzeptpapier führte Koller die Vorteile dieser Form gegenüber der weniger aufwendigen Variante eines Interviews im Arbeitszimmer des Ministers an: »psychologisch: neuer Stil, Eindruck >aus der AlltagsarbeitshowUnmittelbarkeitHauptleute 71 < freimütig mit der Führungsspitze diskutieren, daß sie sich mit vielen Einzelproblemen herumzuschlagen haben und daß die politische und militärische Leitung bereit ist, sich Verbesserungsvorschläge anzuhören und darüber nachzudenken87.« Wie dem Wortprotokoll der Tagung88 zu entnehmen ist, wurde sehr eingehend über die Denkschrift von Unna und die Reaktionen der Leitung gesprochen. In der Filmschau findet sich von den Inhalten dieser Diskussion kaum etwas wieder; die bürokratischen Hindernisse, mit denen Hauptleute zu kämpfen haben, stehen im Vordergrund. Nur wer mit der Denkschrift und der davon ausgelösten Debatte vertraut war, konnte inhaltliche Bezüge herstellen. Stattdessen stellte die Filmschau exemplarisch Spielregeln einer Diskussion im militärischen Bereich vor89. Dabei sind zum Teil Redebeiträge zusammengeschnitten, die in der Diskussion weit auseinander lagen bzw. gar nicht aufeinander bezogen waren. Ein Hauptmann äußert sich beispielsweise zu Bestimmungen für den Chef auf dem Gebiet des Disziplinarwesens: »Einmal Befehle für die Ahndung von Dienstpflichtverletzungen im Wachdienst. Hier wird sogar dem Chef vorgeschrieben, welche Strafen er im Einzelfalle in der Regel nicht verhängen darf. Abgesehen davon, daß dieser Befehl unrechtmäßig ist, muß der Chef ihn beachten.« Hiermit hat der Redner den Rahmen angemessener Kritik überschritten. Staatssekretär Berkhan warnt: »Ich halte das für gefährlich, wenn in einer so großen Versammlung ein Kompaniechef sagt, ein Befehl ist unrechtmäßig, ohne das zu begründen. Ich würde ihn bitten, mir einen privatdienstlichen Brief zu schreiben und mir mitzuteilen, was er daran für unrechtmäßig hält. Ich werde das überprüfen lassen.« Ein anderer Hauptmann gibt zu bedenken: »Herr General, ich habe die Befürchtung, Sie haben durch Ihre Ausführungen erneut etwas Unruhe, zumindest bei einigen Teilnehmern hier, hineingebracht.« Auf diese in angemessener Form vorgebrachte Kritik antwortet der angesprochene General selbstkritisch: »Ich gebe zu, das ist ein schlechter Zungenschlag von mir gewesen, weil er tatsächlich den Bestimmungen entspricht, nicht jedoch der Wirklichkeit.« Der letzte in der Filmschau gezeigte Dialog, der auf der Tagung eigentlich vor dem Dialog mit dem General stattgefunden hatte, ist ein Paradebeispiel für Helmut Schmidts gefürchtete Scharfzüngigkeit und Ironie, für einen Minister, der für »alte Zöpfe« kein Verständnis hat. Thema war die soldatische Haar- und Barttracht, über die in Bundeswehr und Gesellschaft Anfang der 70er Jahre gestritten wurde. Schmidt hatte am 5. Februar 1971 einen »Haarnetz-Erlass« durchgesetzt, der Soldaten die freie Wahl ihrer Haar- und

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BA-MA, BW 2/9714, unpag.: Fü S I 5, Redaktion »Bundeswehr-Filmschau«, Aktennotiz, Rohschnittabnahme der Folge 6/71, Bonn, 2.6.1971. Vgl. BA-MA, BW 2/15354, unpag.: Bundeswehramt, Abt I Gruppe Innere Führung, Wortprotokoll von der Tagung des Bundesministers der Verteidigung mit Hauptleuten und Kompaniechefs am 19. Mai 1971 in Neubiberg [bei München], Bonn, 1.6.1971. Vgl. auch Karl Wilhelm Berkhan, Regeln und Grenzen der Diskussion. In: SPDPressedienst, vom 28.4.1971. Zit. nach: Information für die Truppe, 16 (1971), 8, S. 881 f.

»APO in der Bundeswehr?«

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Barttracht erlaubte, aber zur Erzielung von Betriebssicherheit und Unfallschutz die Ausstattung der Soldaten mit einem Haarnetz vorsah90. Ein Hauptmann trägt sichtlich erbittert vor: »Also wenn schon Haare und Bart wachsen dürfen und wenn gemeint wird, dass dies zur freien Persönlichkeitsentfaltung unbedingt dazu gehört, wenn das also ein grundsätzliches Problem ist, dann dürfte so etwas auch im Ausland nicht eingeschränkt werden.« Schmidt entgegnet: »Wenn Sie meinen, es sei ein militärisches Problem und weiter gar nichts, so muss ich Ihnen widersprechen. Es ist vorzüglich ein psychologisches Problem, nicht nur im militärischen Teil unserer Gesellschaft, auch im zivilen Teil.« Würde die Generalität wie zu Tirpitz' Zeiten lange Bärte tragen, würden sich die jungen Rekruten aus Protest ihre Bärte abnehmen lassen. »Ich verstehe Ihre Bemerkung so, dass Sie sagen, mich wurmt es, dass ein Teil meiner Rekruten diese ungepflegten Haare nur deswegen trägt, um mir zu zeigen, dass sie insoweit meiner Disziplin nicht unterliegen. Mich wurmt es, dass sie damit zum Ausdruck bringen wollen, dass sie sich militärischer Disziplin nicht fügen wollen, das verstehe ich. Was ich Ihnen anempfehle, ist Souveränität und Humor.« Der Sprecherkommentar nimmt diesen Satz des Ministers auf und leitet zum zweiten Beitrag über, der den Arbeitsalltag des Tagungsleiters, Kompaniechef Hauptmann Klaus Habeltitz, zeigt: »Souveränität und Humor«. Ein gutes Rezept für die vielgeplagten Kompaniechefs. Einen ganzen Tag lang ging es hin und her zwischen Führungsspitze und Truppe. Beide Seiten konnten etwas dazulernen. Man sieht, man kann mit Ministern und Generalen sprechen - und sogar mit Hauptleuten.« Am deutlichsten wird der veränderte Stil, der auch im militärischen Bereich Einzug gehalten hatte, in dem Filmschaubericht über die Diskussionstagung mit Vertrauensmännern und Disziplinarvorgesetzten im Fliegerhorst Köln-Wahn in der Februar-Ausgabe 1972 (siehe Abb. 7 und 8 auf S. 254). Zu sehen sind Mannschaften, aber auch Disziplinarvorgesetzte, die durch die Anwesenheit des Verteidigungsministers, des Generalinspekteurs, der Inspekteure der Teilstreitkräfte, der Staatssekretäre, des Wehrbeauftragten und weiterer Parlamentarier nicht mehr zu beeindrucken waren. Der gesamte, etwa vierzehnminütige Beitrag steht unter dem Titel »Markenzeichen einer Kompanie«. Schon zu Beginn des Beitrags wird ein Ausschnitt aus der Szene gezeigt, auf die sich der Titel bezieht. Ein selbstbewusst grinsender Major sagt: »Das ist ein gewisses Markenzeichen meiner Kompanie.« Und erntet schallendes Gelächter und Beifall. Ein Sprecher aus dem Off kündigt an: »Des Rätsels Lösung, welches >gewisse Markenzeichen< hier gemeint ist, folgt erst gegen Ende dieser Story. Bis dahin kann man sich überlegen: >Was ist eigentlich das Markenzeichen meiner Kompanie?zur Personzur Sache< gehört werden solle. Der Minister jedenfalls versprach eine Prüfung dieser Frage. Es wäre ein mögliches und interessantes Ergebnis dieser Tagung, wenn Gefreite den Anstoß zu einer Gesetzesänderung gegeben hätten ... praktizierte Demokratie< könnte man einen solchen Vorgang nennen. Was ist nun eigentlich das >gewisse Markenzeichen meiner Kompanie