Pathologie 3437423819, 9783437423819

Die Pathologie ist eines der umfangreichsten und wichtigsten Gebiete im klinischen Medizinstudium. Bücher zum Thema besc

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Pathologie
 3437423819, 9783437423819

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Path hologie Herausgegeb ben von W Böcker W. H. Denk un nd Ph h. U. Heitz 3.,, völlig übeerarbeitete Auflage M 1400 meeist vierfarb Mit bigen Abbilldungen un nd 164 Tab bellen IS SBN 978-3-4437-44470--8

URBA AN & FISC CHER Mün nchen · Jenaa Zusschriften un nd Kritik an: a Elseevier GmbH H, Urban & Fischer Verrlag, Lektorrat Medizinsstudium, z. Hd. Nathallie Blannck, Karlstrraße 45, 803333 Müncheen Wicchtiger Hin nweis für deen Benutzeer Die Erkenntnisse in der Medizin M unterrliegen lauffendem Wanndel durch F Forschung und u klinische Erfahhrungen. Herausgeber und u Autoren n dieses Weerkes haben große Sorg gfalt daraauf verwenddet, dass diee in diesem Werk gemaachten theraapeutischen Angaben (insbbesondere hinsichtlich h Indikation,, Dosierung g und unerw wünschten W Wirkungen) dem derzzeitigen Wisssensstand entsprechen e n. Das entbindet den Nuutzer diesess Werkes ab ber nicht von der Verpfliichtung, anhhand der Beeipackzettel zu verschreeibender Prräparate zu überrprüfen, ob die dort gem machten Anngaben von denen in diiesem Buchh abweichen n und seinne Verordnuung in eigenner Verantw wortung zu trreffen. Wiee allgemein üblich wurdden Warenzzeichen bzw w. Namen (zz.B. bei Phaarmapräparaaten) nichht besonderss gekennzeiichnet. Biblliografische Informattion Der Deeutschen Biibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten 3. Auflage, April 2004 © Elsevier GmbH, München Der Urban & Fischer Verlag ist ein Imprint der Elsevier GmbH. ISBN 3-437-42381-9 04 05 06 07 08

543210

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Um den Textfluss nicht zu stören, wurde bei Patienten und Berufsbezeichnungen die grammatikalisch maskuline Form gewählt. Selbstverständlich sind in diesen Fällen immer Frauen und Männer gemeint. Programmleitung: Dr. med. Dorothea Hennessen Teamleitung Klinik: Nathalie Blanck Lektorat: Carola Pröbstle Redaktion: Sabine Engelhardt Herstellung: Cornelia Reiter Satz: Typodata, München Druck und Bindung: Appl, Wemding Umschlaggestaltung: prepress ulm GmbH, Ulm Gedruckt auf 80 g Luxosamtoffset, mehrfach matt gestrichen, mit 1,1fachem Volumen, geliefert von Schneidersöhne Papier, Ulm Printed in Germany Aktuelle Informationen finden Sie im Internet unter www.elsevier-deutschland.de

Vorspann Krankheitsmechanismen

Linke Seite: Porträt M. J. Schleiden. Aus Matthias Jakob Schleiden: Die Pflanze und ihr Leben, Verlag Wilhelm Engelmann, Leipzig 1858. Sammlung des Medizinhistorischen Institutes und Museums der Universität Zürich. M. J. Schleiden (1838) und Th. Schwann (1839) sind die Begründer der pflanzlichen und tierischen Zellenlehre. Rechte Seite, links: Zellen: Zeichnungen von M. J. Schleiden. Bildersammlung des Medizinhistorischen Institutes und Museums der Universität Zürich. Rechte Seite, rechts: Cluster-Analyse von Tumoren. Im Farbdiagramm entspricht jede horizontale Zeile einem Gen und jede vertikale Spalte einem analysierten Gewebe (siehe Abb. 1-17).

1

Aufgaben der Pathologie

2

Zell- und Gewebereaktionen

3

Entzündung

4

Grundlagen der Immunreaktionen

5

Genetische Mechanismen von Krankheiten

6

Allgemeine Tumorpathologie

7

Allgemeine Kreislaufpathologie

Klinische Pathologie

1 Zahnschmerz (Elfenbeinfigur, um 1870). Sammlung des Medizinhistorischen Institutes und Museums der Universität Zürich. 2 Akromegalie: Beschreibung 1884 durch C.F. Fritzsche (Glarus, Schweiz) und Edwin Klebs (Chef der Pathologie Zürich 1882–1892).

Nervensystem 8

Zentrales Nervensystem

9

Tumoren des Nervensystems

10

Neuromuskuläres System

Sinnesorgane 11

Auge

12

Ohr

Neuroendokrines System 13

Hypophyse

14

Schilddrüse

15

Nebenschilddrüsen

16

Nebennieren

17

Disseminiertes neuroendokrines System

18

Polyglanduläre Störungen

Kardiovaskuläres System 19

Herz

20

Gefäße

Blut, Knochenmark und lymphatisches System 21

Blut und Knochenmark

22

Lymphatisches System

Respirationstrakt 23

Obere Atemwege

24

Lunge

25

Pleura

Verdauungstrakt 26

Mund, Zähne und Speicheldrüsen

27

Ösophagus

28

Magen und Duodenum

29

Jejunum und Ileum

30

Appendix

31

Kolon und Rektum

32

Leber und intrahepatische Gallenwege

33

Gallenblase und extrahepatische Gallenwege

34

Pankreas

35

Peritoneum

Urogenitaltrakt 36

Nierec

37

Ableitende Harnwege

38

Männliche Geschlechtsorgane

39

Weibliche Geschlechtsorgane

40

Schwangerschaft, Perinatalperiode und Kindesalter

Mamma und Haut 41

Mamma

42

Haut

Stütz- und Bewegungsapparat 43

Knochen

44

Gelenke

45

Weichgewebe

Systemische Erkrankungen, Organtransplantationen und umweltbedingte Erkrankungen 46

Stoffwechselerkrankungen

47

Generalisierte immunologische Krankheiten

48

Infektionskrankheiten

49

Fremdmaterial-Implantate

50

Transplantationspathologie

51

Umweltbedingte Schäden

Vorspann Mit Beiträgen von A. Aguzzi H. A. Baba G. Baretton A. Beham W. Böcker M. Bopp F. Borchard A. Bornemann M. Brockmann E. Bruder B. D. Bültmann G. Cathomas H. Denk K. Deuble-Bente H.-P. Dienes M. Dietel D. v. Domarus W. Fegeler Ch. Fellbaum A. C. Feller P. Fritsch H. E. Gabbert V. Hans

M.-L. Hansmann Ph. U. Heitz H. Herbst G. Höfler H. K. Höfler F. Hofstädter G. Jundt D. Katenkamp D. Kerjaschki M. Kiessling Th. Kirchner C. J. Kirkpatrick P. Kleihues G. Klöppel R. Knüchel P. Komminoth D. Kotzot H. Kreipe S. Kriener M. Krismann C. Langner S. Lax Th. Löning J. Lüttges A. Marx

L. Mazzucchelli H. Merz G. Mikuz H. Moch C. Moll R. Moll P. Möller K.-M. Müller H. Nizze B. Odermatt F. Offner H. F. Otto M. Pfaltz Ch. Poremba N. Probst-Hensch J. Roth P. Schirmacher K. W. Schmid G. A. Spinas Th. Stallmach M. Trauner M. Werner O. D. Wiestler K. Zatloukal D. Zimmermann

Vorwort zur 3. Auflage Die in den biologischen Wissenschaften, den sog. „life sciences“, und in der Medizin innerhalb der vergangenen Jahre erzielten Fortschritte sind eindrucksvoll. Dies hat uns veranlasst, für die dritte Auflage alle Kapitel eingehend zu überarbeiten und neue, insbesondere molekularbiologische Erkenntnisse einzubeziehen. Einzelne Kapitel wurden neu konzipiert. Das Glossar wurde auf vielseitigen Wunsch wiederum beträchtlich erweitert. Unsere wichtigsten Anliegen sind die lebendige Vermittlung der biologischen Voraussetzungen für die Entstehung und den Ablauf von Krankheiten, sowie die Darstellung der engen Korrelation zwischen Pathologie und Klinik. Wir danken allen Autorinnen und Autoren für die Umsetzung der zahlreichen Änderungswünsche, für ihren Einsatz sowie für Vorschläge und Impulse, die sie eingebracht haben. Ein Buch lebt durch die anregende Diskussion mit Autorinnen und Autoren und den unermüdlichen und intensiven Einsatz unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Ihnen gebührt unser besonderer Dank. Die Zusammenarbeit mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlages Urban & Fischer war während der gesamten Vorbereitungszeit sehr angenehm, unkompliziert und freundschaftlich. Wir bedanken uns dafür bei Frau Dr. Dorothea Hennessen, Frau Carola Pröbstle, Frau Cornelia Reiter und Frau Nathalie Blanck. Der Künstler Rudolf Mirer hat für die 3. Auflage des Buches wiederum ein neues Bild geschaffen. Es nimmt Bezug auf die Themen „Lernen und Lehren“. Für dieses „Markenzeichen“ des Buches bedanken wir uns bei Herrn R. Mirer sehr herzlich. Unser ganz besonderer Dank geht einmal mehr an unsere Familien für die Toleranz und Unterstützung, die sie unserer nicht enden wollenden Arbeit entgegengebracht haben. Durch die zahlreichen und intensiven Diskussionen ist und bleibt die Arbeit an diesem Buch für uns ein ganz besonderes und lehrreiches Erlebnis. Werner Böcker, Helmut Denk, Philipp U. Heitz Im April 2004

Aus dem Vorwort zur 1. Auflage Sichere Wahrheit erkannte kein Mensch und wird keiner erkennen Über die Götter und alle die Dinge, von denen ich spreche. Sollte einer auch einst die voll-kommenste Wahrheit verkünden, Wissen könnt' er das nicht: Es ist alles durchwebt von Vermutung. Xenophanes, um 500 v.Chr.

Eine wichtige Triebfeder des Fortschritts ist die Suche nach Erkenntnis. Erkenntnis ist aber nicht „sichere Wahrheit“. Es ist daher nicht Ziel dieses Buches, „sichere“ Wahrheit zu verkünden. Zu sehr ist das, was zum jeweiligen Zeitpunkt als „wahr“ und „richtig“ empfunden wird, vom Wissensstand und vom „Zeitgeist“ abhängig. Die Anliegen dieses neuen Pathologiebuches sind: • den Weg zum Verständnis prinzipieller Mechanismen des „Krankhaften“ im Vergleich zum „Normalen“ auf der Basis aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse zu ebnen. • Krankheitsbilder und Krankheitsabläufe systematisch und einfach darzulegen, dabei aber der Komplexität der Biologie gerecht zu werden und Schwarzweißmalerei zu vermeiden. • Verständnis zu wecken für die Krankheit als dynamischer, aber doch nach Regeln ablaufender Prozess. • die aktuellen morphologischen, biochemischen, genetischen und molekularbiologischen Informationen und klinisches Wissen zu integrieren. • die Suche nach Erkenntnis als dynamischen Vorgang zu erleben, der nie abgeschlossen, sondern ebenso veränderbar ist, wie das zu Erkennende selbst. Wir haben versucht, durch systematische Gliederung des Textes, gute Lesbarkeit, informative Bebilderung und zusammenfassende Tabellen der rasanten Zunahme des Wissens und damit auch den gestiegenen Anforderungen an Lehrende und Lernende gerecht zu werden. Auf klinisch-pathologische Korrelationen wurde besonderer Wert gelegt, im Sinne der heutigen Stellung der Pathologie als zentrale klinische Disziplin. Die Kenntnis der Pathologie ist Voraussetzung für das Verständnis von Krankheiten, damit aber auch wichtig für die Interpretation der klinischen Symptomatik und für eine rationale (kausale) Therapie. Oft (ja fast immer) betreffen krankhafte Zustände nicht nur ein Organ, sondern Organsysteme oder den ganzen Menschen. Dem wurde in organüberschreitenden Kapiteln Rechnung getragen. Überschneidungen und Wiederholungen sind daher durchaus beabsichtigt. Sie zeigen, daß Erkrankungen, wie in der täglichen ärztlichen Praxis auch, aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden können. W. Böcker, H. Denk, Ph. U. Heitz im November 1996

Rudolf Mirer erblickte am 9. Juli 1937 in Chur das Licht der Welt. Nach dem Besuch der Kunstgewerbeschule in St. Gallen betätigte sich der künstlerisch begabte Spross eines alten Walsergeschlechtes vorerst als kreativer Entwerfer in der Textilindustrie. 1963 trat er in die päpstliche Schweizergarde des Vatikans ein und verbrachte zwei Jahre in Rom. Tief beeindruckt durch die Zeugnisse des überaus reichen kulturellen Erbes in der Ewigen Stadt fasste er den Entschluss, Maler zu werden. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz ließ er sich in Zernez nieder und verfolgte mit großer Beharrlichkeit sein Ziel. Die Anfangsjahre waren zwar hart, aber nach und nach stellte sich der künstlerische Erfolg ein. Rudolf Mirer arbeitet nun seit 40 Jahren als freischaffender Künstler. Der Mensch, die Natur und die Umwelt sind zentrale Themen seiner Werke. Rudolf Mirer hat bereits für die ersten beiden Auflagen dieses Buches zwei seiner Werke zur Verfügung gestellt.

Abkürzungsverzeichnis

AA Amyloidprotein A (Akute-Phase-Protein) AAT α1-Antitrypsin ABL Abelson murine leucaemia virus (Onkogen) AC Adenylatzyklase ACAT Acyl-Koenzym-A-Cholesterin-Acyltransferase ACE angiotensin converting enzyme Ach Acetylcholin AchR Acetylcholinrezeptor ACIS Adenocarcinoma in situ ACTH adrenokortikotropes Hormon ADA Adenosin-Deaminase ADCC antibody dependent cellular cytotoxicity ADEM akute demyelinisierende Enzephalomyelitis ADH antidiuretisches Hormon ADP Adenosin-5′-diphosphat AFP α-Fetoprotein Ag Antigen AIDS acquired immunodeficiency syndrome AILD angioimmunoblastische Lymphadenopathie AIP akute interstitielle Pneumonie (Hamman-Rich-Syndrom) Ak

Antikörper AL Amyloidprotein L (Immunglobulin-Leichtketten) ALCL anaplastisches großzelliges Lymphom vom B-Zell-Typ ALL akute lymphoblastische Leukämie ALS amyotrophe Lateralsklerose AMA antimitochondriale Antikörper AML akute myeloische Leukämie AMML akute meylomonozytäre Leukämie AMP Adenosinmonophosphat ANA antinukleäre Antikörper ANCA anti-neutrophil cytoplasmatic antibodies AP alkalische Phosphatase APAAP alkaline phosphatase-anti-alkaline phosphatase (Markierung) APC adenopolyposis coli (Gen) APC antigenpräsentierende Zelle APO-E Apolipoprotein E APP amyloid precursor protein (M. Alzheimer) APUD amine precursor uptake and decarboxylation ARDS acute respiratory distress syndrome ARVCM arrhythmogene rechtsventrikuläre Kardiomyopathie ASD Atriumseptumdefekt ASR age-standardized rate (Standardaltersverteilung) ASS

Acetylsalicylsäure AT Angiotensin ATP Adenosintriphosphat ATTR Amyloidproteinvorläufer Transthyretin BALT bronchus associated lymphoepithelial tissue BAB (bax) Bcl associated X protein (Onkogen) BCG Bacillus Calmette-Guérin BCL B Cell Lymphoma/Leukemia (Onkogen) BCR break point cluster region (Fusionsgen) β-HCG humanes Choriongonadotropin BFGF basischer Fibroblastenwachstumsfaktor BFU burst-forming units BIP bronchiolitic interstitial pneumonia BK-Virus Polyoma-Virus (nach den Initialen des ersten Patienten benannt) BL Burkitt-Lymphom BM Basalmembran BOOP Bronchiolitis obliterans mit organisierender Pneumonie BPI bactericidal permeability increasing protein (lysosomales Enzym) BRCA breast carcinoma gene (Onkogen oder Suppressorgen) BRU bone remodeling unit BSE bovine spongiforme Enzephalopathie BSG Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit BSU

bone structural unit BTS Blut-Testis-Schranke B-Zelle vom so genannten Bursa-Äquivalent abhängiger Lymphozyt CAB Chromotrop-Anilinblau (Färbung) CaMK Ca-Calmodulin-abhängige Kinase cAMP zyklisches AMP c-ANCA cytoplasmatic anti-neutrophil cytoplasmatic antibodies CAO chronic airway obstruction CB-CCL zentroblastisch-zentrozytisches Lymphom CBL zentroblastisches Lymphom CCK Cholezystokinin CCL zentrozytisches Lymphom CCT kraniales Computertomogramm CdK zyklinabhängige Kinase CDLE chronisch diskoider Lupus erythematodes cDNA Copy-DNA CDR complementarity determining regions CEA karzinoembryonales Antigen CFTR cystic fibrosis transmembrane conductance regulator (Gen) CFU colony forming unit CGH komparative genomische Hybridisierung CIN zervikale intraepitheliale Neoplasie CIPA

kongenitale Insensitivität für Schmerz mit Anhidrose CIS Carcinoma in situ CJD Creutzfeldt-Jakob-disease CK Creatinkinase CLIS Carcinoma lobulare in situ CLL chronische lymphozytische Leukämie CML chronische myeloische Leukämie CMML chronische myelomonozytäre Leukämie CMV Zytomegalie-Virus CNS koagulasenegative Staphylokokken CNSLD chronic non-specific lung disease CoA Coenzym A COAD chronic obstructive airway disease COLD chronic obstructive lung disease C-ONC zelluläres Onkogen COPD chronic obstructive pulmonary disease CPK Kreatin-Phosphokinase CRH corticotropin releasing hormone CRP C-reaktives Protein CSF colony stimulating factor (Wachstumsfaktor) CT Computertomogramm, Computertomographie CTLA cytotoxic T-lymphocyte-associated molecule (Rezeptor) CTNS

gene for lysosomal cystine transport CURS chronisches unspezifisches respiratorisches Syndrom DALM dysplasieassoziierte Läsion oder Masse DCC deleted in colorectal cancer (Gen) DCIS duktales Carcinoma in situ DCM dilatative Kardiomyopathie DDT Dichlor-Diphenyl-Trichloräthan DES Diethylstilbestrol DHS Dermatophyten-Hefen-Schimmelpilze (-System) DHT Dihydrotestosteron DIC disseminierte intravasale Gerinnung DIP diapedetic interstitial pneumonia DJT Dijodtyrosin DM Dystrophia myotonica DNA Desoxyribonukleinsäure DNA-SSB DNA-single strand binding (Protein) DNCB Dinitrochlorbenzol DOPA Dihydroxyphenylalanin dsDNA double-stranded deoxyribonucleic acid EAE experimentelle allergische Enzephalomyelitis EBV Epstein-Barr-Virus ECF eosinophil chemotactic factor ECHO-V

enteric cytopathogenic human orphan virus ECL enterochromaffin-like (cell) EEG Elektroenzephalogramm EGF epidermal growth factor EKG Elektrokardiogramm ELAM endothelial-leukozytäres Adhäsions-Molekül ELISA enzyme-linked immunosorbent assay EM Elektronenmikroskop EMA epitheliales Membranantigen EMG Elektromyographie ENG Elektroneurographie ENV Gen, das das virale Hüllprotein (envelope) kodiert (Onkogen) EPH-Gestose edema-proteinuria-hypertension Gestose EPO Erythropoetin ER endoplasmatisches Retikulum ERB erythroblastic leukemia viral oncogene ERCP endoskopisch-retrograde Cholangiopankreatikographie ES embryonale Stammzellen EvG Elastin-van Gieson (Färbung) FAP familiäre adenomatöse Polyposis coli FAS Fibroblast-associated (hormonähnlicher Faktor bei der Apoptose) FDP Fibrinogen-Degradations(spalt) produkt FDZ

follikuläre dendritische Zellen Fe Berliner-Blau-Reaktion (Fe 3+: Hämosiderin); Ferrum = Eisen FES feline sarcoma virus (Onkogen) FFI fatale familiäre Insomnie FGF fibroblast growth factor FISH Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung FMS McDonough feline sarcoma virus (Onkogen) FN Fibronektin FOS F87 osteosarcoma virus (Onkogen) FP Fibrinopeptid FRAXA fragiles X-Syndrom A FRAXE fragiles X-Syndrom E FRG 1 FSHD Region Gene 1 (facioscapulohumeral muscular dystrophy) FSGN fokal sklerosierende Glomerulonephritis FSH Follikel-stimulierendes Hormon G-6-PD Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase GABA Gammaaminobuttersäure GAD glutamic acid decarboxylase GADD growth arrest DNA damage (Gen) GAG Glukosaminoglykan oder Gen, das für ein gruppenspezifisches virales Antigen (gag) kodiert GALT gut associated lymphoid tissue GAP

GTPase-aktivierendes Protein GAPDH Glycerin-Aldehyd-Phosphat-Dehydrogenase GAVE gastrale antrale vaskuläre Ektasie GBM Glioblastoma multiforme GCSF granulocyte colony stimulating factor GDP Guanosin-5′-diphosphat GFAP glial fibrillary acidic protein, Gliafaserprotein GFR glomeruläre Filtrationsrate γ-GT γ-Glutamyl-Transferase GH growth hormone GHRH growth hormone releasing hormone GIP gastric inhibitory peptide GIP giant-cell interstitial pneumonia GIST gastrointestinaler Stromatumor GlyCAM glykosyliertes Zelladhäsionsmolekül GMCSF granulocyte monocyte colony stimulating factor GMP Guanosin-5′-monophosphat GMP granule membrane protein (Adhäsionsmolekül) GN Glomerulonephritis GnRH gonadotropin releasing hormone GOT Glutamatoxalacetattransaminase; Aminotransferase GP Glykoprotein GPT

Glutamatpyruvattransaminase; Aminotransferase GRP gastrin releasing peptide GSS Gerstmann-Sträussler-Scheinker-Erkrankung GTP Guanosin-5′-triphosphat GVHR graft versus host reaction H.p. Helicobacter pylori HAV Hepatitis-A-Virus Hb Hämoglobin HBcAg Hepatitis-B-core-Antigen HBeAg Hepatitis-B-envelope-Antigen HbF fetales Hämoglobin HBsAg Hepatitis-B-Oberflächenantigen (s = surface) HBV Hepatitis-B-Virus HCG humanes Choriongonadotropin HCL Haarzellenleukämie HCM hypertrophe Kardiomyopathie HCV Hepatitis-C-Virus HD Huntington disease (Chorea Huntington) HDL High-density-Lipoprotein HDV Hepatitis-D-Virus HE Hämatoxylin-Eosin (Färbung) HER human epidermal growth factor receptor (Onkogen) HEV

Hepatitis-E-Virus HGV Hepatitis-G-Virus HHV humanes Herpesvirus HIV humane immunodeficiency virus HL Hodgkin-Lymphom HLA humanes Leukozytenantigen HMN hereditäre motorische Neuropathie HMSN hereditäre motorisch-sensorische Neuropathie HMV Herzminutenvolumen HNCM hypertrophe nichtobstruktive Kardiomyopathie HNPCC hereditary nonpolyposis colorectal carcinoma HOCM hypertrophe obstruktive Kardiomyopathie HPF high power field (mikroskop. Gesichtsfeld bei 400facher Vergrößerung) HPGF human prostatic growth factor HPRT Hypoxanthin-Guanin-Phosphoribosyltransferase HPV humanes Papillomavirus HSAN hereditäre sensorisch-autonome Neuropathie HSIL high-grade squamous intraepithelial lesion (s. CIN, PAP) HSN hereditäre sensorische Neuropathie HSP heat-shock-protein HSV Herpes-simplex-Virus HTLV Human T-cell leukemia virus HUS

hämolytisch-urämisches Syndrom HUS-E hämolytisch-urämisches Syndrom des Erwachsenenalters HUS-K hämolytisch-urämisches Syndrom des Kindesalters HVGR host versus graft reaction IAPP Inselamyloid-Polypeptid IARC International Agency for Research on Cancer, Internationale Agentur für Krebsforschung IBL immunoblastisches Lymphom vom B-Zell-Typ IC lymphoplasmozytoides Immunozytom ICAM Interzelluläres Adhäsionsmolekül ICD International Classification of Diseases, Injuries and Causes of Death IDDM insulin-dependent diabetes mellitus IDZ interdigitierende dendritische Zellen IE Internationale Einheiten IFN Interferon Ig Immunglobulin IGF insulin-like growth factor (Wachstumsfaktor) IL Interleukin ILO International Labor Office IM intestinale Metaplasie INH Isoniazid INK Inhibitor der zyklinabhängigen Kinase (CDK) InsP3 Inositol-triphosphat

INT provirus integration site in tumors induced by mouse mammary tumor virus (Onkogen) IRDS infant respiratory distress syndrome ISFC International Society and Federation of Cardiology ITKZNU intratubuläre Keimzellneoplasie, unbestimmt ITP idiopathische thrombozytopenische Purpura JAK-Kinase Just Another Kinase oder Janus Kinase JC-Virus Polyoma-Virus (nach den Initialen des ersten Patienten benannt) Jo-1-Antigen Jo (erster Patient) Antigen, s. Dermatomyositis, Polymyositis JUN aus dem japanischen ‘ju-nana,’ = „17“ (Onkogen) kg KG Kilogramm Körpergewicht KIR killer inhibitory receptors KM Knochenmark KPG Koproporphyrinogen KPT Karnitin-Palmitoyl-Transferase La-Antigen Lane (erster Patient) Antigen, s. SS-B-Antigen LAD linke anteriore deszendierende Koronararterie LAD Leukozyten-Adhäsionsdefizienz LAD-D diagonale Äste der LAD LAK lymphokine activated killer cell LAM Leukozyten-Adhäsions-Molekül LAS Lymphadenopathie-Syndrom LBL

Lymphoblastisches Lymphom LCA left coronary artery LCAT Lezithin-Cholesterin-Azyltransferase LDH Laktat-Dehydrogenase LDL Low-density-Lipoprotein LFA leucocyte function associated antigen, Adhäsionsmolekül LGL large granular lymphocytes LH luteinisierendes Hormon LIF leukocyte inhibitory factor LIP lymphoid interstitial pneumonia LKM liver-kidney microsomal (antigen) LL-Form lepromatöse Verlaufsfom der Lepra LOH loss of heterozygosity LP liver-pancreas (antigen) LSD Lysergsäurediäthylamid LSIL low-grade squamous intraepithelial lesion (s. CIN, PAP) LT Leukotrien LTR long terminal repeats (virales Onkogen) M Mukosa-Typ (Magenfrühkarzinom) MAC membrane attack complex oder macrophage antigen alpha (Adhäsionsmolekül) MAF Makrophagenaktivierungsfaktor MALT mucosa-associated lymphoid tissue MAP

microtubule associated proteins MAP-Kinase mitogen-aktivierte Proteinkinase MBL Mannan-bindendes Lektin MBP major basic protein (lysosomales Enzym) MCBL monozytoides B-Zell-Lymphom MCF monocyte chemotactic factor MCL Mantelzell-Lymphom MCP macrophage chemotactic protein (s. MCF) MCSF makrophage colony stimulating factor MCV mittleres korpuskuläres Volumen MDF makrophagendeaktivierender Faktor MDM2 murine double minute (Gen) MDS Myelodysplastisches Syndrom MEA multiple endokrine Adenomatose MEN multiple endokrine Neoplasie MF Mycosis fungoides MFF Makrophagenfusionsfaktor MFH malignes fibroses Histiozytom MG Myasthenia gravis MGUS monoklonale Gammopathie unbestimmter Signifikanz MHC Major histocompatibility complex; der Hauptkomplex im HLA-System des Menschen mib Proliferationsantigen

MIF migration inhibitory factor MJT Monojodtyrosin MLH MutL homologue (Gen), s. hereditäre nichtpolypöse kolorektale Karzinome MM Muscularis mucosae MMP membranständige Metalloproteinase MMS Monozyten-Makrophagen-System MODY maturity onset diabetes of the young MOS Moloney murine sarcoma virus (Onkogen) MPGN Diffuse membranoproliferative Glomerulonephritis MPNST maligner peripherer Nervenscheidentumor MPO Myeloperoxidase MPS monozytäres phagozytisches System mRNA Messenger-RNA MS multiple Sklerose ms Millisekunde MSH MutS homologue (Gen), s. hereditäre nichtpolypöse kolorektale Karzinome MTI malignes Teratom intermediär MTM myotubuläre Myopathie MTT malignes trophoblastisches Teratom MTU malignes Teratom undifferenziert MTX Methotrexat MYB avian myeloblastosis virus (Onkogen)

MYC avian myelocytomatosis virus (Onkogen) MYF myogenic factor (Onkogen) MYOD myogenic determination gene (Onkogen) NADH Nicotinamid-adenin-dinucleotid NADPH Nicotinamid-adenin-dinucleotid-phosphat NASH Nichtalkoholische Steatohepatitis NCAM Neuralzelladhäsionsmolekül NCF neutrophil chemotactic factor NF Neurofibromatose NGF neural growth factor NHL Non-Hodgkin-Lymphom NID neuronale intestinale Dysplasie NIDDM non-insulin-dependent diabetes mellitus NK natürliche Killerzelle NLG Nervenleitgeschwindigkeit NLPHL noduläres, lymphozytenprädominantes Hodgkin-Lymphom NM non-metastatic (Onkogen), z.B. NM23 NMR nuclear magnetic resonance (Kernspinresonanz) NNM Nebennierenmark NNR Nebennierenrinde NO Stickstoffmonoxid NOR Nukleolusorganisierende Regionen

NOS not otherwise specified (maligne Tumoren); s. Kap. Mamma, oder NO-Synthetase NPC Nasopharynx-Karzinom NPI Nottingham-Prognose-Index NSAR nichtsteroidale Antirheumatika NSE neuronenspezifische Enolase NSIP nichtspezifische interstitielle Pneumonie NSKT Nichtseminomatöser Keimzelltumor OMS Osteomyelosklerose OSM Oncostatin M PA Plasminogenaktivator PAF Plättchen-aktivierender Faktor, Platelet-Activating-Factor PAI Plasminogen-Aktivator-Inhibitor PAN Panarteriitis nodosa p-ANCA perinuclear anti-neutrophil cytoplasmatic antibodies PAP Papanicolaou (Färbung, Abstrich) PAS Perjodsäure-Schiff-Reaktion (Färbung) oder Paraaminosalicylsäure PBC primär biliäre Leberzirrhose PBG Porphobilinogen PCNA proliferating cell nuclear antigen (Gen) PCP primäre chronische Polyarthritis PCR polymerase chain reaction, Polymerase-Kettenreaktion PCR-SSCP polymerase chain reaction single strand conformation polymorphism

PDA persistierender Ductus arteriosus Botalli PDGF platelet derived growth factor (Wachstumsfaktor) PF Plättchenfaktor PG Prostaglandin PH Prostatahyperplase pH „Pondus Hydrogenii“, als übliche Kurzbezeichnung des negativen dekadischen Logarithmus der Wasserstoffionenkonzentration [H+] PHPV primärer hyperplastischer persistierende Glaskörper PI Proteaseinhibitor, s. α1-Antitrypsinmangel PID pelvic inflammatory disease PiM normales Allel des Pi-Gens PIN Prostatische intraepitheliale Neoplasie PIP2 Phosphatidylinosito-biphosphat PiS abnormes S-Allel des Pi-Gens PiZ abnormes Z-Allel des Pi-Gens PK Proteinkinase PL Phospholipase PLAP placental-like alkaline phosphatase PLL Prolymphozytenleukämie PLP Phospholipoprotein PLTL Pleomorphzellige T-Zell-Lymphome PML progressive multifokale Leukenzephalopathie PMMA

Polymethylmethacrylat (Plexiglas) PMP 22 peripheres Myelinprotein 22 PN Pyelonephritis PNE pulmonale neuroendokrine Zellen PNET primitiver neuroektodermaler Tumor PNP Purin-Nukleotid-Phosphorylase PNS peripheres Nervensystem POL Gen, das die virale RNA-Polymerase kodiert (Onkogen) POMC Proopiomelanocortin PP Protoporphyrin PPG Protoporphyrinogen PP-Heilung Heilung per primam intentionem PRF prolactin releasing factor PRL Prolaktin PrP Prion-Protein PSA prostataspezifisches Antigen PSAP prostataspezifische saure Phosphatase PS-Heilung Heilung per secundam intentionem PSS progressive systemische Sklerose PTCH human homologue of Drosophila patched (Gen) PTEN Phosphatase and tensin homologue deleted on chromosome 10 (Mutation) PTG progressiv transformierte Keimzentren PTH

Parathormon pTNM postoperative histopathologische Ergänzung des TNM-Systems PTT partielle Thromboplastinzeit PVC Polyvinylchlorid PVL periventrikuläre Leukomalazie PVP Polyvinylpyrrolidon RA Refraktäre Anämie (s. FAB-Klassifikation) RAEB Refraktäre Anämie mit Blastenvermehrung (s. FAB-Klassifikation) RAEBT Refraktäre Anämie mit Blastenvermehrung in Transformation (s. FABKlassifikation) RAF 3611 murine sarcoma virus (Onkogen) RANTES regulated on activation, normal T cell expressed and secreted (Zytokin) RARS Refraktäre Anämie mit Ringsideroblasten (s. FAB-Klassifikation) RAS rat sarcoma (Onkogen) Rb Retinoblastom RBP Retinolbindendes Protein RCA right coronary artery RCX Ramus circumflexus der linken Koronararterie REAL Revidierte europäisch-amerikanische Lymphomklassifikation RES retikuloendotheliales System RET receptor tyrosine kinase (Onkogen) Rh Rhesus-Faktor RHS retikulohistiozytäres System

RIVA Ramus interventricularis anterior der linken Koronararterie RNA Ribonukleinsäure RNP ribonuclear protein complex (Antigen) Ro-Antigen Rose (erster Patient) Antigen, s. SS-A-Antigen ROS reactive oxygen species (reaktive Sauerstoffverbindungen) RR Relatives Risiko (Stat.) RSV respiratory syncytial virus RSV Rous-Sarkom-Virus RT-PCR reverse transcriptase PCR (Variante der PCR) SAA Serum-Amyloid-A-Voläuferprotein SAB Subarachnoidalblutung SBMA spinale und bulbäre Muskeldystrophie SCA spinozerebelläre Ataxie SCD sudden cardiac death SCF stem cell factor SCID severe combined immunodeficiency disease SDH subdurales Hämatom SHT Schädel-Hirn-Trauma SIAD syndrome of inappropriate antidiuresis SIS simian sarcoma virus (Onkogen) SLE systemischer Lupus erythematodes sLeA Sialyl-Lewis-A (Adhäsionsmolekül)

sLeX Sialyl-Lewis-X (Adhäsionsmolekül) SM Submukosa-Typ (Magenfrühkarzinom) SNOMED Klassifikation, Systematized Nomenclature of Medicine SOD Superoxiddismutase SPC sickle-form particles containing (cell), s. M. Whipple SR Sternberg-Reed-(Zellen) SRC Rous sarcoma virus (Onkogen) SRH somatotropin releasing hormone SRS-A slow-reacting substance of anaphylaxis SSCA single strand conformation analysis SSCP single strand conformation polymorphism ssDNA single stranded deoxyribonucleic acid SSPE subakute sklerosierende Panenzephalitis SSS sick sinus syndrome SSW Schwangerschaftswoche STH somatotropes Hormon SUR sulfonylurea receptor SV Simian-Virus SZS Sézary-Syndrom T3 Trijodthyronin T4 Tetrajodthyronin (Thyroxin) TAF Tumor-Angiogenese-Faktor

TBG thyroxinbindendes Globulin TD Teratom differenziert TDLE terminale duktulolobuläre Einheit TG Thyreoglobulin TGA Transposition der großen Arterien TGF transforming growth factor (Wachstumsfaktor) TGI thyroid growth immunglobuline TH T-Helfer-Zelle TIA transient ischemic attack TIB immunoblastisches Lymphom vom T-Zell-Typ TIL tumorinfiltrierende Lymphozyten TIMP Tissue inhibitor of metalloproteinase TLB lymphoblastisches Lymphom vom T-Zell-Typ TNF Tumornekrosefaktor TNM TNM-System: Tumorgröße (T), Lymphknotenmetastasen (N), Fernmetastasen (M) TPHA-Test Treponema-pallidum-Hämagglutinationstest TRH thyreotropin releasing hormone TRKA-NGF Tyrosinkinaserezeptor für NGF tRNA Transfer-RNA TSC Tuberöse Sklerose TSH thyreoidea stimulating hormone TSI Thyroidea-stimulierendes Immunglobulin

TSS toxic shock syndrome TTP Thrombotisch-thrombozytopenische Purpura TUR transurethrale Prostataresektion TX Thromboxan T-Zelle der dem Thymus entstammende T-Lymphozyt UDP Uridindiphosphat UICC Union Internationale Contre le Cancer UIP usual interstitial pneumonia UMP Uridinmonophosphat UMP uncertain malignant potential UPG Uroporphyrinogen UTP Uridintriphosphat UV ultraviolett (Strahlung) VCAM vaskuläres Zelladhäsionsmolekül VEGF vascular endothelial growth factor VHL Von-Hippel-Lindau-Syndrom VIN vulväre intraepitheliale Neoplasie VIP vasoaktives intestinales Polypeptid VLDL Very-low-density-Lipoprotein V-ONC virales Onkogen VSD Ventrikelseptumdefekt VZV Varicella-Zoster-Virus

waf wilde type activating fragment (Gen) WDHA watery diarrhoea hypokalaemia and achlorhydria (syndrome), s. Verner-MorrisonSyndrom WHO World Health Organization (Weltgesundheitsorganisation) WPW Wolff-Parkinson-White (-Syndrom) WT Wilms-Tumor (Gen) ZAP Phosphoprotein, das mit der Z-Kette von T-Zell-Rezeptoren chemisch assoziiert ZES Zollinger-Ellison-Syndrom ZNS zentrales Nervensystem

Autorenverzeichnis

Prof. Dr. med. Dr. sc. Dr. h.c. Adriano Aguzzi UniversitätsSpital Zürich Departement Pathologie Schmelzbergstr. 12 8091 Zürich Prof. Dr. med. Hideo A. Baba Universitätsklinikum Essen Institut für Pathologie Hufelandstr. 55 45122 Essen Prof. Dr. med. Gustavo Baretton Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Institut für Pathologie Fetscherstr. 74 01307 Dresden Prof. Dr. med. Alfred Beham Medizinische Universität Graz Institut für Pathologie Auenbrugger Platz 25 8036 Graz Prof. Dr. med. Werner Böcker Universitätsklinikum Münster Gerhard-Domagk-Institut für Pathologie Domagkstr. 17 48149 Münster

Dr. sc. nat. Matthias Bopp Universität Zürich Inst. für Sozial- und Präventivmedizin Sumatrastr. 30 8006 Zürich Prof. Dr. med. Franz Borchard Klinikum Aschaffenburg Institut für Pathologie Am Hasenkopf 1 63739 Aschaffenburg PD Dr. med. Antje Bornemann Universitätsklinikum Tübingen Institut für Hirnforschung Abteilung für Neuropathologie Calwerstr. 3 72076 Tübingen PD Dr. med. Michael Brockmann Kliniken der Stadt Köln Krankenhaus Merheim Institut für Pathologie Ostmerheimer Str. 200 51109 Köln Dr. med. Elisabeth Bruder Universität Basel Institut für Pathologie Schönbeinstr. 40 4003 Basel Prof. Dr. med. Burkhard Bültmann Universitätsklinikum Tübingen Institut für Pathologie Liebermeisterstr. 8 72076 Tübingen Prof. Dr. med. Gieri Cathomas Kantonsspital Kantonales Institut für Pathologie Rheinstr. 37 4410 Liestal Prof. Dr. med. Helmut Denk Medizinische Universität Graz Institut für Pathologie Auenbrugger Platz 25 8036 Graz Dr. med. Kirstin Deuble-Bente Steiler Weg 12

22587 Hamburg Prof. Dr. med. Hans-Peter Dienes Universität zu Köln Institut für Pathologie Joseph-Stelzmann-Str. 9 50931 Köln Prof. Dr. med. Manfred Dietel Universitätsklinikum Charité Institut für Pathologie Schumannstr. 20-21 10098 Berlin Prof. Dr. med. Dietrich von Domarus Allgem. Krankenhaus Barmbek Augenklinik Rübenkamp 148 22307 Hamburg Prof. Dr. med. Wolfgang Fegeler Universitätsklinikum Münster Institut für Medizinische Mikrobiologie Domagkstr. 10 48149 Münster Prof. Dr. med. Christian Fellbaum Johann Wolfgang Goethe Universität Senckenbergsches Institut für Pathologie Theodor-Stern-Kai 7 60596 Frankfurt Prof. Dr. med. Alfred C. Feller Medizinische Universität zu Lübeck Pathologisches Institut Ratzeburger Allee 160 23562 Lübeck Prof. Dr. med. Peter Fritsch Medizinische Universität Innsbruck Klinik für Dermatologie und Venerologie Anichstr. 35 6020 Innsbruck Prof. Dr. med. Helmut E. Gabbert Heinrich Heine Universität Institut für Pathologie Moorenstr. 5 40225 Düsseldorf Dr. med. Volkmar Hans Krankenanstalten Gilead gGmbH

Institut für Neuropathologie Remterweg 2 33617 Bielefeld Prof. Dr. med. Martin-Leo Hansmann Johann Wolfgang Goethe Universität Senckenbergsches Institut für Pathologie Theodor-Stern-Kai 7 60596 Frankfurt Prof. Dr. med. Philipp U. Heitz UniversitätsSpital Zürich Departement Pathologie Schmelzbergstr. 12 8091 Zürich Prof. Dr. med. Herrmann Herbst Universitätsklinikum Münster Gerhard-Domagk-Institut für Pathologie Domagkstr. 17 48149 Münster Prof. Dr. med. Gerald Höfler Medizinische Universität Graz Institut für Pathologie Auenbrugger Platz 25 8036 Graz Prof. Dr. med. Heinz K. Höfler Technische Universität München Institut für allgemeine Pathologie und Pathologische Anatomie Ismaninger Str. 22 81675 München Prof. Dr. med. Ferdinand Hofstädter Universität Regensburg Institut für Pathologie Universitätsstr. 31 93053 Regensburg Prof. Dr. med. Gernot Jundt Universität Basel Institut für Pathologie Schönbeinstr. 40 4003 Basel Prof. Dr. med. Detlef Katenkamp Friedrich Schiller Universität Institut für Pathologie Ziegelmühlenweg 1

07743 Jena Prof. Dr. med. Dontscho Kerjaschki Medizinische Universität Wien Institut für Pathologie Währinger Gürtel 18-20 1090 Wien Prof. Dr. med. Marika Kiessling Ruprecht Karls Universität Abteilung für Neuropathologie Im Neuenheimer Feld 220/221 69120 Heidelberg Prof. Dr. med. Thomas Kirchner Friedrich Alexander Universität Institut für Pathologie Krankenhausstr. 8-10 91054 Erlangen Prof. Dr. mult. C. James Kirkpatrick Johannes Gutenberg Universität Institut für Pathologie Langenbeckstr. 1 55101 Mainz Prof. Dr. med. Paul Kleihues UniversitätsSpital Zürich Departement Pathologie Schmelzbergstr. 12 8091 Zürich Prof. Dr. med. Günter Klöppel Universität Kiel Institut für Pathologie Michaelisstr. 11 24105 Kiel Prof. Dr. med. Ruth Knüchel-Clarke Universitätsklinikum RWTH Aachen Institut für Pathologie Pauwelstr. 30 52062 Aachen Prof. Dr. med. Paul Komminoth Kantonsspital Baden Institut für Pathologie 5404 Baden Dr. med. Dieter Kotzot Medizinische Universität Innsbruck Institut für Humangenetik Schoepfestr. 41

6020 Innsbruck Prof. Dr. med. Hans Kreipe Med. Hochschule Hannover Institut für Pathologie Carl-Neuberg-Str. 1 30625 Hannover Dr. med. Susanne Kriener Johann Wolfgang Goethe Universität Senckenbergsches Zentrum für Pathologie Theodor-Stern-Kai 7 60596 Frankfurt am Main PD Dr. med. Michael Krismann Institut für Pathologie Berufsgenossenschaftliche Kliniken Bergmannsheil Universitätsklinik Bürkle-de-la-Camp-Platz 1 44789 Bochum Dr. med. Cord Langner Medizinische Universität Graz Institut für Pathologie Auenbrugger Platz 25 8036 Graz Prof. Dr. med. Sigurd Lax Landeskrankenhaus Graz West Institut für Pathologie Göstingerstr. 22 8020 Graz Prof. Dr. med. Thomas Löning Universitätskrankenhaus Eppendorf Institut für Pathologie Abt. Gynäkopathologie der Frauenklinik Martinistr. 52 20246 Hamburg PD Dr. med. Jutta Lüttges Universität Kiel Institut für Pathologie Michaelisstr. 11 24105 Kiel Prof. Dr. med. Alexander Marx Julius Maximilians Universität Pathologisches Institut Bau 21 Josef-Schneider-Str. 2

97080 Würzburg PD Dr. med. Luca Mazzucchelli Universität Bern Pathologisches Institut Freiburgstr. 30 3010 Bern Dr. med. Hartmut Merz Medizinische Universität zu Lübeck Pathologisches Institut Ratzeburger Allee 160 23562 Lübeck Prof. Dr. med. Gregor Mikuz Medizinische Universität Innsbruck Institut für pathologische Anatomie Müllerstr. 44 6020 Innsbruck Prof. Dr. med. Holger Moch UniverstitätsSpital Zürich Departement Pathologie Schmelzbergstr. 12 8091 Zürich Dr. med. Carlo Moll Spital Thurgau AG Kantonsspital Institut für Pathologie 8956 Münsterlingen Prof. Dr. med. Roland Moll Philipps Universität Marburg Institut für Pathologie Postfach 1946 35008 Marburg Prof. Dr. med. Peter Möller Universitätsklinikum Ulm Institut für Pathologie und Rechtsmedizin Albert-Einstein-Allee 11 89081 Ulm Prof. Dr. med. Klaus-Michael Müller Berufsgenossenschaftliche Kliniken Bergmannsheil Institut für Pathologie Bürkle-de-la-Camp-Platz 1 44789 Bochum Prof. Dr. med. Horst Nizze

Universität Rostock Institut für Pathologie Strempelstr. 14 18055 Rostock Prof. Dr. med. Bernhard Odermatt UniversitätsSpital Zürich Departement Pathologie Schmelzbergstr. 12 8091 Zürich PD Dr. med. Felix A. Offner Landeskrankenhaus Feldkirch Institut für Pathologie Carinagasse 47 6807 Feldkirch Prof. Dr. med. Dr. h. c. Herwart F. Otto Ruprecht Karls Universität Pathologisches Institut Im Neuenheimer Feld 220/221 69120 Heidelberg Frau Dr. med. Madeleine Pfaltz UniversitätsSpital Zürich Departement Pathologie Schmelzbergstr. 12 8091 Zürich Prof. Dr. med. Christopher Poremba Heinrich Heine Universität Institut für Pathologie Moorenstr. 5 40225 Düsseldorf PD Dr. phil. II Ph.D. Nicole Probst-Hensch UniversitätsSpital Zürich Departement Pathologie Molekulare Epidemiologie/Krebsregister Zürich Schmelzbergstr. 12 8091 Zürich Prof. Dr. med. Dr. sc. Dr. h.c. Jürgen Roth UniversitätsSpital Zürich Departement Pathologie Abt. für Zell und Molekularpathologie Schmelzbergstr. 12 8091 Zürich Prof. Dr. med. Peter Schirmacher Universität zu Köln

Institut für Pathologie Joseph-Stelzmann-Str. 9 50931 Köln Prof. Dr. med. Kurt Werner Schmid Universitätsklinikum Essen Institut für Pathologie Hufelandstr. 55 45122 Essen Prof. Dr. med. Giatgen A. Spinas UniversitätsSpital Zürich Departement für Innere Medizin Abteilung für Endokrinologie und Diabetologie Rämistr. 100 8091 Zürich Prof. Dr. med. Thomas Stallmach UniversitätsSpital Zürich Departement Pathologie Schmelzbergstr. 12 8091 Zürich Prof. Dr. med. Michael Trauner Medizinische Universität Graz Medizinische Klinik Klin. Abt. für Gastroenterologie u. Hepatologie Auenbrugger Platz 25 8036 Graz Prof. Dr. med. Martin Werner Universität Freiburg Pathologisches Institut Ludwig-Aschoff-Haus Albertstr. 19 79104 Freiburg im Breisgau Prof. Dr. med. Otmar Wiestler Deutsches Krebsforschungszentrum Im Neuenheimer Feld 280 69120 Heidelberg Prof. Dr. med. Kurt Zatloukal Medizinische Universität Graz Institut für Pathologie Auenbrugger Platz 25 8036 Graz Prof. Dr. sc. nat. Dieter Zimmermann UniversitätsSpital Zürich

Departement Pathologie Schmelzbergstr. 12 8091 Zürich

1

Aufgaben der Pathologie PH. U. HEITZ P. KOMMINOTH D. ZIMMERMANN B. ODERMATT N. PROBST-HENSCH M. BOPP 1.1 Pathologie 6 1.1.1

Ätiologie – Pathogenese 6

1.2 Aufgaben 7 1.2.1

Diagnostik 8

1.2.2

Bedeutung der Forschung 9

1.2.3

Ziele und Lehrinhalt der Ausbildung 11

1.3 Untersuchungsmethoden der Pathologie 11 1.3.1

Entwicklung 11

1.3.2

Makroskopie 11

1.3.3

Asservierung von Gewebe und Zellen 11

1.3.4

Mikroskopie 13

1.3.5

Zytopathologie 14

1.3.6

Intraoperative Schnellschnittuntersuchung 18

1.3.7

Durchflusszytometrie 18

1.3.8

Elektronenmikroskopie 19

1.3.9

Enzymhistochemie 19

1.3.10

Phänotypisierung: Immun- und Lektinhistologie 19

1.3.11

Genotypisierung: Western-Blot und weitere biochemische Untersuchungen 22

1.3.12

Genotypisierung: Molekularbiologische Techniken 23

1.3.13

Genomics, Transcriptomics und Proteomics 28

1.4 Archivierung und Auswertung von Befunden, Klassifikation von Krankheiten 29 1.4.1

Archivierung von Dokumenten, Gewebeblöcken und Schnitten 29

1.4.2

Auswertung von Befunden 30

1.4.3

Klassifikation von Krankheiten 30

1.5 Epidemiologie und Public Health 32 1.5.1

Zielsetzungen 32

1.5.2

Zeitlicher Wandel der Epidemiologie 32

1.5.3

Epidemiologische Maße 32

1.5.4

Epidemiologische Studientypen 35

1.5.5

Krebsregister – angewandte Epidemiologie 36

1.6 Zukünftige Entwicklung 36 Literatur 36 Fragen 37

Zur Orientierung

Der Begriff Pathologie wird im Allgemeinen mit dem Tod und mit der Autopsie assoziiert. Die Tätigkeit in diesem Fach beinhaltet heute jedoch eine wesentlich erweiterte und intensive Auseinandersetzung mit Krankheiten – mit deren Ursachen, Entstehung und Symptomen. Dazu gehören die wichtige intravitale Diagnostik, die Forschung und die Lehre. Die diagnostische Tätigkeit in der Pathologie setzt Erfahrung und klinische Kenntnisse voraus. Die gestellte Diagnose bedeutet oft einen Einschnitt im Leben eines Menschen, bildet gleichzeitig aber die Grundlage für die Planung der weiterführenden Diagnostik und der Therapie. Für eine optimierte Diagnostik stehen heute eine Reihe von Untersuchungstechniken zur Verfügung. Eine sorgfältige Indikation des Einsatzes dieser Methoden erfordert deren Beherrschung, d.h. Wissen über deren Möglichkeiten und Grenzen, und ist Voraussetzung für deren optimalen Einsatz. Aus-, Weiter- und Fortbildung müssen dem Verständnis von Ätiologie, Pathogenese gesundheitlicher Störungen sowie von Grundlagen der Therapie dienen. Die Weiterbildung zum Facharzt in Pathologie dauert sechs Jahre und schließt ein Jahr klinische Ausbildung ein. Die Forschung bildet mehr denn je einen Pfeiler für den Fortschritt in der Medizin.

Gesundheit – Adaptation – Krankheit – Tod Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Gesundheit als „Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens“. Diese sehr umfassende, zunächst einleuchtende Definition ist in der Praxis schwer nachvollziehbar, da die übergänge von Gesundheit zu Krankheit flie ß end und selbst beim subjektiv „Gesunden“ Zustände „völligen Wohlbefindens“ schwierig zu definieren sind (siehe auch Abb. 1-18). Eine wesentliche Voraussetzung für Gesundheit sind intakte Regulationsmechanismen. Der Organismus kann sich mithilfe neuroimmunoendokriner Regulationsmechanismen an neue Anforderungen, welche die Bandbreite der Normalbelastung über- oder unterschreiten, anpassen (Adaptation). Ziel der Adaptation ist die Erhaltung der Funktion des Gesamtorganismus. Die funktionelle Reserve des Organismus bzw. des betroffenen Organsystems wird bei einer Adaptation gegenüber der Norm geringer. Dauert die Belastung über lange Zeit an oder ist deren Amplitude hoch, können die Regulationsmechanismen des Organismus überfordert werden: Es entstehen Regulationsstörungen und/oder Schädigungen, die zunächst reversibel sind, aber auch in Irreversibilität und damit in eine Krankheit übergehen oder zum Tode führen können. Viele gesundheitliche Störungen können heute präzis diagnostiziert und therapiert werden. Einen zunehmend höheren Stellenwert nimmt die Prävention von Krankheiten ein. Ihr wird in Zukunft auf der Basis der Kenntnisse des menschlichen Genoms und der Kausalkette vom genetischen Schaden zu Veränderungen der Genprodukte (Genomics und Proteomics) bis zur gesundheitlichen Störung eine entscheidende Rolle zukommen. Zu unterscheiden ist die Primärprävention von der Sekundärprävention. Die Primärprävention greift bei der Ausschaltung bekannter Krankheitsursachen (ätiologische Faktoren) an, z.B. Impfungen gegen Infektionskrankheiten, Verhinderung der Inhalation von Zigarettenrauch zum Schutz vor bösartigen (malignen) Bronchustumoren. Eine der frühen Maßnahmen zur Primärprävention war der Befehl der britischen Admiralität, ab 1795 den Seeleuten der Kriegsflotte Zitronensaft zu verabreichen, um dem Skorbut vorzubeugen. Dies war möglicherweise einer der Faktoren für die Erfolge der Flotte Admiral Nelsons bei den entscheidenden Seeschlachten von Abukir (1798) und Trafalgar (1805). Die Sekundärprävention hat die Sicherstellung einer frühestmöglichen Diagnose und Therapie von Erkrankungen durch Vorsorgeuntersuchungen zum Ziel. Allerdings werfen molekulargenetische Untersuchungen im Rahmen familiärer Krankheiten oder der sog. molekularen Epidemiologie ökonomische und sozialethische Fragen auf, die einer intensiven Diskussion bedürfen. Pathologie bedeutet wörtlich „Lehre von den Leiden“, d.h. Lehre der krankhaften Organund Gewebeveränderungen, und beinhaltet das wissenschaftliche Studium sowie die Erfassung der Ursachen, der Entstehung und der Auswirkungen von Krankheiten.

1.1

Pathologie

1.1.1 Ätiologie – Pathogenese Bei der Genese von Krankheiten können verschiedene Phasen unterschieden werden. Unter Ätiologie werden die auslösenden Faktoren einer Störung verstanden. Die Pathogenese beinhaltet den Ablauf der Reaktion des Organismus auf den schädigenden (ätiologischen) Faktor bzw. die Schädigung. Pathologische Veränderungen und Symptome umfassen die aus der Störung entstehenden Läsionen und deren klinische Auswirkungen. Aus den Läsionen können Komplikationen oder dauerhafte Schäden entstehen (Tab. 1-1 und 1-2).

Ätiologie Grundsätzlich lassen sich die Ursachen von Erkrankungen in zwei Gruppen – genetisch und erworben – einteilen. Genetisch bedingte Krankheiten können durch die Eltern auf die Kinder übertragen werden oder durch somatische Mutationen beim Kind bedingt sein. Sie entstehen durch nummerische (z.B. Trisomie) bzw. strukturelle chromosomale Läsionen (z.B. Translokation, Deletion) oder durch DNA-Mutationen. Diese Krankheiten äu ß ern sich oft bereits vor oder unmittelbar nach der Geburt (kongenitale Krankheiten). Andere genetisch bedingte Erkrankungen manifestieren sich erst später (z.B. Muskeldystrophien, familiäre Kolonpolypose).

Tab. 1-1 Gruppen ätiologischer Faktoren von Krankheiten.

Die Mehrzahl erworbener Krankheiten tritt erst im Laufe des Lebens auf. Auch sie können durch (teilweise exogen bedingte) somatische Mutationen verursacht sein. Einige Kategorien ätiologischer Faktoren sind in Tab. 1-1 aufgeführt. Auch einige erworbene Krankheiten können kongenital auftreten, d.h. während der embryonalen oder fetalen Entwicklung entstehen. Beispiele dafür sind die Schädigung des Kindes bei Infektion der Mutter durch das Rötelnvirus während des ersten Trimesters der Schwangerschaft und die maternofetale Inkompatibilität (siehe Kap. 40.3.4). Bei Kombination genetischer und erworbener Faktoren kann die Fähigkeit zur Adaptation der Regulationsmechanismen (Anpassungsfähigkeit) reduziert sein und bereits durch geringgradige Abweichungen der Anforderungen von der Norm überfordert werden. Beispiele sind Enzymdefekte, die zum herabgesetzten Einbau von Jod in Schilddrüsenhormone führen. Dies prädisponiert zur Entwicklung eines Kropfes selbst bei nur geringgradigem Jodmangel (der bei normaler Hormonsynthese nicht zu einer Struma führt; siehe Kap. 14.3).

Pathogenese Die Dauer der Reaktion des Organismus auf einen Schaden kann kurz, d.h. akut (Tage oder wenige Wochen), oder lang, d.h. chronisch, sein. Dies hängt überwiegend, aber nicht ausschlie ß lich von der Dauer und dem Schweregrad der Einwirkung des ätiologischen Faktors ab. Die Störung kann mit völliger spontaner oder therapieinduzierter Wiederherstellung, d.h. mit einer Heilung (Restitutio ad integrum; sog. Regeneration), enden, zu einer Defektheilung (bleibender morphologischer und/oder funktioneller Defekt; sog. Reparation) oder zum Tod führen. Ein vorübergehender Rückgang oder ein vorübergehendes Verschwinden der Symptome und abnormer Befunde einer Krankheit werden als Remission bezeichnet. Dieselbe Krankheit kann wieder auftreten, d.h., es kann zu einem Rezidiv kommen.

Tab. 1-2 Beispiele der Sequenz und des Zusammenhangs zwischen Ätiologie, Pathogenese, pathologischen Veränderungen / Symptomen und Komplikationen. Der Tod wird definiert als ein in Phasen ablaufender Vorgang des Sistierens der Lebensfunktionen. In der ersten Phase kommt es zum klinischen Tod. Es tritt ein Herz- und Atmungsstillstand ein mit grundsätzlicher Möglichkeit der Wiederbelebung innerhalb weniger (ca. drei) Minuten. Es folgt die zweite Phase des „intermediären Lebens“, die sog. Vita reducta. Diese beinhaltet erheblich reduzierte Lebensvorgänge infolge Versagens oder Dysfunktion vitaler Zentren. Als Extremfall gilt das auf Umweltfaktoren nicht mehr ansprechende, nur apparativ erhaltbare „Leben“ bei Dezerebration. In der dritten Phase erfolgt der biologische Tod, d.h. der zentrale Hirntod. Die obligaten Kriterien des zentralen Hirntodes sind: Bewusstlosigkeit, erloschene Spontanatmung, Fehlen zerebraler Reflexe und umweltbezogener Lebensäu ß erungen, hirnelektrische Inaktivität (isoelektrisches Elektroenzephalogramm), Kreislaufstopp in A. vertebralis und A. carotis.

Unsichere Todeszeichen Totenblässe, Kälte des Körpers, Atemstillstand, Fehlen von Herz- und Pulsschlag, Erweichung der Bulbi, Austrocknung der Kornea, Ausbleiben der Hautrötung bei Hitzereiz oder künstlicher Stauung.

Sichere Todeszeichen ■ Totenstarre, auftretend am Kiefergelenk nach 2–3 Stunden, am ganzen Körper nach ca. 8–10 Stunden, Beginn der spontanen Lösung nach ca. 2 Tagen, vollständige Lösung nach ca. 3–4 Tagen.

■ Totenflecke an abhängigen Körperpartien ab ca. 30 Minuten, am übrigen Körper ab ca. 1 Stunde. ■ Konfluierende Totenflecke ab ca. 2 Stunden; voll ausgeprägt und konfluiert ab ca. 4 Stunden. Die Totenflecke sind bis ca. 10 Stunden post mortem wegdrückbar (Fingerdruck) und ab 12 Stunden post mortem nicht mehr wegdrückbar. ■

1.2

Fäulniserscheinungen (grüne Bauchdecke) ab ca. 2 Tagen.

Aufgaben

Über lange Zeit beschränkte sich das Fach Pathologie weitgehend auf morphologische – makroskopisch und mikroskopisch erfassbare – Veränderungen. Die Pathologie grenzte sich dadurch klar von anderen Disziplinen ab. Heute ist jedoch interdisziplinäres Denken mehr denn je Voraussetzung für eine erfolgreiche Bewältigung der in der Medizin gestellten Aufgaben. Dies führt zu einer wesentlich weniger deutlichen Abgrenzung der traditionellen Fächer – Diagnostik, Forschung und Lehre sind fächerübergreifend geworden. Die heutige Tätigkeit des Pathologen schlie ß t somit zusätzlich zur Morphologie die Erarbeitung und Interpretation biochemischer, immunologischer und molekularbiologischer Befunde mit ein. Man ist heute in der Lage, Gewebe und Zellen umfassend zu analysieren und ätio-pathogenetische Prinzipien von Veränderungen in den Rahmen eines gesamten Krankheitsbildes zu stellen. Die moderne Pathologie nimmt dementsprechend eine Brückenfunktion zwischen Klinik und Grundlagenwissenschaften ein. Hauptaufgaben der Pathologie sind Diagnostik, Forschung und Ausbildung. Diese Hauptaufgaben sind untrennbar miteinander verbunden (Abb. 1-1). Die Diagnostik dient der Erkennung und Klassifikation (siehe Kap. 1.4.3) von Krankheiten anhand zytologischer, histologischer, aber auch molekularpathologischer Untersuchungen und muss zu einer möglichst präzisen Diagnose oder Differentialdiagnose führen. Sie schafft dadurch eine wichtige Grundlage für die Einleitung einer adäquaten Therapie. Die Forschung in der Pathologie beschäftigt sich vor allem mit der Aufklärung der Ursachen, der Entstehungsweise sowie mit den Auswirkungen von Erkrankungen. Sie beinhaltet auch die Epidemiologie, die sich unter Berücksichtigung der Häufigkeiten der Krankheiten mit Ursachenforschung befasst. Die Lehre und Ausbildung von Studierenden und Ärzten soll das biologische Verständnis der Krankheiten wecken und fördern. Diagnostik, klinisch-pathologische Korrelationen sowie der neueste Stand der Forschung müssen in die Lehre und Ausbildung stufengerecht integriert werden.

Abb. 1-1

Die diagnostische Abklärung der bei einem Patienten aufgetretenen Symptome erfordert oft die ergänzende Bestimmung von Laborparametern oder bildgebende Verfahren. Die genaue Artdiagnose einer Erkrankung wird häufig durch eine Untersuchung von Zellen und / oder Gewebe gestellt. Diese Diagnostik ist – ebenso wie die Forschung – eine der Hauptaufgaben der Pathologie. Aus-, Weiter- und Fortbildung wird, wie Diagnostik und Forschung, in enger Zusammenarbeit mit anderen spezialisierten Disziplinen der Medizin betrieben.

1.2.1 Diagnostik Die Diagnostik in der Pathologie umfasst einerseits die intravitale, anderseits die postmortale Diagnostik (Methoden siehe Kap. 1.3). Zur intravitalen Diagnostik gehören Zytopathologie, intraoperative Schnellschnittuntersuchungen sowie die Untersuchung von Biopsien und Operationspräparaten. Die postmortale Diagnostik beinhaltet autoptische Untersuchungen (Abb. 1-2).

Intravitale Diagnostik: Einsatzbereich der Zytopathologie Hauptaufgaben der Zytopathologie sind das prophylaktische Screening (Reihenuntersuchungen; sekundäre Prävention siehe Kap. 1.5) von Tumorvorstufen und die minimal-invasive Tumordiagnostik. Mit Hilfe zytologischer Methoden können auch nichttumoröse Erkrankungen, beispielsweise Entzündungen, diagnostiziert werden. Die Gewinnung zytologischen Untersuchungsgutes ist weitgehend schmerzfrei. Zytologische Untersuchungen haben stark an Bedeutung zugenommen, da sie rasch, kostengünstig und zuverlässig sind. Sie weisen eine hohe diagnostische Aussagekraft auf.

Abb. 1-2 In der Diagnostik arbeitet die Pathologie eng mit anderen Fächern zusammen, um zu einer ganzheitlichen Diagnostik beizutragen.

Ziel ist es, Grundlagen für eine rationale Therapie zu schaffen.

Intravitale Diagnostik: Einsatzbereich der intraoperativen Schnellschnittuntersuchung (siehe Kap. 1.3.6) Als intraoperative Schnellschnittuntersuchung wird die mikroskopische Untersuchung an entnommenen Gewebeproben während des Verlaufs eines operativen Eingriffs bezeichnet. Ziel ist die rasche histologische Diagnose einer makroskopisch nicht sicher zu beurteilenden Läsion innerhalb von Minuten. Die Leistungsfähigkeit der Methode ist beträchtlich, setzt allerdings eine enge Zusammenarbeit zwischen Chirurgen und Pathologen sowie gro ß e diagnostische und technische Erfahrung aller Beteiligten voraus. Diese Untersuchungstechnik ist aus der heutigen operativen Strategie nicht mehr wegzudenken.

Intravitale Diagnostik: Bedeutung der Untersuchung von Biopsien und Operationspräparaten Die makroskopische und mikroskopische Beurteilung von Biopsien und Operationspräparaten ist heute eine der Hauptaufgaben der Pathologie. Sie hat während der vergangenen Jahrzehnte die postmortalen Untersuchungen in den Hintergrund gedrängt. Heute werden die meisten operativ entnommenen Gewebestücke zur mikroskopischen Untersuchung an die Pathologie gesandt.

Unter Biopsien versteht man kleine Gewebeproben, die zur histopathologischen Untersuchung entnommen werden. Sie umfassen Nadelbiopsien, endoskopische oder offene, d.h. im Verlauf eines chirurgischen Eingriffs entnommene Biopsien. Ziele der Untersuchung von Biopsien und Operationspräparaten sind die präzise Artdiagnose einer Läsion (z.B. Tumor, Entzündung, immunologische Erkrankung) sowie die möglichst genaue Beurteilung ihres biologischen Verhaltens und somit ihrer klinischen Bedeutung bzw. Prognose. Bei Tumoren wird dazu die Abweichung der Gewebsarchitektur, der Zell- und Kernmorphologie sowie der Proliferationszeichen (Mitosen) von der Norm beurteilt und zum sog. „Grading“ benutzt. Darüber hinaus muss das Tumorstadium im Hinblick auf eine Aussage zur Prognose definiert werden, d.h. ein „Staging“ erfolgen (siehe Kap. 6.9.2).

Postmortale Diagnostik: Bedeutung der Autopsie Ziele der autoptischen Untersuchung sind die Erfassung von (teilweise zuvor nicht erkannten) Krankheiten und die Erarbeitung klinisch-pathologischer Korrelationen. Die Autopsie ist somit eine ärztliche Untersuchung, die an den Untersucher hohe fachliche und ethische Anforderungen stellt. Die Autopsie umfasst analog der intravitalen Diagnostik Makroskopie, Histologie und Zytopathologie sowie zusätzliche mikrobiologische, biochemische und molekularbiologische Untersuchungen. Die klinische Autopsie befasst sich mit der Bestimmung der Todesursache bei natürlichem Tod. Dabei sind die Erfassung von Therapie- und Nebeneffekten sowie häufig eine Absicherung bzw. Korrektur klinischer, röntgenologischer, biochemischer, zytologischer und bioptischer Befunde von gro ß er Bedeutung für die Entwicklung zukünftiger Therapiekonzepte. Die Autopsiediagnose soll ein zuverlässiges Bild der im Laufe des Lebens durchgemachten Krankheiten vermitteln. Die Formulierung einer Diagnose folgt diagnostischen Algorithmen und muss Anamnese, Symptome, Befunde, Alter, Geschlecht, Beruf, durchgeführte Untersuchungen und Therapien sowie Umweltbedingungen berücksichtigen. Die Autopsie dient daher nicht nur der Diagnostik, sondern ebenso der Forschung, Ausbildung, Epidemiologie, Vorsorge- und Arbeitsmedizin. Die Durchführung einer Autopsie ist auch wichtig bei der Abklärung vermeintlicher sog. medizinischer Kunstfehler und oft notwendig aus sanitätspolizeilichen Gründen (z.B. für die epidemiologische überwachung von Infektionskrankheiten; sog. Seuchensektion). Die autoptische Abklärung rechtsmedizinischer Fragen, z.B. des Verdachts auf einen unnatürlichen Tod, wird heute meist durch Institute für Rechtsmedizin oder in Zusammenarbeit von Pathologie und Rechtsmedizin übernommen.

1.2.2 Bedeutung der Forschung Forschung erweitert nicht nur unser Wissen, sie erlaubt auch, mit diesem Wissen umzugehen und es in die Praxis umzusetzen. In der Forschung werden Hypothesen formuliert, getestet und dadurch verworfen oder bestätigt. Aus den erhobenen Resultaten wird die nächste Hypothese abgeleitet, welche die vorhergehende ersetzen oder verbessern soll (deduktive Wissenschaft). Die Forschung in der Pathologie beschränkt sich wie die Diagnostik heute keineswegs nur mehr auf morphologische Phänomene. Sie ist zell- und molekularbiologisch orientiert und bedient sich einer Vielzahl moderner Techniken. Dabei wird der Technologietransfer von der Grundlagenforschung zur klinischen Forschung bzw. zur Diagnostik und Therapie zunehmend rascher und komplexer. Daher müssen sich Grundlagenforschung, klinisch orientierte Forschung und Diagnostik mehr denn je ergänzen und stimulieren. Diese interdisziplinäre Ergänzung und Stimulation ist für die Qualität der Pathologie ausschlaggebend (vgl. Abb. 1-1). Zur Untersuchung der Krankheitsentstehung, aber auch zur Entwicklung neuer therapeutischer Ansätze werden heutzutage immer häufiger genveränderte Mäuse als Modelltiere eingesetzt. So sind z.B. Untersuchungen an Mäusen, die aktivierte Krebsgene (Onkogene) überexprimieren oder bei denen so genannte Tumorsuppressorgene entfernt wurden, aus der modernen Krebsforschung nicht mehr wegzudenken. Die Arbeit des Pathologen nimmt dabei eine zentrale Rolle in der Analyse des Phänotyps dieser Mausmutantenstämme ein. Zur Herstellung der Mutanten werden derzeit zwei prinzipiell verschiedene Technologien verwendet: transgene und Knock-out- / Knock-in-Methoden (Abb. 1-3a und b).

Transgene Methoden Beim transgenen Ansatz wird mit sehr feinen Glaskapillaren ein spezifisches Gen (z.B. ein aktiviertes Onkogen) in den männlichen Vorkern einer befruchteten Eizelle mikroinjiziert. Es integriert sich nach dem Zufallsprinzip in das Wirtsgenom. Durch Einbezug eines spezifischen Steuerelements (Promoter) in dieses künstlich hergestellte Transgen-Konstrukt können sowohl das Niveau als auch der Ort der Expression beeinflusst werden. Die Wirtsgene bleiben bei transgenen Tieren in der Regel intakt.

Abb. 1-3a

Herstellung transgener Mäuse.

Ein rekombinantes Gen wird in den männlichen Vorkern befruchteter Oozyten injiziert und integriert sich in das Wirtsgenom. Diese Eizellen werden dann in den Uterus einer Leihmutter, die durch Begattung mit einem sterilen Männchen in einen pseudoschwangeren Zustand versetzt wurde, transferiert. Die transgenen Nachkommen sind hemizygot und können durch Kreuzung in einen homozygoten Stamm überführt werden.

Abb. 1-3b in-Mäusen.

Herstellung von Knock-out- bzw. Knock-

Pluripotente embryonale Stammzellen werden aus der inneren Zellmasse von Blastozysten gewonnen und in vitro kultiviert. Durch Anlegen eines sehr kurzen elektrischen Hochspannungspulses (Elektroporation) wird ein rekombinanter Genabschnitt eingebracht. Klone mit Ziel-Gen-Integration werden mittels PCR oder Southern-Blot-Analyse identifiziert und in Wirtsblastozysten transferiert, wo

sie sich in die bestehende innere Zellmasse einfügen. Durch Embryotransfer gelangen die Blastozysten in ein pseudoschwangeres Weibchen. Falls die Stammzellen und Wirtsblastozysten aus Tieren verschiedener Fellfarben isoliert wurden (z.B. Agouti / braun und schwarz), tragen die chimären Mäuse ein fleckiges Fellmuster. Die Chimären werden dann mit Wildtypmäusen verpaart. Nachkommen, die aus dem Stammzellanteil der chimären Mäuse hervorgehen, tragen die braune Farbe, da Agouti über Schwarz dominiert. Unter den AgoutiTieren können mittels PCR die heterozygoten Mutationsträger identifiziert werden. Diese werden durch einen weiteren Kreuzungsschritt in einen homozygoten Knock-out- bzw. Knock-in-Stamm überführt.

Knock-out- und Knock-in-Verfahren Im Gegensatz dazu werden beim so genannten genetischen Knock-out oder Knockin definierte Genabschnitte ersetzt und dadurch gezielt Mutationen in das Mausgenom eingebracht. Werden so z.B. wichtige Teile des Zielgens eliminiert und / oder ein frühzeitiges Translationsstoppcodon eingeführt, kann die Expression dieses Gens vollständig unterbunden werden, und es kommt zum konstitutiven Knock-out. Andererseits können für Funktionsstudien aber auch genau definierte Stellen des Gens verändert werden, bei der die Expression – diesmal allerdings des manipulierten Gens – unverändert bleibt. Man nennt diese Technik das Knock-in-Verfahren. Knock-outund Knock-in-Experimente sind im Vergleich zur transgenen Technik deutlich aufwendiger. Man benötigt dazu pluripotente embryonale Stammzellen, welche die Fähigkeit besitzen, sich in sämtliche Zelltypen des Organismus zu differenzieren. Bisher ist die Reproduktion solcher embryonaler Stammzellen nur bei Mäusen gelungen. Zur Herstellung von Knock-out- bzw. Knock-in-Mäusen werden in vitro manipulierte Genabschnitte plus ein so genannter Selektionsmarker durch Anlegen eines sehr kurzen elektrischen Hochspannungspulses (Elektroporation) in die embryonalen Stammzellen eingeschleust. Sie integrieren sich darauf in das Wirtsgenom. Dadurch, dass die manipulierten Teile des Gens durch gröere unveränderte Genabschnitte flankiert werden, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer homologen Rekombination – also einer Zielgenintegration – kommt, deutlich erhöht. Dennoch müssen die entsprechenden Stammzellenklone identifiziert und isoliert werden. Durch Injektion dieser Klone in Mausblastozysten entstehen chimäre Mäuse, die zu einem Teil aus den manipulierten Stammzellen entstanden sind. Haben diese Stammzellen auch zur Entwicklung der Gonaden beigetragen, so kann es bei der Kreuzung der Chimären mit Wildtypmäusen zur Keimlinienübertragung des veränderten Gens kommen. Diese durch Keimbahnübertragung entstandenen Nachkommen sind heterozygot, d.h., sie tragen ein mutiertes und ein Wildtyp-Allel. Homozygote Mäuse erhält man durch erneute Kreuzung der heterozygoten Tiere.

Da sowohl die Keimbahneliminierung als auch die konstitutive überexpression bestimmter Gene verschiedentlich zum frühen – oftmals intrauterinen – Tod der Mäuse führen können, wurden verfeinerte Techniken entwickelt, die eine konditionelle Inaktivierung resp. Aktivierung der entsprechenden Gene erlauben. Der Knock-out oder die transgene Expression eines spezifischen Gens kann so auf bestimmte Zellen, Gewebe und Entwicklungsstadien beschränkt werden.

1.2.3 Ziele und Lehrinhalt der Ausbildung Die Ausbildung im Fach Pathologie bildet eine wichtige Basis zum Verständnis klinischer Symptome, biochemischer Befunde oder röntgenologisch gestellter Diagnosen sowie von Therapieeffekten und -nebenwirkungen, d.h. von Krankheitsverläufen. Dementsprechend müssen Ätiologie und Pathogenese von Krankheiten systematisch vermittelt werden. Die Studierenden müssen zellbiologische Mechanismen und Regulationsstörungen, die zu gesundheitlichen Störungen und Krankheiten führen können, verstehen lernen. Verwendung klarer Begriffe und Definitionen sowie systematische Diskussion klinisch-pathologischer Korrelationen sind dabei ausschlaggebend. Die Lehrinhalte der allgemeinen und speziellen Pathologie gehen ineinander über (Abb. 1-4): Die allgemeine Pathologie umfasst allgemein gültige Gesetzmä ß igkeiten der Ursachen von Krankheiten und der Reaktionen des Organismus auf die Einwirkung von Noxen. Sie beinhaltet also ätiologie und Pathogenese von Adaptationen, Regulationsstörungen und Krankheiten. Diese allgemein gültigen Gesetzmä ß igkeiten lassen sich aus Beobachtungen in der speziellen Pathologie ableiten. Die klinische Pathologie beschäftigt sich mit organspezifischen Befunden und Symptomen von Krankheiten im Rahmen allgemein gültiger Gesetzmäßigkeiten.

1.3

Untersuchungsmethoden der Pathologie

1.3.1 Entwicklung Innerhalb eines Jahrhunderts hat sich aus einer vorwiegend deskriptiven (statischen) Zellularpathologie eine dynamische Zellbiologie und -pathologie entwickelt.

Abb. 1-4 Allgemeine und spezielle Pathologie sind voneinander nicht zu trennen.

Thematisch liegt der Schwerpunkt auf allgemein gültigen Gesetzmä ß igkeiten in der allgemeinen Pathologie bzw. auf organspezifischen Krankheitsabläufen in der klinischen Pathologie. Während der letzten Jahrzehnte wurden enzymhistochemische, immunhistologische, biochemische und molekularbiologische Methoden eingeführt (siehe Abb. 1-9). Diese Methoden tragen dazu bei, die Diagnostik zu verfeinern, und eröffnen zudem ein breites Spektrum für die Forschung. Sie erlauben Lokalisation und eingehende funktionelle qualitative sowie quantitative Analysen einer Vielzahl von Molekülen und supramolekularen Strukturen, d.h. zellbiologische Analysen (Tab. 1-3). Makroskopische und mikroskopische Untersuchungen von Geweben sind noch immer die grundlegenden Untersuchungsmethoden in der Pathologie. Spezialtechniken, die oft arbeitsaufwendig sind und Fachpersonal erfordern, werden erst dann eingesetzt, wenn sich aus konventionellen Untersuchungen zusätzliche Fragestellungen ergeben.

1.3.2 Makroskopie Beschreibung, Dokumentation und Interpretation makroskopisch sichtbarer Gewebebzw. Organveränderungen sowie die Entnahme repräsentativer Gewebeproben für die mikroskopische Untersuchung stellen wichtige Schritte in der pathologischanatomischen Diagnostik von Biopsien, Operationspräparaten oder autoptisch entnommenen Organen dar. Die makroskopische Beurteilung erfordert sehr viel Erfahrung, denn von ihr hängt ab, ob die krankhaften Veränderungen der mikroskopischen Diagnostik zugeführt werden. Eine makroskopisch übersehene Läsion

kann mikroskopisch nicht diagnostiziert werden. Schwerwiegende Fehler können die Folge sein. Für die makroskopische Begutachtung wird das Präparat zunächst ausgemessen und gewogen. Anschlie ß end werden makroskopisch erkennbare Abweichungen von der Norm bezüglich Form, Farbe, Oberfläche, Konsistenz, Kohärenz und Geruch festgehalten und die Befunde gewertet. Bei Tumoren wird spezielles Augenmerk auf die Dokumentation von Größe, Eindringtiefe, Resektionsrändern, Lymphknotenbefall und Metastasierung gelegt, da diese Befunde entscheidend für die Stadieneinteilung vieler Tumortypen sind (siehe Kap. 6.9.2). Oft müssen zur Dokumentation Skizzen, die Makrophotographie und andere bildgebende Verfahren herangezogen werden. Zur histologischen Untersuchung werden Gewebeproben aus makroskopisch veränderten Bezirken entnommen und verarbeitet. Basierend auf der makroskopischen und mikroskopischen bzw. klinischen Verdachtsdiagnose werden Spezialfärbungen und -untersuchungen eingeleitet. Ein präzise und vollständig ausgefülltes Einsendeformular mit klinischen Angaben sowie klar formulierte Fragestellungen an den Pathologen garantieren eine rasche und optimale Verarbeitung der eingesandten Gewebeproben. Der Nutzen der übermittlung möglichst präziser klinischer Information durch den Kliniker an den Pathologen kann nicht genügend betont werden und wird häufig unterschätzt.

1.3.3 Asservierung von Gewebe und Zellen Bis heute gilt die möglichst rasche Fixation als die Methode der Wahl zur Asservierung von Gewebe und Zellen. Mit der Einführung von Spezialtechniken in den vergangenen Jahren hat sich aber zunehmend gezeigt, dass zur optimalen Ausnützung der diagnostischen Möglichkeiten ein wesentlich differenzierteres Vorgehen notwendig ist.

Tab. 1-3 Übersicht diagnostischer Methoden in der Pathologie. I. Konventionelle Techniken Makroskopie Ziele und Möglichkeiten Nachweis von Veränderungen der Form, Größe, des Gewichts, der Oberfläche, Struktur, Farbe, Brüchigkeit, Konsistenz und des Geruchs von Gewebe Mikroskopie ■

Übersichtsfärbung



Spezialfärbungen

Nachweis von Veränderungen der Mikroarchitektur des Gewebes, von pathologischen Ablagerungen, Fremdgewebe, Nekrosen, Gewebereaktionen spezifische Anfärbung bestimmter (eigener oder fremder) Zellstrukturen oder produkte sowie von Gewebekomponenten (z.B. Bindegewebe, Schleim, Fette) Zytopathologie ■

Exfoliativzytologie



Punktionszytologie

Nachweis zytoplasmatischer und nukleärer Zell veränderungen II. Spezialtechniken Durchflusszytometrie

Erfassung, Quantifizierung und Sortierung von Einzelzellen nach fluoreszenzoptischen oder physikalischen Parametern Elektronenmikroskopie Nachweis ultrastruktureller Zellveränderungen (Organellen, Zellmembranen, Zellverbindungen, Zytoskelett) Enzymhistochemie Nachweis der Aktivität und Lokalisierung von Enzymen in Gewebe und Zellen Immun- und Lektinhistologie Nachweis antigener Substanzen und Zucker in Gewebe und Zellen Biochemische Methoden ■

Western- und Lektin-Blotting



ELISA

Nachweis von Proteinen und Zuckern in Gewebe- und Zellextrakten Nachweis sehr geringer Proteinmengen in Gewebe- und Zellextrakten Molekularbiologische Methoden



Hybridisierungstechniken

Nachweis von Nukleinsäuresequenzen: – In-situ-Hybridisierung in Schnittpräparaten und Zellausstrichen (DNA und RNA) –

Southern-Blotting von Gewebe- und Zellextrakten (DNA)



Northern-Blotting von Gewebe- und Zellextrakten (RNA)



fluorescent in-situ hybridisation (FISH)



comparative genomic hybridisation (CGH)



DNA-Amplifikationstechniken

Polymerase-Kettenreaktion: enzymatische Vermehrung (Amplifikation) eines DNA- Fragments im Reagenzglas („Replikation in vitro“) ■

DNA-Sequenzanalyse-Verfahren

Bestimmung der Basenfolge (Sequenz) eines DNA-Fragments Dabei ist wiederum die enge Zusammenarbeit zwischen Kliniker und Pathologen ausschlaggebend. Gemeinsam muss entschieden werden, ■ welche Untersuchungsmethoden eine möglichst umfassende Diagnose ermöglichen (z.B. Tupfpräparate, Ausstriche, Gefrierschnitte, Paraffin-, Harz- oder Kunststoff-eingebettete Präparationen) ■ ob neben histopathologischen Untersuchungen auch beispielsweise immunhistochemische, mikrobiologische (Erregernachweis), biochemische (WesternBlotting) oder molekularbiologische Untersuchungen notwendig sind, deren Durchführung durch eine vorschnelle oder falsche Asservierung verhindert würden ■

ob andere Fixative als Formalin zusätzlich eingesetzt werden sollten.

Das in der Diagnostik am häufigsten eingesetzte Fixativ ist Formalin. Es besteht aus einer gesättigten Lösung von Formaldehyd-Gas, das in Wasser gelöst ist (37–40% Gas). Die übliche 4%ige Gebrauchslösung sollte gepuffert sein und einen pH um 7,5

aufweisen, da mit der Zeit in der Gebrauchslösung durch Oxidation saure Produkte (v.a. Ameisensäure) entstehen, die unter anderem zur Zersetzung von Nukleinsäuren beitragen. Der Fixationsprozess läuft relativ langsam ab (Faustregel: Eindringtiefe ins Gewebe ca. 1 mm pro Stunde), weshalb dünne Gewebescheiben in einem überschuss von Fixativ (Faustregel 1:10) für mehrere Stunden fixiert und das Fixativ mehrfach gewechselt werden sollten. Zu lange Fixationszeiten führen zur Verhärtung des Gewebes, zur Bildung von störendem sog. Formalinpigment und zur Maskierung von Proteinen und Nukleinsäuren. Seit kurzem wird auch die Stabilisierung von Gewebe mit Hilfe von Mikrowellen propagiert. Das Verfahren befindet sich noch im Entwicklungsstadium und hat sich bisher nicht durchgesetzt. Für eine Reihe von Untersuchungsmethoden sollten zur Asservierung andere Fixative eingesetzt oder das Gewebe nativ eingefroren werden (Tab. 1-4). Aufgrund der Vielfalt möglicher Gewebeasservierungsmethoden empfiehlt es sich für den Kliniker im Zweifelsfalle, vor der Entnahme einer Gewebeprobe mit dem zuständigen Institut für Pathologie Rücksprache zu nehmen, um eine optimale Gewebeasservierung und damit eine umfassende Diagnostik zu gewährleisten.

1.3.4 Mikroskopie Einbettungs- und Schneideverfahren Zur Herstellung von Schnittpräparaten müssen die entnommenen Gewebeproben in ein Medium eingebettet werden, das dem Gewebe die für den Schnittvorgang notwendige Festigkeit vermittelt, ohne dessen Struktur wesentlich zu verändern. Das in der Diagnostik am häufigsten verwendete Einbettmedium ist modifiziertes Paraffin. Zur Einbettung wird das Gewebe nach der Fixation in einer aufsteigenden Alkoholreihe (zunehmende Konzentration von Äthanol bis zum absoluten Alkohol) entwässert, in Xylol oder Toluol von Alkohol befreit, mit durch Erwärmung verflüssigtem Paraffin durchtränkt und anschließend in einer Gießform in einen Paraffinwachsblock eingegossen, der nach Erkaltung aushärtet (in dieser Form kann Gewebe jahrzehntelang gelagert werden). Mittels eines Mikrotoms werden anschließend Schnitte (Dicke 2–6 μm) hergestellt, die im warmen Wasserbad auf Objektträger aufgezogen werden. Die Einbettung wird heute weitgehend automatisiert durchgeführt. Das Gießen von Blöcken hingegen muss meist noch per Hand vorgenommen werden, um die oft entscheidende richtige Ausrichtung des Gewebestückes zur Schnittrichtung und damit eine korrekte Diagnostik zu garantieren.

Für Schnellschnittuntersuchungen, Lipid- und Enzymhistochemie und gewisse immunhistochemische Untersuchungen ist die Herstellung von Gefrierschnitten notwendig, bei der die für den Schneidevorgang notwendige Gewebefestigkeit durch Einfrieren erreicht wird (siehe Kap. 1.3.6).

Tab. 1-4 Asservierung von Gewebe und Zellen.

Gewisse Fragestellungen und Spezialfärbungen in der konventionellhistologischen Diagnostik erfordern die Asservierung des Untersuchungsgutes in Spezialfixativen (z.B. Hodenbiopsien in Carnoys oder Bouins Fixativ, Knochenmark in Schäfer-Lösung oder SUSA-Fixativ, Knochen für die Diagnostik metabolischer Erkrankungen in Alkohol)

1

Entkalkungsverfahren Mineralisiertes oder pathologisch kalzifiziertes Gewebe kann technisch nicht zufriedenstellend geschnitten werden. Aus derartigem Gewebe müssen nichtgelöste Kalziumsalze chemisch herausgelöst werden. Dies wird mittels entkalzifizierender oder chelatbildender Reagenzien durchgeführt. Die am häufigsten verwendeten, rasch entkalzifizierenden Säuren führen aber durch Gewebemazeration zu einer

Beeinträchtigung der geweblichen Feinstrukturen sowie zur Zerstörung von Nukleinsäuren. Mildere entkalkende, chelatbildende Substanzen wie EDTA (ethylene diamine tetra acetate, entspr. Äthylendiamintetraessigsäure) wirken zwar langsam, ermöglichen aber eine gute Strukturerhaltung sowie die Durchführung immunhistochemischer und molekularbiologischer Untersuchungen.

Färbemethoden Für die lichtmikroskopische Beurteilung von Gewebeschnitten müssen diese zuerst in Xylol oder anderen organischen Lösungsmitteln entparaffiniert, in einer absteigenden Alkoholreihe rehydriert und anschließend gefärbt werden. Die in der Pathologie am häufigsten verwendete Färbemethode ist die HämatoxylinEosin(HE)-Färbung. Sie ist relativ einfach durchzuführen und ergibt eine kontrastreiche Gewebeanfärbung. Die gefärbten Schnittpräparate werden anschließend wieder entwässert, in ein durchsichtiges Medium (Kanadabalsam oder Eukitt) eingebettet und eingedeckt. Häufig verwendete Färbungen sowie das Eindecken der Schnittpräparate werden heute bereits weitgehend automatisiert durchgeführt. Bei genügender diagnostischer Erfahrung kann heute die Mehrzahl der Diagnosen durch die mikroskopische Analyse HE-gefärbter Schnittpräparate gestellt werden. Manchmal ist es aber notwendig, gewisse Gewebekomponenten oder Zellprodukte mittels sog. Spezialfärbungen selektiv darzustellen (Abb. 1-5a). Eine Auswahl der wichtigsten Spezialfärbungen ist in Tab. 1-5 zusammengestellt. Die Abgabe der Diagnose erfolgt in der Regel innerhalb 24 Stunden nach Eintreffen einer fixierten Biopsie in der Pathologie. Bei Operationspräparaten werden ein bis zwei Arbeitstage benötigt. Bei komplizierten Präparaten, die zur Diagnosestellung Spezialfärbungen, konsiliarische Besprechungen und zusätzliche Untersuchungen benötigen, ist der schriftliche Diagnosebefund entsprechend später zu erwarten.

1.3.5 Zytopathologie Im Gegensatz zu Schnittpräparaten basiert die zytologische Diagnostik auf der Untersuchung weniger Zellverbände oder Zellen. Als diagnostische Beurteilungskriterien werden hauptsächlich zytoplasmatische sowie nukleäre Veränderungen herangezogen.

Abb. 1-5a

Beispiel einer Spezialfärbung.

Silber-Methenamin-Färbung zum Nachweis glomerulärer Veränderungen bei membranoproliferativer Glomerulonephritis. Es findet sich eine Aufsplitterung der Basalmembran (schwarz dargestellt; Pfeil) mit sog. Spikes (Ablagerungen von Immunkomplexen und Intrusionen des Mesangiums; Doppelpfeil). Vergr. 1000fach. Die Zytopathologie umfasst die sog. Exfoliativzytologie und die Punktionszytologie (Feinnadelpunktion; Abb. 1-6a). Bei der Exfoliativzytologie werden Zellen untersucht, die entweder spontan abgeschilfert sind (z.B. Zellen in Körperflüssigkeiten wie Ergüssen, Urin, Liquor und Sputum) oder die mechanisch mit Bürsten, Spateln oder bei Spülungen gewonnen wurden (z.B. Portioabstrich, endoskopische oder bronchoskopische Bürstungen, Harnblasenspülungen). Bei Feinnadelpunktionen werden klinisch tumorverdächtige Läsionen mit einer dünnen Punktionsnadel mehrmals fächerförmig angestochen und so Zellen und Zellverbände durch mikroskopische Schneidebewegungen der Nadel und einen leichten Unterdruck der aufgesetzten Injektionsspritze in die Nadel aspiriert. Bei äußerlichen, palpablen Läsionen erfolgen Führung und Lokalisation der Punktionsnadel unter der manuellen Kontrolle des Tastbefundes oder mithilfe des Ultraschalls (Abb. 1-6b). Bei der Feinnadelpunktion innerer Organe kommen bildgebende Verfahren (Ultraschall, Computertomographie oder Magnetresonanz) regelmäßig zum Einsatz. Die durch Zentrifugation aus Körperflüssigkeiten, Abstrichen, Bürstungen oder Feinnadelpunktionen gewonnenen Zellen und Zellverbände werden auf einen Objektträger ausgestrichen, fixiert, gefärbt, eingedeckt und anschließend unter dem Lichtmikroskop beurteilt (Abb. 1-6c).

Zytologische Präparate werden in der Regel in 70%igem Alkohol oder einem 1:1Gemisch von 100%igem Alkohol und Azeton mit einem Tropfen Essigsäure (pro Liter; nach Delaunay) fixiert. Anschließend werden sie nach Papanicolaou oder Giemsa gefärbt (Tab. 1-5), was die Identifizierung von nukleären und zytoplasmatischen Details ermöglicht (Abb. 1-5 b).

Abb. 1-5b

Papanicolaou-Färbung.

Zytologischer Ausstrich einer Feinnadelpunktion der Brustdrüse. Große Zellen eines Mammakarzinoms mit unterschiedlich großem und geformtem Zellkern und deutlich erkennbarem Nukleolus. Vgl. dazu die Größe eines neutrophilen Granulozyten (Pfeil). Vergr. 1000fach. Die erfolgreiche Interpretation von zytologischen Präparaten hängt nicht nur von der Erfahrung des Zytologen, sondern ebenso entscheidend von der fachgerechten, ausreichenden Gewinnung des Zellmaterials und der korrekten Herstellung der Ausstriche einschließlich rascher Zellfixation ab. Ausgetrocknete Zellen oder zu spärlich entnommene, blutdurchsetzte Punktate können nicht zufriedenstellend beurteilt werden. In vielen Institutionen haben sich deshalb Patienten-Ambulatorien in den Zytopathologie-Abteilungen bewährt, in denen Feinnadelpunktionen durch den beurteilenden Zytologen durchgeführt werden. Dadurch kann mit dem Patienten ein Gespräch geführt, die Läsion makroskopisch beurteilt und die Feinnadelpunktion technisch einwandfrei durchgeführt werden. Da die Herstellung von gefärbten Ausstrichen lediglich wenige Minuten benötigt, kann die Qualität des hergestellten Präparates sofort kontrolliert und die Punktion bei Bedarf wiederholt werden.

Abb. 1-5c Enzymhistochemischer Nachweis von Acetylcholinesterase.

Acetylcholinesterase stellt sich als orangebraune Farbreaktion in Ganglienzellen und cholinergen Nervenfasern in der Muskelschicht einer Kolonbiopsie dar (Pfeile). Vergr. 200fach.

Abb. 1-5d

Immunhistochemische Darstellung eines Sekretionsprodukts – Insulin – in Zellen eines neuroendokrinen Pankreastumors mithilfe eines Antiserums und einer

indirekten immunhistochemischen Technik (Avidin-Biotin-Technik). Der Marker ist Meerrettichperoxidase, das unlösliche Reaktionsprodukt ist braun. Vergr. 400fach.

Abb. 1-5e

Gold als Marker von Antikörpern.

Immunhistochemische Darstellung von Insulin in Tumorzellen eines neuroendokrinen Pankreastumors mittels eines monoklonalen Antikörpers und einer indirekten immunhistochemischen Technik (Immunogold-Methode), bei der Antigen-Antikörper-Bindungsstellen durch goldmarkierte sekundäre Antikörper und eine fotochemische Silberverstärkung sichtbar gemacht werden. Vergr. 400fach.

Abb. 1-5f

Immunelektronenmikroskopie.

Nachweis von Insulin in Sekretgranula (Pfeile) einer Insulinom-tumorzelle anhand von goldmarkierten Antikörpern. Die kolloidalen Goldpartikel sind als kleine schwarze Punkte erkennbar. K4M-(Lowicryl-) Einbettung. Dünnschnitt. Vergr. 5000fach. Typische Anwendungsbeispiele der Exfoliativzytologie beinhalten Untersuchungen zur Krebsvorsorge (z.B. Portioabstriche zur Früherkennung von Tumoren), Therapieverlaufskontrollen (z.B. Untersuchungen von Blasenspülflüssigkeiten bei Patienten mit chemotherapeutisch behandeltem Harnblasenkarzinom), Reihenuntersuchungen von Hochrisikopatienten (z.B. Urinzytologie bei Chemiearbeitern mit Karzinogenexposition, Sputumzytologie bei symptomatischen Rauchern) und die Abklärung tumorverdächtiger Erkrankungen (z.B. endo- oder bronchoskopische Bürstenzytologie oder Untersuchung von Körperhöhlenergüssen). Feinnadelpunktionen werden hauptsächlich zur morphologischen Erstabklärung von tumorverdächtigen Herdläsionen eingesetzt (z.B. bei mammographisch suspekten Brustdrüsenbefunden oder tumorverdächtigen Schilddrüsen- und Lymphknotenveränderungen). Die mikroskopische Beurteilung von Feinnadelpunktionen setzt umfassende Kenntnisse der Läsionen des betreffenden Organs voraus. Während eine Malignitätsdiagnose oft mit großer Sicherheit gestellt werden kann, sind Aussagen über den Tumortyp, dessen Ursprungsort sowie Ausdehnung schwieriger und oft nur in groben Kategorien möglich (z.B. Karzinom, Lymphom bzw. Sarkom). Eine exakte Typisierung, vor allem von malignen Lymphomen, erfordert die zusätzliche bioptische Untersuchung einer primären Läsion.

Tab. 1-5 Auswahl histologischer Färbungen in der Pathologie.

Abb. 1-6 Die Zytopathologie umfasst die Exfoliativ- und die Punktionszytologie.

a Sie dient der Vorsorge sowie der raschen Diagnostik und damit der Planung des weiteren diagnostischen und / oder therapeutischen Vorgehens. b Feinnadelpunktion eines Mammaknotens unter Kontrolle der Nadellage mittels Ultraschall. Die Pfeile zeigen die Lage der Nadel innerhalb des Knotens.

Abb. 1-6c

Herstellung zytologischer Ausstriche.

Das Feinnadelpethode lediglich Suspensionen vunktat oder mittels Bürstung gewonnene Zellen werden ausgestrichen und in alkoholischen Lösungen fixiert. Spray-Fixative sind im Handel erhältlich. Danach erfolgt die Färbung nach Papanicolaou oder Giemsa (vgl. Tab. 1-4 und 1-5).

1.3.6 Intraoperative Schnellschnittuntersuchung Intraoperativ lauten die häufigsten Fragestellungen des Operateurs an den Pathologen: ■ Feststellung der Artdiagnose eines Prozesses (z.B. Tumor, Entzündung, degenerative Veränderung) ■

Bestimmung der Dignität eines Tumors (bös- oder gutartig)

■ Beurteilung des Tumortyps und der Vollständigkeit der chirurgischen Entfernung (Exzision im gesunden umgebenden Gewebe). Schnellschnittuntersuchungen sind nur bei Fragestellungen indiziert, deren Beantwortung einen unmittel-baren Einfluss auf das weitere operative Vorgehen ausübt. Intraoperativ entnommene Gewebestücke müssen möglichst rasch ins Schnellschnittlabor des Institutes für Pathologie überbracht werden, wofür in vielen Kliniken Rohrpostanlagen oder ähnliche Transportsysteme zur Verfügung stehen. Das chirurgische Exzisat wird durch den Pathologen zunächst makroskopisch beurteilt. Aus der makroskopisch sichtbaren Läsion wird ein kleines Gewebestück exzidiert und rasch tiefgefroren. Im Kryostat (Kühlkammer mit einer Temperatur von ca. −18°C mit einem Mikrotom) wird daraufhin ein Gefrierschnitt hergestellt (Schnittdicke 5–7 μm), schnell gefärbt (heute durch Färbeautomaten) und mikroskopiert. Die Qualität der hergestellten Schnittpräparate ist je nach Gewebetyp etwas geringer als bei Schnittpräparaten von fixiertem, Paraffineingebettetem Gewebe, ebenso die Auflösung infolge der höheren Schnittdicke. Dennoch reicht sie oft aus, um eine Diagnose zu stellen, die mündlich via Gegensprechanlage oder Telefon an den Operateur weitergegeben wird. Es muss dabei eine direkte Kommunikation zwischen Pathologen und Operateur hergestellt werden. Dies ist wichtig, denn der Operateur entscheidet u.a. aufgrund der mikroskopischen Schnellschnittdiagnose über das weitere operative Vorgehen. Der Zeitbedarf für die Herstellung der histologischen Präparate und die anschließende mikroskopische Beurteilung beträgt meist max. 20 Minuten.

1.3.7 Durchflusszytometrie Die Durchflusszytometrie (flow cytometry) ist eine computerunterstützte Technik zur Erfassung, Quantifizierung und Sortierung von Einzelzellen, Chromosomen oder anderen zellulären Strukturen anhand verschiedener physikalischer oder fluoreszenzassoziierter Parameter. Es können mit dieser Methode lediglich Suspensionen von Einzelzellen oder deren Bestandteile untersucht werden. Aus Geweben müssen diese deshalb zuerst mit Hilfe physikalischer oder enzymatischer Methoden herausgelöst werden. Je nach Fragestellung werden ganze Zellen oder

Zellbestandteile mittels fluoreszierender Farbstoffe oder immunhistochemischer Methoden markiert und in einem dünnen Flüssigkeitsstrahl an einem gebündelten Laserstrahl vorbeigeführt. Aufgrund der Farbe und Intensität des reflektierten Lichts oder anhand physikalischer Parameter wie Größe und Struktur werden die Zellen oder Zellbestandteile registriert, ausgezählt und, falls gewünscht, auch sortiert. Anwendungsbeispiele der Durchflusszytometrie sind die Identifikation und Auszählung von Lymphozytentypen nach spezifischer Immunfluoreszenzmarkierung (z.B. zur Bestimmung des Verhältnisses von T-Helfer- zu T-Suppressor-Zellen bei an AIDS erkrankten Patienten oder zur Phänotypisierung von Leukämien und Lymphomen im peripheren Blut), die Analyse des DNA-Gehaltes (Ploidie), z.B. in Zellen von frischem oder Formalin-fixiertem, Paraffineingebettetem Tumorgewebe, oder für Zellzyklusanalysen zur Charakterisierung von Zellpopulationen bezüglich ihres DNAGehaltes und Proliferationsgrades. Wegen der limitierten Anwendungsmöglichkeiten an Geweben werden durchflusszytometrische Untersuchungen in der diagnostischen Pathologie nur beschränkt eingesetzt, spielen aber in der Forschung eine wichtige Rolle.

1.3.8 Elektronenmikroskopie Die Elektronenmikroskopie ermöglicht die Analyse subzellulärer Strukturen (Organellen) sowie von in der Zelle angereicherten Substanzen. Ultradünn geschnittene Gewebe und Zellen werden in einem gebündelten Elektronenstrahl betrachtet, was vieltausendfache Vergrößerungen ermöglicht. Das Gewebe wird hierzu meist in Glutaraldehyd oder einer Mischung von Paraformaldehyd und Glutaraldehyd fixiert, in Osmiumtetroxid nachfixiert und anschließend in Kunststoff (z.B. Araldit, Epon, Lowicryl) eingebettet. Da die eingesetzten Kunststoffe wesentlich härter als Paraffin sind, können mit einem Diamantmesser sehr dünne Schnitte (Dicke 60–80 nm) hergestellt werden. Zur Kontrastierung der Zellstrukturen werden Uranylacetat und Bleicitrat oder andere Schwermetallsalze eingesetzt. Anwendungen der Elektronenmikroskopie in der diagnostischen Pathologie sind die Darstellung submikroskopischer Glomerulusläsionen der Niere, der Nachweis von Viruspartikeln, intrazellulären Sekretgranula (Abb. 1-5f) oder Organellenveränderungen, was bei gewissen Fragestellungen zur Diagnose einer Krankheit (z.B. Artdiagnose eines Tumors, Stoffwechselstörungen) beitragen kann. Da die Technik mit einem erheblichen technischen Aufwand verbunden sowie zeitlich aufwendig ist und oft durch raschere und präzisere immunhistochemische Methoden ersetzt werden kann, erfolgt ihre Anwendung in der Diagnostik heute nur noch relativ selten. In der zellbiologischen Forschung hingegen wird die Elektronenmikroskopie, vor allem in Kombination mit immunhistochemischen Techniken, erfolgreich eingesetzt.

1.3.9 Enzymhistochemie Die Enzymhistochemie dient der Lokalisation von Enzymen im Schnittpräparat und in Zellausstrichen. Die Techniken nützen die Aktivität der gesuchten Enzyme aus, um zugegebene spezifische (natürliche oder artifizielle) Substrate in mikroskopisch sichtbare, unlösliche Farbstoffe umzusetzen. Enzymhistochemische Methoden können meist nur an frischem Gewebe oder Zellen durchgeführt werden, da sie auf der noch erhaltenen Aktivität von Enzymen beruhen. Sie werden z.B. in der hämatologischen Diagnostik zur Charakterisierung von weißen Blutzellen (z.B. Chloracetat-Esterase-Nachweis in neutrophilen Granulozyten) und zum Nachweis der Acetylcholinesterase, Laktat- und / oder Succinat-Dehydrogenase bei Innervationsstörungen des Darms (Dysganglionose, z.B. Morbus Hirschsprung) eingesetzt (Abb. 1-5c).

1.3.10 Phänotypisierung: Immun- und Lektinhistologie Die Immunhistochemie benützt die Spezifität und Affinität immunologischer Reaktionen zur präzisen Lokalisation von Epitopen gesuchter Antigene (Epitop: Sequenz von 5–10 Aminosäuren, gegen welche die Antigenbindungsstellen des eingesetzten Antikörpers gerichtet sind). Mithilfe immunhistochemischer Techniken können daher antigene Strukturen und mithilfe der Lektintechnik Zuckerstrukturen in Schnittpräparaten und Zellausstrichen präzis lokalisiert werden, z.B. Zellbestandteile und -sekretionsprodukte wie Zytoskelett, Zelladhäsionsmoleküle, Moleküle der extrazellulären Matrix, Hormone (Abb. 1-5d), Rezeptoren, Immunglobuline, aber auch Erreger (Abb. 1-9; Tab. 1-6). Die Techniken haben in den letzten Jahren maßgeblich zur effizienteren Phänotypisierung von Tumoren und Zellen in Diagnostik und Forschung beigetragen. Die Steigerung der Effizienz dieser Methoden sowie der Spezifität der Reaktionen erlaubt heute den Nachweis einer Vielzahl von Antigenen an Formaldehyd-fixiertem, Paraffineingebettetem Gewebe oder an fixierten Zellen. Retrospektive Studien mit Einsatz moderner Technik an archivierten Gewebeblöcken sind dadurch möglich geworden. Es darf dabei aber nicht übersehen werden, dass die Fixation zur Denaturierung oder Ausfällung von Proteinen und damit zur Maskierung antigener Strukturen führt. Daher müssen diese oft durch Vorbehandlung der Schnittpräparate mit proteolytischen Enzymen (z.B. Trypsin, Pronase) oder durch Mikrowellenbehandlung demaskiert werden. Gewisse Antikörper (z.B. zur Charakterisierung mehrerer Lymphozytenmarker) erkennen nur nichtdenaturierte Strukturen, weshalb für diese Anwendungen immunhistochemische Untersuchungen nur an Gefrierschnitten oder speziell

präpariertem Gewebe (z.B. Periodat-Lysin-Paraformaldehyd-Fixation oder Gefriertrocknung) durchgeführt werden können. Im Prinzip bestehen immunhisto- und -zytochemische Techniken aus zwei Schritten. In einem ersten Schritt wird ein sog. primärer Antikörper eingesetzt, der sich spezifisch an das Epitop eines gesuchten Antigens im Gewebe oder in der Zelle bindet (Abb. 1-7). In einem zweiten Schritt werden diese gebundenen primären Antikörper, d.h. die Antigen-Antikörper-Bindungsstellen, mit verschiedenen, unten aufgeführten (direkten und indirekten) Methoden lokalisiert und dadurch sichtbar gemacht (Abb. 1-7).

Tab. 1-6 Auswahl von immun- und lektinhistologischen Markern in der Pathologie. *

CD = Internationales Klassifikationssystem von Leukozyten-Antigenen wichtige, häufig gebrauchte Antikörper

Für den ersten Schritt werden als primäre Antikörper einerseits polyklonale Antiseren (oder gereinigte Antikörper) und anderseits monoklonale Antikörper eingesetzt. Polyklonale Antiseren werden hergestellt, indem Tiere (Kaninchen, Ziegen, Schafe, Schweine) mit gereinigten Antigenen immunisiert werden und periodisch gewonnenes Serum der Tiere, die gegen das Antigen gerichtete Antikörper produziert haben, verwendet wird. Polyklonale Antiseren zeigen meist eine hohe Avidität (da verschiedene Antikörper gegen mehrere Epitope eines Antigens produziert werden), führen dadurch aber nicht selten zu Kreuzreaktionen mit Epitopen anderer Antigene, d.h. zu unerwünschten Hintergrundreaktionen. Monoklonale Antikörper werden durch die Fusion von in Kultur gezüchteten Tumorzellen (Myelomzellen) mit Immunglobulinproduzierenden Milzzellen immunisierter Tiere hergestellt. Solche durch die Fusion immortalisierten Zellhybride werden als Zellkultur in der Reagenzflasche gehalten und produzieren kontinuierlich den durch Testverfahren selektionierten gewünschten Antikörper, der aus dem überstand des Kulturmediums in praktisch unlimitierten Mengen gewonnen werden kann. Monoklonale Antikörper sind ausschließlich gegen ein bestimmtes Epitop gerichtet. Dies steigert die Spezifität immunhistochemischer Reaktionen beträchtlich. Heute stehen auch zellfreie Systeme zur Produktion monoklonaler Antikörper zur Verfügung. Für den zweiten Schritt der Reaktionen werden zum Nachweis der im Gewebe gebundenen primären Antikörper zwei prinzipiell unterschiedliche Methoden eingesetzt – sog. direkte und indirekte Nachweismethoden (Abb. 1-7). Bei den direkten Methoden werden die primären Antikörper mit einem sog. Markermolekül (z.B. fluoreszierender Farbstoff, Enzym, kolloidales Gold) gekoppelt, das nach der Immunreaktion im Gewebe nachgewiesen werden kann. Fluoreszierende Farbstoffe geben auf Exzitation durch Ultrablau- oder Ultraviolettbestrahlung sichtbares Licht mit definierter Wellenlänge ab. Man benötigt zur Beobachtung fluoreszierender Farbstoffe ein mit geeigneten Farbfilterkombinationen ausgerüstetes Auflichtmikroskop. An primäre Antikörper gekoppelte Enzyme (z.B. Meerrettichperoxidase, alkalische Phosphatase) können nach Ablauf der Immunreaktion ein zugegebenes farbloses Substrat in einen unlöslichen (präzipitierenden) Farbstoff verwandeln (siehe Kap. 1.3.9), der am Ort der Antigen-Antikörper-Bindung nun lichtmikroskopisch nachgewiesen werden kann. Bei den indirekten Methoden werden die Antigen-Antikörper-Reaktionen im Gewebe indirekt, d.h. mithilfe zusätzlicher immunologischer oder chemischer Reaktionen, sichtbar gemacht. Es werden meist gegen den primären Antikörper gerichtete sog. sekundäre Antikörper eingesetzt, die selbst ein Markermolekül tragen oder einen mit Markermolekülen oder Enzymen versehenen Komplex als dritte Stufe binden (brückenbildende Antikörper; Abb. 1-5d und 1-7).

Abb. 1-7 Immunologische Verfahren zur spezifischen Darstellung von Proteinen in Gewebe und Zellen (Immunhistologie) oder in Extrakten (Western-Blot, siehe Abb. 1-8).

Für die direkte Methode trägt der primäre Antikörper ein Markermolekül (M: Enzyme, Fluorochrome oder kolloidales Gold) und kann damit sofort nach dem ersten Inkubations- und Waschschritt visualisiert werden. Bei den indirekten Methoden wird an den primären Antikörper ein zweiter Antikörper gebunden, der nun aufgrund seiner Markierung visualisiert werden kann. Ist eine weitere Verstärkung des Signals erforderlich, wird z.B. ein biotinylierter (B) sekundärer Antikörper verwendet, der von einem Komplex von Avidin und einem biotinylierten Enzymmarker erkannt wird. Da eine höhere Zahl von Markermolekülen an der Reaktion beteiligt ist, wird das Signal verstärkt (Amplifikation). Zahlreiche Variationen von indirekten Methoden sind beschrieben worden. Alle führen durch den sequenziellen Ablauf mehrerer Reaktionen zu einer kaskadenartigen Verstärkung (Amplifikation) des Nachweissignals. Bei diesen Variationen handelt es sich um mehrstufige Nachweismethoden, wobei entweder immunologische Bindungen verschiedener gegeneinander gerichteter Antikörper (sog. Peroxidase-anti-Peroxidaseoder PAP-Technik und Alkalische-Phosphatase-anti-alkalische-Phosphatase- oder APAAP-Technik) oder chemische Affinität, z.B. zwischen Avidin und Biotin (AvidinBiotin-Komplex- oder ABC-Technik), ausgenützt werden (Abb. 1-7). In den letzten Jahren wurde kolloidales Gold als Marker von Antikörpern eingeführt. Es wird entweder an Protein A (von Staphylokokken) oder an Immunglobuline gebunden und stellt sich im Lichtmikroskop rot dar. Die Reaktion kann durch zusätzliche fotochemische Versilberung verstärkt werden. Methoden, die kolloidales Gold als

Marker verwenden, liefern im Gegensatz zu vielen anderen Techniken auch auf elektronenmikroskopischer Ebene präzise Resultate (Abb. 1-5e, f).

1.3.11 Genotypisierung: Western-Blot und weitere biochemische Untersuchungen Zusätzlich zum immun- und lektinhistochemischen Nachweis an Schnitt- und Zellpräparaten können Proteine, Kohlenhydratstrukturen und andere Zellbestandteile biochemisch, z.B. mittels der Western-Blot- (Nachweis von Proteinen) und LektinBlot-Technik (Nachweis von Kohlenhydraten), untersucht werden. Die Techniken können zusätzliche Informationen über Größe und Struktur eines Moleküls liefern. Hierzu müssen die Zellbestandteile bzw. Substanzen aus dem Frischgewebe oder aus unfixierten Zellen extrahiert werden. Nach der Extraktion werden die einzelnen Bestandteile elektrophoretisch in einem Gel (z.B. Polyacrylamid) entsprechend ihrer Größe aufgetrennt, via Blotting-Verfahren auf Nitrozellulose- oder Nylonmembranen (auch Filter genannt) übertragen und die gewünschten Komponenten analog den vorher beschriebenen immun- und lektinhistochemischen Methoden spezifisch nachgewiesen (Abb. 1-8). Weitere proteinbezogene Methoden wie die Chromatographie, ELISA (enzyme-linked immunosorbent assay) und andere Verfahren werden zur Reinigung und / oder Analyse sehr geringer Mengen von Proteinen und anderen Gewebebestandteilen eingesetzt und dienen in der Pathologie z.B. dem Nachweis von Hormonrezeptoren in Brustdrüsenkarzinomen oder von Hormonen in neuroendokrinen Tumoren. Diese oft aufwendigen Untersuchungen werden meist in spezialisierten Laboratorien durchgeführt.

Abb. 1-8 Blotting-Verfahren.

.a Mikroskopisches Bild eines dichten, ziemlich monomorphen Zellinfiltrates in einem Lymphknoten. HE, Vergr. 400fach. Es ist nicht klar, ob dieses Infiltrat reaktiv (polyklonal) oder neoplastisch (monoklonal) ist. Das Gewebe kann mithilfe von Blotting-Verfahren untersucht werden.

b Prinzip von Blotting-Verfahren. Der Nachweis von spezifischen Proteinen mit Western-Blotting, von Kohlenhydraten mit Lektin-Blotting, von Ribonukleinsäuren (RNA) mit Northern- und von Desoxyribonukleinsäure-Fragmenten (DNA) mit Southern-Blotting beruht auf der Auftrennung von Gewebe- oder Zellextrakten nach Größe durch Gel-Elektrophorese. Anschließend erfolgen ein Transfer (Blotting) auf Nylon- oder Nitrozellulosefilter und die Visualisierung einzelner Komponenten mithilfe markierter Antikörper (für Proteine und teilweise Kohlenhydrate) oder durch Lektine (Kohlenhydrate) bzw. Hybridisierungsproben (DNA und RNA). c Klonalitätsnachweis bei lymphoproliferativen Erkrankungen mittels Southern-Blot-Analyse. Aufgrund von lymphozytenspezifischen GenRearrangierungs-Prozessen (Umlagerung der Gensequenz) kann die Klonalität und damit in den meisten Fällen die Malignität einer lymphoproliferativen Erkrankung direkt mit dem Auftreten eines spezifischen Bandenmusters im Southern-Blot in Beziehung gesetzt werden. Dazu wird aus einer Biopsieprobe genomische DNA extrahiert und mit sog. Restriktionsenzymen (hier Eco RI, Eco RV, Hind III und Xba I) an genau definierten Stellen in Fragmente geschnitten. Diese Restriktionsverdauungen werden mithilfe der Southern-Blot-Technik und beispielsweise einer T-Zell-Rezeptor-Gen-spezifischen Probe analysiert. Vergleicht man nun das Bandenmuster der beiden Biopsien desselben Patienten mit den Keimlinienbanden (Normal-Kontrolle), erkennt man im Lymphknoten und im Hautexzisat zusätzliche Banden (Pfeile), die klonale Rearrangierungsmuster darstellen. Da die Bandenmuster der Lymphknoten- und der Hautbiopsie des betreffenden Patienten identisch sind, kann davon ausgegangen werden, dass beide Biopsien dieselbe klonale Population lymphoider Zellen (Tumorzellen) enthalten.

1.3.12 Genotypisierung: Molekularbiologische Techniken Molekularpathologische Methoden dienen der Untersuchung krankhafter Veränderungen auf genetischer Ebene, d.h. der DNA und RNA. Durch den vermehrten Einsatz molekularbiologischer Techniken in der Medizin ist es in den letzten Jahren gelungen, bei Tumoren und anderen Krankheiten sowohl nummerische und strukturelle chromosomale Veränderungen als auch spezifische Genveränderungen (z.B. Mutationen) als ursächlich beteiligte Faktoren nachzuweisen. Die Immunhistochemie (Phänotypisierung) kann daher durch eine zunehmende Zahl molekularbiologischer Methoden zwecks Genotypisierung von Läsionen ergänzt werden. Die wichtigsten molekularbiologischen Methoden, die zurzeit in der Pathologie eingesetzt werden, umfassen Hybridisierungstechniken wie die In-situ-Hybridisierung, Southern- und Northern-Blot-Verfahren (Abb.1-9), DNA-Amplifizierungstechniken wie die Polymerase-Kettenreaktion (PCR) und assoziierte Methoden wie die SSCA (single strand conformation analysis) und ähnliche Techniken sowie DNASequenzanalyse-Verfahren (Abb. 1-16).

Die meisten der oben erwähnten Methoden erfordern eine spezielle Asservierung des Untersuchungsgutes (Tab. 1-4) und können nur in spezialisierten Laboratorien durchgeführt werden. Wegen der Komplexität der Methoden ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Pathologen und Molekularbiologen erforderlich.

Hybridisierungsmethoden Abb. 1-9 Gebräuchliche Spezialtechniken und ihre Zielmoleküle.

Analog zum Nachweis von Antigenstrukturen durch markierte Antikörper (AntigenAntikörper-Bindung) können DNA- und RNA-Sequenzen mittels markierter, komplementärer DNA-, RNA- oder Oligonukleotidstücke (sog. Proben oder Sonden) nachgewiesen werden. Die sog. Hybridisierung von Proben an DNA- oder RNASequenzen beruht hierbei auf der komplementären Basenbindung der Nukleotide Adenin und Thymin (bzw. Uracil) sowie Cytosin und Guanin (Abb. 1-10). Als Marker von Hybridisierungsproben können entweder Radionuklide (z.B. 3H, 32P, 33P, 35S) oder nichtradioaktive Moleküle (z.B. Biotin, Digoxigenin, Fluorochrome) eingesetzt werden. Erstere werden mittels autoradiographischer Methoden (Schwärzung eines Röntgenfilms oder einer Fotoemulsion) und letztere mittels (immun) histochemischer Verfahren oder Fluoreszenzmethoden nachgewiesen. Unter In-situ-Hybridisierung versteht man den Nachweis von Nukleinsäuresequenzen in Schnitt- und Zellpräparaten. Sie wird in vielen Laboratorien bereits zum Nachweis viraler DNA (Zytomegalievirus, Herpesviren etc.) in Gewebeschnitten und Zellen eingesetzt (Abb. 1-11). Die In-situ-Hybridisierung von RNA hingegen ist wegen deren geringeren Stabilität und Kopienzahl schwieriger und erfordert meist eine spezielle Gewebeasservierung und -vorbehandlung. Auch der Nachweis von nummerischen und groben strukturellen chromosomalen Veränderungen mittels Fluorochrom-markierter chromosomenspezifischer Proben (FISH, fluorescent in-situ hybridization) in Metaphasen- oder Interphasenpräparaten

ist möglich, z.B. für Her-2 / neu-Rezeptoren (s. Kap. 41.6.3) und zum Nachweis von Translokationen bei Leukämien. Blotting-Verfahren zur Analyse von DNA werden nach dem Namen des Erstbeschreibers Southern-Blotting genannt, während der Nachweis von RNA in Analogie Northern-Blotting genannt wird. Bei beiden Methoden werden die aus dem Gewebe isolierten Nukleinsäuren (DNA nach enzymatischer Zerlegung in kleinere Fragmente) in Abhängigkeit von ihrer Größe elektrophoretisch in Agarosegelen aufgetrennt, auf Filtermembranen übertragen, immobilisiert und mit einer entsprechenden, markierten Probe hybridisiert (Abb. 1-8). Verfahren, bei denen die Nukleinsäuren direkt auf eine Filtermembran gegeben und anschließend hybridisiert werden, nennt man Dot- oder Slot-Blotting. Southern-Blotting ist die am weitesten verbreitete Methode zur Untersuchung von Gen-Rearrangierungen (Umplatzierung von DNA-Sequenzen), die z.B. den Klonalitätsnachweis lymphoproliferativer Erkrankungen ermöglicht. Das Verfahren wird auch diagnostisch eingesetzt (siehe Abb. 1-8c).

Abb. 1-10

Hybridisierung.

Für den spezifischen Nachweis von DNA- bzw. RNA-Sequenzen in histologischen Schnitten (In-situ-Hybridisierung) und in Gewebe- oder Zellextrakten (Southernbzw. Northern-Blot) werden markierte Hybridisierungsproben (grün) verwendet. Diese Proben bestehen aus kurzen klonierten DNA-Fragmenten oder synthetischen

Oligonukleotiden bzw. in vitro transkribierten RNA-Molekülen, die komplementär zur gesuchten DNA oder RNA sind. Basierend auf der Ausbildung der spezifischen Basenpaare (A-T, G-C), erkennt die Hybridisierungsprobe ihre komplementäre Zielsequenz im Schnitt oder auf dem Blot. Die Hybridisierung an einzelsträngige RNA-Moleküle kann direkt erfolgen, während für den Nachweis von DNA-Sequenzen zuerst eine Trennung (Denaturierung) der Stränge unter alkalischen Bedingungen oder durch Erhitzen erforderlich ist. Spezifische Hybridisierungsprodukte zwischen markierter Probe und Zielsequenz können nach ausgiebigen Waschschritten je nach Marker (M) mit Autoradiographie (radioaktive Marker) oder mit Immunfärbung oder Fluoreszenzmikroskopie (nichtradioaktive Marker) sichtbar gemacht werden (vgl. Abb. 1-11 a und b).

Abb. 1-11 In-situ-Hybridisierung: Nachweis von Zytomegalievirus-(CMV-)DNA

im Zellkern und Zytoplasma von Epithelzellen eines Pankreasausführgangs. Hierzu wurde eine zur Virus-DNA komplementäre biotinmarkierte DNA-Probe verwendet. Die an die Virus-DNA gebundene Probe wurde mittels immunhistochemischer Methoden sichtbar gemacht. Vergr. 1000fach.

Analyse chromosomaler Veränderungen mittels CGH (comparative genomic hybridization) Amplifikationen und Deletionen von genetischem Material (Gene) sind bei Tumoren häufig zu finden (siehe Kap. 6.3.2). Solche Veränderungen in der Zahl von Genkopien zu charakterisieren, ist sowohl für das Verständnis wie auch für die Diagnose von Tumoren wichtig. Die CGH erlaubt die genomumfassende Bestimmung solcher

Variationen. Aus normalen Zellen und Tumorzellen extrahierte genomische DNA wird mit unterschiedlichen Fluorochromen markiert und mit Chromosomenpräparationen von peripheren Blutzellen gesunder Individuen gleichzeitig (kompetitiv) hybridisiert (Abb. 1-12). Mittels computergestützter Bildanalyseverfahren können so Zunahmen und Verluste von genetischem Material im Tumorgewebe erkannt werden, indem die Fluoreszenzsignale der hybridisierten Normal-DNA (die z.B. mit rot fluoreszierenden Farbstoffen markiert wurde) mit der Tumor-DNA (die z.B. mit grün fluoreszierenden Farbstoffen markiert wurde) verglichen werden. Bei einer Amplifikation von genetischem Material zeigt sich am entsprechenden Chromosomenabschnitt eine relativ stärkere grüne Fluoreszenz. Diese CGH-Methode hat aber nur eine begrenzte Auflösung, sodass kleine Veränderungen (< 10 Mb) nicht entdeckt werden können. Deshalb werden zur Hybridisierung anstelle von Metaphasenchromosomen auch Arrays verwendet, auf die große klonierte genomische DNA-Fragmente als Targets gespottet wurden (MatrixCGH). Die Array-Methode erlaubt es zudem, Variationen von Gen-kopien direkt und in bedeutend größerem Unfang zu bestimmen (siehe unten). Diese Methode eignet sich aber nicht, Gen-Rearrangierungen oder Translokationen zu erkennen. Die Kombination von Mikrodissektion (siehe unten) und CGH ist eine vielversprechende Methode, um genetische Veränderungen in präneoplastischen Läsionen und Insitu-Karzinomen im Vergleich zum umgebenden Normalgewebe zu studieren.

Abb. 1-12 Analyse der DNA-Sequenz-Kopienzahl von Tumoren mittels CGH (comparative genomic hybridization)

Aus normalen Zellen und Tumorzellen wird die genomische DNA extrahiert und mit einem Fluoreszenzfarbstoff markiert (normale Zellen: rot; Tumorzellen: grün). Im Tumor ist eine bestimmte DNA-Sequenz amplifiziert; es finden sich 6 statt der normalerweise 2 Kopien (zur Vereinfachung ist immer nur ein Strang der Doppelhelix dargestellt). Die markierte Referenz- und Test-DNA wird dann mit normalen Metaphasenchromosomen kompetitiv hybridisiert. Im Fluoreszenzmikroskop wird die Intensität für beide Fluoreszenzen auf den einzelnen Chromosomen gemessen und computergestützt analysiert. Im Falle der im Tumor amplifizierten DNA-Sequenz steht für die Bindung an den entsprechenden Chromosomenabschnitt mehr grün markierte Tumor-DNA zur Verfügung, das Verhältnis der Intensität der Rot- / Grün-Fluoreszenz verschiebt sich also gegen Grün, was im Fluoreszenzmikroskop sichtbar wird (12q13-q15). Der entsprechende Chromosomenabschnitt ist auf dem Ideogramm mit einem grünen vertikalen Balken markiert. Das Profil zeigt das Verhältnis der Rot- / GrünFluoreszenz entlang dem gesamten Chromosom 12 (Fluoreszenzaufnahme: J. Zhao, Zürich).

Abb. 1-13 Klonalitätsanalyse, am Beispiel endokriner Pankreastumoren.

Mikrodisseziertes Tumor- und Normalgewebe von Patientinnen wurde mittels PCR(Polymerase-Kettenreaktion)-Amplifikation einer polymorphen Region im Exon 1 des Androgenrezeptor-Gens auf deren Klonalität hin untersucht. Das Vorliegen von nur einer Bande (Amplifikation eines Allels) nach Vorverdau der DNA mit dem methylierungssensitiven Restriktionsenzym Hpn II im Vergleich zum Normalgewebe, das zwei Banden aufweist (Amplifikation beider Xchromosomalen Allele) deutet auf das Vorliegen einer monoklonalen Tumorpopulation hin. Im polyklonalen Tumor (rechtes Gel) findet man sowohl im untersuchten Normal- wie den beiden Abschnitten des Tumorgewebes zwei Banden, was auf eine polyklonale Tumorpopulation hindeutet.

Mikrodissektionsmethoden Unter Mikrodissektion versteht man die Gewinnung und Asservierung von Einzelzellverbänden oder Einzelzellen aus Schnittpräparaten oder Einzelzellpräparationen mittels Lasertechniken oder mechanisch mittels Mikromanipulatoren zur molekularbiologischen Analyse (meist mittels PCR; Abb. 113). Die Mikrodissektion ist eine vielversprechende Technik für die Pathologie, da sie auf der morphologischen Kenntnis von Gewebeveränderungen, Tumorfrühläsionen und Tumoren beruht. Sie stellt ein Bindeglied zwischen Pathologie und Molekularbiologie dar. Im Moment wird diese Methode hauptsächlich in der Forschung eingesetzt, es sind aber viele potentielle Anwendungen auch in der Diagnostik denkbar.

DNA-Amplifizierungstechniken Gewisse Nukleinsäuresequenzen sind in derart geringer Kopienzahl vorhanden, dass sie mittels der oben beschriebenen Methoden in situ oder in Zellextrakten nicht nachgewiesen werden können. Deshalb haben sich in den letzten Jahren Amplifikationsmethoden wie die Polymerase-Kettenreaktion (PCR) durchgesetzt. Diese Technik imitiert in vitro die Replikation von Nukleinsäuren und ermöglicht die millionenfache Kopierung einer bestimmten Gensequenz im Reagenzglas, die dann relativ einfach mittels Gel-Elektrophorese und / oder Blotting-Verfahren analysiert werden kann. Das Prinzip der PCR beruht auf der Denaturierung von DNA durch Hitze, Hybridisierung von zwei kurzen DNA-Sequenzen („primer“), die den gesuchten Genabschnitt flankieren, und der Neusynthese einer Kopie des Genabschnitts durch hitzestabile DNA-Polymerasen (Abb. 1-14). Bei jedem durchgeführten Zyklus von Denaturierung, Primer-Hybridisierung („primer-annealing“) und Neusynthese (Primer-Extension oder -Elongation) wird die Zahl der Kopien verdoppelt, was zu einer exponentiellen Amplifizierung des gesuchten Genabschnitts (z.B. 230 Kopien nach 30 Zyklen) führt. Die Qualität und Spezifität des PCR-Produkts kann in einer

Gel-Elektrophorese mit anschließender Southern-Blot-Hybridisierung überprüft werden. Typische Anwendungsmöglichkeiten der PCR für die Diagnostik ist der Nachweis von Erreger-DNA oder -RNA (Viren, Bakterien, Mykobakterien) in Geweben (Abb. 1-15). Diese Methode hat sich als weitaus sensitiver als die traditionelle In-situHybridisierung erwiesen. Der Nachteil der PCR besteht darin, dass die Reaktion an Gewebeextrakten durchgeführt wird und deshalb keine eindeutige Korrelation der PCR-Positivität mit der morphologischen Veränderung im Schnitt möglich ist. Neben der Anwendung der PCR in der Diagnostik von Fremd-DNA oder -RNA (z.B. von Viren oder Bakterien) in Geweben und Zellen kann die PCR auch zur Darstellung von qualitativen genetischen DNA-Veränderungen wie Mutationen, Deletionen, Rearrangierungen oder Translokationen angewendet werden. Diese Untersuchungen können auch an DNA oder RNA durchgeführt werden, die aus Paraffineingebettetem Gewebe extrahiert worden ist. Sie werden zunehmend auch in der Diagnostik eingesetzt. Typische Anwendungsbeispiele sind die Identifizierung von t(11;22)-Translokationen in Weichteilsarkomen oder t(11;14)-Translokationen in follikulären Non-HodgkinLymphomen und die Identifizierung von Gen-Rearrangierungen in Lymphomen aus Archivmaterial. Die Identifizierung von Deletionen sowie der Klonalität von Neoplasien wird mittels PCR-Amplifikation von polymorphen (meist unterschiedlich langen) DNAAbschnitten, sog. Mikrosatelliten-Markern, durchgeführt. Sie erlauben eine Unterscheidung des väterlichen und mütterlichen Allels sowie den Vergleich zwischen Normal- und Tumorgewebe. Falls im Vergleich zum Normalgewebe nur noch ein Allel im Tumorgewebe nachweisbar ist, liegt ein sog. „loss of heterozygosity“ (LOH) vor. Mittels Modifikation der Methode kann ein monoklonales Wachstum von Tumoren erfasst werden (Abb. 1-13). PCR-amplifizierte Gensequenzen (von Onkogenen, Tumorsuppressorgenen und bei genetischen Erkrankungen) können mittels mehrerer Verfahren auf Punktmutationen hin überprüft werden. Eine dieser Methoden ist die SSC-Analyse (SSCA: single strand conformation analysis), bei der denaturierte PCR-Produkte in Polyacrylamidgelen aufgetrennt werden. Mutierte Einzelstrangfragmente werden erkannt, weil sie ihrer veränderten Sekundärstruktur wegen im Vergleich zur Normalsequenz unterschiedliche Wanderungseigenschaften im elektrischen Feld aufweisen.

Abb. 1-14 (PCR).

Prinzip der Polymerase-Kettenreaktion

PCR-Zyklus. Ein Zyklus der PCR-Reaktion umfasst drei Temperaturschritte: Der erste Schritt besteht aus der Hitzedenaturierung des DNA-Extraktes durch Erwärmen auf 94–96 °C. Im zweiten Schritt wird das Reaktionsgemisch abgekühlt, sodass die zwei Primer an ihre spezifische Komplementärsequenz hybridisieren können (Primer-Hybridisierung). Der dritte Temperaturschritt ist auf die optimale Aktivität der Polymerase eingestellt. In diesem sog. PrimerExtensions-Schritt liest die thermostabile Polymerase, ausgehend von den Primern, die jeweiligen Matrizenstränge und synthetisiert unter Einbau von Desoxynukleotiden die Komplementärstränge. Die Synthese erfolgt nur in der sog. 5′ → 3′-Richtung. Am Ende jedes Zyklus kommt es zur Verdoppelung der spezifischen Matrizen-DNA. Eine andere Nachweismethode ist die Gradienten-Gel-Elektrophorese.

Die Art der Genveränderung bzw. Punktmutation (Basenänderung) muss anschließend durch Sequenziertechniken bestimmt werden.

DNA-Sequenzanalyse-Verfahren Die Nukleinsäuresequenz eines DNA-Strangs kann mittels Sequenzanalysemethoden bestimmt werden. Die Techniken sind aufwendig und erfordern spezielle molekularbiologische Kenntnisse. Heute stehen automatisierte Sequenzierungssysteme zur Verfügung. Am häufigsten durchgeführt wird die Basenterminationsmethode (nach Sanger), bei der Didesoxynukleotide aller vier Basen in getrennten Reaktionen während der In-vitro-Replikation in die Produkte eingebaut werden, was den Replikationsvorgang spezifisch abstoppt. Die dadurch resultierenden unterschiedlich langen Fragmente werden auf Polyacrylamidgelen aufgetrennt und analysiert (Abb. 116).

Abb. 1-15a

PCR-Nachweis von Bakterien und Viren.

DNA oder RNA wird direkt aus Gewebeschnitten oder Zellen in Suspension extrahiert und der PCR-Reaktion zugeführt. Bestimmte bakterien- oder virusspezifische Sequenzen werden amplifiziert und die Produkte anschließend analysiert (hier mittels Agarose-Gel-Elektrophorese).

1.3.13

Genomics, Transcriptomics und Proteomics

Das Genom eines Organismus bleibt in jeder Zelle konstant. Sowohl die von einer Zelle zu einem bestimmten Zeitpunkt transkribierten mRNA-Moleküle (Transcriptom) als auch die exprimierten Proteine (Proteom) sind sehr variabel, da die Genaktivität vom Differenzierungsgrad und vom Funktionszustand einer Zelle abhängt. Unter den Begriffen Genomics, Transcriptomics und Proteomics versteht man umfassende, gleichzeitige und zusammenhängende Analysen von genomischer DNA, transkribierter mRNA oder exprimierten Proteinen. Die Integration dieser Informationen erlaubt es, biologische Prozesse systematisch in ihren vernetzten Abläufen darzustellen (Functional Genomics).

Um solche Analysen mit einer sehr großen Zahl von Molekülen durchführen zu können, wurden neue miniaturisierte und automatisierte Techniken entwickelt, die einen hohen Durchfluss (high throughput) von Reaktionen ermöglichen. Eine dieser Methoden ist die Array-Technologie, die zum Nachweis von Interaktionen von Nukleinsäure- und Proteinmolekülen verwendet werden kann (siehe unten). Zu den etablierten Methoden für die Identifikation einer sehr großen Zahl von Proteinen in einem Proteingemisch zählt die 2D-Gel-Elektrophorese. Dabei werden die einzelnen Proteine aufgrund ihres isoelektrischen Punktes und ihres Molekulargewichts aufgetrennt und ihre Identität (Aminosäuresequenz) mittels Massenspektrometrie ermittelt.

Abb. 1-15b Mykobakteriennachweis in Paraffinschnitten mittels PCR.

Zwei unabhängige Mycobacterium-tuberculosis-spezifische PolymeraseKettenreaktionen (IS 6110 und M65) haben in DNA-Proben der Patienten A, C und D zur spezifischen Amplifikation von 123 bzw. 165 Basenpaaren großen Fragmenten geführt und zeigen somit die Gegenwart von Mykobakterien-DNA in den Gewebeextrakten auf. Eine Negativkontrolle muss in sämtlichen Analysen mitgeführt werden, um Kontaminationen der Reagenzien – in der PCR ein sehr wichtiges Problem – auszuschließen. Zur überprüfung der Qualität der extrahierten DNA wurde ein spezifisches Fragment des β-Globin-Gens, das in der genomischen DNA der Patienten enthalten sein muss, als Positivkontrolle amplifiziert. Wie daraus hervorgeht, ist die DNA-Probe von Patient B nur sehr schlecht amplifizierbar. Deshalb kann die PCR-Analyse bei Patient B die Gegenwart von MykobakterienDNA nicht zuverlässig ausschließen. Mit den Methoden der Functional Genomics sind neue Einblicke in komplexe biologische Abläufe im Rahmen krankhafter Prozesse möglich. Für die Medizin werden sich daraus tief greifende Auswirkungen auf die Diagnostik, die Prognosestellung und die Therapie ergeben. Dies soll im Folgenden an zwei Beispielen aus der Tumorpathologie näher erläutert werden.

Analyse des Genexpressionsprofils von Tumoren mit der Array-Technologie Tumoren entstehen durch eine schrittweise Akkumulation genetischer Veränderungen in einer Zelle (siehe auch Kap. 6.3–6.5). Tumorzellen weisen daher im Vergleich zu normalen Zellen ein verändertes Genexpressionsmuster auf der Ebene der Transkription (mRNA) und der Translation (Proteine) auf. Solche differenziell exprimierten Gene können mit der Array-Technologie auf der Stufe der mRNA simultan in großer Zahl bestimmt werden. Unter einem Array versteht man in diesem Zusammenhang eine regelmäßige Anordnung von Nukleinsäure-Molekülen (Oligonukleotide oder cDNA) mit bekannter Basensequenz, die punktförmig (Spot) auf einer Trägersubstanz (Nylonmembran oder Glasobjektträger) in hoher Dichte mittels Robotern aufgetragen werden (sog. „Chips“ enthalten bis zu 300 000 unterschiedliche in situ synthetisierte Oligonukleotide auf einer Fläche von rund 1,5 cm2). Jeder Spot (Durchmesser 250 μm) der in Abb. 1-17 dargestellten Hochdichte-Membranarrays enthält kurze cDNA-Fragmente, deren Basensequenz identisch ist mit derjenigen eines Exonabschnitts von einem bekannten (in voller Länge sequenzierten) oder unbekannten (noch nicht vollständig sequenzierten) Gen. Es sind Arrays mit über 70 000 gespotteten cDNAs erhältlich, die wahrscheinlich alle menschlichen Gene (zum Teil mehrfach) umfassen. Zu diesen arraygebundenen cDNAs (auch als Target bezeichnet) wird nun radioaktiv markierte cDNA (Probe) hybridisiert, die durch Retrotranskription aus dem zu analysierenden mRNA-Gemisch unter Verwendung 33P-markierter Nukleotide gewonnen wurde. Dabei bindet sich ein markiertes cDNA-Molekül der Probe nur dann an eine TargetcDNA, wenn ihre Basensequenzen komplementär zueinander sind (siehe Abb. 1-10). Aus dem Einbau von Radioaktivität in einen bestimmten Spot lässt sich so direkt ableiten, welches Gen in den Zellen aktiviert war. Zudem ist die Menge der eingebauten Radioaktivität proportional zur Anzahl der mRNA-Kopien, die in den Zellen vorhanden waren. Durch die Analyse aller Spots auf dem ganzen Array kann daher bestimmt werden, welche der getesteten Gene in den untersuchten Zellen in welchem Ausmaß exprimiert worden sind (Genexpressionsprofil). Aus einem Vergleich der entsprechenden Expressionsprofile kann ermittelt werden, welche Gene in den Tumorzellen im Vergleich zu normalen Zellen stärker oder schwächer (also differenziell) exprimiert wurden. Zur Verarbeitung der dabei anfallenden großen Datenmengen braucht es leistungsfähige Computer und spezialisierte Programme. Auch die nähere Interpretation der Daten erfolgt computergestützt (Bioinformatik). Beispielsweise können Gene, deren Expression gleich oder ähnlich verläuft, in Gruppen (Cluster) zusammengefasst werden. Solche Gene haben oftmals auch eine vergleichbare Funktion (Abb. 1-17).

Häufig werden zur Bestimmung des Genexpressionsprofils auch Referenz- und Tumor-cDNA-Proben verwendet, die mit unterschiedlichen Fluoreszenzfarbstoffen markiert sind (z.B. rot und grün). Man hybridisiert die Proben kompetitiv mit der Target-cDNA auf nur einem Array (siehe Abb. 1-12). Je nachdem, ob ein Gen in den normalen Zellen oder in den Tumorzellen stärker exprimiert wurde, ist der Spot des entsprechenden Gens auf dem Array intensiver rot oder grün markiert. Die Auswertung der mit einem Fluoreszenzscanner gewonnenen Daten erfolgt wie bereits dargestellt. Tumoren werden aufgrund zytologischer und histologischer Kriterien diagnostiziert und klassifiziert (siehe auch Kap. 6.6 und 6.7). Im Hinblick auf die molekulare Heterogenität von Tumoren ist es nicht erstaunlich, dass die Morphologie allein oft nur recht grobe Einteilungskriterien liefert. Zusätzliche Informationen werden heute hauptsächlich mittels der In-situ-Hybridisierung und der Immunhistochemie mit einer begrenzten Anzahl von Markern gewonnen (siehe auch Kap. 1.3.10, 1.3.12 und 6.8.2). Aufgrund des umfassenden Genexpressionsprofils eines Tumors lässt sich die Diagnostik verfeinern. Mit dieser Methode ist es gelungen, innerhalb eines morphologisch nicht weiter unterscheidbaren Tumortyps Untergruppen mit unterschiedlichem Differenzierungsgrad und klinischem Verlauf (Prognose) zu identifizieren. Durch diese Technik werden auch neue Erkenntnisse über die Biologie eines Tumors gewonnen, die schließlich zu einer spezifischeren Therapie führen können.

1.4 Archivierung und Auswertung von Befunden, Klassifikation von Krankheiten 1.4.1 Archivierung von Dokumenten, Gewebeblöcken und Schnitten Die Archivierung von Diagnosen und histologischen Präparaten ist gesetzlich vorgeschrieben und aus mehreren Gründen sehr wichtig. Die Einsichtnahme des Pathologen in frühere Befunde und eine erneute Beurteilung von Gewebeproben können für die Präzision einer Diagnose bei dem gleichen Patienten ausschlaggebend sein, besonders auch bei der intraoperativen Schnellschnittuntersuchung. Befunde und Diagnosen werden heute allgemein in Computersystemen gespeichert. Dadurch können sie jederzeit ohne Zeitaufwand abgerufen und eingesehen werden. Auch für die Ablage von Schnittpräparaten und Gewebeblöcken sind heute bereits computergesteuerte, automatische Behälterlager in Betrieb. Präparate und Blöcke können vom Personalcomputer aus abgerufen und innerhalb weniger Minuten an den gewünschten Ort geliefert werden.

Bei der Ablage und übermittlung von Dokumenten, die sehr sensible Daten beinhalten, kommt dem Datenschutz eminente Bedeutung zu. Computersysteme und Archive sind daher sorgfältig zu sichern. Dies gilt auch für die übermittlung von Diagnosen per Fax oder E-Mail. Ebenso genau muss bei der elektronischen übertragung makroskopischer und mikroskopischer Bilder (Telepathologie) zusammen mit Patientendaten der Personen- und Datenschutz berücksichtigt werden.

Abb. 1-16 DNA-Sequenz-Bestimmung mit automatischem DNA-Sequenzer.

DNA-Sequenzen werden heute häufig mit automatischen Sequenzierungssystemen bestimmt. Für einige dieser Analysesysteme werden fluoreszenz-markierte Didesoxynukleotide benötigt. Im Gegensatz zur manuellen Sequenzierreaktion kann die Aufbereitung der Proben für derartige automatische Systeme in einem einzigen Röhrchen erfolgen. Da jedes der vier Didesoxynukleotide ein anderes Fluorochrom trägt, lässt sich die Sequenz nach der elektrophoretischen Auftrennung durch einfache Farberkennung feststellen. Die Farbauswertung und auch die Basenzuordnung werden von einem Computer vorgenommen. Die zwei Diagramme zeigen Auswertungen eines solchen automatischen DNA-Sequenzers. Für dieses Beispiel wurden genau definierte Genabschnitte von Mykobakterien aus Paraffinschnitten PCR-amplifiziert und direkt sequenziert. Die Basenabfolge in diesem Genabschnitt ist speziesspezifisch und erlaubt deshalb die Identifizierung der verschiedenen typischen und atypischen Mykobakterien. Im Beispiel sind die charakteristischen Sequenzunterschiede – hier zwischen M. tuberculosis und M. leprae – mit schwarzen Punkten bezeichnet.

1.4.2 Auswertung von Befunden Die Auswertung von Befunden ist für die Forschung mit moderner Technik an archiviertem Gewebe (z.B. für retrospektive Untersuchungen) sowie für die Revision von Klassifikationssystemen und für epidemiologisch ausgerichtete Arbeiten (siehe Kap. 1.4.3 und 1.5) essentiell. Bei der Auswertung werden Patientendaten anonymisiert,

sodass die Identifikation eines Patienten in einsehbaren Unterlagen oder in Publikationen nicht möglich ist.

1.4.3 Klassifikation von Krankheiten Klassifikationen sind systematische Zusammenstellungen von Krankheitsdefinitionen und dienen der Verständigung. Die Medizin muss, um handeln zu können, Krankheiten nach Ätiologie, Pathogenese und Morphologie voneinander abgrenzen. Bei diesen Abgrenzungen sind Schematisierungen unvermeidlich. Deshalb können Klassifikationen den komplexen Abläufen der Biologie mit dynamischen übergängen von leichten Störungen zu schweren Krankheiten oder von akuten zu chronischen Affektionen nicht voll gerecht werden. Sie mussen daher auch immer wieder den Fortschritten des Wissens, die sich durch neue diagnostische Methoden ergeben, angepasst werden.

Abb. 1-17 Analyse der Genexpression mit der ArrayTechnologie.

Man isoliert aus normalen Zellen oder Tumorzellen die mRNA. Durch Retrotranskription wird die mRNA in doppelsträngige cDNA umgeschrieben und gleichzeitig mit radioaktivem Phosphor (P) markiert (zur Vereinfachung ist immer

nur ein Strang der Doppelhelix dargestellt). Diese markierten Proben verwendet man zur Hybridisierung mit auf Nylonmembranen gespotteter cDNA (Target). Jeder genau lokalisierbare Spot des Arrays enthält PCR-amplifizierte cDNA, deren Basensequenz einem Abschnitt eines bestimmten Gens entspricht. Wenn markierte Proben-cDNA-Moleküle (rot) aufgrund ihrer komplementären Basensequenz an immobilisierte Target-cDNA-Moleküle binden, wird der entsprechende Spot auf dem Tumorarray radioaktiv markiert (schwarz). Aus der Lage des markierten Spots lässt sich so direkt ableiten, welches Gen in den zur RNA-Extraktion verwendeten Zellen exprimiert wurde; die Markierungsintensität ist proportional zur Anzahl der gebildeten Transkripte. Mit einem Phosphorimager wird die Strahlungsintensität der einzelnen Spots gemessen (Scan). Je dunkler ein Spot in den Bildern des Referenzund Tumorarrays erscheint, desto stärker ist seine Markierung (mit einem roten Kreis sind im Einschub die Spots für ein Gen hervorgehoben, das im Tumor, nicht aber in den normalen Zellen exprimiert wird). Durch eine computergestützte Datenanalyse können die Genexpressionsprofile der normalen Zellen und der Tumorzellen ermittelt und durch deren Vergleich differenziell exprimierte Gene identifiziert werden. Um biologisch relevante und statistisch signifikante Aussagen machen zu können, müssen mehrere Tumoren und mehrere Referenzgewebe analysiert werden. Eine mögliche Darstellung der komplexen Zusammenhänge ist die Cluster-Analyse. Im Farbdiagramm entspricht jede Zeile einem Gen (horizontal; total 50 Gene) und jede Spalte einem Gewebe (vertikal; 12 Referenz- und 15 Tumorgewebe). Beim Farbcode bedeutet Hellgrün eine schwache, Dunkelrot eine starke Expression. Für die dargestellte hierarchische Cluster-Analyse wird ein Algorithmus verwendet, der sowohl Gene wie auch Gewebe aufgrund der Ähnlichkeit des Expressionsmusters gruppiert und in einem so genannten Dendrogramm verbindet. Der Verwandtschaftsgrad der einzelnen Elemente spiegelt sich in der Länge der verbindenden äste wider (je kürzer die äste, desto größer die ähnlichkeit). Referenz- und Tumorgewebe werden klar in zwei Gruppen mit ähnlichem Genexpressionsprofil eingeteilt. Bei den Genen werden vier Gruppen (Cluster) mit ähnlichem Verlauf der Expression gebildet (stärkere, schwächere oder gleiche Expression im Tumorgewebe im Vergleich zum Referenzgewebe; ArrayAufnahmen und Cluster-Analyse: Ch. Leonard, Zürich). Zwecks Vereinheitlichung der Nomenklatur morphologisch nachweisbarer Läsionen werden für viele Organe spezialisierte sog. Referenzzentren geführt. Diese Zentren stellen auch konsiliarisch Diagnosen (sog. „second look“) und tragen damit auch zur Sicherung der Qualität und Bereicherung von Aus-, Weiter- und Fortbildung bei. Die möglichst präzise mikroskopische Klassifikation von Läsionen ist Voraussetzung für vergleichende Studien, die das biologische Verhalten sowie Reaktionen auf verschiedene Therapiestrategien analysieren. Es zeigt sich am Beispiel der Tumoren sehr deutlich, wie wichtig die histologische Klassifikation für die Formulierung der Diagnose, für die Planung der Therapie sowie für Aussagen über die Prognose ist. Gleichzeitig werden aber auch die Schwierigkeiten der Definition von Tumortypen

offenkundig. Für diesen Problembereich hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die „International Histological Classification of Tumors“ in die Wege geleitet. In deren Monographien werden histologische Definitionen von Tumoren durch internationale Gremien von Pathologen zusammengestellt. Darüber hinaus bestehen Klassifikationssysteme zur Stadieneinteilung von Tumoren, z.B. das TNM-System (Tumorgröße und -ausdehnung, Lymphknoten-, Fernmetastasen; siehe Kap. 6.9.2). Als Klassifikationen bezeichnet man auch die codierten Nomenklaturen, d.h. systematisch angeordnete Begriffslisten mit zugeordneter hierarchisch gestalteter Verschlüsselung (Code) für die Erstellung von Statistiken und die EDV-Suche nach Dokumenten. Im Bereich der Medizin am wichtigsten ist die „Internationale Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation“ (ICD, „International Statistical Classification of Diseases, Injuries and Causes of Death“), eine eindimensionale (uniaxiale) Liste von Begriffen primär für statistische Zwecke. Die Vergleichbarkeit der internationalen Mortalitätsdaten beruht auf Verwendung der ICD. Von der ICD zu unterscheiden sind Nomenklaturen mit mehr als einer Dimension, z.B. die ICD-O, die Internationale Krankheitsklassifikation für die Onkologie. Die Tumorcodierung geschieht hier in zwei Dimensionen, nach der Lokalisation (Topographie-Code) und nach dem histologischen Tumorbefund (Morphologie-Code mit Berücksichtigung des gegenwärtigen Standes der international üblichen Tumorklassifikationen). Je mehr Dimensionen ein Code hat, desto geeigneter ist er für die Suche nach verschiedenen Aspekten einer Erkrankung. Ein Beispiel dafür ist SNOMED („Systematized Nomenclature of Medicine“) mit den Dimensionen Topographie, Morphologie, Funktion, Krankheiten, ätiologie, Therapie.

1.5

Epidemiologie und Public Health

1.5.1 Zielsetzungen Die Epidemiologie befasst sich mit der Häufigkeit und Verteilung von Gesundheitszuständen in der Bevölkerung. Aus den Erkenntnissen auf der Stufe von Kollektiven sollen Präventionsmaßnahmen auf Bevölkerungsebene (Gesundheitsförderung) abgeleitet werden. Erst in jüngster Zeit verfolgt die molekulare Epidemiologie (siehe Kap. 1.5.4) auch vermehrt individualisierte Präventionsansätze. Je nach Zeitpunkt der Präventionsmaßnahmen unterscheidet man Primärprävention (Beseitigung von Risikofaktoren, die längerfristig zu einer Erkrankung führen können), Sekundärprävention (möglichst frühzeitige Erfassung und Behandlung von Vorstufen zu einer Krankheit) und Tertiärprävention (Vermeidung von Folgestörungen bestehender Krankheiten). Die Epidemiologie ist eine Grundlagenwissenschaft der Medizin, die das komplexe Zusammenwirken verschiedener Faktoren am Menschen untersucht. Dabei lautet das Grundkonzept „messen und vergleichen“. Dahinter steht die überlegung, dass

Gesundheit und Krankheit in einer Bevölkerung nicht zufällig vorkommen, sondern in identifizierbaren Untergruppen unterschiedlich häufig auftreten. Die gefundenen Häufigkeitsunterschiede werden für die Formulierung und überprüfung von Hypothesen zur ätiologie von Krankheiten bzw. zur Ableitung von Risiko- und Protektivfaktoren sowie Hinweisen zur Prognostik verwendet. Daraus ergibt sich wiederum die Basis für die Ableitung, Umsetzung und Evaluation von Präventionsmaßnahmen und Therapien. Darüber hinaus haben einige zentrale Faktoren für die Gesundheit wie die gesellschaftlich-politischen Rahmenbedingungen, die Qualität der medizinischen Versorgung oder ökonomische überlegungen (Abb. 1-18) in der epidemiologischen Forschung zunehmend an Bedeutung gewonnen. Auf der Suche nach einem umfassenderen Begriff hat sich auch im deutschen Sprachraum der in der angelsächsischen Welt schon lange verwendete Terminus „Public Health“ durchgesetzt.

1.5.2 Zeitlicher Wandel der Epidemiologie Ursprünglich richtete sich der Fokus der Epidemiologie auf Infektionskrankheiten. In den ärmsten Ländern der Welt sterben jedes Jahr auch heute noch über 1 Million Menschen an Malaria und sogar fast 2 Millionen an Tuberkulose. In einigen afrikanischen Ländern wird die mittlere Lebenserwartung allein durch AIDS um 15–20 Jahre reduziert. Dank einer Verbesserung der hygienischen Verhältnisse und der Ernährungsbasis durch Impfprogramme und als Folge des medizinischen Fortschritts (Antibiotika) hat sich in den industrialisierten Ländern das Schwergewicht von den Infektionskrankheiten zu nicht übertragbaren chronischen Krankheiten hin verlagert („epidemiologische Transition“; Tab. 1-7). Deren komplexe ätiologie und lange Latenzzeit haben einen entsprechenden Wandel in den Methoden der Epidemiologie nach sich gezogen.

1.5.3 Epidemiologische Maße Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Krankheitshäufigkeiten zu messen und zwischen Bevölkerungsgruppen zu vergleichen (siehe Tab. 1-8). Welche dieser Maßzahlen am besten geeignet ist, wird durch die interessierende Krankheit bestimmt. So genügt die Prävalenz für den Vergleich von Krankheitshäufigkeiten, die zu einer Immunität führen oder mit denen man viele Jahre leben kann, wohingegen für Krankheiten mit sehr kurzer oder unterschiedlich langer Erkrankungsdauer (z.B. Krebs) gültige Vergleiche nur anhand von Inzidenzraten möglich sind (die Mortalität kann dabei als Sonderfall der Inzidenz betrachtet werden). Generell gilt die Beziehung Prävalenz = Inzidenz mal Erkrankungsdauer. Erkrankungs risiken können entweder absolut (z.B. als Wahrscheinlichkeit, in den nächsten 5 Jahren eine bestimmte Krankheit zu entwickeln) oder relativ (z.B. im Vergleich mit einer nicht exponierten Bevölkerung) ausgedrückt werden. Hohe relative Risiken sind nicht gleichzusetzen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit, eine bestimmte Krankheit zu entwickeln.

Abb. 1-18

Einflussfaktoren auf die Gesundheit.

Tab. 1-7 Todesursachen heute und vor 100 Jahren am Beispiel der Schweiz: „epidemiologische Transition“ (Datenquelle: Bundesamt für Statistik, Neuchâtel). ausgeschlossen 2694 Todesfälle ohne ärztliche Bescheinigung Der Vergleich von Krankheitshäufigkeiten zwischen Bevölkerungsgruppen zielt auf die Identifikation modifizierbarer Risiko-, Präventions- und Prognostikfaktoren ab. Nicht modifizierbare Einflussfaktoren wie Geschlecht und Alter sollten dabei standardmäßig berücksichtigt werden.

Tab. 1-8 Epidemiologische Maßzahlen. Prävalenz Fälle einer bestimmten Krankheit oder eines Zustands in einer zahlenmäßig definierten Bevölkerung (in % oder pro 100 000 Personen), i.d.R. an einem definierten Stichdatum (Punktprävalenz) Inzidenz(rate) An einer bestimmten Krankheit Neuerkrankte in einer zahlenmäßig definierten Bevölkerung und innerhalb einer bestimmten Zeitspanne (meist pro 100 000 Personenjahre) Mortalität(srate) An einer bestimmten Krankheit Verstorbene in einer zahlenmäßig definierten Bevölkerung und innerhalb einer bestimmten Zeitspanne (meist pro 100 000 Personenjahre)

Letalität Anteil der an einer bestimmten Krankheit Verstorbenen, bezogen auf die Gesamtzahl der von dieser Krankheit betroffenen Personen Überleben (survival) Die Überlebenskurve gibt, startend bei 100%, für ein bestimmtes Kollektiv für jeden Zeitpunkt der Beobachtung den Prozentsatz der Überlebenden an. Die häufig verwendeten 5- oder 10-Jahres-Überlebensraten sind ausge- wählte Zeitpunkte dieser Kurve

Geschlecht Fast alle nichtinfektiösen Krankheiten zeigen mehr oder weniger ausgeprägte Häufigkeitsunterschiede zwischen Männern und Frauen. In den Industrieländern übertrifft das Sterberisiko beim männlichen Geschlecht dasjenige beim weiblichen z.T. um ein Mehrfaches, was zu einer deutlich höheren Lebenserwartung der Frauen führt. Aus diesen Gründen werden Analysen i.d.R. nach Geschlechtern getrennt durchgeführt.

Alter Die meisten chronischen Krankheiten treten mit zunehmendem Alter häufiger auf, und auch das Gesamtsterberisiko verdoppelt sich ab einem Alter von 50 Jahren rund alle fünf Lebensjahre. Je nach Altersstufe dominieren andere Todesursachen (Abb. 1-19). Für den Vergleich von Krankheitshäufigkeiten in Bevölkerungen mit unterschiedlicher Altersstruktur muss deshalb eine mathematische Korrektur für die unterschiedliche Altersverteilung durchgeführt werden (sog. Altersstandardisierung). Zeitliche Trends und geografische Unterschiede sind weitere nicht direkt beeinflussbare, aber meist standardmäßig verfügbare Einflussgrößen.

Abb. 1-19 Anteil der Todesursachengruppen nach Alter, Schweiz 1995–98.

Die fast exponentielle Zunahme der Todesfallzahlen mit zunehmendem Alter kommt in dieser Darstellung nicht zum Ausdruck: drei Viertel der männlichen und sogar sieben Achtel der weiblichen Todesfälle ereignen sich erst nach dem 65. Geburtstag (Datenquelle: Bundesamt für Statistik, Neuchâtel).

Zeitliche Trends Wenn Krankheitshäufigkeiten zeitliche Trends aufweisen, kann dies Hinweise auf änderungen im Risikoprofil einer Bevölkerung geben. Durch die Analyse von Mortalitätstrends kann z.B. der Erfolg von Screeningprogrammen evaluiert werden. Langfristige Zu- oder Abnahmen bedeuten aber nicht automatisch eine Veränderung der Exposition, sondern können auch durch Behandlungsfortschritte, konkomitierende Krankheiten oder einen Wechsel bei den Diagnosekriterien bedingt sein. Die Interpretation wird zusätzlich durch die jahre- bis jahrzehntelange Latenzzeit zwischen Exposition, Erkrankung und Tod kompliziert (bei einzelnen Tumorarten 50 Jahre und mehr).

Geografische Unterschiede Erkrankungen können aus mehreren Gründen geografisch unterschiedlich gehäuft auftreten, z.B. durch genetische Faktoren, Unterschiede in der Verteilung modifizierbarer individueller Risikofaktoren oder in der Umweltbelastung, aber auch durch Unterschiede in Gesundheitsversorgung oder -statistik (Tab. 1-9).

1.5.4 Epidemiologische Studientypen Generell kann zwischen deskriptiver und analytischer Epidemiologie unterschieden werden.

Deskriptive Epidemiologie Die deskriptive Epidemiologie liefert die Grundlagen für Beschreibung und Monitoring des Gesundheitszustandes einer Bevölkerung sowie für die Planung und Evaluation der medizinischen Versorgung und von Präventivmaßnahmen (Gesundheitsberichterstattung). Im Weiteren dient sie der Hypothesenbildung bezüglich der ätiologie und möglicher Risikofaktoren. Die deskriptive Epidemiologie stützt sich oft auf routinemäßig erhobene Daten. Sie ist somit kostengünstig und erlaubt häufig flächendeckende Analysen.

Analytische Epidemiologie Im Gegensatz zur deskriptiven Epidemiologie erlauben die Methoden der analytischen Epidemiologie eine gültige Hypothesentestung auf kausale Zusammenhänge. Dabei lassen sich drei Studientypen unterscheiden: ■ Fall-Kontroll-Studien: Erkrankte werden mit Nichterkrankten mit dem Ziel verglichen, eine unterschiedlich starke Exposition zu eruieren. Probleme: Anfälligkeit für Selektionsbias bei der Auswahl von Fällen und vor allem von Kontrollen; Recall-Bias; die Berechnung von Inzidenzen ist nicht möglich. ■ Longitudinalstudien (Kohortenstudien): Exponierte werden mit Nichtexponierten mit dem Ziel verglichen, unterschiedliche Erkrankungshäufigkeiten zu eruieren. Probleme: Die Studien sind aufwendig, Resultate erhält man oft erst nach vielen Jahren; für seltene Krankheiten sind sie ineffizient. ■ Interventionsstudien (experimentelle Studien, Trials): Bei einem Patientenkollektiv oder in Bevölkerungsgruppen werden gesundheitsrelevante Parameter in Abhängigkeit einer Intervention erhoben. Der Studienansatz ist mit Kohortenstudien vergleichbar, doch wird der interessierende Einflussfaktor von außen gesteuert. Probleme: Die Resultate sind für breite Bevölkerungsschichten oft nicht repräsentativ. Die Studien sind oft aus ethischen Gründen nicht machbar, z.B. der Vergleich von Medikamenten oder Operationen mit vorhersehbarem Erfolgsunterschied.

Molekulare Epidemiologie Die klassische Epidemiologie untersucht den Zusammenhang von exogenen Risikooder Protektivfaktoren mit Gesundheitsparametern, ohne zu berücksichtigen, wie der menschliche Organismus diese Faktoren verarbeitet. Die Berücksichtigung der individuellen Anfälligkeit ist aber insbesondere bei Erkrankungen mit komplexer ätiologie anzustreben, weil dies zu einer gezielteren Prävention und Therapie führen

kann. Für die individualisierte Risiko- und Prognosebeurteilung bedient sich die molekulare Epidemiologie einer von drei Biomarkerklassen: ■ Mit Expositionsbiomarkern wird die effektiv im Körper vorhandene und zum Teil bereits biologisch aktivierte Schadstoffbelastung in Körperflüssigkeiten wie Urin, Blut oder Speichel gemessen. ■ Krankheitsbiomarker erlauben die frühzeitige und spezifische Identifikation molekularer Veränderungen für eine verbesserte individuelle Prognosegrundlage und maßgeschneiderte Therapien. ■ Für neuartige präventive und therapeutische Ansätze von zentraler Bedeutung sind schließlich die Anfälligkeitsbiomarker, mit deren Identifikation sich die genetische Epidemiologie befasst.

Tab. 1-9

Beispiele für geografische Unterschiede.

• Entstehung einer Struma infolge natürlichen Jodmangels in während der Quartärzeit vereisten Berggebieten (siehe Kap. 14.3) • Burkitt-Lymphom in malariaverseuchten Zonen Afrikas: Auslösung durch das Epstein-Barr-Virus und Stimulation durch chronischen Malariabefall (siehe Kap. 22.2.2) • Migrantenstudien: Nach Hawaii und Kalifornien ausgewanderte Japaner zeigen bei der Magenkrebshäufigkeit erst nach zwei Generationen ähnlich tiefe Risiken wie die Amerikaner, während die Angleichung an die höheren Risiken beim Darmkrebs und beim Mammakarzinom schneller erfolgt. Auch in Europa lassen sich z.B. bei Migranten aus dem Balkan charakteristische Unterschiede im Krankheitsspektrum feststellen.

Genetische Epidemiologie Genetische Marker lassen sich nach ihrer Penetranz einteilen, d.h. nach der Erkrankungswahrscheinlichkeit einer Person mit einer ererbten genetischen Variation. Die genetische Epidemiologie beschränkte sich anfänglich auf die Erforschung hochpenetranter Mutationen bei seltenen familiären Syndromen. Chronische Erkrankungen entstehen aber meist durch ein komplexes Zusammenspiel von verschiedenen niedrigpenetranten, im Allgemeinen häufig vorkommenden genetischen Varianten (Polymorphismen) mit exogenen, modifizierbaren Risikofaktoren. Fortschritte in Labortechnologie und Bioinformatik ermöglichen heute die Untersuchung von Gen-Gen- und Gen-Umwelt-Interaktionen in großen Studienkollektiven. Sie haben das Ziel, Personen auf ihrem Risikoprofil basierend individuell zu beraten und anfällige Bevölkerungsgruppen gezielt zu schützen.

Daraus abgeleitete Interventionsmaßnahmen zielen vor allem auf die Modifikation der exogenen Faktoren ab.

Grenzen der molekularen Epidemiologie Eine individuellere und zeitlich vorverlegte Erkrankungsvorhersage wirft ethische und juristische Fragen für eine Gesellschaft auf. Zudem besteht die Gefahr, dass dank der faszinierenden Fortschritte im Bereich der Molekularisierung und Individualisierung von Prävention und Therapie der eigentliche Public-HealthAuftrag aus den Augen verloren wird. Armut und soziale Ungleichheit, nicht der genetische Hintergrund, sind nach wie vor die Hauptursache für Krankheit und Tod weltweit. Das Ziel von Public Health, insbesondere in einer Zeit der beschränkten finanziellen Ressourcen im Gesundheitssektor, ist weiterhin, den Gesundheitszustand der Gesellschaft insgesamt auf einem möglichst hohen Niveau zu halten.

1.5.5 Krebsregister – angewandte Epidemiologie Bevölkerungsbezogene Krebsregister reflektieren die wissenschaftliche und gesundheitspolitische Relevanz der Epidemiologie. Sie erfassen alle neu diagnostizierten Tumorerkrankungen und je nach Register ätiologische und prognostische Faktoren innerhalb einer geografisch definierten Region. Neben der Erfassung der Tumorlast und ihrer Verteilung, z.B. nach Sozialschichten, sind die Registerdaten auch für eine Evaluation des Zugangs zu Präventionsangeboten oder Gesundheitsversorgung unerlässlich. Typische Fragen an Krebsregister sind: ■ Wie viele Brusttumoren werden aufgrund von Screeninguntersuchungen entdeckt und mit welchem Erfolg? ■ Wie werden Prostatatumoren behandelt, die aufgrund eines PSA-Screenings entdeckt wurden? ■ Was sind die soziodemografischen Merkmale von Frauen, die auch heute noch ein invasives Zervixkarzinom entwickeln? ■ Wie hoch ist das Risiko, nach einer Radiochemotherapie an einem zweiten Tumor zu erkranken? ■ Bestehen Unterschiede in der mittleren überlebenszeit mit Darmkrebs in Abhängigkeit vom behandelnden Spital und von der ausgewählten Therapie? Das Krebsforschungszentrum IARC (International Agency for Research on Cancer) in Lyon veröffentlicht unter dem Titel „Cancer Incidence in Five Continents“ regelmäßig die geschlechts- und altersspezifischen Tumorinzidenzen der Krebsregister in aller Welt. Bei der weiteren Untersuchung der aus unterschiedlich hohen Inzidenzen abgeleiteten

Hypothesen in analytischen Studien sind die Krebsregisterdaten wiederum unerlässlich für den Aufbau von bevölkerungsbezogenen Fall-Kontroll- oder Kohortenstudien. Auch für die molekulare Epidemiologie können die Krebsregister künftig eine wesentliche Rolle spielen, wenn die zunehmend molekulare Charakterisierung von Malignomen der Registrierung zugänglich sein wird.

1.6

Zukünftige Entwicklung

Die Pathologie verfügt heute, ausgehend von der Morphologie, über weitreichende und faszinierende Möglichkeiten der Krankheitsforschung und -diagnostik. Sie ist eine der Grundlagen medizinischer Forschung sowie diagnostischen und therapeutischen Vorgehens und damit eine der Kerndisziplinen der Medizin. Pathologen sind hoch spezialisierte Fachleute, die imstande sein müssen, wissenschaftlich fundiert zu diagnostizieren und zu forschen. Das große Arsenal von Methoden, die in Forschung, Diagnostik und Therapie eingesetzt werden können, erfordert eine sorgfältige Indikation ihres Einsatzes, um Nebenwirkungen, Aufwand und Kosten in Grenzen zu halten. Ebenso wichtig ist die Fähigkeit der kritischen Interpretation der erhobenen Resultate, da eine Interpretation, nicht lediglich eine Wiedergabe von Befunden erwartet wird. Es müssen biologische Zusammenhänge erkannt, eine erfolgversprechende Fragestellung erarbeitet und deren Lösung technisch richtig angegangen werden. Dies setzt analytisches und integratives Denken, Originalität, Ideenreichtum und Fantasie sowie Kommunikationsfähigkeit und Organisationstalent voraus. Zudem werden sehr hohe Anforderungen an die Ethik und an das Verantwortungsbewusstsein, kurzum an die Persönlichkeit gestellt. Die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung der Bedeutung des Faches. Die Ausbildung zum Fachpathologen ist heute anspruchsvoller denn je, da sie nebst der Labortechnik – Morphologie, Zellbiologie, molekularbiologische Techniken, Informatik – vor allem auch das Verständnis für zellbiologische Probleme vermitteln muss. Die Anforderungen an Ausbildende und Auszubildende sind hoch, aber die Perspektiven und Möglichkeiten in Forschung, Diagnostik sowie Lehre und Ausbildung sind vielfältig und interessant wie nie zuvor.

Literatur Alberts B., A. Johnson, A. J. Lewis, M. Raff, K. Roberts, P. Walter: Molecular Biology of The Cell. 4th ed. Garland Science, New York NY 2002. Gutzwiller F., O. Jeanneret (eds.): Sozial- und Präventivmedizin, Public Health. Hans Huber, Bern 1996. Lodish H., D. Baltimore, A. Berk, S.L. Zipursky, P. Matsudaira, J. Darnell: Molecular Cell Biology. 4th ed. Scientific American Books, H.W. Freeman and Company, New York 1999.

Schottenfeld D., J.F. Fraumeni (eds.): Cancer Epidemiology and Prevention. Oxford University Press, Oxford, New York 1996. Toniolo P., P. Boffetta, D.E.G Shuker, N. Rothman, B. Hulka, N. Pearce (eds.): Application of Biomarkers in Cancer Epidemiology. IARC Scientific Publications No. 142, 1997.

FRAGEN 1 Erklären Sie die Bedeutung der folgenden Begriffe: a)

Ätiologie

b)

Pathogenese

2 Nennen Sie wichtige Gruppen ätiologischer Krankheitsfaktoren. 3 Welches sind mögliche pathogenetische Reaktionen des Organismus auf Schäden? 4 Nennen Sie sichere Todeszeichen. 5 Welches sind wichtige Aufgaben der Pathologie? 6 Welche Ziele werden mit dem Einsatz wichtiger Zusatzuntersuchungen in der Pathologie verfolgt? 7 Wozu dienen Archivierung, Dokumentation und Auswertung von erhobenen Befunden? 8 Welche Ziele werden beim Einsatz epidemiologischer Daten verfolgt?

2

Zell- und Gewebereaktionen K. ZATLOUKAL J. ROTH H. DENK 2.1 Organisation der Zelle 40 2.1.1

Zellkern 40

Chromatin 40 Nukleolus 40 Kernmembran1 40 2.1.2

Zytoplasma 40

Zellorganellen 40 Zytosol 43 2.1.3

Zellmembran (Plasmamembran) 43

2.1.4

Zellverbindungen 43

Adhäsionsmoleküle 44 Zell-Zell-Verbindungen 44 Zell-Matrix-Verbindungen 45 2.2 Extrazelluläre Matrix und Bindegewebe 45 2.2.1

Strukturproteine 45

Kollagen 45 Elastin 46 2.2.2

Grundsubstanz 46

Hyaluronsäure 46 Proteoglykane 46 Fibronektine 46

Laminin 46 2.3 Funtion normaler Zellen 46 2.3.1

Energieproduktion 46

2.3.2

Proteinsynthese 46

2.3.3

Membrantransportprozesse 48

2.3.4

Intrazelluläre Abbau- und Entgiftungsvorgänge 48

2.3.5

Zytoskelett 49

2.3.6

Zell- und Gewebeinteraktion 49

Interzelluläre Kommunikation 49 Mechanismen der Signalübertragung 49 2.3.7

Zellteilung (Mitose) und Zell-proliferation 51

Zellzyklus 51 Regulatorische Mechanismen 51 Störungen der Zellzyklusregulation als Ursache der Tumorentstehung 52 Zellzyklus bei unterschiedlichen Zelltypen 52 2.4 Zelldifferenzierung 53 2.4.1

Mechanismen der Differenzierung 53

2.4.2

Transdifferenzierung 54

2.4.3

Dedifferenzierung 54

2.5 Regeneration 54 2.6 Adaptation, Zellschädigung, Zelltod 54 2.6.1

Adaptation 55

Atrophie 55 Hypertrophie 55 Hyperplasie 56

Metaplasie 56 2.6.2

Zellschädigung 57

Ursachen und Mechanismen 57 Allgemeine Mechanismen der Zellschädigung 58 Morphologische Konsequenzen der Zellschädigung 64 2.6.3

Pathologie der Zellorganellen 64

Zellkern 64 Mitochondrien 65 Endoplasmatisches Retikulum 65 Lysosomen 65 Peroxisomen 65 Zytoskelett 65 2.6.4

Zelltod 66

Formen des Zelltodes 66 2.6.5

Zelleinschlüsse 71

Ursachen 71 Arten 71 2.7 Pathologie des Bindegewebes 73 2.7.1

Pathologie der Basalmembran 73

2.7.2

Pathologie des Elastins 73

2.8 Abnorme Verkalkung von Zellen und Geweben 73 2.9 „Hyaline” Veränderungen 74 2.10

Proteinfaltungserkrankungen 74

2.11

Altern 74

2.11.1

Altersveränderungen 75

2.11.2

Ursachen und Mechanismen 75

Literatur 76 Fragen 76

Zur Orientierung Die Zelle dient der Aufrechterhaltung von Struktur und Funktion der diversen Gewebe und Organe und damit des gesamten Organismus. Sie ist ein komplexes Gebilde, das auf den gesamten Organismus fein abgestimmte spezifische Funktionen erfüllt. Dies erfordert eine Kommunikation mit anderen Zellen sowie eine differenzierte Steuerung der zellulären Prozesse. Zell-, Gewebs- und Organschädigungen resultieren aus mikrobiell, chemisch, physikalisch oder immunologisch verursachten Beeinträchtigungen der Zellbestandteile, was eine Störung von Energieproduktion, Transport von biologisch wichtigen Molekülen (Elektrolyte, Aminosäuren, Glukose), Syntheseleistungen (z.B. von Makromolekülen), Abbauprozessen (Biotransformation), Zellteilung und Differenzierung sowie den Zelltod zur Folge haben kann. Auf zellulärer Ebene kann eine Erkrankung als Folge einer Störung des Gleichgewichts der zellulären Prozesse angesehen werden. Heilung bedeutet Wiederherstellung dieses Gleichgewichts.

2.1

Organisation der Zelle

Gewebe und Organe bestehen aus Zellen, die in Struktur und Funktion unterschiedlich sind, in ihrem Zusammenwirken aber den charakteristischen Aufbau und die spezifische Funktion der Organe bestimmen. Die verschiedenen Zelltypen entstehen durch eine Reihe von Differenzierungsschritten aus pluripotenten Zellen (embryonale Zellen bis zum Entwicklungsstadium der Blastozyste).

2.1.1 Zellkern Chromatin Das Chromatin ist eine wesentliche Komponente des Zellkerns. Es besteht aus DNA (Desoxyribonukleinsäure) in Verbindung mit Histonen und anderen Proteinen, die für die Anordnung der DNA verantwortlich sind. Das Kernchromatin zeigt eine filamentös-granuläre Struktur. Es kommt in variabler Weise im Nukleoplasma vor, wobei sich zwei Arten des Organisationszustands abgrenzen lassen: Das Heterochromatin besteht aus dichtem, kompaktem Chromatin, während das Euchromatin lockerer strukturiert ist und heller erscheint. Heterochromatin stellt die inaktiven Areale des Genoms dar, Euchromatin enthält DNA in einer Konformation, die zur aktiven Transkription befähigt. Die Chromatinverteilung lässt daher auf die Aktivität von Zellen schließen. Undifferenzierte oder proliferierende Zellen zeigen ein Überwiegen des Euchromatins mit diffuser Chromatinstruktur des Kerns, reife und differenzierte Zellen eine ausgeprägtere Kondensation des Chromatins mit größeren

Heterochromatinklumpen an der Kernperipherie und in Assoziation mit dem Nukleolus.

Nukleolus Der Nukleolus (Kernkörperchen) besteht aus einem Aggregat von fibrillärem und granulärem Material und enthält RNA (Ribonukleinsäure). Zwischen den dichteren Strukturen liegen hellere Areale, die als nukleolusorganisierende Regionen (NOR) bezeichnet werden. Die Nukleolen variieren in Zahl, Größe und Form in verschiedenen Zellen. In aktiven Zellen sind sie besonders groß und deutlich zu erkennen.

Kernmembran Der Zellkern ist gegenüber dem Zytoplasma durch die Kernmembran (Kernhülle) begrenzt, die aus einem äußeren und einem inneren Anteil besteht. Mit der inneren Kernmembran ist die filamentöse Kernlamina (besteht aus Laminen sowie einer Reihe von Proteinen, die das Chromatin an die Kernhülle binden) assoziiert. Zwischen äußerer und innerer Kernmembran liegt die perinukleäre Zisterne. Die Kernmembran wird von Kernporen unterbrochen, durch die Austauschprozesse zwischen Zellkern und Zytoplasma stattfinden.

2.1.2 Zytoplasma Das Zytoplasma enthält Zellorganellen, gespeichertes Material und Grundsubstanz (Zytosol). In vivo ist das Zytoplasma ein spezifisch organisiertes, physiologisch dynamisches und variables System, wobei Veränderungen der Relation der einzelnen Komponenten in quantitativer und topographischer Hinsicht physiologisch sind.

Zellorganellen Siehe Abb. 2-1.

Endoplasmatisches Retikulum Das endoplasmatische Retikulum (ER) ist ein aus Zisternen und Tubuli bestehendes kontinuierliches Membransystem, das aus drei Domänen besteht: dem rauen (ribosomenbesetzten) ER, dem glatten (ribosomenfreien) ER und der äußeren Kernmembran. Im rauen ER, das mit der Kernhülle in Verbindung steht, finden Proteinsynthese und Proteinglykosylierung statt (zu angeborenen Glykosylierungskrankheiten siehe Kap. 46.2). Ein komplexes Qualitätskontrollsystem überwacht nicht nur die korrekte Faltung und Oligomerisierung der de novo synthetisierten Proteine, sondern greift auch aktiv in

den Faltungsprozess ein. Das raue ER ist auch für die Erkennung nicht korrekt synthetisierter Proteine und deren Translokation in das Zytosol zuständig, wo sie mittels des Ubiquitin-Proteasom-Systems abgebaut werden. Körpereigene, aber auch fremde Substanzen, z.B. Steroide, andere Hormone, Medikamente oder Umweltgifte, werden durch ein im glatten ER lokalisiertes Enzymsystem durch Oxidation, Reduktion, Hydrolyse und Konjugation transformiert (Biotransformation) und damit häufig in besser wasserlösliche und über die Nieren ausscheidbare Substanzen umgewandelt. Die Biotransformation geschieht vor allem in der Leber und ist weitgehend substratunspezifisch, d.h., ein großes Spektrum von Substanzen, einschließlich Medikamenten, wird metabolisiert.

Abb. 2-1 Epithelzelle (Pankreasazinuszelle) mit Organellen.

Im Zytoplasma zeigt sich ein tubuläres Membran-system, das mit Ribosomen besetzt ist (raues endoplasmatisches Retikulum, RER). Dazwischen liegen Mitochondrien (M). Das Überwiegen des RER weist auf die hohe Proteinsynthesekapazität der abgebildeten Zelle hin. Daneben finden sich sekretorische Granula (SG). ZK = Zellkern.

Prä-Golgi-Intermediate Die Prä-Golgi-Intermediate (Syn. intermediäres Kompartiment, ERGIC-53) bestehen aus Ansammlungen vesikulotubulärer Strukturen, die dem anterograden und retrograden Transport zwischen dem ER und dem Golgi-Apparat dienen.

Golgi-Apparat Der Golgi-Apparat (Syn. Golgi-Komplex) stellt eine äußerst komplexe Organelle dar, deren Grundgerüst aus einem polaren Stapel von ribosomenfreien Zisternen und assoziierten tubulären Netzwerken besteht. Neben Transport- und Sortierungsfunktionen (z.B. für lysosomale Enzyme) finden in ihm eine Reihe posttranslationeller Modifikationen statt (z.B. Glykosylierung, Sulfatierung, Phosphorylierung lysosomaler Enzyme, proteolytisches Processing von Prohormonen, Sekretproduktkonzentration). Der Golgi-Apparat ist nicht nur in die Sekretion involviert, sondern auch Teil des endozytotischen Apparats. In sekretorischen Zellen (z.B. Becherzellen, endokrinen und exokrinen Sekretzellen) ist er besonders stark entwickelt.

Lysosomen Die Lysosomen sind membranbegrenzte Organellen, die eine Vielzahl hydrolytischer Enzyme (Nukleasen, Proteasen, Lipasen, Glykosidasen, Phosphatasen) mit einem sauren pH-Wirkungsoptimum enthalten. Die typischen sekundären Lysosomen entstehen durch die Verschmelzung primärer Lysosomen mit Endosomen und dienen dem Abbau endozytierter oder phagozytierter Substanzen. Die azurophilen Granula der neutrophilen Leukozyten stellen spezielle Lysosomen dar. Unverdaubares Material (z.B. anthrakotisches Pigment) wird in sog. Residualkörpern intrazellulär gespeichert oder kann exozytotisch freigesetzt werden. Autophagolysosomen dienen dem Abbau geschädigter oder gealterter zelleigener Bestandteile (z.B. ER, Mitochondrien); Krinophagosomen enthalten Sekretgranula endokriner Zellen.

Mitochondrien Die Mitochondrien sind die zentralen Organellen des Energiestoffwechsels in der Zelle („Kraftwerk“ der Zelle). Energie wird durch Oxidation von Kohlenhydraten und Fettsäuren zu CO2 und Wasser produziert. Das Produkt dieser oxidativen Phosphorylierung ist das energiereiche ATP (Adenosintriphosphat). Mitochondrien bestehen aus einer inneren gefalteten und einer äußeren Membran sowie der Matrix. Die innere Membran bildet Cristae oder Tubuli aus. Mitochondrien enthalten eine eigene DNA, die ausschließlich von der Mutter stammt und die genetische Information für einen Teil der mitochondrialen Enzyme trägt. Im Rahmen der Zellteilung kommt es zu einer Vermehrung und Aufteilung (zwischen Tochterzellen) der Mitochondrien.

Peroxisomen Peroxisomen scheinen durch Absprossung vom endoplasmatischen Retikulum zu entstehen und stellen eine weitere enzymhaltige Zellorganelle dar. Sie enthalten hauptsächlich Katalase und sind auch am Abbau von Fetten beteiligt.

Zytoskelett Die meisten Zellen enthalten Skelettstrukturen, die für Zellstabilität, Zellmotilität, Modulation der Zellform, Organisation und Kompartimentierung des Zytoplasmas, Organelleninteraktion und sekretorische Prozesse verantwortlich sind. Die drei wesentlichen Komponenten des Zytoskelettes sind die Mikrofilamente, die Mikrotubuli und die Intermediärfilamente (Abb. 2-2).

Abb. 2-2

Zytoskelett.

Mikrofilamente (a), Mikrotubuli (b) und Intermediärfilamente (c). Beachte die filamentöse Anordnung in der Immunfluoreszenzdarstellung.

Mikrofilamente Die aktinhaltigen Mikrofilamente (Durchmesser ca. 7 nm) sind vor allem für Zellbeweglichkeit und Zellform verantwortlich. Verschiedene Aktinisoformen sind mit verschiedenen Zelltypen assoziiert. In Muskelzellen finden sich α-Aktine

(Herzmuskel, Skelettmuskel, glatte Muskulatur), während Nichtmuskelzellen βund γ-Aktine enthalten.

Abb. 2-3

Querschnitt durch Zilien.

Um ein zentrales Mikrotubuluspaar sind neun Mikrotubuluspaare, bestehend aus je einer A- und einer B-Untereinheit, gruppiert (9+2-Anordnung). Eine Reihe von assoziierten Proteinen sind für die Polymerisation von Aktinmolekülen (G-Aktin) zu Aktinfilamenten (F-Aktin), für Quervernetzung, für Interaktion der Filamente mit der Plasmamembran und andere Funktionen verantwortlich. Zusammen mit Myosin bilden Aktinfilamente ein kontraktiles System sowohl in Muskel- als auch in Nichtmuskelzellen. Des Weiteren spielt Aktin eine wichtige Rolle bei der amöboiden Bewegung.

Mikrotubuli Mikrotubuli (Durchmesser ca. 25 nm) bestehen aus den Untereinheiten α- und βTubulin. Sie dienen dem intrazellulären Organellen- und Vesikeltransport und sind Bestandteile des mitotischen Spindelapparates. Assoziierte Proteine (microtubule associated proteins, MAP) spielen eine Rolle für Aufbau und Stabilität der Mikrotubuli und deren Interaktion mit Zell- und Organellenmembranen. Mikrotubuli sind darüber hinaus Bestandteile der Zilien und Flagellen. Unter Zilien werden haarartige bewegliche (Kinozilien) oder unbewegliche (Stereozilien) Zellfortsätze verstanden. Die Kinozilien finden sich an der freien Oberfläche von Epithelien (z.B. Flimmerepithelien des Respirationstraktes) und sind in den unter der Zelloberfläche gelegenen Basalkörperchen (Kinetosomen) verankert. Im Inneren der Zilien finden sich zwei zentrale Mikrotubuli in der Zilienachse und zylindrisch herumgelagert neun Mikrotubuluspaare (Abb. 2-3). Die Bewegung der Flimmerhaare erfolgt peitschenartig mit einer schnellen Vorwärts- und einer langsamen Rückholbewegung. Die Bewegung wird durch parallele Verschiebung der Tubuli gegeneinander im Sinne eines Gleitmechanismus durch Dynein und Ca2+ unter Verbrauch von ATP vermittelt (Schlagfrequenz zwischen 8 und 12 pro Sekunde). Die Geißeln (Flagellen) haben einen identischen Aufbau. Während die Kinozilien den Sekret- und Partikelstrom auf der Epitheloberfläche bewirken, ermöglichen Flagellen die Fortbewegung von Zellen (z.B. von Spermien).

Intermediärfilamente Diese Filamente haben mit einem Durchmesser von ca. 10 nm in Relation zu Mikrofilamenten und Mikrotubuli „intermediäre“ Dimensionen. Sie sind in ihrer Proteinzusammensetzung heterogen und zeigen ein weitgehend zellspezifisches Vorkommen (Tab. 2-1). In der Zelle bilden sie Bündel und Netze mit Verdichtung an der Zellperipherie sowie im perinukleären Bereich und stehen mit den anderen Zytoskelettkomponenten in Verbindung. Die Funktion dieses Filamentsystems ist noch nicht in allen Details geklärt. Sie spielen wahrscheinlich eine Rolle bei der Aufrechterhaltung der Zellstabilität und bei intrazellulärer Organisation der Organellen („Kompartimentierung“). Ihre Proteinkomponenten haben wahrscheinlich auch andere (nicht skelettale) Funktionen (z.B. im Rahmen des Zellstoffwechsels und bei toxischen Schädigungen).

Tab. 2-1 Intermediärfilamentzytoskelett: chemische Zusammensetzung und Vorkommen.

Zytosol Das Zytosol ist jener Anteil des Zytoplasmas, in den die Zellorganellen und die Zytoskelettstrukturen, aber auch andere Partikel, Fetttropfen und Glykogen eingelagert sind. Es besteht aus Proteinen und Enzymen und zeigt im HochvoltElektronenmikroskop eine „mikrotrabekuläre“ Struktur.

2.1.3 Zellmembran (Plasmamembran) Die Zelle wird von einer Membran umgeben, die aus zwei Phospholipidschichten mit Cholesterin und Glykolipiden und eingebetteten Proteinen besteht. Der Membranaufbau ist dynamisch. Die Proteine sind in der Membran beweglich, z.T. sind sie im submembranös gelegenen Zellskelett verankert. Die Proteine haben eine Vielzahl unterschiedlicher Funktionen, wie Aufbau von Zellverbindungen, Rezeptoren für Wachstumsfaktoren und Hormone, Transporter für Ionen (Na+, K+, Ca2+, Mg2+) und andere Substanzen. Die Plasmamembran hat somit eine wesentliche Bedeutung für die Aufrechterhaltung des internen Zellmilieus und der Konzentrationsgradienten zwischen dem Intra- und dem Extrazellularraum. An der äußeren Seite der Plasmamembran befindet sich die Glykokalyx, die aus Zuckerseitenketten von Glykoproteinen und Glykolipiden besteht. Sie ist von Bedeutung, da bestimmte Oligosaccharide Blutgruppendeterminanten darstellen können oder Rezeptoren für Viren, Bakterien und Toxine sowie Liganden für Selektine sind. Die Glykokalyx von malignen Zellen weist oftmals typische Veränderungen auf, die fallweise von diagnostischer Bedeutung sind. Eine Störung im Bereich der Plasmamembran steht häufig am Beginn einer Zellschädigung.

2.1.4 Zellverbindungen Zellverbindungen tragen einerseits zur mechanischen Bindung zwischen Zellen (ZellZell-Verbindungen) oder Zellen und der extrazellulären Matrix (Zell-MatrixVerbindungen) bei. Andererseits gehen von den Zellverbindungen Signale aus, die eine Vielzahl von Zellfunktionen beeinflussen. Adhäsion und nachfolgende Interaktion von Zellen spielen somit eine wichtige Rolle in der Organogenese (Zell-Zell- und ZellMatrix-Interaktion), bei Entzündung, bei Wechselwirkung zwischen Thrombozyten oder Leukozyten und Endothelien, bei Immunreaktionen, Phagozytose, Zellmigration, Invasion (z.B. von Tumorzellen) und Wundheilung. Dies wird durch spezialisierte Membranregionen und durch Adhäsionsmoleküle erreicht.

Adhäsionsmoleküle Die Adhäsionsmoleküle (Tab. 2-2) bewirken einen Zellzusammenhalt unabhängig von spezialisierten Membrandomänen. Sie sind integrale Membranproteine mit extra- und intrazellulären Anteilen. Die intrazellulären Anteile stehen mit dem Zytoskelett und mit Signaltransduktionsmolekülen in Verbindung. Ihre Expression wird in qualitativer und quantitativer Hinsicht durch diverse Stimuli (z.B. im Rahmen von Entzündungsprozessen) modifiziert. Es lassen sich mehrere Familien der Adhäsionsmoleküle (Selektine, Integrine, Cadherine, Rezeptoren der Immunglobulingen-Superfamilie) unterscheiden. In den meisten Fällen handelt es sich um Membranglykoproteine, deren Fähigkeit, Zellverbindungen einzugehen, kalziumabhängig ist. Beispiele sind E-Cadherin in Epithelien und N-Cadherin im Nervengewebe und im neuroendokrinen Gewebe und das plazentare P-Cadherin. Integrine sind heterodimere Membranglykoproteine, die aus einer α- und einer βKette bestehen. Sie umfassen eine Gruppe von sechs Heterodimeren, die als VLA-1 bis VLA-6 bezeichnet werden. VLA-4 interagiert mit dem endothelialen Zelladhäsionsmolekül 1 (VCAM-1). Sie sind Rezeptoren der Plasmamembran für extrazelluläre Matrixmoleküle und werden von Granulozyten, Monozyten/Makrophagen und Lymphozyten exprimiert. Sie binden an eine Reihe von Matrixproteinen (z.B. Kollagen, Fibronektin, Laminin, Vitronektin). Zur Gruppe der Selektine gehören das Endothelzell-Adhäsionsmolekül 1 (ELAM-1), das Leukozytenadhäsionsmolekül (LAM-1) und andere, die für die Bindung von neutrophilen Granulozyten an Endothelzellen und für Lymphozytenadhäsion verantwortlich sind.

Abb. 2-4

Desmosom.

Intrazytoplasmatisch liegen die dichten desmosomalen Plaques (P), die Desmoplakine, Plakoglobin und andere Proteine enthalten. An diesen Plaques sind Intermediärfilamente (IF) verankert. Zwischen den Zellen liegt ein 20–30 nm breiter Spalt, der von Glykoproteinen (Desmocollin, Desmoglein) erfüllt ist.

Tab. 2-2 Adhäsionsmoleküle.

Zell-Zell-Verbindungen Zellverbindungen spielen eine Rolle für den Zusammenhalt von Zellen in Geweben und Organen und für die Zellkommunikation. Zellinteraktion und Zellzusammenhalt erfolgen an spezialisierten Regionen, die nach ihrer Ultrastruktur im Elektronenmikroskop, aber auch ihrer biochemischen Zusammensetzung und Funktion klassifiziert werden können. Zu den Zellverbindungen gehören das Desmosom (Macula adhaerens, Abb. 2-4), die Zonula occludens (tight junction), die Zonula adhaerens (adherens junction) und der Nexus (gap junction). Hemidesmosomen verankern Zellen an der Basalmembran. Zonulae occludentes finden sich charakteristischerweise in Epithelzellen. Dabei kommt es zu einer scheinbaren Verschmelzung der äußeren Anteile der Zellmembranen benachbarter Zellen. Diese Bereiche sind für Moleküle bestimmter Größe impermeabel, sodass die freie Passage von Substanzen zwischen den Zellen verhindert wird. Allerdings ist die Permeabilität der Zonulae occludentes in verschiedenen Zelltypen und auch bei unterschiedlichen Funktionszuständen von Zellen unterschiedlich. Die Zonulae adhaerentes bestehen aus spezialisierten Membrandomänen mit einem interzellulären Spalt von 15–20 nm Breite. Sie stehen mit Aktinfilamenten im Zellinneren in Verbindung. Die Desmosomen finden sich ebenfalls in Epithelzellen und sind besonders zahlreich in Zellen, die erhöhter mechanischer Belastung ausgesetzt sind (z.B. Epidermis). Die Nexusverbindungen

sind spezialisierte Membrandomänen, die durch fokale Membranannäherung charakterisiert sind. Über diese Zellverbindungen kommt es zum Stoffaustausch (niedermolekulare Substanzen) zwischen benachbarten Zellen.

Zell-Matrix-Verbindungen Die Verankerung von Zellen an der extrazellulären Matrix erfolgt im Bereich der „focal contacts“ mittels der Integrine, die im Zellinneren mit Aktinfilamenten und Signaltransduktionsmolekülen in Verbindung stehen. Epitheliale Zellen sind zusätzlich durch Hemidesmosomen, die mit Intermediärfilamenten assoziiert sind, an der Basalmembran verankert.

2.2

Extrazelluläre Matrix und Bindegewebe

Neben den Zellen ist die extrazelluläre Matrix ein wesentlicher Bestandteil der Gewebe. Die Matrixkomponenten werden von Mesenchymzellen (Fibroblasten, Knorpelzellen, Osteoblasten) produziert. Bestandteile der Basalmembran können aber auch von Epithelzellen und Endothelzellen produziert werden. Die extrazelluläre Matrix hat nicht nur Stütz- und Strukturaufgaben, sondern dient auch als Leitstruktur für die Bewegung von Zellen in Geweben und spielt damit eine wichtige Rolle bei Differenzierung, Organogenese und Regeneration. Die extrazelluläre Matrix besteht aus Grundsubstanz und Strukturproteinen, die extrazelluläre Flüssigkeit und Proteine (z.B. Wachstumsfaktoren) binden und eine geordnete makromolekulare Struktur aufweisen. Sie variiert in ihrer chemischen Zusammensetzung, der mikroskopischen und makroskopischen Struktur und ihrer Funktion in verschiedenen Geweben. Sie ist besonders in pathologischen Situationen beträchtlichen Veränderungen unterworfen. Die unterschiedliche Zusammensetzung der extrazellulären Matrix unter physiologischen und pathologischen Bedingungen bestimmt auch die physikalischen Eigenschaften der Gewebe, wie Konsistenz, Reißfestigkeit und Druckbelastbarkeit. Kollagen und Elastin sind die wesentlichen Komponenten der extrazellulären Matrix. Dazwischen ist die Grundsubstanz eingelagert. Die Grundsubstanz besteht aus extravaskulären Plasmaproteinen, Hyaluronsäure, Proteoglykanen und anderen Glykoproteinen, wie z.B. Fibronektin, sowie Laminin in den Basalmembranen. Die Basalmembran liegt zwischen Zellen (Epithelzellen, Endothelzellen, Mesenchymzellen) und Stroma. Sie enthält Kollagen Typ IV, Laminin und andere Matrixkomponenten. Aufgrund des Gehalts an Kohlenhydraten ist sie mit der PAS-Färbung im Lichtmikroskop darstellbar. Ultrastrukturell lassen sich bei den meisten Basalmembranen unterschiedlich elektronendichte Schichten (Lamina rara, Lamina densa) nachweisen. Die Basalmembran hat in den Geweben strukturelle Aufgaben und dient der Zellverankerung. Sie hat aber auch Filterfunktionen, wobei neben der Gewebsstruktur auch die elektrische Ladung für die Selektivität des Durchtritts von Molekülen verantwortlich ist.

2.2.1 Strukturproteine Wesentliche Strukturproteine sind die Kollagene und das Elastin. Kollagene und Elastin sind fibrilläre Polypeptide. Sie bilden ein Netzwerk und bestimmen die strukturellen und funktionellen Eigenschaften der Gewebe.

Kollagen Kollagene sind eine Familie fibröser Proteine, die 25–30% des Gesamtkörperproteins ausmachen. Kollagen ist Hauptbestandteil von Bindegewebe, Basalmembranen, Knochen, Knorpel und anderen spezialisierten mesenchymalen Geweben wie Kornea und Herzklappen. Nach Verteilung und Struktur lassen sich die Kollagene in interstitielle und basalmembranassoziierte Typen gliedern. Die Kollagene bestehen aus drei Polypeptidketten, die eine Tripelhelix bilden. Sie enthalten einen hohen Anteil an Glyzin, Prolin, Hydroxyprolin und Hydroxylysin. An den Enden der Moleküle finden sich kurze nichthelikale Abschnitte, die für die Quervernetzung der Moleküle verantwortlich sind. Die Kollagene werden in einer Vorläuferform (Prokollagen) synthetisiert, wobei dann eine Reihe von posttranslationellen Modifikationen (Hydroxylierungen, Glykosylierungen) abläuft. Durch proteolytische Abspaltung der amino- und carboxyterminalen Prokollagenpeptide entstehen die Kollagenmoleküle. Sie aggregieren dann zur Kollagenfibrille, die im elektronenmikroskopischen Bild eine deutliche Querstreifung zeigt (Abb. 2-5). Durch die tripelhelikale Struktur des Kollagens besteht eine erhöhte Resistenz gegenüber proteolytischen Enzymen. Ein Abbau im Organismus erfolgt durch spezifische Kollagenasen. Kollagenasen werden auch von Tumorzellen und Bakterien produziert und spielen eine Rolle bei der Tumorinvasion und bei entzündlichen Prozessen. Verschiedene Kollagentypen sind mit einzelnen Organen und Geweben assoziiert (Tab. 2-3). Im Rahmen pathologischer Prozesse (z.B. bei Fibrosen) kann es zu einer Änderung der Kollagenzusammensetzung kommen.

Abb. 2-5

Ultrastruktur einer Kollagenfaser.

Es zeigt sich eine deutliche Querstreifung.

Tab. 2-3

Wichtige Kollagentypen.

Typ Gewebs-/Organassoziation I Knochen, Sehnen, Haut, Faszien II hyaliner Knorpel III innere Organe, Gefäßwände, Haut IV Basalmembran

V Gefäßwand

Elastin Elastin ist ein Bestandteil elastischer Fasern und in größerer Menge in Geweben mit erhöhter Gewebselastizität (Bandapparat der Gelenke, Lungengerüst, Haut, Gefäße) vorhanden. Elastische Fasern bestehen aus einem amorphen Zentrum (bestehend aus Elastin) und peripher angeordneten Mikrofibrillen, die aus einem Glykoprotein, dem Fibrillin, bestehen und strukturelle Aufgaben für Bildung und Anordnung der elastischen Fasern erfüllen. Bei der Bildung der elastischen Faser erscheint die mikrofibrilläre Komponente zuerst.

2.2.2 Grundsubstanz Die kollagenen und die elastischen Fasern sind in eine amorphe „Grundsubstanz“ eingelagert. Diese besteht aus Hyaluronsäure, Proteoglykanen, diversen Glykoproteinen, Zellstoffwechselprodukten, Elektrolyten und Plasmaproteinen. Die Grundsubstanzkomponenten treten in Wechselwirkung mit Zellen und fibrillären Proteinen (Kollagen, Elastin). Durch Aggregation mit Hyaluronsäure kommt es zur Bildung großer Komplexe. In Kombination mit Strukturproteinen (z.B. Kollagen) bestimmen die Proteoglykane die biologischen Eigenschaften des Bindegewebes.

Hyaluronsäure Hyaluronsäure ist die Hauptkomponente der Grundsubstanz. Sie ist ein lineares Polysaccharid, bestehend aus D-Glukuronsäure und N-Acetyl-D-Glukosamin. Besonders große Mengen finden sich im Knorpel und in der Synovialflüssigkeit. Hyaluronsäure hat eine Schutzwirkung für Zellen und scheint auch Immunreaktionen zu beeinflussen. Die Interaktion von Hyaluronsäure mit Zellen erfolgt über Hyaluronsäurerezeptoren an Zelloberflächen. Ihre Synthese wird von Hormonen und Wachstumsfaktoren gesteuert. Sie spielt eine Rolle im Rahmen der Embryonalentwicklung und Differenzierung.

Proteoglykane Proteoglykane finden sich an Zelloberflächen, frei in der Grundsubstanz und auch in Assoziation mit Kollagen und Elastin. Proteoglykane bestehen aus einem Proteinanteil, an den ein oder mehrere Glykosaminoglykanketten kovalent gebunden sind. Zu den Proteoglykanen zählen Chondroitinsulfat, Dermatansulfat und Heparansulfat. Die Bedeutung der Proteoglykane ist komplex. Sie sind „Füllmittel“ in der Zwischensubstanz und verleihen ihr elastische Eigenschaften. Sie verbinden sich mit Kollagen (über spezifische Bindungsstellen) und spielen dabei eine Rolle bei der

strukturellen Organisation der kollagenen Fasern. In den Basalmembranen verbinden sich Proteoglykane mit Laminin, Kollagen Typ IV und Fibronektin und beeinflussen die Permeabilität der Basalmembran (wichtig z.B. bei der Basalmembran der Nierenglomerula). Proteoglykane an der Zelloberfläche stehen mit extra- (z.B. Fibronektin) und intrazellulären (z.B. Aktin) Komponenten in Verbindung und spielen eine Rolle bei der Regulation von Zell-Zell- und Zell-Matrix-Interaktionen. An Endothelzellen haben Proteoglykane durch Bindung von Thrombin antithrombotische Eigenschaften.

Fibronektine Es handelt sich um Glykoproteine, die im Organismus in löslicher (im Plasma) und gebundener Form (an Zellen) vorkommen. Sie werden von Fibroblasten, Epithelzellen, Endothelzellen, Schwann-Zellen und Makrophagen gebildet. Fibronektin bindet an Zelloberflächen, Fibrin, Glykosaminoglykane, DNA und Aktin. An Zelloberflächen existieren Rezeptoren für Fibronektin, die zur Gruppe der Integrine gehören. Im Organismus haben Fibronektine wichtige Funktionen für die Zell-Matrix-Bindung, bei der Bildung von Kollagenfasern, im Rahmen der Embryogenese, bei Blutgerinnung, Phagozytose, Wundheilung u.a.m. Moleküle mit ähnlichen Eigenschaften sind Chondronektin und Vitronektin.

Laminin Laminin kommt ausschließlich in Basalmembranen vor und bindet an Proteoglykane, Typ-IV-Kollagen und Zelloberflächen. Es fördert die Adhäsion von Epithelzellen an Kollagen Typ IV. Laminin spielt eine Rolle bei der Organisation der Basalmembran und im Rahmen der Embryogenese. Nidogen und Entaktin sind weitere Basalmembranglykoproteine mit lamininähnlichen Eigenschaften.

2.3

Funktion normaler Zellen

2.3.1 Energieproduktion Die Mitochondrien sind Sitz der für die Energieproduktion in der Zelle maßgeblichen Enzyme und Kofaktoren. Energie wird in Form von ATP (Adenosintriphosphat) aus dem oxidativen Abbau von Glukose, Fettsäuren und Aminosäuren erzeugt (Atmungskettenphosphorylierung). Die Energie wird dann aus der Speicherform ATP durch Dephosphorylierung frei.

2.3.2 Proteinsynthese Die synthetisierten Proteine umfassen Strukturproteine und Funktionsproteine (Plasmaproteine, Enzyme, Signaltransduktionsmoleküle, Transkriptionsfaktoren etc.).

Die Funktion eines Proteins ist durch die Aminosäuresequenz, die Faltung des Proteins sowie durch posttranslationelle Modifikationen, wie Phosphorylierung oder Glykosylierung, bestimmt. Die Aminosäuresequenz eines Proteins ist durch die Sequenz der Nukleotide in der DNA festgelegt. Von einer für ein Protein kodierenden DNASequenz wird durch das Enzym RNA-Polymerase eine RNA-Kopie hergestellt (Transkription). Diese RNA wird in mehreren Schritten zur Messenger-RNA (mRNA) processiert und aus dem Zellkern ins Zytoplasma transportiert, wo an den Ribosomen die Übersetzung der mRNA-Sequenz in ein Protein erfolgt (Translation). Ribosomen sind Komplexe, bestehend aus RNA-Molekülen (ribosomale RNA; rRNA) und mehr als 50 Proteinen, die in Form einer großen und einer kleinen ribosomalen Untereinheit organisiert sind. Da keine direkten Erkennungsmechanismen zwischen spezifischen Nukleinsäurebasen (der mRNA) und spezifischen Aminosäuren bestehen, bedarf es eines weiteren Moleküls, das als „Adaptermolekül“ (= Transfer-RNA, tRNA) wirkt und einerseits ein entsprechendes Codon in der mRNA und andererseits die entsprechende Aminosäure erkennt. An die tRNA ist ein Aminosäuremolekül gebunden (= Aminoacyl-tRNA), und dieser Komplex bindet dann an das Codon im mRNA-Strang. Ribosomen existieren in der Zelle entweder in freier Form als multiple, an einen mRNA-Strang gebundene Partikel (Polyribosomen) im Zytoplasma oder in membrangebundener Form auf der zytoplasmatischen Seite des rauen endoplasmatischen Retikulums. Dementsprechend werden synthetisierte Proteine entweder als lösliche Proteine direkt in das Zytosol der Zelle abgegeben, oder sie gelangen in das Lumen der tubulären Strukturen (Zisternen) des rauen endoplasmatischen Retikulums. Dieses ist an der Synthese sowohl von Membran- und Organellenproteinen als auch von sekretorischen (Export-)Proteinen beteiligt. Das raue endoplasmatische Retikulum findet sich vermehrt in sekretorischen Zellen (z.B. Azinusepithelzellen des Pankreas, Plasmazellen; siehe Abb. 2-1). Exportproteine gelangen aus den Zisternen des rauen endoplasmatischen Retikulums in das Lumen der Golgi-Vesikel, indem Membranvesikel (Transfervesikel) mit Membranen der CisRegion des Golgi-Komplexes fusionieren. Ihr Inhalt gelangt dann in die Trans-Region des Golgi-Komplexes. Der Golgi-Komplex bestimmt die „Richtung“ (das Ziel) der Proteine. Zu diesem Zweck werden die Proteine im Golgi-Komplex unter Einwirkung von Enzymen modifiziert und damit gleichsam mit einer „Adresse“ ihres Ziels versehen. Dies geschieht durch Glykosylierung, Sulfatierung, Kombination mit Fettsäuren oder Proteolyse, wodurch erst die volle Funktionsfähigkeit der Proteine erzielt wird. Zum Beispiel kommt es im Golgi-Komplex zur Konversion von Proinsulin zu Insulin. Nach der Modifikation werden die sekretorischen Proteine (von der Trans-Seite des GolgiKomplexes) in sekretorischen Vesikeln abtransportiert. Sie verschmelzen mit der Plasmamembran und geben ihren Inhalt in den Extrazellularraum ab. Dieser Prozess wird als Exozytose bezeichnet (Abb. 2-6). Sekretorische Vesikel können aber auch als intrazelluläre Reservoirs für Sekretproteine bestehen bleiben, die ihren Inhalt erst auf ein entsprechendes Signal, z.B. Hormonstimulus, in den Extrazellularraum abgeben. Auch innerhalb der Zelle besteht eine Kommunikation zwischen Zellorganellen über Vesikel, die Membranbestandteile und Inhaltssubstanzen von einer Organelle zur anderen

transportieren. Daneben werden Proteine und partikuläres Material auch in die Zelle eingeschleust. Dieser Prozess wird als Endozytose bezeichnet. Dabei kommt es zu einer Invagination eines Plasmamembranabschnitts und zur Ausbildung von Vesikeln, die das aufgenommene Material enthalten und von einer Eiweißhülle (= Clathrin) umgeben sind (= „coated vesicles“). Diese fusionieren mit den Lysosomen, in denen das endozytierte Material abgebaut wird (Abb. 2-6). Die Makrophagen sind für diese Vorgänge besonders spezialisiert. Sie haben auch die Fähigkeit, Bakterien aufzunehmen und abzubauen. Bei Störung dieser Fähigkeit besteht eine erhöhte Empfänglichkeit gegenüber bakteriellen Infektionen.

Abb. 2-6 Mechanismen von Endozytose, Exozytose und Phagozytose. ER = endoplastisches Retikulum.

2.3.3 Membrantransportprozesse Die Zellmembran reguliert den Stoffaustausch zwischen Intra- und Extrazellularraum im Rahmen aktiver und passiver Transportprozesse. Die Zellmembran wirkt als semipermeable Barriere zwischen dem Zellinneren und dem Extrazellularraum. Die hohe Selektivität der Membranpermeabilität bewirkt, dass Glukose, Aminosäuren und Lipide in die Zelle eintreten und Abbauprodukte die Zelle verlassen können. Darüber hinaus bewirken die intrazellulären Membranen der Organellen eine weitere Unterteilung in Kompartimente innerhalb der Zelle. Eine wichtige Funktion der Zellmembran ist die Aufrechterhaltung der intrazellulären Ionenzusammensetzung. So sind z.B. die intrazelluläre Na+-Konzentration 10- bis 40fach und die intrazelluläre freie Ca2+-Konzentration 1000fach niedriger, während die intrazelluläre K+-Konzentration 20- bis 40fach höher als im Blut ist. Erzeugung und

Aufrechterhaltung dieser Ionengradienten erfordern einen hohen Energieaufwand (z.B. ATP-abhängige Na+-K+-Pumpe). Der transmembranöse Transport kann aktiv oder passiv sein. Im Rahmen des aktiven Transports wird Energie benützt, um Moleküle oder Ionen gegen einen elektrochemischen Gradienten zu transportieren. So wird z.B. die niedrige intrazelluläre Na+-Konzentration durch die Na+-K+-ATPase aufrechterhalten, einem in der Zellmembran lokalisierten Transportsystem, das Na+ (im Austausch mit K+) nach außen transportiert. Ionengradienten sind für viele biologische Prozesse wichtig. Die transmembranösen Na+-K+-Gradienten sind z.B. für die Leitung eines elektrischen Impulses im Axon der Nervenzelle verantwortlich. Kalzium liegt in der Zelle in einer Konzentration unter einem Mikromol, im Blut dagegen in millimolarer Konzentration vor. Reguliert wird dieser Konzentrationsgradient durch die Ca2+-ATPase. Die zelluläre Ca2+-Konzentration ist für eine Reihe von biologischen Vorgängen bedeutsam. Eine Ca2+-Erhöhung führt z.B. in der Muskelzelle zur Kontraktion, in der exokrinen Pankreaszelle zur Sekretion. Eine ATP-abhängige H+-Pumpe in den lysosomalen Membranen bewirkt den niedrigen inneren pH in diesen Organellen. Der passive Membrantransport entspricht hingegen einem Diffusionsprozess, wobei Ionen oder Moleküle die Membran entlang ihrem elektrochemischen oder Konzentrationsgradienten durchdringen, ohne dabei Energie zu benötigen. Bei der einfachen Diffusion erfolgt die Membranpassage ohne Vermittler (dies ist z.B. der Fall bei Gasen wie Sauerstoff oder Kohlendioxid oder bei Alkohol). Bei der erleichterten Diffusion wird der Membrandurchtritt durch spezifische Transportproteine (Permeasen) erleichtert. So wird z.B. der Transport von Glukose durch Glukosetransportproteine erleichtert. Der Transport von Chlorid- und Bikarbonatanionen wird durch das Anionenaustauschprotein ermöglicht. Import oder Export von kleinen Molekülen entgegen einem Konzentrationsgradienten kann auch durch Kopplung ihres Transports mit dem eines anderen Moleküls oder Ions, z.B. H+ oder Na+, erreicht werden. Zum Beispiel treten Glukose und Aminosäuren gekoppelt mit einem Einstrom von Na+ in Zellen ein, ein Prozess, der als Symport bezeichnet wird, während in Herzmuskelzellen der Ausstrom von Ca2+ an den Einstrom von Na+ gekoppelt ist (Antiport). Der Wasserfluss wird entweder durch den hydrostatischen oder den osmotischen Druck (z.B. Ionensekretion) dirigiert. Die Membran vieler Zellen zeigt einen lokal unterschiedlichen Aufbau, wobei unterschiedliche Membransegmente unterschiedliche Permeasen und andere Proteine enthalten und damit unterschiedliche Transportvorgänge ermöglichen. Zum Beispiel werden in der Darmepithelzelle Glukose und Aminosäuren über die apikale Membran aus dem Darmlumen aufgenommen und über die basolaterale Membran in das Blut abgegeben. Bei der Pinozytose werden kleine Zellmembranabschnitte als Vesikel, die extrazelluläre Flüssigkeit enthalten, in das Zellinnere aufgenommen. Bei rezeptormediierter Endozytose binden Viren, Proteine oder Oligosaccharide zuerst an spezifische Rezeptorproteine an der Zellmembran, und diese Membranregionen werden dann als Vesikel (oft von Clathrin bedeckt) aufgenommen. Viele endozytierte Substanzen werden

lysosomal abgebaut, die Rezeptoren können hingegen wieder an die Plasmamembran zurückkehren („recycling“). Die Aufnahme großer Partikel (einschließlich Bakterien) wird als Phagozytose bezeichnet (wird auch über spezifische Rezeptoren mediiert!).

2.3.4 Intrazelluläre Abbau- und Entgiftungsvorgänge In die Zelle aufgenommene Substanzen, aber auch intrazelluläre Komponenten werden durch biochemische Reaktionen ab- oder umgebaut. Körpereigene, aber auch fremde Substanzen, z.B. Steroide, Hormone, Medikamente oder Umweltgifte, werden durch ein im glatten endoplasmatischen Retikulum lokalisiertes Enzymsystem durch Oxidation, Reduktion, Hydrolyse und Konjugation transformiert (Biotransformation) und damit häufig in besser wasserlösliche und über die Nieren ausscheidbare Substanzen umgewandelt. Auf diese Weise kann es (muss es aber nicht) zur Entgiftung kommen. Für einige dieser Reaktionen (einschließlich Hydroxylierung, Demethylierung etc.) ist ein NADPH-Cytochrom-P450-abhängiges Enzymsystem verantwortlich. Die Biotransformation geschieht vor allem in der Leber. Dieses Biotransformationssystem ist weitgehend substratunspezifisch und kann daher ein großes Spektrum von Substanzen, einschließlich Medikamenten, metabolisieren. Es kann in seiner Menge und damit in seiner Wirkung durch vermehrt anfallende Substrate gesteigert werden, ein Phänomen, das als Enzyminduktion bezeichnet wird. Morphologisch äußert sich dies in einer Vermehrung des glatten endoplasmatischen Retikulums. Dadurch wird verständlich, dass sich unterschiedliche Substanzen, z.B. Medikamente, über Induktionseffekte, aber auch Konkurrenz um das Enzymsystem gegenseitig beeinflussen können.

2.3.5 Zytoskelett Das Zytoskelett dient der Stabilität und Organisation, aber auch der Motilität von Zellen und Zellorganellen. Zellen – und damit Organe und Organismen – sind nicht statische, wie dies oft bei oberflächlicher Betrachtung erscheinen mag, sondern dynamische und mobile Strukturen. Zellbewegung spielt nicht nur eine wichtige Rolle für die Entwicklung von Geweben und Organen während der Embryonalperiode, sondern auch im Rahmen der Wundheilung (wenn ein Defekt durch Zellen gedeckt oder ersetzt wird), bei Phagozytose und bei Einwandern von Zellen bei Entzündung. Intrazelluläre Bewegung von Organellen spielt eine wesentliche Rolle bei Sekretionsprozessen (z.B. Transport von sekretorischen Vesikeln). Für die Zellmobilität sind die Aktinmikrofilamente (Aktin-Myosin-System) und die Mikrotubuli als dynamische (vergleichbar dem „Muskel“) und die Intermediärfilamente als mehr statische (vergleichbar dem „knöchernen Skelett“) Komponenten wesentlich. Assoziierte Proteine sorgen für Interaktion und Koordination der einzelnen Komponenten.

2.3.6 Zell- und Gewebeinteraktion Die Entwicklung (und Funktion) von Geweben, Organen und Organismen aus Zellen und Zellprodukten erfordert ein hohes Maß an Koordination und Kommunikation zwischen den einzelnen Partnern. Dies wird normalerweise durch Botenstoffe bewirkt, die entweder direkt von Zelle zu Zelle wirken oder auf humoralem Wege (über Blut oder Gewebsflüssigkeit) ihr Ziel erreichen. Diese Botenstoffe (Signalstoffe) können Ionen, kleine Proteine oder auch komplexe Makromoleküle sein. Autakoide sind Verbindungen, die lokal freigesetzt werden, auf kurze Distanz wirken und schnell inaktiviert werden. Dazu gehören die von Endothelzellen freigesetzten Substanzen mit Wirkung auf den Gefäßtonus und die Thrombozytenaktivität. Prostazyklin führt z.B. zu einer Erschlaffung der glatten Muskulatur und zur Hemmung der Thrombozytenaggregation. Endothelin ist eine potente vasokonstriktive Substanz, die von Endothelzellen synthetisiert wird. Stickstoffmonoxid (NO) spielt eine wichtige Rolle bei vielen physiologischen und pathologischen Prozessen. Die Bildung erfolgt im Rahmen einer enzymatisch gesteuerten Reaktion von L-Arginin mit Sauerstoff. Die entsprechenden Enzyme (NO-Synthetase) sind in vielen Zellen (z.B. Endothelzellen, Makrophagen) vorhanden. Im zentralen und peripheren Nervensystem wirkt NO hemmend auf die Neurotransmission und bewirkt damit z.B. eine Erschlaffung der glatten Muskulatur in Darm und Lunge (Bedeutung für Darmparalyse!). In Gefäßen kontrolliert NO den Gefäßtonus (vasodilatorische Wirkung) und beeinflusst die Wirkung anderer Vasodilatatoren (z.B. Substanz P). NO spielt daher eine Rolle bei pathologischen kardiovaskulären Prozessen (Hypertonie, Atherosklerose). Durch NO wird die Thrombozytenaggregation gehemmt, die endotheliale Leukozytenadhäsion gesteigert. Als Radikal entfaltet es einen zytotoxischen Effekt (z.B. auf Bakterien). Die NO-Produktion (insbesondere in Makrophagen) wird durch Zytokine und Endotoxin stimuliert und hat daher seine Bedeutung im Rahmen entzündlicher Prozesse. Ferner ist NO ein Hauptvermittler des Endotoxinschocks (= septischer Schock, siehe Kap. 7.10). Eine erhöhte NO-Produktion führt zu Hypotension und Gewebsnekrosen. Auch in Tumoren spielt NO eine wesentliche Rolle für die Unterhaltung der Durchblutung. Die für die Zell- und Organfunktion wichtige Orientierung und Polarität der Zellen wird durch entsprechende Zellverbindungen bewirkt, die Zell-Zell-, aber auch Zell-StromaKontakte (z.B. Kontakt mit der Basalmembran) herstellen.

Interzelluläre Kommunikation Bei der klassischen endokrinen Wirkung wird der Botenstoff, d.h. das Hormon, in den Blutstrom abgegeben und erreicht dadurch die Zielzelle. Der parakrine Botenstoff wirkt auf die in unmittelbarer Nachbarschaft der sezernierenden Zelle liegenden Zellen (siehe Abb. 13-B). Im Rahmen der autokrinen Stimulation beeinflusst sich die Zelle selbst, indem sie über Rezeptoren für ihr eigenes Sekretionsprodukt verfügt (z.B. für Wachstumsfaktoren).

Mechanismen der Signalübertragung Signalstoffe lösen nach Bindung an die in der Zellmembran verankerten spezifischen Rezeptoren eine sekundäre Signalreaktion aus, die zur Stimulation der betroffenen Zelle führt. Die unterschiedlichen Rezeptoren leiten auf die Zelle einwirkende Signale über eine Kaskade an Signalübertragungsmolekülen (die meisten Signalübertragungsmoleküle sind Proteinkinasen) an den Zellkern weiter. Die einzelnen Signalübertragungswege sind mehrfach untereinander verbunden, sodass ein intrazelluläres Signalübertragungsnetzwerk resultiert, das ähnlich wie ein neuronales Netzwerk Informationen integriert und weiterleitet. Daneben existieren aber auch direkte Signalübertragungsmechanismen über intrazelluläre (nukleäre oder zytoplasmatische) Rezeptoren, wie z.B. für Steroide und Schilddrüsenhormone. Die Bindung eines Signalstoffs (Ligand) an einen Rezeptor kann auch zu Öffnung oder Verschluss eines Ionenkanals in der Zellmembran und damit zu einer entsprechenden Reaktion der Zelle führen (Abb. 2-7). ■ Rezeptor-Tyrosinkinasen. Rezeptor-Tyrosinkinasen übermitteln interzelluläre Signale, die viele zelluläre Reaktionen, wie Proliferation, Zelldifferenzierung und Überleben, über ein komplexes intrazelluläres Signalnetzwerk regulieren. An diesen Prozessen sind Ras, mitogenaktivierte Proteinkinase (MAP-Kinase) und andere Moleküle beteiligt. Im Rahmen dieser Reaktionen bindet die extrazelluläre Domäne der Rezeptor-Tyrosinkinase den entsprechenden Liganden und bildet dabei ein Dimer. In der Folge phosphorylieren die intrazellulären Tyrosinkinasedomänen gegenseitig zytoplasmatische Tyrosinreste im Rezeptor (Transautophosphorylierung) und setzen eine Kaskade von intrazellulären Signalmechanismen in Aktion (Ras, Raf, MAP-Kinase etc.), über die es schließlich über Phosphorylierung von Transkriptionsfaktoren zu einer entsprechenden Beeinflussung der Genexpression kommt (Abb. 2-7). In diese Gruppe von Rezeptoren gehören z.B. die Rezeptoren für den epidermalen Wachstumsfaktor (EGF), den Fibroblastenwachstumsfaktor (FGF) oder Her-2. ■ Rezeptoren in Verbindung mit G-Protein. Diese Rezeptoren haben 7 Domänen, welche die Zellmembran durchsetzen und im Zellinneren mit G-Proteinen assoziiert sind. Das G-Protein besteht aus mehreren Untereinheiten (α, β, γ), von denen die α-Untereinheit GTP und GDP bindet und auch mit der Adenylatzyklase assoziieren kann. G-Protein ist somit das Bindeglied zwischen dem Hormonrezeptor und der Adenylatzyklase und vermittelt die durch die Hormonbindung bedingte Konformationsänderung des Rezeptors an dieses Enzym. Auf diese Weise funktioniert z.B. der β-adrenerge Rezeptor für Adrenalin und Noradrenalin. Das resultierende zyklische AMP wirkt als „second messenger“ und steuert verschiedene Enzymreaktionen, wie z.B. die Aktivierung der Proteinkinase A, die wiederum bestimmte Transkriptionsfaktoren aktivieren kann (Abb. 2-8). Dieser Signalübertragungsweg kann durch die Gabe von Hormonantagonisten gehemmt

werden. Auch die Wirkung mancher Toxine ist auf die irreversible Blockade von GProteinen zurückzuführen. ■ Rezeptoren in Verbindung mit Ionenkanälen. Durch die Bindung des Liganden an einen mit einem Ionenkanal assoziierten Rezeptor kommt es zu einer Änderung des zellulären Ionengleichgewichts und damit zu entsprechenden funktionellen Zellveränderungen. ■ Signalübertragung über intrazelluläre Rezeptoren. Die im Zytoplasma oder direkt im Zellkern vorhandenen Rezeptoren für Steroide oder Schilddrüsenhormon binden in Anwesenheit des Hormons an bestimmte DNA-Sequenzen und steuern die Transkription der durch diese Hormone regulierten Gene.

Abb. 2-7 Schematische Darstellung von Signalübertragungswegen, die Teilung und Funktion von Zellen steuern.

Ras-Raf-MAP-Kinase-Weg: Wachstumsfaktoren, die an Rezeptor-Tyrosinkinasen binden, aktivieren über Adaptormoleküle (SOS, Grb) das in der Zellmembran verankerte Protoonkogen Ras. Ras wiederum aktiviert die Proteinkinase Raf, die ihrerseits durch Phosphorylierung die mitogenaktivierte Proteinkinase-Kinase (MAP-KK) aktiviert. Aktivierte MAP-KK (MAP-KKa) führt über Phosphorylierung von MAP-Ki zur Aktivierung der MAP-Kinase (MAP-Ka). MAP-Ka bewirkt die Umsetzung des Wachstumsfaktorsignals, indem sie unter anderem Transkriptionsfaktoren (TF) phosphoryliert und da-durch die Synthese bestimmter mRNA induziert. G-Protein-gekoppelte Rezeptoren durchsetzen die Zellmembran 7-mal und können von unterschiedlichsten Faktoren stimuliert werden. Die Weiterleitung des Signals erfolgt über G-Proteine, die bestimmte Enzyme, wie die Adenylatzyklase (AC) oder die Phospholipase C (PLC) aktivieren. AC führt zur Produktion von cAMP,

das die Proteinkinase A (PKA) aktiviert. PKA beeinflusst die Genexpression durch Phosphorylierung bestimmter Transkriptionsfaktoren. Die Signalübertragungswege der Rezeptor-Tyrosinkinasen und der G-Proteingekoppelten Rezeptoren sind miteinander verbunden, da beide Rezeptoren PLC aktivieren, die Phosphatidylinositol-biphosphat (PIP2) in Diacylglycerol (DAG) und Inositol-triphosphat (InsP3) spaltet. DAG ist ein Aktivator der Proteinkinase C (PKC), die dann ihre Wirkung auf die Genexpression über Phosphorylierung von Transkriptionsfaktoren entfaltet. Das gleichzeitig mit DAG entstandene InsP3 bewirkt eine intrazelluläre Freisetzung von Ca2+, das neben einer Reihe anderer Effekte die Ca-Calmodulin-abhängige Kinase (CaMK) aktiviert. CaMK kann in der Folge bestimmte Transkriptionsfaktoren phosphorylieren. Zytokine entfalten ihre Wirkung auf Zellen durch Bindung an eine eigene Rezeptorklasse, die zur Aktivierung der Janus-Kinase (JAK) führen. JAK wiederum phosphoryliert STAT, das dann dimerisiert und in den Zellkern gelangt, wo es als Transkriptionsfaktor wirkt. Im Gegensatz zu den oben beschriebenen Signalübertragungswegen wirken Steroidhormone durch Bindung an ihre Rezeptoren (= Transkriptionsfaktoren) direkt auf den Zellkern. Das Schema zeigt, dass auf Zellen einwirkende Signale intrazellulär über mehrere Stufen, die teilweise miteinander vernetzt sind, weitergeleitet werden, wobei diverse Proteinkinasen zentrale Informationsträger sind.

Abb. 2-8 Mechanismus der G-Protein-vermittelten Signal-transduktion.

1. In einer Zelle ohne an den Rezeptor gebundenen Liganden (z.B. Hormon) enthält die α-Untereinheit des G-Proteins (Gα) GDP. In diesem Zustand ist die α-Untereinheit mit den β- und γ-Untereinheiten assoziiert und kann keine Bindung mit der Adenylatzyklase eingehen.

2. Bei Bindung eines Hormons an den Rezeptor wird die Rezeptorkonformation verändert, sodass eine Bindung an G-Protein mög-lich wird. Gleichzeitig wird GDP durch GTP ersetzt. Die α-Untereinheit des G-Proteins dissoziiert von den β-, γ-Untereinheiten, bindet an die Adenylatzyklase und aktiviert diese. ATP wird in cAMP umgewandelt. 3. An Gα gebundenes GTP ist sehr kurzlebig und hydrolysiert zu GDP. Dies führt zu einer Trennung von Gα von der Adenylatzyklase, zur Inaktivierung des Enzyms und zur Reassoziation von Gα mit Gβ,γ.

2.3.7 Zellteilung (Mitose) und Zellproliferation In den meisten Geweben und Organen finden eine kontinuierliche Proliferation und Erneuerung der Zellen statt. Davon ausgenommen sind Gewebe, die aus nicht mehr teilungsfähigen Zellen bestehen (z.B. Nervengewebe). Die Zellproliferation steht normalerweise unter strikter Kontrolle und wird insbesondere durch Wachstumsfaktoren sowie Zell-Zell-Interaktionen, aber auch Zell-Matrix-Interaktionen reguliert. Im Rahmen der Mitose kommt es zur Replikation der DNA und damit zur Weitergabe der diploiden genetischen Information an die Tochterzellen. Kontrollmechanismen sorgen für die Identität der synthetisierten DNA-Kopien und für die korrekte Aufteilung auf die Tochterzellen. Bei der Produktion von Gameten (Eizelle, Spermien) im Rahmen der Meiose wird hingegen der diploide Chromosomensatz zu einem haploiden reduziert.

Zellzyklus Unter Zellzyklus werden die Vorgänge zwischen zwei Zellteilungen (Mitosen) verstanden. Der Zellzyklus besteht aus vier Schritten, wobei die M (Mitose)-Phase und die Interphase (bestehend aus G1-, S-, G2-Phase) unterschieden werden (Abb. 2-9). ■ G0 (Gap)-Phase. In dieser Phase erfüllen die Zellen ihre spezifischen Funktionen. ■ G1 (Gap)-Phase. In dieser Phase induzieren äußere Faktoren den Zellteilungsprozess. ■ S (Synthese)-Phase. In dieser Phase kommt es zu einer Verdoppelung der DNA. ■ G2 (Gap)-Phase. Nach der DNA-Verdoppelung erfolgt in der G2-Phase die Vorbereitung für die Mitose. ■ M (Mitose)-Phase. Diese Phase umfasst Pro-, Meta-, Ana- und Telophase der Mitose mit dem Resultat von zwei Tochterzellen.

Regulatorische Mechanismen Abb. 2-9 Zellzyklus.

Die Teilung einer Zelle ist eine besonders kritische Phase, in der Störungen schwerwiegende Folgen wie z.B. das Auftreten von Mutationen oder den Zelltod haben können. Daher ist es erforderlich, dass die einzelnen Phasen des Zellzyklus exakt gesteuert und kontrolliert werden. Der erste kritische Schritt ist die Einleitung des Teilungsvorgangs, bei dem eine ruhende Zelle von der G0-Phase (ein besonderer Abschnitt der G1-Phase, in der sich Zellen oft jahrelang befinden und ihre spezifischen Funktionen erfüllen) wieder in die G1-Phase eintritt. Dieser G0-G1-Übergang wird zum Beispiel durch Wachstumsfaktoren ausgelöst (Tab. 2-4). Durch die Bindung von Wachstumsfaktoren an die entsprechenden Rezeptoren an der Zelloberfläche werden in der Zelle Reaktionen ausgelöst (siehe Abb. 2-7 und 2-8), wodurch die Proteinkinasen, welche die einzelnen Phasen des Zellzyklus steuern, aktiviert werden. Diese Proteinkinasen setzen sich aus zwei Untereinheiten zusammen: 1. aus einer regulatorischen Einheit (Zyklin), die in bestimmten Phasen des Zellzyklus in der Zelle akkumuliert und aktiviert wird, und 2. aus einer katalytischen Einheit (= zyklinabhängige Kinase, CdK), die durch Phosphorylierung von Transkriptionsfaktoren und einer Vielzahl von Zellproteinen die DNA-Replikation und den Teilungsvorgang reguliert. Beim G0-G1-Übergang phosphorylieren Zyklin-ECdK und Zyklin-D-CdK das Retinoblastomprotein, das den Transkriptionsfaktor E2F gebunden hat. Durch die Phosphorylierung des Retinoblastomproteins wird der Transkriptionsfaktor E2F freigesetzt, der insbesondere jene Gene aktiviert, welche die Zelle für die DNA-Replikation benötigt (Abb. 2-10).

Tab. 2-4

Wachstumsfaktoren (Beispiele).

epidermaler Wachstumsfaktor (EGF) Plättchenwachstumsfaktor (PDGF) Insulin-ähnlicher Wachstumsfaktor (IGF) Fibroblastenwachstumsfaktor (FGF) transformierender Wachstumsfaktor (TGF) Kolonie-stimulierender Faktor (CSF) Interleukine Erythropoetin Tumornekrosefaktor (TNF) Nervenwachstumsfaktor (NGF) Bombesin

Abb. 2-10 Einleitung der Zellteilung (G0-G1Übergang).

Das von Wachstumsfaktoren ausgelöste Signal führt unter anderem zur Aktivierung von Transkriptionsfaktoren, welche die Synthese der Zykline D und E zur Folge haben. Die Zykline bilden gemeinsam mit den in der Zelle vorhandenen zyklinabhängigen Kinasen (CdK) Proteinkinasekomplexe, die das Retinoblastomprotein (Rb) phosphorylieren. Dadurch wird der an Rb gebundene Transkriptionsfaktor E2F frei und kann jene Gene induzieren, welche die Zelle für die Replikation der DNA benötigt. Die Aktivität des Zyklin-CdK-Komplexes kann durch inhibitorisch wirkende Proteine wie p16, p21 und p27 (Inhibitoren) gehemmt werden. Die Replikation der DNA ist die kritischste Phase im Zellzyklus. Kontrollmechanismen gewährleisten, dass einerseits die DNA-Replikation nur dann erfolgt, wenn keine schwer wiegenden DNA-Schäden (wie sie etwa durch Bestrahlung ausgelöst werden) vorliegen, und andererseits der Übergang in die G2-Phase und

Mitose nur dann stattfindet, wenn die DNA-Replikation vollständig und auf Fehlerfreiheit überprüft ist. Der Übergang von der G2- in die M-Phase wird durch Zyklin-B-CdK2 (= mitosis promoting factor) gesteuert. Zyklin-B-CdK2 bewirkt die Phosphorylierung von Histonen, Laminen und anderen Zellkernbestandteile und ist somit für Chromosomenkondensation, Auflösung der Kernmembran und weitere zelluläre Veränderungen maßgeblich.

Störungen der Zellzyklusregulation als Ursache der Tumorentstehung Fehler in der Zellzyklusregulation können unkontrolliertes Zellwachstum und somit die Entstehung eines Tumors zur Folge haben. Wie die Untersuchung von Tumoren ergab, können Fehler auf allen Ebenen der Wachstumssteuerung (Wachstumsfaktoren, Wachstumsfaktorrezeptoren, intrazelluläre Signalübertragung, Transkriptionsfaktoren, Zyklin-CdK und deren Inhibitoren, Retinoblastomprotein, Kontrollmechanismen der DNA-Replikation; siehe Kap. 6.3 und Tab. 6-6 und 6-7) auftreten. So wurde gezeigt, dass der Ausfall des Retinoblastomproteins durch Mutation (z.B. bei Menschen mit Retinoblastom) oder durch Bindung von Virusproteinen an das Retinoblastomprotein (z.B. bei HPV-induziertem Zervixkarzinom) eine ständige Freisetzung von E2F zur Folge hat, was einem permanenten Wachstumsstimulus gleichkommt und zur Tumorentstehung führt.

Zellzyklus bei unterschiedlichen Zelltypen Unterschiedliche Zelltypen verhalten sich bezüglich des Zellzyklus unterschiedlich. Sich schnell teilende Zellen zeigen eine kurze, sich langsam teilende Zellen zeigen eine lange G1-Phase (unterschiedlich lange Verweildauer in der G0-Phase). Manche Zellen, z.B. Leberzellen, sind sehr stabil und verbleiben nach der Mitose lange in der Ruhephase (G0). Sie treten erst wieder nach Stimulation (z.B. Organschädigung mit Zelluntergang) in den Zellzyklus ein. Andere Zellen (z.B. Nervenzellen) können nach Ausdifferenzierung keinen Zellzyklus mehr durchmachen. Demnach lassen sich Zellen (und damit Gewebe) nach ihrer proliferativen Potenz unterteilen in: –

labile Zellen/Gewebe mit kontinuierlicher Zellerneuerung

– stabile Zellen/Gewebe mit langsamer, aber bei Schädigung stimulierter Zellerneuerung – permanente Zellen/Gewebe mit terminaler Differenzierung ohne Möglichkeit der Zellteilung und damit des Zellersatzes.

■ Labile Zellen/Gewebe. Dazu gehören die Schleimhäute des Gastrointestinal-, des Urogenital- und des Respirationstraktes, die Epidermis, das blutbildende Knochenmark und das lymphatische System. In diesen Geweben durchlaufen aber nicht alle Zellen den Zellzyklus. Die kontinuierliche Erneuerung der Zellen eines Gewebes erfolgt durch Teilung von Reservezellen (Abb. 2-11). Aus der Teilung von Reservezellen können wieder Reservezellen oder Tochterzellen, die terminal differenzieren und damit in den meisten Fällen nicht mehr teilungsfähig sind, hervorgehen. Neben den Reservezellen gibt es noch die Stammzellen, die sich wesentlich seltener als Reservezellen teilen und nur in besonderen Situationen zur Erneuerung von Reservezellen beitragen. Stammzellen sind meist pluripotent, d.h., sie können zu unterschiedlich differenzierten Tochterzellen führen (z.B. Entwicklung von Zellen der erythropoetischen, granulozytopoetischen, megakaryozytopoetischen und lymphozytopoetischen Reihe aus einer Knochenmarkstammzelle oder Entwicklung von Hepatozyten und Gallengangsepithelien aus einer gemeinsamen Stammzelle). Stammzellen sind in allen Entwicklungsphasen des Menschen vorhanden und haben – abhängig von der Art der Stammzelle – die Fähigkeit, sich in nahezu alle (pluripotente Stammzellen) oder mehrere Zelltypen (multipotente Stammzellen) eines Organismus zu entwickeln. Embryonale Stammzellen (ES) können aus menschlichen Embryonen um den 5. Tag nach der Befruchtung aus der inneren Zellmasse von Blastozysten gewonnen werden, wobei die Blastozysten zerstört werden müssen. ES können sich zwar nicht mehr zu einem Menschen entwickeln, haben jedoch das Potenzial, sich zu allen Zelltypen eines Menschen zu differenzieren und zum Aufbau bzw. zur Regeneration diverser Organe und Gewebe, wie Herz, Leber, Gehirn oder Knorpel- und Knochengewebe beizutragen. Pluripotente Stammzellen können auch noch zu einem späteren Entwicklungszeitpunkt (bis zur 9. Woche) von abgetriebenen Feten aus den Anlagen der Keimgewebe isoliert werden (primordiale Keimzellen oder Urgeschlechtszellen). Neben ES und primordialen Keimzellen gibt es im Nabelschnurblut sowie auch noch in diversen Organen des Erwachsenen, wie Knochenmark, Gehirn und Bindegewebe, Stammzellen mit großem Entwicklungspotenzial (multipotente Stammzellen). ■ Stabile Zellen/Gewebe. Dazu gehören Leber und endokrine Organe. In diesen Organen finden sich unter normalen Umständen nur wenige mitotische Zellen. Die Mitoserate kann aber bei Schädigung drastisch stimuliert werden und damit zur Regeneration führen. ■ Permanente Zellen/Gewebe. Dazu gehören Nerven-, Herzmuskel- und Augenlinsenzellen.

Abb. 2-11

2.4

Zellerneuerung und Differenzierung.

Zelldifferenzierung

Definition Unter Differenzierung wird die Entwicklung verschiedener Zelltypen mit spezialisierten Funktionen und damit auch unterschiedlicher Morphologie verstanden. Im reifen Organismus lassen sich ca. 200 verschiedene Zelltypen unterscheiden.

2.4.1 Mechanismen der Differenzierung Die Entwicklung von der befruchteten Eizelle zum reifen Organismus verläuft über Zellvermehrung (durch Zellteilung) und Differenzierung mit der Bildung neuer Zelltypen. Im erwachsenen Organismus finden sich dann einerseits Zellen, die

normalerweise nicht mehr teilungsfähig sind (z.B. Nervenzellen), während sich andere Gewebe durch Zellteilung erneuern. Diese Regeneration geht im Allgemeinen von Stamm- und Reservezellen aus (siehe Abb. 2-11). Für Teilung und Differenzierung der Stammzellen sind Zell-Zell-Interaktionen und Wachstumsfaktoren wichtig. Somit sind Stammzellen für die Zellerneuerung in den Geweben während der ganzen Lebenszeit des Individuums verantwortlich. Die Differenzierung geht mit Aktivierung oder Hemmung der Expression von Genen einher, gesteuert durch DNA-Sequenzen, die als Promoter oder Verstärker dienen. Die Differenzierungsrichtung von Zellen ist bereits einige Zeit vor der Ausbildung der Differenzierungscharakteristika in der Zelle festgelegt. Dieser Zustand wird als Determination bezeichnet. Wird eine determinierte Zelle in einem Embryo an eine andere Stelle transplantiert, so entwickelt sie sich zu einer differenzierten Zelle, die der ursprünglichen Position (Determination) entspricht. Bei nichtdeterminierten Zellen entwickelt sich hingegen nach Transplantation eine Zelle mit den Differenzierungscharakteristika der neuen Position. Für die Differenzierung sind einerseits zytoplasmatische Determinanten noch unbekannter Art und andererseits auch die Wirkung umgebender Zellen und Gewebe verantwortlich. Dieser letztgenannte Effekt wird als Induktion bezeichnet. Dabei dürften diverse Wachstumsfaktoren, wie bei der Induktion mesenchymaler Gewebe der Fibroblastenwachstumsfaktor, aber auch der transformierende Wachstumsfaktor (TGF-β), eine Rolle spielen. Bei der Teilung differenzierter Zellen im reifen Organismus bleiben die Differenzierungscharakteristika in den Tochterzellen erhalten. Der Differenzierungsstatus wird aber von Umweltfaktoren beeinflusst. Dies zeigt sich in der Modifikation von Zellen unter Zellkulturbedingungen in vitro, wobei es zu einer Änderung der Syntheseleistungen (z.B. Verminderung der Albuminsynthese durch Leberzellen) oder von Zytoskelettkomponenten (z.B. Vimentinsynthese durch Epithelzellen) kommt. Durch Änderung der Kulturbedingungen (z.B. andere Nährstoffe oder Substrate, Kokultivation mit anderen Zellen) kann eine Änderung der Genexpression erreicht werden. Damit können auch Einsichten in Regulation und Grundlagen der Genexpression im Rahmen von Differenzierungsvorgängen gewonnen werden.

2.4.2 Transdifferenzierung Unter Transdifferenzierung wird die direkte Umwandlung eines differenzierten Zelltyps in einen anderen verstanden, wobei es zu Änderungen der Genexpression und damit auch der Zellmorphologie und Zellfunktion kommt. Eine wesentliche Rolle spielen dabei die extrazelluläre Matrix und die gegenseitige Beeinflussung von Zellen (Zell-Zell-Interaktion). Transdifferenzierungsvorgänge finden sich im Rahmen der Embryonalentwicklung (z.B. Umwandlung von Epithelzellen in Mesenchymzellen) und auch unter Zellkulturbedingungen.

2.4.3 Dedifferenzierung Unter Dedifferenzierung wird ein Verlust von Differenzierungsmerkmalen verstanden. Derartige Veränderungen werden z.B. im Rahmen der Tumorentstehung und bei länger dauernder Kultivierung differenzierter Zellen beobachtet (z.B. Knorpelzellen, die unter Zellkulturbedingungen fibroblastenähnliche Eigenschaften annehmen).

2.5

Regeneration

Unter Regeneration wird die Summe von Vorgängen verstanden, die zu Erneuerung und Ersatz von Zellen und Geweben führen. Die Regenerationsprozesse umfassen Zellproliferation, Zellmigration, Änderungen der Zellform, Zellkontakte und Differenzierung. Bei Regenerationsprozessen spielen Wachstumsfaktoren (EGF, FGF, PDGF, TGF-β, NGF), Hormone (Insulin, Glukagon, Schilddrüsenhormone), aber auch Matrixkomponenten (Fibronektin, Laminin) eine Rolle. Auslösende Faktoren sind Verlust von Zellen, Zellprodukten oder Zellfunktionen. In einigen Organen, wie z.B. in der Leber, ist die Regeneration ein sehr effizienter und schneller Prozess. Eine wichtige Rolle spielt die Regeneration im Rahmen der Wundheilung (siehe Kap. 3.4.2).

2.6

Adaptation, Zellschädigung, Zelltod

Zellen und Organe reagieren auf schädliche Einflüsse zuerst im Sinne einer Adaptation oder Anpassung (Kompensation). Wird die Adaptationskapazität überschritten (Dekompensation), kommt es zur Schädigung, die anfangs vielfach noch reversibel, später aber irreversibel ist. Adaptive Veränderungen und reversible oder irreversible Schädigungen hängen somit von Art und Intensität des schädigenden Einflusses (Noxe) und von der Resistenz der Zellen und Gewebe ab. Noxen können zu strukturell und funktionell charakteristischen Veränderungen in Zellen, Geweben, Organen und schließlich im Gesamtorganismus führen. Für das Verständnis von krankhaften Veränderungen sind Ätiologie und Pathogenese (Mechanismen der Entwicklung) sowie die resultierenden strukturellen und funktionellen Konsequenzen von Bedeutung.

Abb. 2-12 Atrophie, Hyperplasie und Hypertrophie.

2.6.1 Adaptation Unter Adaptation wird die Reaktion auf physiologische oder pathologische Reize, einschließlich vermehrter oder verminderter Belastungen, verstanden. So führt z.B. vermehrte mechanische oder metabolische Belastung zu einer Größenzunahme, zur Hypertrophie, von Zellen (z.B. der Skelettmuskulatur) oder Zellorganellen (z.B. vermehrtes glattes endoplasmatisches Retikulum der Leber bei erhöhter Anforderung an die Biotransformation) und damit zu einer Vergrößerung von Organen. Verminderte Leistung oder Beanspruchung der Zelle dagegen führen zu einer Zell- und Organverkleinerung, zur Atrophie (Abb. 2-12).

Atrophie Definition Unter einfacher Atrophie wird eine reversible Verkleinerung der Zelle (und damit auch eines Gewebes oder Organs) durch Verminderung der Zellmasse verstanden. Die nummerische Atrophie bedeutet die Verkleinerung eines Organs durch Verminderung der Zellzahl. Sie kann Folge physiologischer oder pathologischer Ursachen sein.

Ursachen ■ Verminderte Belastung oder Unterfunktion. Z.B. Atrophie der Skelettmuskulatur durch Inaktivität („Inaktivitätsatrophie“). ■ Verminderte Blutversorgung. Z.B. Gehirnatrophie (Abb. 2-13), Nierenatrophie im Alter als Folge arteriosklerotisch bedingter Mangelblutversorgung, Atrophie der Hepatozyten bei Amyloidose. ■ Störung der Innervation. Z.B. Atrophie der Muskulatur bei Lähmungen durch Zerstörung der Vorderhornganglienzellen bei Poliomyelitis. ■ Inanition. Z.B. Gewebe- und Organverkleinerung bei Hunger, Malabsorption und Anorexia nervosa. ■ Verminderte endokrine Stimulation durch Hormone oder Wachstumsfaktoren. Z.B. Hodenatrophie im Alter, Atrophie endokriner Organe bei Störungen im Bereich des Hypophysenvorderlappens. ■ Alter. Organverkleinerung im Rahmen der altersbedingten katabolen Situation.

Abb. 2-13

Altersatrophie des Gehirns.

Verschmälerung der Gyri und Ausweitung der Ventrikel („Hydrocephalus e vacuo“).

Folgen Im Rahmen der Atrophie kommt es zu einer Verminderung von Zellorganellen (z.B. Mitochondrien, endoplasmatisches Retikulum) oder ganzer Zellen. Ursachen sind verminderte Synthese und/oder erhöhter Abbau von Zellkomponenten oder Zelluntergang (Apoptose; siehe Kap. 2.6.4). Der erhöhte Abbau von Zellkomponenten äußert sich im Auftreten von autophagen Vakuolen, in denen der lysosomale Abbau stattfindet. Nicht völlig degradierbares Material bleibt in Form sog. Residualkörper (z.B. Lipofuszingranula) in der Zelle liegen. Dadurch erhalten atrophe Organe häufig eine schokoladenbraune Verfärbung (braune Atrophie). Die funktionelle, insbesondere akute Belastbarkeit der atrophischen Zellen und Organe ist herabgesetzt und kann sich in vielfältiger Weise manifestieren (z.B. als Knochenfrakturen, Muskelschwäche, verminderte Leistungsfähigkeit des Gehirns).

Hypertrophie Definition Hypertrophie bedeutet reversible Zellvergrößerung und damit auch Vergrößerung eines Gewebes oder Organs, bedingt durch Vermehrung von Zellkomponenten. Sie kann physiologische oder pathologische Ursachen haben.

Ursachen ■ Erhöhte Belastung und Arbeitserfordernis. Z.B. Hypertrophie der Skelettoder Herzmuskulatur bei erhöhter Belastung, z.B. bei körperlicher Arbeit, Training, Hypertonie (Abb. 2-14). ■ Erhöhte hormonelle Stimulation. Z.B. von endokrinen Organen, Uterusvergrößerung bei Schwangerschaft. ■ Erhöhte funktionelle Belastung kann auch zu Hypertrophie von Organellen führen. Z.B. des glatten endoplasmatischen Retikulums bei gesteigerter Biotransformation (Abb. 2-15).

Folgen Im Rahmen der Hypertrophie kommt es zu einer Vermehrung oder Vergrößerung von Zellkern und Organellen als Folge von erhöhter RNA- und Proteinsynthese. Unter bestimmten Bedingungen kommt es zur Ausbildung von Riesenzellen. Riesenzellen sind große mehr- oder vielkernige Zellen, die häufig durch Zellfusion entstehen und als Reaktion auf Fremdkörper, Infektionen mit spezifischen Erregern (Bakterien, Viren, Pilze) oder bei Stoffwechselstörungen auftreten. Zur Riesenzellbildung kann es auch bei Kernteilung mit Ausbleiben der Zytoplasmateilung (Zytokinese) kommen. Riesenzellen können epithelialer und mesenchymaler Natur sein. Durch Fusion von Makrophagen in Gegenwart von unverdaubarem Material (z.B. Fremdkörper) können sehr große Zellen mit bis zu 100 Zellkernen entstehen. In diesem Fall wird von Fremdkörper-Riesenzellen gesprochen. Die Zellkerne sind unregelmäßig im Zytoplasma verteilt. Bei Langhans-Riesenzellen sind die Kerne regelmäßig an der Zellperipherie angeordnet. Im Rahmen von Virusinfektionen kann es zu einer Fusion benachbarter Zellen und damit zu mehrkernigen Riesenzellen kommen (z.B. bei Infektion mit Masernvirus, Herpesvirus, Parainfluenzavirus). Riesenzellen können auch im Rahmen neoplastischer Prozesse auftreten.

Abb. 2-14

Hypertrophie und Atrophie des Herzens.

Veränderung der Herzgröße bei Hypertrophie und Atrophie. Atrophie und Hypertrophie werden durch entsprechende Veränderungen der Herzmus-kelzelle verursacht (siehe Schema).

Hyperplasie Definition Als Folge erhöhter Anforderungen kommt es zu einer Zellvermehrung durch Mitosen und damit zu einer Organvergrößerung. Dabei kann eine physiologische von einer pathologischen Hyperplasie unterschieden werden. Hypertrophie und Hyperplasie treten oft als Folge identischer Stimuli gemeinsam oder konsekutiv auf. Hyperplasie setzt Zellen mit der Fähigkeit zur DNA-Synthese und damit zur Mitose voraus. Zum Beispiel haben Hepatozyten, Fibroblasten und die Zellen des Knochenmarks eine ausgeprägte Neigung zur Hyperplasie, während Nervenzellen diese Fähigkeit fehlt. Klinisch wichtige Hyperplasieformen sind die Struma (siehe Kap. 14.3) und die Prostatahyperplasie (siehe Kap. 38.4.3).

Abb. 2-15 Vermehrung des glatten endoplasmatischen Retikulums.

Leberzelle bei Enzyminduktion.

Ursachen Die Zellproliferation wird durch Wachstumsfaktoren und Hormone initiiert und ist mit der verstärkten Expression von zellulären Protoonkogenen (z.B. c-fos, c-myc, cras), die unter dem regelnden Einfluss von Inhibitoren (z.B. TGF-β) stehen, assoziiert. ■ Hormonelle Stimulation. Z.B. Vermehrung von Zellen und damit Organvergrößerung von endokrinen Organen, bedingt durch übergeordnete hormonelle Stimuli (Hyperplasie der Schilddrüse durch TSH-Einfluss). ■ Kompensatorisch. Beispiele sind die Wundheilung oder die Leberregeneration nach partieller Hepatektomie.

Metaplasie Definition Unter dem Begriff Metaplasie wird eine reversible Veränderung verstanden, im Rahmen deren ein reifer (differenzierter) Zelltyp (oder Gewebstyp) durch einen anderen reifen (differenzierten) Zelltyp (oder Gewebstyp) ersetzt wird. Im Allgemeinen ist das metaplastische Gewebe widerstandsfähiger, aber gegenüber dem ursprünglichen Gewebe funktionell minderwertig.

Ursachen Metaplasien treten bei verschiedensten chronischen Irritationen (mechanisch, toxisch) und chronischen Entzündungen auf.

Formen ■ Epitheliale Metaplasien □ Plattenepithelmetaplasie. Dabei kommt es zum Ersatz von Zylinderepithel durch geschichtetes Plattenepithel, häufig als Folge von mechanischer oder toxischer Belastung (z.B. Plattenepithelmetaplasie im Bronchus, in der Cervix uteri). □ Drüsige Metaplasie. Im Magen kommt es zu Umwandlung der Magenmukosa zu einer Mukosa vom intestinalen Typ (intestinale Metaplasie, Abb. 2-16). Andererseits kann sich als Folge von Entzündungen im Dünndarm eine magentypische Mukosa entwickeln (gastrale Metaplasie). ■ Bindegewebsmetaplasie. Fibroblasten können Knochen (mit Knochenmark) oder Knorpel produzieren. Beispiele sind die arteriosklerotischen Veränderungen in der Arterienwand (knöcherne Metaplasie).

Abb. 2-16

Metaplasie.

Ersatz des Flimmerepithels (a) durch Plattenepithel (b). Von der Metaplasie muss die Heterotopie abgegrenzt werden, bei der im Rahmen der embryonalen Entwicklung ein Gewebe an einer ungewöhnlichen Stelle angelegt wurde (z.B. Magenschleimhautinsel im Ösophagus oder im Duodenum).

Folgen Der Ersatz des Flimmerepithels mit eingelagerten Becherzellen der Bronchialmukosa als Folge chronischer Irritationen (z.B. chronische Bronchitis des Rauchers) durch Plattenepithel hat den Verlust wichtiger Reinigungsfunktionen zur Folge. Andererseits ist das Plattenepithel gegenüber mechanischen Einflüssen resistenter.

2.6.2 Zellschädigung Ursachen und Mechanismen Noxen führen zu komplexen Störungen des Zellstoffwechsels, die je nach Art und Ausmaß zu vorübergehenden (reversiblen) Funktionsstörungen, zu permanenten (irreversiblen) Funktionsstörungen, zu erblichen Zellalterationen (Mutationen) oder zum Zelltod (Apoptose oder Nekrose) führen. Mit den Störungen der Zellfunktion gehen morphologisch fassbare Zellveränderungen einher. In der pathologischmorphologischen Diagnostik wird oft aus der Morphologie auf die zugrunde liegenden Funktionsstörungen geschlossen. Dies ist allerdings nicht immer mit Sicherheit möglich. Die Reaktionen einer Zelle oder eines Gewebes auf schädigende Einflüsse werden einerseits von Art, Dauer und Schweregrad der Schädigung und andererseits von der Resistenz der betroffenen Zelle oder des Gewebes bestimmt. Der Effekt einer Schädigung hängt auch von der Interaktion zwischen Noxe und Zelle ab. Einerseits beeinflusst die Noxe die Zelle und andererseits die Zelle die Noxe. So kann z.B. die Zelle das schädigende Agens modifizieren (z.B. im Rahmen einer chemischen Schädigung Umwandlung in ein toxischeres oder nichttoxisches Produkt). Die Zelle verfügt über diverse Möglichkeiten, Schädigungen zu reparieren oder schädigende Agenzien unschädlich zu machen (Biotransformation, Phagozytose, Abbau, Ausscheidung etc.). Der Effekt einer Schädigung hängt somit auch vom metabolischen Zustand, von der Sauerstoffversorgung und vom Ernährungsstatus der Zelle ab. Hoch aktive Zellen sind häufig gegenüber Schädigungen empfindlicher als weniger aktive. In Abhängigkeit von der Art der Schädigung kommt es zur Störung der Zellmembranen, des Energiehaushaltes, der Syntheseleistungen oder der genetischen Kapazität der Zelle mit morphologischen und funktionellen Folgen. Das Schädigungsmuster ist häufig komplex, da die einzelnen Zielstrukturen der

Schädigung (z.B. Plasmamembran, Zellkern, Mitochondrien, endoplasmatisches Retikulum) wegen der gegenseitigen Abhängigkeit auch sekundär beeinträchtigt werden können (direkte und indirekte Schädigung). Schädigende Noxen können in eine oder mehrere der nachfolgenden Gruppen fallen. ■ Sauerstoffmangel (Hypoxie). Hypoxie kann durch mangelhafte arterielle Blutversorgung, geringere Oxygenierung des Blutes, Hämoglobin- und Erythrozytenmangel (Anämie) oder Kohlenmonoxidvergiftung hervorgerufen werden. ■ Erreger. In Frage kommen Viren, Rickettsien, Bakterien, Pilze, Parasiten und Prionen. ■ Chemische Substanzen. In entsprechenden Konzentrationen können alle chemischen Substanzen, nicht nur die bekannten Zellgifte, auf direktem oder indirektem Wege eine Zellschädigung bewirken. Dies gilt auch für Medikamente. ■ Physikalische Faktoren. In Frage kommen mechanische, thermische, elektrische und bestrahlungsbedingte Schädigungen. ■ Immunologische Faktoren. Diverse Immunreaktionen (siehe Kap. 4.3) können sich gegen Körperzellen richten und damit schädigend wirken. ■ Genetische Defekte. Bei Gendefekten und damit zusammenhängenden Fehlsteuerungen im Zellstoffwechsel entstehen direkt oder indirekt Zellschädigungen (siehe Kap. 5). ■ Ernährungsstörungen. Fehlerhafte Ernährung (z.B. Protein- oder Vitaminmangel) ist eine wichtige Ursache von Zell- und Gewebeschäden.

Allgemeine Mechanismen der Zellschädigung Sauerstoffmangel (Ischämie, Hypoxie) Sauerstoffmangel ist eine der wichtigsten und häufigsten Ursachen einer reversiblen oder irreversiblen Zellschädigung. Das Ausmaß der ischämischen Schädigung hängt von der Sauerstoffabhängigkeit der betroffenen Zellen und Gewebe sowie der Ischämiedauer ab. Bei irreversiblen Schäden kommt es trotz Wiederherstellung der arteriellen Durchblutung zur Nekrose. Hypoxie kann durch mangelhafte arterielle Blutversorgung, venöse Abflussstörung, zu geringe Oxygenierung des Blutes, Hämoglobin- und Erythrozytenmangel (Anämie) oder CO-Vergiftung hervorgerufen werden. Bei der hypoxisch verursachten Zellschädigung kommt es direkt zur Membranschädigung und/oder zur Beeinträchtigung der oxidativen

Phosphorylierung mit verminderter ATP-Produktion, die indirekt die Membranintegrität und Membranpermeabilität schädigt. ATP-Mangel beeinträchtigt die Funktion der Natriumpumpe und führt zum vermehrten Eintritt von Na+ in die Zelle und zu einem Austritt von K+. Folgen sind Wassereinstrom in die Zelle und Zellschwellung (Zellödem). Zusätzlich versagt auch die Kalziumpumpe, d.h., es kommt zur intrazellulären Ca2+-Erhöhung und zur Freisetzung von Ca2+ aus den intrazellulären Ca2+-Speichern (endoplasmatisches Retikulum und Mitochondrien). Kalziumionen spielen eine wichtige Rolle bei der Regulation vieler Reaktionen in der Zelle, und eine Erhöhung der zytosolischen Kalziumkonzentration wirkt zytotoxisch (siehe unten). Als Folge des erhöhten zytosolischen Kalziumgehalts werden Ionenpumpen mit ATPase-Wirkung aktiviert (Na+- und Ca2+-aktivierte ATPasen) und dadurch der ATP-Verbrauch weiter erhöht. Der erhöhte zytosolische Kalziumgehalt führt auch zur Aktivierung von Phospholipasen, Proteasen, Transglutaminasen und Endonukleasen mit entsprechenden Folgen für Membranen, Zytoskelett und Chromatin infolge ihres enzymatischen Abbaus. Die Umschaltung auf ATP-Gewinnung durch anaerobe Glykolyse resultiert im Verbrauch der Glykogenspeicher und in der Anhäufung von Laktat und anorganischen Phosphaten, in deren Gefolge der intrazelluläre pH-Wert sinkt. Der Übergang vom reversiblen in den irreversiblen Zellschaden ist fließend und besteht in einer weiteren Verstärkung des Membranschadens und dem Darniederliegen der Protein- und Lipidsynthese. Die Schädigung der Lysosomenmembran führt zum Ausstrom lysosomaler Enzyme, die aufgrund des sauren zellulären pH-Wertes aktiviert sind. Die irreversible Zellschädigung durch Sauerstoffmangel tritt schließlich als Kombination verschiedener Schädigungen ein: ATP-Mangel, veränderte Membranpermeabilität und erhöhter Kalziumgehalt.

Interferenz mit endogenen Substanzen oder Kofaktoren Diverse toxische Substanzen führen zu Inaktivierung, Hemmung oder Verminderung von Zellkomponenten, wie Zellmembranen, Strukturproteinen, Nukleinsäuren, Stoffwechselprodukten, Enzymen und deren Kofaktoren, oder von Zellkomponenten, die primär für die Steuerung zellulärer Vorgänge verantwortlich sind, wie Rezeptoren, Ionenkanälen, Signalübertragungsmolekülen und Transkriptionsfaktoren. In der Folge kommt es zu einer Beeinträchtigung der Zellfunktion und des Stoffwechsels.

Aktivierter Sauerstoff und reaktive Sauerstoffintermediärprodukte Aktivierter Sauerstoff und Sauerstoffintermediärprodukte (reactive oxygen species, ROS) sind äußerst reaktive Moleküle, die Proteine, Lipide und DNA

schädigen. ROS entstehen als Nebenprodukt bei Stoffwechselreaktionen, wie der Atmungskette, der Cytochrom-P450-vermittelten Biotransformation und dem Abbau von Fettsäuren in Peroxisomen (peroxisomale β-Oxidation; Abb. 2-17). Eine weitere wichtige Quelle für ROS ist die Xanthinoxidase, ein Enzym, das normalerweise als Dehydrogenase den Abbau von Xanthin zu Harnsäure katalysiert (Abb. 2-18). Besteht jedoch in der Zelle ein Sauerstoffmangel, so wird die Xanthindehydrogenase zur Oxidase, was zur Folge hat, dass beim Abbau von Xanthin ROS entstehen. Diese Reaktion spielt eine wesentliche Rolle beim Reperfusionsschaden, der auftritt, wenn die Durchblutung eines Organs nach Unterbrechung wiederhergestellt wird (z.B. Lyse eines Thrombus bei ischämischem Infarkt oder im Rahmen einer Organtransplantation). ROS sind Nebenprodukte, die auch physiologisch bei den oben angeführten Reaktionen entstehen. In speziellen pathologischen Situationen kommt es jedoch zu einer Vermehrung, sodass sie zu einem zentralen Faktor der Gewebsschädigung werden. Das Ausmaß der Gewebsschädigung hängt aber nicht nur von der ROSEntstehung, sondern auch von der Fähigkeit zur ROS-Inaktivierung ab. So entsteht bei der Atmungskette, durch Cytochrom P450 und durch Wirkung der Xanthinoxidase aus Sauerstoff (O2) Superoxid (O2−). Superoxid kann entweder durch Reaktion mit Stickstoffmonoxid (NO) zu ONOO− oder durch Wirkung der Superoxiddismutase (SOD) zu H2O2 (Wasserstoffperoxid) umgewandelt werden. H2O2 wird normalerweise durch die peroxisomale Katalase zu Wasser und Sauerstoff konvertiert oder durch Interaktion mit Antioxidanzien (Glutathion, Vitamin E) eliminiert. Bei zu großem Anfall von H2O2 kann der Abbau zu harmlosen Produkten nicht mehr mithalten und es werden sehr schädliche Hydroxylradikale (OH•) gebildet. OH• entstehen durch Reaktion von H2O2 mit Superoxid (O2− + H2O2 → O2 + OH− + OH•), aber auch im Rahmen einer Reaktion von H2O2 mit Fe2+ (H2O2 + Fe2+ → OH− + OH• + Fe3+; = Fenton-Reaktion). Außerdem entstehen OH• direkt durch Einwirkung ionisierender Strahlung auf Wasser.

Abb. 2-17 Entstehung und Umwandlung von reaktiven Sauerstoff-verbindungen.

Abb. 2-18 Umwandlung der Xanthindehydrogenase in eine Oxidase durch Ischämie.

OH• und andere ROS setzen die peroxidative Zerstörung von Lipidmembranen in Gang. Die durch Peroxidation von Membranlipiden entstehenden Peroxide sind selbst reaktiv, sodass die Zerstörung der Membranen in einer Kettenreaktion weiterläuft. Besonders empfindlich sind die Membranen des endoplasmatischen Retikulums und der Mitochondrien. Freie Radikale reagieren auch mit Proteinen und führen zu deren Modifikation. Die Modifikation freier Sulfhydrylgruppen (SH-Gruppen) in Proteinen, z.B. Umwandlung von Sulfhydrylgruppen in Disulfidbrücken, spielt bei Zellschädigung eine wichtige Rolle, da freie SHGruppen für die Aktivität vieler Enzyme und Proteine essenziell sind. Ein weiteres Ziel der Wirkung freier Radikale ist die DNA, bei der es insbesonders zu Strangbrüchen kommt. Besonders empfindlich ist diesbezüglich die mitochondriale DNA. Es kommt zu Defekten in den mitochondrialen Enzymen und in der Folge auch zu einem ATP-Verlust in der Zelle. Eine weitere Folge des radikalinduzierten DNA-Schadens kann das Auftreten von Mutationen in der nukleären DNA und die Entstehung von malignen Tumoren sein.

Störung der Kalziumhomöostase Kalziumionen (Ca2+) spielen eine wichtige Rolle bei der Regulation vieler Reaktionen in der Zelle. Innerhalb des Zytosols ist die Ca2+-Konzentration niedrig (z.B. in der Leberzelle bei ca. 0,1 μM), während die extrazelluläre Ca2+Konzentration bei ca. 1,3 mM liegt. Für die Aufrechterhaltung der unterschiedlichen Ca2+-Konzentrationen sind die Sequestration der Ca2+-Ionen in

Mitochondrien und endoplasmatischem Retikulum sowie der Ca2+-Abtransport aus der Zelle durch die Ca2+-Mg2+-ATPase der Plasmamembran verantwortlich. Viele zytotoxische Substanzen führen durch Modifikation (z.B. Oxidation) von mitochondrialen NAD(P)H-Dehydrogenasen zu einer Oxidation von NAD(P)H zu NAD(P). Die verminderte Kapazität der Mitochondrien zur Reduktion von NAD(P) und die Verminderung des NAD(P)H-NAD(P)-Redoxsystems führen zu einer Permeabilitätssteigerung der inneren Mitochondrienmembran, zu einer Ca2+Freisetzung aus den Mitochondrien, zu einer Entkopplung der oxidativen Phosphorylierung und damit zu einer ATP-Verarmung. Eine Störung des Ca2+Gleichgewichts (insbesondere der Anstieg der intrazellulären Ca2+-Konzentration) spielt eine wichtige Rolle bei Zellschädigung und Zelltod. Durch die erhöhte intrazelluläre Ca2+-Konzentration kommt es zu einer Aktivierung von Ca2+abhängigen Enzymen, z.B. von Proteasen, Transglutaminasen, Phospholipasen und Endonukleasen, mit nachfolgendem Abbau von Membranproteinen und Zytoskelettstrukturen (Proteasen), Membranzerstörung (Phospholipasen), Hydrolyse von DNA (Endonukleasen) und Proteinvernetzung (Transglutaminasen).

Viren Eine Zellschädigung (= zytopathischer Effekt) im Rahmen viraler Infektionen kann entsprechend den verschiedenen Virusarten auf unterschiedliche Weise zustande kommen. Die Art der Schädigung hängt auch von der infizierten Zelle ab. Neben dem direkten schädigenden Einfluss des Virus auf die Zelle kann auch die Immunabwehr des Organismus gegen virusinfizierte Zellen für die Zellschädigung verantwortlich sein.

Zytopathischer Effekt des Virus Die virusbedingte Zellschädigung wird größtenteils dadurch verursacht, dass Viren für ihre Vermehrung die gesamte synthetische Maschinerie der Wirtszelle für die Synthese ihrer eigenen Komponenten benutzen. Im Extremfall kann das zur Lyse der Wirtszelle führen. Andererseits kann es durch den Einbau viraler Proteine zu Membranschaden und erhöhter Membranpermeabilität kommen. Funktionen der Wirtszelle werden auch durch die Bildung nukleärer (Herpes-simplex-Virus, Adenoviren) oder zytoplasmatischer (Vacciniavirus, diverse RNA-Viren) Viruseinschlusskörper beeinträchtigt. Das Zytomegalievirus verursacht kombinierte Einschlüsse mit der Ausbildung von Riesenzellen mit eulenaugenartigen Zellkernen. Einige Viren greifen auch in die Regulation der Apoptose ein.

Induktion einer Immunantwort Durch Immunreaktionen kann es zur Schädigung und Zerstörung virusinfizierter Zellen kommen. Ziele für die immunologische Attacke sind dabei an der Zelloberfläche exprimierte Virusantigene. In der Frühphase setzt eine unspezifische Abwehrreaktion (über Interferon und natürliche Killerzellen) ein. Eine wesentliche Rolle für die Abwehr der Virusinfektion spielen dann T-Lymphozyten. Zytotoxische T-Lymphozyten entfalten ihren antiviralen Effekt indirekt, indem sie virusreplizierende Zellen abtöten. Dabei spielt Perforin, ein Protein, das die Plasmamembran durchlöchert, eine wichtige Rolle. Die humorale Immunantwort (Antikörper) setzt erst später ein und ist dann durch Neutralisation von Viren für die Immunität gegenüber einer neuerlichen Virusinfektion verantwortlich.

Virusbedingte Zytoskelettschäden Poxviren und Reoviren führen zur Zerstörung von Intermediärfilamenten und Desorganisation von Mikrotubuli. Verschiedene respiratorische Viren beeinträchtigen die Funktion von Kinozilien über die Veränderung der Zahl von Mikrotubuli.

Virusbedingte Riesenzellen Synzytiale Riesenzellen entstehen durch den Einbau fusogener viraler Proteine in die Plasmamembran als Folge der Infektion mit HIV, Masern- oder Herpesviren.

Chemische Substanzen und Medikamente In entsprechenden Konzentrationen können nicht nur die bekannten Zellgifte, sondern alle chemischen Substanzen auf direktem oder indirektem Wege eine Zellschädigung bewirken. Dies gilt auch für Medikamente. Nach dem Zurückdrängen von Infektionen und Mangelernährung als wesentliche Krankheitsursachen gewinnen heute umweltbedingte Schädigungen, Stress, Arzneimittelnebenwirkungen und Schädigungen durch Chemikalien immer größere pathogenetische Bedeutung in den Industrieländern. Als Antwort des Organismus auf die Verabreichung von Medikamenten oder anderen chemischen Agenzien lassen sich vorhersehbare und nicht vorhersehbare Reaktionen unterscheiden. Medikamentenreaktionen können sich in einer Vielzahl von Organen manifestieren. Im Vordergrund stehen Leberschädigungen (siehe Kap. 32.5), aber auch Schädigungen des Blut bildenden Systems, Hautmanifestationen, vaskuläre Veränderungen und Nervenschäden (siehe Organpathologie). Die vorhersehbaren Reaktionen entsprechen einer verstärkten pharmakologischen Wirkung des Medikaments oder der chemischen Substanz und hängen vom pharmakologischen Wirkungsmechanismus sowie von Metabolismus, Resorption, Verteilung im Organismus und Exkretion ab (Beispiel:

tetrachlorkohlenstoffinduzierte Leberschädigung). Die Schädigung kann entweder direkte (primäre Wirkung) oder indirekte Folge der Medikamentenwirkung sein (sekundäre Wirkung). Diese Reaktionen sind häufig im Tierversuch reproduzierbar, dosisabhängig und von charakteristischen Organveränderungen begleitet. Bei den (bisher) nicht vorhersehbaren Reaktionen handelt es sich um Schädigungen, die nicht nur auf die pharmakologische Wirkung der Substanz zurückzuführen sind (Beispiel: halothaninduzierte Leberschädigung). Die Reaktionen treten nur bei vereinzelten Menschen auf, sind nicht dosisabhängig, im Tierversuch nicht reproduzierbar und zeigen unterschiedliche Organveränderungen. Es kann sich dabei einerseits um toxische Wirkungen handeln, andererseits kommen genetisch oder immunologisch determinierte Mechanismen infrage. Hinsichtlich der genetischen Ursachen wurden bereits mehrere Genpolymorphismen identifiziert, die den Metabolismus der Substanzen oder deren Wirkung beeinflussen. Dadurch kann die Drogenwirkung verstärkt werden, oder es können abnorme Stoffwechselprodukte als Antigene wirken und Immunreaktionen der Typen I und III hervorrufen. Die systematische Suche nach derartigen genetischen Faktoren, die die Wirkung von Arzneimitteln beeinflussen (Pharmakogenomik), sollte zukünftig einen gezielteren (individuellen) Einsatz von Medikamenten zulassen und das Auftreten von „nicht vorhersehbaren“ Reaktionen vermindern. Toxische Chemikalien können entweder direkt auf zelluläre Komponenten wirken oder erst durch Biotransformation zu einem Zellgift umgewandelt werden. In vielen Fällen spielen reaktive Radikale und Intermediärprodukte eine Rolle, wobei eine Membranzerstörung durch Lipidperoxidation häufig ist. Es kann auch zu einer Beeinträchtigung der protektiven Mechanismen kommen (z.B. Verminderung von Glutathion). Dies ist z.B. bei einer Reihe von Hepatotoxinen (z.B. Paracetamol) der Fall. Bei direkt zytotoxisch wirksamen Substanzen kommt es zu einer direkten Interaktion des Toxins mit Zellkomponenten.

Physikalische Faktoren Infrage kommen mechanische, thermische, elektrische und bestrahlungsbedingte Schädigungen sowie Luftdruckveränderungen.

Mechanische Traumen Mechanische Traumen werden durch die Kollision von Körpern verursacht und können durch die Bewegung eines, mehrerer oder aller Partner bedingt sein. Folge ist eine Verletzung (Wunde), deren Ausmaß von der übermittelten Energie, von der betroffenen Oberfläche und vom Charakter des betroffenen Gewebes abhängt. Es können verschiedene Formen von Wunden unterschieden werden.

■ Abschürfung (Schürfwunde). Durch Reibung oder Quetschung wird die Epidermis flächenhaft abgelöst, wobei der Defekt bis in das Korium reichen kann. ■ Lazeration (Rissquetschwunde). Sie entsteht durch Dehnung, stumpfes Trauma oder durch komprimierte Gase. Sie zeigt unregelmäßige, unterminierte Wundränder. ■ Kontusion (Quetschung). In diesem Fall kommt es zu einer traumatischen Schädigung der subkutanen Gewebeschichten mit Blutungen ohne Hautdefekt. ■ Schnittwunde. Sie wird durch scharfe schneidende Gegenstände bewirkt und zeigt glatte Wundränder. ■ Stichwunde. Sie wird durch spitze Gegenstände erzeugt. ■ Schusswunde. Sie entsteht durch Geschosse oder Geschosssplitter und ist in Form und Größe vom Projektil, von der Auftreffenergie des Projektils und der Schussentfernung abhängig. ■ Fraktur (Bruch). Bei Einwirkung eines Traumas auf Knochen kann es zu Brüchen (Frakturen) kommen. Bei Knochenbrüchen als Folge eines inadäquaten Traumas wird von pathologischen Frakturen gesprochen. Ursachen dafür sind eine verringerte Knochenfestigkeit (Osteoporose, osteolytische Knochenmetastasen).

Thermische Einflüsse Thermische Zellschädigungen entstehen bei Gewebetemperaturen von mehr als 5 °C über und von mehr als 15 °C unter der Normaltemperatur. Der Schweregrad hängt von der Temperatur und der Dauer der Einwirkung ab. Die Haut ist das bei lokalem Temperatureinfluss am häufigsten geschädigte Organ.

Kälteschädigung (Hypothermie, Erfrierung) Die Abkühlung von Geweben bewirkt eine Depression des Zellstoffwechsels, es kann auch zur Ausbildung intrazellulärer Eiskristalle kommen. Ein wichtiger Angriffspunkt der Kälteschädigung ist das Kapillarendothel. Dies führt zu einer Permeabilitätssteigerung der Gefäßwand mit Ödem- und Blasenbildung. Außerdem kann es zu einem Verschluss von Gefäßlumina durch aggregierte Erythrozyten kommen. Folgen sind Gewebeischämie und schließlich Nekrose. Am deutlichsten ausgeprägt ist die Schädigung nach Wiedererwärmung. Diese ist von Hyperämie und Ödembildung begleitet.

Einteilung Erfrierungen der Haut lassen sich in 4 Grade klassifizieren: Rötung (Grad I), Blasenbildung (Grad II), Nekrose (Grad III), Vereisung (Grad IV). Bei systemischer Hypothermie kann es zum Tod durch Kreislaufversagen kommen.

Hitzeschädigung (Hyperthermie, Verbrennung) Bei länger dauernder Erwärmung auf 40 bis 45 °C kommt es zu einer Gewebeschädigung als Folge des gesteigerten Zellstoffwechsels. Die Einwirkung von 70 °C führt schnell zu Nekrose.

Lokalreaktionen In den Frühphasen der Hyperthermie kommt es zu Gefäßerweiterung und gesteigerter Gefäßpermeabilität mit Entwicklung von Ödemen. Dies äußert sich an der Haut in Form von Blasenbildung. Die thermisch geschädigten Zellen werden nekrotisch (Koagulationsnekrose): Das Kollagen verliert dabei seinen fibrillären Charakter und wird homogen. Es kommt zu einer aseptischen Entzündungsreaktion, die durch sekundäre Besiedelung durch Bakterien kompliziert werden kann.

Allgemeinreaktionen. Nach dem Ausmaß der Schädigung lassen sich an der Haut 4 Verbrennungsgrade unterscheiden (Tab. 2-5). Je nach Ausmaß und Schweregrad der Verbrennung resultieren diverse Allgemeinschäden, wie Schock (neurogen und/oder hypovolämisch durch Flüssigkeitsverlust aus dem verbrannten Areal), Thrombosen, degenerative Veränderungen von Nieren, Nebennieren und Leber sowie Hämolyse (neben Schock werden auch Verbrennungstoxine dafür verantwortlich gemacht). Die Allgemeinschäden korrelieren bei Hautverbrennungen mit dem Ausmaß der betroffenen Körperoberfläche. Zweitund drittgradige Verbrennungen von 20–30% der Körperoberfläche sind bei Erwachsenen kritisch, bei Kleinkindern ist bereits eine Verbrennung von 10% der Körperoberfläche gefährlich. Zur Abschätzung dient die „Neunerregel“ (beim Erwachsenen Kopf 9%, Rumpf vorne und hinten je 2 × 9%, obere Extremitäten je 9%, untere Extremitäten je 2 × 9%, Genitale 1%).

Hyperthermie Zu einer Erhöhung der Körpertemperatur (= systemische Hyperthermie) kann es durch Wärmezufuhr von außen und durch verminderte Wärmeabgabe kommen.

Ein Temperaturanstieg über 42,5 °C führt zu generalisierter Gefäßerweiterung mit verminderter Gefäßfüllung, Tachykardie und Tachypnoe. Als „Hitzschlag“ wird die Folge einer Übererwärmung des Organismus durch erhöhte Wärmeproduktion oder verminderte Wärmeabgabe verstanden. Häufigste Ursache ist heißes feuchtes Klima. Besonders empfindlich gegenüber Hitzschlag sind kleine Kinder, aber auch ältere Personen (über 65 Jahre), Alkoholiker, Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen, Adipositas, mangelhafter Schweißproduktion und Dehydrierung. Auch durch körperliche Anstrengung (Sport, Training) bei erhöhter Umgebungstemperatur kann es zum Hitzschlag kommen. Die morphologisch fassbaren Veränderungen sind weitgehend unspezifisch. Es kommt zu Endothelschädigung, disseminierter intravasaler Gerinnung, Ausbildung hyaliner Thromben, perivaskulären Blutungen und Zellschäden in Gehirn, Leber, Herz und Nieren.

Tab. 2-5 Verbrennung.

Elektrischer Strom Stromunfälle sind relativ häufig und gehen auf Unachtsamkeit oder Materialfehler zurück. Die Schädigung ist an einen Stromfluss durch den Organismus gebunden und äußert sich in Beeinflussung der Herzaktion (z.B. Kammerflimmern), Lähmung des Atemzentrums, verstärkter Muskelkontraktion oder als Folge der Wärmeentwicklung (= elektrothermischer Effekt). Die schädigende Wirkung hängt ab von: • Stromart. Wechselstrom ist gefährlicher als Gleichstrom, v.a. in der Wirkung auf das Herz, das Atemzentrum und die Muskulatur. • Stromstärke, Spannung, Widerstand. Der Stromfluss ist der Quotient aus Spannung und Widerstand. Er ist umso höher, je kleiner der Widerstand ist (z.B. feuchte Körperoberfläche). •

Weg des Stromflusses. Z.B. durch das Herz.



Dauer des Stromflusses.



Kontaktfläche.

Die Wärmeentwicklung wird bei konstanter Stromstärke und Dauer durch den Gewebswiderstand bestimmt, wobei üblicherweise die Haut den größten Widerstand bietet: je dicker die Haut, desto größer der Widerstand. An den Stromeintritts- und austrittsstellen kann es daher zu Verbrennungen kommen („Strommarken“, Abb. 219). Es handelt sich dabei um grauweiße, zentral eingedellte Hautbezirke mit umgebender Rötung. Histologisch zeigt sich im Zentrum eine Koagulationsnekrose. Hochspannung führt zur Verkohlung des Gewebes, evtl. mit Amputation von Extremitäten. Überlebt der Betroffene, entwickelt sich in der Umgebung des verkohlten Gewebes eine ischämische Nekrose auf der Basis arterieller Durchblutungsstörungen (Intimaschädigung und Thrombose). Die sich als Folge der Muskelnekrose entwickelnde Myoglobinurie führt ggf. zu Tubulusnekrosen der Niere, Oligurie und Anurie.

Abb. 2-19

Strommarken.

Ein Blitzschlag kann einem Stromstoß von 1 Milliarde Volt entsprechen. Neben Verbrennungen und den Auswirkungen auf Herz, Atmung und Muskulatur sind durch den Luftdruck Frakturen und Zerreißung von Gefäßen und abdominalen Organen möglich.

Strahlung Ultraviolette Strahlung Ultraviolette Strahlung (UV; Wellenlänge 30–400 nm; UV-B-Bereich 280–320 nm) hat die Sonne als natürliche Quelle. Die Erde wird gegenüber UV-Bestrahlung durch die Ozonschicht, die durch Luftverschmutzung (z.B. durch industrielle Abgase) vermindert wird, abgeschirmt. Die schädigende Wirkung von UVStrahlung auf Zellen beruht auf der Inaktivierung von Enzymen, Hemmung der Zellteilung und Mutagenität. Im Rahmen dieser Schädigung kann es zum Zelltod, aber auch zu neoplastischer Transformation kommen. UV-Strahlung führt dabei zur Ausbildung von Pyridindimeren in der DNA (z.B. zwischen Thyminpaaren, Thymin und Zytosin und zwischen Zytosinpaaren). Folgen sind ein geschädigtes

Hautbindegewebe (Elastose) und Hauttumoren (Basaliom, Plattenepithelkarzinom, Melanom) sowie deren Vorstufen. Bei der schwarzen Rasse hat das vermehrte Vorkommen von Melaninpigment in Epidermiszellen eine schützende Wirkung, während wenig pigmentierte Personen (hellhäutig, blond oder rothaarig) der UVSchädigung in stärkerem Maße unterliegen. Die Schäden zeigen auch eine direkte Korrelation mit der gesamten Dauer der Sonnenbestrahlung (siehe auch Kap. 6.3).

Ionisierende Strahlung Zell- und Gewebeschädigungen durch Bestrahlung resultieren aus dem Energietransfer (= linearer Energietransfer) und der Bildung freier Radikale bei Strahlendurchtritt. Die Wirkung hängt dabei von der Strahlungsart (z.B. α-, β- oder γ-Strahlen), vom Zell- und Gewebetyp und von der Dosis ab. Ionisierende Strahlung führt nur selten zum sofortigen Zelltod, es kommt aber zu einer gestörten Teilungsfähigkeit und damit zur Hemmung der Zellproliferation. Eine Strahlendosis von ca. 10 Gy führt zu einem nahezu 100%igen Mitosestopp. Aus diesem Grunde sind Gewebe mit hohem Zellumsatz (z.B. Darmepithel) gegenüber einer Strahlenschädigung besonders empfindlich, während sich die Schädigung bei Geweben mit geringerer Proliferationsrate erst später auswirkt. Zielscheibe des Strahlenschadens ist die Zell-DNA. Dabei kommt es zu Einzelstrangbrüchen durch Schädigung einer Base, zu Querverbindungen zwischen und in DNA-Strängen oder zu individuellen Basenveränderungen. Auch Doppelstrangbrüche kommen vor. Obwohl die Zellen imstande sind, die meisten DNA-Schäden mithilfe des komplementären Strangs als Matrize wieder zu korrigieren, kann es doch zu irreparablen chromosomalen Störungen, wie Deletionen, Translokationen oder Fragmentationen, und damit zum Zelltod oder zu Mutationen kommen. Die durch Bestrahlung bedingte Zellschädigung wird durch verminderte Durchblutung oder durch Medikamente (z.B. Zytostatika) verstärkt. Spätschäden lassen sich auf eine Blutmangelversorgung durch Endothelschäden, Intimaverbreiterung und Gefäßlumeneinengung zurückführen.

Beispiele für Gewebeschädigung durch Bestrahlung Nach Bestrahlung des gesamten Körpers kann sich eine Strahlenkrankheit ausbilden, deren Symptome zunächst Abgeschlagenheit und Übelkeit sind. Je höher die Strahlenexposition war, desto früher und intensiver setzen die Symptome ein. Erst nach einer gewissen Latenzzeit treten Symptome der durch die Bestrahlung geschädigten Organe hinzu. ■ Magen-Darm-Trakt. In Mundhöhle, Ösophagus und Magen kommt es zu Erosionen und später zu Fibrose. Die akute Strahlenschädigung des Darms ergibt sich aus einer gestörten Zellregeneration der Mukosa bei aufrechtem Zellverlust.

Folgen sind verminderte Resorption, Wasser- und Elektrolytverlust und Infektion durch Bakterien, was sich in Form von blutigen Durchfällen äußert. Spätere Konsequenzen sind Schleimhautatrophie, Fibrose und Gefäßveränderungen (Thrombosen, Intimafibrose der Arterien). In der Leber kann eine Bestrahlung zu Thrombosen der Zentral-, Sammel- und Lebervenen und damit zu einer Blutabflussstörung führen. Im Pankreas kommt es zu Fibrose und Atrophie des exkretorischen Parenchyms. ■ Lymphoretikuläres Gewebe. Lymphozyten sind sehr strahlensensibel und werden durch Bestrahlung schnell abgetötet. Die Bestrahlung führt daher zu Pyknose und Karyorhexis der Lymphozyten in Lymphknoten, Thymus, Milz, Tonsillen und lymphoretikulärem Gewebe des Magen-Darm-Trakts. Dadurch kommt es zu Lymphozytopenie und in der Folge zu einem Defekt in der Immunabwehr. ■ Hämatopoetisches System. Im Knochenmark bewirkt Bestrahlung eine Reduktion der kernhaltigen Vorläuferzellen der Hämatopoese und Ersatz durch Binde- und Fettgewebe. Es resultieren Agranulozytose und Anämie. ■ Haut. In Frühphasen der Bestrahlung kommt es zu Gefäßerweiterung und Rötung (Erythem) der Haut, Ödem, Haarverlust und verstärkter Pigmentierung. Später resultieren Atrophie der Epidermis und der Hautanhangsgebilde (Haare, Talg- und Schweißdrüsen) sowie Teleangiektasien. Erhöhte Strahlendosen führen zu Epidermisverlust. ■ Urogenitaltrakt. In der Niere kommt es zu tubulären Schäden (Zelluntergang und Atrophie), interstitieller Fibrose und Gefäßschäden (Strahlennephropathie). In der Harnblase finden sich Epithelzellverlust, Ödem und später Fibrose. ■ Endokrine Organe (einschließlich Hoden und Ovar). Im Hoden sind die Spermatogonien sehr sensitiv gegenüber Bestrahlung, und es resultiert eine Oligooder Azoospermie. Bei massiver Bestrahlung kommt es auch zu einer Schädigung der Tubuli mit Hyalinisierung der Basalmembran. Die Leydig-Zellen sind vermindert. Im Ovar führt Bestrahlung zu einem Verlust der Follikel, im Hypothalamus-Hypophysen-System bewirkt sie Atrophie und Zellverlust mit nachfolgend eingeschränkter Hormonproduktion. Auch in der Schilddrüse kommt es bei direkter Bestrahlung dosisabhängig zu Atrophie der Follikel und Fibrose. ■ Nervensystem. Als Folge massiver Bestrahlung kann es im Zentralnervensystem zu Demyelinisierungen, aber auch zu Nekrosen kommen. Die Gefäße zeigen ein verengtes Lumen mit Intimafibrose und hyalinisierter Wand. Die Kapillaren sind ektatisch. ■ Respirationstrakt. Die Lunge reagiert auf Bestrahlung mit einer akuten Bestrahlungspneumonitis, charakterisiert durch Lungenödem und auch durch Ausbildung hyaliner Membranen. Die Alveolarzellen sind vermindert und

hypertrophiert. Es finden sich schüttere entzündliche Infiltrate und Schaumzellen in den Alveolarlumina. Später kommt es zur Fibrose. ■ Kardiovaskuläres System. Eine fibrinöse Perikarditis ist eine wesentliche Bestrahlungsfolge und von Organisation und Fibrose gefolgt. Im Herzmuskel kommt es zur diffusen Fibrose und Abnahme des Kapillarnetzes. Die großen Gefäße zeigen hingegen keine nennenswerten pathologischen Veränderungen. ■ Auge. Durch Degeneration der Linsenfasern bildet sich eine Katarakt. ■ Knochen. Im Knochen kann Bestrahlung zu Nekrosen und Wachstumsstörungen führen. ■ Neoplastische Veränderungen. Ionisierende Strahlung fördert die Entwicklung von Tumoren an verschiedenen Lokalisationen, wobei dies durch eine Zytostatikatherapie noch begünstigt wird. Deshalb ist nach einer Strahlentherapie von Tumoren mit dem späteren Auftreten eines Sekundärtumors zu rechnen. Neben Tumoren im Bereich des Bestrahlungsfeldes (z.B. Entwicklung eines Rektumkarzinoms nach Bestrahlung eines Zervixkarzinoms) überwiegen Neoplasien des hämatopoetischen Systems und maligne Lymphome.

Schädigungen im Rahmen von Luftdruckveränderungen Erhöhter Luftdruck Erhöhter atmosphärischer Druck wird relativ gut toleriert, zu Schädigungen kommt es häufig erst nach Druckabfall. Bei Druckanstieg flutet vermehrt Stickstoff über die Alveolen und das Blut in das Gewebe. Bei Druckabfall nimmt er den umgekehrten Weg. Fällt der Druck schnell ab (z.B. bei schnellem Auftauchen aus größerer Tiefe), entwickeln sich in Gewebe und Blut Gasblasen, da Stickstoff schneller frei wird, als er abgeatmet werden kann. Dadurch entsteht das Dekompressionssyndrom (Taucherkrankheit, Caisson-Krankheit), dessen Symptomatik und Konsequenzen von Menge und Lokalisation der Gasblasen abhängen. Folgen sind hypoxische Nekrosen im Zentralnervensystem mit Demyelinisierung und Lähmungen, Bewusstlosigkeit, Blindheit, Nekrosen in anderen Organen (einschließlich Knochen). Die Krankheit kann tödlich verlaufen.

Explosionen Der Schweregrad der Schädigung hängt v.a. von der Höhe der Druckwelle ab. Es kommt dabei zu einer Kompression und zu Zerreißungen von Hohlorganen. Das Reißen der Alveolarsepten hat Blutungen und das Eindringen von Luft in das

Gefäßsystem zur Folge (Luftembolie). Die Schallwelle kann auch zur Trommelfellperforation und Zerstörung des Innenohrs führen.

Erniedrigter Luftdruck Bei erniedrigtem Luftdruck (z.B. bei Bergsteigern in Höhen über 3000 m) kommt es zur systemischen Hypoxie mit peripherer Vasokonstriktion und Erhöhung des pulmonalen Blutflusses. Daraus resultieren einerseits eine pulmonale Hypertension und andererseits hypoxische Schädigungen des Gefäßendothels und der Pneumozyten. Folge der Gefäßwandschädigung und der erhöhten Gefäßpermeabilität ist ein Lungenödem. Durch Hyperventilation bei geringer Luftfeuchtigkeit in großen Höhen kann es zusätzlich zu einer hypokaliämischen Alkalose kommen („Höhenkrankheit“), charakterisiert durch Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwäche, Schlaflosigkeit.

Immunologische Faktoren Diverse zelluläre und humorale Immunreaktionen (siehe Kap. 4.3) können sich gegen Körperzellen richten und damit schädigend wirken (z.B. anaphylaktischer Schock, Autoimmunkrankheiten).

Genetische Defekte Bei Gendefekten und damit zusammenhängenden Fehlsteuerungen im Zellstoffwechsel entstehen direkt oder indirekt Zellschädigungen (siehe Kap. 5). Minimale Veränderungen wie Punktmutationen können weitreichende systemische Schäden verursachen (z.B. CFTR-Mutation bei zystischer Fibrose, Tumorentstehung durch Mutation des Ras-Protoonkogens). Generell muss unterschieden werden, ■ ob durch eine Mutation die Funktion eines Proteins vermindert wird (z.B. verminderte Aktivität des Faktors VIII bei Hämophilie oder der Verlust der wachstumshemmenden Wirkung von Tumorsuppressorgenen bei Tumoren) ■ oder ob sie gesteigert wird (z.B. Mutation des Ras-Protoonkogens verhindert die Inaktivierung des Ras-Proteins und führt somit zu einem kontinuierlichen Wachstumsstimulus). Als Folge mancher Genmutationen werden in Zellen auch falsche Proteine gebildet, die aufgrund ihrer abnormen Struktur die Zellen unspezifisch schädigen; so führt z.B. die Mutation des α1-Antitrypsins einerseits wegen des Verlusts der proteasehemmenden Wirkung zum Lungenemphysem und andererseits wegen der Produktion von abnormem α1-Antitrypsin zur Leberzirrhose.

Ernährungsstörungen Fehlerhafte Ernährung (z.B. Protein- oder Vitaminmangel) ist eine wichtige Ursache von Zell- und Gewebeschäden. Gleichermaßen stellt die Überernährung mit Adipositas oder pathologischer Fettsucht die Ursache mannigfaltiger Schäden dar (z.B. Organverfettungen, Arteriosklerose, Diabetes mellitus, Hypertonie).

Morphologische Konsequenzen der Zellschädigung Ultrastrukturelle Veränderungen Störungen der Membranpermeabilität und des intrazellulären Milieus äußern sich in Schwellung der Mitochondrien und Lysosomen, Dilatation des endoplasmatischen Retikulums, Dissoziation der Polyribosomen und Ribosomenverlust des rauen endoplasmatischen Retikulums. Bei irreversiblen Zellschädigungen kommt es zur Fragmentation der Organellen und zur intrazellulären Anhäufung von Abbauprodukten.

Lichtmikroskopische Veränderungen Bei reversiblen Läsionen sind Zellschwellung und Vakuolenbildung, die eine Zellund Organvergrößerung nach sich ziehen (hydropische Degeneration, vakuoläre Degeneration, Zellödem), das lichtmikroskopische Korrelat der erwähnten ultrastrukturellen Veränderungen. Störungen des Stoffwechsels (z.B. der Proteinsynthese oder der Sekretion) können sich auch in Form einer Zellverfettung manifestieren. Die irreversible Zellschädigung führt zum Zelltod im Sinne von Nekrose oder Apoptose.

2.6.3 Pathologie der Zellorganellen Die Zellschädigung äußert sich in einem variablen Spektrum von morphologischen und funktionellen Veränderungen.

Zellkern Im Rahmen unterschiedlicher Aktivitätszustände der Zellen, aber auch als Folge von Schädigungen kann der Zellkern lichtmikroskopisch erfassbare Veränderungen zeigen, die sich in Veränderungen von Kerngröße, Kernzahl, Kernform, Chromatin und Nukleolen ausdrücken. ■ Kernzahl. Zwei- und Mehrkernigkeit finden sich bei reaktiven und neoplastischen Veränderungen.

■ Kernform. Unregelmäßigkeiten der Kernkontur, Aus- und Einstülpungen oder Einkerbungen finden sich oft bei neoplastischen Zellen, bei Virusinfektionen und Strahlenschäden. ■ Kerngröße. Normalerweise steht die Kerngröße in Relation zu der Zellgröße. Bei Tumorzellen kommt es häufig – relativ zur Zellgröße – zu einer Größenzunahme des Zellkerns (Verschiebung der Kern-Plasma-Relation zugunsten des Zellkerns). Da die Kerngröße weitgehend vom DNA-Gehalt abhängt (normalerweise diploid), ist eine DNA-Vermehrung (Polyploidie) mit einer Kernvergrößerung verbunden. Dies findet sich bei gesteigerter Funktion der Zelle und bei neoplastischen Prozessen. Bei degenerativen Prozessen kann es ebenfalls zur Kernvergrößerung kommen („degenerative Kernschwellung“). Eine Atrophie der Zelle geht mit einer Kernverkleinerung einher. ■ Kernchromatin. Bei Hyperplasie und Zellregeneration kommt es überwiegend zu einer Verschiebung des Heterochromatin-Euchromatin-Verhältnisses zugunsten des Euchromatins, während bei Zellschädigung das Heterochromatin-EuchromatinVerhältnis zunimmt. Bei Zelltod verklumpt das Chromatin, der Kern wird klein, dicht und basophil. Diese Veränderung wird als Kernpyknose bezeichnet. Pyknotische Kerne können dann zerbrechen (Karyorhexis) oder sich auflösen (Karyolyse). ■ Kerneinschlüsse. Neben echten intranukleären Einschlüssen können auch Zytoplasmaeinstülpungen in den Kern im histologischen Präparat Kerneinschlüsse vortäuschen (Pseudokerneinschlüsse, Lochkerne). Als Kerneinschlüsse kommen u.a. Glykogen, Lipide und Viruskomponenten in Frage. Besonders häufig finden sich Kerneinschlüsse in malignen Tumorzellen und virusinfizierten Zellen. ■ Nukleolus. Morphologische Veränderungen des Nukleolus äußern sich in Variationen von Größe, Form, Zahl oder Lage. Sie finden sich als Folge von neoplastischer Transformation, Virusinfekten, metabolischen und toxischen Zellschädigungen.

Mitochondrien Mitochondrien sind gegenüber Hypoxie oder toxischen Einwirkungen besonders empfindlich und reagieren darauf mit funktionellen und morphologischen Veränderungen (z.B. Kondensation, Schwellung, Verlust der Cristae). Daneben kann es auch zu Vermehrung oder Verminderung der Mitochondrienzahl oder zu einer Größenzunahme (z.B. Megamitochondrien bei alkoholischer Leberzellschädigung) kommen. Vermehrte Mitochondrien verleihen dem Zytoplasma der Zellen in der Hämatoxylin-Eosin-Färbung ein eosinophil feingranuläres Aussehen (diese Zellen werden als Onkozyten bezeichnet).

Endoplasmatisches Retikulum Zellschädigungen führen häufig zu einer Erweiterung der Zisternen des glatten endoplasmatischen Retikulums durch Flüssigkeitsansammlung oder Anhäufung von Sekretionsprodukten („hydropische“ Zytoplasmaveränderung, Zellödem). Nach länger dauernder Chemikalien- oder Medikamentenexposition kann es zu einer Vermehrung des glatten endoplasmatischen Retikulums im Sinne eines Adaptationsmechanismus (Enzyminduktion) mit Zunahme der für den Metabolismus dieser Substanzen verantwortlichen Enzymsysteme (z.B. des Cytochrom-P450-abhängigen mischfunktionellen Oxidationssystems) kommen. Vermehrtes glattes endoplasmatisches Retikulum verleiht Zellen (z.B. Leberzellen) ein milchglasartig homogenisiertes Zytoplasma. Die Ablösung von Ribosomen von den Membranen des rauen endoplasmatischen Retikulums und die Dispersion von Polyribosomen sind Ausdruck einer Störung der Proteinsynthese bei toxischen Zellschädigungen. Bei Proteinmangel und Hunger kommt es zu einer Verminderung des glatten und rauen endoplasmatischen Retikulums, während das raue endoplasmatische Retikulum in Zellen mit aktiver Proteinsynthese (z.B. Plasmazellen, Azinuszellen des Pankreas) besonders stark entwickelt ist.

Prä-Golgi-Intermediate Bei bestimmten Virusinfektionen und im Gefolge der Synthese nicht korrekt gefalteter Virusproteine zeigen die Prä-Golgi-Intermediate eine Hypertrophie.

Golgi-Apparat Der Golgi-Apparat reagiert auf Situationen, die mit Störungen der Proteinsynthese oder der Sekretion einhergehen (z.B. Hunger, Proteinmangel oder chemisch-toxische Schädigungen) mit Atrophie und Kollaps der Zisternen. Andererseits führt die Aktivierung der Syntheseleistungen oder abnorme Syntheseleistungen (TangierKrankheit und Niemann-Pick-Krankheit Typ-C) zu einer Golgi-Hypertrophie und Zisternendilatation. Zellgifte wie das Kolchizin, aber auch Hitzeschock (Fieber) führen zu einer Vakuolisierung der Golgi-Zisternen. Bei der amyotrophen Lateralsklerose ist der Golgi-Apparat der betroffenen Motoneurone fragmentiert. Solche Fragmentierungen beobachtet man auch beim Morbus Alzheimer. Funktionelle Defekte des Golgi-Apparats, wie ein Phosphotransferasemangel, manifestieren sich nicht primär in dieser Organelle, sondern wegen des fehlenden Mannose-6-Phosphat-Markers sekundär an lysosomalen Enzymen als Mukolipidose II (I-cell disease).

Lysosomen Lysosomen spielen eine Rolle beim Abbau von exogenem (Heterophagozytose) und endogenem (Autophagozytose) Material (siehe Abb. 2-7). Im Rahmen der

Autophagozytose kann es durch Abbau von zelleigenem Material (z.B. Zellorganellen) zu einer Reduktion der Zellmasse kommen. Zellbestandteile werden so nach ihrer Schädigung (durch Bestrahlung, Toxine, Hypoxie) abgebaut. Das phagozytierte Material findet sich in Vesikeln (Phagosomen), die mit Lysosomen unter Bildung von Phagolysosomen verschmelzen. Der Inhalt der Phagosomen kann dann entweder enzymatisch abgebaut, aus der Zelle ausgestoßen werden oder in der Zelle als Residualkörper verbleiben (Lipofuszingranula). Bei Störung der Lysosomenfunktion kommt es zu einer Störung dieser Abbauvorgänge und auch zu mangelhafter Abwehr gegenüber Infektionen (z.B. bei Chediak-Higashi-Syndrom, charakterisiert durch das Ausbleiben der Fusion von Lysosomen mit Phagosomen). Bei lysosomalen Enzymdefekten kommt es zur Anhäufung der nichtdegradierten Produkte, wie z.B. Glykogen, Glykoproteine, Lipide, in den Lysosomen (lysosomale Speicherkrankheiten).

Peroxisomen Bei Beeinflussung des Zellstoffwechsels, v.a. des oxidativen und des Fettstoffwechsels, kommt es häufig zu Peroxisomenveränderungen. Zu einer Peroxisomenvermehrung führen die Verabreichung von lipidsenkenden Medikamenten, fettreiche Diät und Alkohol. Eine Peroxisomenverminderung findet sich v.a. bei Fettleber sowie unter Einwirkung von Katalaseinhibitoren und einigen Bakterientoxinen. Das Zellweger-Syndrom beruht auf einem angeborenen Peroxisomenverlust, der mit Mitochondrienalterationen verbunden ist.

Zytoskelett Mikrofilamente (Aktin-Myosin-System) Durch Denervierung, toxische Schädigungen oder hormonelle Wirkungen kann es zu Schädigung der Myofilamente im Skelettmuskel kommen. Die Mikrofilamentorganisation in Nichtmuskelzellen kann durch Toxine, wie z.B. Zytochalasin und Phalloidin, nachhaltig gestört werden. Bei Cholestase kommt es in den Leberzellen zu einer Vermehrung des perikanalikulären Mikrofilamentnetzwerks.

Mikrotubuli Mikrotubuli sind labile Strukturen, die durch antimikrotubuläre Agenzien, wie z.B. Kolchizin oder Vinblastin, depolymerisiert werden. Folgen sind Störungen der Sekretion, des intrazellulären Transports und Mitosehemmung. Durch die komplexe Morphologie und Funktion der Zilien ergeben sich diverse Störungsmöglichkeiten, die die Zahl und Form der Zilien, Mikrotubuluszahl, Struktur, Schlagrichtung und frequenz, Dyneinarme und Radiärspeichen betreffen. Diese Abnormalitäten können

das Substrat für das immobile Ziliensyndrom (Ziliendyskinesiesyndrom) sein. In den meisten Fällen findet sich dabei ein (erblicher) Defekt der Dyneinarme. Der Defekt betrifft Zilien und Flagellen im gesamten Organismus und führt zu Infektionen des Respirationstraktes durch defekte Reinigungsmechanismen, zu Bronchiektasien sowie – durch Fehlen der Spermienmotilität – zu Sterilität. Das Kartagenersyndrom ist durch die Trias Dextrokardie (mit oder ohne Situs inversus), Bronchiektasien und Sinusitis charakterisiert. Der Aufbau sowie die Interaktion von Mikrotubuli mit anderen Zellkomponenten wird durch Proteine beeinflusst, die an Mikrotubuli binden (mikrotubuliassoziierte Proteine, MAP). Eines dieser mikrotubuliassoziierten Proteine, Tau, ist beim Morbus Alzheimer verändert, indem es als abnorm phosphoryliertes Tau in Form der „neurofibrillary tangles“ in den Nervenzellen des ZNS akkumuliert.

Intermediärfilamente Neurologische Erkrankungen (z.B. amyotrophe Lateralsklerose, Morbus Parkinson) können mit einer gestörten Architektur des Intermediärfilament-(Neurofilament)Zytoskeletts und der Bildung von abnormen intrazellulären Einschlüssen einhergehen. In manchen Astrozytomen werden ebenfalls Intermediärfilament(GFAP)-Zytoskeletteinschlüsse (= Rosenthal-Fasern) gefunden. Ebenso kommt es bei hypertrophen Myopathien zu abnormen Zytoplasmaeinschlüssen mit Beziehung zum Zytoskelett (Desmin). Auch die im Rahmen der alkoholischen Hepatitis und anderer chronischer Leberzellschädigungen auftretenden Mallory-Körper (siehe Kap. 32.5.3) bestehen z.T. aus Komponenten des Intermediärfilament-Zytoskeletts vom Keratintyp und sind mit einer Störung der Zytoskelettstruktur in der Leberzelle assoziiert. ■ Mutationen von Keratingenen der Leber werden vereinzelt bei Leberzirrhose gefunden. ■ Mutationen von epidermalen Keratingenen sind die Ursache einiger bullöser Dermatosen. ■ Mutationen in Lamingenen (Lamine sind Hauptbestandteil der Kernlamina und gehören ebenfalls in die Gruppe der Intermediärfilamente) sind die Ursache bestimmter Muskel- und Lipodystrophien.

2.6.4 Zelltod Definition Der Zelltod ist das irreversible Endstadium einer Zellschädigung als Folge hypoxischer, toxischer, physikalischer, immunologischer oder mikrobieller Ursachen. Zelltod ist aber auch ein physiologischer Vorgang im Rahmen der

Embryonalentwicklung und des normalen Gewebsumsatzes. Der Zelltod äußert sich einerseits in Form der Apoptose und andererseits in Form der Nekrose.

Formen des Zelltodes Apoptose Definition Unter Apoptose (griechisch: Abfallen, Abtropfen; man denke an das Abfallen der Blätter im Herbst) wird die genetisch programmierte Elimination von Zellen (= programmierter Zelltod) verstanden. Sie ist die natürliche Form der Zellmauserung, die das Gleichgewicht zwischen Zellvermehrung und Zellelimination ermöglicht. Apoptose tritt physiologischerweise im Rahmen der Embryonalentwicklung und von Involutionsprozessen auf. Außerdem spielt sie bei einer Vielzahl von pathologischen Situationen eine zentrale Rolle (Abb. 2-20), wie bei der Elimination infizierter Zellen, bei Autoimmunerkrankungen, degenerativen Erkrankungen, ischämischer Gewebsschädigung und insbesondere bei der Krebsentstehung (die Hemmung der Apoptose führt zu einer Zunahme der Zellzahl!).

Morphologie

Die Apoptose läuft in mehreren Stadien ab (Abb. 2-21). Die apoptotische Zelle verliert zunächst ihre Zellverbindungen und löst sich damit aus dem Zellverband. Apoptotische Zellen werden kleiner und zeigen in der Hämatoxylin-EosinFärbung ein homogen eosinophiles Zytoplasma, das im Gegensatz zur Nekrose weitgehend intakte Zellorganellen enthält. Außerdem kommt es zu Veränderungen an der Zellmembran mit Ausbildung kleiner Blasen („blebs“), Verlust von Mikrovilli und zur Exposition von Phosphatidylserin an der Außenseite der Zellmembran. In Zellkernen apoptotischer Zellen wird in der Folge das Chromatin kondensiert und fragmentiert, sodass diese Zellen entweder einen pyknotischen Zellkern, Kernfragmente oder keinen Zellkern mehr enthalten. Die Elimination apoptotischer Zellen erfolgt durch Phagozytose, wobei eine umgebende entzündliche Reaktion fehlt. Ein typisches Beispiel für apoptotische Zellen sind die eosinophil veränderten Leberzellen und rote (oxiphile) Körper bei Virushepatitis, die so genannten Councilman-Körper (siehe Kap. 32.4.1).

Abb. 2-20 Apoptose als Folge einer Zellschädigung oder abnormen Wachstumsstimulation.

Zellen reagieren mit einer Zellteilung nur dann auf einen Wachstums-stimulus, wenn gleichzeitig das Apoptoseprogramm blockiert wird. Dies verhindert unkontrolliertes Zellwachstum und erklärt, warum im Rahmen der Karzinogenese mehrere Mutationen zusammenwirken müssen.

Abb. 2-21 Ablauf der Apoptose. Links schematische Darstellung. Rechts unterschiedliche Apoptosestadien in der Leber.

a Normaler Zellverband b Lösung der Zellverbindungen und Kondensation des Chromatins c Fragmentierung und Pyknose des Zellkerns in der apoptotischen

Zelle d Entzündungsfreie Elimination der apoptotischen Zellteile durch Phagozytose.

Zur Apoptose führende Mechanismen Apoptose kann durch eine Vielzahl von unterschiedlichen Mechanismen ausgelöst werden (Abb. 2-22). So gibt es einerseits hormonähnliche Faktoren, wie den FASLiganden oder den Tumornekrosefaktor α (TNF-α), die an ihre korrespondierenden Rezeptoren an der Zellmembran binden und dadurch in der Zelle das Apoptoseprogramm aktivieren. Andererseits kann Apoptose durch diverse Zellschädigungen, wie Hypoxie, Radikale, Toxine, Chemotherapeutika und Bestrahlung, durch Induktion der Freisetzung von Cytochrom C aus den Mitochondrien ausgelöst werden. Die Cytochrom-C-Freisetzung hängt von dem Verhältnis der in der Zelle vorhanden apoptosehemmenden Faktoren (Bcl-2Proteine) und apoptosefördernden Faktoren (Bax-Proteine) ab. Das freigesetzte Cytochrom C ist ein Kofaktor für die Aktivierung von Caspasen (Proteasen und Nukleasen), die als inaktive Vorstufen (Procaspasen) in der Zelle vorhanden sind. Aktivierte Caspasen führen das apoptotische Programm aus, indem sie eine Reihe von Zellproteinen und die DNA an charakteristischen Stellen spalten. In der Folge kommt es zu einem Einstrom von Ca2+ in die Zelle, wodurch Ca2+-abhängige Enzyme wie Transglutaminase aktiviert werden und eine Quervernetzung von Proteinen bewirken. Das apoptotische Programm wird jedoch nicht nur bei Zellschädigung, sondern auch beim Fehlen von Wachstumsfaktoren und bei inadäquater Wachstumsstimulation ausgelöst. Apoptose ist somit auch ein biologischer Sicherungsprozess, durch den Zellen mit dereguliertem Wachstum eliminiert werden. Dies erklärt, warum im Rahmen der Krebsentstehung mehrere Gendefekte, welche die Regulation der Zellteilung und der Apoptose betreffen, zusammenwirken müssen.

Abb. 2-22 Vorgänge bei der Apoptose.

Apoptose kann durch eine Reihe von Zellschädigungen, z.B. durch Radikale, Bestrahlung, Toxine und Hypoxie, sowie durch spezifische Signale ausgelöst werden. Die spezifischen Signale (TRAIL, FAS-L, TNF-α) bewirken durch Bindung an „Death“-Rezeptoren (DR 4/5, FAS, TNF-R) die Aktivierung der Caspase 8, die einerseits Caspase 3 aktiviert und anderseits über Bid zur Freisetzung von Cytochrom C aus den Mitochondrien führt. Bid kann auch durch Granzym B aktiviert werden, das von zytotoxischen T-Zellen (CTL) abgegeben wird und durch Perforinporen in die Zielzelle gelangt. Die Freisetzung von Cytochrom C aus den Mitochondrien infolge spezifischer Signale wie auch unspezifischer Zellschädigungen wird durch die in der Zelle vorhandenen Konzentrationen von Bax und Bcl2 beeinflusst. Bax fördert die Cytochrom-C-Freisetzung, während Bcl2 hemmend wirkt. Cytochrom C führt gemeinsam mit einem Kofaktor (Apaf-1) und unter Verbrauch von ATP zur Aktivierung von Caspase 9, die wiederum Caspase 3 aktiviert, die für viele der bei der Apoptose ablaufenden Zellveränderungen verantwortlich ist.

Nachweis von Apoptosen Apoptotische Zellen können am besten anhand ihres charakteristischen morphologischen Erscheinungsbildes in der Hämatoxylin-Eosin-Färbung erkannt werden. Zusätzlich gibt es jedoch eine Reihe von Nachweismethoden, wie die Bindung von fluoreszenzmarkiertem Annexin V an Phosphatitylserin an der Zelloberfläche, die Darstellung der durch Caspasen gespaltenen DNA mittels Einbau von markierten Nukleotiden (TUNEL-Reaktion), den Nachweis von aktivierten Caspasen und den Nachweis der charakteristischen DNA-Fragmente (Nukleosomen-Pattern).

Nekrose Definition Nekrose ist der durch eine Noxe in einem lebenden Gewebe verursachte Zelltod, der mit Denaturierung (Koagulation) von Proteinen und/oder der enzymatischen Auflösung (Kolliquation) von Zell- und Gewebskomponenten einhergeht. Das Erscheinungsbild hängt von der Art der Noxe, dem betroffenen Zelltyp und der Reaktion des Organismus auf den Zelltod ab.

Morphologie

Die nekrotische Zelle zeigt im Lichtmikroskop in der Hämatoxylin-EosinFärbung anfangs ein eosinophil homogenisiertes Zytoplasma durch Verlust der RNA und vermehrte Bindung von Eosin an denaturierte zytoplasmatische Proteine. Der Zellkern schrumpft (Kernpyknose) und wird dann aufgelöst (Karyolyse). Es kann aber auch zum Zerfall des Zellkerns in einzelne Bruchstücke kommen (Karyorhexis), die dann später aufgelöst werden (Abb. 223). Im Rahmen der Zellschädigung kommt es früh zu Zellschwellung, Zellmembranausbuchtungen, Erweiterung der Zisternen des glatten und Ribosomenverlust des rauen endoplasmatischen Retikulums sowie Schwellung und Matrixveränderungen der Mitochondrien. Es folgen Zerstörungen der Plasmamembran und der intrazellulären Organellenmembranen und damit die Zellauflösung. Die Nekrose ist üblicherweise von einer entzündlichen Reaktion mit Überwiegen von neutrophilen Granulozyten begleitet.

Unterschiede zwischen Nekrose und Apoptose Bei der Nekrose finden sich zytoplasmatische Veränderungen mit Vakuolisierung und Schwellung der Organellen (v.a. des endoplasmatischen Retikulums und der Mitochondrien). Der folgende Zellzerfall führt zum Freiwerden von Enzymen, aber auch von chemotaktisch wirksamen Zellkomponenten, die eine Entzündungsreaktion hervorrufen. Bei der Apoptose bleiben Zelle und Organellen lange Zeit intakt („Zellmumie“), oder die Zelle zerbricht in größere Bruchstücke. Das apoptotische Material wird phagozytiert ohne Entwicklung einer Entzündungsreaktion. Häufig treten bei Organschäden (z.B. Infarkten) Apoptose und Nekrosen nebeneinander auf.

Typen der Nekrose Die makroskopisch und histologisch unterscheidbaren Nekrosetypen hängen von den für die Nekrose maßgeblichen Noxen und vom betroffenen Gewebe ab.

Abb. 2-23 Veränderungen des Zellkerns.

Abb. 2-24 Frischer Myokardinfarkt.

a Makroskopisches Bild. Lehmfarbene Abblassung des Myokards im Infarktgebiet und rötliches, resorptives Granulationsgewebe im Randbereich (Pfeile). b Histologisches Bild. Eosinophile Nekrosen (N) des Infarkts. ■ Koagulationsnekrose. Dieser Nekrosetyp ist häufig die Folge einer plötzlichen Ischämie, aber auch von ätzenden Chemikalien (z.B. Säure). Es kommt zur Denaturierung zellulärer Proteine. Dies gilt auch für lytische Enzyme der Zelle. Die Zelle wird daher nicht durch eigene Enzyme lysiert. Das makroskopische und mikroskopische Aussehen hängt vom Alter der Nekrose ab. In frühen Phasen sind die nekrotischen Zellen histologisch in der HämatoxylinEosin-Färbung eosinophil, wobei aber noch zelluläre Details erkennbar sind

(Abb. 2-24). Makroskopisch ist der Nekrosebezirk abgeblasst, fest und geschwollen. Später wird das nekrotische Gewebe gelb und weicher, bedingt durch Einwanderung von Leukozyten und proteolytische Degradation. Dieser Nekrosetyp findet sich klassischerweise in Herz, Milz, Niere und Leber. ■ Fibrillogranuläre Nekrose. Es handelt sich dabei um eine Sonderform der Koagulationsnekrose, bedingt durch spezielle Mikroorganismen, z.B. Mycobacterium tuberculosis. Makroskopisch sind die Nekroseherde graugelb und gegenüber dem umgebenden normalen Gewebe scharf abgegrenzt. Das nekrotische Gewebe ist weich, krümmelig und erinnert an die Konsistenz von vertrocknetem Frischkäse („käsige“ Nekrose). Histologisch zeigt sich eosinophiles granuläres bis fibrilläres Material (Abb. 2-25). In der Peripherie findet sich Granulationsgewebe. ■ Fibrinoide Nekrose. Dabei kommt es zu einer Fragmentation von kollagenen und elastischen Fasern. Die Bruchstücke sind in Zelldetritus, Serumbestandteilen und Fibrin eingebettet. Das Nekroseareal ist in der Hämatoxylin-Eosin-Färbung intensiv rot gefärbt (Abb. 2-26). Derartige Nekrosen finden sich in Gefäßwänden (häufig immunologisch bedingt) und bei peptischen Ulzera (v.a. des oberen Gastrointestinaltraktes). ■ Kolliquationsnekrose. Dieser Nekrosetyp ist die Folge der Wirkung hydrolytischer Enzyme bei Autolyse (Selbstverdauung durch zelleigene Enzyme) und/oder Heterolyse (z.B. Verdauung durch bakterielle Enzyme). Kolliquationsnekrosen entstehen also dann, wenn Zell- und Gewebsauflösung gegenüber Proteindenaturierung überwiegen. Dieser Nekrosetyp findet sich vornehmlich in proteinärmeren, lipidreicheren Geweben, wie z.B. im Gehirn, oder auch im Rahmen bakterieller Infektionen. Der nekrotische Gehirnbezirk ist weich („malazisch“) und wird schließlich verflüssigt, sodass eine von Detritus (Zelltrümmern) und Flüssigkeit erfüllte Höhle (Pseudozyste) entsteht. Eine Sonderform der Kolliquationsnekrose ist die Fettgewebsnekrose. Es handelt sich um eine durch Lipase bedingte, also enzymatische Nekrose des Fettgewebes. Sie findet sich häufig im Pankreas oder in Pankreasnähe und ist Folge des Freiwerdens von Lipase aus dem Pankreas im Rahmen einer akuten Pankreatitis (Abb. 2-27). Dabei werden Triglyzeride zu Fettsäuren und Glyzerin hydrolysiert. Die freien Fettsäuren reagieren dann mit Ca2+, Mg2+ und Na+ unter Bildung von Seifen. Makroskopisch sind die nekrotischen Herde derb und kalkweiß. Histologisch lässt sich noch schattenhaft das nekrotische Fettgewebe mit Einlagerung von amorphem, leicht basophilem Material und umgebender Entzündungsreaktion erkennen. ■ Gangrän. Dies ist eine meist ischämische Nekrose einer Extremität (z.B. aufgrund von Gefäßverschlüssen) (Abb. 2-28). Die Koagulationsnekrose wird sekundär durch lytische Enzyme von Bakterien und Leukozyten modifiziert und verflüssigt. Ist die Verflüssigung stark ausgeprägt, wird von feuchter, ist sie

wenig ausgeprägt, von trockener Gangrän gesprochen (siehe Kap. 3.2.5, Nekrotisierende Entzündung).

Abb. 2-25 Käsige („fibrillogranuläre“) Nekrose (*) bei Tuberkulose.

Abb. 2-26 Fibrinoide Nekrose bei Vaskulitis.

Abb. 2-27 Schwere akute Pankreatitis.

a Hämorrhagische Nekrosen und zahlreiche kleine gelbe Fettgewebsnekrosen (Pfeile). b Frische autodigestive Fettgewebsnekrose (Pfeile) am Rande des Pankreasparenchyms (P) bei akuter Pankreatitis.

Schicksal der Nekrose Nekrotisches Gewebe (v.a. bei Koagulationsnekrosen) wird vornehmlich durch Leukozyten abgebaut, durch Granulationsgewebe organisiert und schließlich durch Narbengewebe ersetzt. Kolliquationsnekrosen führen oft zu Pseudozystenbildung durch Abbau und Resorption nekrotischen Materials. Diese Endstadien werden als Defektheilung (Reparatio) bezeichnet. Bei wenigen ausgedehnten Nekrosen und

guter Abwehrlage des Organismus kann das nekrotische Gewebe durch Zellproliferation ersetzt werden, sodass der ursprüngliche Gewebszustand wiederhergestellt wird (Heilung mit Restitutio ad integrum).

Abb. 2-28 Zehengangrän durch arteriellen Gefäßverschluss bei Diabetes mellitus.

2.6.5 Zelleinschlüsse Im Rahmen von strukturellen und funktionellen Störungen kann es in Zellen oder Geweben zur abnormen Anhäufung von Substanzen im Zytosol oder in Zellorganellen (v.a. Lysosomen) kommen. Dabei handelt es sich entweder um vermehrt vorkommende normale Zellbestandteile (z.B. Triglyzeride, Glykogen, Pigmente), um abnorme Produkte des Zellstoffwechsels oder um aufgenommene exogene Substanzen (z.B. Schwermetalle, Mineralstoffe).

Ursachen ■ Vermehrte Bildung, mit der Ausscheidung oder Abbau nicht Schritt halten können.

■ Abnorme chemische Zusammensetzung, sodass ein Abbau durch zelleigene Enzymsysteme nicht oder nur ungenügend erfolgt. ■ Transport- oder Abbaubehinderung wegen abnormer Proteinfaltung infolge Punktmutationen oder durch Wirkung freier Radikale. ■ Defekte oder inadäquate Abbaureaktionen (z.B. durch genetisch determinierte Enzymdefekte).

Folgen Durch die Anhäufung von normalem oder abnormem Material in der Zelle kann es sekundär zu Zellschädigung kommen, wie dies z.B. bei einer Reihe von genetisch bedingten Speicherkrankheiten der Fall ist. Andererseits können Zelleinschlüsse biologisch inert und harmlos sein (z.B. anthrakotisches Pigment).

Arten Einlagerung von Lipiden Die vermehrte Einlagerung von Triglyzeriden in Zellen wird als Verfettung bezeichnet. Die Triglyzerideinlagerung zeigt sich in Form unterschiedlich großer Fettvakuolen im Zytoplasma. Verfettung findet sich bevorzugt in Leber, Herz, Muskel und Niere (siehe entsprechende Organpathologie). Unter normalen Fixierungs- und Gewebseinbettungsbedingungen bei Verwendung fettlösender Reagenzien (Alkohol) wird Fett herausgelöst, sodass in den Gewebsschnitten nur mehr leere Vakuolen zurückbleiben. Fett lässt sich aber in unfixierten oder in Formalin fixierten Gefrierschnitten mit der Sudan- oder Ölrotfärbung direkt nachweisen. Neben Triglyzeriden (Neutralfetten) kann es im Rahmen pathologischer Veränderungen auch zu verstärkter Einlagerung von Cholesterin und Cholesterinestern (z.B. bei Atherosklerose, Hyperlipidämie, eitrigen Entzündungen) häufig in Makrophagen und anderen Mesenchymzellen (z.B. glatte Muskelzellen) und damit zur Ausbildung von Zellen mit schaumigem Zytoplasma („Schaumzellen“) kommen. Eine Reihe vererbter Speicherkrankheiten (z.B. Morbus Gaucher, Morbus Niemann-Pick, Tay-Sachs-Erkrankung) ist durch Einlagerung und zelluläre Anhäufung von komplexen Lipiden charakterisiert.

Einlagerung von Kohlenhydraten Pathologische intrazelluläre Ansammlung von Glykogen findet sich bei Diabetes mellitus (v.a. in den Epithelzellen der distalen Nierentubuli, in Leberzellen, β-Zellen der Langerhans-Inseln und in Herzmuskelzellen). Durch Glykogenbildungs- oder abbaustörungen kommt es bei einer Reihe von familiären Erkrankungen, den Glykogenspeicherkrankheiten oder Glykogenosen (siehe Kap. 46.5), zu einer

vermehrten zellulären Glykogeneinlagerung. Die glykogenreichen Zellen sind vakuolisiert und ähneln in der Hämatoxylin-Eosin-Färbung Pflanzenzellen, bedingt durch schlechte Anfärbbarkeit des Zytoplasmas bei deutlicher Konturierung der Zellperipherie. Wegen der Wasserlöslichkeit des Glykogens lässt sich der beste direkte Glykogennachweis in alkoholfixiertem Gewebe durch PAS- oder BestKarmin-Färbung erzielen. Eine vermehrte Speicherung von komplexen Kohlenhydraten und von Glykolipiden findet sich bei familiären Speicherkrankheiten (z.B. Glykogenosen, Mukopolysaccharidosen).

Einlagerung von Proteinen Vermehrte intrazytoplasmatische Speicherung von Proteinen findet sich in Nierentubulusepithelien bei Proteinurie. Bei Plasmazellen kann es zu einer Einlagerung von Immunglobulinen und zur Ausbildung sog. Russel-Körper kommen. Abnorme Glykoproteineinlagerungen finden sich auch im Rahmen des α1Antitrypsin-Mangels und anderen Proteinfaltungserkrankungen (siehe Kap. 2.10).

Einlagerung von Pigmenten Allen Pigmenten ist eine Eigenfarbe gemeinsam. Sie unterscheiden sich aber hinsichtlich Ursprung und chemischer Zusammensetzung. Nach dem Ursprung lassen sich von außen kommende (exogene) und im Körper selbst produzierte (endogene) Pigmente unterscheiden. Endogene Pigmente umfassen Tyrosin- und Tryptophanderivate (z.B. Melanin), Hämoproteinderivate (Hämoglobin, Hämosiderin, Porphyrine, Bilirubin) sowie lipidreiche Pigmente (Lipofuszin, Ceroid). Als exogene Pigmente kommen Kohlenstoffpartikel (anthrakotisches Pigment), Farbstoffe (z.B. im Rahmen von Tätowierungen, Abb. 2-29), Schwermetalle und Schwermetallverbindungen und Mineralstäube infrage. Einige praktisch wichtige Pigmente werden gesondert besprochen.

Anthrakotisches Pigment (Kohlenstaub) und Mischstäube Kohlenstaub ist eine nahezu ubiquitär in unserer Umwelt vorhandene Verunreinigung. Nach Aufnahme über die Lunge wird er von den Makrophagen in den Alveolen phagozytiert, gelangt in das Interstitium und wird über die Lymphgefäße in die regionären Lymphknoten abtransportiert. Er ist für die Schwarzfärbung des Lungeninterstitiums, v.a. subpleural, und der Lymphkoten verantwortlich (Abb. 2-30). Bei anthrakotischem Pigment handelt es sich um ein inertes, harmloses Pigment. Im Gegensatz hierzu führen inhalierte Mischstäube (Kohlenstaub, Eisenverbindungen, Beryllium, Siliziumoxid) zu schweren Lungenerkrankungen, den Pneumokoniosen (siehe Kap. 51.2.2).

Lipofuszin Lipofuszin ist eine chemisch komplexe Substanz, bestehend aus Lipiden, Phospholipiden und Proteinen. Es wird in Form von braunen lysosomalen Granula im Zytoplasma vornehmlich in Zellkernnähe abgelagert. Es entsteht häufig als Folge lipidperoxidativer Prozesse. Lipofuszin findet sich vor allem in Leber-, Herzmuskelund Nervenzellen und nimmt mit dem Alter und bei Gewebsatrophie zu („braune Atrophie“), ohne die Zellfunktionen negativ zu beeinflussen. Bei Phenacetinabusus kommt es zu massiven Lipofuszinablagerungen in Hepatozyten und im Rippenknorpel.

Abb. 2-29

Tätowierung.

Melanin Es handelt sich um ein braunschwarzes Pigment, das in Melanozyten über mehrere Zwischenprodukte aus Tyrosin gebildet wird. Es ist für die Hautpigmentierung verantwortlich und hat eine Schutzfunktion gegenüber Sonnenlicht (UV). Die Melanogenese steht unter Kontrolle des melanozytenstimulierenden Hormons des Hypophysenvorderlappens (beim Menschen auch durch ACTH stimuliert). Albinismus (Fehlen von Melanin) ist die Folge einer Störung des Melaninstoffwechsels. Bei Albinismus fehlt die Pigmentierung entweder diffus oder

fleckförmig. Dieser Zustand ist mit ausgeprägter Empfindlichkeit gegenüber Sonnen- und UV-Bestrahlung verbunden. Folgen sind Hautrötung und die Ausbildung von Hautneoplasien. Beim Morbus Parkinson sind die Substantia nigra und der Locus coereleus depigmentiert als Folge des Verlustes melaninhaltiger Neuronen. Ein melaninähnliches Pigment wird in großen Mengen bei Alkaptonurie, einer Störung des Homogentisinsäuremetabolismus (Homogentisinsäure ist Intermediärprodukt des Phenylalanin- und Tyrosinstoffwechsels) gebildet. Durch mangelhaften Abbau der Homogentisinsäure kommt es zu einer Ablagerung von Homogentisinsäurepolymeren in Haut, Bindegewebe und Knorpel und dadurch zu braun-schwarzer Pigmentierung (Ochronose).

Hämosiderin Abb. 2-30 Anthrakose der Lunge.

Einlagerung von schwarzem Pigment (Kohlenstaub). Hämosiderin ist ein gelbbraunes grobgranuläres Pigment, das aus Aggregaten von Ferritin besteht (siehe Kap. 32.10.1). Der histologische Nachweis erfolgt mittels der Berliner-Blau-Reaktion. Bei saurem pH bildet Hämosiderin mit K-Ferrocyanid die blaue Verbindung Ferri-Ferrocyanid. Die Ablagerung von Hämosiderin in den Zellen findet sich bei vielen pathologischen Situationen, in denen es zu Eisenüberschuss kommt. Dies ist z.B. bei Blutungen der Fall, in deren Umgebung Hämosiderin in Zellen des histiozytären Systems (hämosiderinspeichernde Makrophagen, Siderophagen, siderophere Zellen) eingelagert ist. Eine generalisierte Hämosiderineinlagerung in phagozytierenden Zellen, aber auch in Parenchymzellen findet sich bei systemischer Eisenüberladung und wird als Hämosiderose bezeichnet. Die Hämosiderose entsteht als Folge einer vermehrten Eisenzufuhr oder Eisenresorption, einer vermehrten Eisenfreisetzung bei Hämolyse oder einer

verminderten Eisenverwertung (siehe Störungen des Eisenstoffwechsels). Bei der Hämochromatose liegt eine genetisch bedingte erhöhte Eisenresorption vor, die zu einer massiven Eisenüberladung insbesondere in Leber, Herz, Haut und endokrinen Organen führt. Vermehrt eingelagertes Eisen wirkt zytotoxisch.

Bilirubin Bilirubin an sich wirkt, wenn es intrazellulär an Ligandin (Glutathion-S-Transferase) gebunden ist, nicht zellschädigend. Jedoch kann freies Bilirubin, bei durchlässiger Blut-Hirn-Schranke für einige Nervenzellen, die kein Ligandin haben, toxisch wirken (z.B. Kernikterus bei Rhesusinkompatibilität; siehe Kap. 32.3.2) Bei verschiedenen Lebererkrankungen kommt es zur Bilirubinablagerung in der Haut und den Schleimhäuten (Ikterus).

2.7

Pathologie des Bindegewebes

Störungen der einzelnen Schritte der Kollagensynthese und des Kollagenabbaus können zu angeborenen oder erworbenen krankhaften Veränderungen führen. Demnach können Defekte und Störungen die Kollagengene, das Prokollagen, die Abspaltung von Propeptiden, die Anordnung in Fibrillen und schließlich die Quervernetzung der Fibrillen betreffen. Erhöhter Kollagen-, aber auch Elastinabbau findet sich im Rahmen von Entzündungen unterschiedlicher Ursachen sowie bei Proteinaseinhibitordefekten (z.B. α1Antitrypsin-Mangel). Bei einer Reihe von immunologischen Erkrankungen (sog. Kollagenosen) finden sich Autoantikörper gegen Kollagen (siehe Kap. 47.1.5). Aus der Gruppe der möglichen krankhaften Veränderungen sollen einige Erkrankungen beispielhaft genannt werden: ■ Skorbut. Die Erkrankung ist durch Vitamin-C-Mangel bedingt. Vitamin C ist ein Kofaktor der Prolinhydroxylase (Details siehe Kap. 46.4.3). ■ Ehlers-Danlos-Syndrom. Es handelt sich dabei um eine Gruppe von vererbten Störungen (mit mindestens acht Varianten) der Prokollagenbildung (Details siehe Kap. 5.3.1). ■ Marfan-Syndrom. Die Ursache des Marfan-Syndroms ist eine Mutation im Bereich des langen Arms von Chromosom 15 (15q) und betrifft das Gen, das für Fibrillin kodiert (Details siehe Kap. 5.3.1). ■ Osteogenesis imperfecta. Dieser Erkrankungsgruppe liegen unterschiedliche Kollagendefekte zugrunde (Änderungen in der Aminosäurenzusammensetzung, Deletionen von Peptiden, Defekte von Proteinketten etc.). Der Basisdefekt liegt in der Synthese eines abnormen Typ-I-Prokollagens. Dies hat eine Störung der Bildung der Knochenmatrix zur Folge (Details siehe Kap. 5.3.1).

2.7.1 Pathologie der Basalmembran Eine Reihe von Erkrankungen immunologischer (z.B. Glomerulonephritiden, Hauterkrankungen) und metabolischer (Diabetes mellitus, Amyloidose) Natur gehen mit Veränderungen der Basalmembran einher, die sich in einer Verbreiterung, einer Verschmälerung oder Aufsplitterung äußern können.

2.7.2 Pathologie des Elastins Pathologische Veränderungen der elastischen Fasern gehen auf Bildungs- oder Abbaustörungen des Elastins oder auf die Einlagerung abnormen Materials in elastischen Fasern zurück (siehe auch Marfan-Syndrom). ■ Verminderung der Elastinbildung. Neben altersbedingt eingeschränkter Bildung elastischer Fasern, die zum bekannten Elastizitätsverlust der Gewebe, insbesondere der Haut (gerunzelte Altershaut), der Aorta (Ektasie durch Elastizitätsverlust) und der Lunge (Altersemphysem) führt, sind auch vererbte Defekte der Elastogenese bekannt. ■

Bildung abnormer elastischer Fasern □ Aktinische solare Elastose. Als Folge ausgeprägter Sonnenbestrahlung findet sich bei älteren Menschen in der exponierten Haut eine Ablagerung von abnorm strukturiertem Elastin. □ Fibroelastose. Dabei kommt es im Endokard oder in der Gefäßwand zu einer vermehrten Ablagerung von fragmentierten und dissoziierten elastischen Fasern (aber auch von kollagenen Fasern), wodurch es zu einer Verdickung und makroskopisch porzellanähnlichen Veränderung kommt. □ Elastofibroma dorsi. Es findet sich eine vermehrte Produktion von abnorm strukturiertem elastischem Material. □ Elastoderma. Dieser Erkrankung liegt die Vermehrung abnorm quervernetzten elastischen Materials mit Störung der elastischen Eigenschaften zugrunde.

■ Störung der Elastolyse. Eine Steigerung der Elastolyse findet sich im Rahmen entzündlicher Erkrankungen (besonders bei Vaskulitiden) und bei Mangel an Proteaseinhibitoren (z.B. bei α1-Antitrypsin-Mangel). ■ Einlagerung abnormen Materials. Im Rahmen regressiver Veränderungen kann es zur Einlagerung von Kalziumsalzen und von Lipiden in elastische Fasern kommen.

2.8

Abnorme Verkalkung von Zellen und Geweben

Pathologische Verkalkungen lassen sich als dystrophische und metastatische Verkalkungen klassifizieren. ■ Dystrophische Verkalkung. Dabei handelt es sich um eine Kalkeinlagerung (Ca2+Phosphat) in schwer geschädigten oder nekrotischen Geweben (Beispiele: Herzklappen, Arterienwand, Tuberkulose, Mammakarzinom). ■ Metastatische Verkalkung. Die Kalkablagerung entsteht in vitalen Geweben meist als Folge einer Hyperkalzämie (z.B. bei Knochenmetastasen, Hyperparathyreoidismus, Vitamin-D-Hypervitaminose, Knochendemineralisation). Auch in diesem Fall scheint aber eine Gewebsschädigung Voraussetzung der Verkalkung zu sein (Beispiele: Lungenalveolarsepten, Basalmembran der Nierentubuli).

Pathogenese

■ Ca2+-Einstrom über geschädigte Plasmamembranen und Störung der intrazellulären Ca2+-Sequestration in Mitochondrien und endoplasmatischem Retikulum. ■ Bei Sekretion von Säure (z.B. in Lungenalveolen, Nierentubuli, Magenschleimhaut) begünstigt die lokale OH−-Erhöhung die Präzipitation von Ca2+ in Form von Kalziumhydroxid und Hydroxylapatit.

2.9

„Hyaline“ Veränderungen

„Hyalin“ ist ein rein deskriptiver Begriff und bezeichnet zelluläre oder extrazelluläre Veränderungen, die sich in der Hämatoxylin-Eosin-Färbung als homogene eosinophile Massen darstellen lassen. Diesem färberischen Verhalten liegt keine spezifische chemische Struktur oder Pathogenese zugrunde.

2.10

Proteinfaltungserkrankungen

Die regelrechte Funktion eines Proteins hängt nicht nur von der korrekten Aminosäuresequenz ab, sondern auch von der korrekten Faltung (dreidimensionale Anordnung der Aminosäurekette = Tertiärstruktur). Proteine erlangen mithilfe von Chaperonen (Heat-Shock-Proteinen, HSP) während und nach der Synthese ihre richtige Konformation, wobei hydrophobe Domänen im Zentrum des gefalteten Proteins zu liegen kommen. Die Struktur des gefalteten Proteins wird außerdem durch Disulfidbrücken und ionische Bindungen stabilisiert. Proteine, die nicht korrekt gefaltet werden können, müssen von der Zelle abgebaut werden, wobei der Ubiquitin-Proteasom-Proteolyseweg eine besonders wichtige Rolle spielt. Liegt eine Mutation in einem Protein vor, so kann diese nicht nur seine Funktion, sondern auch die Faltung wesentlich beeinflussen. Dies bedeutet, dass die Zelle ständig abnorm

gefaltete (mutierte) Proteine abbauen muss. Reicht die Abbaukapazität nicht mehr aus, so akkumulieren die abnormen Proteine in der Zelle und werden in Form von Aggregaten (Zytoplasmaeinschlüssen) abgelagert. Derartige Proteinaggregate können fallweise selbst eine zentrale Rolle für die Entwicklung der durch eine Mutation ausgelösten Krankheitssymptome spielen (z.B. Leberzirrhose bei α1-Antitrypsin-Mangel oder Neurodegeneration bei Morbus Huntington; Tab. 2-6). Die Zelle hat somit grundsätzlich drei Möglichkeiten, abnorme Proteine zu eliminieren: ■ Rückfaltung, ■ Abbau und ■ Ablagerung in Form von Zytoplasmaeinschlüssen (Abb. 2-31). Abnorme Faltung von Proteinen kann auch durch exogene Faktoren, insbesondere durch die Wirkung freier Radikale bewirkt werden. Bei chronisch-degenerativen und chronischtoxischen Erkrankungen ist oft die zelluläre Abbaukapazität für abnorme Proteine erschöpft, sodass abnorme Proteine in Form von Zytoplasmaeinschlüssen akkumulieren (z.B. Alzheimer-Fibrillen bei Morbus Alzheimer, Lewy-Körper bei Morbus Parkinson oder Mallory-Körper bei alkoholischer Hepatitis und anderen chronischen Lebererkrankungen; Tab. 2-6).

2.11

Altern

Definition Unter dem Begriff Altern wird ein physiologisches Geschehen verstanden, das mit einer Abnahme der Zell- und Organfunktionen einhergeht und schließlich mit dem Tode endet. Altern ist durch das Auftreten von regressiven Veränderungen in Geweben und Organen charakterisiert. Sie haben unterschiedliches Ausmaß und verlaufen asynchron. Durch die geringere funktionelle Reservekapazität steigt mit zunehmendem Alter das Risiko von Erkrankungen an. Die Fortschritte der Medizin haben nicht zu einer signifikanten Erhöhung der maximalen Lebensspanne des Menschen, wohl aber zu einer Zunahme der Zahl alter Menschen geführt.

Abb. 2-31 Entstehung und Schicksal abnorm gefalteter Proteine.

1 Im Rahmen der Synthese neuer Proteine unterstützen Chaperone (Heat-ShockProtein 70; HSP 70) die korrekte Faltung von Proteinen. HSP 70 bindet wiederholt unter Verbrauch von ATP an neu gebildete Proteine, bis eine korrekte Faltung erzielt und hydrophobe Domänen (rot) nicht mehr an der Oberfläche lokalisiert sind. 2 An nicht korrekt faltbare Proteine werden enzymatisch mehrere Ubiquitinproteine (Ubi) gebunden, welches ein Erkennungssignal für den proteasomalen Abbau ist. 3 Durch exogene schädigende Faktoren, die zu oxidativem Stress in der Zelle führen, wird die Faltung von Proteinen gestört. Diese teilweise entfalteten Proteine können einerseits wieder mithilfe von HSP 70 in die korrekte Form gebracht oder nach Ubiquitinierung über den Proteasomweg abgebaut werden. 4 Reicht die Rückfaltungs- oder Abbaukapazität der Zelle nicht aus, so werden abnorme Proteine vorübergehend an HSP 25 gebunden und dadurch die Aggregation verhindert. 5 Können abnorme Proteine nicht genügend von HSP 25 gebunden werden, so werden sie ubiquitiniert und akkumulieren bei Überlastung des Proteasoms in Form

von Aggregaten, wobei sich zusätzlich p62 (ein durch oxidativen Stress induziertes Protein) an die ubiquitinierten abnormen Proteine anlagert.

Tab. 2-6 Beispiele für Proteinfaltungserkrankungen.

* Beispiele für Erkrankungen, bei denen das Auftreten abnorm gefalteter Proteine charakteristisch ist. Je nach Erkrankung sind unterschiedliche Proteine von der Faltungsstörung betroffen, wobei zusätzlich zu dem Hauptprotein oft noch andere Proteine in die Störung einbezogen sind. Die abnorm gefalteten Proteine lagern sich typischerweise als Proteinaggregate im Zytoplasma, endoplasmatischen Retikulum (ER), Zellkern oder extrazellulär ab.

2.11.1

Altersveränderungen

Im Rahmen des Alterungsprozesses kommt es neben vaskulären Veränderungen (Atherosklerose, siehe Kap. 20.2.1) in allen Geweben und Organen zu einer Abnahme des Wassergehaltes und zu einer Zunahme des Fettgewebes. Die bindegewebige Matrix wird in verstärktem Maße quervernetzt. Der Mineralgehalt der Knochen sinkt. Im Zytoplasma wird vermehrt Lipofuszinpigment eingelagert. Als weitere Konsequenz vermindern sich Kontraktionskraft der Skelett- und Herzmuskulatur, Nervenleitung, Vitalkapazität der Lunge, glomeruläre Filtrationsrate und Gefäßelastizität. Die Adaptationskapazität gegenüber veränderten Umweltbedingungen, Stress oder Stoffwechselbelastungen und die Wundheilungskapazität sinken. Atmungs-, Kreislaufund Nierenfunktion zeigen im Alter eine deutliche Abnahme, wobei die Funktionseinschränkungen bei Belastung besonders deutlich werden. Die zellulären Immunreaktionen sind im Alter eingeschränkt. Hirngewicht und Hirnfunktionen sind aber bei Fehlen degenerativer Erkrankungen nur geringfügig vermindert. Eine altersabhängige Funktionseinschränkung des Hypothalamus-Hypophysen-Systems kann zu einer zusätzlichen Minderfunktion des Organismus führen.

2.11.2

Ursachen und Mechanismen

Es existieren eine Reihe von Theorien über die Ursachen des Alterns, die sich auf Beobachtungen in vivo und in vitro stützen. Vieles ist aber noch unklar. Alterung und schließlich Tod hängen eng mit einem Verlust der Teilungsfähigkeit von Zellen und damit der Erneuerungskapazität des Organismus zusammen. So finden sich in postmitotischen (teilungsunfähigen) Zellen biochemische und morphologische Hinweise auf Alterungsprozesse. In Zellkulturexperimenten wurde festgestellt, dass menschliche Fibroblasten nach etwa 50 Populationsverdopplungen ihre Teilungsfähigkeit verlieren und schließlich absterben. Bei Zellen älterer Individuen wurde eine geringere Verdopplungszahl als bei Zellen jüngerer Individuen beobachtet. Dies zeigt eine begrenzte Vermehrungs- und damit Regenerationsfähigkeit der Zellen des adulten Organismus. Eine Ursache für die normalerweise begrenzte Teilungsfähigkeit von Zellen liegt in den sich bei jeder Zellteilung verkürzenden Endabschnitten der Chromosomen (Telomere). Wird aufgrund der durchgemachten Zellteilungen eine kritische Telomerlänge erreicht, ist keine regelrechte Teilung mehr möglich und die Zelle stirbt. Hingegen können Tumorzellen ein Enzym (Telomerase), das normalerweise nur in Keimzellen vorhanden ist und verloren gegangene Telomerabschnitte ergänzt, produzieren. Dies trägt zur Fähigkeit der Tumorzellen bei, sich unbegrenzt zu teilen (Immortalisierung). Die Fehlertheorien der Alterung gehen von der Annahme aus, dass die kontinuierliche Stabilität der genetischen Information nicht gegeben ist und sich DNA-Schäden (insbesondere in den Mitochondrien) mit zunehmendem Alter anhäufen. Dafür sind einerseits freie Radikale, andererseits Störungen diverser Reparaturmechanismen verantwortlich. Auch der fehlerfreie Informationsfluss bei Transkription und Translation ist nicht gesichert, sodass defekte Proteine entstehen. Folge ist ein Circulus vitiosus („Fehlerkatastrophe“). Auch Immundefekte sind auf diese Weise erklärbar. Ferner kann es zu funktionseinschränkenden posttranslationellen Modifikationen (Oxidation, Denaturierung, Glykosylierung) von Proteinen (z.B. von Kollagen, Elastin) und Veränderungen in der Zusammensetzung der Zellmembran kommen. Neben dem normalen Alterungsprozess gibt es auch vererbte Störungen, die zu vorzeitiger Vergreisung führen (Progerie; Werner-Syndrom; Hutchinson-Gilford-Syndrom).

Literatur Afford, S., S. Randhawa: Apoptosis. J. Clin. Pathol. 53 (2000) 55–63. Glynn, L.E.: Tissue repair and regeneration. Elsevier, North Holland – New York 1981. Liebermann, D.A. (ed.): Apoptosis. In: Oncogene Reviews, 17, Dec 1998. Lodish, H., D. Baltimore, A. Berk, S.L. Zipursky, P. Matsudaira, J. Darnell: Molecular Cell Biology. 4th edn. Scientific American Books, H.W. Freeman and Company, New York 1999. Weiss, L.: Cell and tissue biology. Urban & Schwarzenberg, München–Wien– Baltimore 1988.

FRAGEN 1 Wie reagieren Zellen, Gewebe und Organe auf (schädliche) Einflüsse? Nennen Sie Beispiele. 2 Nennen Sie wichtige Ursachen und Mechanismen einer Zell- und Gewebeschädigung. 3 Welche Organellenveränderungen im Rahmen von Zell-schädigungen kennen Sie? 4 Nennen Sie Definition, Formen und Mechanismen des Zelltodes. 5 Stellen Sie Ursachen und Folgen des Alterns dar. 6 Welche Beziehung besteht zwischen Regeneration und Tumorentstehung? 7 Wann treten abnorm gefaltete Proteine auf und bei welchen Erkrankungen spielen sie eine Rolle?

3

Entzündung H. HERBST W. BÖCKER H. DENK PH. U. HEITZ 3.1 Ablauf und Formen von Entzündungen 78 3.1.1

Ablauf 78

3.1.2

Formen 78

3.2 Akute Entzündung 79 3.2.1

Vaskuläre Reaktionen 79

Vasodilatation mit vermehrter Gewebs-durchblutung 79 Permeabilitätssteigerung mit Bildung eines entzündlichen ödems 80 3.2.2

Zelluläre Elemente und zelluläre Reaktionen der Entzündung 81

Leukozyten 81 Zelluläre Reaktionen der Entzündung 84 3.2.3

Effektormechanismen der Entzündung 88

3.2.4

Mediatoren der Entzündung 89

Zelluläre Mediatoren 89 Plasmamediatoren 91 3.2.5

Morphologische Formen der akuten Entzündung 95

Exsudative Entzündung 95 Nekrotisierende Entzündung 98 Akute lymphozytäre Entzündung 99 3.2.6

Ausbreitungswege einer Entzündung 99

Kontinuierliche Ausbreitung 99

Lymphogene Ausbreitung 99 Hämatogene Ausbreitung 99 3.2.7

Systemische Auswirkungen der Entzündung 100

Fieber 100 Leukozytose 100 Veränderungen der Plasmaproteine 100 Gewichtsverlust 100 3.3 Chronische Entzündung 100 3.3.1

Primär chronische Entzündung 101

3.3.2

Sekundär chronische Entzündung 101

3.3.3

Morphologische Merkmale der chronischen Entzündung 101

Chronische granulierende Entzündung 101 Chronische lymphozytäre Entzündung 103 Granulomatöse Entzündung 103 3.4 Regeneration und Reparation 107 3.4.1

Definition 107

Heilung, Regeneration 108 Defektheilung, Heilung durch Reparation 108 3.4.2

Beispiel: Wundheilung 108

3.4.3

Komplikationen der Wundheilung 109

Lokale Faktoren 109 Systemische Faktoren 110 Literatur 110 Fragen 110

Zur Orientierung

In unserer Umwelt befinden sich zahlreiche chemische und physikalische Noxen sowie mikrobielle Erreger, die unterschiedlich schwere bis tödliche Schädigungen hervorrufen können. Zum Schutz vor derartigen Schädigungen hat die Natur im Laufe der Evolution eine Reihe von Abwehrmechanismen entwickelt, die pathogene Noxen erkennen und beseitigen können. Das Spektrum der verschiedenen Abwehrmechanismen bei höher entwickelten Organismen wie dem Menschen lässt sich schematisch in angeborene und adaptive, erworbene Abwehr einteilen. Jedes System enthält wiederum eine humorale und zelluläre Komponente. Von besonderer Bedeutung für die Wirksamkeit von Abwehrmechanismen ist die Tatsache, dass die humoralen und zellulären Komponenten der Abwehr über das Gefäßsystem sehr schnell an den Ort der Gewebsschädigung transportiert werden können. Die dabei auftretenden lokalen Reaktionen bezeichnet man als Entzündung (Inflammatio). Sowohl der deutsche als auch der lateinische Begriff weisen auf den Aspekt der Rötung und Erwärmung hin. Im Allgemeinen führt dieser Prozess zur Beseitigung der schädigenden Noxe, zum Verschwinden der Entzündung, zur Wiederherstellung des Gewebes und damit zur Heilung. Somit ist die Entzündung ein Schutzmechanismus unseres Organismus, der der Erhaltung des Individuums dient. Entsprechend der Vielzahl schädigender Faktoren, der Vielfalt belebter und unbelebter Agenzien und der Zahl von Organen, die betroffen sein können, ist dass das Erscheinungsbild von Entzündungen vielfältig. Um erfolgreich in das Entzündungsgeschehen eingreifen zu können, sind wir auf Kenntnisse der Ursachen, Entstehungsmechanismen und Folgen einer Entzündung angewiesen. Nach einem einleitenden Kapitel über Definitionen und Entzündungsabläufe werden im zweiten Kapitel zunächst die Grundprinzipien der akuten Entzündung mit ihren vaskulären und zellulären Reaktionen, ihre Regulationsmechanismen sowie die lokalen und systematischen Folgen abgehandelt. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit der chronischen, über Monate oder sogar Jahre verlaufenden Entzündung. Im letzten Kapitel werden schließlich die durch Schäden hervorgerufenen Regenerationsund Reparationsvorgänge besprochen, die für den Abschluss eines Heilungsprozesses von Bedeutung sind.

3.1

Ablauf und Formen von Entzündungen

Definition und Einteilung Unter einer Entzündung versteht man eine vitale Reaktion auf einen – zumindest in der Anfangsphase – lokalen Gewebeschaden und ggf. auf die zugrunde liegende Noxe (Faktor, der eine Gewebeschädigung hervorrufen kann).

■ In Kenntnis der Ätiologie kann man von einer bakteriellen, viralen, thermischen, radiogenen, aktinischen, chemischen u.a. Entzündung sprechen. ■ Der Organismus kann auf den Reiz entsprechend seiner Abwehrlage normerg, hypererg, hyperg oder anerg reagieren. ■ Nach Dauer und Verlauf der Reaktion lassen sich perakute, akute, subakute, chronische und rezidivierende Entzündungen unterscheiden. ■ Entsprechend der vorherrschenden Schädigungs- und Reaktionsform können exsudative, nekrotisierende, proliferative und granulomatöse Entzündungen vorliegen. Die komplexe Entzündungsreaktion betrifft das gefäßführende Bindegewebe, die weißen Blutzellen und Bestandteile des Blutplasmas. Ziel der Entzündungsreaktion ist die Beseitigung der Noxe bzw. ihrer Folgen und die Wiederherstellung des ursprünglichen Gewebszustandes. Die Entzündung hat somit eine Schutzfunktion. Zellgebundene Moleküle und lösliche Faktoren (Entzündungsmediatoren) regulieren die Entzündungsvorgänge.

3.1.1 Ablauf Jede Entzündungsreaktion wird ausgelöst durch Noxen (Abb. 3-1). Diese sind mikrobielle Agenzien (Viren, Bakterien, Pilze, Protozoen, Würmer), chemische Substanzen (Säuren, Laugen, endogene Substanzen), physikalische Faktoren (Hitze, Kälte, Bestrahlung, Trauma) oder auch Immunreaktionen (siehe Kap. 4.3.1). Durch ihre Einwirkung entsteht eine Gewebeschädigung (Alteration), die zur Freisetzung von Entzündungsmediatoren führt. Diese bringen eine Reihe von vaskulären und zellulären Reaktionen in Gang, die insgesamt den Entzündungsprozess darstellen. Nach dem klinischen Verlauf unterteilt man Entzündungen in akute und chronische (siehe Kap. 3.1.2). Ziele der Entzündungsreaktion sind die Beseitigung des schädigenden Agens und die Wiederherstellung der normalen Gewebeintegrität (Restitutio ad integrum). Im optimalen Fall kommt es daher nach einer Entzündung zur Heilung. Bei schwerer Gewebeschädigung resultiert allerdings ein Ersatz durch Bindegewebe mit Narbenbildung (Defektheilung, Reparatio). Bei einer Reihe von Erkrankungen kann die entzündliche Reaktion selbst eine Gewebsschädigung, z.B. eine Gewebeeinschmelzung (Abszess), verursachen.

Abb. 3-1 Ablauf der akuten und chronischen Entzündung.

3.1.2 Formen Abb. 3-2 Akute Entzündung der Gesichtshaut und der Augenlider.

Massive Rötung und Schwellung der Haut im Rahmen einer schweren bakteriellen Entzündung. ■ Akute Entzündung. Sie ist durch plötzliches Auftreten und raschen, oft heftigen Verlauf über nur wenige Stunden oder Tage gekennzeichnet. Der Höhepunkt der Reaktion ist in kurzer Zeit erreicht und stellt häufig ein klinisch auffälliges Krankheitsbild dar. Die klassischen Kardinalsymptome der akuten Entzündung (Abb. 3-2) sind bereits seit den Beschreibungen von Celsus (30 vor bis 38 nach Christus) und Galen (130– 200 n. Chr.) bekannt. Sie bestehen aus: □

Rubor (Rötung durch Vasodilatation)



Tumor (Gewebsschwellung durch entzündliches Exsudat)



Calor (Erwärmung aufgrund der vermehrten Gewebsdurchblutung)

□ Dolor (Schmerz durch Nervenreizung). Hinzu gefügt wurde von Virchow (1821–1902) die Functio laesa (gestörte Funktion) als fünftes Symptom. ■ Chronische Entzündung. Sie ist durch einen langen Verlauf über Wochen, Monate oder gar Jahre charakterisiert. Häufig ist sie durch einen schleichenden Beginn mit sich allmählich entwickelnder Symptomatik gekennzeichnet (primär chronische Entzündung). Andererseits kann sie sich aus einer akuten Entzündung entwickeln (sekundär chronische Entzündung). Die chronische Entzündung wird durch die

Persistenz der Schädigung unterhalten. Sie führt zu Gewebsuntergang und Defektheilung durch Bildung von kollagenem Bindegewebe (Fibrose). Die Folge der chronischen Entzündung ist somit zumeist eine Narbenbildung, d.h. eine Defektheilung (Abb. 3-3), die häufig mit einem Funktionsverlust des betroffenen Gewebes oder Organs gekoppelt ist. ■

Besondere Verlaufsformen. □ Rezidivierende Entzündungen verlaufen schubweise mit krankheitsfreien Intervallen (Remission) und Wiederaufflackern der Entzündung (Exazerbation). Der Verlauf der rezidivierenden Entzündung spiegelt oft die jeweilige individuelle Abwehrlage wider. □ Die perakute Entzündung ist meist durch einen extrem kurzen, meist tödlichen Verlauf gekennzeichnet und lässt auf eine hohe Virulenz eines Erregers (oder eine hohe Dosis des Erregers bzw. einer anderen Noxe, z.B. Strahlung) oder aber auf eine schlechte Abwehrlage des Organismus schließen. □ Die subakute oder subchronische Entzündung zeigt Verläufe, die zwischen akut und chronisch liegen.

Abb. 3-3 Chronische lymphozytäre Entzündung der Schilddrüse.

a Makroskopischer Aspekt einer schweren chronischen Thyreoiditis mit starker Vernarbung (grau-weiße Farbe) der betroffenen Schilddrüse (rechts) im Vergleich zu einer normalen Schilddrüse (links im Bild). b Histologie: Starke Fibrose (KB) mit herdförmig lymphozytärer Entzündung (L) und nur wenigen Schilddrüsenfollikeln (Pfeile). Die Folge dieser chronischen Entzündung ist eine Unterfunktion der Schilddrüse (Hypothyreose). HE, Vergr. 40fach.

3.2

Akute Entzündung

Die akute Entzündung ist durch das rasche Auftreten der entzündlichen Reaktionen auf die Gewebeschädigung gekennzeichnet. Obwohl sich in Abhängigkeit von Art und

Ausmaß des schädigenden Agens unterschiedliche Ausprägungsgrade mit einer enormen Vielfalt morphologischer und klinischer Bilder ergeben, läuft die Entzündungsantwort ziemlich stereotyp ab. Sie umfasst vaskuläre und zelluläre Reaktionen, die zeitlich überlappend ablaufen und über chemische Faktoren reguliert werden.

3.2.1 Vaskuläre Reaktionen Die vaskulären Veränderungen der Endstrombahn des geschädigten Gewebes stehen am Beginn einer akuten Entzündungsreaktion. Sie werden hervorgerufen durch chemische Substanzen, sog. vasoaktive Entzündungsmediatoren. Die wichtigsten Folgen sind Vasodilatation mit vermehrter Gewebsdurchblutung und Permeabilitätssteigerung der Gefäßwand. Dies führt zur Ausbildung eines entzündlichen Ödems.

Vasodilatation mit vermehrter Gewebsdurchblutung ■ Unmittelbar im Anschluss an einen Reiz erfolgt eine erste Phase der Reaktion mit kurzfristiger Kontraktion der Arteriolen und dadurch bedingtem Abblassen des geschädigten Gewebes. Diese Reaktion findet sich nicht notwendigerweise bei jeder Entzündung. ■ Die zweite Phase setzt wenige Minuten später ein. Unter dem Einfluss verschiedener Entzündungsmediatoren (Tab. 3-1) weiten sich die Arteriolen. Es resultiert eine Dilatation der kapillären Endstrombahn mit einer bis auf das Zehnfache des Ausgangswertes gesteigerten Durchblutung, d.h., es entsteht eine aktive Hyperämie. Tiefrote Verfärbung (Rubor) und Erwärmung (Calor) des Entzündungsherdes sind Zeichen der Mehrdurchblutung. Der durch die aktive Hyperämie erhöhte hydrostatische Druck führt zu einem vermehrten Flüssigkeitsausstrom in das Interstitium (Ödem). Dadurch wird die Schwellung („Tumor“) des geschädigten Gewebes eingeleitet. Das Ödem ist zunächst eiweißarm (Transsudat; Flüssigkeit mit spezifischem Gewicht unter 1018 g/l), wird aber schnell durch eine zunehmende Permeabilitätsstörung (siehe Abschn. 7.4) zu einem proteinreichen Ödem (entzündliches Exsudat; Flüssigkeit mit spezifischem Gewicht über 1018 g/l).

Tab. 3-1 Mediatoren der Vasodilatation und Gefäßpermeabilität. Wirkung Mediator Vasodilatation Histamin, Serotonin, Prostaglandine, Kinine, PAF

erhöhte Permeabilität Histamine, PAF, Leukotriene, Kinine, C3a, C5a ■ Die dritte Phase setzt etwa 1–2 Stunden nach Reizeinwirkung ein und dauert mehrere Stunden. Sie wird mitverursacht durch die Permeabilitätssteigerung der Endstrombahn. Dabei tritt Blutplasma in das Interstitium aus, sodass die Viskosität des Blutes steigt. Das führt zu einer erheblichen Strömungsverlangsamung des Blutes (Prästase), die bei starken Entzündungsreizen bis zum Stillstand (Stase) gehen kann. Hierbei lagern sich die Erythrozyten teilweise geldrollenförmig aneinander. Die Thrombozyten können auf den freigelegten Basalmembranen Plättchenthromben (siehe Kap. 7.5.3) bilden.

Abb. 3-4

ödem.

Histologischer Ausschnitt aus einer Nasenschleimhaut mit ausgeprägtem proteinreichem Exsudat (Sternchen). Im Zentrum ein kleines Blutgefäß (G). Im Exsudat wenige Entzündungszellen. HE, Vergr. 200fach.

Permeabilitätssteigerung mit Bildung eines entzündlichen Ödems Die Permeabilitätsstörung ist Folge von funktionellen und/oder strukturellen Endothelalterationen im Bereich der Venolen und Kapillaren. Die Gefäßwand wird für Proteine vermehrt durchlässig, es bildet sich ein flüssiges Exsudat (ödem) im Interstitium (Abb. 3-4).

Abb. 3-5 Korrelation zwischen endothelialem Schädigungsmuster und Permeabilitätssteigerung.

Linke Spalte: Verteilungsmuster der Endothelveränderungen. Mittlere Spalte: Darstellung der Endothelveränderungen. Bei leichten Schädigungen bilden sich interendotheliale Lücken (gap junctions) aus. Bei schweren Schädigungen löst sich das Endothel von der Basalmembran ab, und es entstehen Endothelnekrosen. Rechte Spalte: Die Endothelschädigung führt zu einer Steigerung der Permeabilität mit Ausbildung eines proteinreichen ödems. Nach dem zeitlichen Ablauf der Permeabilitätsstörung und der ödembildung unterscheidet man drei Typen: a Akut einsetzende, kurzfristige Permeabilitätssteigerung. b Verzögert einsetzende, lang anhaltende Permeabilitätssteigerung. Sie kann sich aus a entwickeln oder aber als Sonderform einer Kapillarschädigung entstehen c Akut einsetzende, lang anhaltende Permeabilitätssteigerung. Für das Verständnis ist entscheidend, dass die terminale Strombahn normalerweise von einem kontinuierlichen Endothelbelag und einer außen liegenden Basalmembran begrenzt wird. Die Gefäßwand ist für Wasser und Moleküle bis zu 10000 D (überwiegend Elektrolyte) und nur in sehr geringem Umfang für Proteine durchlässig. Die Gesamtwirkung der in ihrer Richtung gegenläufigen hydrostatischen und kolloidosmotischen Drücke des Blutes führt im normalen Gewebe zu einem leichten

Nettoausstrom eines (eiweißarmen) Transsudates, das über die Lymphbahn abtransportiert wird. Die Permeabilitätssteigerung ist die Folge von funktionellen oder strukturellen Veränderungen des Endothels. Dabei lassen sich zwei endotheliale Schädigungsmuster unterscheiden (Abb. 3-5). ■ Endothelkontraktionen. Hierbei bilden sich interzelluläre Endothellücken von 0,5–1,0 μm Durchmesser aus. Die Endothelkontraktionen werden durch eine Reihe von Mediatoren ausgelöst, die im geschädigten Gewebe freigesetzt werden (siehe Tab. 3-1). Die Endothellücken verursachen eine erhöhte Durchlässigkeit mit Ausstrom einer proteinreichen Flüssigkeit aus dem Blut ins Interstitium (flüssiges Exsudat, spezifisches Gewicht über 1018 g/l). Die Endothelkontraktionen können nach Reizeinwirkung unmittelbar oder aber verzögert auftreten. Hieraus resultieren zwei zeitlich unterschiedlich auftretende Permeabilitätssteigerungsmuster, die bei einer Entzündung einzeln oder nacheinander auftreten können. □ Die sofort einsetzende, kurzfristige (ca. 30 Minuten dauernde) Permeabilitätssteigerung. Sie kann z.B. durch Histamin (siehe Kap. 3.2.4 und 4.3.1) im venulären Gefäßteil ausgelöst werden. □ Eine verzögert einsetzende, lang (Stunden bis Tage) anhaltende Permeabilitätssteigerung. Als Ursache hierfür kommen z.B. die durch Leukotriene und Zytokine (z.B. Tumornekrosefaktor [TNF[, Interleukin-1 etc., siehe Kap. 3.2.4) oder durch mäßiggradige direkte toxische Einwirkung hervorgerufenen Endothelkontraktionen in Venolen (und Kapillaren) infrage. Dieser Typ der Permeabilitätsstörung wird z.B. beim „Sonnenbrand“, bei Hitzeschäden und im Rahmen bakterieller Toxinschäden beobachtet. Er kann auch im Anschluss an die sofort einsetzende Permeabilitätsstörung auftreten, wie z.B. bei der Überempfindlichkeitsreaktion Typ I (siehe Kap. 4.3.1). ■ Strukturelle Endothelschädigungen. Starke zytotoxische Noxen (z.B. Verbrennungen, chemische und bakterielle Toxine) und Schädigungen durch leukozytäre Enzyme oder Sauerstoffradikale führen zu direkten Endothelschädigungen in der gesamten Endstrombahn mit ausgeprägter Permeabilitätsstörung. Morphologisch lassen sich erhebliche Veränderungen mit Ablösungen der Endothelzellen von der Basalmembran und subendothelialen Blasenbildungen bis hin zu Endothelnekrosen nachweisen. Das Ergebnis der Permeabilitätsstörung ist eine Exsudation von hochmolekularen Eiweißen und evtl. auch der Austritt von Erythrozyten (Diapedese). Darüber hinaus kann durch die Aktivierung der Gerinnungskaskade eine intravitale Gerinnung (Thrombose) mit nachfolgender Durchblutungsstörung des Gewebes (Ischämie und Gewebsnekrose) ausgelöst werden.

3.2.2 Zelluläre Elemente und zelluläre Reaktionen der Entzündung Im Mittelpunkt der akuten Entzündung steht die Auswanderung von Leukozyten (neutrophile Granulozyten, Monozyten/Makrophagen und Lymphozyten) aus der Blutbahn ins geschädigte Gewebe. Die zellulären Reaktionen von Leukozyten lassen sich in vier sequentielle Schritte gliedern: ■ Margination (Wechsel aus dem zentralen, schnell fließenden in den randnahen, langsam fließenden Strombereich) ■

Interaktionen mit dem Endothel (endothelial-leukozytäre Interaktion)



Emigration und positive Chemotaxis



Phagozytose.

Zunächst sollen die wichtigsten Elemente des zellulären Abwehrsystems besprochen werden, anschließend die zellulären Reaktionen.

Leukozyten (Abb. 3-6) Neutrophile Granulozyten Der neutrophile Granulozyt ist ein Mikrophage mit einem Durchmesser von 12 μm. Seine wichtigste Funktion ist die Abwehr bakterieller Infektionen durch Phagozytose und Elimination von Bakterien. Seine schnelle Verfügbarkeit in großer Zahl macht ihn zur wichtigsten Abwehrzelle vieler bakterieller Infektionen. Die Zellen sind morphologisch durch ihren segmentierten Kern und durch ihre zytoplasmatischen Granula charakterisiert. Neutrophile Granulozyten machen 40–60% des Leukozytenpools des Blutes aus, der täglich durch etwa 1011 neutrophile Granulozyten aus dem Knochenmark erneuert wird. Sie sind Endzellen mit einer kurzen Halbwertszeit von etwa acht Stunden. In geschädigten Geweben emigrieren sie im Bereich postkapillärer Venolen aus dem Blut ins Gewebe. Neutrophile Granulozyten besitzen drei Arten von Granula, die aufgrund ihres Enzymgehaltes für die Abwehr von Bakterien große Bedeutung haben: ■ primäre oder azurophile Granula, die Myeloperoxidase, Lysozym, Defensine, Kathepsin, Proteinase 3, saure Hydrolasen u.a. enthalten;

■ die wesentlich häufigeren sekundären oder B-Granula, die alkalische Phosphatase, Laktoferrin, Lysozym, Granulozyten-Kollagenase, Gelatinase, Plasminogenaktivator, Histaminase, Cytochrom b, β-Mikroglobulin u.a. enthalten; ■ tertiäre Granula, die Gelatinase und saure Hydrolasen enthalten. Primäre und sekundäre Granula können ihren Inhalt an Phagosomen abgeben. Die Enzyme wirken über Bildung von Sauerstoffradikalen und durch die lytische Aktivität beim Abtöten und bei der Degradation von Bakterien mit. Enzyme der sekundären und tertiären Granula können von Neutrophilen sezerniert werden und spielen z.B. bei der Migration von Leukozyten im Bindegewebe eine Rolle. Schließlich können Sauerstoffradikale und Enzyme auch zur Schädigung des entzündeten Gewebes beitragen (siehe Abszess). Oberflächenliganden der Selektin- und Integrinfamilie dienen der Adhärenz der Neutrophilen an endotheliale Rezeptoren sowie der Anheftung an extrazelluläre Matrixproteine. Neutrophile benutzen Fc- und C3b-Rezeptoren zur gezielten Phagozytose von Bakterien. Die Aktivierung der neutrophilen Granulozyten erfolgt über Membranrezeptoren durch Komplementfragmente, plättchenaktivierenden Faktor (PAF), chemotaktische Peptide und Lipide. Die Aktivierung führt zu einer vermehrten Expression von oberflächlichen Adhäsionsmolekülen, zu verstärkter Migration (aktive amöboide Bewegung) und Phagozytose (Fressfähigkeit) sowie auch zu einer verstärkten Bildung von Sauerstoffradikalen (respiratory burst) und gesteigerten lysosomalen Aktivität.

Abb. 3-6

Leukozyten.

a Neutrophiler Granulozyt des peripheren Blutes mit zytoplasmatischen Granula.

b Basophiler Granulozyt des peripheren Blutes mit basophilen (blauen) Granula. c Eosinophiler Granulozyt des peripheren Blutes mit eosinophilen (roten) Granula. d Monozyt des peripheren Blutes mit typischem nierenförmigem Kern und breitem Zytoplasma. e Gewebsmakrophagen (= Histiozyten; M) mit breitem Zytoplasmasaum. Daneben kleine Lymphozyten (Pfeile). HE, Vergr. 300fach. f Lymphozyt des peripheren Blutes. g Lymphozyten in einem peripheren Lymphknoten. HE, Vergr. 300fach. h Plasmazellen in einem peripheren Lymphknoten. Beachte die exzentrische Lage des Kerns und die perinukleäre Aufhellung des Zytoplasmas (entspricht Golgi-Region; Pfeile). HE, Vergr. 300fach. Neutrophile Granulozyten setzen bei ihrer Aktivierung wiederum Entzündungsmediatoren frei, wie z.B. Arachidonsäuremetaboliten (z.B. Leukotrien B4) und den plättchenaktivierenden Faktor (PAF). Diese verstärken ihrerseits die vaskulären Reaktionen und den „Nachschub“ von Abwehrzellen. Die Bedeutung der neutrophilen Leukozyten bei der Infektabwehr wird durch das gehäufte Auftreten von Infektionen bei verminderter Zahl (Leukopenie) oder dem Fehlen (Agranulozytose) neutrophiler Granulozyten sowie bei angeborenen Funktionsstörungen belegt. Einbußen in praktisch jeder Phase der Leukozytenfunktion – von der Adhärenz am Gefäßendothel bis hin zur mikrobiziden Aktivität – sind möglich. Zahlreiche zugehörige Krankheitsbilder wurden beschrieben, darunter: ■ Defekte der Leukozytenadhäsion. Verschiedene Formen der LeukozytenAdhäsionsdefizienz (LAD Typen 1 und 2) bewirken wiederholte bakterielle Infektionen und verzögerte Wundheilung. Ursachen sind z.B. defekte IntegrinGene bzw. eine fehlerhafte Kohlenhydratmodifikation von Integrinen. Die ungenügende Bindung an Integrin-Liganden (Mitgliedern der ImmunglobulinSuperfamilie, die von zytokinaktiviertem Endothel exprimiert werden) bedingt eine abnorme Adhäsion, Ausbreitung und Phagozytenaktivität der Neutrophilen. ■ Phagozytose-Defekte. Hier sind mehrere Erkrankungen bekannt. Die ChediakHigashi-Erkrankung ist eine autosomal-rezessive Erkrankung mit Neutropenie, fehlerhafter Degranulation von Granulozyten und verzögerter Abtötung von Mikroorganismen. Die Neutrophilen und andere Leukozyten enthalten Riesengranula, die bereits in Blutausstrichen zu sehen sein können und vermutlich

durch eine fehlerhafte Organellenfusion zustande kommen. Bei diesem Syndrom kommt es zu einer reduzierten Verlagerung lysosomaler Enzyme in Phagosomen. Neben Granulozyten sind auch andere Zellsysteme betroffen. ■ Defekte der mikrobiziden Aktivität. Die Bedeutung der sauerstoffabhängigen antibakteriellen Mechanismen wird durch das Auftreten kongenitaler chronischer granulomatöser Erkrankungen unterstrichen. Hierbei macht eine verminderte Bakterizidie die Patienten gegenüber rezidivierenden bakteriellen Infekten empfindlich. Die zugrunde liegenden Fehler finden sich im MyeloperoxidaseSystem oder in Genen, die verschiedene Komponenten der NADPH-Oxidase kodieren. Obwohl selten, unterstreichen diese genetischen Erkrankungen die Bedeutung der komplexen Leukozytenfunktionen, die für die antimikrobielle Antwort überlebenswichtig sind.

Eosinophile Granulozyten Eosinophile Granulozyten bestimmen das Infiltrat bei Entzündungen vom allergischen Typ (Hypersensitivitätsreaktion Typ I) und bei antiparasitären Reaktionen. Diese Leukozyten werden chemotaktisch in das Entzündungsareal gelockt. Hierfür ist das Chemokin Eotaxin verantwortlich, das an einen nur auf Eosinophilen befindlichen Rezeptor (CCR3) bindet. Die Granula der Eosinophilen enthalten u.a. ein basisches Protein (major basic protein 1), das für Parasiten, aber auch für normale Zellen toxisch ist. Weitere Inhaltsstoffe der Granula sind die Eosinophilen-Peroxidase und ein kationisches Protein. In den Granula können Superoxid-Anionen und Peroxid gebildet werden, die für die bakterizide, fungizide und antiparasitäre Aktivität der Eosinophilen Voraussetzung sind.

Basophile Granulozyten Granula von basophilen Granulozyten enthalten unter anderem Histamin, Heparin und Kallikrein. Verwandt mit den basophilen Granulozyten des Blutes sind die ortsständigen Gewebsmastzellen. Sie besitzen zusätzlich das biogene Amin Serotonin. Während Mastzellen ihre Granula nach außen abgeben, degranulieren basophile Granulozyten nach Phagozytose nach innen.

Monozyten/Makrophagen Diese Zellen sind Bestandteile des monozytären phagozytischen Systems (MPS). Man unterscheidet nichtspezialisierte Makrophagen (Monozyten des Blutes, Gewebsmakrophagen oder organspezifische Makrophagen) von spezialisierten, antigenpräsentierenden Zellen (siehe Kap. 4.1.4). Die Monozyten entwickeln sich im Knochen-mark über Promonozyten aus Knochenmarksstammzellen (Abb. 3-7). Sie

haben einen Durchmesser von etwa 10–11 μm und enthalten wenige und kleinere Granula sowie zahlreiche Lysosomen, deren wichtigste Enzyme saure Phosphatasen, Esterasen und Proteasen sowie die Myeloperoxidase sind. Die Verweildauer der Monozyten im Blut beträgt wenige Tage. Nach Auswanderung aus dem Blut in die Gewebe differenzieren die Monozyten zu Gewebsmakrophagen mit charakteristischen morphologischen und funktionellen Eigenschaften (siehe Abb. 3-6). Die Makrophagen (etwa 15–80 μm im Durchmesser) stellen aktiv phagozytierende Zellen dar. Als ortsständige Gewebsmakrophagen sind sie in großer Zahl in Leber, Milz, Lunge und Knochenmark vorhanden und können mehrere Wochen (und länger) überleben. Die produzierten sekretorischen Substanzen sind heterogen und hängen vom jeweiligen Funktionszustand ab. Sie umfassen Plasmaproteine (Koagulationsfaktoren, Komplementfaktoren 1–5 u.a.), Zytokine und Wachstumsfaktoren (Interleukin-1, TNF-α, Plättchenwachstumsfaktor [PDGF], Fibroblastenwachstumsfaktor, Angiogenesefaktor), Sauerstoff- und Stickstoffmetaboliten (H2O2, NO, NO2), Arachidonsäurederivate, Matrixproteine, Enzyme sowie Enzyminhibitoren. Makrophagen können unter anderem durch bakterielle Bestandteile und lymphozytäre Zytokine aktiviert werden.

Abb. 3-7

Monozytär-phagozytäres System (MPS).

Erklärung dazu siehe Text. Bei akuten Entzündungen stellen die Makrophagen als sog. Exsudatmakrophagen die zweite Abwehrfront nach den neutrophilen Granulozyten dar. Wesentliche Aufgaben umfassen die Phagozytose von Bakterien, die Stimulation endothelialer Adhäsionsmoleküle sowie die Aktivierung von Fibroblasten und die Induktion der Angiogenese. Darüber hinaus sind die Makrophagen durch ihre Sekretionsprodukte für eine Reihe von systemischen Reaktionen bei Entzündungen verantwortlich (vgl. Kap. 4.1.4).

Lymphozyten Lymphozyten bilden die zelluläre Komponente der spezifischen Immunabwehr (siehe Kap. 4.1.5). Bei akuten Entzündungen werden sie meist in nur geringer Anzahl im Entzündungsinfiltrat nachgewiesen, können jedoch bei chronischen Entzündungen das Bild bestimmen. Durch Interaktion von antigenpräsentierenden Zellen und B-bzw. T-Lymphozyten-Subpopulationen wird eine spezifische Immunantwort teils am Ort der Entzündung, teils in den regionären Lymphknoten induziert. Diese Reaktion äußert sich im Fall der humoralen B-Zell-Reaktion (z.B. gegen bakterielle Proteine) in der Sekretion spezifischer Antikörper durch Plasmazellen (als terminale Differenzierungsformen von B-Lymphozyten; Abb. 36h) bzw. in der Entstehung zytotoxischer T-Zellen (als Träger der zellulären Immunität bzw. Hypersensitivitätsreaktion Typ IV). Bei vielen viralen Erkrankungen (z.B. akute Virusmyokarditis) stellen T-Zellen den überwiegenden Anteil der Entzündungszellen (siehe Kap. 3.2.3 und 4.1.5).

Thrombozyten (Blutplättchen) Blutplättchen sind von herausragender Bedeutung für die Blutstillung. Diese kleinen, kernfreien Zellen enthalten eine große Zahl von Enzymen und Granulakomponenten. Sie spielen im Entzündungsgeschehen insofern eine Rolle, als sie chemotaktische Faktoren (z.B. PAF, Serotonin, Arachidonsäurederivate) und Wachstumsfaktoren (TGF-α und -β, basischer Fibroblastenwachstumsfaktor [bFGF] und Plättchenwachstumsfaktor, PDGF) bilden.

Zelluläre Reaktionen der Entzündung Margination Unter Margination versteht man die Verlagerung von Leukozyten aus dem axialen Strom der Kapillaren in den Randstrom im Zuge der Mikrozirkulationsstörungen (Prästase und Stase). In der Folge kommt es zu vermehrten endothelial-leukozytären Interaktionen.

Endothel-Leukozyten-Interaktionen Die Rekrutierung von Leukozyten aus dem Blut ins geschädigte Gewebe ist entscheidend für die Entzündungsreaktion. Sie wird gesteuert über eine Reihe von sog. Adhäsionsmolekülen. Sie befinden sich an der Oberfläche der Zellmembran der Leukozyten und des Endothels der Venolen und führen über eine LigandenRezeptor-Erkennung zu endothelial-leukozytären Bindungen (Abb. 3-8, Tab. 3-2).

Selektine werden von Endothelzellen teils konstitutiv (= spontan), teils nach Aktivierung (durch Histamin, Thrombin, Endotoxin, Zytokine) aus den WeibelPalade-Körperchen vermehrt an der Oberfläche freigesetzt (P-Selektin) oder neu synthetisiert (E-Selektin). L-Selektin wird konstitutiv von Leukozyten exprimiert. Die Adhäsionsmoleküle der Immunglobulin-Superfamilie lassen sich in Endothelzellen, Epithelzellen und Stromazellen nachweisen. Mit Ausnahme des ICAM-2 werden die Mitglieder dieser Familie durch entsprechende Stimulierung im Rahmen des Entzündungsprozesses vermehrt gebildet.

Tab. 3-2 Adhäsionsmoleküle. L – Lymphozyt N = neutrophiler Granulozyt P = Plättchen M = Makrophage E = Endothel

Abb. 3-8

Endothel-Leukozyten-Interaktionen.

a Schematische Darstellung der endothelial-leukozytären Adhäsionsbindungspaare. Die obere Hälfte stellt die Bindungen zwischen einem

neutrophilen Granulozyten und dem Endothel, die untere Hälfte zwischen Monozyten und Endothel dar (weitere Erläuterungen siehe Text). b Zeitverlauf des Auftretens endothelialer Adhäsionsmoleküle. c Die leukozytäre Adhärenz an das Endothel wird entscheidend durch die Affinität der Integrin-Rezeptoren mitbestimmt. Durch Aktivierung des neutrophilen Leukozyten (z.B. durch PAF) kommt es zu einer Konformationsänderung des LFA-1-Integrins mit Bildung eines hochaffinen Rezeptors. Hierdurch entsteht eine feste Bindung zwischen Leukozyten und Endothelzelle. VLA-4 = very late antigen 4, LFA-1 = leukozytenfunktionsassoziiertes Molekül 1, MAC-1 = macrophage antigen alpha polypeptide, ICAM = interzelluläres Adhäsionsmolekül, VCAM-1 = vascular cell adhesion molecule 1, GlyCAM = glykosyliertes Zelladhäsionsmolekül, sLeA = Sialyl-Lewis-A, sLeX = SialylLewis-X. Die drei Integrine LFA-1, MAC-1 sowie p150/95 werden auf Leukozyten exprimiert. Die endothelialen Bindungsmoleküle dieser Integrine sind ICAM-1 und 2 sowie VCAM-1. Die Integrine LFA-1 und VLA-4 werden von Lymphozyten sowie Monozyten/Makrophagen exprimiert. Eines dieser Integrine (VLA-4) interagiert mit dem endothelialen Zelladhäsionsmolekül-1 (VCAM-1). Die anderen Integrine dieser Gruppe binden an Matrixproteine wie z.B. Laminin, Fibrin, Fibronektin und Kollagen Typ 1 und 4. Diese Integrine dürften somit eine Rolle bei der Migration durch das Bindegewebe spielen. Die endothelial-leukozytären Interaktionen lassen sich in drei Stufen untergliedern (Abb. 3-9):

Abb. 3-9 Zelluläre Reaktion der neutrophilen Granulozyten.

Margination und Adhäsion an das Endothel erfolgen über endotheliale (gelb) und leukozytäre (schwarz) Adhäsionsmoleküle. Das aktivierte Endothel exprimiert zusätzlich in der Zellmembran den plättchenaktivierenden Faktor (PAF), der über eine PAF-Rezeptor-Ligandenbildung eine Aktivierung des Leukozyten induziert. PAF und weitere Entzündungsmediatoren verursachen eine Zunahme der Zahl und der Affinität von Adhäsionsmolekülen mit fester Adhäsion und anschließender Emigration durch interzelluläre Endothellücken ins Interstitium. sLeA = Sialyl-Lewis-A, sLeX = Sialyl-Lewis-X, MAC-1 = macrophage antigen alpha polypeptide, ICAM-1 = interzelluläres Adhäsionsmolekül 1, PAF = plättchenaktivierender Faktor. ■ Initiale (primäre) Adhäsion. Diese initiale Adhäsion erfolgt durch normalerweise auf Leukozyten und Endothelien vorhandene Adhäsionsmoleküle, die zwischen diesen beiden Zelltypen zu einer Bindung führen. Hierbei kommt es zunächst noch zum Abrollen der Leukozyten auf dem Endothel (Leukozytenrollen). ■ Aktivierungsphase. Die Aktivierung von Leukozyten und Endothelien unter dem Einfluss von Entzündungsmediatoren (Tab. 3-3) führt zu einer Vermehrung von Adhäsionsmolekülen. So werden auf der endothelialen Seite innerhalb von Sekunden nach Einwirkung des schädigenden Reizes P-Selektine aus WeibelPalade-Granula in die Zellmembran transloziert. Später kommt es zusätzlich zu einer Neusynthese von weiteren endothelialen Adhäsionsmolekülen (z.B. ESelektin, ICAM-1 und VCAM-1), die normalerweise nur in geringer Zahl exprimiert sind. Diese Aktivierungsphase führt zur stabilen Adhäsion. ■ Aktivierungsabhängige stabile Adhäsion. Durch die zusätzlichen RezeptorLiganden-Bindungen haften die Leukozyten schließlich fest am Endothel (stabile Adhäsion, Leukozytensticking). Für die stabile Adhäsion ist neben der erhöhten Zahl der Rezeptoren die Affinität der leukozytären Integrine von besonderer Bedeutung (Abb. 3-8c). So entstehen nach Aktivierung des neutrophilen Granulozyten hochaffine LFA-1-Integrine, die sich fest mit dem endothelialen ICAM-1 verbinden. Gleichzeitig flachen sich die Leukozyten ab und entziehen sich damit weitgehend den mechanischen Kräften des Blutstroms. Die Venolenendothelien sind in diesem Stadium pflasterartig mit Leukozyten besetzt (Abb. 3-10). Eine aktive amöboide Bewegung leitet schließlich die Emigration der Zellen ein.

Tab. 3-3 Mediatoren der endothelialleukozytären Interaktion.

Emigration und Chemotaxis Unter Emigration (Diapedese) wird der aktive Auswanderungsprozess von Leukozyten durch die Wand der Kapillaren und Venolen verstanden. Nach Adhäsion gelangt der Leukozyt durch amöboide Bewegung zum nächsten interendothelialen Spalt, durch den er in das interstitielle Gewebe auswandert. Dazu muss er die Basalmembran überwinden, wobei lysosomale Enzyme (Kollagenase, Elastase) eine kurzfristige lokale Degradation der Basalmembran bewirken. Im Gewebe wandert der Leukozyt zum Ort der Schädigung, wobei die Bewegungsrichtung durch einen chemischen Gradienten bestimmt wird (Chemotaxis). Der Leukozyt bewegt sich zum Ort höherer Konzentration von Chemotaxinen (positiv chemotaktisch). Chemotoxine können exogener (z.B. bakterielle Produkte) oder endogener Herkunft sein.

Abb. 3-10 Emigration von neutrophilen Granulozyten aus dem Blutgefäß.

Kleines dilatiertes Blutgefäß mit zahlreichen am Endothel adhärierenden neutrophilen Granulozyten (Pfeile). Perivaskuläres ödem (Sternchen). HE, Vergr. 200fach. Zu den wichtigsten endogenen Chemotaxinen zählen: ■ Komplementfaktor C5a ■ niedermolekulare N-Formylpeptide aus Bakterien und Mitochondrien geschädigter Zellen ■ Immunglobulin G ■ Fibrinogenspaltprodukte ■ plättchenaktivierender Faktor (PAF) ■ denaturierte RNA ■ Produkte des Lipidmetabolismus (z.B. Leukotrien B4) ■ Zytokine, wie z.B. IL-8. Die Chemotaxine binden an Rezeptoren der Zelloberfläche von Leukozyten (Ligand-Rezeptor-Komplex). Über Phospholipase C und Inositol-Triphosphat kommt es zur Erhöhung des intrazellulären Kalziumionenpools. Dieser bewirkt die

Aktivierung der kontraktilen Proteine des Zytoskeletts, sodass eine gezielte Bewegung zum Schädigungszentrum entsteht.

Abb. 3-11 Eitrige Entzündung bei einer akuten Appendizitis.

Im noch erkennbaren Exsudat sieht man zahlreiche segmentkernige Granulozyten zwischen glatten Muskelzellen (Pfeile). HE, Vergr. 100fach. Die Emigration der neutrophilen Granulozyten beginnt etwa 15 Minuten nach der Gewebeschädigung und erreicht ihr Maximum in den ersten 6 bis 24 Stunden. Durch Emigration und positive Chemotaxis kommt es im Entzündungsgebiet zu einer Ansammlung von neutrophilen Granulozyten (eitrige Entzündung; Abb. 3-11). Aufgrund ihrer Schnelligkeit und großen Verfügbarkeit stehen die neutrophilen Granulozyten in der wichtigen ersten Linie der unspezifischen zellulären Abwehr der Entzündung. Die neutrophilen Granulozyten phagozytieren Bakterien, töten sie ab und degradieren sie. Danach gehen sie selbst zugrunde. Es entsteht Eiter. Die Emigration von Blutmonozyten ins Gewebe stellt eine zeitlich versetzte zweite Linie der unspezifischen zellulären Abwehr dar. Sie erreicht ihr Maximum nach 24 bis 48 Stunden (zweite Abwehrwelle). Auch die Monozyten benutzen den Weg durch interzelluläre Endothellücken. Als Exsudatmakrophagen bilden sie die Spätphase der zellulären Reaktion der akuten Entzündung. Auch sie beteiligen sich an der Phagozytose von Bakterien.

Phagozytose

Der Prozess der Aufnahme von Fremdmaterial (Bakterien, nekrotische Zellen etc.) wird als Phagozytose bezeichnet. Zellen mit dieser Fähigkeit nennt man Phagozyten. Sie werden unterteilt in solche, die überwiegend kleine, partikuläre Substanzen aufnehmen (Mikrophagen, neutrophile Granulozyten), und solche, die auch größere, korpuskuläre Elemente phagozytieren (Makrophagen, Histiozyten). Ziele der Phagozytose sind die Elimination der Noxe durch Aufnahme in den Phagozyten und der nachfolgende intrazelluläre Abbau des Fremdmaterials. Die Phagozytose wird durch die unspezifische und spezifische humorale Abwehr erheblich begünstigt. Die biochemischen Grundlagen dieses Erkennungsmechanismus sind heute z.T. geklärt (Abb. 3-12a). So besitzen der neutrophile Granulozyt und der Makrophage an ihrer Oberfläche Rezeptoren für den Fc-Anteil von IgG und für die C3b-Komplement-Komponente. Der C3b-Rezeptor (CR3) ist identisch mit dem β2-Integrin MAC-1. Mikroorganismen, die durch Antikörper und/oder C3b (sog. Opsonine = Substanzen, die an Partikel binden und damit die Phagozytose erleichtern oder ermöglichen) markiert sind, haften über die entsprechenden Rezeptoren an der Zellmembran des Phagozyten (Immunadhärenz). Im Bereich der Haftungsstelle entsteht dann über eine endozytotische Invagination der Zellmembran eine digestive Tasche, die sich schließlich als Phagosom von der Oberfläche ins Zellinnere absetzt. Bereits während der Phagosombildung fusionieren azurophile (primäre) Granula (enthalten saure Hydrolasen, neutrale Proteasen, kationische Proteine, Myeloperoxidase und Lysozym) und spezifische (sekundäre) Granula (enthalten Lysozym und Laktoferrin) des neutrophilen Granulozyten mit dem Phagosom. Hierdurch entsteht das Phagolysosom. Histologisch kommt es bei diesem Prozess zu einer Degranulierung der neutrophilen Granulozyten. Der Phagozyt hat für mikrobielle Keime eine Reihe verschiedener Abtötungsmechanismen zur Verfügung. Den bei der Phagozytose entstehenden hoch aktiven reaktiven Sauerstoffverbindungen kommt dabei besondere Bedeutung zu.

Abb. 3-12 Schematische Darstellung der Phagozytose eines Bakteriums.

a Die Adhäsion des Bakteriums kann durch unspezifische, über C3b vermittelte Adsorption erfolgen (2). Weitaus wirksamer ist jedoch die spezifische Haftung der mit Antikörpern (Ig) beladenen Bakterien über entsprechende Fc-Rezeptoren (1, 3). Nach der Haftung kommt es zur Invagination der Zellmembran mit Ausbildung einer digestiven Tasche (4). Die Tasche löst sich dann von der Oberfläche ab und bildet einen membranbegrenzten Hohlraum, der das

Bakterium beinhaltet (Phagosom, 5). Daraufhin kommt es zur Entleerung von primären Lysosomen (6) in das Phagosom mit Ausbildung eines sog. Phagolysosoms (7). Im Phagolysosom erfolgen die Abtötung und die endgültige enzymatische Auflösung des Bakteriums (8). Gleichzeitig werden lysosomale Bestandteile in das Interstitium sezerniert. b Die Bildung von Sauerstoffradikalen (respiratory burst) in Phagolysosomen (siehe Text) ist eine wichtige Voraussetzung für das Abtöten von Bakterien. MPO = Myeloperoxidase. Die wichtigsten Bakterizide (bakterientötende Substanzen) werden im Phagolysosom über das H2O2-Halogenid-Peroxidase-System gebildet (Abb. 312b). Dieses generiert mithilfe von NADPH-Oxidase aus Sauerstoffsuperoxid (O2−) Wasserstoffperoxid (H2O2). H2O2 wird durch die lysosomale Myeloperoxidase des neutrophilen Granulozyten in Anwesenheit von Cl− in Hypochlorid (HOCl) umgewandelt. Wasserstoffperoxid und insbesondere Hypochlorid stellen zwei besonders bakterizide Wirkstoffe dar. Andere bakterizide Faktoren im Phagolysosom sind kationische Proteine (wie z.B. „bactericidal permeability increasing protein“ [BPI], „major basic protein“ [MBP] und Defensine), das eisenbindende Protein Laktoferrin und Lysozym. Die verschiedenen lysosomalen Enzyme haben vor allem Bedeutung beim Abbau von Bakterien. Der überwiegende Teil von Bakterien kann direkt durch die neutrophilen Leukozyten effektiv bekämpft werden. Bei einigen Bakterienstämmen müssen die Abtötungsmechanismen des Makrophagen unter Mitwirkung des Immunsystems zu einer effektiven Infektabwehr eingesetzt werden (siehe Kap. 4.1.4). Zu diesen Stämmen gehören die fakultativen und obligaten intrazellulären Bakterien wie die Mykobakterien und Listerien. Von besonderer Bedeutung ist weiterhin, dass einige Bakterien wie z.B. die Listerien sich durch Zell-zu-Zell-Infektion dem Zugriff durch Antibiotika entziehen können.

3.2.3 Effektormechanismen der Entzündung Aus den vorausgegangenen Kapiteln wird deutlich, dass die Entzündung einen komplexen Abwehrprozess zum Schutz des Organismus darstellt. Dieser Schutzmechanismus ist wesentlich an humorale und zelluläre Effektormechanismen gekoppelt: Die humoralen protektiven Effektoren werden mit dem Exsudat in das geschädigte Gewebe transportiert. ■ Das Exsudat wirkt indirekt protektiv, indem es schädigende Noxen verdünnt und sie über die Lymphgefäße abtransportiert. Darüber hinaus enthält und generiert es Entzündungsmediatoren (Komplementfaktoren, Gerinnungsfaktoren, Kinine und andere), welche die Entzündungsreaktion in Gang halten.

■ Durch die Drainage des Entzündungsexsudats in die regionären Lymphknoten werden bakterielle Fremdantigene in das lymphatische System transportiert. Hier wird die spezifische Abwehr durch Bildung von Effektorzellen und Antikörper innerhalb von wenigen Tagen bis Wochen aktiviert. Das spezifische System unterstützt seinerseits die unspezifische Abwehr bei der Elimination entzündungsauslösender Agenzien. ■ Komplementfaktorfragmente (C3b) und spezifische Antikörper unterstützen die Elimination von mikrobiellen Erregern oder Toxinen. So werden Mikroorganismen nach Opsonierung spezifisch phagozytiert oder durch Antikörper vermittelte, mit Komplementaktivierung einhergehende Lyse abgetötet. Antikörper können darüber hinaus Toxine, Viren und virale Bestandteile neutralisieren und damit gesunde Zellen schützen. ■ Fibrinogen aggregiert im Exsudat unter dem Einfluss von Gewebsthromboplastin zu Fibrin, das eine Barriere gegen bakterielle Ausbreitung darstellt. ■ Der Exsudatfluss fördert außerdem den notwendigen Antransport von Sauerstoff und Nährstoffen. ■ Über die Exsudation kann die Konzentration von Abwehrstoffen im Entzündungsbereich erhöht werden. ■ Plasmin und freigesetzte lysosomale Enzyme unterstützen schließlich die Auflösung des Exsudats (Lyse). Die zellulären Effektormechanismen hängen wesentlich von der Art des schädigenden Agens ab. ■ Neutrophile Granulozyten und Makrophagen sind die beiden wichtigsten Zelltypen bei pyogenen bakteriellen Infektionen. Ihre Aufgabe ist die Phagozytose. Später tragen die frei werdenden lysosomalen Enzyme zur Lyse des Entzündungsexsudats bei. ■ Aktivierte, zytotoxische T-Zellen lösen bei viralen Infekten, die zur Expression von Neoantigenen auf den infizierten Zellen führen, eine akute Immunreaktion aus, die zu lymphozytären Entzündungen mit Nekrose und Elimination befallener Zellen führen. Hierbei bewirken die aus Granula der zytotoxischen T-Zellen stammenden Perforine einen Membrandefekt bei der attackierten Zelle. Dadurch können Proteasen, darunter Granzym, sowie Wasser, Elektrolyte u.a. in die Zelle eindringen und eine DNA-Fragmentierung bzw. die Apoptose auslösen. Alternativ können zytotoxische T-Zellen durch Aktivierung des

FAS-Signalwegs die Apoptose der Zielzellen induzieren. Beispiele sind die Virus-BHepatitis sowie die lymphozytäre Virusmyokarditis. ■ Makrophagen versehen zusätzlich zu der Bakterienphagozytose eine Reihe weiterer Aufgaben. Als Exsudatmakrophagen resorbieren sie nekrotische Zellen und/oder Fibrin. Im Rahmen von Gewebsnekrosen sind sie für die Resorption zuständig und induzieren durch Monokine Granulationsgewebe, sodass die Nekrose durch Bindegewebe organisiert werden kann (Reparation). ■ Mastzellen setzen über eine IgE-vermittelte Degranulierung eine große Zahl von Entzündungsmediatoren frei. Die Auswirkungen sind Exsudation sowie über den Eosinophilen-chemotaktischen-Faktor (ECF) die Einwanderung von eosinophilen Leukozyten ins Gewebe. Die angeführten Effektormechanismen können aber auch ihrerseits schwere Gewebsschädigung hervorrufen, die letale Auswirkungen haben können. Folgende Mechanismen spielen eine Rolle: ■ Die Schwellung des Gewebes durch das entzündliche Exsudat wird vor allem durch Entzündungsmediatoren (z.B. Arachidonsäurederivate wie Leukotriene und Prostaglandine) unterhalten. In Abhängigkeit von der Lokalisation entstehen unterschiedliche Krankheitsbilder. Die Schwellung der respiratorischen Schleimhäute (z.B. Nasenhöhle, Nasennebenhöhlen, Larynx, Tracheobronchialsystem) im Rahmen einer allergischen Reaktion (siehe Kap. 23.2.2) führt zu einer zunehmenden Verstopfung mit weitgehendem Lumenverschluss. Hierdurch kann sich im Larynxund Bronchialniveau ein Ventilmechanismus mit vorwiegender Behinderung der Exspiration entwickeln, der zur Erstickung führen kann. Das entzündliche Hirnödem bei einer Enzephalitis führt über einen erhöhten Hirndruck und Zirkulationsstörungen zum Funktionsausfall lebenswichtiger Hirnzentren, zum Koma und im Extremfall zum Hirntod. ■ Gewebsnekrosen können durch freigesetzte Substanzen, entzündlich bedingte Gefäßverschlüsse oder durch zytotoxische Lymphozyten verursacht werden. So werden lysosomale Enzyme und Sauerstoffradikale unter verschiedenen Bedingungen freigesetzt: In der frühen Phase der Phagozytose kommt es physiologischerweise zu einer Sekretion des Inhalts leukozytärer Granula in das Interstitium (Regurgitation). Antikörperablagerungen in Basalmembranen von Blutgefäßen (z.B. in den Glomerula) führen über den Fc-Rezeptor zu einer frustranen Phagozytose, die ebenfalls mit einer Freisetzung der Inhaltsstoffe der leukozytären Granula einhergeht. Schließlich kann es durch Phagozytose membranschädigender Substanzen (z.B. bei Silikaten) zur Zellyse mit entsprechender Freisetzung ihrer lysosomalen Enzyme kommen. Durch entzündungsbedingt freigesetzte lysosomale Enzyme und Sauerstoffradikale der Leukozyten können schwere Gewebsschäden mit Nekrosen die Folge sein. Darüber hinaus kann auch die Schädigung kleiner Gefäße im Entzündungsgebiet zu einer

Thrombose mit Gefäßverschluss und nachfolgender Durchblutungsstörung (Ischämie) führen. ■ Zytotoxische T-Lymphozyten oder Killerzellen können bei viralen Erkrankungen und Autoimmunerkrankungen Parenchymnekrosen verursachen. Bei ausgedehnten Nekrosen kann ein Organversagen die Folge sein (z.B. Leberkoma oder Herzinsuffizienz).

3.2.4 Mediatoren der Entzündung Entzündungsmediatoren regulieren in Abhängigkeit von Art und Intensität der Schädigung alle entzündlichen Reaktionen. So steuern sie zu Beginn der Entzündung die vaskulären Reaktionen, später die zelluläre Phase mit der Emigration von Leukozyten. Eine Reihe dieser Mediatoren ist inzwischen experimentell und durch Beobachtungen in der Humanmedizin gut gesichert. Nach ihrer Herkunft kann man die Mediatoren in zwei große Gruppen unterteilen: ■ Zelluläre Mediatoren: Mediatoren, die im Rahmen der Entzündung von Zellen sezerniert werden. ■ Plasmamediatoren: Sie werden aus inaktiven Vorstufen gebildet, die im Blutplasma vorhanden sind.

Zelluläre Mediatoren Die zellulären Mediatoren liegen entweder präformiert in zytoplasmatischen Vakuolen vor oder werden auf den Entzündungsreiz hin neu synthetisiert. Die beiden wichtigsten Gruppen sind die biogenen vasoaktiven Amine und die Arachidonsäurederivate. Quellen der zellulären Mediatoren sind Endothelzellen, Mastzellen, basophile, neutrophile und eosinophile Granulozyten, Monozyten/Makrophagen, Fibroblasten und schließlich auch geschädigte Parenchymzellen.

Biogene vasoaktive Amine Zu den biogenen Aminen gehören Histamin und Serotonin. Histamin ist das klassische vasoaktive Amin und auch der klassische Mediator einer akuten Entzündung. Innerhalb von Minuten kommt es durch Histamin zu einer Vasodilatation der Arteriolen und zu einer akut einsetzenden, kurzfristigen Permeabilitätssteigerung im venösen Schenkel der Mikrozirkulation. Die wichtigsten Histaminquellen sind die weit verbreiteten Gewebsmastzellen, die zumeist im perivaskulären Stroma von Schleimhäuten und Geweben lokalisiert sind.

Auch basophile und eosinophile Granulozyten sowie Thrombozyten enthalten in ihren Vesikeln Histamin. Die Histaminausschüttung erfolgt nach Stimulation durch Komplementfaktoren C3a und C5a, lysosomale Proteine von Leukozyten, durch direkte Zellschädigung (Trauma oder Hitze) und schließlich durch IgE im Rahmen von überempfindlichkeitsreaktionen (siehe Kap. 4.3.1). Die Wirkung von Histamin wird über Bindung an H1-Rezeptoren hervorgerufen. Histamin wird kurz nach Freisetzung von Histaminase inaktiviert.

Arachidonsäurederivate Die Arachidonsäurederivate sind sehr wirksame zelluläre Entzündungsmediatoren, die bei Schädigung in allen Zellen, insbesondere aber in Endothelzellen, neutrophilen Granulozyten, Mastzellen und Thrombozyten, gebildet werden. Viele klassische Symptome der akuten Entzündung lassen sich durch die biologischen Wirkungen der Arachidonsäurederivate erklären. Sie leiten sich aus hochungesättigten langkettigen C20-Fettsäuren ab, die in großen Mengen in Phospholipiden von Zellmembranen vorkommen. Die Bildung der Arachidonsäure erfolgt dabei in einem ersten Schritt über die Phospholipase A2. Im Weiteren entstehen über den Lipoxygenaseweg die Leukotriene (LT), über den Zyklooxygenaseweg die Prostaglandine (PGE2, PGD2, PGF2), das Prostazyklin (PGI2) und das Thromboxan A2 (Abb. 3-13). Die Namensgebung der Leukotriene beruht auf ihrer Entdeckung in Leukozyten und auf ihren drei Doppelbindungen (-trien). Die biologischen Wirkungen der Leukotriene LTC4, LTD4 und LTE4 sind identisch mit der 1940 beschriebenen „slow-reacting substance of anaphylaxis“ (SRS-A).

Abb. 3-13 Flussdiagramm der Arachidonsäuremetaboliten.

Die Auswirkungen dieser Metaboliten umfassen die Aktivität der glatten Muskulatur des Tracheobronchialsystems und der Gefäße, die Permeabilität der Gefäße sowie die Hämostase und Thrombose. Dabei wirken diese Substanzen teilweise synergistisch, teilweise auch antagonistisch. PAF = plättchenaktivierender Faktor; SRS-A = slow-reacting substance of anaphylaxis. Die Wirkungen der Arachidonsäurederivate im Rahmen entzündlicher Reaktionen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: ■ Vaskuläre Reaktionen. PGE2 und Prostazyklin verursachen eine verzögerte, jedoch lang anhaltende Vasodilatation der Arteriolen. Den gleichen Effekt hat PGD2, das z.B. von Mastzellen sezerniert wird. Die Leukotriene LTC4, LTD4 und LTE4 steigern die Gefäßpermeabilität durch Kontraktion der Endothelien im venösen Teil der Endstrombahn. Ihre Wirkung ist ca. tausendmal stärker als die von Histamin. Die Leukotriene LTC4 und LTD4 sind mit ihrer starken bronchokonstriktorischen Wirkung wichtige Mediatoren der Überempfindlichkeitsreaktionen vom Typ 1 beim Asthma bronchiale. ■ Chemotaxis. LTB4 ist ein starker chemotaktischer Faktor für neutrophile Granulozyten und Monozyten. Darüber hinaus fördert es die endothelialleukozytären Interaktionen mit Austritt von Leukozyten in das Entzündungsfeld.

■ Schmerzen und Fieber. PGE2 erhöht die Schmerzsensibilisierung der Nozizeptoren für Bradykinin. Darüber hinaus ist Prostaglandin bei der Entstehung des Fiebers beteiligt. Hemmstoffe des Arachidonsäuremetabolismus sind Steroide, nichtsteroidale Antiphlogistika (z.B. Acetylsalicylsäure = Aspirin®) und Nikotin. Nichtsteroidale Antiphlogistika hemmen die Zyklooxygenase. Dadurch werden vermehrt Leukotriene gebildet. Aus diesem Grund sind beim Asthma bronchiale nichtsteroidale Antiphlogistika kontrainduziert.

Plättchenaktivierender Faktor (PAF) Er wird in Endothelzellen, in basophilen Granulozyten, neutrophilen Granulozyten und in Monozyten aus Membranphospholipiden synthetisiert. Chemisch ist er ein Acetyl-Glycerol-Phosphorylcholin. PAF hat eine plättchenaktivierende Wirkung (Aggregation und Sekretion von Histamin/Serotonin). In extrem niedriger Konzentration bewirkt er bereits eine Vasodilatation und Permeabilitätssteigerung mit 100- bis 10000fach stärkerer Wirkung als Histamin. PAF gehört zu den wichtigsten Mediatoren des Asthma bronchiale aufgrund seiner starken bronchokonstriktorischen Wirkung. Weiterhin steigert PAF über eine verstärkte Expression von Adhäsionsmolekülen sowie durch Bildung hochaffiner Integrine die Leukozytenadhäsion sowie die Leukotaxis.

Zytokine Es handelt sich um überwiegend niedermolekulare Mediatormoleküle, die im Verlauf einer Entzündung insbesondere von Lymphozyten, Makrophagen und Endothelzellen gebildet werden. Zu diesen Zytokinen zählen – neben anderen – das IL-1 (Interleukin-1), IL-8 (Interleukin-8) und der Tumornekrosefaktor α (TNF-α). Zytokine sind in ihrer Funktion vielfältig (pleotrop). Sie wirken bei akuten Entzündungen größtenteils synergistisch und haben lokale und systemische Wirkungen (Tab. 3-4). Sie haben eine große Bedeutung in der Regulation von Immunreaktionen (siehe Kap. 4.2.2 und Tab. 4-5, S. 131). Andere Zytokine sind die von Granulozyten, Fibroblasten und T-Lymphozyten gebildeten Interferone, die insbesondere „antivirale“ und immunmodulatorische Effekte haben.

Tab. 3-4 TNF.

Entstehung und Wirkung von IL-1 und

Stickstoffmonoxid (NO) Stickstoffmonoxid wird vom Endothel und von den Makrophagen mithilfe des Enzyms NO-Synthetase (NOS) synthetisiert. Es hat vasodilatorische Wirkung, fördert die endotheliale Leukozytenadhäsion, inhibiert die Plättchenaggregation und -adhäsion und hat als Radikal zytotoxischen Effekt (Bakterien, Zellen). Endotheliale NOS wird durch einen zytoplasmatischen Ca2+-Anstieg aktiviert, dagegen erfolgt die NOS-Aktivierung in Makrophagen Ca2+-unabhängig durch Zytokine wie TNF-α und IFN-γ. Die relaxierende parakrine Wirkung von NO auf die Gefäßmuskulatur wird durch Induktion von Guanosin-Monophosphat (GMP) hervorgerufen. Die Bildung von bakteriziden Stickstoff-Sauerstoff-Radikalen wird durch Aktivierung von Makrophagen induziert. Stickoxid spielt auch in der Pathogenese des Schocks eine wichtige Rolle (siehe Kap. 7.10.2).

Lysosomale Bestandteile der Leukozyten Die neutrophilen Granulozyten setzen selbst eine Reihe von chemischen Substanzen frei, die entzündungssteigernd wirken.

■ Kationische Proteine erhöhen die Gefäßpermeabilität teils direkt, teils über eine Histaminfreisetzung und wirken chemotaktisch auf Monozyten und Granulozyten (neutrophil chemotactic factor, NCF). ■ Saure Proteasen degradieren insbesondere Bakterien und Zellschutt in Phagolysosomen. ■ Neutrale Proteasen bauen extrazelluläres Kollagen, Basalmembranen, Fibrin, Elastin, Knorpel etc. ab. Diese Reaktionen können zum Gewebsuntergang (z.B. Abszessbildung) führen, andererseits sind sie bei der Lyse des Entzündungsexsudats und damit für die Heilung einer akuten Entzündung von Bedeutung. ■ Sauerstoffradikale können extrazellulär eine Gewebeschädigung verursachen. Lymphozyten produzieren eine Reihe von Lymphokinen mit entzündungsmodulierender Wirkung. Hierzu gehören der monozytenchemotaktische Faktor (MCF), der Migrationshemmfaktor (MIF) mit Wirkung auf Makrophagen und neutrophile Granulozyten (LIF), der Makrophagenfusionsfaktor (MFF) und der Makrophagenaktivierungsfaktor (MAF).

Plasmamediatoren Plasmamediatoren liegen als inaktive Vorstufen im Blut bzw. im entzündlichen Exsudat vor. Nach Aktivierung entfalten sie ihre Wirkungen im Entzündungsfeld sowie im Blutplasma. Die drei wichtigen, teilweise interagierenden Systeme sind: ■

Komplementsystem



Gerinnungs- und fibrinolytisches System



Kallikrein-Kinin-System.

Komplementsystem (C-System) Das Komplementsystem besteht aus etwa 20 verschiedenen Plasmaproteinen mit den reagierenden Proteinen C1–C9, B und D, Serinproteinasen und regulatorischen Proteinen.

Abb. 3-14 Schematische Darstellung der Aktivierung und Wirkung des Komplementsystems.

a Komplementaktivierung über den klassischen Weg. Das Komplementsystem wird kaskadenförmig aktiviert. Voraussetzung ist die Bildung eines Antigen-Antikörper-Komplexes. Die C3-Konvertase (C4b2a) ist eine zentrale Schaltstelle. Die biologischen Aktivitäten sind an die Fragmente C3a, C3b und C5a sowie an den Lysekomplex (C5–9) gebunden (siehe c). b Komplementaktivierung über den alternativen Weg. Dieser Weg kann durch bakterielle Proteasen, lysosomale Enzyme, Plasmaproteinasen und Granulozytenelastase in Gang gesetzt werden. Zentral steht die Proteolyse von C3 zu C3b. C3b bindet an mikrobielle Oberflächen und führt über Zwischenschritte zur C3-Oberflächenkonvertase C3bBbP. Bei ausreichender Konzentration von C3b wird aus der C3-Oberflächenkonvertase über Konformationsänderung eine C5-Konvertase. Der weitere Ablauf erfolgt wie beim klassischen Weg. c Wirkung der Komplementfaktoren C3a, C3b und C5a. Die Auswirkungen der Bruchstücke C3a und C5a lassen sich unterteilen in: Auswirkungen auf Gefäßdilatation und -permeabilität, überwiegend durch Aktivierung von Mastzellen (1), neutrophilen Granulozyten und Monozyten/Makrophagen (2) sowie auf die Ansammlung von Entzündungszellen im Gewebe (3 und 4). C3b wirkt als Opsonin bei der Phagozytose von Bakterien (5). Der Lysekomplex C5– 9 führt zur Lyse der Zielzellen (z.B. Bakterien, Tumorzellen etc.). Die Namensgebung verdankt dieses System der Tatsache, dass das Komplement die Abwehrfunktionen der Antikörper vervollständigt (komplementiert). Die autokatalytische enzymatische Aktivierung des Systems erfolgt als „kontrollierte, sich verstärkende Kaskade“ mit sequentieller Bildung der Proteinspaltprodukte C4a, C3a, C3b und C5a sowie schließlich des sog. Lysekomplexes C5–9. Da die Proteinspaltprodukte C3a und C5a bei der Auslösung des anaphylaktischen Schocks beteiligt sind, werden sie als Anaphylatoxine bezeichnet. Das breite Wirkungsspektrum der Anaphylatoxine im Rahmen der unspezifischen Infektabwehr ergibt sich aus der Tatsache, dass das Komplementsystem nahezu bei jeder Entzündung Ausgangspunkt oder Folge des Entzündungsgeschehens ist. Die Aktivierung der Komplementkaskade kann über einen primitiven nichtadaptiven, angeborenen Weg (alternativer Weg) und über einen immunologischen (Antigen-Antikörper-Komplex-)Weg (klassischer Weg) verlaufen. Der zuerst entdeckte klassische Aktivierungsweg (Abb. 3-14a) setzt die Bildung eines Immunkomplexes (Antigen-Antikörper-Komplex) voraus (siehe Kap. 4.3.1). Die Aktivierung des Komplementsystems über diesen Weg erfolgt durch Bindung des C1-Komplexes an den Fc-Teil des Antikörpermoleküls. Dadurch werden C4 und C2 aktiviert und zur C3-Konvertase C4b2a, die C3 in ein größeres Fragment C3b und ein kleineres Fragment C3a spaltet. C3b entfaltet enzymatische Aktivität auf C5 (= C5-Konvertase) und spaltet dieses in die Bruchstücke C5a und C5b. Die

Spaltprodukte C3a, C3b und C5a diffundieren in die Umgebung und entfalten ihre biologischen Aktivitäten (siehe unten). C5b dient als Ausgangspunkt des Lysekomplexes. Durch Ankopplung von C6 und C7 entsteht zunächst eine Verbindung mit starker Zellaffinität, die durch weitere Anlagerung von C8 und C9 den Lysekomplex bildet. Der alternative Aktivierungsweg (Abb. 3-14b) stellt den entwicklungsgeschichtlich älteren Weg dar, er dient der schnellen, nichtadaptiven Infektabwehr ohne Antikörper. Dieser Mechanismus umfasst die Proteolyse von C3 zu C3b, die z.B. durch bakterielle Proteasen, lysosomale Enzyme, Plasmaproteinasen (Trypsin, Plasmin, Thrombin) und Granulozytenelastase in Gang gesetzt werden kann. Unter Mitwirkung von Mg2+ und der Faktoren B, D und Properdin entsteht C3bBbP, das als C3-Konvertase wirkt. Ist C3b in ausreichender Konzentration vorhanden, so wird die C3-Konvertase über eine Konformationsänderung zu einer C5-Konvertase. Diese spaltet C5 in C5a und C5b. C5b ist wie beim klassischen Weg der Ausgangspunkt des Lysekomplexes. Das Wirkungsspektrum der Anaphylatoxine C3a, C3b, C5a und des Lysekomplexes ist in Abb. 3-14c zusammengefasst. Es umfasst vaskuläre Reaktionen mit Vasodilatation und Erhöhung der Gefäßpermeabilität sowie zahlreiche zelluläre Reaktionen, die zu einer vermehrten Emigration von neutrophilen Granulozyten und Monozyten sowie zu einer verstärkten Phagozytosetätigkeit führen. Der Lysekomplex bewirkt an den Zielzellen (z.B. Bakterien, Tumorzellen etc.) bis zu 120 Å messende Membrandefekte (Poren), die zum Einstrom von Wasser und damit zum Tod dieser Zellen und mikrobieller Keime führen. Die alternative Aktivierung des Komplementsystems mit Freisetzung der Anaphylatoxine und Entfaltung deren biologischer Aktivitäten ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine effektive Abwehr von bakteriellen Infektionen. Die klinische Bedeutung des Komplementsystems wird auch deutlich, wenn man die Erkrankungen analysiert, die durch Fehlen von einzelnen Komponenten entstehen. Ein Fehlen von mittleren (C3, C5) und terminalen (C6, C7, C8) Faktoren führt zu rezidivierenden pyogenen Infektionen. Ein Mangel an frühen Komplementfaktoren (C2, C3) wird bei einigen Autoimmunerkrankungen beobachtet, so z.B. beim Lupus erythematodes und bei der membranösen Glomerulonephritis.

Gerinnungs- und fibrinolytisches System In diese Gruppe gehören Plasmaenzymsysteme, die durch Kontaktaktivierung ihre Wirkungen auf das Gerinnungs- und fibrinolytische System entfalten.

Abb. 3-15 Darstellung des Plasmamediatorsystems, das durch den Faktor XII aktiviert wird.

Der erste Schritt umfasst die Aktivierung des Faktors XII durch Bindung an negativ geladene Oberflächen. Der aktivierte Faktor XII (= XIIa) führt zur Aktivierung von drei verschiedenen Systemen: Das 1. System umfasst die Bildung von Kininen, die ausgesprochen vasoaktiv sind. Das 2. System umfasst die Bildung von Plasmin, das einerseits zur Komplementaktivierung und andererseits zur Fibrinolyse führt. Das 3. System umfasst das Gerinnungssystem, an dessen Ende die Bildung eines Fibrinthrombus steht. Die Auswirkungen der verschiedenen Systeme sind eine Erhöhung der Permeabilität der Blutgefäße, Chemotaxis (Anlockung von Entzündungszellen), die Aktivierung von Leukozyten bzw. der Phagozytose und die Bildung eines Thrombus. Im Zentrum des Aktivierungsprozesses steht der Faktor XII der Blutgerinnung, der Hageman-Faktor (HF) (Abb. 3-15). Er bindet zusammen mit zwei weiteren Plasmafaktoren, dem hochmolekularen Kininogen (high-molecular-weight kininogen, HMWK) und dem Präkallikrein, aufgrund der positiv geladenen Außenfläche an negative Oberflächen wie Kollagen, Basalmembranbestandteile,

Endotoxin, Bakterienwand-Lipopolysaccharide etc. Hieraus resultiert ein aktivierter Hageman-Faktor (HFa), dessen Hauptwirkung die Spaltung, d.h. die Aktivierung von HF (autokatalytische positive Rückkopplung!), Präkallikrein und Faktor XI, ist. Durch den aktivierten HF werden damit gleichzeitig sowohl das Gerinnungssystem mit Bildung von Fibrinthromben als auch das Kallikreinsystem aktiviert. Kallikrein wiederum aktiviert Plasmin, das die Fibrinolyse in Gang setzt. Sowohl Plasmin als auch Thrombin zeigen Querverbindungen zum Komplementsystem mit Aktivierung von C3 und Bildung der Anaphylatoxine C3a und C5a. Von besonderer Bedeutung ist, dass mit der Kontaktaktivierung gleichzeitig das Gerinnungssystem und das fibrinolytische System in Gang gesetzt werden, sodass ein für den Organismus lebenswichtiges Gleichgewicht erhalten bleibt (siehe Kap. 7.5.1). Das System der Kontaktaktivierung wird durch mehrere Mechanismen kontrolliert. Proteinaseinhibitoren im Plasma hemmen die aktiven Enzyme HFa, Kallikrein und XIa. Hierzu zählen der C1-Esteraseinhibitor (C1-INH) und Antithrombin III. Weitere Inhibitoren sind α1-Antitrypsin (XIa) und α2-Antiplasmin (β-HFa).

Kallikrein-Kinin-System Kallikreine sind Kininogenasen (Gruppe der Serinesterasen), die hochmolekulares Kininogen in die Kinine Methionyllysylbradykinin, Lysylbradykinin und Bradykinin spalten. Die Kinine sind hoch wirksame Vasodilatatoren. Sie entfalten ihre Wirkung über die Rezeptoren der Gefäßmuskulatur und durch Stimulierung der Prostaglandinsynthese. Bei systemischer Wirkung kommt es zur Zunahme der Herzfrequenz und des Schlagvolumens. Darüber hinaus erhöhen sie durch Kontraktion der Endothelzellen im Venolenbereich die Gefäßpermeabilität. Bradykinin wirkt auf die Bronchialmuskulatur teils über Prostaglandine konstriktorisch. Es bewirkt durch die Aktivierung von Nervenendigungen den Schmerz. Aufgrund der sehr kurzen Halbwertszeit ist die Wirkung des Bradykinins äußerst flüchtig.

3.2.5 Morphologische Formen der akuten Entzündung Obwohl der Ablauf einer akuten Entzündung stereotyp ist, zeichnen sich makroskopisches und histologisches Bild durch eine erhebliche Vielfalt aus. Nach dem Ausmaß der Gewebeschädigung und der Art des Exsudats lassen sich folgende Formen der akuten Entzündung unterscheiden: ■

exsudative Entzündung



seröse bzw. katarrhalische Entzündung



eitrige Entzündung



hämorrhagische Entzündung

■ nekrotisierende Entzündung und Mischformen mit eitrigen Entzündungen (ulzerierende, abszedierende und gangräneszierende Entzündung) ■

akute lymphozytäre Entzündung.

Exsudative Entzündung Charakteristisch für diesen Entzündungstyp ist die Bildung eines entzündlichen Exsudats. Die folgende Untergliederung berücksichtigt seine Zusammensetzung oder seinen vorwiegenden Bestandteil. Die Übergänge zwischen den verschiedenen Entzündungsformen sind oft fließend. Darüber hinaus kann sequentiell eine Entzündungsabfolge entstehen. So kommt es bei bakteriellen Entzündungen über die seröse und fibrinöse schließlich zu einer eitrigen Entzündung. Bei allergischen Entzündungen dagegen bleibt die Reaktion auf der Stufe der serösen Entzündung stehen. Stärke, Dauer und Art der Schädigung sowie die Lokalisation bestimmen Ausmaß und Typ der Entzündung.

Seröse Entzündung Im Vordergrund steht der Austritt einer eiweißreichen Flüssigkeit, die vor allem Albumin und Globuline enthält, dagegen wenig oder kein Fibrin. Beim Übertritt dieser Flüssigkeit in Gewebe entsteht ein ödem, bei Entzündung seröser Oberflächen in vorgebildeten Hohlräumen entsteht ein Erguss in Form hellgelber, durchsichtiger Flüssigkeit. Bei Austritt an die Oberfläche von Schleimhäuten entsteht ein seröser Katarrh (griechisch: katarrhein = herunterfließen). Überwiegt dabei die Schleimbildung, so spricht man von einem schleimigen Katarrh.

Ätiologie ■ Physikalische und chemische Noxen ■ virale und bakterielle Infektionen ■ überempfindlichkeitsreaktionen vom Typ I (Soforttyp, siehe Kap. 4.3.1).

Folgen Die seröse Entzündung verschwindet nach Entfernung der Noxe, kann jedoch auch ein übergangsstadium zu fibrinösen und fibrinös-eitrigen Entzündungen darstellen, z.B. bei bakteriellen (Super-)Infektionen. Ein chronisches Gewebsödem führt zur Reizung ortsständiger Fibroblasten und damit zur Bildung extrazellulärer Matrix durch diese aktivierten Fibroblasten. Folge ist eine Fibrose.

Beispiele Seröse Entzündungen mit Gewebsödem sind z.B. ■ Hautquaddeln mit meist flüchtigem ödem der Dermis, wie sie durch Kontakt mit Brennnesseln oder durch eine Überempfindlichkeitsreaktion vom Typ I ausgelöst werden können (Urtikaria) ■ Blasen bildende Entzündungen der Haut (Pemphigus) ■ seröse Pleura-, Peritoneal-, Perikard- und Gelenkergüsse. Beispiele katarrhalischer Entzündungen sind ■ einerseits der gewöhnliche Schnupfen (Rhinitis catarrhalis, common cold), eine durch Rhinoviren verursachte Entzündung der Nasenschleimhaut ■ andererseits aber auch potentiell lebensbedrohliche Erkrankungen wie die Cholera, die durch Exsikkose und Salzverlust zum Kreislaufzusammenbruch führen kann.

Fibrinöse Entzündung Für diese Form der Entzündung sind der Austritt von Fibrinogen und die Bildung eines Fibrinnetzes charakteristisch. Als mechanische Barriere gegen eine weitere Ausbreitung der Noxe hat das Fibrinnetz eine Schutzfunktion.

Ätiologie ■ Physikalisch-chemische Faktoren ■ infektiös-toxische Noxen im Gefolge unterschiedlicher Erkrankungen (Urämie, Autoimmunerkrankungen, bakterielle und virale Infekte, Infarkte u.a.).

Folgen Fibrinöse Exsudate an der Oberfläche seröser Höhlen (z.B. Pleurahöhle) können Reibegeräusche („Lederknarren“) als auskultatorischen Befund auslösen. Werden die fibrinös belegten Oberflächen durch Flüssigkeit voneinander getrennt, so resultiert eine Schalldämpfung. An Schleimhautoberflächen macht sich die fibrinöse Entzündung durch Bildung von „(Pseudo-)Membranen“ bemerkbar. Die Nomenklatur dieser Veränderungen ist in der Literatur uneinheitlich; so wird von kruppöser, pseudokruppöser, diphtherischer oder diphtheroider (ohne dabei notwendigerweise die Diphtherie zu meinen!), membranöser, pseudomembranöser und verschorfender Entzündung gesprochen. Wichtig ist zu unterscheiden, ob der darunter liegende Oberflächenschaden nur bis zur Basalmembran (Erosion) oder aber darüber hinaus (Ulkus) reicht: ■ Bei einer pseudomembranös-nekrotisierenden Entzündung entsprechen die „Membranen“ einem Schorf aus Exsudat, nekrotischem Gewebe und ggf. Fremdmaterial. Beim Versuch, diesen Schorf abzulösen, wird der Gewebeschaden nur verstärkt. Wie jedes Ulkus heilt die pseudomembranös-nekrotisierende Entzündung unter Narbenbildung ab. Dadurch können narbige Strikturen an Hohlorganen die Folge sein. ■ Bei der pseudomembranösen, nicht nekrotisierenden Entzündung kann der Schaden durch Reepithelisierung entlang der noch intakten Basalmembran im Sinne einer Restitutio ad integrum ausheilen. Normalerweise wird das Fibrinnetzwerk durch leukozytäre Enzyme aufgelöst. Besteht ein relativer Leukozytenmangel, z.B. unter antibiotischer Therapie, oder unterbleibt der Fibrinabbau aus anderem Grunde, so wird das Fibrinpolymer durch Granulationsgewebe organisiert (siehe Kap. 3.3).

Beispiele ■ Fibrinöse Exsudate findet man am Perikard oberhalb von Herzinfarkten oder an der Pleura oberhalb einer Pneumonie („Begleitpleuritis“), in den Alveolen bei frischer Pneumonie. Im Extremfall wird die gesamte Körperhöhle davon ausgefüllt; z.B. bei Urämie können so Epi- und Perikard durch dichte zottige Fibrinausschwitzungen bedeckt sein. Eine derartige Perikarditis führt zum Bilde des Cor villosum („Zottenherz“, Abb. 3-16). ■ Schwerwiegende pseudomembranös-nekrotisierende Entzündungen können durch Clostridium difficile (an der Darmschleimhaut, besonders nach Antibiotikatherapie) oder auch bei Diphtherie durch Corynebacterium diphtheriae (an der respiratorischen Schleimhaut von Larynx und Trachea) hervorgerufen

werden. Ein Beispiel aus dem täglichen Leben ist der eine Schürfwunde bedeckende Schorf. ■ Pseudomembranöse, nichtnekrotisierende Entzündungen findet man bei viralen Infektionen respiratorischer Schleimhäute (z.B. Grippetracheitis) und bei bakteriellen Darmentzündungen (z.B. bakterielle Ruhr). ■ Die fibrinöse Verklebung zwischen benachbarten serösen Häuten führt zu flächenhaften und strangförmigen bindegewebigen Verwachsungen (fibröse Adhäsionen, Briden). Seltener kommt eine Schwartenbildung an der Pleura oder im Herzbeutel vor, die die Beweglichkeit der Lungen („Fesselung“) bzw. des Herzens („Panzerherz“) dauerhaft beeinträchtigt.

Hämorrhagische Entzündung Diese Entzündungsform kommt bei schwerer Schädigung der terminalen Strombahn mit Gefäßwandnekrosen und Austritt von Erythrozyten in das geschädigte Gewebe zustande.

Ätiologie Hoch toxische Erreger, immunologisch bedingte Gefäßschäden und enzymatisch bedingte Entzündungen.

Folgen Die Heilung erfolgt über eine granulierende Entzündung mit Vernarbung. Im Zuge des Erythrozytenabbaus kommt es zur Ablagerung von Eisenpigment im Gewebe und gelegentlich zur Bildung von Cholesterinpräzipitaten.

Beispiele ■ Perakute hämorrhagische Pneumonie durch Influenzaviren ■ virale hämorrhagische Fiebererkrankungen (Ebolavirus u.a.) ■ hämorrhagische Pankreatitis als enzymatisch vermittelter Gewebs- und Gefäßwandschaden ■ Goodpasture-Syndrom als Beispiel einer Autoimmunerkrankung mit Lungenblutungen ■ perakuter bakterieller septischer Schock.

Abb. 3-16

Fibrinöse Entzündung.

a Makroskopischer Aspekt einer schweren fibrinösen Perikarditis mit zottenartigen grauen Fibrinbelägen auf dem viszeralen Perikard (Zottenherz, Cor villosum).

b Histologie des Fibrinexsudates in einer Spezialfärbung mit einem Netz rot angefärbter Fibrinfäden. Masson-Goldner, Vergr. 30fach.

Eitrige Entzündung Kennzeichen der eitrigen Entzündung ist das leukozytäre Exsudat. Eiter (lateinisch: pus) ist eine gelblich grünliche, rahmige Flüssigkeit (Abb. 3-17), die aus teilweise oder gänzlich untergegangenen Granulozyten, Gewebedetritus, serös-fibrinösem Exsudat und Erregern besteht. Mischformen mit katarrhalischen (eitriger Katarrh), fibrinösen (fibrinös-eitrig), hämorrhagischen (hämorrhagischeitrig) Entzündungen sind häufig, desgleichen Mischformen mit nekrotisierenden Entzündungen (siehe unten). Nach dem Ausbreitungsmuster der eitrigen Entzündung unterscheidet man die Phlegmone, das Empyem und den Abszess (Abb. 3-18). ■ Von einer phlegmonösen Entzündung spricht man bei diffuser Ausbreitung des von Granulozyten bestimmten leukozytären Infiltrats im Gewebe, das zudem durch ein seröses bzw. serös-fibrinöses Exsudat aufgelockert ist. ■ Eiteransammlungen in vorbestehenden Körperhöhlen bezeichnet man als Empyem. Empyeme entstehen vorwiegend durch fortgeleitete bakterielle Entzündungen angrenzender Organe.

Abb. 3-17

Eitrige, basale Meningitis.

Die Arachnoidalräume der Meningen sind mit Eiter ausgefüllt und geben so den typischen makroskopischen Aspekt mit gelber Verfärbung der Meningen (Pfeile).

Abb. 3-18 Schematische Darstellung der Formen der eitrigen Entzündung.

Ätiologie Pyogene Keime wie Streptokokken, Staphylokokken, Pneumokokken, Meningokokken, Gonokokken, gramnegative Keime sowie Chlamydien und Pilze. Phlegmonen werden überwiegend durch Streptokokken ausgelöst.

Folgen Phlegmonen entstehen bevorzugt durch Erreger, die sich im Gewebe leicht ausbreiten können. So besitzen Streptokokken u.a. das Enzym Hyaluronidase, das die Mucopolysaccharide des Bindegewebes auflöst. Unter antibiotischer Therapie kommt es meist zu einer schnellen Rückbildung des entzündlichen Infiltrats mit Heilung. Bei zunehmender granulozytärer Infiltration kann es durch die Wirkung der granulozytären Enzyme und andere Noxen zu einer lokalen Gewebeeinschmelzung kommen (Abszess, siehe unten). Die mit Ulzerationen verbundene phlegmonöse Entzündung an Haut und Schleimhäuten wird als ulzerophlegmonöse Entzündung bezeichnet. Empyeme heilen nicht spontan aus, sondern müssen punktiert oder eröffnet werden. Bei chronischem Verlauf bilden sich flächenhafte Fibroseareale (Schwarten) mit abgekapselten Herden des „Restempyems“.

Beispiele ■ Phlegmone: Weichteilphlegmone, Erysipel (Wundrose), Darmwandphlegmone, phlegmonöse Appendizitis und Cholezystitis, Mediastinalphlegmone, eitrige Meningitis. ■ Empyem: Pleuraempyem (Pyothorax), Perikardempyem, Gallenblasenempyem, Pyaskos, Pyonephrose der ableitenden Harnwege, Pyometra des Uterus, Pyosalpinx der Tube, Gelenkempyem (Pyarthros), Ventrikelempyem (Pyozephalus).

Abb. 3-19

Furunkel der Haut.

Deutliche Entzündung der Haut in Form eines roten Hofes, zentral über die Oberfläche vorspringende Eiteransammlung. (Bild: G. Burg, Dermatologische Universitätsklinik, Zürich.)

Nekrotisierende Entzündung Hierbei steht der Strukturschaden, die Nekrose, im Vordergrund. Die Nekrosen können als Einzelzellnekrose über das ganze Organ verteilt sein oder als zusammenhängende Gewebsnekrose innerhalb eines Organs oder an der Oberfläche von Haut und Schleimhäuten auftreten. Die Zelluntergänge sind dabei ggf. auch durch Apoptose ausgelöst. ■ Bei einer ulzerierenden (ulzerösen) Entzündung entsteht durch Abstoßung umschriebener Nekrosen an den Oberflächen von Haut und Schleimhäuten ein Ulkus.

■ Bei einer abszedierenden Entzündung entsteht eine Nekrose durch Gewebeeinschmelzung, die durch granulozytäre Enzyme auf dem Boden einer eitrigen Entzündung bewirkt wird (Abszess). ■ Die Infektion nekrotischen Gewebes mit Bakterien (Fäulnisbakterien) führt zu einer gangräneszierenden (gangränösen) Entzündung.

Ätiologie Das Ursachenspektrum umfasst chemische und physikalische Noxen (Traumatisierung, Druck, Säuren, Laugen, Verbrennungen, Strahlenschäden), Erreger (Viren, Bakterien, Pilze, Parasiten), Durchblutungsstörungen, Enzyme und Immunreaktionen.

Folgen ■ Einzelzelluntergänge in parenchymatösen Organen, Haut und Schleimhäuten heilen vorwiegend durch Regeneration folgenlos aus. ■ Eine Gewebsnekrose mit Zerstörung des mesenchymalen Gerüsts kann dagegen nur unter Narbenbildung (Defektheilung) ausheilen. Die Folgen einer ulzerösen Entzündung hängen von Lokalisation und Schädigungsdauer ab. Bei rascher Beseitigung der Noxe heilen die akuten Ulzera in der Regel schnell und mit kleineren Narben aus. Persistiert die Noxe, entsteht ein chronisches Ulkus mit heftiger granulierender und vernarbender Entzündung und schlechter Heilungstendenz (siehe Abb. 3-20). ■ Die Abszessbildung ist Folge einer Schädigung durch granulozytäre Enzyme, bakterielle Faktoren und lokale Ischämie durch Thrombosierung kleiner Blutgefäße. Es findet sich ein mit Eiter gefüllter Hohlraum, der noch kompakte nekrotische Gewebsanteile (Sequester) enthalten kann. Der Abszess wird vom umgebenden vitalen Gewebe durch eine Abszessmembran abgegrenzt. Diese „Membran“ besteht anfangs aus dem Produkt einer fibrinös-eitrigen, später einer granulierenden und resorptiven Reaktion. Schließlich bildet sich eine fibröse Kapsel aus (chronischer Abszess). Liegt der Abszess an der Oberfläche eines Organs, so kann er nach außen durchbrechen (Fistel). Den Perforationskanal bezeichnet man als Fistelgang. Auf diesem Wege können Verbindungen zwischen verschiedenen Abszesshöhlen und Hohlorganen entstehen (fistelnde Entzündung). ■ Bei einer Gangrän infolge einer Superinfektion durch Fäulniserreger zerfällt das befallene Gewebe zundrig und übel riechend (feuchte Gangrän).

Abb. 3-20

Magenulkus.

a Makroskopischer Aspekt eines akuten Ulkus mit einem wie ausgestanzt erscheinenden Schleimhautdefekt. b Histologisches Schnittpräparat durch das Ulkus mit erhaltener Schleimhaut (S) und Muscularis propria (Mp) im Randbereich. Ulkusgrund mit frischer Nekrose (N). Im Ulkusbereich ist die Muscularis propria durchbrochen (Pfeil).

Beispiele ■ Entzündungsreaktionen um untergegangene einzelne Zellen und Zellverbände findet man bei der Virushepatitis und bei Transplantatabstoßungsreaktionen. ■ Umfangreiche Parenchymuntergänge sind für die Knollenblätterpilzvergiftung und die enzymatisch vermittelte hämorrhagische Pankreatitis typisch. ■ Ulzerierende Entzündungen können physikalisch (Druckulzera beim Dekubitus, als Katheterisierungsoder Bestrahlungsfolge), chemisch (Duodenalulkus), infektös (Salmonellen-Enterokolitis), immunologisch (Colitis ulcerosa, Morbus Crohn) und infolge von Durchblutungsstörungen (ischämisch) ausgelöst werden. ■ Abszedierende Entzündungen treten an Haarfollikeln (Furunkel, Abb. 3-19) und Schweißdrüsen auf. Konfluierende Abszesse benachbarter Haarfollikel bezeichnet man als Karbunkel. ■ Beispiele gangräneszierender Entzündungen sind infizierte Fuß- und Unterschenkelnekrosen bei obliterativen Gefäßschäden (siehe Kap. 2.6.4). Aus Lungenabszessen, vor allem auf dem Boden einer Aspirationspneumonie, und Lungeninfarkten kann durch Superinfektion eine Lungengangrän entstehen.

Akute lymphozytäre Entzündung Es handelt sich um eine akute Entzündung, die durch eine überwiegend lymphozytäre Infiltration des betroffenen Gewebes oder Organs gekennzeichnet ist.

Ätiologie Virusinfektionen, immunologisch vermittelte Entzündungen bei Autoimmunerkrankungen und Transplantatabstoßung bzw. Graft-versus-HostErkrankung.

Folgen Durch die zellvermittelte Zytotoxizität (Hypersensitivitätsreaktion Typ IV) werden einzelne Zellen zur Apoptose veranlasst. Abhängig vom Umfang der Zellausfälle und der Reservekapazität des betroffenen Organs tritt schließlich eine organ- und gewebetypische Insuffizienz auf.

Beispiele Ein typisches Krankheitsbild ist die virale Myokarditis (Abb. 3-21). Die Herzmuskulatur ist hierbei diffus von Lymphozyten durchsetzt und weist eine wechselnde Zahl von Myozytenuntergängen auf. Myogene Herzinsuffizienz und Rhythmusstörungen sind die Folgen.

3.2.6 Ausbreitungswege einer Entzündung Komplikationen einer Entzündung ergeben sich durch ihre Ausbreitung (insbesondere bei bakteriellen Entzündungen) und durch Übergang in eine chronische Entzündung (siehe Kap. 3.3). Bakterielle Entzündungen können sich kontinuierlich, lymphogen und hämatogen ausbreiten.

Kontinuierliche Ausbreitung Die Entzündung kann sich diffus im Interstitium (Stroma) eines Organs oder über vorgebildete Wege wie über das Bronchialsystem oder die Gallenwege ausbreiten (kanalikuläre Ausbreitung). Von einer kavitären Ausbreitungsform spricht man, wenn sich die Entzündung über vorgebildete Höhlen ausbreitet (z.B. Bauchhöhle).

Abb. 3-21

Akute lymphozytäre Myokarditis.

Histologischer Ausschnitt aus dem Myokard eines 20-jährigen Patienten mit akuter Virusmyokarditis. Zwischen den Muskelfasern zahlreiche T-Lymphozyten.

Lymphogene Ausbreitung Sie erfolgt über die Lymphbahnen des betroffenen Organs zu den regionären Lymphknoten. Dort können Lymphozyten aktiviert und spezifische Antikörper gebildet werden. Pyogene Bakterien können zu einer eitrigen, evtl. sogar abszedierenden Lymphadenitis führen.

Hämatogene Ausbreitung Die Einschwemmung von Bakterien in die Blutbahn wird als Bakteriämie bezeichnet. Dies ist ein häufiges Ereignis, das aufgrund der bakteriziden Eigenschaften des Bluts meist ohne allgemeine Krankheitserscheinungen verläuft. Die Erreger werden von den Zellen des phagozytären Systems vor allem in der Milz aufgenommen und abgebaut. Bei virulenten Erregern und/oder einer Abwehrschwäche kann es jedoch zu einer Überschwemmung des Organismus mit Erregern und der Entwicklung einer Sepsis oder einer Septikopyämie kommen.

Sepsis Definition Die durch pathogene Keime (Bakterien, seltener Viren oder Pilze) und deren Toxine verursachten Veränderungen, die mit einer ungehemmten Freisetzung von Mediatoren des Entzündungs-, Gerinnungs- und Komplementsystems einhergehen, werden im klinischen Alltag als Sepsis bezeichnet. Ein ähnlicher Symptomenkomplex, SIRS (systemic inflammatory response syndrome), kann auch ohne Erreger nach einem schweren Trauma oder bei anhaltender Gewebehypoxie entstehen. Für die Diagnose einer Sepsis müssen mindestens vier der folgenden Befunde vorliegen: ■ Nachweis einer Bakteriämie durch die Blutkultur ■ hohes Fieber ■ stark erhöhte (oder stark verminderte) Leukozytenzahl im peripheren Blut ■ Thrombozytopenie ■ metabolische Azidose. Ausgangspunkt einer Sepsis ist bei bakteriellen Erkrankungen ein lokaler Entzündungsherd (Haut, Zähne, Magen-Darm-Trakt, Urogenitaltrakt,

Injektionskanülen, Venen- und Herzkatheter u.a.), der als Sepsisherd oder Eintrittspforte bezeichnet wird. Häufige Erreger sind Kokken, Klebsiellen, Enterobacter, Serratien, Pseudomonas aeruginosa. Die Bakterientoxine verursachen direkt oder über Mediatoren Störungen der Durchblutung (Mikrozirkulationsstörung bis hin zum generalisierten septischen Kreislaufschock; siehe Kap. 7.10.1) und Fieber. Durch den septischen Schock kann es zu einer Schädigung von Lungen, Nieren, Leber, Darm etc. kommen (sog. Schockorgane, siehe Kap. 7.10.3).

Septikopyämie Die Septikopyämie ist als hämatogene Absiedlung von Bakterien in verschiedenen Organen mit Ausbildung meist multipler eitriger Entzündungsherde (Abszesse) definiert. Entsprechend lassen sich makroskopisch oder histologisch kleine Eiterherde in Lungen, Nieren, Herz, Gehirn etc. nachweisen. Diese Herde können ihrerseits Ausgangspunkt weiterer septikopyämischer Streuungen werden. Die Milz zeigt häufig eine entzündliche Reaktion der Milzpulpa mit Organvergrößerung bis zu etwa 300 g und eine weiche Konsistenz.

3.2.7 Systemische Auswirkungen der Entzündung Entzündungen führen zu einer Reihe von Allgemeinreaktionen des Organismus wie (siehe auch Tab. 3-4): ■

Fieber



Leukozytose



Veränderungen der Plasmaproteine



Gewichtsverlust.

Fieber Fieber entsteht durch Erhöhung des Sollwertes im hypothalamischen Wärmeregulationszentrum. Um die Körpertemperatur auf den gewünschten Sollwert anzuheben, wird die Muskelaktivität erhöht. Bei schweren Infektionen entwickelt sich hieraus der Schüttelfrost. Die Erweiterung von Hautgefäßen sowie die erhöhte Schweißproduktion (warme, feuchte Haut) führen zu einer vermehrten Wärmeabgabe mit der subjektiven Kälteempfindung.

Endogene Pyrogene (fiebererzeugende Substanzen) wie IL-1 und TNF-α lösen die Sollwertverstellung der Temperatur aus. Sie werden von Leukozyten am Entzündungsort sezerniert und üben ihre Wirkung auf den Hypothalamus über die Freisetzung von PGE2 aus. Die Bildung der endogenen Pyrogene in Leukozyten wird von einer Reihe von exogenen Substanzen (exogene Pyrogene) stimuliert, zu denen z.B. die Endotoxine gramnegativer Bakterien zählen.

Leukozytose Die Leukozytose ist ein vorübergehender reaktiver Anstieg der Leukozytenzahl im peripheren Blut über die Norm (4,3–10 × 103/μl). So steigt bei akuten eitrigen Entzündungen die Zahl der neutrophilen Granulozyten über 10000/mm3 an: Man spricht dann von einer Granulozytose. Dabei kann es auch zur Ausschwemmung unreifer Formen kommen, die man als Linksverschiebung des Blutbildes bezeichnet. Eine Erhöhung der eosinophilen Granulozyten (Eosinophilie) wird bei parasitären Infektionen (siehe Kap. 48.5.1) und allergischen Reaktionen (siehe Kap. 4.3.1) beobachtet. Für die vermehrte Ausschwemmung von Leukozyten sind insbesondere im Entzündungsfeld gebildete leukozytenmobilisierende Faktoren wie IL-1, TNF-α, C3e und der koloniestimulierende Faktor (CSF) verantwortlich. Virale Infektionen gehen mit einer Vermehrung von Lymphozyten im peripheren Blut einher (Lymphozytose).

Veränderungen der Plasmaproteine Während der akuten Entzündung kommt es zu einer Vermehrung von verschiedenen Plasmaproteinen. Zu ihnen gehören das C-reaktive Protein (ein β-Globulin, das mit dem C-Polysaccharid von Pneumokokken reagiert), das Serumamyloidprotein A, Komplementfaktoren und Fibrinogen. Bei chronischen Entzündungen steht die Vermehrung der Immunglobuline im Vordergrund (Hypergammaglobulinämie). Diese ist polyklonal, im Gegensatz zum Plasmozytom (monoklonale Hypergammaglobulinämie). Die Verschiebung des Mengenverhältnisses der Plasmaproteine bewirkt eine erhöhte Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit (BSG).

Gewichtsverlust Als pathogenetischen Mechanismus nimmt man einen katabolen Stoffwechsel durch die chronische systemische Wirkung von Mediatoren wie IL-1 und TNF an.

3.3

Chronische Entzündung

Die chronische Entzündung wird durch Persistenz des Entzündungsreizes hervorgerufen und kann über Wochen, Monate oder Jahre anhalten. Histologisch steht die histiozytenreiche Entzündung im Vordergrund. Die Histiozyten sezernieren Monokine, die ihrerseits eine Proliferation von Fibroblasten und Endothelzellen (Angiogenese) auslösen. Das Ergebnis ist ein Granulationsgewebe. Es besteht aus ■ zellulären Infiltraten durch Makrophagen, Lymphozyten, Plasmazellen und segmentkernige Leukozyten ■ Kapillaren ■ Fibroblasten. Mit zunehmender Dauer kommt es bei der chronischen Entzündung zu Gewebsdestruktion und Vernarbung. Man unterscheidet die primäre chronische Entzündung, die von Beginn an chronisch verläuft, von der sekundären chronischen Entzündung, die sich aus einer akuten Entzündung bei Persistenz des Entzündungsreizes entwickelt.

3.3.1 Primär chronische Entzündung Pathogenese Viele schädigende Noxen führen von Beginn an zu einer chronischen Infektion (Tab. 3-5): ■ einige Mikroorganismen (Tuberkulosebakterien, polymerassoziierter Staphylococcus epidermidis) ■

nichtdegradierbare Fremdmaterialien (Asbest, Quarzkristalle)



Autoimmunerkrankungen (z. B. chronische Polyarthritis).

Morphologie

Histologisch vorherrschende Zelltypen sind Histiozyten/Makrophagen, Lymphozyten und Plasmazellen. Das morphologische Reaktionsmuster ist bunt. Es reicht von einer

vernarbenden Entzündung, bei der die Bindegewebsbildung (Fibrose) und die Narbenbildung (Sklerose) im Vordergrund stehen, über eine lympho-plasmazelluläre Entzündungsreaktion bis schließlich zur granulomatösen Reaktion.

3.3.2 Sekundär chronische Entzündung Pathogenese Nach Art der Noxe und der akuten Entzündungsform lassen sich folgende sekundär chronischen Entzündungen unterscheiden: ■ Entwicklung aus einer akuten bakteriell-eitrigen Entzündung (chronische eitrige Entzündung). ■ Entsteht z.B. ein Abszess, so kommt es zu erheblichen Störungen des Abwehrprozesses. Ein mit Eiter gefüllter, gefäß- und strukturloser Hohlraum bietet den neutrophilen Granulozyten weder den chemotaktischen Gradienten noch die Matrix zur Fortbewegung, um gezielt die im Abszess vorhandenen Bakterien bekämpfen zu können. Der Abszessinhalt seinerseits verursacht im angrenzenden gesunden Gewebe über einen persistierenden Reiz eine chronische granulierende Entzündung, die sich zunehmend in eine dicke narbige Abszesskapsel umwandelt. Die fibröse Abszesskapsel enthält häufig Lymphozyten und Plasmazellen als Ausdruck einer lokalen immunologischen Reaktion. ■ Eine häufige Ursache sekundärer chronischer Entzündungen sind fremdkörperassoziierte, bakteriell-eitrige Entzündungen. Bakterien vermehren sich auf oder im Fremdkörper und entziehen sich den Abwehrmechanismen des Organismus. Fremdkörper können exogene Fremdmaterialien (bei chirurgischen Eingriffen eingebrachtes, nichtresorbierbares Nahtmaterial, Metalle, Plastik) oder endogene Fremdkörper (nekrotischer Knochen bei einer eitrigen Knochenentzündung) darstellen. So kann z.B. Staphylococcus epidermidis auf Polymeroberflächen zu Zellrasen auswachsen und sich mit einem Kohlenhydratschleim umgeben, der den Zugriff von neutrophilen Granulozyten verhindert. ■ Sekundäre chronische Entzündung bei Persistenz von Viren oder chemischen/physikalischen Noxen. Die meisten sekundären chronischen Entzündungen entstehen nicht auf dem Boden einer bakteriell-eitrigen Entzündung, sondern sind Folge chronischer Schädigung durch eine große Zahl von Noxen. Derartige chronische Entzündungen finden sich bei nichtabheilenden Haut- und Schleimhautnekrosen infolge chemischer oder physikalischer Noxen (z. B. chronisches Magen- oder Duodenalulkus; durch den Narbenprozess kann es im Magen-Darm-Trakt zu einer zunehmenden Stenosierung kommen) oder bei der Persistenz von Viren (z.B. chronische Hepatitis B, siehe Kap. 32.4.2).

Tab. 3-5 Beispiele von primär chronischen Entzündungen. Ursachen der Entzündung Beispiel ■ Resistenz von infektiösen Agenzien gegen Phagozytose und intrazelluläre Abtötung Brucellose, Tuberkulose, virale Infektionen (z.B. Hepatitis B) ■ Fremdkörperreaktionen – endogene Fremdkörper Nekrosen (z.B. Fettgewebs- und Knochennekrosen), Cholesterin-kristalle, Harnsäurekristalle – exogenes Material Silikate, Nahtmaterial, Prothesen ■ Autoimmunerkrankungen – organspezifische Auto-immunerkrankungen Hashimoto-Thyreoiditis, chronische atrophische Gastritis mit perniziöser Anämie – nichtorganspezifische Autoimmunerkrankungen rheumatoide Arthritis ■ charakteristische Erkrankungen unbekannter ätiologie Colitis ulcerosa, Morbus Crohn

Morphologie Häufig lässt sich das Nebeneinander akuter (Nekrosen, Exsudation) und chronischer (Lymphozyten, Granulationsgewebe, Vernarbung) Reaktionen nachweisen.

3.3.3 Morphologische Merkmale der chronischen Entzündung Pathologisch-anatomisch lässt sich die chronische Entzündung in drei Subtypen unterteilen:



chronische granulierende (resorbierende) Entzündung



chronische lymphozytäre Entzündung



granulomatöse Entzündung.

Chronische granulierende Entzündung Hierbei steht das Granulationsgewebe im Mittelpunkt. Es besteht aus Makrophagen, neu gebildeten Kapillaren und Fibroblasten (Abb. 3-22) sowie in unterschiedlichem Ausmaß aus anderen Entzündungszellen (neutrophile Granulozyten, Lymphozyten, Plasmazellen). Im Mittelpunkt der granulierenden Entzündung steht der Makrophage. Neben der phagozytischen Funktion übt der Makrophage über sezernierte Monokine eine stimulierende Wirkung auf Endothelzellen und Fibroblasten aus (Abb. 3-23). Resultate sind die Neubildung von Gefäßen (Angiogenese) und die Bildung kollagenen Bindegewebes (sog. Organisation).

Abb. 3-22

Granulationsgewebe

mit den typischen Kapillarsprossen (K), Makrophagen (Pfeile) und Fibroblasten (Sternchen). Die Angiogenese beginnt mit Ausbildung von soliden endothelialen Knospen, die sekundär Lumina ausbilden und miteinander anastomosieren. Die Kapillaren besitzen zunächst keine Basalmembran und sind deshalb extrem permeabel. Hierdurch entsteht ein meist ausgeprägtes proteinreiches, erythrozytenhaltiges ödem.

Die ebenfalls aktivierten Fibroblasten bilden kollagene Fasern. Resorbiertes Exsudat und nekrotisches Gewebe werden zunehmend durch kollagenes Bindegewebe ersetzt.

Abb. 3-23

Makrophagenfunktion.

Stimulation der Fibroblastenproliferate und der Angiogenese durch eine Reihe von Monokinen. Das Kapillarnetz hat vor allem nutritive Funktion für Makrophagen und Fibroblasten.

Morphologie Histologisch ist die granulierende Entzündung durch Makrophagen, Fibroblasten und Kapillaren gekennzeichnet (Abb. 3-22).

Abb. 3-24

Schaumzellen und Siderophagen.

a Histiozytäre Entzündung nach Fettgewebsnekrosen mit Ausbildung von Schaumzellen (zytoplasmatische Fettspeicherung der Histiozyten). b Histiozytäre Entzündung mit Fremdkörperriesenzellen (F) und eisenspeichernden Makrophagen (Siderophagen; blau). Bei einigen Entzündungen wie z.B. dem chronischen Magenulkus kann das Granulationsgewebe eine Gliederung in drei Zonen aufweisen:

■ Resorptionszone mit Makrophagen (Front des Granulationsgewebes) ■ Reparationszone mit Kapillarsprossen und Fibroblasten ■ Bindegewebszone mit kollagenem Bindegewebe (Narbe). Eine verstärkte resorptive Leistung ist histologisch am Reichtum an Gewebsmakrophagen zu erkennen. Das resorbierte Material lässt sich teilweise im Zytoplasma der Makrophagen nachweisen. Nach Phagozytose von Fetten weist z.B. das Zytoplasma der Makrophagen feine Vakuolen auf (sog. Schaumzellen; Abb. 324a). Durch den Abbau von Erythrozyten (z.B. einem Hämatom) kommt es zur Ablagerung von Siderin in den Makrophagen (sog. Siderophagen; Abb. 3-24b). Je nach der Ausbildung der resorptiven oder der reparativen Komponente ergeben sich folgende Varianten der granulierenden Entzündung: ■ Die chronische xanthomatöse Entzündung ist gekennzeichnet durch den Reichtum an Schaumzellen und fällt daher bereits makroskopisch durch ihre gelbe Farbe auf. Beispiele sind die xanthomatöse chronische Pyelonephritis sowie die sog. Lipophagengranulome nach Fettgewebsnekrosen (Abb. 3-24a). ■ Die hypertrophische granulierende Entzündung zeichnet sich durch eine besonders starke Granulationsgewebsbildung mit in der Folge meist deformierenden Narben aus. Beispiele sind das Narbenkeloid und die sog. Granulationspolypen. ■ Die fibroplastische bzw. sklerosierende Entzündung ist charakterisiert durch eine Proliferation von Fibroblasten mit Bildung von kollagenem Bindegewebe. Hier können in unterschiedlichem Ausmaß auch Lymphozyten und Plasmazellen als Ausdruck einer lokalen Immunreaktion vorkommen. Ein Beispiel ist das sog. Kapselfibrosesyndrom nach Einsatz einer Mammaprothese. Hierbei handelt es sich um eine erhebliche Vernarbung und Schrumpfung einer sich am Rande einer Silikonprothese bildenden fibrösen Kapsel.

Chronische lymphozytäre Entzündung Diese Entzündung weist eine überwiegend lymphozytäre Infiltration als Ausdruck eines immunologischen Prozesses auf. Die Folgen sind zunehmende Parenchymdestruktion und Vernarbung. Zu dieser Entzündungsform zählen in erster Linie die Autoimmunerkrankungen (siehe Kap. 47.1), denen eine vom Immunsystem ausgehende schädigende Autoreaktivität gegen körpereigene Gewebe oder Organe zugrunde liegt. Diese Erkrankungen manifestieren sich zum überwiegenden Teil als Organ- oder Multiorganerkrankungen. Zumeist führen sie über einen Verlauf von vielen Jahren zu einer zunehmenden Parenchymdestruktion z.T. mit ausgeprägter Vernarbung und Funktionsverlust.

Beispiele: chronische lymphozytäre Thyreoiditis Hashimoto (Abb. 3-25, siehe Kap. 14.4.2), Sjögren-Syndrom mit chronischer Entzündung von Tränen- und Speicheldrüsen (siehe Kap. 26.3.6), rheumatoide Arthritis (siehe Kap. 44.2.4), Autoimmunhepatitis (siehe Kap. 32.4.2), Lupus erythematodes visceralis und Sklerodermie (siehe Kap. 42.4.2 und 47.1.5).

Granulomatöse Entzündung Definition Granulome bestehen aus knötchenförmigen Zellansammlungen, die sich – abhängig vom Granulomtyp – aus Makrophagen und ihren Abkömmlingen, den Epitheloidzellen und mehrkernigen Riesenzellen, sowie aus verschiedenen anderen Zelltypen zusammensetzen, z.B. Lymphozyten, Granulozyten und Fibroblasten. Der Begriff Granulom leitet sich vom lateinischen Granulum (= Körnchen) her. Dieser Stamm findet sich auch in zwei anderen Wortbildungen, Granulozyt und granulierende Entzündung bzw. Granulation. ■ Im Falle des Granulozyten bezieht sich die Bezeichnung auf die Zytomorphologie: Granulozyten enthalten viele Granula. ■ Im Falle des Granulationsgewebes entstehen, z.B. an einem Wundgrund, körnchenähnliche Proliferate von Kapillaren und Fibroblasten.

Abb. 3-25

Chronische lymphozytäre Thyreoiditis.

Ausschnitt aus der Schilddrüse mit ausgeprägter lymphozytärer Entzündungsinfiltration zwischen den Lymphfollikeln. Die Entzündung führt im

Laufe der Zeit zu einem zunehmenden Parenchymverlust mit Fibrose (siehe Abb. 3-3b). Die Begriffe der granulomatösen und der granulierenden Entzündung sind daher streng voneinander zu trennen! Granulome bilden sich nur bei einem eingegrenzten Spektrum von Erkrankungen, sodass man auch von „spezifischen“ Entzündungen spricht. Dieser Begriff ist historisch geprägt und geht auf die Vermutung zurück, dass man aus dem histologischen Bild auf die Ursache der Entzündung schließen könne. Man stellte allerdings bald fest, dass es nicht nur morphologisch unterschiedliche Granulomtypen gibt, sondern dass vielmehr verschiedene Erreger und unbelebte Noxen die Bildung von Granulomen induzieren können. Zu den granulomauslösenden Noxen gehören toxische (Asbest, Quarz), nichttoxische, schwer abbaubare exogene (Plastik, Nahtmaterial, Talkumpuder) und endogene (Cholesterinkristalle, Harnsäurekristalle, Hornschüppchen) Fremdkörper sowie einige Mikroorganismen (z.B. Mykobakterien, Yersinien, Listerien, Leishmanien). Aus dem unterschiedlichen histologischen Aufbau der Granulome können sich Hinweise auf ihre Ätiologie ergeben. Eine sichere Aussage zur Ätiologie erfordert gewöhnlich weitere Untersuchungen. Beweisend ist nur der Nachweis des verursachenden Agens bzw. Erregers im Gewebe. Die Entstehung von Granulomen ist in vielen Punkten noch ungeklärt. Aufgrund der Beobachtungen in der Humanpathologie und experimenteller Daten ist folgender Entstehungsmechanismus wahrscheinlich (Abb. 3-26): ■ Granulomatogene Noxen führen im Rahmen einer unspezifischen Abwehr zunächst zu einer Emigration von Monozyten aus dem Blut ins Gewebe. Hier wandeln sie sich um in sog. Exsudatmakrophagen. Unter dem Einfluss von unspezifischen Entzündungsmediatoren kommt es zu einer Aktivierung der Makrophagen, die mit vermehrter Proteinsynthese, erhöhter phagozytotischer Aktivität, Verbesserung der antimikrobiellen Mechanismen sowie erhöhter Mobilität einhergeht. Eine lockere knötchenförmige Anordnung dieser Makrophagen stellt das primäre Granulom dar. Fremdkörpergranulome entwickeln sich ohne Beteiligung des Immunsystems weiter. ■ Größere Partikel werden komplett von Makrophagen umgeben. Die Makrophagen fusionieren zu Riesenzellen, die schließlich den gesamten Fremdkörper umfassen und vom angrenzenden Gewebe abgrenzen. Die Kerne dieser Riesenzellen liegen regellos im Zytoplasma verteilt. Deshalb bezeichnet man sie als ungeordnete Riesenzellen. Kleinere Partikel werden dagegen direkt von den Makrophagen phagozytiert. ■ Infektiöse granulomatogene Noxen führen zu einer zusätzlichen Immunaktivierung, welche die Granulombildung fördert und die

Abwehrmechanismen weiter verstärkt. Zu diesen Noxen zählen intrazelluläre Bakterien (Mykobakterien, Listerien), Schistosoma mansoni und Trypanosoma cruzi. Die Kooperation zwischen sensibilisierten T-Zellen und Makrophagen fördert über Lymphokine die weitere Einwanderung von jungen Monozyten, die Aktivierung von Makrophagen und schließlich auch die Umwandlung von aktivierten Makrophagen in Epitheloidzellen (siehe Kap. 4.3.1). Die Epitheloidzellen sind zytoplasmareich und groß und ähneln damit Epithelzellen. Sie fusionieren teilweise zu großen Riesenzellen mit randständig angeordneten Kernen (geordnete Riesenzellen; Prototyp: Langhans-Riesenzelle). Epitheloidzellen sezernieren Prostaglandine, Interleukin-1, Interferone und schließlich auch einen makrophagendeaktivierenden Faktor (MDF). Der MDF scheint dafür verantwortlich zu sein, dass die aus dem Blut kommenden jungen Monozyten im Bereich der Granulome in ihrer Mobilität eingeschränkt werden und damit zur Granulomvergrößerung beitragen. Die Form der Riesenzellen lässt keine Rückschlüsse auf die Ätiologie des Granuloms zu.

Abb. 3-26

Pathogenese von Granulomen.

Erklärungen siehe Text.

Abb. 3-27

Granulomtypen.

a Granulom vom Sarkoidose-Typ. b Granulom von Tuberkulose-Typ. c Granulom vom Fremdkörper-Typ. dGranulom vom Pseudotuberkulose-Typ. e Granulom vom rheumatoiden Typ.

Granulomtypen Man unterscheidet epitheloidzellige und histiozytäre Granulome (Abb. 3-27). Epitheloidzellen entwickeln sich unter dem Einfluss von T-Helferzellen aus Monozyten bzw. Histiozyten. Histiozytenansammlungen sind daher u.U. Vorstufen epitheloidzelliger Granulome. Die Epitheloidzellen zeigen eine enge Verzahnung ihrer Zellmembranen untereinander und weisen daher ein epithelähnliches („epitheloides“) Bild auf. In den voll ausgebildeten Granulomen umschließen die Epitheloidzellen wallartig das Granulomzentrum, sodass einerseits Erreger bzw. Noxen vom übrigen Gewebe abgegrenzt und andererseits Enzyme u.a. bakterizide Stoffwechselprodukte lokal konzentriert werden können.

Mehrkernige Riesenzellen sind oft Bestandteile von Granulomen, ihr Nachweis ist für die Diagnose eines Granuloms jedoch nicht erforderlich. Diese Riesenzellen entstehen durch Konfluenz zahlreicher Monozyten bzw. Gewebsmakrophagen unter Ausbildung eines Synzytiums. Riesenzellen, zumindest diejenigen vom Fremdkörper-Typ, entstehen auch ohne Einwirkung von T-Lymphozyten. Sie können Hunderte von Kernen enthalten, was am zytologischen Präparat besonders gut erkennbar wird. Die Kerne können geordnet oder ungeordnet vorliegen. Man findet ■ geordnete Riesenzellen (z.B. Langhans-Riesenzellen) in Granulomen vom Tuberkulose-Typ ■ ungeordnete Riesenzellen typischerweise in Granulomen vom FremdkörperTyp. Als begleitende Zellen enthalten Granulome Lymphozyten und Plasmazellen in unterschiedlicher Anzahl und Verteilung, meist in der Peripherie. Die außerhalb gelegenen T-Lymphozyten produzieren verschiedene für die Granulombildung wichtige Zytokine. Darunter auch einen Makrophagen-Migrationshemmfaktor, der bewirkt, dass die Makrophagen im Granulom verbleiben. In Granulomen vom Pseudotuberkulose-Typ treten neutrophile Granulozyten hinzu.

Formen Man unterscheidet unter den epitheloidzelligen Reaktionsformen ■ kleinherdige Epitheloidzellansammlungen („sarcoidlike lesions“) ■ Epitheloidzellgranulome ohne verkäsungsartige Nekrose (Sarkoidose-Typ) ■ Epitheloidzellgranulome mit verkäsungsartiger Nekrose (Tuberkulose-Typ) ■ Epitheloidzellgranulome mit zentralem Abszess (Pseudotuberkulose-Typ). Die histiozytären granulomatösen Reaktionsformen umfassen ■ Granulome vom Typ des rheumatischen Fiebers ■ Granulome vom rheumatoiden Typ ■ Granulome vom Fremdkörper-Typ. Außerdem gibt es Mischformen (gemischtzellige Granulome). Kleinherdige Epitheloidzellansammlungen. Sie bestehen aus Gruppen weniger Epitheloidzellen und treten im lymphatischen Gewebe, z.B. bei der Toxoplasmose (Piringer-Lymphadenitis), und auch im Abflussgebiet von Tumoren auf.

Riesenzellen treten nur sehr selten in diesen „sarcoid-like lesions“ auf. Epitheloidzellgruppen findet man aber auch bei einigen malignen Lymphomen. Epitheloidzellgranulome vom Sarkoidose-Typ. Typisch ist der Aufbau aus Epitheloidzellen mit einem peripheren Lymphozytensaum. Mehrkernige Riesenzellen können hinzutreten, meist solche vom Langhans-Typ mit hufeisenförmig angeordneten Kernen und Asteroidkörperchen. Diese Granulome enthalten keine Nekroseherde. Man findet sie bei der Sarkoidose (M. Boeck, siehe Kap. 24.6.4 und 47.1.7), hauptsächlich in Lymphknoten, aber auch in inneren Organen und in der Haut mit einer in späteren Stadien perigranulomatösen und die Granulome septierend unterteilenden Fibrose. Bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen – hauptsächlich beim M. Crohn – und bei der primären biliären Leberzirrhose (PBC) können ebenfalls Granulome vom Sarkoidose-Typ vorkommen; ebenso nach Inhalation von Beryllium-, Aluminium- oder organischen Stäuben. Granulome von Sarkoidose-Typ treten auch bei der Tuberkulose auf, und zwar bei guter Abwehrlage, aber auch in primären Granulomen, die noch keine erkennbaren Nekrosen entwickeln konnten. Es ist daher wichtig, vor einer immunsuppressiven Therapie eine Tuberkulose auszuschließen. Epitheloidzellgranulome vom Tuberkulose-Typ. Diese zeigen das Bild der Granulome vom Sarkoidose-Typ, jedoch mit zentralen verkäsungsartigen Nekrosen (Abb. 3-28a). Sie sind für die Tuberkulose charakteristisch (siehe Kap. 24.6.4 und 48.2.7), aber nicht pathognomonisch, da man bei anderen Mykobakteriosen (z.B. tuberkulöse Form der Lepra) und auch bei der tertiären Syphilis gleichartig aufgebaute Granulome findet. Sie können auch im Zuge der Gewebsreaktion auf Polyvinylpyrrolidon (PVP), Stärkekörner, Talkum (Handschuhpuder), nekrotisches Tumorgewebe, Prostatasekret (granulomatöse Prostatitis) und schließlich beim epitheloidzellreichen klassischen Hodgkin-Lymphom vorkommen. Bei der Tuberkulose zeigen epitheloidzellige Granulome eine erhaltene T-ZellImmunabwehr an, da sich die Granulome nur unter T-Zell-Hilfe entwickeln können. Umfangreiche Nekrosen sind Ausdruck einer höheren Erregervirulenz bzw. einer beeinträchtigten Immunabwehr. Fehlende T-Zell-Immunität führt zu ungehemmter Vermehrung der Mykobakterien in Makrophagen mit diffuser Verteilung der infizierten Zellen in den Geweben (Sepsis tuberculosa gravissima Landouzy, Landouzy-Sepsis, siehe Kap. 24.6.4 und 48.2.7).

Abb. 3-28

a Epitheloidzellgranulom vom Typ eines verkäsenden tuberkulösen Granuloms. Knötchenförmige Ansammlung von Epitheloidzellen (Pfeile) und mehrkernigen Riesenzellen (Doppelpfeile) mit zentraler Nekrose in einem Granulom (Kreuz). b Typisches Granulom vom Fremdkörper-Typ mit Histiozyten und ungeordneten Fremdkörperriesenzellen. Im Zytoplasma eingeschlossene Fadenreste (Pfeil). Epitheloidzellgranulome vom Pseudotuberkulose-Typ. Sie treten bei einigen Infektionskrankheiten auf, so bei der durch Yersinia pseudotuberculosis hervorgerufenen retikulozytär-abszedierenden mesenterialen Lymphadenitis. Andere

Erkrankungen sind die Katzenkratzkrankheit, das Lymphogranuloma venereum, die Hasenpest (Tularämie), die Kokzidioidomykose und verschiedene Parasitosen. Einige der Erreger lassen sich färberisch darstellen (Gram-Färbung, Versilberungsreaktionen u.a.), sodass in einigen Fällen schon histologisch weiterführende Aussagen möglich sind. Granulome vom rheumatoiden Typ. Diese Granulome findet man bei rheumatoider Arthritis (primär chronische Polyarthritis, PCP), beim Granuloma anulare und, seltener, im Zusammenhang mit verschiedenen Hauterkrankungen. Bei der rheumatoiden Arthritis (siehe Kap. 44.2.4) sind vorwiegend druckbelastetes kutanes und periartikuläres Bindegewebe (Unterarme, Ellenbogen, Handgelenke, Sakralregion u.a.), gelegentlich auch der Herzklappenapparat, seröse Häute und parenchymatöse Organe betroffen. Die Granulome („Rheumaknoten“) können mehrere Zentimeter durchmessen. Die Granulome zeigen eine zentrale „fibrinoide“ Nekrose des kollagenen Bindegewebes, umgeben von einem histiozytären, epitheloidzellähnlichen Randwall mit – wenn überhaupt – nur vereinzelten Riesenzellen und einem weiter peripher angeordneten Saum von T-Lymphozyten und Plasmazellen. Der Begriff „fibrinoid“ bezieht sich auf die Färbeeigenschaften, die dieses nekrotische Material und Fibrin teilweise gemeinsam haben. Granulome vom Typ des rheumatischen Fiebers. Sie finden sich im Myokard als Korrelate des rheumatischen Fiebers, einer Folgeerkrankung nach Streptokokkeninfekt (siehe Kap. 48.2.6). Das rheumatische Fieber ist aufgrund der verbesserten hygienischen Verhältnisse und der Antibiotikatherapie ein in mitteleuropäischen Breiten seltener Befund, weltweit jedoch nach wie vor eine häufige Ursache erworbener Herzerkrankungen. Die Granulome vom Typ des rheumatischen Fiebers (Aschoff-Knötchen) gruppieren sich im Myokard entlang kleinerer Gefäße um nekrotische Kollagenfasern (fibrinoide Nekrose). Sie enthalten nicht in erster Linie Epitheloidzellen, sondern eigentümliche Makrophagen (Anitschkow-Zellen) mit „raupenähnlichem“ („caterpillar cells“) bzw. „eulenaugenähnlichem“ Erscheinungsbild des Nukleolus. Die Eulenaugenzellen dürfen nicht mit denjenigen bei Zytomegalievirusinfektion verwechselt werden (siehe Kap. 48.1.5)! Dazu gesellen sich mehrkernige Makrophagen mit basophilem Zytoplasma (Aschoff-Zellen) sowie wenige Lymphozyten und Plasmazellen. Nach Abheilung hinterlässt das Granulom eine spindelförmige Narbe. Granulome vom Fremdkörper-Typ. Granulome dieses Typs bestehen aus mehrkernigen Riesenzellen mit ungeordneten Ansammlungen gleichmäßig großer Kerne um Fremdmaterial. Sie bilden sich auch unabhängig von T-Zellen. Auslöser dieser Fremdkörperreaktion können sowohl kristalline als auch nichtkristalline, körpereigene und körperfremde Stoffe und Partikel sein (Abb. 3-28b).

■ Unter den körpereigenen Kristallen sind dies oft Urate und Cholesterin, als nichtkristalline körpereigene Stoffe Hornlamellen, z.B. aus rupturierten epidermalen Zysten. Auch ölige Flüssigkeiten erzeugen u.U. eine Fremdkörperreaktion, die in diesen Fällen meist auch zahlreiche Makrophagen mit wabigem Zytoplasma enthält (sog. Schaumzellen). Hierzu zählen Fettgewebsnekrosen und Schleimextravasate (Lipophagen- bzw. Muziphagengranulome) oder Reaktionen auf Talg wie beim Gerstenkorn (Chalazion). ■ Unter den körperfremden Auslösern von Granulomen findet man oft Nahtfäden, aber auch Insekten- und Zeckenanteile (Rüssel, Stachel u.a.), Seeigelstachel, Holzsplitter und Dornen sowie verschiedene Stein- und Metallstäube, Endoprothesenabrieb und ferner Silikonöl aus Mammaimplantaten. Einige exogene Fremdkörper sind polarisationsoptisch doppelbrechend und mithilfe dieser mikroskopischen Zusatzuntersuchung weiter charakterisierbar. Gemischtzellige Granulome. Diese Granulome zeigen ein etwas bunteres Bild, das eine Einordnung in die vorstehend genannten Kategorien nicht ohne weiteres möglich macht. Sie enthalten in wechselnder Zusammensetzung Epitheloidzellen, Histiozyten und Riesenzellen mit z.T. charakteristischen zytomorphologischen Details (z.B. „Rindfleischzellen“ beim Typhus abdominalis), Lymphozyten, Plasmazellen, neutrophile und eosinophile Granulozyten, Nekrosen, Verkalkungsherde u.a. Zu den Erregern, die derartige gemischtzellige Granulome hervorrufen, zählen Brucellen, Listerien, Salmonella typhi u.a. Bakterien, Pilze und Parasiten.

Abb. 3-29 Chronisch vernarbende Entzündung bei karnifizierender Pneumonie.

a Schnittfläche der Lunge mit flächenhaftem Narbengewebe (Pfeile). b Histologie mit fibrösem Narbengewebe, das die Alveolen ausfüllt. HE, Vergr. 40fach.

3.4

Regeneration und Reparation

3.4.1 Definition Bei jeder Entzündung kommt es zu einem Untergang z.B. von Parenchymzellen in Organen oder Epithelzellen in Haut und Schleimhäuten. Ihr funktionell und strukturell vollwertiger Ersatz durch Parenchymzellen wird als Reepithelisierung bezeichnet. Ist eine Regeneration nicht möglich, erfolgt eine Reparation. Es handelt sich dabei um den Ersatz der zerstörten Parenchymzellen durch kollagenes Bindegewebe (Defektheilung).

Heilung, Regeneration Syn.: Restitutio ad integrum Heilung einer akuten Entzündung bedeutet die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands durch ■

Elimination der Noxe



Auflösung des Entzündungsexsudats



Ersatz der zugrunde gegangenen Parenchymzellen.

Die Beseitigung der entzündungsauslösenden Noxen und damit der Ursache der Gewebeschädigung führt zu einer Abnahme der Entzündungsmediatoren. Die Gefäßfunktionen normalisieren sich. Die Auflösung des entzündlichen Exsudats erfolgt durch freigesetzte Enzyme. Für die Degradation des Fibrins ist das aus dem Proenzym Plasminogen gebildete Plasmin von besonderer Bedeutung. Dieses kann durch Faktoren der Makrophagen aktiviert werden. Der Abtransport des verflüssigten Exsudats erfolgt über die Lymphbahnen und teilweise über die Blutgefäße. Zellschutt (Detritus) zugrunde gegangener Parenchymzellen und Leukozyten wird schließlich von den Makrophagen abgeräumt. Diese werden über den Lymphstrom in die regionären Lymphbahnen abtransportiert. Mit der Auflösung des Exsudats beginnt die Regeneration von Parenchymzellen, welche die zugrunde gegangenen Zellen ersetzen. Der ursprüngliche Gewebszustand wird ohne Narbe wiederhergestellt.

Defektheilung, Heilung durch Reparation Syn.: Reparatio, Organisation Eine Heilung durch Reparation ist die Folge einer unvollständigen Abräumung des Exsudats oder Folge größerer Gewebsnekrosen.

Nekrosen führen zur Bildung von Granulationsgewebe mit Abbau der Nekrose und Ersatz durch kollagenes Bindegewebe (Narbe). Diesen Prozess bezeichnet man auch als Organisation. Die Narbe ist makroskopisch durch ihre grau-weiße Farbe sowie histologisch durch kollagenes Bindegewebe mit unterschiedlicher Zahl von Fibroblasten gekennzeichnet (Abb. 3-29).

3.4.2 Beispiel: Wundheilung Am Beispiel der Wundheilung im Hautbereich werden die Prinzipien des Ineinandergreifens von Entzündung, Reparation und Regeneration deutlich: Sie umfasst im Initialstadium die Exsudation mit Bildung eines fibrinreichen Blutgerinnsels (Schorf). Es folgen die resorptive Entzündung, die Reparation und Parenchymregeneration bzw. Reepithelisierung. Jede chirurgische Hautinzision führt zu Zellnekrosen der Epidermis und der Dermis sowie zur Eröffnung von Blutgefäßen. Trotz optimaler Adaptation der Wundränder im Rahmen der chirurgischen Wundnähte kommt es daher zu folgenden Veränderungen (Abb. 3-30): ■ Exsudative Phase. In der exsudativen Phase kommt es zur Auffüllung des Defekts mit koaguliertem Blut und Fibrin. Fibronektin, ein homodimeres Glykoprotein mit Querverbindungen zwischen Fibrin und Kollagen sowie anderen extrazellulären Matrixkomponenten, verursacht eine Stabilisierung der Wunde. Zur Oberfläche hin wird die Wunde von koaguliertem Blut (Blutschorf) bedeckt. ■ Resorptive Phase. Die resorptive Phase umfasst die Einwanderung von segmentkernigen neutrophilen Granulozyten sowie insbesondere von Monozyten/Makrophagen mit Abbau des Exsudats. ■ Reparative Phase mit Bildung von Granulationsgewebe. Die Bildung von Granulationsgewebe durch Proliferation von Kapillaren und Fibroblasten leitet die Reparation ein. Die Umwandlung des Granulationsgewebes in reifes Narbengewebe ist ein lang anhaltender Prozess, der Wochen bis Monate in Anspruch nimmt. Er geht mit einer Resorption des Exsudats und einer ausgeprägten Kollagensynthese (siehe Kap. 2.2.1) einher. Kollagenes Bindegewebe ist für die mechanische Stabilität der Wundnarbe verantwortlich. Kollagene sind eine Familie fibröser Proteine, die 25–30% des Gesamtkörperproteins ausmachen. Bei der Wundheilung wird zunächst Typ-IIIKollagen gebildet, das mit zunehmender Reifung der Narbe abgebaut und durch TypI-Kollagen ersetzt wird. In der reifen Narbe besteht dann ein Verhältnis Typ I/Typ III von 8,5/1,5. Dieses Narbengewebe bzw. die Fibrose kann sich in parenchymatösen Organen (z.B. Lunge, Leber, Niere) als Diffusionshindernis bemerkbar machen und zu einer Funktionsminderung des Organs beitragen. ■ Reepithelisierung. Die Regeneration der Epidermis setzt gleich zu Anfang der reparativen Phase ein mit einer Migration des basalen Epithels zwischen

oberflächlichem Blutschorf und Granulationsgewebe. Es bildet sich eine epitheliale Zone aus. Gleichzeitig proliferieren die Epithelzellen und bilden ein mehrschichtiges Epithel, das sich dann zu einem normalen Epithel ausdifferenziert. Im Gegensatz zur normalen besitzt die neu gebildete Epidermis keine Reteleisten und enthält keine Melanozyten (Hautnarbe bleibt zumeist weiß). Auch Hautanhangsgebilde fehlen. Der Blutschorf an der Oberfläche wird nach dieser Phase abgestoßen. Eine unkomplizierte Wundheilung mit nur geringer Narbenbildung (z.B. nach chirurgischen Eingriffen) wird als Heilung per primam intentionem (PP-Heilung) bezeichnet.

Tab. 3-6 Komplikationen der Wundheilung. Wunddehiszenz Narbenbruch hypertrophische Narben (Caro luxurians, „wildes Fleisch“) Keloidbildung Narbenkontraktur Wundinfektion Serombildung Hämatombildung Granulombildung Epidermiszysten

Abb. 3-30 Hautwunde.

Wundheilung am Beispiel einer

1 Exsudative Phase. Der Wundspalt wird durch Exsudation von Blutbestandteilen mit koaguliertem Blut und Fibrinbestandteilen aufgefüllt (Blutschorf). Im angrenzenden Gewebe eine entzündliche Reaktion mit Anreicherung von neutrophilen Granulozyten und Makrophagen. 2 Resorptive Phase. Vom dermalen Bindegewebe erfolgt die Resorption dieses Blutkoagels durch Exsudatmakrophagen. Im Randbereich entwickelt sich ein Granulationsgewebe aus neu gebildeten Kapillaren und Fibroblasten. Gleichzeitig kommt es zu einer Migration des basalen Epithels zwischen Blutschorf und Granulationsgewebe. 3a Reparative Phase. Sie ist durch die Bildung von Narbengewebe aus Granulationsgewebe gekennzeichnet. Gleichzeitig kommt es vom basalen Epithel durch Proliferation zur Regeneration des Plattenepithels an der Oberfläche.

3b Hautnarbe. In der Endphase dieses Prozesses besteht an der Oberfläche ein wieder ausdifferenziertes Plattenepithel. Zur Tiefe hin ist eine gefäßarme Narbe entwickelt. Da eine Regeneration der Melanozyten in diesem Areal ausbleibt, ist die Hautnarbe meistens weiß. Ebenso erfolgt keine Regeneration der Hautanhangsgebilde: In der Narbe wachsen keine Haare, und es erfolgt keine Schweißsekretion.

3.4.3 Komplikationen der Wundheilung Unter Komplikationen der Wundheilung fasst man lokale und systemische Faktoren und Prozesse zusammen, die den Heilungsverlauf und das Ergebnis der Narbenbildung negativ beeinflussen. Dies kann zu großen, deformierenden Narben, insuffizienten Narben (Narbenbruch) und schließlich nichtheilenden Wunden führen (Tab. 3-6).

Lokale Faktoren ■ Größe. Die Größe der Hautwunde bestimmt das Ausmaß der Exsudation, letztere wiederum die Ausdehnung des Granulationsgewebes und damit der Narbe. Die zeitliche Verzögerung des Heilungsprozesses über das makroskopisch bereits erkennbare Granulationsgewebe nennt man Heilung per secundam intentionem (PS-Heilung). ■ Instabilität. Die natürliche Instabilität von Hautwunden in frühen Phasen der Wundheilung kann bei mangelnder Ruhigstellung (frühzeitige Belastung) zu einer Wunddehiszenz führen. Folgen davon sind erneut eintretende Exsudation, Wundund Narbeninsuffizienz mit Ausbildung eines Narbenbruchs. ■ Kontrakturen. Durch die Wundkontraktion erfährt die Narbe mit der Zeit eine erhebliche Volumenreduktion. Verantwortlich dafür sind sog. Myofibroblasten, die durch ihre kontraktilen Eigenschaften (Aktin, Myosin) das Bindegewebe zusammenziehen. Durch diesen Prozess kann es zu entstellenden Narbenkontrakturen kommen. ■ Infektionen und Fremdmaterial. Infektionen führen zu einer exsudativen Entzündung, Fremdkörper zu einer Fremdkörperreaktion. Beide Faktoren verhindern die Reparation, sodass der Heilungsverlauf verhindert oder verzögert wird. Zusätzlich wird die Granulations- und Narbenbildung gefördert. ■ Narbenhypertrophie. Auch bei optimalen Bedingungen kann es gelegentlich zu einer überschießenden Reaktion von Bindegewebe kommen, deren Ursache unbekannt ist. Folgen sind hypertrophische Narben und Keloide.

Systemische Faktoren ■ Blutversorgung. Ausreichende Blutversorgung ist die wesentliche Voraussetzung einer guten Wundheilung. So ist die Aktivität der Fibroblasten von einem Sauerstoffdruck von mindestens 15 mmHg abhängig. Dieser wird nur bei einem intakten Kapillarnetz erreicht. Die Arteriosklerose bei älteren Patienten ist eine häufige Ursache für die Verzögerung der Wundheilung. ■ Ernährung. Die Ernährung hat ebenfalls einen erheblichen Einfluss auf die Wundheilung. Der wichtigste Faktor ist dabei das Vitamin C. Es ist beim Menschen an der Aktivierung der Enzyme Prolyl- und Lysylhydroxylase beteiligt. Vitamin-CMangel führt daher zu unterhydroxylierten Aminosäuren und dadurch zur Bildung instabiler Kollagene. ■ Diabetes mellitus. Diabetes mellitus führt aufgrund der Gefäßveränderungen und der erhöhten Infektionsneigung ebenfalls zur Verzögerung oder Beeinträchtigung der Wundheilung. ■ Medikamente. Glukokortikosteroide hemmen die Wundheilung über die Phospholipase A2. Dieses Enzym ist für die Bildung von Arachidonsäuremetaboliten verantwortlich. ■ Abwehrzellen. Weitere negative Faktoren sind die Granulozytopenie und angeborene Defekte in der Leukozytenchemotaxis oder Phagozytose.

Literatur Butcher, E.C.: Leukocyte-endothelial cell recognition: Three (or more) steps to specificity and diversity. Cell 67 (1991) 1033–1036. Chenisine, S.W., P.A. Ward: Inflammation. In: Anderson's Pathology, pp. 387–447. Mosby 1996. Connor, D.H., F.W. Chandler, D.A. Schwartz, H.J. Manz, E.E. Lack: Pathology of infectious deseases. Appleton & Lange, Stamford, 1997. Culotta, E., D.E. Koshland: No news is good news. The molecule of the year. Science 258 (1992) 1862–1865. Gallin, J.I., Goldstein, J.M., Snyderman, R.: Inflammation. Basic principles and clinical correlates. 2nd ed. Raven Press, New York 1992. Helpap, B.: Leitfaden der allgemeinen Entzündungslehre. Springer, Berlin– Heidelberg–New York u.a. 1987. von Lichtenberg, F.: Pathology of infectious diseases. Raven Press, New York 1991.

FRAGEN 1

Nennen Sie die wichtigen Phasen im Ablauf einer Entzündung.

2

Wodurch unterscheiden sich die akute und die chronische Entzündung?

3

Nennen Sie die Kardinalsymptome einer akuten Entzündung.

4 Welche Mediatoren steuern die verschiedenen Phasen einer akuten Entzündung? 5

Welche Formen der akuten Entzündung kennen Sie?

6 Nennen Sie Unterschiede zwischen Bakteriämie, Sepsis und Septikämie. 7 Welches ist der wesentliche Unterschied zwischen einer Regeneration und einer Reparation? 8 Beschreiben Sie den Entstehungsmechanismus eines Granuloms. Welche Formen von Granulomen kennen Sie? 9 Beschreiben Sie die wichtigsten Mechanismen und Stadien der Phagozytose von Bakterien durch Entzündungszellen. 10 Beschreiben Sie die Charakteristika von Granulationsgewebe. Bei welchen Krankheiten kommt es vor?

4

Grundlagen der Immunreaktionen H. MERZ, A.C. FELLER 4.1 Grundlagen des Immunsystems 112 4.1.1

Komponenten des Immunsystems 112

4.1.2

Phylogenese des Immunsystems 112

4.1.3

Ontogenese des Immunsystems beim Menschen 115

4.1.4

Unspezifisches zelluläres Abwehrsystem 115

Granulozyten 115 Mononukleäres phagozytisches System (MPS) 115 4.1.5 Spezifisches zelluläres Abwehrsystem 117 B-Lymphozyten 117 T-Lymphozyten 122 Natürliche Killerzellen 125 4.1.6

Genetische Grundlagen der Immunantwort 126

Genetische Rekombination als Basis der B-Zell-Funktion 126 B-Zell-Aktivierung, somatische Hypermutation und Affinitätsreifung 126 T-Zell-Rezeptor-Rearrangement 128 Histokompatibilitätsantigene 128 Komplementsystem 129 4.2 Steuerung der Immunantwort 129 4.2.1

Antigenprozessierung und Präsentation von Peptiden 130

4.2.2

Zytokine 130

Zytokine als regulierende Faktoren des Immunsystems 133 Zytokine in der Therapie 135

4.2.3

Adhäsionsmoleküle und interzelluläre Kommunikation 135

4.2.4

Apoptose 135

4.2.5

Toleranz und Anergie 135

4.3 Dysregulationen der Immunantwort und Erkrankungen des Immunsystems 135 4.3.1

Mechanismen und Typen pathogener Immunreaktionen 137

Typ-I-Reaktion: IgE-vermittelte Reaktion 137 Typ-II-Reaktion und Subtypen 138 Typ-III-Reaktion: Immunkomplexreaktionen 139 Typ-IV-Reaktionen: zelluläre Immunreaktionen 141 4.3.2

Transplantatabstoßung 142

4.3.3

Prophylaxe und Therapie pathogener Immunreaktionen 142

Antigenkarenz 142 Umstimmung durch Hyposensibilisierung 142 Antigenblockierung 142 Immunsuppression 143 4.3.4

Autoimmunität – Autoaggression 143

Grundlagen und Mechanismen der Toleranz 143 Grundregeln der Autoaggression 144 Mechanismen von Autoimmunerkrankungen und Verlust der Selbsttoleranz 144 Organlokalisierte Erkrankungen 145 Systemische Erkrankungen 145 4.3.5

Tumorabwehr 145

Literatur 145 Fragen 146

Zur Orientierung

Die Immunologie ist die Lehre von der Immunität und ihren Erscheinungsformen. Unter Immunität (lat. immunis = frei von Lasten, frei von Krankheiten) wird vor allem der Schutz des Organismus vor Infektionskrankheiten verstanden. Verantwortlich für diesen Schutz sind das unspezifische und das spezifische Abwehrsystem. Die zentrale Rolle des Immunsystems ist somit im Schutz des Organismus und der Erhaltung seiner Integrität zu sehen. Das Immunsystem ist aber auch dafür verantwortlich, dass transplantierte Organe oder Zellen (z.B. bei einer Bluttransfusion) erkannt und zerstört werden. Daneben kommt dem Immunsystem eine Rolle in der Tumorabwehr zu, die auf der Erkennung von neugebildeten tumorassoziierten Antigenen beruht. Das Immunsystem kann im Rahmen der Immunreaktion gegen körperfremde Substanzen (z.B. Mikroorganismen) hochspezifische Antikörper oder Effektorzellen bilden, die zur Neutralisation und/oder Elimination der Fremdsubstanzen führen. Von grundlegender Bedeutung ist dabei die Tatsache, dass das Immunsystem zwischen „selbst“ (alle Bestandteile eines Individuums) und „nichtselbst“ (= fremd) unterscheiden kann. Es erkennt die eigenen Zellen und Gewebe als „selbst“ und ist ihnen gegenüber immuntolerant. Diese Immuntoleranz kann aber durchbrochen werden. Die Folgen sind Immunreaktionen gegen körpereigene Zellen und Gewebe mit entsprechenden schädigenden Auswirkungen (sog. Autoimmunerkrankungen). Im Folgenden sollen zunächst die zellbiologischen Grundlagen des Immunsystems und die Steuerung der Immunantwort dargestellt werden. Anschließend werden Grundprinzipien der Regulationsstörungen wie Immundefekte, Überempfindlichkeitsreaktionen und die Transplantationspathologie besprochen.

4.1

Grundlagen des Immunsystems

4.1.1 Komponenten des Immunsystems Die Komponenten des Immunsystems sind in Abb. 4-1 aufgeführt. Sie umfassen das unspezifische und das spezifische Abwehrsystem. Beide untergliedern sich jeweils in eine zelluläre und eine humorale Komponente. Zwischen diesen bestehen zahlreiche Wechselwirkungen. So haben z.B. spezialisierte Makrophagen die Funktion einer Antigenpräsentation für das spezifische System. Umgekehrt verstärken Antikörper gegen Mikroorganismen die Effektivität der Phagozytose durch Leukozyten. Die Interaktion zwischen den Zellen wird wiederum durch Zytokine und andere Mediatoren geregelt. Alle zellulären Elemente des Immunsystems entwickeln sich aus einer gemeinsamen hämatopoetischen Stammzelle des Knochenmarks (Abb. 4-2). Heute werden die verschiedenen Zellen aufgrund der Expression von unterschiedlichen Oberflächenmolekülen, sog. CD-Molekülen (= „cluster of differentiation“),

charakterisiert. CD-Moleküle werden von monoklonalen Antikörpern erkannt. Es sind bereits weit über 200 verschiedene CD-Marker beschrieben, mit deren Hilfe spezifische Differenzierungsstufen, Funktionszustände und die Herkunft von Zellen definiert werden können. In Tab. 4-1 sind einige wichtige CD-Moleküle, ihr Vorkommen und ihre Funktion beschrieben.

Abb. 4-1 Das Abwehrsystem des Menschen.

Unspezifische und spezifische Abwehrmechanismen zellulärer und humoraler Art interagieren miteinander in einem komplexen Funktionssystem.

4.1.2 Phylogenese des Immunsystems Die Abwehrmechanismen haben sich im Laufe der Evolution schrittweise von einfachen zellulären zu höchstkomplizierten Formen der Verteidigung entwickelt. Diese Entwicklung spiegelt vor allem die Adaptation der Abwehrreaktionen auf die Vielfalt pathogener Mikroorganismen wider. Die neutrophilen Granulozyten und das monozytär-phagozytische System (MPS) sind phylogenetisch frühzeitig als Abwehrsystem entwickelt. Sie stellen bei niederen Organismen die einzige zelluläre Abwehrform dar, bei höheren Organismen bilden sie die zellulären Komponenten der unspezifischen (angeborenen) Abwehr. Die

Phagozytose ist dabei der wichtigste Mechanismus. Unterstützt wird dieses unspezifische zelluläre System bei höheren Organismen durch das unspezifische humorale Abwehrsystem mit Beteiligung von Komplementfaktoren, Zytokinen, Defensinen und anderen. Die weitere phylogenetische Entwicklung umfasst die Bildung zusätzlicher spezialisierter Zellen. So entwickeln sich spezialisierte dendritische Zellen und verschiedene Lymphozytenpopulationen, die zu spezifischen Immunreaktionen fähig sind. Diese umfassen z.B. die gezielte Erkennung von Erregersubstanzen und die Aktivierung des Immunsystems mit Ausbildung effektiver Abwehrmechanismen. TZellen stellen dabei die zelluläre, die von den B-Zellen sezernierten Antikörper die humorale Komponente des spezifischen Immunsystems dar. Zellen des mononukleärenphagozytischen Systems übernehmen hierbei Aufgaben der Antigenverarbeitung und präsentation sowie der Regulation neu entstandener immunkompetenter Lymphozyten. Die phylogenetisch älteren „einfachen“ Abwehrmechanismen (s.o.) gehen somit nicht verloren. Sie werden durch Systeme mit neuen Möglichkeiten der Abwehr ergänzt und vervollständigt. Somit besteht ein funktionsfähiges Mit- und Nebeneinander von unspezifischer und spezifischer Abwehr.

Abb. 4-2 Hypothetische Beziehung zwischen den Blutzellen der verschiedenen Linien.

Alle Zellen entstammen einer pluripotenten, sich selbst erneuernden Stammzelle und entwickeln sich über sog. linienspezifische Vorläuferzellen (CFU = colony-forming units; L = Lymphozyten; GM = Granulozyten, Monozyten; Meg = Megakaryozyten; E = Erythrozyten). Zytokine und zell-zell-vermittelte Interaktionen regeln die Differenzierung der Blut- und Immunzellen. Außerdem steuern sie den Bedarf an Zellen, der zur Erhaltung der Homöostase der hämatologischen Parameter und für die Immunreaktionen nötig ist.

Tab. 4-1 Wichtige Oberflächenmarker der Immunzellen.

4.1.3 Ontogenese des Immunsystems beim Menschen Entscheidende Schritte in der Entwicklung zu einem funktionsfähigen Immunsystem finden während der Fetal- und Neonatalperiode statt. Es entsteht ein Immunnetzwerk, in dessen Zentrum die geordnete Kooperation von T- und B-Zellen sowie deren Interaktion mit Zellen und Faktoren des unspezifischen Abwehrsystems stehen. Mit der Entwicklung und Differenzierung der Immunzellen vollzieht sich auch die Entstehung

der entsprechenden primären und sekundären Immunorgane (Knochenmark, Milz, Lymphknoten, mukosales Immunsystem).

4.1.4 Unspezifisches zelluläres Abwehrsystem Die unspezifischen Abwehrzellen sind Teil des angeborenen unspezifischen Immunsystems. Sie sind wichtige Komponenten der Verteidigung, die mit immer gleichen Abwehrmechanismen (Phagozytose, „respiratory burst“, Zytokinsekretion, Entzündungsmediatoren) auf unterschiedliche Pathogene antworten (siehe Kap. 3.2.2). Darüber hinaus hat ein Teil dieser Zellen auch Aufgaben im Rahmen der spezifischen Immunantwort. Diese umfassen die Antigenpräsentation und die Regulation von Immunprozessen. Die Gruppe der unspezifischen Abwehrzellen umfasst Granulozyten sowie die Zellen des mononukleärphagozytischen Systems.

Granulozyten Granulozyten sind für die Abwehr entscheidend. Sie entwickeln sich aus hämatopoetischen Stammzellen des Knochenmarks (siehe Kap. 3.2.2 und 21.1).

Mononukleäres phagozytisches System (MPS) Das mononukleäre phagozytische System stellt einen wichtigen Teil des sog. retikuloendothelialen Systems (RES) dar. Die gemeinsamen Vorläuferzellen des MPS stammen aus der Myelopoese des Knochenmarks (siehe Abb. 4-2). Man unterscheidet nichtspezialisierte Makrophagen (Monozyten des Blutes, Gewebe- und Exsudatmakrophagen, Osteoklasten und organspezifische Makrophagen wie z.B. die Kupffer-Sternzellen) von spezialisierten antigenpräsentierenden Zellen (interdigitierende Zellen, follikuläre dendritische Retikulumzellen, Langerhans-Zellen der Haut). Die wichtigsten mononukleären Zellen sind in Abb. 4-3 und Tab. 4-2 schematisch dargestellt. Ein Überleben des Wirtes ohne mononukleäre Zellen (und Granulozyten) ist nicht möglich, während eine Funktionsstörung oder das Fehlen von höher entwickelten Immunzellen (B- und T-Lymphozyten) für einen längeren Zeitraum toleriert werden kann.

Abb. 4-3 Zellen des mononukleären Phagozytensystems.

Während die ruhenden Monozyten sich nach Antigenkontakt zu aktivierten Makrophagen in den unterschiedlichsten Geweben entwickeln, gibt es ortsständige, spezialisierte antigenpräsentierende Zellen. Dazu gehören die interdigitierenden dendritischen Zellen (IDZ) in der T-Zone der Lymphknoten, die follikulären dendritischen Retikulumzellen (FDZ) im Keimzentrum der Lymphknoten und die Langerhans-Zellen der Haut. Mit ihren ausgedehnten dendritischen Netzwerken können diese spezialisierten Zellen zahlreiche B- und TLymphozyten umschließen und das Antigen zellvermittelt präsentieren. Aus einer undifferenzierten Knochenmarkstammzelle entwickeln sich unter dem Einfluss von Zytokinen und Stromafaktoren (z.B. SCF, IL-3, CSF-M, CSF-GM) Monoblasten, die sich im Knochenmark zu Promonozyten und Monozyten differenzieren. Zirkulierende Monozyten messen 10–11 μm im Durchmesser und enthalten wenige und kleinere Granula als neutrophile Granulozyten. Im Zytoplasma finden sich Lysosomen. Das wichtigste Enzym der Granula ist – neben sauren Phosphatasen, Esterasen und Proteasen – die Peroxidase. Die Lebensdauer der Monozyten beträgt wenige Stunden bis drei Tage.

Tab. 4-2 Monozyten und Makrophagen.

Die Blutmonozyten wandern in die verschiedenen Gewebe ein, wo eine Differenzierung in Gewebsmakrophagen stattfindet. Die Makrophagen sind wesentlich größer als die Monozyten (15–80 μm im Durchmesser) und phagozytieren aktiv. Täglich werden etwa 2,5 × 107 Zellen pro kg Körpergewicht produziert. Als ortsständige Gewebsmakrophagen können die Zellen mehrere Wochen (und länger) überleben. Sie befinden sich praktisch in allen Organen und sind dort der jeweils notwendigen Funktion angepasst. Die Aufgaben der Makrophagen im Rahmen der akuten und chronischen Entzündung werden im Kap. 3.2.2 abgehandelt. Die zahlreichen Funktionen der Monozyten und Makrophagen sind in Tab. 4-2, ihre sekretorischen Produkte in Tab. 4-3 zusammengefasst. Bei den interdigitierenden dendritischen Zellen (IDZ) handelt es sich um eine besondere Differenzierungsform von Zellen des MPS, die in der sog. T-Zone des Lymphknotens als antigenpräsentierende Zellen fungieren. Sie unterscheiden sich von Langerhans-Zellen der Haut durch das Fehlen von sog. Birbeck-Granula. IDZ sind zur Phagozytose und zur Antigenaufbereitung (Antigenprozessierung) befähigt. Antigene bilden mit HLA-Klasse-II-Molekülen Komplexe und werden so den T-Lymphozyten präsentiert (siehe Kap. 4.1.5). Die Interaktion führt zur Freisetzung von Zytokinen aus den dendritischen Zellen und zur Stimulation und Proliferation von T-Zellen. T-Zellen wiederum können spezifische Signale an BZellen abgeben und diese aktivieren. Follikuläre dendritische Zellen (FDZ), deren zelluläre Herkunft umstritten ist, stellen eine spezialisierte Population von langlebigen antigenpräsentierenden Zellen der B-Zone des Lymphknotens, der Milz und der Peyer-Plaques dar. Sie weisen feine Zytoplasmaausläufer auf, mit denen sie die dicht besiedelten Follikel durchdringen und die B-Zellen umschließen. Die follikulären dendritischen Zellen präsentieren Antigen-Antikörper-Komplexe auf der Oberfläche mit Hilfe von Fc-FragmentRezeptoren. Zusätzlich besitzen sie Komplementrezeptoren. FDZ interagieren mit Bund T-Zellen. Hierbei spielen wiederum direkte Zellkontakte sowie die Sekretion von löslichen Faktoren (z.B. Überlebensfaktoren) eine Rolle.

4.1.5 Spezifisches zelluläres Abwehrsystem Lymphozyten sind die zentralen Bestandteile der spezifischen Immunantwort (humoral, zellulär). Sie stellen eine heterogene Population von Zellen dar mit großen Unterschieden in Morphologie (Zellgröße, Oberflächenstruktur, spezifische Inhaltsstoffe der Granula), Herkunft, Funktion, Überlebenszeit und Aufgaben. Die Lymphozyten werden aufgrund der Expression von CD-Molekülen klassifiziert (siehe Tab. 4-1). Nach ihrer Funktion unterscheidet man als große Klassen die B-Zellen und die T-Zellen sowie die natürlichen Killerzellen. B-Zellen sind die Vorläufer von antikörperproduzierenden Plasmazellen. T-Zellen besitzen einerseits regulatorische

Funktionen für die B-Zell-Antwort, andererseits sind sie auch direkt an der Lyse von virusinfizierten Zellen und Tumorzellen beteiligt. Lymphozyten sind spezialisiert, d.h., sie erkennen und reagieren überwiegend nur auf definierte Antigene. Diese Reaktion wird über spezifische Antigenrezeptoren vermittelt. Lymphozyten mit gleichem Antigenrezeptor werden als Klone bezeichnet. Sie entstehen durch Proliferation eines Lymphozyten auf einen antigenen Reiz hin. Die Fähigkeit des Organismus, auf nahezu alle Fremdantigene antworten zu können, beruht auf dem Vorhandensein einer großen Anzahl von Lymphozyten mit unterschiedlichen Antigenrezeptoren. Berechnungen haben gezeigt, dass Erwachsene über Milliarden Lymphozyten mit unterschiedlichen Rezeptoren verfügen.

B-Lymphozyten Entwicklung und Aufgaben B-Lymphozyten (= B-Zellen) entstehen aus pluripotenten Stammzellen über lymphatische Vorläuferzellen (Abb. 4-4). Während der Embryonal- und Fetalperiode findet die primäre B-Zell-Entwicklung zunächst im Dottersack statt, später in der Leber und schließlich im Knochenmark. Beim Erwachsenen entwickeln sich die BZellen überwiegend im Knochenmark (B = bone marrow). Die Entwicklung wird durch spezialisierte Stromazellen über die Bildung von bestimmten Proteinen (Wachstumsfaktoren) und Adhäsionsmolekülen reguliert. B-Zellen und die davon abgeleiteten Plasmazellen können Immunglobuline (= Antikörper; siehe unten) produzieren. 50000–150000 Immunglobulinmoleküle finden sich auf der Oberfläche von B-Zellen. Sie sind für die Antigenerkennung verantwortlich. Neben den Immunglobulinen werden aber auch zahlreiche andere Oberflächenantigene auf B-Zellen exprimiert (siehe Tab. 4-1), die ebenfalls wesentliche funktionelle Eigenschaften vermitteln und zur Charakterisierung von BZell-Subpopulationen dienen.

Tab. 4-3 Sekretorische Produkte von Makrophagen (siehe auch Tab. 4-5, Seite 130ff.). ■ Enzyme, die das Bindegewebe und Serumproteine beeinflussen Elastase Plasminogen-Aktivator Kollagenase lysosomale Enzyme Angiotensin-converting Enzym (ACE) Arginase ■ sind

Proteine, die in die Verteidigung und Entzündung involviert

Komplementproteine C2, C3, C4, C5 Faktor B, D, H und I Lysozym Interferon-αund -β Fibronektin Wachstumsfaktoren



CSF-G CSF-GM CSF-M ■ Zytokine, die die akute Entzündung auslösen und die Lymphozytenantwort regulieren IL-1 IL-6 TNF-α

TNF-β IL-8 IL-12 inhibitorische Zytokine

■ IL-10

TGF-β1, -2, -3 IL-1-Rezeptor-Antagonist Faktoren, die die Gewebsheilung steuern und regulieren



PDGF („platelet-derived growth factor“) FGF („fibroblast growth factor“) andere Faktoren



Apolipoprotein E Arachidonsäure-Derivate plättchenaktivierender Faktor (PAF) Sauerstoffmetaboliten Thymidin NO2

Antikörper Antikörper (Immunglobuline) werden als lösliche Moleküle von Plasmazellen sezerniert. Darüber hinaus werden Immunglobuline aber auch auf der Oberfläche von B-Zellen exprimiert. Die wichtigsten Faktoren bei der Charakterisierung von Antikörpern sind Spezifität, Isotyp (Klasse), Titer (Höhe) und Affinität der Antikörper zum Antigen. Mit Spezifität wird die Fähigkeit eines Antikörpers bezeichnet, definierte Antigene zu erkennen (meist handelt es sich dabei um Fremdantigene, selten auch um Selbstantigene). Antikörpermoleküle sind hochspezifisch, sie können ein Antigenmolekül unter mehr als 108 ähnlichen Molekülen erkennen. Deshalb werden heute Antikörper in vielen Gebieten der Medizin (Onkologie, Pathologie, klinische Chemie, Therapie etc.) angewendet. Es können fünf verschiedene Isotypen (IgM,

IgG, IgA, IgE, IgD) produziert werden (siehe unten). Die Zusammensetzung der Isotypen bei einer Antikörperantwort hat Einfluss auf die biologische Funktion; so werden z.B. im Rahmen allergischer Reaktionen die Immunantworten häufig von IgE-Antikörpern beherrscht. Der Titer wird durch die Antikörpermenge (= Konzentration) bestimmt.

Abb. 4-4

B-Zell-Entwicklung.

Aus der pluripotenten Stammzelle entwickelt sich die lymphatische Vorläuferzelle, aus der sich B- und T-Zellen differenzieren können. Die B-Zellen entwickeln sich über Pro-B-, Prä-B-, unreife B-Zellen schließlich zu reifen BZellen. Die reifen B-Zellen können nach Aktivierung in eine Plasmazelle oder eine Gedächtniszelle (Memory-Zelle) differenzieren. Die verschiedenen Differenzierungsstadien werden durch eine unterschiedliche Expression von Antigenen (u.a. von Immunglobulin) charakterisiert.

Tab. 4-4 Immunglobuline und ihre Eigenschaften.

* Schleimhaut-Transzytose ** Komplementaktivierung (klassischer Weg) *** Komplementaktivierung (alternativer Weg) **** Bindung an Mastzellen und basophile Granulozyten ***** Plazentatransfer

Abb. 4-5 Fab-Fragment eines Antikörpers, gebunden an sein Antigen.

Die hypervariablen Regionen des Antikörpers setzen sich aus jeweils 3 verschiedenen CDR-Regionen (complementary determining regions, CDR1– CDR3) der schweren und der leichten Kette zusammen. Dabei ist deutlich zu

erkennen, dass die hypervariablen Regionen genau in den Bereichen liegen, die für die Bindung des Antigens verantwortlich sind. Die Stärke, mit der Antikörper an ihre Antigene binden, wird als Affinität bezeichnet. Antikörper mit höherer Affinität binden bereits in niedrigeren Konzentrationen an die Antigene. Je höher daher die Affinität eines Antikörpers für sein Antigen ist, desto weniger Antikörper werden während der Immunantwort benötigt, um das entsprechende Antigen zu eliminieren. Immunglobuline sind durch eine spezifische dreidimensionale Struktur (Abb. 4-5) charakterisiert und gehören wie die HLA-Moleküle zur ImmunglobulingenSuperfamilie. Sie bestehen aus vier Komponenten (Abb. 4-6), zwei H-Ketten (schwere Ketten) und zwei L-Ketten (leichte Ketten). An den H-Ketten sind fünf Klassen (μ, δ, γ, α, ε) zu differenzieren, an den L-Ketten zwei Klassen, κ und λ. Sowohl an H-als auch an L-Ketten findet man jeweils eine konstante Region (CRegion) sowie eine variable Region (V-Region). Die C-Region der L-Ketten ist bei den verschiedenen Immunglobulinen weitgehend identisch. Dagegen vermittelt die C-Region der H-Ketten unterschiedliche biologische Funktionen.

Abb. 4-6 Schematische Darstellung eines Immunglobulinmoleküls.

Die Immunglobulinmoleküle bestehen aus einer H- und einer L-Kette, die über Disulfidbrücken zusammengehalten werden. Beide Ketten sind durch variable und konstante Regionen gekennzeichnet, wobei die variablen Regionen die Antigenbindungsstelle des Antikörpers darstellen.

VLI, H = variable Region der L-/H-Kette CLI, H = konstante Region der L-/HKette Fab, Fc = Ig-Fragmente Die V-Regionen der H- und L-Ketten bilden zusammen die Antigenbindungsstelle des Immunglobulins. Ihre Variabilität wird durch drei Segmente, die als hypervariable Regionen oder CDR („complementarity determining regions“) bezeichnet werden, vermittelt. Zwischen diesen drei Segmenten befinden sich vier Regionen mit geringerer Variabilität, die als sog. Framework-Regionen bezeichnet werden (FR). Mit verschiedenen Enzymen (Pepsin, Papain) können unterschiedliche Fragmente (Fab, Fc) der Immunglobuline hergestellt werden, die therapeutische oder diagnostische Relevanz besitzen. Die Antigenbindungsstellen sind spezifisch für ein Antigen und werden als Idiotyp bezeichnet. Antikörper, die wiederum gegen einen solchen Idiotyp gerichtet sind, werden als Anti-Idiotypen bezeichnet. Idiotypische Epitope können im Zusammenhang mit HLA-Klasse-I- oder HLA-Klasse-IIMolekülen an T-Lymphozyten (T-Zellen) präsentiert werden und an den T-ZellRezeptor binden, wodurch eine Regulation der Immunantwort stattfindet. Es können verschiedene Arten (Isotypen) von Immunglobulinen unterschieden werden (siehe Tab. 4.4).

B-Zell-Aktivierung Reife B-Zellen besitzen einen funktionellen B-Zell-Rezeptor, der aus membranständigen Immunglobulinmolekülen (IgM, IgD) besteht, die mit den Oberflächenmolekülen CD79a/CD79b und Igα/β assoziiert sind. Der B-ZellRezeptor ist für die Antigenerkennung sowie für die B-Zell-Aktivierung verantwortlich (Abb. 4-7). Die direkte B-Zell-Aktivierung findet durch eine Quervernetzung von mehreren Immunglobulinmolekülen durch entsprechende Antigene statt (sog. 1. Signal). Dazu müssen die Epitope in repetitiver Form auf dem Antigen vorliegen. Liegen Epitope einzeln vor, kann eine gerichtete B-Zell-Aktivierung durch Interaktion von T- und B-Zellen über eine HLA-Klasse-II-vermittelte Antigenpräsentation stattfinden (Abb. 4-8a). Durch diese Interaktion werden lösliche und membrangebundene Moleküle (CD40) und Zytokine vermehrt gebildet (sog. 2. Signal), die als wichtige kostimulatorische Signale die spätere Aktivierung modulieren. Bleiben diese kostimulatorischen Signale aus, werden die B-Zellen inaktiviert (Anergie) oder auch eliminiert (Deletion). Die Sekretion verschiedener Zytokine (z.B. SCF, IL-3, IL-7, IL-4, IL-6 u.a.) sowie die Expression der dazugehörigen Rezeptoren wirken regulierend auf Proliferation und Differenzierung der B-Zellen zu Plasmazellen. Diese sezernieren spezifische Antikörper.

Abb. 4-7

B-Zell-Rezeptor.

Der B-Zell-Rezeptor setzt sich zusammen aus zwei membranständigen Immunglobulinen, den akzessorischen Proteinen Igα/β sowie den CD79a/79bMolekülen.

B-Zell-Differenzierung Abb. 4-8a B-Zell-Aktivierung.

Zusammenhang zwischen B-Zell-Aktivierung, Differenzierung, klonaler Deletion und Anergie. Unreife B-Zellen, die mit Antigen in Kontakt kommen, werden deletiert oder überleben im Stadium der Anergie. Reife B-Zellen, die mit Antigen in Kontakt treten und kein zusätzliches kostimulierendes Signal erhalten, werden ebenfalls der Deletion oder Anergie unterworfen. Antigen und kostimulierendes Signal führen über Proliferation und Differenzierung der aktivierten B-Zellen zu reifen Plasma- und Gedächtniszellen. Die Produktion von Antikörpern durch B-Zellen als Reaktion auf einen primären antigenen Stimulus wird als Primärantwort bezeichnet (Abb. 4-8b). Dabei werden sog. Virgin-B2-Zellen (reife B-Zellen aus dem Knochenmark oder den sekundären lymphatischen Organen) durch Antigen aktiviert. Es werden vorwiegend Immunglobuline vom Typ IgM produziert. Die dabei entstehenden Gedächtniszellen (Memory-Zellen) können nach erneutem Antigenkontakt wiederum spezifische Antikörper produzieren. Diese sog. sekundäre Immunantwort (booster) ist ausgeprägter und schneller als die Primärantwort und umfasst die Synthese von Immunglobulinen der Typen IgG, IgA und IgE. In der Regel besitzen sie eine höhere Affinität für das Antigen als die Antikörper der Primärantwort. Die sekundäre Immunantwort findet überwiegend in den Keimzentren von Lymphknoten, Milz und Peyer-Plaques statt. Hier herrscht ein

spezielles Mikromilieu, das durch antigenpräsentierende, follikuläre dendritische Zellen, T-Helfer-Zellen und Zytokine bestimmt wird.

Abb. 4-8b

B-Zell-Differenzierung. Primärantwort.

Aktivierung der Virgin-B2-Zellen durch Kontakt mit dem Antigen und kostimulatorische Signale (Zytokine). Dabei werden vorwiegend IgM gebildet. Sekundärantwort: Die Gedächtniszellen der Primärantwort (B2-Memory-Zellen) können nach erneutem Antigenkontakt spezifische Antikörper (IgG, IgA und

IgE) produzieren. Ort der Sekundärantwort sind meist die Keimzentren von Lymphknoten, Milz und Peyer-Plaques. Auch während der sekundären Immunantwort werden B2-Memory-Zellen produziert (dann z.T. „geswitcht“). B-Zellen, die Rezeptoren für IgM und IgD besitzen, können zu IgG-, IgA- oder IgERezeptor-positiven Zellen und/oder zu IgG-, IgA- oder IgE-sezernierenden Zellen ausreifen. Diesen Prozeß bezeichnet man als Immunglobulinklassen-Switch (siehe Abb. 4-15). Er erlaubt einerseits die Produktion von Antikörpern mit gleicher Antigenspezifität, andererseits die Vermittlung verschiedener biologischer Eigenschaften (Komplementaktivierung, Bindung an Fc-Rezeptoren auf unterschiedlichen Zellen). Der Immunglobulinklassen-Switch wird durch spezifische Stimuli induziert, so z.B. der Wechsel zu IgE und IgG4 durch IL-4, zu IgG2a durch Interferon-γ und zu IgA durch TGF-β. Innerhalb der Genabschnitte erfolgt dabei das Umschalten von einer C-Region in eine andere C-Region (z.B. von μ nach δ) gerichtet, d.h. μ → δ → γ3→ γ1→ α1→ γ2→ γ4→ ε → α2. Um die Rekombination zu ermöglichen, werden repetitive Sequenzenin der Switchregion benutzt. Daneben gibt es eine Population von reifen B-Zellen, die die Kapazität zur Selbsterneuerung aufweisen und überwiegend in Körperhöhlen (z.B. Peritonealhöhle) angetroffen werden. Diese sog. B1-Zellen besitzen ähnlich wie die γ δ-T-Zellen eine wichtige Funktion in der Erkennung polyspezifischer Antigene (z.B. bakterielle Polysaccharide). Sie stellen ontogenetisch die ersten spezifischen Immunzellen dar und stehen zwischen der unspezifischen und der spezifischen Abwehr.

B-Zell-Toleranz B-Zellen, die gegen „Selbst“-Antigene gerichtet sind, müssen zum Schutz des Organismus eliminiert werden. Solche B-Zellen werden entweder über den Prozess der klonalen Elimination beseitigt, oder sie werden inaktiviert (Anergie). Eine Reaktivierung ist unter bestimmten Bedingungen möglich und dann manchmal für die Entwicklung von Autoimmunphänomenen (siehe Kap. 4.3.4) verantwortlich.

T-Lymphozyten T-Lymphozyten (= T-Zellen, T für Thymus) stellen die zweite Komponente des zellulären Immunsystems dar. Sie sind entscheidend für die Regulation des Immunsystems. Sie entstehen ebenfalls aus hämatopoetischen Vorläuferzellen im Knochenmark und reifen im Thymus (Abb. 4-9), von wo aus sie in periphere lymphatische Organe auswandern oder rezirkulieren. Die Zellen wandern während ihrer Entwicklung zunächst in die Thymusrinde (Kortex), wo sie mit den kortikalen Epithelzellen in Kontakt treten und sich über verschiedene Stadien zu reifen CD4+oder CD8+-T-Zellen (Helfer- und zytotoxische Suppressorzellen) entwickeln.

Schließlich gelangen sie in das Thymusmark, von wo sie in die Peripherie ausgeschwemmt werden. In dem speziellen Mikromilieu der Thymusrinde werden T-Zellen durch Kontakt des T-Zell-Rezeptors mit „Selbst“-Antigen-HLA-Molekülen auf kortikalen Thymusepithelzellen selektioniert. Dabei laufen folgende Prozesse ab: Die T-Zellen, die Autoantigene erkennen (und somit auf das „eigene“ Gewebe schädigend wirken), sterben: negative Selektion; klonale Deletion. T-Zellen, welche die HLA-Moleküle von thymischen Epithelzellen erkennen können und „nicht-schädigende“ Rezeptoren besitzen, überleben. Dieser Vorgang wird als positive Selektion bezeichnet, die mit der Entwicklung der „Selbst“-Toleranz einhergeht. Auf der T-Zell-Seite ist bei diesem Prozess neben CD4, CD8 und dem T-Zell-Rezeptor auch das Oberflächenmolekül CD3 involviert. Die Epithelzellen hingegen bringen die HLAMoleküle und „Selbst“-Antigenpeptide in die Bindung ein.

T-Zell-Antigene Von großer Bedeutung sind die akzessorischen Moleküle CD4 und CD8, die wichtige T-Zell-Subpopulationen charakterisieren. Bei den sog. T-Helfer-Zellen ist CD4 vorhanden, die sog. T-Suppressor-Zellen sowie die T-Killerzellen sind CD8positiv (s.u.). In der Peripherie finden sich entweder CD4-positive (CD4+-) oder CD8-positive (CD8+-) Zellen, während im Thymus die überwiegende Mehrzahl der T-Zellen beide Moleküle auf der Oberfläche exprimieren. Die frühesten Oberflächenmoleküle (siehe Tab. 4-1) der T-Zellen sind CD3 und CD7. CD3 gehört wie der T-Zell-Rezeptor zur Immunglobulin-Superfamilie. Innerhalb des Knochenmarks ist CD3 nur im Zytoplasma exprimiert. Nach Eintritt in den Thymus kommt es zur membranständigen Expression von CD3 und zur Assoziation mit dem T-Zell-Rezeptor (Abb. 4-10). Bei adäquater Stimulation des TZell-Rezeptors durch Antigene wird eine Signaltransduktionskaskade eingeleitet, die zur Zellaktivierung führt. Die Funktion von CD7 ist noch unbekannt. Die T-Helfer-Zellen (TH-CD4+) sind für die T-Zell-abhängige B-Zell-Aktivierung wesentlich (siehe Abb. 4-8a). Sie können weiter in T-Helfer-0-(TH0-), T-Helfer-1(TH1-) und T-Helfer-2-(TH2-)Zellen unterteilt werden. Die von TH2-Zellen produzierten Zytokine (Abb. 4-11) sind für die B-Zell-Entwicklung und Differenzierung wichtig, die von TH1-Zellen freigesetzten Zytokine stimulieren das unspezifische und spezifische zytotoxische Abwehrsystem, d.h. Makrophagen und Killerzellen. TH0-Zellen stellen eine Subpopulation dar, die TH1- und TH2Zytokine bilden. Daneben können T-Helfer-Zellen auch zytotoxische Zytokine sezernieren (Lymphotoxin, Interferone). Die ebenfalls freigesetzten Entzündungsmediatoren (IL-6, IL-8 u.a.) mobilisieren Entzündungszellen und wirken somit als sog. Chemokine.

Abb. 4-9

T-Zell-Entwicklung.

Aus der pluripotenten hämatopoetischen Vorläuferzelle entsteht eine lymphatische Vorläuferzelle (CFU-L). Daraus entwickeln sich B- und T-Zellen. Die frühesten T-Vorläuferzellen des Knochenmarks gelangen zum überwiegenden Teil in den Thymus und dort aus der Subkapsulärregion über die

Rinde ins Mark. Die Zellen differenzieren und werden dabei einer positiven und negativen Selektion unterworfen. Es entstehen Zellen, die entweder den αβ- oder den γδ-T-Zell-Rezeptor aufweisen. Ein kleiner Teil der T-Zellen differenziert extrathymisch. Ob diese Lymphozyten ebenfalls einer Selektion unterliegen, ist zur Zeit Gegenstand der Forschung. In den peripheren lymphatischen Organen und im Blut finden sich fast ausschließlich reife T-Zellen, die einen T-Helferoder T-Suppressor- bzw. zytotoxischen Phänotyp aufweisen (CD4 oder CD8). CD8-positive T-Zellen (CD8+) werden in T-Suppressor-Zellen und in zytotoxische T-Lymphozyten eingeteilt. ■ T-Suppressor-Zellen werden direkt durch Antigen oder durch Anti-IdiotypInteraktionen stimuliert. Sie wirken regulierend. ■ Zytotoxische T-Lymphozyten sind in der Lage, virusinfizierte Zellen, Tumorzellen und chemisch alterierte Zellen zu erkennen und direkt zu lysieren (Abb. 4-12). Sie werden dabei über HLA-Klasse-I-Moleküle stimuliert mit Ausbildung einer HLA-Klasse-I-vermittelten zytotoxischen Antwort. Für die zytotoxische Wirkung sind Perforine wichtig. Diese werden von den T-Zellen nach Interaktion mit den Zielzellen zusammen mit Proteasen freigesetzt. Als Folge kommt es zu Membranschädigung der Zielzellen, Störung des osmotischen Gleichgewichts und zellulärer Desintegration, schließlich zur Chromatinkondensation und zum DNA-Abbau.

Abb. 4-10

Der CD3/T-Zell-Rezeptor-Komplex.

Er besteht aus den Immunglobulin-ähnlichen Domänen α und β des T-ZellRezeptors (= TCR) sowie den CD3-assoziierten Molekülen γ, δ, ε und ξ. Letztere sind unter anderem für die Signaltransduktion verantwortlich. Über die variablen Regionen α und β des T-Zell-Rezeptors wird das Antigen in Zusammenhang mit HLA-Klasse I oder HLA-Klasse II (CD8- oder CD4-positive Lymphozyten) gebunden.

Abb. 4-11

Von T-Helfer-Zellen sezernierte Zytokine.

Es gibt stimulatorische und inhibitorische Interaktionen zwischen TH1- und TH2-Subpopulationen. Während TH1-Lymphozyten die Entwicklung und Differenzierung von B-Zellen zu antikörperproduzierenden Zellen unterdrücken, fördern sie durch die Freisetzung von Zytokinen (IL-2, Interferon-γ, TNF) die Aktivierung von Makrophagen und zytotoxischen Zellen und die Bildung von komplementbindenden Antikörpern (zytotoxische Antikörper). TH2-Zellen zeigen ein spiegelbildliches Verhalten. TH1- und TH2-Zellen können sich gegenseitig supprimieren. TH0-Zellen stellen eine ambivalente Zellpopulation dar, sowohl was ihre Fähigkeit zur Zytokinproduktion betrifft als auch ihre Fähigkeit, in die eine oder andere Richtung zu differenzieren.

T-Zell-Aktivierung Für die T-Zell-Aktivierung sind neben dem T-Zell-Rezeptor-vermittelten Antigenkontakt sog. akzessorische Moleküle wirksam. Das T-Zell-assoziierte Molekül ist CD28, das nach T-Zell-Aktivierung exprimiert wird. Es kann mit seinen Liganden (B7/CTLA4) auf B-Zellen und aktivierten Monozyten/Makrophagen eine Bindung eingehen, die zur Stimulation der gebundenen Zellen führt.

CD3, CD4 und CD8 stellen sog. Adhäsionsmoleküle dar. CD4 oder CD8 sind mit dem T-Zell-Rezeptor/CD3-Komplex assoziiert und sind für die Bindung mit HLAKlasse-I- oder HLA-Klasse-II-Antigenen (Abb. 4-13) notwendig. Hingegen interagiert CD2 mit dem Rezeptor LFA-3. Dieser ist auf 40–60% der peripheren Blutlymphozyten, auf ca. 40% der Knochenmarkzellen, auf allen Monozyten und Granulozyten, Erythrozyten, Blutplättchen und Endothelzellen sowie auf glatten Muskelzellen und Fibroblasten exprimiert. Die Interaktion führt im sog. alternativen Weg zur Aktivierung von T-Zellen, während der klassische Weg über den T-Zell-Rezeptor/CD3-Komplex erfolgt. Auch hier wird wieder ein Grundprinzip des Immunsystems höherer Lebewesen erkennbar: Mehrere Wege können zu einer Aktivierung führen (siehe B-Zell- und Komplementaktivierung). Dabei sind in der Regel ein antigenabhängiger sowie ein antigenunabhängiger Weg zur Aktivierung der Immunzellen vorhanden.

Abb. 4-12

Zellvermittelte Zytotoxizität.

Zellvermittelte Zytotoxizität. Nach Erkennung einer „fremden“ Zielzelle werden lysosomale Enzyme aus der zytotoxischen Zelle (auch NK-Zelle) freigesetzt. Die sog. Perforine führen zur Ausbildung von Poren (Leckage) und durch Aktivierung von Caspasen zum Zelltod der Zielzelle. Gleichzeitig werden

über Zytokine gewebsständige Makrophagen aktiviert, die die zerstörten Zielzellen phagozytieren.

T-Zell-Memory (Gedächtnis) Ähnlich wie bei den B-Zellen sind auch sekundäre Immunantworten von T-Zellen in der Regel stärker als die primären. Hierfür ist eine erhöhte Anzahl von antigenspezifischen T-Zellen verantwortlich. Diese Memory-T-Zellen können morphologisch anhand des Oberflächenmoleküls CD45R0 erkannt werden. Das T-Zell-Gedächtnis dauert lang an. Für zahlreiche Antigene bewirkt eine Impfung lebenslange Immunität. Da jedoch auch Memory-T-Zellen nur eine begrenzte Lebenszeit besitzen, ist eine Proliferation der Zellen notwendig, um die Gedächtnisfunktionen zu erhalten. Die Zellteilung von Memory-T-Zellen kann dadurch erklärt werden, dass auch das Antigen über einen langen Zeitraum im Körper persistiert (z.B. gebunden an dendritische Zellen).

Natürliche Killerzellen Natürliche Killerzellen („natural killer cells“ oder NK-Zellen) stellen neben B-Zellen und T-Zellen die dritte Gruppe von Lymphozyten dar. Sie können – HLA-Klasseunabhängig – Zielzellen abtöten. Ihnen kommt somit sowohl bei der Tumorabwehr als auch bei zahlreichen infektiösen Erkrankungen eine wichtige Rolle zu. So hemmen NK-Zellen die Virusreplikation zu Beginn der Virusinfektion, bevor sich HLArestringierte zytotoxische T-Zellen entwickelt haben.

Abb. 4-13

T-Zell-Aktivierung.

T-Zell-Aktivierung. T-Zellen können über die Interaktion zwischen T-ZellRezeptor, Antigen und HLA-Klasse-II-Komplex der antigenpräsentierenden Zelle aktiviert werden (1. Signal). Das prinzipiell wirksame kostimulierende Molekülpaar stellen B7/CTLA4 auf den professionellen antigenpräsentierenden Zellen und CD28 auf den T-Zellen dar. Der T-Zell-Rezeptor (TCR) interagiert mit dem CD3-Komplex und CD4 (HLA-II) bzw. CD8 (HLA-I) als KorezeptorMoleküle. Ein alternativer Weg kann durch Interaktion zwischen CD2 und CD58 und/oder zahlreichen anderen Oberflächenmolekülen sowie über Zytokine

erfolgen. T-Zellen, die neben dem 1. und 2. Signal weitere Signale erhalten (z.B. alternativer Weg), reagieren stärker mit Proliferation und sind funktionell aktiver (sog. 3. Signal). NK-Zellen stammen von frühen lymphatischen Vorläuferzellen des Knochenmarks ab. Ihre Aktivität ist eng an die Subpopulation der „large granular lymphocytes“ (LGL) gebunden, die bis zu 15% der Blutlymphozyten stellen können. Es handelt sich dabei um nichtphagozytierende CD3/TCR/Ig-negative Lymphozyten, die sich u.a. durch die Expression von CD16 und CD56 (NK-Zell-Marker) auszeichnen. Von der NK-abhängigen Abtötung von Zielzellen wird die sog. „lymphokine activated killer cell“-Aktivität (LAK-Aktivität) unterschieden, die ebenfalls HLAunabhängig ist und auch von LGL unter Mitwirkung von IL-2 vermittelt wird. Die Fähigkeit, LAK-Zellen mit IL-2 zu erzeugen, nutzt man heute in der Krebstherapie. Rezeptoren von NK-Zellen und LAK-Zellen, die u.a. die Zytolyse vermitteln, sind CD2, CD16 und NK 1.1. NK-Zellen bilden mit der Zielzelle ein sog. Konjugat. Neben den genannten Rezeptoren sind Adhäsionsmoleküle (Integrine, andere akzessorische Moleküle), Lektine, Antikörper (vgl. Abb. 4-22), Oxidationsprodukte und Magnesium für die Stabilisierung des Konjugates wichtig. Im Anschluss an die Konjugatbildung kommt es in den Zellen zu Polaritätsänderungen von mikrotubulären Strukturen, GolgiApparat und Lysosomen in der Nähe der Kontaktzone zur Zielzelle. Anschließend werden gerichtet transmembranös verschiedene Inhaltsstoffe der NK-Zell-Granula (Perforine) freigesetzt, wodurch die Zielzell-Lyse einsetzt. In den Zielzellen kommt es zur Porenbildung in der Zellmembran und damit zum Zusammenbruch des Ionengleichgewichts (Ca2+-Efflux, Störung der Na+-K+-Pumpe etc.). Auch lysosomale Proteasen tragen zu einer Zerstörung der Zielzellen bei. Schematisch ist dies in Abb. 4-12 dargestellt. Ein dritter, an der Zell-Lyse beteiligter Mechanismus ist die Sekretion von Tumornekrosefaktor (TNF-α, -β), der über spezifische Liganden mit der Zelloberfläche der Zielzelle in Wechselwirkung tritt und den programmierten Zelltod (Apoptose) auslöst. Die Zell-Lyse nach Kontakt mit der Zielzelle führt nicht automatisch auch zum Zelltod der NK-Zellen. Hier findet eine Regulation des zytolytischen Zellpools statt, deren Mechanismen noch nicht verstanden sind. NK-Zellen sind wesentlich an der antikörperabhängigen zellvermittelten Zytotoxizität, an der unspezifischen Tumorimmunität und in der frühen Phase der Abwehr zahlreicher intrazellulärer Pathogene (Viren und intrazelluläre Bakterien) beteiligt. NK-Zellen können ihre Ziele abtöten, ihre Aktivität lässt sich um den Faktor 20 bis 100 durch Exposition mit Interferonen oder den NK-Zellen aktivierenden Faktor IL-12 steigern.

4.1.6 Genetische Grundlagen der Immunantwort Genetische Rekombination als Basis der B-Zell-Funktion Die Vielfalt der antigenen Bindungsstellen wird durch die sog. genetische Rekombination oder das Rearrangement ermöglicht (Abb. 4-14). Dies geschieht im Knochenmark während des Übergangs von der B-Vorläuferzelle zur Pro-B-Zelle durch Aktivierung bestimmter Gene. Mit Hilfe der Rekombination werden unterschiedliche Genelemente zu einem funktionellen Gen kombiniert, das für ein spezifisches Immunglobulin kodiert. Die Genelemente, die für die L-(Leicht-) und H- (Schwer-)Ketten der Immunglobuline kodieren, sind auf verschiedenen Chromosomen lokalisiert (H-Ketten: Chromosom 14; L-Ketten: Chromosom 2 für κ, Chromosom 22 für λ) mit variablen (V) und konstanten (C) Regionen, die über D(diversity)- und J(joining)-Regionen verbunden sind. Dabei existieren 100–300 verschiedene V-Segmente sowie 1–11 CSegmente. Für ein funktionelles Gen einer B-Zelle wird nun jeweils ein Segment der verschiedenen Abschnitte (V, D, J, C) durch Rekombinase ausgeschnitten. Nach Modifikation (N-Region-Insertion) werden die Segmente miteinander verbunden. Die nicht benötigten Genabschnitte werden deletiert. Prinzipiell kann jedes beliebige VSegment mit jedem D-, J- oder C-Segment kombiniert werden, sodass für die HKetten eine rekombinatorische Vielfalt von etwa 8000 unterschiedlichen Immunglobulinmolekülen besteht. Für die L-Ketten ergeben sich etwa 300 verschiedene Kombinationsmöglichkeiten. Da prinzipiell jede H-Kette mit jeder LKette verbunden werden kann, sind 2,6 Millionen verschiedene Antikörper möglich. Darüber hinaus kann es (vor allem im Keimzentrum der sekundären lymphatischen Organe) durch die sog. somatische Hypermutation (siehe unten) zur Affinitätsreifung kommen, sodass das theoretische Antikörperpotential im Bereich von Billionen unterschiedlicher Immunglobulinmoleküle liegt. Diese Berechnungen machen die Fähigkeit des Organismus verständlich, gegen jedes beliebige Fremdantigen einen spezifischen Antikörper produzieren zu können. Die unvollständige Expression einer schweren Kette (μ) kennzeichnet das Prä-B-ZellStadium. Die Expression der μ-Kette signalisiert die Beendigung des Rearrangements der H-Ketten-Gene und schaltet das Rearrangement der L-Ketten-Gene an. Hierbei wird zuerst κ, später λ rearrangiert. Entscheidend bei diesem Vorgang ist, dass lediglich eine spezifische H-Kette und eine spezifische L-Kette exprimiert werden (Abb. 4.5). Dieses Phänomen wird durch Abschaltung des zweiten Allels (allelische Exklusion) erreicht. Die Folge hiervon ist, dass eine individuelle B-Zelle Antikörper (bzw. B-Zell-Rezeptoren) mit jeweils nur einem Typ der schweren und einem Typ der leichten V-Region bilden kann (sog. Paradigma der klonalen Selektionstheorie der Immunantwort).

Die erfolgreiche Komplettierung des Ig-Rearrangements führt zur nachfolgenden Expression eines funktionellen IgM-Moleküls auf der Zelloberfläche und stellt den Übergang von der Prä-B-Zelle in eine unreife B-Zelle dar (siehe Abb. 4-4). Die reife B-Zelle exprimiert zusätzlich membrangebundenes IgD. Diese B-Zellen (mIgM+, mIgD+) werden als sog. Virgin-(Jungfrau-)B-Zellen (B2-Zellen) bezeichnet (siehe auch Abb. 4-8 b).

B-Zell-Aktivierung, somatische Hypermutation und Affinitätsreifung Die B-Zell-Aktivierung erfordert die Bindung des Antigens an die B-Zell-Oberfläche und an den spezifischen B-Zell-Immunglobulin-Rezeptor sowie die Interaktion von BZellen mit antigenspezifischen T-Helferzellen (siehe auch Abb. 4-8). Dies führt zu einer Aktivierung und Proliferation der B-Zellen. Dadurch werden die naiven B-Zellen klonal expandiert (überwiegend im Keimzentrum) und zu antikörpersezernierenden und Memory-B-Zellen differenziert. Während der Differenzierung von aktivierten B-Zellen kann es im Keimzentrum zu somatischen Mutationen (somatische Hypermutation) in den Gensequenzen der Immunglobuline kommen mit einer Häufigkeit von einer Mutation pro 1000 Basen pro Zellteilung. Im Keimzentrum kommt es zu einer raschen und wiederholten Zellteilung der antigenaktivierten B-Zellen und somit zu einer raschen klonalen Amplifikation. Während der Zellteilungen vollzieht sich auch – wie bereits mehrfach erwähnt – der Immunglobulinklassen-Switch (Abb. 4-15), die sog. dritte Rekombination, bei der ein Umschalten der Immunglobulinklassen (z.B. von IgM nach IgG1) ermöglicht wird.

Abb. 4-14 Genetische Rekombination der Immunglobulingene.

In allen Körperzellen sind die genetischen Elemente der Immunglobuline in der sog. Keimbahnkonfiguration vorhanden. Durch die genetische Rekombination, die nur in Lymphozyten stattfindet, werden die einzelnen Segmente, die für einen funktionellen Genabschnitt kodieren, zusammengefügt. Dabei werden Genelemente entfernt. Die erste Rekombination an B-Zellen fügt D- und JSegmente zusammen. Dazwischen können im Rahmen der sog. N-RegionInsertion eine unterschiedliche Anzahl an Nukleotiden eingefügt werden. Im weiteren Verlauf kommt es in der zweiten Rekombination zu einem Zusammenfügen eines V-Segments mit der bereits rekombinierten D-J-Region. Auch hier kann eine N-Region-Insertion stattfinden. Dazwischenliegende Genabschnitte gehen verloren. Das Ziel der Rekombination ist die Herstellung eines funktionellen Genabschnitts, der über Transkription und Splicing zur Übersetzung in eine reife mRNA führt, sodass diese in ein funktionelles Protein translatiert werden kann. Die hier schematisch für die H-Kette von IgM gezeigten Rekombinationsschritte finden in identischer Weise auch für die leichten Ketten statt. Das T-Zell-Rezeptor-Rearrangement verläuft prinzipiell identisch. Während also gleichzeitig der Immunglobulinklassen-Switch und die somatische Hypermutation ablaufen, werden die „neu“ generierten B-Zellen (Keimzentrumsblasten und -zyten) immer mit dem spezifischen Antigen, das von follikulären dendritischen Retikulumzellen des Keimzentrums präsentiert wird, konfrontiert.

Die meisten Mutationen (durch die somatische Hypermutation) führen nicht zu einer Verbesserung der Affinität der Antikörper und somit der B-Zellen. Das hat zur Folge, dass diese Zellen durch fehlende verbesserte Antigenbindung kein weiteres Überlebenssignal erhalten, absterben und von sog. Sternhimmel-Makrophagen des Keimzentrums eliminiert werden (s.u.). Einzelne Mutationen führen jedoch zu einer erhöhten Antikörperaffinität. Diese mutierten B-Zellen erhalten dann durch Antigenbindung ein entsprechendes Wachstums- und Überlebenssignal, sodass Zellen mit höherer Affinität angereichert werden. Dieses führt zum einen zur sog. „antibody diversity“, zum anderen schließlich zur Produktion von hochaffinen Antikörpern durch Plasmazellen und zur Bildung von antigenspezifischen Memory-Zellen (siehe Abb. 4.8b). Im Falle eines erneuten Antigenkontaktes werden dann mehrere antigenspezifische Memory-Zellen aktiviert, klonal amplifiziert und einem erneuten Prozess der Hypermutation und des Immunglobulinklassen-Switch unterworfen, wodurch hochaffine Antikörper schneller und in größeren Mengen produziert werden. Sie tragen zur effektiveren Beseitigung des Antigens bei (booster). Auf diese Weise werden z.B. Reinfektionen verhindert oder verlaufen schwächer.

Abb. 4-15

Immunglobulinklassen-Switch.

Die dritte Rekombination basiert auf dem gleichen Prinzip wie die erste und zweite (Abb. 4-14). Statt der konstanten Region Cμ der schweren Kette wird beispielsweise Cγ1 verwendet und das dazwischenliegende Gensegment ausgeschnitten. Es kommt zur Ausbildung eines funktionellen Genabschnittes unter Einbeziehung der schweren Cγ1-Kette, sodass VDJ-Cγ1 entsteht, das in ein funktionelles IgG1-Molekül translatiert wird. Die Affinitätsreifung führt zum Umschalten von einer Immunglobulinklasse in eine andere (hier von IgM zu IgG1).

T-Zell-Rezeptor-Rearrangement Bei der genomischen Organisation der T-Zell-Rezeptoren werden αβ- und γδ-T-ZellRezeptoren unterschieden. Bei der überwiegenden Mehrzahl der T-Zellen in den lymphatischen Organen findet man den Rezeptor vom αβ-Subtyp. Nur weniger als 5% der Zellen tragen den γδ-T-Zell-Rezeptor. Sie sind vor allem in der Haut und im Gastrointestinaltrakt anzutreffen. Nur wenige Zellen im Thymus und in den sekundären lymphatischen Organen, insbesondere die intraepithelialen Lymphozyten, sind γδ-positiv. Der T-Zell-Rezeptor gehört wie der B-Zell-Rezeptor ebenfalls zur ImmunglobulingenSuperfamilie und weist deshalb große Ähnlichkeiten mit den Immunglobulinen auf (siehe Kap. 4.1.5): ■ Die Rezeptoren zeigen eine hohe Diversität. ■ Sie entstehen ebenfalls durch Rekombination. ■ Man findet variable (V) und konstante Regionen (C), die über „diversity“- und „joining“-Regionen (D, J) verbunden sind. In der variablen Region gibt es die sog. „complementarity determining regions“ (CDR). ■ Disulfidbrücken innerhalb einer Kette führen zu den sog. „loops“. Daneben finden sich auch Disulfidbrücken, die die beiden Rezeptorketten miteinander verbinden. ■ Die Rekombinations-Erkennungssequenzen sind identisch (Nonamer/Heptamer-Elemente). Wiederum gibt es in den α-, β-, γ- und δ-Abschnitten V-Regionen mit unterschiedlicher Anzahl an Gensegmenten für die einzelnen Ketten, für die α-Kette mehr als 100, für die β-Kette 20 variable Segmente. Berechnet man alle Kombinationen, so ergeben sich etwa 2,5 Mio. verschiedene T-Zell-RezeptorMoleküle. Hinzu kommt die Variabilität durch N-Region-Insertion (terminale Desoxynukleotid-Transferase), sodass theoretisch Milliarden an verschiedenen T-ZellRezeptor-Molekülen durch Gen-Rearrangement produziert werden können. Eine Affinitätsreifung des T-Zell-Rezeptors ist im Gegensatz zu den Immunglobulinen nicht bekannt, d.h., es gibt nur eine Rekombination von T-Zell-Rezeptor-Genen. Diese wird wie bei Immunglobulingenen ontogenetisch gesteuert. Zuerst beginnt die γ-Kette zu rearrangieren, dann die δ-, die β- und schließlich die α-Kette. Folglich können sich αβ-T-Zell-Klone erst nach stattgefundenem γδ-Rearrangement entwickeln. Wichtig ist der Nachweis eines klonalen Rearrangements für die Diagnostik von malignen T-Zell-Lymphomen. Da sich maligne Lymphome in der Regel von einem neoplastischen T-Zell-Klon ableiten, tragen alle Lymphozyten denselben T-ZellRezeptor und damit das gleiche Rearrangement des T-Zell-Rezeptors. Diese Tatsache

kann mit Hilfe der Polymerase-Kettenreaktion (PCR) oder des Southern-BlotVerfahrens untersucht und zur Diagnose benutzt werden (siehe Kap. 1.3.12).

Entstehung der Diversität von B-Zell-Rezeptor, Antikörper und T-Zell-Rezeptor 1. Rekombination von verschiedenen Gensegmenten der schweren und leichten Ketten (der TCR-Untereinheiten αβ, γδ) 2.

Insertion von P- und N-Nukleotiden

3.

Sog. Affinitätsreifung durch somatische Hypermutation

4.

Schwerkettenswitch

Der Mechanismus des Zusammenfügens der Gensegmente wird durch ein V(D)JRekombinase-Enzymsystem bewerkstelligt, das zum Teil mit den DNAReparatursystemen der Zelle identisch ist. Der Ort der Rekombination wird durch flankierende Heptamere bzw. Nonamere rechts und links bestimmt. Diese sind durch Spacer-Regionen mit einer Länge von ein bzw. zwei DNA-Windungen (12 bzw. 23 Basenpaare) bestimmt. Dadurch werden die Heptabzw. Nonamere auf eine Seite der DNA orientiert und können spezifischen Kontakt zur V(D)J-Rekombinase aufnehmen. Die unterschiedliche Länge der Spacer sorgt z.B. dafür, dass in einer schweren Kette keine Rekombinationen zwischen V und J unter Auslassung von D auftreten können.

Histokompatibilitätsantigene Jedes höhere Individuum exprimiert auf seinen Zellen die Moleküle des sog. „major histocompatibility complex“ (MHC). Entdeckt wurden die MHC-Moleküle ursprünglich in der Transplantationsmedizin. Beim Menschen bezeichnet man die Moleküle des MHC auch als HLA-Komplex („human leukocyte antigen“). Diese Moleküle dienen der Erkennung des „Selbst“. Darüber hinaus sind sie aktiv in Abwehrmechanismen involviert.

Abb. 4-16

Der HLA-Locus.

Nähere Erläuterungen siehe Text. Der HLA-Genkomplex oder -Cluster des Menschen befindet sich auf dem kurzen Arm von Chromosom 6. Er besteht aus Klasse-I-, Klasse-II- und Klasse-III-Genen, die auf unterschiedlichen Genabschnitten lokalisiert sind (Abb. 4-16). Die HLA-Klasse-IRegion kodiert für die klassischen Moleküle HLA-A, HLA-B und HLA-C, daneben für HLA-E, HLA-F und HLA-G. Die HLA-Klasse-II-Region wird als HLA-DRegion bezeichnet und teilt sich in HLA-DP-, -DQ- und -DR-Subregionen auf. Die HLA-Klasse-III-Gene kodieren für Proteine des Komplementsystems und für Stressproteine. Alle HLA-Moleküle werden von polymorphen Genabschnitten kodiert, die in alternativer Form (Allele) existieren. Dadurch sind die meisten Menschen für die HLA-Loci heterozygot. Die einzelnen Genabschnitte umfassen über 3,5 Mio. Basen. In der Klasse-I-Region wurden 17, in der Klasse-II-Region 29 und in der Klasse-III-Region 36 Gene und Pseudogene identifiziert. Für HLA-A sind insgesamt 41 Loci, für HLA-B 61 und für HLA-C 18 Loci nachweisbar. Die Kombinierbarkeit der einzelnen Loci führt bei der HLA-Klasse I zu einer rechnerischen Vielfalt von 41×61×18 = 45 000 Möglichkeiten. Für die HLA-Klasse II findet sich eine ähnliche kombinatorische Vielfalt. Dadurch wird verständlich, dass für ein Individuum als Transplantatempfänger mit einem bestimmten HLA-Klasse-I- und HLA-Klasse-II-Typ nur eine sehr geringe Chance (< 1:10 000) besteht, einen vollständig passenden (d.h. HLA-identischen) Transplantatspender zu finden. HLA-Klasse-I-Moleküle finden sich auf praktisch allen Körperzellen, Klasse-IIAntigene sind dagegen nur auf B-Lymphozyten, auf phagozytierenden Zellen (Monozyten, Makrophagen, Langerhans-Zellen, dendritische Zellen), Endothelzellen und Epithelzellen vorhanden.

Komplementsystem siehe Kap. 3.2.4.

4.2

Steuerung der Immunantwort

Die Interaktion von Immunzellen erfolgt zum einen über die Freisetzung löslicher Mediatoren (Zytokine), zum anderen über direkten Zell-Zell-Kontakt (über Adhäsionsmoleküle – interzelluläre Kommunikation) mit den entsprechenden Zielzellen. Eine besondere Bedeutung in der Immunregulation haben T-Lymphozyten. Um diese regulatorische Funktion erfüllen zu können, müssen sie zunächst aktiviert werden. Dies erfolgt über den Kontakt zu einer antigenpräsentierenden Zelle. Dabei sind CD4+-T-Zellen auf antigenpräsentierende Zellen der HLA-Klasse II beschränkt, während CD8+ -T-Zellen antigenpräsentierende Zellen der HLA-Klasse I benötigen. In die T-/B-Zell-Kooperation sind zahlreiche Oberflächenmoleküle als Ligand-RezeptorPaare involviert. Abb. 4-17 zeigt schematisch die miteinander agierenden Oberflächenstrukturen von B- und T-Zellen. Wichtig sind hierbei vor allem Wechselwirkungen zwischen CD40 und CD40-Ligand, zwischen CD28 und CD80/CD86 sowie zwischen Integrinen untereinander (z.B. zwischen ICAM und LFA-1). Zytokine, die an spezifische Zytokinrezeptoren binden, bewirken zusätzlich an den B-Zellen eine Förderung von Wachstum und Differenzierung und induzieren die Antikörpersekretion. Wie oben erwähnt, ist dabei wichtig, ob die Zytokine von Lymphozyten des TH1- oder TH2-Typs produziert werden. TH2-Lymphozyten unterstützen die Produktion von IgG1 und IgE, während TH1-Lymphozyten die Sekretion von IgG2a (zytotoxische Antikörper) unterstützen. Zahlreiche andere Zytokine können gleichzeitig oder sukzessive die Produktion anderer Antikörpergruppen induzieren, z.B. führt TFG-β zum IgA-Switch. Die Entwicklung von TH1-Lymphozyten wird durch IL-1 und Interferon-γ gefördert, die von TH2-Lymphozyten durch IL-4 und IL-10.

Abb. 4-17 T-/B-Zell-Kooperation.

T- und B-Zellen können über zahlreiche Moleküle interagieren. Eine antigenvermittelte Bindung erfolgt über den HLA-II-/T-Zell-Rezeptor. Kostimulierend wirken Adhäsions-/Integrinmolekül-Interaktionen sowie die Interaktion CD40/CD40L und CD28/CD80/CD86. Die Freisetzung verschiedener löslicher Zytokine kann gerichtet (Spenderzelle/Empfängerzelle) erfolgen.

4.2.1 Antigenprozessierung und Präsentation von Peptiden

Als Antigenprozessierung bezeichnet man den proteolytischen Abbau von Proteinen in Peptide, die an die HLA-Moleküle binden können. Unter Antigenpräsentation versteht man die HLA-vermittelte Peptidbindung auf der Oberfläche der Zelle. Antigenpräsentierende Zellen sind hochspezialisierte Zellen des Immunsystems, die Protein-Antigene zerlegen und definierte Peptidfragmente gemeinsam mit Molekülen des HLA-Komplexes auf der Oberfläche präsentieren. Die Antigenverarbeitung zelleigener („Selbst-“) und zellfremder („Nichtselbst-“)Proteine erfolgt im Zytosol durch Proteasen, die Bindung an HLA-Moleküle findet im rauen endoplasmatischen Retikulum statt. In gebundener Form gelangen sie dann an die Zelloberfläche und werden hier präsentiert. Klasse-I-Moleküle sind normalerweise mit endogenen, KlasseII-Moleküle mit exogenen Proteinen bzw. Peptiden assoziiert. Hauptfunktion der HLA-Antigene ist es, Peptidfragmente von Antigenen auf der Zelloberfläche in Form von Peptid-HLA-Komplexen den T-Lymphozyten zu präsentieren. HLA-Moleküle spielen nicht nur eine wichtige Rolle bei der Transplantation, sondern auch bei vielen allergischen Reaktionen und Autoimmunerkrankungen des Menschen. HLA-Polymorphismen können heute serologisch, aber auch gentechnisch mit Hilfe der Polymerase-Kettenreaktion analysiert werden. Zwischen den beiden Ketten des HLA-Moleküls befindet sich eine sog. Peptidbindungsgrube. Diese Struktur erlaubt die Bindung von passenden Peptiden an mehrere eingefügte Peptidbindungstaschen (nach dem Prinzip Schlüssel und Schloss). Der HLA-Peptid-Komplex führt zur Konformationsänderung des HLA-Moleküls auf der Zelloberfläche und zur Präsentierbarkeit an einen T-Zell-Rezeptor (siehe Kap. 4.1.5). Man nennt dies HLA-restringierte T-Zell-Rezeptor-Erkennung von Peptiden. Die Bindung an den T-Zell-Rezeptor führt zur Aktivierung dieser T-Zellen.

Differenzierung zu AK-produzierenden Plasmazellen über B-Immunoblasten und Plasmoblasten Ein kleiner Teil der klonal amplifizierten, antigengereiften spezifischen B-Zellen differenziert unter dem Einfluss von Zytokinen zu B2-Memory-Zellen, die dann über die Marginalzonen, über peritrabekuläre Areale und über efferente lymphatische Gefäße in Milz, Knochenmark und in die Marginalzonen anderer sekundärer lymphatischer Organe gelangen. Hier können sie 2 Tage lang überleben und warten auf erneuten Antigenkontakt.

4.2.2 Zytokine Es sind eine große Anzahl von Faktoren bekannt, die unter dem Sammelbegriff „Zytokine“ zusammengefasst werden und in einem komplexen Netzwerk zwischen den Immunzellen einerseits und den Immunzellen und Zielzellen andererseits vermitteln. Zu

diesen Faktoren gehören Hämatopoetine mit Interleukinen (derzeit IL-1–IL-28), Interferone, die Immunglobulin-Superfamilie, die TNF-Familie, Chemokine und andere Faktoren, die bisher nicht in Gruppen eingeteilt werden. Einige Zytokine und ihre Rezeptoren sowie ihre Herkunft und Funktion sind in Tab. 4-5 beispielhaft zusammengefasst. Die Synthese von Zytokinen durch Zellen erfolgt konstitutiv (d.h. dauerhaft) oder durch Induktion (d.h. nur nach Aktivierung). Synthese und Sekretion werden im Rahmen endogener Rhythmen (zirkadianer Rhythmus, Lebensalter) und durch Krankheiten (Infektionen, Neoplasien) beeinflusst. Aktivierte Zellen produzieren häufig mehrere Zytokine gleichzeitig. Zytokine sind für das Überleben der Immunzellen, ihre Proliferation, Entwicklung und Differenzierung verantwortlich. Sie wirken aber auch auf Epithel-, Endothel- und Bindegewebszellen sowie auch teilweise systemisch (z.B. auf Leber, ZNS). Damit üben sie vor allem eine Kontrollfunktion über die biologischen Aktivitäten der Immunzellen aus. Sie können ihre Funktion autokrin, parakrin oder endokrin ausüben. Zytokine können auf verschiedene Zielzellen wirken, d.h., sie sind pleiotrop. Häufig sind sie redundant, d.h., spezifische Funktionen (z.B. Wirkung auf das T-Zell-Wachstum) können von verschiedenen Zytokinen vermittelt werden. Zytokine und dazugehörende Rezeptoren sind in einem komplexen Netzwerk miteinander verbunden, in dem die Konzentration der Zytokine und Affinität der Rezeptoren, Halbwertszeiten und Antagonisten für die Wirkungen von besonderer Bedeutung sind.

Tab. 4-5 Zytokine.

Zytokine als regulierende Faktoren des Immunsystems Die Zytokine wurden bereits als wichtige humorale Komponenten des Immunsystems vorgestellt. An dieser Stelle soll – stellvertretend anhand von zwei Beispielen – die Bedeutung der Zytokine als Wachstumsfaktoren ausführlich aufgezeigt werden.

Interleukin-2 (IL-2) Beschreibung und Herkunft Das IL-2-Protein ist ein 15,4 kD (133 Aminosäuren) großes, gering basisches glykosyliertes Protein. Es enthält eine Disulfidbrücke, die für die biologische Funktion essentiell ist.

Das humane IL-2-Gen ist auf dem Chromosom 4q26 lokalisiert. Zahlreiche regulatorische Sequenzen finden sich in der Promotorregion, u.a. die wichtigen Faktoren NFκB, AP-1 (aktivierend) und NF-at (supprimierend). Unter physiologischen Bedingungen wird IL-2 von CD4+-T-Zellen nach Aktivierung (mitogen, durch Antigen oder durch direkten Zellkontakt) produziert. IL-2 wird aber auch im Rahmen von zahlreichen Neoplasien sezerniert (z.B. HTLV-1+-T-Zell-Neoplasien). Daneben wird IL-2 von Epstein-Barr-Virustransformierten B-Zellen, Leukämiezellen, LAK-Zellen oder NK-Zellen produziert. Eine Hemmung der IL-2-Sekretion kann durch Dexamethason oder durch Ciclosporin A erfolgen.

IL-2-Rezeptor Ein spezifischer Membranrezeptor auf aktivierten T-Zellen vermittelt die Wirkung von IL-2. Die Rezeptordichte beträgt 4000–12000 Rezeptoren pro Zelle. Die Expression des IL-2-Rezeptors wird moduliert durch andere Zytokine (u.a. IL-6) und durch IL-2 selbst. Der hochaffine Rezeptor wird von einer α-, einer β- und einer γ-Untereinheit geformt. Die Letztere führt zur Signaltransduktion nach Kontakt mit IL-2. Die βKette wird konstitutiv auf ruhenden Lymphozyten, NK-Zellen und zahlreichen anderen Zelltypen exprimiert, während die α-Kette normalerweise nur nach Aktivierung nachweisbar ist. Inzwischen wurde gefunden, dass die γ-Kette auch in der Signaltransduktion anderer Wachstumsfaktoren (IL-4, IL-7, IL-13) eine gleichartige Rolle spielt und bei einer Form schwerer kombinierter Immundefizienz (siehe Kap. 47.2.3) defekt ist.

Wirkungen IL-2 stimuliert die Proliferation aller Subpopulationen von T-Zellen und kann TZellen antigenunabhängig in den Zellzyklus führen. Bei der HTLV-1-assoziierten T-Zell-Leukämie des Erwachsenen spielt die autokrine Stimulation des Wachstumsfaktors IL-2 eine wesentliche Rolle in der Pathogenese der Erkrankung. IL-2 stimuliert – im Zusammenwirken mit IL-4 – auch die Proliferation von aktivierten B-Zellen. IL-2 ist von großer Bedeutung für die Immunantwort sowohl bei antiinflammatorischen als auch bei inflammatorischen Reaktionen. Es induziert die Interferon-γ-Produktion ebenso wie die Sekretion von IL-1 und TNF.

Experimentelle Befunde

Bei transgenen Mäusen, die IL-2 überexprimieren, wird sowohl eine erhebliche Wachstumsverzögerung als auch eine Frühreife beobachtet. Darüber hinaus kommt es zu fokaler Infiltration von Lymphozyten in der Lunge mit pneumonieähnlichen Symptomen sowie zum Verlust von Purkinje-Zellen im Kleinhirn. Die transgene Expression von IL-2 in den β-Zellen des Pankreas führt zu einer starken Entzündung durch einwandernde Makrophagen und schließlich zur Zerstörung des endokrinen Pankreas. IL-2-defiziente Mäuse (sog. Knock-out-Mäuse) können kein funktionelles IL-2 erzeugen. Die Tiere entwickeln sich während der Embryonal- und Fetalperiode sowie bis kurz nach der Geburt normal. Sowohl die Thymozyten als auch die peripheren T-Zellen sind in ihrer Anzahl im Vergleich zu Kontrolltieren unverändert. Nach 3–4 Wochen jedoch entwickeln die Tiere durch eine Imbalance der Zytokinspiegel (IL-2 fehlt, IL-4 stark erhöht) eine manifeste Dysregulation des Immunsystems, die schließlich zu einer schweren Autoimmunerkrankung führt. Ab dem Alter von sechs Wochen kommt es zum Auftreten einer entzündlichen Dickdarmerkrankung, die große Parallelen zur Colitis ulcerosa des Menschen aufweist. Darüber hinaus ist die Entwicklung einer autoimmunhämolytischen Anämie zu beobachten, die mit hohen Spiegeln von IgG1- und IgE-Isotypen (IL-4Wirkung) einhergeht.

Bedeutung in der Tumortherapie IL-2 kommt eine wichtige Bedeutung in der Tumorbekämpfung zu, da tumorspezifische T-Zellen nach IL-2-Gabe proliferieren. NK-Zellen werden durch IL-2 aktiviert, wobei diese IL-2 autokrin produzieren. IL-2 stellt den wichtigsten Wachstumsfaktor für NK-Zellen dar. LAK-Zellen und tumorinfiltrierende Lymphozyten (TIL) können ex vivo mit Hilfe von IL-2 amplifiziert und dem Krebspatienten wieder zugeführt werden. Eine systemische Behandlung mit IL-2 ist allerdings nicht unproblematisch. Sie kann zur Remission von Tumoren führen, jedoch muss die Therapie häufig wegen schwerster Nebenwirkungen (capillary leak und Schock) abgebrochen werden. IL-2 vermittelt seine Wirkung u.a. auch über die Freisetzung von Tumornekrosefaktoren und Interferon-γ, die zusätzlich zur Antitumoraktivität von IL-2 auch als Toxizitätsfaktoren wirken. Neuere Strategien verwenden Proteinchimären, die z.B. aus IL-2 und Antikörpern gegen bestimmte Tumorantigene bestehen. Diese Proteinchimären bewirken die Bindung des Wachstumsfaktors an die Zielzelle („tumor target“) und führen lokal zur Anziehung und Proliferation von T-Zellen, LAK-Zellen oder NK-Zellen, die die Tumorzellen vernichten können. Die Transduktion eines funktionellen IL-2-Gens in Tumorzellen ex vivo und die anschließende Immunisierung des Patienten durch Reinfusion oder Transplantation

dieser molekularbiologisch modulierten Zellen können ebenfalls zur Abstoßung des Tumors durch das Immunsystem des Wirtes führen. Dieses Vorgehen ist vor allem wirksam bei Tumoren, die immunsupprimierende Faktoren produzieren und damit zu einer Suppression der IL-2-Bildung führen. Fehlt IL-2, kann eine wirtsspezifische LAK-, NK- und T-Zell-Antwort ausbleiben, was für das Tumorwachstum bedeutsam sein kann.

Interleukin-6 (IL-6) Beschreibung und Herkunft IL-6 wird wie IL-2 als Vorläuferprotein synthetisiert. Es wird glykosyliert und überträgt seine Wirkung über spezifische Rezeptoren. Die Wirksamkeit von IL-6 ist bis zu einer Konzentration von 10−15 M (femtomolarer Bereich) nachgewiesen. IL-6 wird von verschiedenen Zelltypen produziert, u.a. von stimulierten Monozyten und Makrophagen, T- und B-Lymphozyten, Granulozyten (auch eosinophilen) und Mastzellen. Außerdem sind zu seiner Synthese Endothelzellen, glatte Muskelzellen, Fibroblasten und Keratinozyten befähigt. Maligne Glioblastomzellen, Myxomzellen des Herzens, Zervix- und Blasenkarzinomzellen können ebenfalls IL-6 sezernieren. Die Produktion von IL-6 wird stimuliert durch andere Wachstumsfaktoren, wie z.B. IL-1, TNF, Interferon-γ, sowie durch Endotoxine und Lipopolysaccharide. Glukokortikoide, IL-4 und TGF hemmen die IL-6-Synthese.

IL-6-Rezeptor IL-6-Rezeptoren finden sich auf T-Zellen, stimulierten B-Zellen, peripheren Monozyten, Makrophagen sowie auf Hepatozyten und Knochenzellen. Bei zahlreichen B-Zell-Lymphomen und Leukämien sind IL-6-Rezeptoren nachweisbar. Der Rezeptor ist mit einem transmembranösen Glykoprotein (gp130) assoziiert, das die Signaltransduktion (u.a. von IL-11, Onkostatin-N) vermittelt. IL-6-Rezeptoren werden wie IL-2-Rezeptoren auch in löslicher Form in das Serum abgegeben und dienen der Immunregulation.

Wirkungen IL-6 besitzt zahlreiche Wirkungen. Die wichtigsten sind in Abb. 4-18 schematisch zusammengefasst.

Experimentelle Befunde

IL-6-transgene Tiere produzieren große Mengen an polyklonalem IgG1. In den Organen dieser Tiere ist eine Plasmozytose nachweisbar. Neben einer mesangial proliferativen Glomerulonephritis werden psoriasisähnliche Hautveränderungen beobachtet. Zahlreiche Tiere entwickeln nach längerer Latenz maligne Lymphome. Andere Tiere leiden unter neurologischen Syndromen, vergleichbar mit neurodegenerativen ZNS-Erkrankungen des Menschen.

Abb. 4-18 Wirkungen von Interleukin-6.

IL-6 als pleiotroper Wachstumsfaktor wirkt auf zahlreiche Zellen und Gewebe. Tumorzellen, die mit IL-6 transfiziert werden, werden von Immunzellen erkannt und vernichtet. Interessanterweise werden nach einer solchen Stimulation auch nichttransfizierte Tumorzellen vom Immunsystem erkannt und beseitigt.

Zytokine in der Therapie Bemerkenswert ist die Beobachtung, dass zahlreiche Tumorzellen und Tumoren ebenfalls Zytokine produzieren. Diese beeinflussen z.T. ihr eigenes Wachstum, sie können aber auch die Metastasierung und Angiogenese beeinflussen. Immunsuppressiv wirkende Zytokine, die von Tumoren oder auch von virusinfizierten Zellen produziert werden, können zu Resistenz oder Anergie führen, was die Wirkung exogen zugeführter Zytokine wie auch die endogene Produktion dieser Faktoren beeinträchtigt. Die unkritische Anwendung von Zytokinen ist demnach mit Vorsicht

zu bewerten, solange keine genauen Kenntnisse über die Biologie dieser wichtigen Substanzgruppe vorliegen. Versuche mit Zytokinen am Menschen werden heute noch häufig als „Ultima Ratio“ durchgeführt und lassen sich teilweise ethisch nur bedingt vertreten. Nur die detaillierte Kenntnis der molekularen Zusammenhänge von Zytokinen innerhalb des Zytokinnetzwerks kann sinnvolle therapeutische Strategien ermöglichen. Mit Hilfe von Zytokinen und spezifischen Zytokininhibitoren wird es in der Zukunft möglich sein, nahezu alle Funktionen des Immunsystems und einzelne Immunzellen zu manipulieren. Dies wird die Diagnostik und Therapie von zahlreichen Erkrankungen in den verschiedensten medizinischen Disziplinen beeinflussen und langfristig eine Heilung von zahlreichen bis jetzt unheilbaren Krankheiten möglich machen (Gendefekte, Autoimmunerkrankungen, Neoplasien).

4.2.3 Adhäsionsmoleküle und interzelluläre Kommunikation Adhäsionsmoleküle vermitteln die Bindung zwischen Zellen oder die zelluläre Bindung an Matrixproteine. Sie spielen eine Rolle ■

bei der Differenzierung von Immunzellen



beim „homing“ von Immunzellen (siehe hierzu auch Kap. 4.1.3).

Die Interaktion von Immunzellen über Zelladhäsionsmoleküle kann zur Aktivierung, Differenzierung, aber auch Suppression bestimmter zellulärer Funktionen führen (siehe Kap. 4.1.5, B- und T-Zell-Aktivierung). Eine besondere zelluläre Interaktion ergibt sich zwischen zytotoxischen T(Killer)-Zellen und virusinfizierten Zellen (oder auch Tumorzellen). Neben dem antigenvermittelten Kontakt über HLA-Moleküle und T-Zell-Rezeptoren erfolgt eine zellgebundene zelluläre Interaktion über TNF und TNF-Rezeptor oder Fas und Fas-Ligand. Diese Interaktion führt zur Zytolyse der Zielzellen und zum Auslösen des Zelltodes, zum Beispiel durch Apoptose. NK-Zellen können mit Zielzellen (virusinfizierte Zellen, Tumorzellen) interagieren, wobei das Fehlen von HLA I bei der Erkennung und Bindung an die Targetzellen bedeutsam ist.

4.2.4 Apoptose Unter Apoptose versteht man den programmierten Zelltod, der nach Aktivierung der Zelle (zum Beispiel über die oben genannten Moleküle) ein internes Zerstörungsprogramm der Zellen auslöst. Während bei proliferierenden Zellen (zum

Beispiel B-Zellen des Keimzentrums bzw. auch T-Zellen im Thymus) die Apoptose einen natürlichen Bestandteil der Entwicklung (zum Beispiel für nichtantigenspezifische T-Zellen/B-Zellen) darstellt, kann dieser Prozess auch im Zuge von Immunreaktionen auftreten.

4.2.5 Toleranz und Anergie Antigenkontakte führen normalerweise nach Prozessierung und Präsentation über HLAMoleküle zu einer Immunantwort. Lösliche Antigene können aber auch eine lang anhaltende Toleranz auslösen. Hierfür sind die T-Suppressor-Zellen verantwortlich. Die Toleranzentwicklung ist auf das Fehlen von sekundären Signalen der antigenpräsentierenden Zellen zurückzuführen. Solche Signale sind z.B. das Auftreten von akzessorischen Molekülen oder Kostimulatoren sowie die Freisetzung von bestimmten Zytokinen. Letztere werden über sog. „danger“-Signale induziert. Solche Warnsignale werden durch bakterielle oder virale Produkte von antigenpräsentierenden Zellen produziert, meist über spezifische zelluläre Rezeptoren (sog. Tolllike Rezeptoren, z.B. ■

TLR 4 = LPS-Rezeptor



TLR 9 = Cpg-Rezeptor für bakterielle oder virale DNA-Bestandteile).

Das Fehlen von Warnsignalen und damit auch von sekundären Signalen kann zur TZell-Anergie führen. Eine solche Anergie wird nicht selten durch körpereigene Antigene erzeugt, z.B. von Tumorzellen (= Suppression der Anti-Tumorantwort). Die Zellen verhalten sich dann gegenüber einer weiteren Stimulation durch das Antigen refraktär. Dieses Phänomen wird aber auch therapeutisch bei Hypo- oder Desensibilisierungsstrategien zur Therapie von Allergien eingesetzt (siehe Kap. 4.3.3). Bei Anti-Tumortherapien muss die Anergie überwunden werden. Schließlich können tolerante oder anerge Zellen deletieren (klonale Deletion) oder absterben.

4.3 Dysregulationen der Immunantwort und Erkrankungen des Immunsystems Erkrankungen können aus inadäquater (fehlender oder gesteigerter) Immunantwort resultieren. Ein Versagen der Immunabwehr hat vor allem folgende Ursachen: ■ Resistenz pathogener Agenzien ■ angeborene (genetisch defekte) Störungen der Abwehr ■ erworbene Immundefizienz-Syndrome.

Reaktionen des Wirtes gegen infektiöse und nichtinfektiöse Agenzien können ebenfalls zu krankmachenden Immunreaktionen führen. Hierzu zählen: ■ die Allergien oder Überempfindlichkeitsreaktionen (Hypersensitivitätsreaktionen siehe Kap. 4.3.1). Sie stellen überschießende Reaktionen des Immunsystems dar. Dies zeigt sich besonders, wenn sich die Immunantwort gegen üblicherweise „harmlose“ Antigene, die Allergene, richtet. ■ Transplantatabstoßungsreaktion (siehe Kap. 4.3.2). Es handelt sich um Immunreaktionen gegen transplantierte Organe, die zur Abstoßung des betreffenden Organs führen. ■ Autoimmunität – Autoaggression (siehe Kap. 4.3.4). Autoimmunität beschreibt den Zustand der Immunreaktivität gegen körpereigene Strukturen. Regeln der pathogenen Immunreaktion Bei den pathogenen Immunreaktionen ergeben sich folgende Gesetzmäßigkeiten: ■ Eine Immunkrankheit besteht nur so lange, als das Antigen präsent ist. Antigene, die nur kurzfristig im Organismus vorhanden sind, verursachen daher zeitlich begrenzte Reaktionen wie klassische Allergien vom Typ des Pollenasthmas. Permanent vorhandene körpereigene Antigene können einen chronischen Schädigungsprozess, z.B. bei sog. Autoaggressionskrankheiten, auslösen. ■ Die Immunkrankheit manifestiert sich dort, wo der Antigenkontakt mit den Effektorsystemen des Immunsystems in den Geweben stattfindet (Kontaktregel). Immunreaktionen gegen exogene Antigene spielen sich meist an Grenzflächen, nämlich Haut, Schleimhäuten oder Gefäßen, ab. Eine Verteilung des Antigens im Organismus führt zur Manifestation fernab der Eintrittspforte, wie z.B. beim Arzneimittelexanthem. ■ Antigen-Antikörper-Komplexe (Immunkomplexe) im zirkulierenden Blut bleiben primär ohne erkennbare Folgen. Sobald sie sich aber in Schleimhäuten oder Gefäßwänden ablagern, treten an dieser Stelle lokale Immunreaktionen mit Schädigungen auf. ■ Pathogene Immunreaktionen sind abhängig vom Typ der Immunantwort, nicht von der Natur des Antigens. Hieraus erklären sich zwei Phänomene: Zum einen können unterschiedliche Antigene gleichartige Immunreaktionen mit identischem Krankheitsbild auslösen, z.B. Heuschnupfen bei Birkenpollen- oder HausstaubExposition. Zum anderen vermag ein und dasselbe Antigen unterschiedliche Immunreaktionen mit unterschiedlichen Krankheitsbildern hervorrufen. Beispielsweise können Kosmetika eine Urtikaria (Typ-I-Reaktion) oder ein Ekzem (Typ-IV-Reaktion) auslösen.

■ Ob, wie und wo sich eine Immunkrankheit manifestiert, hängt von exogenen (Umwelt) und endogenen (Erbgut) Faktoren ab. Das Ausmaß der Immunreaktion wird u.a. durch genetische Faktoren bestimmt. Diese Aussage gilt für die Gesamtheit der Immunreaktivität, aber auch für die Immunreaktivität gegenüber bestimmten Antigenen. Die Immungenetik ist jedoch derzeit nur in Einzelfällen in der Lage, derartige Zusammenhänge zu definieren. Weiterhin beeinflussen Hormone, insbesondere strukturell verwandte Nebennierenrinden- und Sexualhormone, die Immunantwort. Dies erklärt die unterschiedliche Verteilung der Geschlechter bei Autoaggressionsprozessen und den Charakterwandel von Immunkrankheiten während Pubertät, Schwangerschaft und Klimakterium. ■ Auch körperliche Belastung, Stress, Schlaflosigkeit und in geringem Ausmaß Ernährungsgewohnheiten, vor allem Mangeldiäten, üben einen Einfluss auf das Immunsystem aus. Schließlich ist das Lebensalter wichtig, da in Kindheit und Jugend Immunsystem und Immunabwehr heftiger reagieren als beim älteren Menschen. Die Fähigkeit, Immunreaktionen ohne Schaden zu überstehen, ist also eine Frage von Disposition, Konstitution und Enzymausstattung; Regenerationsfähigkeit und Belastung sowie Noxen spielen eine zusätzliche Rolle.

Tab. 4-6 Hypersensitivitätsreaktionen.

>4.3.1

Mechanismen und Typen pathogener Immunreaktionen Gell und Coombs nahmen vor mehr als 40 Jahren eine Einteilung der pathogenen Immunreaktionen in Typ I bis Typ IV vor (Tab. 4-6).

Typ-I-Reaktion: IgE-vermittelte Reaktion IgE-vermittelte Immunreaktionen treten rasch nach Antigenexposition auf. Davon leitet sich auch der Begriff „Sofortreaktion“ (immediate type of hypersensitivity) her.

Abb. 4-19 IgE-vermittelte Reaktion (Typ-I-Reaktion nach Gell und Coombs).

Die Reaktion wird unterteilt in Sensibilisierungsphase und erneute Allergenexposition mit Auslösung einer anaphylaktischen Reaktion. Weitere Erläuterungen siehe Text. Im Mittelpunkt steht die IgE-vermittelte Freisetzung von Entzündungsmediatoren aus Mastzellen und aus basophilen Granulozyten (Abb. 4-19). Voraussetzung ist eine vorangegangene Sensibilisierung gegen Allergene. Die Reaktion verläuft in drei Schritten: 1. Sensibilisierunsphase. Die IgE-vermittelte Reaktion beginnt mit der allergenbedingten Sensibilisierung von CD4+-TH2-Zellen, die durch die Sekretion

von Zytokinen (IL-4 und IL-5) zu einer Stimulation der B-Zellen und Produktion von IgE-Antikörpern führen. Die IgE-Antikörper werden von Plasmazellen gebildet und gelangen in das umgebende Gewebe, die Blutbahn und in Körperflüssigkeiten. Dort binden sie an basophile Granulozyten und an Mastzellen über Rezeptoren für den Fc-Teil des IgE-Moleküls (sog. Fc≥-Rezeptor). IgE-Moleküle, die an FcRezeptoren der Mastzellen binden, bleiben lange Zeit auf der Oberfläche der Mastzelle nachweisbar (Sensibilisierung). IgE stimuliert das Wachstum von Mastzellen und führt auch zu einer Attraktion und Aktivierung von eosinophilen Granulozyten. 2. Erneute Allergenexposition. Mastzellen und basophile Granulozyten tragen an ihrer Membran nach der Sensibilisierung 10000–60000 Antikörpermoleküle. Bei erneuter Antigenexposition werden Antigene durch die freien variablen Regionen (Antigenbindungsstellen) gebunden. Durch die Quervernetzung benachbarter IgEMoleküle erfolgt eine Konformationsänderung am Rezeptor, was zu einer komplexen Kaskade von intrazellulären Signalen führt. Daraufhin kommt es einerseits zur Entleerung von Mastzellgranula (Degranulation) mit Freisetzung von Mediatoren (Histamin, Proteasen, chemotaktische Faktoren), andererseits werden über eine Aktivierung von Phospholipase membrangebundene Phospholipide in Arachidonsäurederivate (Eicosanoide, Leukotriene, Prostaglandine) und zu Thrombozyten-aktivierendem Faktor (PAF) umgewandelt. Diese Eicosanoide wurden früher als „slow reacting substance of anaphylaxis“ (SRS-A) bezeichnet. Schließlich können Mastzellen nach Aktivierung auch Zytokine freisetzen (TNF-α, IL-1, IL-4, IL-6; siehe auch Tab. 4-5). Die Aktivierung von Mastzellen mit Degranulation und Freisetzung von Mediatoren führt zur anaphylaktischen Reaktion. 3. Anaphylaktische Reaktion. Hierunter versteht man die Auswirkungen einer Freisetzung von Entzündungsmediatoren (insbesondere Histamin) im Rahmen einer Überempfindlichkeitsreaktion vom Typ I. Nach Ausmaß unterscheidet man lokale (allergische Konjunktivitis, allergische Rhinitis/Sinusitis, Asthma bronchiale) und systemische anaphylaktische Reaktionen bis hin zum anaphylaktischen Schock. Histamin verursacht eine Kontraktion der glatten Muskulatur des Magen-DarmTraktes (abdominelle Krämpfe, Diarrhöen und Erbrechen), der Bronchien (Bronchokonstriktion) und eine Erschlaffung der Gefäßmuskulatur (Vasodilatation). Ein Asthma bronchiale mit Bronchokonstriktion, Schleimhautödem und vermehrter Schleimsekretion oder ein Ödem der Larynx-/Pharynx-Schleimhaut (Abb. 4-20) mit Obstruktion der oberen Luftwege kann zu hochgradiger Atemnot und Tod durch Ersticken führen. Bei systemischen anaphylaktischen Reaktionen können Patienten durch Blutdruckabfall (Vasodilatation) innerhalb weniger Minuten in einen lebensbedrohenden Zustand (anaphylaktischer Schock) kommen.

Abb. 4-20

Lokale allergische Reaktion.

a Makroskopisches Bild einer lokalen allergischen Reaktion der Nasenschleimhaut mit Ausbildung einer polypös-serösen Entzündungsreaktion: polypoide, ödematöse Schleimhauthyperplasie. b Histologisches Bild einer allergischen Reaktion mit einem ausgeprägten Ödem zwischen den Gefäßen. Dazu reichlich Entzündungszellen im Exsudat (nicht selten eosinophile Granulozyten). Die IgE-vermittelten Reaktionen spielen physiologischerweise eine wesentliche Rolle beim Schutz des Wirtes vor parasitären Infektionen. Sie dienen auch der Antigenbeseitigung, z.B. von Würmern, und über die Auslösung einer lokalen Hypersekretion und Hyperperistaltik sowie lokale Reflexe (Niesen und Husten) zur

Entfernung von Antigenen aus Hohlsystemen (z.B. aus dem Respirationstrakt). Dadurch soll die Entzündungsreaktion durch Hemmung der Antigenverbreitung im Gewebe minimiert werden.

Typ-II-Reaktion und Subtypen Bei den Typ-II-Hypersensivitätsreaktionen werden Antikörper gegen normale oder veränderte zelluläre Membranantigenkomponenten oder gegen extrazelluläre Matrixproteine gebildet. Es werden drei Reaktionen unterschieden: ■

antikörpervermittelte, mit Komplementaktivierung einhergehende Zytotoxizität



antikörpervermittelte zelluläre Zytotoxizität



antikörpervermittelte Funktionsstörung.

Diese Einteilung ist heute noch teilweise in Gebrauch. Doch sind inzwischen verschiedene Varianten und Sonderformen identifiziert worden.

Abb. 4-21 Antikörpervermittelte zytotoxische Reaktion mit kompletter bzw. inkompletter Komplementaktivierung.

Weitere Erläuterungen siehe Text.

Antikörpervermittelte, mit Komplementaktivierung einhergehende zytotoxische Reaktionen Die Abb. 4-21 zeigt schematisch antikörpervermittelte, mit Komplementaktivierung einhergehende zytotoxische Reaktionen. Normale, veränderte oder als Fremdantigene erkannte Oberflächenmoleküle werden mit Antikörpern besetzt. Die Aktivierung der Komplementkomponenten C5–9 (komplette

Komplementaktivierung) führt zur Ausbildung des sog. MAC (membrane attack complex) und zur osmotischen Lyse der Zelle. Wenn nur die Komplementkomponenten C1–3 vorhanden sind, kommt es zu einer Aktivierung von C3b (inkomplette Komplementaktivierung), wodurch die Zellen opsoniert und durch Monozyten/Makrophagen phagozytierbar werden. Relevante Krankheiten und Mechanismen antikörpervermittelter und mit Komplementaktivierung einhergehender zytotoxischer Reaktionen finden sich in Tab. 4-7.

Antikörpervermittelte zelluläre Zytotoxizität (antibody dependent cellular cytotoxicity = ADCC) Antikörpervermittelte zelluläre zytotoxische Reaktionen sind in Geweben zumeist autologer Natur, da sich die Antikörper überwiegend an körpereigene Strukturen, vor allem an Zelloberflächen, binden. „Effektorzellen“, wie Makrophagen, neutrophile Granulozyten und NK-Zellen, lagern sich über die Fc-Fragmente der Antikörper an und können über eine Freisetzung von zytotoxischen Substanzen (Perforin, Granzym) zu einer Zellschädigung führen. Schematisch ist dies in Abb. 422 dargestellt. Die Bedeutung der ADCC-Reaktionen liegt in der Tumor-, Transplantations- und Infektionsimmunologie sowie im Bereich von Autoimmunerkrankungen (Beispiele: Hashimoto-Thyreoiditis, chronischatrophische Gastritis, hyperakute Transplantatabstoßung).

Tab. 4-7 Krankheiten, die durch antikörpervermittelte und mit Komplementaktivierung einhergehende zytotoxische Reaktionen verursacht werden. .

Antikörpervermittelte Funktionsstörung Antikörper können aktive Gruppen von Proteinen binden und auf diese Weise blockieren. Wichtigstes Beispiel ist die Hemmung des Intrinsic-Faktors im Magen. Durch fehlende Resorption von Vitamin B12 entwickelt sich die megaloblastäre (perniziöse) Anämie (siehe Kap. 21.2.1). Weiterhin ist die Hemmkörperhämophilie auf dem Boden von Antikörpern gegen Faktor VIII oder IX zu erwähnen und schließlich die Insulinresistenz, bei der Antikörper gegen Insulin die Insulinwirkung unterbinden.

Abb. 4-22 Antikörpervermittelte zelluläre Zytotoxizität (ADCC).

Antigene auf der Zielzelle binden spezifische Antikörper (über die variable Region). NK-Zellen besitzen Fc-Rezeptoren (CD16) und binden darüber an die Antikörper-Antigen-Zielzellen-Komplexe. Dadurch werden NK-Zellen aktiviert, wodurch zytotoxische Granula mit der Oberfläche der NK-Zellen verschmelzen und zytotoxische Moleküle (z.B. Granzyme, Perforin) freigesetzt werden. Dies führt zum raschen Zelltod der Zielzellen. Antikörper können auch gegen Rezeptoren an Zellmembranen gerichtet sein und sie besetzen. Beim Acetylcholinrezeptor hat dies eine Blockierung der Übertragung neuraler Signale zur Folge. Die evtl. dadurch induzierte Elimination der antigenbesetzten Rezeptoren ist als zytotoxische Reaktion zu werten. Dies ist auch der Pathomechanismus bei der Myasthenia gravis (siehe Kap. 10.3.7). Umgekehrt verhält es sich z.B. bei der Antikörperbindung an den TSH-Rezeptor der Thyreozyten, da hier die TSH-Wirkung imitiert wird und eine Hyperthyreose (Morbus Basedow) entsteht. In einigen Fällen wird das endogene Asthma bronchiale offenbar durch Antikörper gegen Rezeptoren der glatten Bronchialmuskulatur ausgelöst.

Typ-III-Reaktion: Immunkomplexreaktionen Definitionsgemäß wird als Immunkomplex die Verbindung zwischen Antikörper und löslichem Antigen bezeichnet. Immunkomplexe lagern sich in Geweben, an Grenzflächen (Körperhöhlen) oder in Gefäßwänden ab und führen dort zu einer Komplementaktivierung und akuten Entzündung durch Akkumulation und

Aktivierung von Granulozyten. Daraus resultieren Immunkomplexerkrankungen. Folgenschwer sind sie nicht nur dann, wenn Antikörper und Antigene annähernd im gleichen Verhältnis, dem Äquivalenzbereich, gebunden sind. Immunkomplexreaktionen und -krankheiten können sich im gesamten Organismus abspielen.

Pathomechanismen Treffen Antikörpermoleküle in Geweben auf Antigene, so gehen sie mit ihnen eine Bindung ein und bilden Immunkomplexe. Es kommt dadurch zur Aktivierung der Komplement- und Gerinnungskaskade sowie zur Thrombozytenaggregation. Die Komplementaktivierung führt über eine Chemoattraktion zum Einwandern von Granulozyten und zur Mastzelldegranulation. Dadurch werden lysosomale Enzyme und Radikale freigesetzt, die zu einer Nekrose des Gewebes führen können. Die Freisetzung von Histamin und die Aktivierung von Phospholipasen führt zur Bildung von Leukotrienen (C4, D4, E4) sowie von PAF (plateled activating factor). Über die Komplementaktivierung werden Anaphylatoxine (C3a und C5a) freigesetzt. Diese Mediatoren führen zu einer Vasodilatation und zu erhöhter vaskulärer Permeabilität. Folgen sind Ödem und Störung der Mikrozirkulation (Hypoxie). Die Aktivierung der Gerinnungskaskade und der Thrombozytenaggregation verursacht hyaline Mikrothromben mit umschriebenen Ischämien. Die Entzündungsreaktion entwickelt sich vier bis acht Stunden nach Bildung der Immunkomplexe. Sie ist schematisch am Beispiel der allergischen Alveolitis in der Abb. 4-23 wiedergegeben.

Abb. 4-23 Immunkomplexreaktion am Beispiel der allergischen Alveolitis.

Die Antigene gelangen über die Alveolen in das Interstitium und werden hier von den über die Kapillaren antransportierten Antikörpern in Form von Immunkomplexen gebunden. Diese führen zu einer Komplementaktivierung mit Mastzelldegranulierung und einer Chemotaxis mit Anlockung von neutrophilen Granulozyten. Die Folgen sind eine Vasodilatation und Permeabilitätsstörung mit Ausbildung eines Ödems sowie, über die Freisetzung von lysosomalen Enzymen, die Ausbildung einer Nekrose. Weitere Erläuterungen siehe Text. Einige Immunkomplexerkrankungen sind in Tab. 4-8 aufgeführt.

Tab. 4-8 Immunkomplexerkrankungen.

Typ-IV-Reaktionen: zelluläre Immunreaktionen Zelluläre zytotoxische Immunreaktion Für die zelluläre Zytotoxizität sind CD8+-zytotoxische T-Lymphozyten verantwortlich (Tc-Lymphozyten). Ihre Aufgabe ist die Zerstörung von Zielzellen (Tab. 4-9). Für die Erkennung der Zielzellen sind die Antigenpräsentation auf HLA-Klasse-IMolekülen auf den Zielzellen sowie die Bindung dieser Antigene an den T-ZellRezeptor der zytotoxischen T-Zellen verantwortlich. Die Destruktion der Zielzelle beruht auf der Freisetzung von zytotoxischen Molekülen an der Kontaktstelle (Perforine, Granzym), welche die Zellmembran zerstören. Dies führt zur Permeabilitätssteigerung der Zellmembran und schließlich zum Tod der Zielzellen (siehe Abb. 4-13).

Tab. 4-9 T-Zell-vermittelte Zytotoxizität. Darüber hinaus existiert ein zweiter Mechanismus. Auf der Oberfläche der zytotoxischen Zellen wird Fas-Ligand exprimiert, der an das Fas-Molekül an der Zielzelle bindet. Diese Interaktion bewirkt eine Signaltransduktion in der Zielzelle, an dessen Ende der Tod der Zielzelle im Sinne der Apoptose (programmierter Zelltod) steht. Durch den Untergang der Zielzelle ist der für die Immunabwehr entscheidende Beitrag der Lymphozyten geleistet. Die Beseitigung der zerstörten Zielzelle erfolgt durch Makrophagen.

Zellvermittelte verzögerte Immunreaktion Die Reaktion vom verzögerten Typ entsteht als Antwort des Wirtes auf bestimmte Fremdantigene (typisches Beispiel: Mycobacterium tuberculosis). CD4+Lymphozyten erkennen das Fremdantigen in Form von prozessierten Peptiden auf der Oberfläche von professionellen antigenpräsentierenden Zellen (z.B. Monozyten, Makrophagen, dendritische Zellen, Langerhans-Zellen). Die Antigene werden an

HLA-Klasse-II-Moleküle gebunden und den CD4+-T-Zellen präsentiert, welche sie mit den spezifischen T-Zell-Rezeptoren erkennen. Dadurch entstehen sensibilisierte CD4+-TH1-Zellen, die oft über sehr lange Zeit im Körper persistieren können. Diese Zellen werden durch den Antigenkontakt aktiviert, sie transformieren, proliferieren und produzieren Zytokine, die im Wesentlichen für die Reaktion vom verzögerten Typ verantwortlich sind (Abb. 4-24; vgl. Kap. 4.2.2). Vor allem werden Interferon-γ, IL-12, IL-2, TNF-α und -β (Lymphotoxin) produziert (siehe Tab. 4-5). Für die Reaktion vom verzögerten Typ ist es bedeutsam, dass IL-12 zur Aktivierung und Stimulation von zytotoxischen T-Zellen und NK-Zellen, Interferon-γ zu einer erhöhten Antigenpräsentation über HLA-Klasse-II-Moleküle führen und dass weiterhin durch Interferon-γ Makrophagen aktiviert werden und somit aktiv am Prozess der Antigenelimination teilnehmen. IL-2 führt zur Proliferation und Stimulation der T-Zellen, TNF führt zu einer Anlockung weiterer Lymphozyten und Makrophagen durch vermehrte Expression von Selektinen auf Endothelzellen. Wird dieser Prozess nicht gestoppt, entstehen durch die Freisetzung gewebsschädigender Enzyme Nekrosen. Durch die Aktivierung von Fibroblasten kommt es dann zur Vernarbung. Das typische histologische Bild einer Reaktion vom verzögerten Typ ist das Granulom. Zahlreiche Krankheiten, die mit Granulombildung einhergehen, entsprechen somit einer Typ-IV-Reaktion. Zu nennen sind die Tuberkulose, die Sarkoidose, verschiedene Pilzerkrankungen und die Kontaktdermatitis.

Abb. 4-24 Zellvermittelte verzögerte Immunreaktion (klassische Typ-IV-Reaktion nach Gell und Coombs).

Die über den HLA-II-Antigen-Komplex aktivierten CD4+-T-Lymphozyten aktivieren Makrophagen. Die Folge ist eine histiozytäre Entzündungsreaktion, deren Ziel die Beseitigung des Antigens im Gewebe ist. APC = antigenpräsentierende Zelle.

4.3.2 Transplantatabstoßung

Abstoßungsreaktionen beruhen auf komplexen Immunreaktionen gegen körperfremde Antigene des Transplantats. Für die Transplantatabstoßung sind sowohl zellvermittelte als auch antikörpervermittelte Immunreaktionen bedeutsam (siehe auch Kap. 50.2).

4.3.3 Prophylaxe und Therapie pathogener Immunreaktionen Pathogene Immunreaktionen können durch Eingriff an verschiedenen Stellen der Reaktionskette beeinflusst werden. Die beste Lösung stellen derzeit antigenorientierte Therapien dar, bei denen die den Krankheitsprozess verursachende Immunreaktion unterdrückt wird, regulative und protektive Funktionen aber erhalten bleiben. Gezielte selektive Maßnahmen sind den globalen überlegen und, wo immer möglich, zu bevorzugen.

Antigenkarenz Hierunter versteht man die Beseitigung des Antigens oder das Vermeiden des Antigenkontakts. Die Antigenkarenz führt vor allem bei allergischen Erkrankungen und exogen induzierten Hypersensitivitätsreaktionen zur Verhütung der Erkrankung. Am besten gelingt dies beim Asthma bronchiale, beim Ekzem oder bei der Zöliakie.

Umstimmung durch Hyposensibilisierung Unter Hypo(oder auch De) sensibilisierung versteht man den Versuch, durch wiederholte und gesteigerte Gaben von Antigenen eine Umstimmung der Immunantwort von IgE zu IgG zu erzielen. Sofern nach antigenem Stimulus keine IgE-Antikörper mehr produziert werden, bleibt auch die Typ-I-Reaktion aus. Probleme der Hyposensibilisierung entstehen vor allem dadurch, dass bei vielen Patienten eine Allergie gegen zahlreiche Antigene besteht. Je komplexer die Allergiesituation des Patienten ist, desto schwieriger ist sie klinisch-immunologisch zu verstehen und zu korrigieren. (Näheres siehe Lehrbücher der Inneren Medizin oder der Allergologie.)

Antigenblockierung Klassisches Beispiel ist die Prophylaxe des Morbus haemolyticus neonatorum (Erythroblastosis fetalis). Die Basis der Erkrankung ist eine Immunisierung der Rhesus-negativen Mutter durch Rhesus-positive fetale Erythrozyten während der Schwangerschaft oder im Rahmen der Geburt. Dabei werden zunächst IgMAntikörper produziert, die die Plazenta nicht passieren können. Erst bei einer Reexposition kommt es zur Bildung von IgG-Antikörpern, die die Plazenta passieren. Die Folge ist eine schwere Erkrankung des Fetus mit intrauteriner Anämie, Hämolyse, Ikterus und generalisierten Ödemen. Eine ernst zu nehmende Komplikation ist der

Kernikterus (durch unkonjugiertes Bilirubin), der zu einer Schädigung des zentralen Nervensystems führen kann. Erhält die Mutter unmittelbar nach der Geburt des ersten Kindes Anti-D-Antikörper, sodass kindliche Erythrozyten schnell durch Antigen-Antikörper-Komplexe oder durch antikörpervermittelte Zytotoxizität beseitigt werden und eine nennenswerte eigene (mütterliche) Immunantwort gegen Rhesus-positive Erythrozyten nicht induziert wird, können auch nachfolgende Schwangerschaften komplikationslos verlaufen.

Immunsuppression Hierunter wird jede globale Hemmung der Immunzellaktivität mit Pharmaka verstanden. In der Tab. 4-10 werden wichtige medikamentöse Substanzgruppen zusammengefasst und die wesentlichen Wirkprinzipien dargestellt. Wichtigstes Ziel der Immunsuppression ist es, die Transplantatabstoßungsreaktion auf ein Minimum zu reduzieren und das Überleben und die Funktion des Transplantates zu sichern unter Erhaltung einer ausreichenden Immunkompetenz. Folgende Probleme können durch die Immunsuppression entstehen: ■ Überschießende Immunsuppression mit dem Risiko von Infektionen, z.B. durch opportunistische Erreger oder Reaktivierung von bzw. Neuinfektion mit Epstein-Barr-Virus. ■ Eine nicht ausreichende Immunsuppression mit Entwicklung einer Abstoßungsreaktion und Verlust des Transplantates.

Tab. 4-10 Immunmodulation/-suppression.

4.3.4 Autoimmunität – Autoaggression Autoimmunität umschreibt den Zustand der Immunreaktivität gegenüber körpereigenen Strukturen, die dadurch Ziele der immunologischen Aggression werden. Damit bildet sie das Gegenstück zur Autoimmuntoleranz, die auf der immunologischen Reaktionslosigkeit gegenüber eigenen Strukturen beruht und die Grundvoraussetzung eines funktionierenden Immunsystems darstellt.

Grundlagen und Mechanismen der Toleranz Grundsätzlich ist der Organismus jederzeit in der Lage, auch gegen körpereigene Antigene gerichtete Lymphozytenklone hervorzubringen, und zwar mittels zufälliger Rekombination von Immunglobulin- und T-Zell-Rezeptorgenen (Tab. 4-11). Ein aktiver Selektionsmechanismus führt dazu, dass unter normalen Bedingungen nur die Klone überleben, die eine Spezifität gegen „fremd“ aufweisen.

Tab. 4-11

Mechanismen der Toleranzentwicklung.

1. Klonale Deletion: Hierunter wird der Verlust (= Deletion) von selbst reagierenden T-/B-ZellKlonen während der Entwicklung/Reifung verstanden. Im Thymus werden T-Zellen mit hochaffinen T-Zell-Rezeptoren gegen Selbst-Antigene in Zusammenhang mit HLA-Klasse I/II negativselektioniert; d.h., sie erhalten keine Wachstums-Überlebenssignale und sterben durch Apoptose 2. Klonale Anergie: Die meisten selbstreaktiven T-Zellen sterben im Thymus durch Apoptose. Einige „entkommen“ und gelangen in die Peripherie, wo sie Kontakt mit dem „Selbst-Antigen“ erhalten. Sofern die autoreaktiven T-Zellen, die über HLAAntigen-T-Zell-Rezeptor am Ort des Antigens (z.B. Epithelzelle) binden, kein kostimulierendes Signal erhalten (und dieses fehlt auf den meisten Körperzellen im Gegensatz zu den antigenpräsentierenden Zellen), werden sie anerg, d.h., sie überleben, sind jedoch inaktiv gegenüber dem Antigenstimulus auch nach Reexposition (unter Kostimulation) 3. Suppression von T- und B-Zellen: Es gibt humorale und zelluläre Faktoren, die zu einer Suppression von T-/BZellen führen können. Sowohl die T- als auch die B-Zell-Proliferation kann z.B. durch IL-10 gehemmt werden. Sog. T-Suppressor-Zellen können autoreaktive T-Zellen, aber auch B-Zellen sup- primieren. Eine Suppression von B-Zellen kann z.B. auch über idiotypische/antiidiotypische Netzwerke erfolgen

Grundregeln der Autoaggression ■ Autoaggressionskrankheiten können sich gegen jedes Organ, jede Zelle und gegen jede antigene Struktur richten. Man unterscheidet Immunreaktionen, die sich gegen ein bestimmtes Zell-/Organsystem richten, von systemischen Reaktionen. ■ Der pathogene Prozess läuft so lange monoton ab, wie (Auto-)Antigen vorhanden ist bzw. bis therapiert wird. Daraus ergibt sich der häufig nachweisbare chronisch-progrediente Verlauf. Insgesamt zeichnen sich Autoimmunkrankheiten oder Autoaggressionsprozesse durch humorale (z.B. gegen Thrombozyten oder Erythrozyten), zelluläre (z.B. Kollagenosen) oder beide Reaktionen aus. Klinisch sind sie charakterisiert durch: ■

Vorhandensein von Autoimmunphänomenen

■ Zerstörung und Funktionsverlust des Organs bei organbezogenen Autoimmunerkrankungen oder systemische Krankheitsmanifestationen.

Mechanismen von Autoimmunerkrankungen und Verlust der Selbsttoleranz Autoimmmunisierung und Autoaggression haben die Begegnung von Autoantigen und Immunsystem zur Vorbedingung. Man kennt genetisch bedingte, infektiöse und toxische Ursachen für Autoimmunisierungen. Die wichtigsten Mechanismen von Autoimmunerkrankungen sind: ■ T-Zell-Toleranz durch Modifikation von Selbst-Antigenen. Sie wird z.B. nach Medikamentenexposition, aber auch durch Mikroorganismen überwunden. Die Selbst-Antigene werden dabei z.B. durch Haptene oder Moleküle von Mikroorganismen modifiziert; dadurch können T-Zellen aktiviert werden. Während normalerweise „Warnsignale“ und damit auf Epithelzellen kostimulierende Signale fehlen, können sie im Rahmen einer Entzündungsreaktion (z.B. durch Erreger verursacht) induziert werden. Unter diesen Bedingungen wird die Signalkaskade aktiviert und die gewebespezifische zytotoxische Antwort induziert. ■ Autoimmunität als Folge einer molekularen Mimikry. Als Antwort auf ein infektiöses Agens werden Antikörper oder T-Zellen gebildet, die eine Kreuzreaktion mit Selbst-Antigenen aufweisen. Die Immunantwort führt dann nicht nur zur Beseitigung der Erreger, sondern hat auch eine autoaggressive Komponente. Z.B. findet sich beim rheumatischen Fieber eine Kreuzreaktivität zwischen Streptokokken-Antigenen der Gruppe A und körpereigenen Antigenen in Gelenken und im Herzen. Bei Diabetes mellitus Typ I wird eine Kreuzreaktivität von

Autoantikörpern und autoreaktiven T-Zellen gegen Virusantigene und Glutamatdecarboxylase der Inselzellen beobachtet. Monate oder Jahre nach der Infektion entsteht durch die schleichende Zerstörung der Inselzellen ein Diabetes mellitus. Der Zusammenhang mit einer genetischen Disposition wird bei verschiedenen Infektionen und nachfolgenden Autoimmunerkrankungen offensichtlich. So kennt man die Beziehung zwischen Trägern eines bestimmten HLA-Locus und der Entstehung eines Reiter-Syndroms (urethro-konjunktivo-synoviales Syndrom) nach Infektion mit Chlamydia trachomatis. Der gleiche Genlocus ist assoziiert mit einer reaktiven Arthritis nach Infektion mit Shigellen, Salmonellen, Yersinien und Helicobacter pylori. Die chronische Lyme-Arthritis nach Infektion mit Borrelia burgdorferi wird in Assoziation mit HLA-DR2 und HLA-DR4 beobachtet. ■ Autoimmunität durch Aktivierung von Lymphozyten. Die Selbsttoleranz kann auch durchbrochen werden durch eine polyklonale Aktivierung von Lymphozyten. Diese Aktivierung kann sowohl B-Zellen als auch T-Zellen betreffen. Bei der Aktivierung der B-Zellen wird eine effiziente T-Zell-Hilfe nicht benötigt. Zur Aktivierung der T-Zellen bedarf es keiner professionellen antigenpräsentierenden Zellen mit kostimulierenden Signalen. Die polyklonale B-Zell-Aktivierung (z.B. durch Epstein-Barr-Virus-Infektion der B-Zellen) kann zu autoreaktiven B-Zellen (normalerweise supprimiert) mit Bildung von Autoantikörpern führen. Die polyklonale T-Zell-Aktivierung kann durch bakterielle/virale Superantigene erfolgen, die an alle T-Zellen über den T-Zell-Rezeptor (nicht jedoch an die HLAbindende Domäne) binden und die T-Zellen polyklonal, d.h. antigenunabhängig, aktivieren. Es kommt wiederum zur Bildung von autoaggressiven T-Zellen, die zur Entwicklung einer Autoimmunkrankheit führen. ■ Autoimmunität bei gestörter Relation von T-Helfer-/T-Suppressor-Zellen bzw. Störung ihrer Funktion. Ein „Zuviel“ an T-Zell-Hilfe führt zu einer überschießenden B-Zell-Aktivierung mit Autoantikörperproduktion. Ein „Zuwenig“ an T-Zell-Suppression führt ebenfalls zu Deregulation und Autoantikörperproduktion. Eine Kombination beider Mechanismen findet sich z.B. im Rahmen des systemischen Lupus erythematodes. ■ Autoimmunität bei Präsentation von „okkulten“ Antigenen. Diese findet sich in immunologisch privilegierten Stellen des Organismus. Bestimmte Antigene führen hier weder zur Toleranz noch zur Aktivierung, wahrscheinlich weil das Organsystem für das Immunsystem normalerweise durch anatomische Barrieren unzugänglich ist. Z.B. kommt es zu einer Expression bestimmter Antigene nach Abschluss der Fetalperiode; zu diesem Zeitpunkt werden bestimmte Zellen oder Gewebsstrukturen (z.B. ZNS, Hoden) vom zellulären Immunsystem (z.B. im

Normalzustand durch eine Basalmembran) getrennt. Am Beispiel der sympathischen (oder auch traumatischen) Ophthalmie wird dies veranschaulicht: Antigene des ZNS sind vom peripheren Immunsystem durch die Blut-Hirn-Schranke „entwicklungsbedingt“ abgeschirmt. Deshalb rufen Antigene des ZNS keine reguläre T-Zell-Toleranz oder Anergie hervor. Solange das ZNS und die Blut-HirnSchranke intakt sind, verhält sich das Immunsystem ignorant. Nach Verletzung oder auch Infektion eines Auges kommt es zur Freisetzung von bisher „okkulten“ Antigenen, die nun als „Fremd-Antigen“ erkannt werden und Immunzellen zu aktivieren vermögen. Dies kann dann auch zur Aggression gegen das gesunde Auge führen. Weitere Beispiele sind die multiple Sklerose und die traumatische Orchitis.

Organlokalisierte Erkrankungen Auf einzelne Organe beschränkte Autoimmunopathien gibt es in zahlreichen Organen (Haut, Leber, Muskulatur, Nervensystem, Darm, Blut, Endokrinium). Daher sind die entsprechenden Erkrankungen gut definierbar und gegeneinander abgegrenzt. In allen Fällen finden sich typische Autoantikörper, die meist gegen das erkrankte Organ gerichtet sind (siehe dort).

Systemische Erkrankungen Systemische Autoimmunopathien zeigen meist keine strikte Organlokalisierung (siehe Kap. 47.1). Verantwortlicher Pathomechanismus ist ganz überwiegend die Immunkomplexreaktion. Da sie vor allem im Kapillarbereich lokalisiert ist, imponiert das Krankheitsbild als ein ubiquitärer Entzündungsprozess. Die hierbei nachweisbaren Autoantikörper sind gegen ubiquitär vorkommende Strukturantigene gerichtet, beispielsweise bei systemischem Lupus erythematodes gegen doppelsträngige DNA.

4.3.5 Tumorabwehr Eine der zentralen Aufgaben der Immunologie und speziell der Immuntherapie in der Onkologie ist die Kontrolle der Immunantwort gegen Tumoren. Dabei ist es wichtig, die möglichen Ressourcen des Immunsystems zu mobilisieren. Eine onkologische Immuntherapie wird nur dann Erfolg haben, wenn es gelingt, die Prozesse der Tumorentstehung sowie die Mechanismen, wie sich Tumorzellen der Überwachung entziehen, einerseits, und die gezielte Induktion des Immunsystems andererseits zu entschlüsseln. Immunmodulierende Maßnahmen werden wahrscheinlich nur bei geringer Tumorbelastung (also im Frühstadium oder nach entsprechender chirurgischer oder zytoreduktiver Therapie) erfolgreich einsetzbar sein. Im Idealfall müsste mit Hilfe einer kontrollierten Immunstimulation ein Tumorwachstum verhindert (siehe Kap. 6.10) bzw. müssten kleine Tumorresiduen (sog. „minimal residual disease“) beseitigt werden können.

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FRAGEN 1 Nennen Sie die humoralen und zellulären Komponenten des spezifischen Immunsystems. 2 Welche Funktionen haben T- und B-Lymphozyten in der Immunabwehr? 3 Beschreiben Sie Verteilungsmuster und Aufgaben der Histokompatibilitätsantigene. 4 Erklären Sie die grundlegenden Mechanismen Immunglobulin (IgE-, IgG-, IgM-)-vermittelter Überempfindlichkeitsreaktionen. 5 Erklären Sie an einem Beispiel das Prinzip der zellvermittelten verzögerten Immunreaktion. 6 Welche Mechanismen führen zu einer Transplantatabstoßung? 7 Definieren Sie die Graft-versus-Host-Reaktion (GVH-Reaktion). 8 Beschreiben Sie die derzeitig vermuteten Mechanismen von Autoimmunerkrankungen.

5

Genetische Mechanismen von Krankheiten TH. STALLMACH D. KOTZOT 5.1 Struktur des Genoms 147 5.2 Störungen des Genoms 148 5.2.1

Genom und Umwelt 148

5.2.2

Mutation von Genen 148

5.2.3 Instabilität repetitiver Sequenzen (Polymorphismen und pathogene Trinukleotid-Expansion) 149 5.2.4

Inaktivierung des X-Chromosoms und Prägung von Genen auf Autosomen 150

5.2.5

Somatische und Keimzellmosaike 150

5.2.6

Nummerische und strukturelle chromosomale Aberration 151

5.3 Vererbung von Merkmalen 151 5.3.1

Autosomal-dominanter Erbgang 151

5.3.2

Autosomal-rezessiver Erbgang 156

5.3.3

X-chromosomale Vererbung 161

5.3.4

Extrachromosomale (mitochondriale) Vererbung 163

5.4 Chromosomale Aberrationen 163 5.4.1

Monosomie und Trisomie 163

5.4.2

Uniparentale Disomie (UPD) 164

5.4.3

Nummerische Aberration der Geschlechtschromosomen 164

5.4.4

Störungen der Ploidie 166

Literatur 166 Fragen 167

Zur Orientierung

Bei den meisten Krankheiten hat die genetische Konstitution des Individuums einen Einfluss auf das Erkrankungsrisiko oder den Schweregrad des Verlaufs. Dies ist die Auswirkung jeweils einer größeren Zahl von „Suszeptibilitäts-Genen“ (Suszeptibilität = Empfänglichkeit). Ist durch die genetische Konstitution ein praktisch hundertprozentiges Erkrankungsrisiko gegeben, spricht man von „genetischer Krankheit“. Der Zeitpunkt der Manifestation des Leidens kann früh oder spät im Leben sein und durch äußere Einflüsse modifiziert werden. Bisher sind beim Menschen rund 4000 Erkrankungen bekannt, die auf dem Defekt jeweils nur eines Gens beruhen (monogene Erbleiden, „single gene disease“) und die damit den Regeln der Mendel-Vererbungslehre folgen. Daneben kennt man seit einiger Zeit weitere krankheitsverursachende Veränderungen des Genoms. Es handelt sich um den Einfluss der „Instabilität repetitiver Sequenzen“ und die Auswirkungen einer fehlerhaften Prägung einzelner Gene. Störungen im Genom bilden den Ausgangspunkt vieler Fehlbildungen und ererbter Stoffwechselkrankheiten. Eine familiäre genetische Konstitution kann auch den Ausgangspunkt von Tumorerkrankungen darstellen (z.B. beim Retinoblastom, siehe Kap. 6.3.2). Wenn der Startpunkt einer Neoplasie durch äußere Einflüsse (z.B. radioaktive Strahlen) gegeben ist, sind im weiteren Ablauf der Pathogenese bis hin zum klinisch erkennbaren Tumor häufig Kaskaden von Änderungen im Genom der Zelle zu beobachten.

5.1

Struktur des Genoms

Die genetische Information besteht bei den meisten Lebewesen aus DNA, in der vier verschiedene Nukleotide, welche die Bausteine Adenin, Cytosin, Guanin oder Thymin enthalten, einen Buchstabencode bilden. Jeder Zellkern des Menschen enthält 2 × 23 fadenförmige DNA-Riesenmoleküle, die insgesamt ca. 3 × 109 Nukleotidpaare besitzen. Dieses genetische Material bildet zusammen mit speziellen Proteinen (Histone) während der Zellteilung die Chromosomen und ermöglicht eine gleichmäßige Aufteilung der genetischen Information auf die Tochterzellen. Die während der Metaphase der Zellteilung gut erkennbaren Chromosomen zeigen nach einer Giemsa-Färbung charakteristische Banden (Abb. 5-1), die zur Beschreibung von Genorten und zur Angabe der Lokalisation von Krankheitsgenen benutzt werden. Gene sind DNA-Abschnitte des Gesamtgenoms, welche die Strukturinformation für ein oder – im Falle einer unterschiedlichen Kombination der Exons – für mehrere Proteine der Zelle enthalten. Mit Ausnahme der Gene, die für die Bildung von ribosomaler RNA und Transfer-RNA verantwortlich sind, wird die Basensequenz des Gens im Kern zunächst auf mobile Messenger(Boten)-RNA-Moleküle (mRNA) kopiert (Transkription). Im Zytoplasma der Zelle, wo sich die mRNA an Ribosomen anlagert, erfolgt die Koppelung von Aminosäuren zu Polypeptiden (Translation) entsprechend der mittels der mRNA übertragenen genetischen Information. Nur ein geringer Teil der Säuger-DNA enthält genetische Informationen. Die ca. 30 000 Gene des Menschen machen weniger als 5% der Gesamt-DNA des Zellkerns aus. Vergleicht man die Basensequenz verschiedener menschlicher Individuen, so ist im Mittel nur jede 1000. Base unterschiedlich. Diese

Sequenzpolymorphismen sind jedoch nicht gleichmäßig über das Genom verteilt, sondern treten mit tendenzieller Häufung in den nichtcodierenden Abschnitten auf. Beim Vergleich der DNA-Sequenz von Menschen mit derjenigen von Primaten ergibt sich im Schnitt nur bei ca. jeder 100. Base ein Unterschied. Die inzwischen erfolgte Sequenzierung des gesamten menschlichen Genoms hat die Grundlage für eine umfassende molekulare Diagnostik genetischer Krankheiten verbessert und wird zum Verständnis für Krankheiten mit komplexer Pathogenese beitragen.

5.2

Störungen des Genoms

Im Genom einer Zelle kann es durch Verlust oder Hinzutreten ganzer Chromosomen zur Änderung der Gendosis von Tausenden von Genen gleichzeitig kommen. Solchen Chromosomenanomalien stehen die Mutationen einzelner Gene gegenüber, bei denen oft nur ein einziges Nukleotid in einem Codon ausgetauscht wird. Negative Auswirkungen von Genomveränderungen auf die Leistungsfähigkeit und insbesondere auch auf die Fortpflanzungsfähigkeit betroffener Individuen unterdrücken die Weitergabe von Chromosomenanomalien und Mutationen (negative Selektion). Bei einigen autosomalrezessiv vererbten Krankheiten ist jedoch jedes 20. Individuum (z.B. zystische Fibrose) oder fast jedes 10. Individuum (z.B. Hämochromatose) Träger der Mutation. Die erstaunliche Häufigkeit solcher „Krankheits“-Gene erklärt sich möglicherweise daraus, dass die Mutation für die heterozygoten Träger in bestimmten Zeiten und Situationen von Vorteil war. So kann man sich vorstellen, dass der auf der Jagd von einem Bären angefallene Neandertaler rascher wieder auf den Beinen war, wenn er den erlittenen Blutverlust durch die im Körper vermehrt angelegten Eisendepots schneller ausgleichen konnte (= Heterozygoten-Vorteil bei Hämochromatose, siehe Kap. 32.10.1). Die negative Selektion gegen das Gen ist minimal, da selbst homozygote Genträger meist erst nach erfolgreicher Fortpflanzung an den Auswirkungen vermehrter Eisenablagerung im Organismus erkranken.

Abb. 5.1

X-Chromosom in der Metaphase.

Chromosomen haben einen kurzen (p = petit) und einen langen (q) Arm, die zusammen je eine Chromatide bilden. In der Metaphase werden die beiden Chromatiden durch das Zentromer zusammengehalten. Giemsagefärbte Metaphasen (rechts) zeigen ein für jedes Chromosom charakteristisches Bandenmuster, mit dessen Hilfe Genorte präzise bezeichnet werden können (links).

5.2.1 Genom und Umwelt Die Wahrscheinlichkeit, dass das Genom einer einzelnen Zelle durch eine Mutation verändert wird, ist außerordentlich gering. Da der menschliche Körper aber aus ca. 1014

Zellen besteht, ist in jedem Organismus doch eine hohe Zahl von Mutationen anzutreffen, wobei der Klon der mutierten Zellen umso größer ist, je früher die Mutation stattfand und je höher die Vermehrungsrate der betroffenen Zelle ist. Manche Mutationen führen zum Zelltod, wodurch die Mutation vor der Weitergabe an die nächste Zellgeneration eliminiert wird. Manche Mutationen führen zu unkontrolliertem Zellwachstum; viele Tumoren beruhen somit auf somatischen Mutationen. Findet sich die Mutation auch in den Keimzellen, kann sie vererbt werden. Die meisten Mutationen entstehen während der Zellteilung durch Fehler bei der DNA-Replikation und Reparatur. Bei Frauen schätzt man die Zahl der Teilungen von der Zygote bis zur reifen Eizelle auf 24, bei Männern sind von der Zygote bis zu den Spermien fast 200 Zellteilungen nötig. Eine höhere Fehlerquote ist somit statistisch begründet, und man versteht, dass Krankheiten mit dominantem Erbgang, die auf Neumutationen beruhen, häufiger von den Vätern herrühren. Generell kann die Mutationsrate stark ansteigen durch Bestrahlung (z.B. Röntgenstrahlen) oder mutagene Chemikalien (z.B. manche Zytostatika).

5.2.2 Mutation von Genen Die einfachsten Mutationen sind die Basensubstitutionen, bei denen innerhalb des Gens ein Nukleotid ausgetauscht wurde. Nicht jede Basensubstitution verändert bei der Translation die Aminosäuresequenz des codierten Proteins, da verschieden zusammengesetzte Triplets für ein und dieselbe Aminosäure kodieren können, was als Degeneration des genetischen Codes bezeichnet wird. Mutationen, die sich im Laufe der Evolution im Genom angesammelt haben und welche die zugehörige Funktion des entsprechenden Lokus nicht verändern, werden als Polymorphismus bezeichnet. Manche Basensubstitutionen führen jedoch an einer entscheidenden Stelle des kodierten Proteins zum Einbau einer falschen Aminosäure (Missense-Mutation), derart, dass z.B. die intrazelluläre Weiterverarbeitung des Proteins oder seine Ausschleusung aus der Zelle beeinträchtigt wird (Abb. 5-2). Durch manche Basensubstitutionen werden StoppCodons gebildet. Solche als Nonsense-Mutationen bezeichnete Substitutionen terminieren die Translation, und es kommt bestenfalls zur Bildung eines verkürzten, meist aber zu einem funktionslosen Protein. Durch Deletionen gehen ein oder mehrere Nukleotide verloren, durch Insertion werden zusätzliche eingefügt. Wenn die Zahl der deletierten oder inserierten Nukleotide nicht durch 3 teilbar ist, ergibt sich eine Verschiebung des Leserasters (frame shift mutation). Ab der Mutationsstelle werden dann sämtliche Codons falsch abgelesen. Bei der häufigsten zur zystischen Fibrose führenden Mutation findet sich eine 3-Basen-Deletion, wodurch eine Aminosäure im Genprodukt wegfällt. Das Leseraster bleibt jedoch erhalten, da der Dreiertakt der Codons nicht gestört wird (in frame mutation; Abb. 5-3).

Abb. 5-2 Verschiedene Abschnitte im α1-AntitrypsinGen mit Mutationen.

a Beim Basenaustausch in Codon 217 wird Adenin in 1. Position des Triplets durch Thymin ersetzt (AAG→TAG), was für einen Kettenabbruch des Polypeptidstrangs codiert. Das durch diese sehr selten vorkommende Mutation entstandene Allel trägt die Bezeichnung „Q0“. Das bis zur Stelle des Kettenabbruchs entstehende Protein ist funktionslos und wird schnell abgebaut; bei Homozygoten findet sich kein α1Antitrypsin im Blut.

b Beim Basenaustausch im Codon 264 wird Adenin in 2. Position des Triplets durch Thymin ersetzt (GAA→GTA), was für Valin statt Glutaminsäure im Genprodukt kodiert. Dieses Allel ist in der europäischen Bevölkerung häufig und trägt die Bezeichnung „S“. Das vom S-Allel codierte Protein unterliegt einem langsameren intrazellulären Transport; der heterozygote Zustand ist biochemisch allerdings nicht erkennbar; es findet sich eine normale α1-Antitrypsin-Konzentration von 1,3 mg/ml im Blut. Bei Homozygotie für das S-Allel ist die Serumkonzentration auf 60% reduziert. c Beim Basenaustausch im Codon 342 wird Guanin durch Adenin ersetzt (GAG→AAG), was zum Einbau von Lysin anstelle von Glutaminsäure im Protein führt. Dieses häufige Z-Allel (Genfrequenz 1:25) führt zu einem intrazellulär weitgehend unlöslichen Protein und im homozygoten Zustand zur Reduktion der α1Antitrypsin-Konzentration im Blut auf weniger als 15% des Normalen.

5.2.3 Instabilität repetitiver Sequenzen (Polymorphismen und pathogene Trinukleotid-Expansion) Abb. 5-3 F-Gen mit 3-Basen-Deletion bei Codon 508.

Bei der häufigsten Mutation, die zur zystischen Fibrose (ZF) führt, gehen drei Basen aus zwei verschiedenen Triplets verloren. Das Leseraster bleibt erhalten. Im Codon 507 wird ATC zu ATT verändert, was aber wegen der Degeneration des genetischen Codes keine Änderung der Aminosäure (Isoleucin) bewirkt. Bei der Synthese des Polypeptidstrangs fällt aber die dem Codon 508 (TTT) entsprechende Aminosäure Phenylalanin weg. Mutationen betreffen nicht alle Abschnitte des Genoms mit gleicher Häufigkeit. Eine besondere Anfälligkeit gegenüber Genomveränderungen besitzen DNA-Abschnitte, die aus der vielfachen Wiederholung einer Nukleotidsequenz bestehen. Bei der Zellteilung kommt es hier häufiger zu Fehlpaarungen von gegeneinander verschobenen DNASträngen. Als Folge treten Verkürzungen oder Verlängerungen dieser repetitiven Segmente auf. Solange es sich um nichtkodierende DNA handelt, ist die

Genomveränderung nicht direkt pathogen. Durch die Ansammlung von Veränderungen an solchen Stellen entstehen Unterschiede zwischen Individuen, die als sog. Sequenzpolymorphismen zu wertvollen Hilfsmitteln in der genetischen Forschung geworden sind. Auf ihnen beruhen auch klinisch-diagnostische Anwendungen, z.B. in Form der Kopplungsanalysen für die Pränataldiagnostik (siehe unten). Repetitive Trinukleotide, die innerhalb von Genen vorkommen, sind relativ stabil, solange weniger als 30 Wiederholungen vorliegen. Bei einer höheren Anzahl von Wiederholungen sind sie aber so instabil, dass sie praktisch niemals unverändert von den Eltern auf die Kinder weitervererbt werden. Ein von Generation zu Generation immer länger werdendes Segment von CAG-Wiederholungen kann zu immer früherer und schwererer Manifestation der Erkrankung führen, was als Antizipation bezeichnet wird. Diese kann auch von der elterlichen Herkunft des pathogenen Allels abhängen. Bei der Chorea Huntington (siehe Kap. 8.8.4) ist z.B. die Antizipation stärker, wenn der Vater betroffen war. Die bis zu tausend Mal hintereinander gesetzten CAG-Wiederholungen beeinflussen die Methylierung der DNA und somit die Ablesbarkeit des Gens. Der Mechanismus instabiler expandierender Trinukleotidsequenzen führt nicht zu einem eigenständigen Vererbungsmuster, sondern bildet die Grundlage für einige bisher schlecht erklärbare Modifikationen von Krankheitsphänotypen. Eine Liste von menschlichen Krankheiten, bei denen Trinukleotid-Expansion ein wesentliches Element darstellt, findet sich im Kap. 8.8 und Tab. 8-13.

5.2.4 Inaktivierung des X-Chromosoms und Prägung von Genen auf Autosomen Die Gene auf den 22 Autosomen des Menschen sind doppelt vorhanden und eine zweifache Gendosis ist somit der Normalzustand. Männliche Individuen besitzen aber nur ein X-Chromosom. Daran ist erkennbar, dass für die vielen Tausend Gene auf dem X-Chromosom die einfache Gendosis der Normalzustand ist. Weibliche Individuen „schützen“ sich vor der doppelten Gendosis durch Inaktivierung jeweils eines XChromosoms in jeder Zelle („Lyonisierung“). Diese Inaktivierung wird durch Methylierung der DNA eines X-Chromosoms in jeder einzelnen Zelle während der frühen Embryonalphase erreicht. Es ist eine relativ neue Erkenntnis, dass auch auf den meisten anderen Chromosomen einzelne Gene durch den gleichen Mechanismus inaktiviert werden. Dabei ist genau vorgeschrieben, ob diese physiologische Inaktivierung (Imprinting, Prägung) in dem vom Vater oder in dem von der Mutter ererbten Chromosom vorzunehmen ist. Gene, die diesem Vorgang unterliegen, nennt man „geprägte“ Gene. Eine genomische Prägung kann auch gewebe- oder entwicklungszeitpunktspezifisch sein. Es gibt Individuen, die von einem homologen Chromosom zwei Exemplare besitzen, die z.B. beide vom Vater geerbt wurden. Es gibt dann keine „maternal geprägten“ Gene dieses Chromosoms in ihrem Körper. Alle geprägten Gene dieses Chromosoms werden in der paternalen Expressionsform benutzt (Abb. 5-4).

5.2.5 Somatische und Keimzellmosaike Mutationen einzelner Gene können auch während Wachstum und Entwicklung eines Organismus eintreten. Solche „postzygotischen“ Mutationen führen zu einem „Mosaik“ genetisch unterschiedlicher Zelllinien. Solange eine Mutation nur in somatischen Zellen zu finden ist, wird sie nicht auf die Nachkommen vererbt. Betrifft eine Mutation auch einen Teil der Keimzellen, so ist eine Weitergabe auf die nächste Generation möglich (Abb. 5-5). Keimzellmosaike haben als Konsequenz individuelle Wiederholungsrisiken, die sich nicht in den theoretisch klaren Zahlenverhältnissen der Mendel-Vererbungslehre fassen lassen, sondern bei denen für einzelne Krankheitsbilder Erfahrungszahlen gelten. Die meisten Neumutationen von Genen scheinen beim Menschen nach der mitotischen Vermehrung der Keimzellen erst bei deren Meiose aufzutreten. Wenn dann die mutierte Keimzelle zur Bildung einer Zygote beiträgt, resultiert bei dominanten Mutationen ein Phänotyp, wobei für weitere Schwangerschaften theoretisch kein Wiederholungsrisiko bestehen sollte. Ist eine dominante Mutation aber schon während der vorausgegangenen mitotischen Teilungen von Keimzellen aufgetreten, so resultiert ein Klon mutierter Zellen. Bei Folgeschwangerschaften besteht hier ein Risiko für das nochmalige Auftreten der gleichen Erkrankung (Abb. 5-5). Da die Eltern nicht erkrankt sind, kann beim wiederholten Auftreten einer Krankheit unter ihren Kindern fälschlicherweise ein autosomal-rezessiver Erbgang angenommen werden (vgl. Abb. 5-13).

Abb. 5-4 „Imprinting“ und uniparentale Disomie.

Dargestellt sind zwei Allele eines Gens, die bei den Eltern in dem von den Großeltern ererbten Prägezustand sind. Erst in den Keimzellen erfolgt die Änderung der Prägung auf „maternal“ in allen Eizellen und „paternal“ in allen Spermien. In der Nachkommenschaft können durch Fehlverteilung von Chromosomen in einem gewissen Prozentsatz Trisomien entstehen, von denen die meisten letal sind. Manchmal kommt es zu einer „Rettung“ (rescue) dadurch, dass eines der überzähligen Chromosomen verloren geht. Dabei verbleiben in einem Drittel der Zygoten beide Chromosomen vom gleichen Elternteil („uniparental“) in der Zelle. In dem abgebildeten Beispiel resultiert für alle maternal geprägten (d.h. physiologisch inaktivierten) Gene eine doppelte Gendosis durch die zweifache paternale Expression.

Abb. 5-5 Keimzellmosaik.

Während der Meiose sind sowohl Verteilungsstörungen der Chromosomen als auch Mutationen einzelner Gene besonders häufig. Trägt eine solchermaßen veränderte Keimzelle (rot) zur genetischen Ausstattung einer Zygote bei, so resultiert eine Erkrankung, theoretisch ohne Wiederholungsrisiko für die Geschwister. Fehler und Neumutationen in den vorangehenden mitotischen Teilungen der Keimzellen sind wesentlich seltener; sie führen jedoch zur Bildung eines Klons (braun) aberranter Zellen und somit zu einem Wiederholungsrisiko bei Folgeschwangerschaften.

5.2.6 Nummerische und strukturelle chromosomale Aberration Veränderungen der Zahl von Chromosomen oder Bruchstücken davon in jeder Körperzelle werden als nummerische Aberration bezeichnet. Das Fehlen eines Chromosomenpaars ist mit dem Leben nicht vereinbar, was sich durch das Fehlen vieler Tausender von Genen erklärt. Schwerer verständlich ist, dass auch das Fehlen nur eines von zwei „gleichen“ Chromosomen (Monosomie) sowie einzelne überzählige Chromosomen (Trisomie) kaum mit dem Leben vereinbar sind. Hier scheint sich zu offenbaren, dass die relative Dosis genetischer Information von großer Wichtigkeit ist. Auch die insgesamt nicht sehr häufigen, aber auf verschiedene Chromosomen verteilten geprägten Gene bewirken bei Monosomie und Trisomie hohe Gendosis-Unterschiede. Strukturelle Chromosomenaberrationen beinhalten keine Änderung der Zahl von Chromosomen, sondern es handelt sich um Mutationen, die zu so ausgedehnten Veränderungen des Genoms führen, dass sie bei lichtmikroskopischer Untersuchung von Chromosomen in der Metaphase erkennbar sind. Die kleinsten sichtbaren Deletionen oder Insertionen haben die Größe von etwa vier Megabasen DNA. Kommt es innerhalb einer Chromatide zu zwei Strangbrüchen, so kann der DNA-Strang zwischen den Bruchstellen umgedreht werden. Bei dieser als Inversion bezeichneten Form einer strukturellen Chromosomenaberration handelt es sich um eine balancierte Umlagerung

ohne Verlust von Chromosomenmaterial. Eine Verknüpfung der Bruchstellen unter Verlust des Zwischenstücks führt zur Deletion und somit zum Verlust von genetischem Material. Gleichzeitige Brüche in mehreren Chromosomen können zu Translokationen führen. Die Gesamtmenge der DNA bleibt bei den sog. balancierten Translokationen weitgehend gleich, und die Träger sind somit auch symptomlos. Ausnahmen sind Translokationen, bei denen ein oder beide Bruchpunkte innerhalb der kodierenden Sequenz eines Gens liegen. Während der Gametogenese können aber unbalancierte Keimzellen entstehen, deren Beteiligung an einer Zygote wiederum zu einer nummerischen Chromosomenanomalie führt (Abb. 5-6).

5.3

Vererbung von Merkmalen

Der Begriff „Erbgang“ bezieht sich auf ein Merkmal, das in einer bestimmten Weise über Generationen weitergegeben wird. Die genetische Konstitution (Genotyp) wird mit den Begriffen homozygot (= kein oder beide Allele mutiert) und heterozygot (= ein Allel mutiert) beschrieben. Das Merkmal oder die Manifestation einer Krankheit (Phänotyp) tritt auf, wenn an einem Genort ein Allel funktionsuntüchtig ist (dominant) oder erst wenn beide Allele ausgefallen sind (rezessiv). Ist ein Allel physiologisch inaktiviert, handelt es sich um ein „geprägtes“ Gen. Ein weiterer charakteristischer Erbgang ergibt sich für Merkmale, die von Genen auf den Geschlechtschromosomen kodiert werden (Xgebundene Vererbung).

5.3.1 Autosomal-dominanter Erbgang Hiermit wird die Vererbung von Merkmalen oder Krankheiten bezeichnet, bei denen die verantwortlichen Gene auf Autosomen liegen (also auf den Chromosomen 1–22, nicht auf den Geschlechtschromosomen) und die bereits dann manifest werden, wenn nur ein Allel von der Mutation betroffen ist. Hier „dominiert“ die Mutation über das norma le Gen, das auf dem anderen Chromosom liegt. In einem Stammbaum ist die dominante Vererbung durch das Auftreten des Merkmals in jeder Generation (kein „Überspringen“ wie bei X-chromosomal gebundenem Erbgang), dem gleich häufigen Auftreten des Phänotyps bei beiden Geschlechtern und dem ca. 50%igen Erkrankungsrisiko der Kinder eines Merkmalsträgers charakterisiert (Abb. 5-7 und 5-8). Dominant können nur Krankheiten und Fehlbildungen vererbt werden, die mit der Fortpflanzung vereinbar sind. Einige der schwersten autosomal-dominant vererbten Krankheiten treten erst im späten Erwachsenenalter auf. Bei einigen autosomal-dominanten Krankheiten scheint aber die Manifestation von Generation zu Generation früher und schwerer zu sein. Es war lange umstritten, ob diese „Antizipation“ ein reales Phänomen oder ein statistischer Artefakt war. Jetzt allerdings hat man mit den Trinukleotid-Expansionen den molekularen Mechanismus identifiziert, der einer tatsächlichen Antizipation zugrunde liegt. Eine schwere oder gar tödliche Manifestation einer dominant vererbbaren Krankheit bereits im Säuglingsund Kindesalter ist durch eine neu aufgetretene Mutation des verantwortlichen Gens zu erklären.

Abb. 5-6 Balancierte Translokation und Auswirkung auf die Nachkommenschaft.

In diesem Beispiel ist die symptomlose Mutter Trägerin eines Translokationschromosoms, das durch die „Verklebung“ je eines Exemplars der Chromosomen 14 und 21 entstanden ist. Bei der Meiose können nur 3 statt 4 Chromosomen auf die Eizellen verteilt werden. Sowohl Eizellen mit eine mfehlenden Chromosom als auch Eizellen, die das Translokationschromosom enthalten, können in der Nachkommenschaft zu einer nummerischen Chromosomenaberration führen. Da die Mehrzahl der resultierenden genetischen Konstitutionen eine letale Auswirkung auf die Zygote hat, kann die geburtshilfliche Anamnese der Betroffenen eine hohe Rate früher Spontanaborte aufweisen.

Familiäre Hypercholesterinämie (Hyperlipoproteinämie Typ IIa) Abb. 5-7 Genotyp und Phänotyp bei autosomaldominanter Vererbung.

Die Mutation führt bereits bei Heterozygotie zu einem Phänotyp. Die Hälfte aller Keimzellen eines Merkmalsträgers enthält das Chromosom mit der Mutation, daher erkranken theoretisch 50% der Kinder. Die familiäre Hypercholesterinämie ist eine von mehreren erblichen Lipidstoffwechselkrankheiten. Mit einer Inzidenz von 1:500 ist sie die häufigste autosomal-dominante Krankheit des Menschen. Heterozygote haben stark erhöhte Blutcholesterinwerte, die diätetisch nicht beeinflussbar sind. Sie entwickeln schon früh eine Atherosklerose, und Herzinfarkte treten häufig bereits zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr auf. 1 unter 1 Mio. Menschen ist homozygot; die Betroffenen erleiden meist schon um das 20. Lebensjahr einen Herzinfarkt. Die Krankheit beruht auf verschiedenen Mutationen des Gens für den Zelloberflächenrezeptor der LowDensity-Lipoproteine (LDL). Die mangelhafte Entfernung von cholesterinbeladenen LDL aus dem Blut bedingt schon im Kindesalter einen Phänotyp mit Xanthomen der Haut, insbesondere an den Augenlidern und im Bereich der Sehnenscheiden (Abb. 59).

Abb. 5-8 Stammbaum bei einer autosomaldominanten Krankheit.

Ausgehend von einer Merkmalsträgerin (Gründerin) erscheint die Krankheit in jeder Generation und betrifft ca. 50% der Kinder, deren Eltern selbst Merkmalsträger sind. Beide Geschlechter sind gleich häufig betroffen. Ein wichtiges Detail ist die Vererbung von Vätern auf Söhne (nicht möglich bei Xgebundenem Erbgang). Sondereffekte können das Bild verschleiern, wenn z.B. eine im späten Lebensalter manifest werdende Krankheit eine Generation zu überspringen scheint, deren Mitglieder alle relativ jung aus anderen Gründen verstorben sind.

Osteogenesis imperfecta Abb. 5-9 Familiäre Hypercholesterinämie.

a Die Low-Density-Lipoproteine (LDL) transportieren Triglyzeride und v.a. Cholesterin. Eine Mutation mit Funktionsverlust des LDL-Rezeptors an der Oberfläche der Leberzellen führt zu einer schweren Hyperlipidämie.

b Durch Schaumzellpolster eingeengte elastische Arterie eines Jugendlichen mit genetisch bedingter Hypercholesterinämie. Durch die Einschwemmung von LDLCholesterin in die Intima von arteriellen Blutgefäßen werden Makrophagen angelockt, die sich zu Schaumzellen umwandeln (vgl. Kap. 20.2.1). Dies ist ein wesentlicher erster Schritt in der Entstehung der Atherosklerose. Grundlage der Osteogenesis imperfecta sind unterschiedliche Veränderungen im Gen für das Kollagen I, die meist als Neumutationen auftreten. Obwohl Kollagen I überall im Bindegewebe benötigt wird, ist der Phänotyp der Mutationen im Kollagen-I-Gen ganz überwiegend durch Knochenveränderungen gekennzeichnet, was bisher nicht erklärt werden kann. Geklärt ist jedoch der dominante Effekt einer Mutation im Kollagen-I-Gen durch die komplexe Weiterverarbeitung entstehender Proteinketten zu tripelhelikalen Makromolekülen. Ist ein Allel von einer Mutation betroffen, bei der z.B. die sehr kleine Aminosäure Glyzin, die zum Inneren der Kette hin orientiert ist, durch eine räumlich größere Aminosäure ersetzt wird, so wird der Aufbau der Tripelhelix empfindlich gestört. Die Mutation hat aber nicht nur Auswirkungen auf die räumliche Struktur. Sie kann auch die Geschwindigkeit der Synthese der Kollagenmoleküle verändern oder aber enzymatische Veränderungen an der Kollagenkette noch intrazellulär vor der Ausschleusung in den Extrazellularraum bewirken. Durch Kombination dieser Einflüsse führen unterschiedliche Mutationen des Kollagen-I-Gens zu feinen Abstufungen im Schweregrad einer Osteogenesis imperfecta (Abb. 5-10).

Abb. 5-10

Osteogenesis imperfecta.

a Gestörte Tertiärstruktur der Kollagenkette als Konsequenz eines Basenaustauschs in nur einem Allel: Normalerweise liegen kleine Glyzinmoleküle

im Innern der Kette; Glutaminsäure ist größer und stört den Aufbau der Tripelhelix. Es können kaum normale Kollagen-I-Moleküle entstehen, wenn 50% der produzierten Polypeptidketten Störstellen verursachen. b Das Röntgenbild eines Fetus der 21. Schwangerschaftswoche zeigt zahlreiche Frakturen an den Röhrenknochen und an den Rippen (Pfeile), obwohl während des intrauterinen Lebens nur geringe Kräfte auf die Knochen einwirken. c Ein fetaler Röhrenknochen bei Osteogenesis imperfecta ist im Bereich des ruhenden und des wachsenden Knorpels unauffällig. An den Stellen der enchondralen Ossifikation (unterhalb der Pfeile) findet sich nur eine sehr spärliche Knochenbildung. Es ist bislang nicht klar, warum sich eine pathologisch veränderte Kollagenstruktur hauptsächlich in der Störung des Knochenbaus kundtut.

Ehlers-Danlos-Syndrom und Marfan-Syndrom Diese zwei Bindegewebserkrankungen zeigen wegen der komplexen Weiterverarbeitung verkürzter oder räumlich gestörter Kettenmoleküle einen dominanten Erbgang. Der Begriff Ehlers-Danlos-Syndrom bezeichnet eine Gruppe von Krankheiten mit dem Leitsymptom einer hyperelastischen, gleichzeitig aber auch leicht verletzbaren Haut mit deutlich verzögerter Heilung sowie überstreckbaren Gelenken. Infolge von Spontanrupturen großer Blutgefäße oder von Hohlorganen ist die Lebenserwartung meist verkürzt. Primäre Ursache sind Mutationen unterschiedlicher Gene. Beim Ehlers-Danlos Typ IV ist z.B. das COL3A1-Gen betroffen, woraus die Synthese eines von den produzierenden Zellen nur schlecht sezernierbaren Typ-III-Kollagenmoleküls resultiert, das dann in der extrazellulären Matrix in zu geringer Konzentration vorhanden ist. Das Marfan-Syndrom (Prävalenz ca. 1:10 000) ist durch Großwuchs mit langen Extremitäten, Herz- und Augensymptomen gekennzeichnet. Wegen der Schwäche und abnormen Dehnbarkeit von Sehnen, Bändern und Gelenkkapseln, der häufig zu beobachtenden Augensymptome mit Linsenluxation und Netzhautablösung sowie Todesfällen durch Ruptur der Aorta ascendens wurde das Marfan-Syndrom (Abb. 511) schon früh als „erbliche Bindegewebserkrankung“ bezeichnet. Die Expressivität ist auch intrafamiliär unterschiedlich und reicht vom Vollbild bis hin zu einem fast unauffälligen Erscheinungsbild mit z.B. nur milder Subluxation der Linse. Kopplungsanalysen lokalisierten das „Marfan-Gen“ auf dem langen Arm des Chromosoms 15. Bei der Auflistung von bereits bekannten Genen dieser chromosomalen Region war das Bindegewebsprotein Fibrillin ein Kandidat. Die weiteren Analysen des Fibrillin1-Gens (FBN1) zeigten dann patientenspezifische Missense- und Nonsense-Mutationen. Das Gen ist 220 kB groß und codiert für 65 Exons. Das Genprodukt Fibrillin ist ein Bestandteil von Mikrofibrillen, die in der Struktur elastischer Fasern vorkommen. Wenn die Mutation des Fibrillin-Gens nicht zum Wegfall des Genprodukts führt, sondern zur Herstellung eines falschen Bausteins

für den weiteren Aufbau elastischer Fasern, ergibt sich ein dominanter Effekt der Mutation. Eine Genotyp-Phänotyp-Korrelation ist kaum feststellbar. Es gibt keine Mutations-Hotspots; fast jede Familie hat ihre „eigene“ Mutation, was die molekulargenetische Untersuchung sehr erschwert und verteuert.

Abb. 5-11

Marfan-Syndrom.

a Finger mit überlangen spindeligen Phalangen. b Die Augenlinse hat sich aus der Verankerung gelöst; der Rand der luxierten Linse wird sichtbar (Bild: B. Steinmann, Universitätskinderklinik Zürich). c Die Aorta zeigt vielfache Zerreißungen der elastischen Fasern (schwarz) in der Media. Elastica-van-Gieson-Färbung, Vergr. 400fach.

Autosomal-dominante polyzystische Nephropathie (Zystennieren des Erwachsenen) Abb. 5-12 Polyzystische Nieren mit autosomaldominantem Erbgang.

Starke Vergrößerung der Nieren, bei der die Kontur der Nieren verändert wird und die gesamte Schnittfläche von Zysten unterschiedlicher Größe durchsetzt ist. Die Veränderungen erfolgen symmetrisch; jede Niere wiegt meist mehr als 1 Kilogramm.

Bei der autosomal-dominanten polyzystischen Nephropathie sind seit wenigen Jahren zwei verantwortliche Gene identifiziert. Bei ca. 80% der betroffenen Familien findet sich eine Mutation im PKD1-Gen auf dem kurzen Arm des Chromosoms 16 (16p13.3), die mit einer frühen Manifestation und einem schweren Verlauf assoziiert ist. Im Schnitt erfolgt bei Mutationen im PKD1-Gen die Diagnose einer Nierenerkrankung im Alter von 27 Jahren, im durchschnittlichen Alter von 35 Jahren wird eine Hypertension deutlich und mit 53 Jahren eine Niereninsuffizienz. Demgegenüber zeigen ca. 15% der Familien eine Mutation des Gens PKD2 auf dem langen Arm des Chromosoms 4 (4q13.23), die mit einer milderen Verlaufsform assoziiert ist. Im Schnitt erfolgt bei Mutationen im PKD2-Gen die Diagnose einer Nierenerkrankung im Alter von 41 Jahren, im durchschnittlichen Alter von 50 Jahren wird eine Hypertension deutlich und mit 73 Jahren eine Niereninsuffizienz. Die von den genannten Genen codierten Proteine wurden Polyzystin-1 und Polyzystin-2 benannt. Es scheint sich um Membranproteine zu handeln, die einerseits die Funktion von Ionenkanälen und andererseits eine Funktion im Zusammenspiel zwischen Epithelzellen und angrenzender Matrix haben könnten. Die genetische Heterogenität der autosomal-dominanten polyzystischen Nierenkrankheit äußert sich durch das Vorkommen von mindestens einem weiteren, bislang aber noch nicht lokalisierten Genort. Morphologisch handelt es sich immer um beidseits stark vergrößerte Nieren, die im Endstadium vollständig von Zysten durchsetzt sind (Zystennieren, Abb. 5-12; siehe auch Kap. 36.4.2). Die Histologie ist durch zystische Erweiterungen in allen Nephronabschnitten gekennzeichnet.

5.3.2 Autosomal-rezessiver Erbgang Autosomal-rezessiv ist die Bezeichnung für die Vererbung von Merkmalen, bei denen die codierenden Gene auf Autosomen liegen und bei denen erst dann ein Phänotyp auftritt, wenn beide Allele eines Gens von einer Mutation betroffen sind. Rezessive Mutationen manifestieren sich somit nur im homozygoten Zustand. Die Erkrankungen sind in beiden Geschlechtern gleich häufig anzutreffen; die Erkrankten haben phänotypisch gesunde Eltern. Nachdem durch die Geburt eines erkrankten Kindes – das Risiko dafür ist bei blutsverwandten Eltern größer als bei Nichtverwandten – die Eltern als Überträger erkennbar geworden sind, besteht für jedes weitere Kind aus dieser Verbindung ein Erkrankungsrisiko von 25% (Abb. 5-13 und 5-14). Die Häufigkeit von Genen für viele autosomal-rezessiv vererbbare Krankheiten beträgt zwischen 1:100 bis 1:200. Die Chancen für die rein zufällige Verbindung zwischen zwei Genträgern beträgt somit 1:10 000 bis 1:40000. Einige dieser rezessiven „Krankheitsgene“ haben aber eine Häufigkeit von 1:10 (primäre Hämochromatose) oder 1:20 (α1-AntitrypsinMangel und zystische Fibrose). Man nimmt an, dass diese Gene in der Population eine gewisse Häufigkeit erreicht haben, weil sie dem heterozygoten Träger des Gens Vorteile boten (Heterozygoten-Vorteil).

α1-Antitrypsin-Mangel Abb. 5-13 Genotyp und Phänotyp bei autosomalrezessiver Vererbung.

Ein Phänotyp tritt nur auf, wenn von den Eltern, die heterozygote Träger der Mutation sind, je ein mutiertes Gen geerbt wird. Theoretisch sind 25% der Kinder aus einer solchen Verbindung homozygot und zeigen einen Phänotyp. Rund 50% der Kinder sind wiederum heterozygote Träger.

Abb. 5-14 Krankheit.

Stammbaum einer autosomal-rezessiven

Durch das Zusammentreffen zweier Familien, in denen die Mutation eines bestimmten Gens vererbt wird, kommt es in der Nachkommenschaft zur Homozygotie und damit zur Erkrankung (rot). Charakteristisch ist die Konstellation gesunder Eltern mit mehreren erkrankten Kindern. In der darauf folgenden Generation findet man meist wieder nur heterozygote Träger (gelb). Vor ca. 40 Jahren bemerkte man bei Patienten, die früh in ihrem Leben ein Lungenemphysem entwickelten, dass die α1-Protein-Bande in der Serumelektrophorese fehlte. In vitro hat das diese Bande bildende Protein eine Antitrypsin-Wirkung, woraus die Krankheitsbezeichnung „α1-Antitrypsin-Mangel“ abgeleitet wurde. In vivo ist aber die Hemmung der proteolytischen Wirkung der Elastase aus den Granulozyten wichtiger. Der Wegfall dieser Protease-Inhibition (der Genort wurde entsprechend dieser Funktion als PI-Lokus bezeichnet) führt zum schweren Lungenemphysem im Alter von ca. 45 Jahren. Bei Rauchern tritt das Lungenemphysem allerdings 10 Jahre früher auf, d.h. mit durchschnittlich 35 Jahren, was deutlich macht, dass genetisch bedingte Krankheiten zusätzlichen Umwelteinflüssen unterliegen. Der PI-Lokus des menschlichen Genoms ist sehr polymorph; man hat bereits mehr als 60 Genvarianten gefunden, die jeweils für ein in seiner Aminosäuresequenz variiertes α1-Antitrypsin codieren. Schwere Erkrankungen weisen nur diejenigen Individuen auf, die homozygot für das Z-Allel sind. Das vom ZAllel codierte Protein ist in vitro voll wirksam; allerdings führt der Austausch nur einer Aminosäure (siehe Kap. 5.2.2, Abb. 5-2) dazu, dass das entstandene Protein intrazellulär in der Leber aggregiert und nicht den Blutstrom erreicht. Das sich im glatten endoplasmatischen Retikulum der Hepatozyten akkumulierende Protein kann färberisch sichtbar gemacht werden (Abb. 5-15). Dieses Phänomen ist bereits bei den heterozygoten Trägern eines Z-Allels erkennbar. Diese weisen jedoch aufgrund des gleichzeitig vorhandenen gesunden Allels eine fast normale Konzentration von α1Antitrypsin im Blut auf. Während man also sagen könnte, dass das Merkmal PASpositiver Ablagerungen in der Leber einem dominanten Erbgang folgt (sichtbar bereits, wenn nur ein Allel betroffen), so ist die Krankheit α1-Antitrypsin-Mangel jedoch nur bei homozygoten Trägern des Z-Allels zu beobachten. Bei einigen Individuen führt die Konstitution PI-ZZ bereits im Kindesalter zu einer Leberzirrhose, die eine Transplantation notwendig macht. Der zur Zirrhose führende Mechanismus ist noch weitgehend unbekannt (siehe auch Kap. 5.2.2).

Zystische Fibrose Abb. 5-15 α1-Antitrypsin-Mangel.

a Leber mit durch eine PAS-Färbung rot hervorgehobenen kugeligen Einschlüssen verschiedener Größe (Pfeile) in den periportalen Hepatozyten. PAS-Färbung, Vergr. 200fach. b Immunhistochemische Färbung für α1-Antitrypsin, Vergr. 125fach. c Die Elektronenmikroskopie zeigt die Ablagerungen in den Zisternen des rauen endoplasmatischen Retikulums (Sterne) und Lipideinlagerungen (L) in Hepatozyten. d Wegen zu geringer Konzentration des Protease-Inhibitors im Blut wird das empfindliche Lungenparenchym zerstört und ein Lungenemphysem (Pfeile) ausgebildet. Aus der schweizerischen Volksmedizin des Mittelalters ist der Satz überliefert: „Wehe dem Kind, das beim Kuss auf die Stirn salzig schmeckt; es ist verhext und muss bald sterben.“ Seit 50 Jahren wird diese Erkenntnis in quantitativer Form im Schweißtest ausgenutzt; erwachsene Patienten mit zystischer Fibrose (ZF) scheiden mehr als 70 mMol Chloridionen pro Liter Schweiß aus (Normalpersonen < 30 mMol/l). Die Krankheit wird durch eine Transportstörung für Chloridionen und damit auch verminderte Flüssigkeitsausscheidung durch Epithelzellen hervorgerufen. Dadurch sind die Sekrete u.a. des exokrinen Pankreas und der Bronchialdrüsen visköser als üblich, woraus sich die alte Krankheitsbezeichnung Mukoviszidose ableitete. Die klinische Hauptsymptomatik sind eine durch die Pankreasveränderungen bedingte Malabsorption und Gedeihstörung sowie chronisch rezidivierende Bronchitiden. Die Sekretretention lässt sich aber auch in der Nasenschleimhaut beobachten. Bei Neugeborenen führt das in seiner Konsistenz veränderte Mekonium manchmal zu einem Ileus (Abb. 5-16). Die zystische Fibrose ist der Prototyp einer zur Zeit wachsenden Gruppe von Ionenkanalkrankheiten, zu denen auch eine ganze Reihe von monogen bedingten Herzrhythmusstörungen und Anfallsleiden gehören. Gemeinsames Merkmal ist, dass Genmutationen wichtige Schleusenfunktionen in der Zellmembran stören. Das für den Chloridtransport bzw. für den transmembranären Aufbau eines sog. Chloridkanals verantwortliche Protein wird von einem großen Gen auf dem Chromosom 7 (7q31) kodiert. 70% der Mitteleuropäer mit zystischer Fibrose weisen in einem der beiden Allele des verantwortlichen Gens eine Mutation mit der Bezeichnung delta F508 auf (siehe Abb. 5-3). Durch gezielte Amplifikation dieser Region erhält man ein durch die Deletion um drei Basenpaare kürzeres Nukleotid in genügend großer Menge, um es elektrophoretisch nachweisen zu können (Abb. 5-17). Etwa 50% aller Kranken sind somit homozygot für die delta-F508-Mutation. Die Erkrankung der anderen 50% ist durch die Kombination der delta-F508- mit einer der ca. 1000 anderen Mutationen oder durch Kombinationen zweier der anderen Mutationen bedingt. Da die PCR-Reaktion immer nur die Aussage „vorhanden“ oder „nicht vorhanden“ bezüglich einer vorher definierten Veränderung erlaubt, kann eine

genetische Analyse solcher Fälle langwierig sein. Der Grund für die relative Häufigkeit der delta-F508-Mutation in der Bevölkerung mag in einem Vorteil während Choleraepidemien gelegen haben. Die durch das Choleratoxin bedingte Diarrhöe, d.h. der Flüssigkeitsverlust, fiel geringer aus, wenn die Chloridsekretion im Darm beeinträchtigt war. Heterozygote Genträger hatten in dieser Situation eine größere Überlebenschance.

Aβ-Lipoproteinämie Abb. 5-16 Zystische Fibrose (Mukoviszidose).

a Ringförmiges Darmteilstück mit fest haftendem „Kindspech“ beim Mekoniumileus des Neugeborenen. Die Histologie zeigt den in den Krypten (Pfeile) verankerten Schleim. HE, Vergr. 140fach. b Im Kindesalter kommt es zur Behinderung der Atmung durch Schleimretention in den Drüsen der Nasenschleimhaut. HE, Vergr. 250fach.

c Im Pankreas ist die sonst mit bloßem Auge erkennbare Läppchenstruktur durch festes, graues Bindegewebe ersetzt. Das histologische Detailbild zeigt den Verlust des exokrinen Drüsengewebes; erhalten sind die schleimgefüllten Ausführungsgänge und das endokrine Gewebe (immunhistochemisch braun markiert). d Im jungen Erwachsenenalter entstehen Bronchiektasen mit und ohne Verschleimung sowie eine Lungenfibrose durch rezidivierende Entzündungen. Als Folge kommt es zur Rechtsherzhypertrophie. Patienten mit der sehr seltenen Aβ-Lipoproteinämie fallen bei einer endoskopischen Untersuchung durch die buttergelbe Farbe der Darmschleimhaut auf. Dies ist bedingt durch eine Akkumulation von Triglyzeriden in den Enterozyten. Ursache ist das Fehlen eines mikrosomalen Transportproteins, mit dessen Hilfe die aus dem Darmlumen aufgenommenen freien Fettsäuren mit Apoprotein B zu transportfähigen Chylomikronen synthetisiert werden (Abb. 5-18). Der gleiche Defekt verhindert in der Leber die Synthese der VLDL- und der LDL-Lipoprotein-Partikel und führt auch hier zur Verfettung. Die Krankheit manifestiert sich zunächst durch Malabsorption und Fettstühle. Der gestörte Lipidmetabolismus wird auch an Erythrozyten sichtbar, die Stechapfelformen bilden, weil für den Doppellayer der Zellmembran nicht das richtige Mischungsverhältnis von Fetten im peripheren Blut zur Verfügung steht. Später im Leben kommt es zu neurologischen Symptomen, wofür ein Mangel an fettlöslichen Vitaminen verantwortlich zu sein scheint, da eine symptomatische Therapie in Form von Vitaminsubstitution die Erscheinungen abklingen lässt. Genetische Untersuchungen in Form von Koppelungsanalysen suchten zunächst nach einer Veränderung auf Chromosom 2p, weil dort das Gen für Apoprotein B liegt. Die Krankheit war aber bei der Vererbung nicht an Marker für irgendeinen Abschnitt des Chromosoms 2 gekoppelt. Es stellte sich vielmehr heraus, dass die Krankheit zusammen mit Markern für die chromosomale Region 11p vererbt wurde. Dies ist inzwischen verständlich geworden, weil das Gen für das mikrosomale Transportprotein in dieser Region lokalisiert ist.

Abb. 5-17 Polymerase-Chain-Reaction (PCR) zu genetischen Diagnostik bei zystischer Fibrose (ZF).

a Abschnitt aus dem ZF-Gen mit dem Ort der häufigsten Mutation (vgl. Abb. 5-3). Die Primer 1 und 2 sind Oligonukleotide, die jeweils zu einem der beiden DNAStränge in der Nachbarschaft der Mutation komplementär sind und dort binden können. b Von einem normalen Gen wird bei der Vermehrung in der PCR-Reaktion ein 50 Basenpaare langes DNA-Stück produziert; trägt das Gen die Deletion, so ist das PCR-Produkt kürzer. In einem weiteren Untersuchungsgang wird der Längenunterschied elektrophoretisch nachgewiesen (Southern-BlotUntersuchung).

Abb. 5-18 Darmschleimhaut bei AβLipoproteinämie.

a Dünndarmzotte mit Hypertrophie der Enterozyten und schaumiger Transformation des Zytoplasmas durch Fetttröpfchen. HE, Vergr. 340fach. b Normale Dünndarmzotte zum Vergleich mit eosinophilem Zytoplasma der Enterozyten; eingelagert erkennt man helle Becherzellen. HE, Vergr. 340fach. c Mechanismus der Entstehung des Phänotyps durch Blockade der Kopplung von Fettsäuren an Apoprotein B in den Enterozyten. Weil das Transportprotein fehlt, bleibt als „Ausweg“ nur die Ablagerung des Fetts in den Enterozyten. d Normaler Weg zur Einspeisung von Chylomikronen in das Lymphsystem der Dünndarmzotten.

Autosomal-rezessive polyzystische Nephropathie Abb. 5-19 Polyzystische Nieren mit rezessivem Erbgang.

a Symmetrisch vergrößerte Nieren mit radiär angeordneten, tubulären Zysten auf der Schnittfläche. Die Nierenkonturen werden nicht von Zysten durchbrochen. b Kongenitale Leberfibrose: Der genetische Defekt führt immer auch zu einer Fibrose der Portalfelder und vermehrten Gallengängen in der Leber (Duktalplatten-Fehlbildung). CAB, Vergr. 100fach. c Pränataldiagnostik in einer betroffenen Familie: eine Kopplungsanalyse mit vier dem Krankheitsgen benachbarten Markern (die Ausprägungsformen der Marker D6S… sind willkürlich mit Zahlen 1–4 gekennzeichnet) zeigt die Konstellation bei einem älteren Geschwister mit polyzystischen Nieren (rot). Aus der Analyse dieses sog. Indexfalles ergibt sich, mit welchen mütterlichen und mit welchen väterlichen Markern die Krankheit „gekoppelt“ ist. Bei einer erneuten Schwangerschaft (rot/gelb) zeigt eine Analyse fetaler Zellen in der 16. SSW, dass von der Mutter das gleiche DNA-Segment geerbt wurde, das beim Geschwisterkind mit der Erkrankung assoziiert ist. Vom Vater wurden nur zwei der bereits beim erkrankten Geschwister beobachteten Marker geerbt. Zwei weitere Marker stammen vom Schwesterchromatid, nachdem offenbar eine Rekombination stattgefunden hat. Mit dieser Analyse ist nicht zu beweisen, dass der Fetus für die Mutation homozygot ist. d Eine pränatale Ultraschalluntersuchung hatte eine deutlich abnorme Echodichte des Nierenparenchyms gezeigt. Bei der histologischen Untersuchung der Nieren sind zystische Dilatationen der Sammelrohre erkennbar. Mit dieser Morphologie ist die Erkrankung und somit die Homozygotie auch bei diesem Kind zu beweisen. HE, Vergr. 30fach. e Histologie einer normalen Niere in der 21. SSW zum Vergleich. Die oben besprochenen polyzystischen Nieren, die einem dominanten Erbgang folgen (siehe Kap. 5.4.1), beeinträchtigen erst im Erwachsenenalter die weitere Lebenserwartung; somit kann das „Krankheitsgen“ an die Nachkommenschaft weitergegeben werden. Im Gegensatz dazu führen polyzystische Nieren, die einem rezessiven Erbgang folgen, bereits im frühen Kindesalter zur Niereninsuffizienz. Die homozygoten Genträger sind – zumindest vor Einführung der Dialyse und der Nierentransplantation – immer früh verstorben. Jedes weitere Kind betroffener Eltern hat ein Risiko von 25%, ebenfalls homozygot zu sein. Das für die rezessive Form der polyzystischen Nephropathie verantwortliche Gen wurde Anfang 2002 kloniert und liegt auf dem kurzen Arm des Chromosoms 6 (6p21.1p12). Es umfasst ca. 472 kB und kodiert in 66 Exons ein Protein von 4074 Aminosäuren (Fibrocystin). In Familien, in denen man keine Mutation findet, lässt sich mithilfe von Markern dieser chromosomalen Region feststellen, ob bei einer neuen Schwangerschaft der Fetus die gleichen DNA-Abschnitte des Chromosoms 6 von den Eltern geerbt hat wie das erkrankte Geschwisterkind (Abb. 5-19). Solche indirekten genetischen Analysen können Fehler aufweisen, da bei der Meiose und dem hier manchmal erfolgenden

Austausch von genetischem Material zwischen den Schwesterchromatiden die „Kopplung“ zwischen den Markern und dem eigentlichen Krankheitsgen aufgehoben werden kann. Ideal ist es, wenn das Ergebnis einer „Kopplungsanalyse“ durch eine unabhängige Methode, z.B. Ultraschalluntersuchung der Nierenstruktur, abgesichert werden kann. Histologisch finden sich nur die Sammelrohre von den zystischen Dilatationen betroffen (im Unterschied zur autosomal-dominanten Form, siehe Kap. 5.3.1).

5.3.3 X-chromosomale Vererbung Die meisten Defekte von Genen auf dem X-Chromosom führen im heterozygoten Zustand nicht zu einem Phänotyp. Somit kann eine Frau mit ihren zwei XChromosomen im heterozygoten Zustand eine gesunde Trägerin (Konduktorin) sein, während ihre Brüder mit je nur einem X-Chromosom entweder den vollen Phänotyp zeigen oder aber gesund sind und dann die Krankheit auch nicht weitergeben können. Bekanntestes Beispiel ist die X-chromosomal-rezessiv vererbte Muskeldystrophie vom Typ Duchenne (siehe Kap. 10.3.3). Im Unterschied zum autosomal-rezessiven Erbgang genügt beim X-chromosomal-rezessiven Erbgang zur Manifestation der Erkrankung schon eine Überträgerin (Abb. 5-20). Charakteristisch ist das Auftreten der Krankheit beim männlichen Geschlecht in verschiedenen Generationen; es wechseln kranke Männer und gesunde Überträgerinnen ab, und eine Weitergabe von einem erkrankten Vater auf seine Söhne findet praktisch nicht statt (Abb. 5-21).

Abb. 5-20 Genotyp und Phänotyp bei Xchromosomaler Vererbung.

Rezessive Mutationen, die auf dem X-Chromosom liegen, manifestieren sich im männlichen Geschlecht. Unter den Kindern einer klinisch gesunden Trägerin erkranken 50% der Söhne; 50% der Töchter sind wiederum Konduktorinnen.

Anhidrotische ektodermale Dysplasie Abb. 5-21 Stammbaum einer X-chromosomalrezessiven Krankheit, bei der die Betroffenen fortpflanzungsfähig sind.

Von der Erkrankung betroffen sind Männer (rot), deren Eltern gesund sind. Übertragende Mütter (gelb) haben evtl. männliche Verwandte, die krank sind. Die Krankheit wird nicht von Mann zu Mann übertragen. Aus der Analyse der Erkrankungen in diesem Stammbaum lassen sich einige der gesunden Frauen als sichere Überträgerinnen (gelb) bestimmen, bei anderen kann lediglich von der Möglichkeit des Konduktorinnen-Status gesprochen werden (gelber Ring). Die zufallsmäßige Inaktivierung eines X-Chromosoms bei weiblichen Individuen führt zu Zellklonen, die die Eigenschaft des einen oder des anderen X-Chromosoms exprimieren. Ein Beispiel beim Menschen, bei dem dies unmittelbar sichtbar gemacht werden kann, ist die anhidrotische ektodermale Dysplasie. Konduktorinnen der Krankheit zeigen Hautareale ohne Schweißdrüsen neben Bereichen mit einer normalen Anzahl von Schweißdrüsen (Abb. 5-22). Den erkrankten männlichen Individuen fehlen Schweißdrüsen in der Epidermis fast völlig.

Hämophilie Sowohl die Hämophilie A als auch die seltenere Hämophilie B werden Xchromosomal-rezessiv vererbt. Die Hämophilie A betrifft einen unter 5000 Männern. Sie beruht auf dem Defekt des Gens für den Gerinnungsfaktor VIII, das in der Region

Xq28-ter liegt. Bei dieser Krankheit gibt es keine typischen Mutationen. Neumutationen sind erstaunlich häufig, was durch besondere Merkmale der Genstruktur erklärt wird (Abb. 5-23). Außerdem kann es vorkommen, dass sich die Hämophilie A auch bei Konduktorinnen manifestiert. Wenn nämlich zum Zeitpunkt der X-Inaktivierung im Embryo erst wenige für eine bestimmte Funktion (z.B. Leber) determinierte Zellen vorliegen, so kann zufälligerweise in der Mehrzahl dieser Zellen gerade das gesunde X inaktiviert werden. Die Hämophilie A ist zwar durch Gabe des fehlenden Gerinnungsfaktors therapierbar, doch bestehen eine hohe Morbidität durch Blutungen (Abb. 5-23) und das Infektionsrisiko durch Blutkonserven und -derivate. Die bei dieser Krankheit erforderliche Betreuung und Therapie ist dementsprechend nur in Wohlstandsregionen möglich.

Abb. 5-22 Verteilung der Schweißdrüsen bei einer Trägerin für die X-chromosomal-rezessiv vererbte anhidrotische ektodermale Dysplasie.

Die Öffnungen der Schweißdrüsen sind durch eine Färbung als schwarze Punkte erkennbar. Durch die Inaktivierung jeweils eines X-Chromosoms je Zelle und der Weitergabe des Inaktivierungszustands an ihre Nachkommenschaft entstehen Flecken mit praktisch normaler Schweißdrüsendichte und Areale, in denen die Schweißdrüsen fehlen.

Abb. 5-23 Entstehung und Konsequenzen der Hämophilie A.

a Das Gen für den Faktor VIII der Blutgerinnung ist ein „berüchtigter“ Ort für Neumutationen. Einer erhöhten Rate von Neumutationen („hot spot“) können verschiedene Mechanismen zugrunde liegen; hier ist es eine repetitive Sequenz (CpG-Insel), die an entfernter Stelle auf demselben Chromatid in umgekehrter „Buchstabenfolge“ (CpG, invers) wiederkehrt. Dies ermöglicht eine Fehlpaarung innerhalb des DNA-Strangs. Es kann zum Bruch des Chromatids an der Fehlpaarungsstelle kommen mit anschließender Neuverknüpfung, wodurch ein

ganzer Chromatidabschnitt umgekehrt wird. Das Gen als funktionstüchtige Informationseinheit wird durch diese Inversion unterbrochen. b Beim Gebrauch unserer Gelenke treten spontane Mikroblutungen auf; bei „Blutern“ kommt es allerdings zu häufigen großen Blutungen, deren Rückresorption zu einer zottigen Hyperplasie der Synovialis führt. HE, Vergr. 100fach. c Eine „Eisen-Färbung“ zeigt, dass es sich bei dem braunen Pigment um Hämosiderin handelt (blau gefärbt), das von den synovialen Deckzellen aufgenommen wurde. Berliner-Blau, Vergr. 100fach. Die Hämophilie B kommt nur etwa einmal unter 30 000 männlichen Neugeborenen vor. Dieser Typ der Bluterkrankheit beruht auf einem Fehlen oder der Veränderung des Blutgerinnungsfaktors IX. Das zugehörige Gen liegt auf dem langen Arm des Chromosoms X in der Region Xq27. Viele Erkrankungen beruhen auf einer Neumutation in den mütterlichen Keimzellen. Man hat errechnet, dass 2–3 pro 1 000 000 Keimzellen von einer Mutation, die zur Hämophilie B führt, betroffen werden. Dieser Wert ist um eine Zehnerpotenz geringer als bei den Mutationen, die zur Hämophilie A führen.

Fragiles-X-Syndrom Das Fragile-X-Syndrom tritt bei Männern auf und führt zu einer geistigen Behinderung in Verbindung mit einer typischen Gesichtsdysmorphie (längliches Gesicht mit prominenter Stirn und markantem Kinn sowie abstehenden Ohren) sowie auffällig vergrößerten Hoden. Bei den Erkrankten war zunächst eine erhöhte Brüchigkeit des X-Chromosoms in Metaphasenpräparaten erkannt worden. Auf DNA-Niveau beruht die Krankheit auf der Expansion eines CGG-Trinukleotids, von dem sich bei Normalpersonen bis zu 54 Kopien finden. Das Vorliegen von 52–200 Kopien stellt eine sog. Prämutation dar, deren Träger symptomlos sind; es besteht aber eine Neigung zur weiteren Verlängerung des repetitierten CGG-Abschnitts während der Meiose. Es ist also das Risiko für das Auftreten der Vollmutation gegeben, die dann 200–1000 Wiederholungen des CGG-Trinukleotids aufweist. Durch die dadurch hervorgerufene Veränderung der Chromatinstruktur wird die Expression eines in der Nähe der CGG-Wiederholungen gelegenen Genabschnitts verhindert (Abschaltung des FRM1-Gens), was zum eingangs erwähnten Phänotyp führt.

Incontinentia pigmenti Wenn eine Mutation, die nur eines der beiden bei Frauen vorhandenen XChromosomen betrifft, zu einem Phänotyp führt, resultiert ein X-chromosomaldominanter Erbgang. Solch eine Mutation manifestiert sich also bei Frauen im heterozygoten Zustand. Eine der wenigen Krankheiten dieser Art ist die Incontinentia

pigmenti, bei der weibliche Individuen ab Geburt streifenförmige Hauteffloreszenzen und später typische Pigmentierungsstörungen aufweisen. Daneben bestehen Störungen der Hautanhangsgebilde (Alopezie) und im Zentralnervensystem (Intelligenzminderung). Wenn im männlichen Geschlecht das einzige verfügbare XChromosom eine Mutation trägt, führt dies immer zum frühen Absterben des Embryos. Ein Familienstammbaum ist bei dieser Krankheit dadurch gekennzeichnet, dass 50% der Töchter einer Merkmalsträgerin Symptome zeigen. Geborene Söhne sind gesund und vererben die Krankheit auch nicht weiter. Da die Hälfte der männlichen Embryonen abstirbt, haben kranke Frauen im Durchschnitt halb so viele Söhne wie Töchter. Das verursachende Gen (NEMO) liegt auf dem langen Arm des X-Chromosoms (Xq28) und besteht aus 12 Exons. Das Genprodukt aktiviert einen Transkriptionsfaktor (NF-κB), der bei vielen Immun-, Entzündungs- und Apoptosevorgängen eine wichtige Rolle spielt.

5.3.4 Extrachromosomale (mitochondriale) Vererbung Die Mitochondrien im Zytoplasma enthalten ringförmige DNA-Moleküle, die essenzielle genetische Information für die Enzyme der Atmungskette tragen. Da bei der Befruchtung einer Eizelle praktisch nur der Kern des Spermiums eindringt, besitzt die entstehende Zygote nur mütterliche Mitochondrien. Dementsprechend erben die Kinder bezüglich der Mitochondrien-DNA nur die Eigenschaften der Mutter („maternale Vererbung“). Einige Krankheiten beim Menschen beruhen auf Mutationen der Mitochondrien-DNA. Im Unterschied zum X-chromosomalen Erbgang können aber Kinder beiderlei Geschlechts erkranken. Störungen des Mitochondrien-Stoffwechsels manifestieren sich v.a. in einer Reihe seltener Myopathien und Enzephalopathien.

5.4

Chromosomale Aberrationen

Verteilungsstörungen von Chromosomen treten häufig in der Meiose der Keimzellen sowie bei den ersten Teilungen nach der Befruchtung auf. Unter Einbeziehung sehr früher, von der Mutter oft unbemerkter Aborte hat man beim Menschen eine Rate von ca. 30% Schwangerschaften mit nummerischer chromosomaler Aberration errechnet. Dass bei Neugeborenen nur noch 0,5% eine Chromosomenaberration aufweisen, ist somit das Ergebnis einer natürlichen pränatalen Selektion. Allerdings ist die Rate geborener Kinder mit einer nummerischen Chromosomenaberration deutlich abhängig vom Alter der Mutter. Das Risiko, ein Kind mit einer Trisomie 21 zu bekommen, beträgt beim mütterlichen Alter von 20 Jahren ca. 1:1000 und im Alter von 40 Jahren ca. 1:100, was zum Teil auf eine zunehmende Fehlerrate bei der Trennung der Chromatiden in der Meiose zurückgeführt wird. Chromosomale Aberrationen sind meist schon im 2. und 3. Drittel der Schwangerschaft durch deutliche Abweichungen von der normalen Entwicklung zu erkennen (Abb. 5-24). Zu unterscheiden sind intrauterine Dystrophie (Abweichungen in den Körpermaßen und -proportionen), Fehlbildungen (Architekturstörung mit funktioneller Konsequenz) und Anomalien (Architekturstörungen ohne funktionelle Konsequenz). Schon lange bevor chromosomale Aberrationen als

Ursache syndromaler Fehlbildungen erkannt wurden (1959 wurde als erste die Trisomie 21 als für das Down-Syndrom verantwortlich erkannt), bildeten Dysmorphien und Fehlbildungen am Gesicht, an den Ohren sowie an Händen und Füßen die Grundlage für die diagnostische Einteilung und die Formulierung von Krankheitsentitäten.

5.4.1 Monosomie und Trisomie Monosomien eines ganzen Autosoms werden nie beobachtet, da sie mit dem Leben nicht vereinbar sind. Kinder mit Monosomien für kleine Abschnitte eines Autosoms können jedoch lebensfähig sein. Die häufigsten zu beobachtenden chromosomalen Störungen sind die Trisomien der Chromosomen 21, 18 und 13. Die Trisomie 21 (Down-Syndrom) hat eine Inzidenz von 1:600 unter Neugeborenen. Die Patienten zeigen eine allgemeine Muskelhypotonie, eine mittelgradige Intelligenzminderung sowie sehr charakteristische dysmorphe Stigmata an Gesicht und Händen. Die schrägen Lidspalten mit dem Epikanthus (sichelförmige Hautfalte, die den inneren Lidwinkel am Auge verdeckt) führten zu der heute obsoleten Bezeichnung „Mongolismus“. Dazu kommen kleine, wenig modellierte Ohren, große Zunge, kurzer Nacken, kurze Finger und eine sog. Vierfingerfurche. Im Fetalalter sind die dysmorphen Stigmen oft noch nicht sehr ausgeprägt. Die häufigste schwere Fehlbildung beim Down-Syndrom ist ein Herzfehler. Die Trisomie 18 (Edwards-Syndrom) findet sich bei ca. 1:3000 der Neugeborenen. Die Kinder sind durch eine starke Mangelentwicklung und Mikrozephalie sowie durch wechselnde, zum Teil schwere Fehlbildungen gekennzeichnet. Noch während der späten Intrauterinentwicklung sterben etwa zwei Drittel der betroffenen Feten ab; möglicherweise ist das Erreichen des Geburtstermins an das Vorkommen normaler „disomer“ Zellklone in der Plazenta gekoppelt. Nur 4% der geborenen Kinder erleben das Ende des 1. Lebensjahrs (Abb. 5-24f). Bei der noch selteneren Trisomie 13 (Patau-Syndrom) ist das Muster der Fehlbildung wiederum relativ charakteristisch, da ziemlich konstant eine Störung in der Entwicklung der Mittellinie auftritt, die am Kopf zur Lippen-Kiefer-Gaumenspalte und zur Holoprosenzephalie (das Gehirn bildet keine Hemisphären aus) führt. An den Händen treten Polydaktylien auf, d.h., es werden zusätzliche Finger und/oder Zehen beobachtet (Abb. 5-24g). Die meisten Kinder mit Trisomie 13 versterben bereits in utero. Neugeborene überleben nur in Ausnahmefällen die ersten Lebensmonate. Kinder mit Trisomien anderer Chromosomen kommen fast nie bis zur Geburt. Selten werden Trisomie 8, 9, 14, 16 und 22 beobachtet, aber meist nur als Mosaik mit gleichzeitig vorhandenen normalen Zelllinien.

5.4.2 Uniparentale Disomie (UPD) Trisomien verschiedener anderer als der oben beschriebenen Chromosomen können in Frühstadien der Embryonalentwicklung noch beobachtet werden; danach stirbt die Fruchtanlage ab und es resultieren die beim Menschen häufigen Frühaborte. Manchmal scheint eine frühe postzygotische Zelle ein überschüssiges Chromosom auch wieder eliminieren zu können; diese und alle abstammenden Zellen sind somit wiederum „disom“. Durch die Elimination wird aber nicht notwendigerweise das vorher fälschlicherweise zugeteilte „Extrachromosom“ beseitigt, sondern möglicherweise die ohnehin nur einzeln vorhandene Kopie. Die dann in der Zelle verbleibenden, von nur einem Elternteil geerbten Kopien führen zur uniparentalen Disomie des betroffenen Chromosoms. Alternativ kann eine UPD auch durch die Befruchtung einer normalen Gamete mit einer für dieses Chromosom nullisomen Gamete entstehen. Ist diese Konstellation nicht letal, sondern kommt es in der frühen embryonalen Entwicklung zur mitotischen Reduplikation dieses Chromosoms, so entsteht ebenfalls eine UPD. Während beim erstgenannten Mechanismus die beiden Homologe eines Elternteils entweder insgesamt oder in Abhängigkeit von der Anzahl der meiotischen Rekombination zumindest teilweise vorliegen (Heterodisomie), finden sich beim zweiten Mechanismus 2 Kopien nur eines elterlichen Chromosoms (Isodisomie). Die Unterscheidung beider Mechanismen ist wichtig, um die möglichen Konsequenzen zu verstehen. Zwei Kopien eines elterlichen Chromosoms erlauben eine Homozygotisierung autosomal-rezessiver Mutationen. Eine autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung kann somit auftreten, obwohl nur ein Elternteil heterozygot ist. Unabhängig von Isodisomie oder Heterodisomie ist, dass bei einer UPD Erbanlagen, die einer genomischen Prägung unterliegen, völlig „stumm“ sein oder in doppelter Dosis exprimiert werden können. Folge können schwere, zum Teil bereits pränatal auftretende Entwicklungsstörungen sein (Abb. 5-24c).

5.4.3 Nummerische Aberration der Geschlechtschromosomen Eine falsche Anzahl der Chromosomen X und Y ist relativ häufig zu beobachten. Offenbar sind diese (ungleichen!) Chromosomen besonders oft einer Fehlverteilung bei der Meiose ausgesetzt. Ein weiterer Grund für die hohe Inzidenz mag darin liegen, dass Zellen mit überzähligen X-Chromosomen keinen wesentlichen Nachteil erleiden und somit keiner negativen Selektion unterliegen. Die überzähligen X-Chromosomen werden nämlich genetisch inaktiviert, da die X-Inaktivierung durch Methylierung nicht nur bei einem überzähligen X-Chromosom funktioniert, sondern auch – mindestens teilweise – bei mehreren X-Chromosomen. Das Y-Chromosom ist für das Leben entbehrlich. Es enthält nach heutigem Wissensstand nur die Geninformationen, die für die Differenzierung zum männlichen Geschlecht und zur Spermienbildung notwendig sind. Ein zusätzliches Y-Chromosom, Karyotyp 47, XYY, tritt mit einer Inzidenz von

1:900 im männlichen Geschlecht auf und führt zu Hochwuchs und leichten Verhaltensstörungen wie Kontaktschwäche und Impulsivität.

Abb. 5-24 Chromosomale Aberrationen (Histologien HE, Vergr. 100fach).

a Normaler Fetus der 25. Schwangerschaftswoche und seine Plazenta. Altersentsprechend entwickelte Architektur der Chorionzotten. b Ein triploider Fetus mit einem kompletten zusätzlichen Chromosomensatz, der hier von der Mutter stammt, zeigt eine schwere intrauterine Dystrophie mit sehr kleiner Plazenta. Charakteristisch sind Verwachsungen zwischen Fingern und Zehen (Syndaktylien). c Ein Fetus mit uniparentaler Disomie des Chromosoms 16 zeigt eine intrauterine Dystrophie. Dies kann bedingt sein durch den Einfluss geprägter Gene auf dem Chromosom 16, von dem beide Exemplare von einem Elternteil stammen, oder durch die deutliche Entwicklungsstörung der Chorionzotten in der Plazenta, die in diesem Fall eine Trisomie 16 zeigen (zur Entstehung vgl. Abb. 5-4). d Die uniparentale paternale Diploidie, d.h. zwei Chromosomensätze mit ausschließlich väterlicher Herkunft, ist die Grundlage der kompletten Blasenmole. Molig (= blasig) degenerierte Zotten mit trophoblastären Wucherungen an der Oberfläche stellen das einzige „Schwangerschaftsprodukt“ dar, ein Embryo oder Fetus wird nie beobachtet. e Die Monosomie X ist in 99,9% der Fälle letal, vermutlich wegen Fehlern im Aufbau des Lymphgefäßsystems, die in typischen Nackenblasen resultieren. f Die Trisomie 18 ist durch intrauterine Dystrophie und Mikrozephalie gekennzeichnet. Charakteristisch ist die Tendenz des 2. und 5. Fingers zur Überkreuzung der anderen Finger. Die Füße zeigen oft eine sog. Wiegenkufenform. g Bei der Trisomie 13 findet sich eine charakteristische Störung der Mittellinie des Gesichts, die unterschiedliche Schweregrade erreicht. Schwerste Ausprägungsform ist die Zyklopie, bei der das Gehirn keine Trennung in Hemisphären mehr aufweist (Holoprosenzephalie, unten ganz rechts). Daneben ein normales Gehirn der 21. Schwangerschaftswoche zum Vergleich. Die Überkreuzungstendenz der Finger kommt auch hier vor, zusätzlich werden aber überzählige Finger beobachtet (Hexadaktylie). Ein zusätzliches X-Chromosom beim männlichen Geschlecht, Karyotyp 47, XXY (Klinefelter-Syndrom), tritt mit einer Inzidenz von 1:500 Männern auf. Hier ist trotz der Inaktivierung des überzähligen X-Chromosoms eine Störung der Geschlechtsentwicklung zu beobachten, bei der es zu kleinen und letztlich auch funktionslosen Geschlechtsorganen kommt; es besteht Sterilität. Manche KlinefelterPatienten zeigen eine Gynäkomastie. Die Intelligenz kann leicht vermindert sein. Selten werden Verhaltensstörungen wie Antriebsarmut und Konzentrationsschwäche beobachtet. Eine deutlich schwerere Symptomatik tritt bei den Karyotypen XXYY, XXXY, XXXXY etc. auf.

Eine sehr hohe Inzidenz haben Feten mit Monosomie X (Turner-Syndrom). Der größte Teil dieser Feten wird aber spontan abortiert und zeigt dann meist eine große Nackenblase (Abb. 5-24e), häufig auch Ödeme und Ergüsse in den Körperhöhlen sowie eine charakteristische Entwicklungsstörung der Plazenta. Der Karyotypus 45, X findet sich bei weiblichen Neugeborenen dann nur noch mit einer Inzidenz von 1:5000. Äußere Stigmen können sehr gering sein. Charakteristisch ist eine Hautfalte von den Ohren zu den Schultern (Pterygium colli), die möglicherweise den Restzustand der durch die Nackenblasen gedehnten Haut darstellt. Charakteristisch sind auch ein Kleinwuchs (Erwachsene bleiben meist unter 145 cm) sowie das Ausbleiben von Pubertätszeichen mit primärer Amenorrhö und Sterilität. Herzfehler, wie eine Aortenisthmusstenose, sind leicht gehäuft; die Intelligenz ist meist weitgehend normal. Häufig finden sich auch nummerische Mosaike (46, XX/45, X0), strukturelle Veränderungen an einem XChromosom oder Mosaike einer normalen Zelllinie und einer Zelllinie mit einer strukturellen Veränderung eines X-Chromosoms. Je nach Aberration ist der Phänotyp mehr oder weniger abgeschwächt.

5.4.4 Störungen der Ploidie Bei den oben besprochenen Monosomien und Trisomien weichen nur einzelne Chromosomen von der normalen Zweizahl ab. Liegt in einem Zellkern jedes Chromosom nur in einfacher Zahl vor, so spricht man von einem haploiden Chromosomensatz. Haploide Embryonen sind im menschlichen Abortmaterial nicht beobachtet worden. Es ist aber möglich, dass sich eine haploide Zygote durch Reduplikation des genetischen Materials ohne anschließende Zellteilung diploidisiert. Beim Menschen führt das zur kompletten Blasenmole, bei der es sich um eine Schwangerschaftsanlage ohne Embryo handelt, die durch blasig aufgetriebene Chorionzotten ohne fetale Blutgefäße gekennzeichnet ist (Abb. 5-24d). Alle 46 Chromosomen einer solchen Blasenmole stammen vom Vater. Man nimmt an, dass ein Teil der Blasenmolen entsteht, wenn der weibliche Vorkern eines befruchteten Eis degeneriert und deshalb die DNA des männlichen Pronukleus verdoppelt wird, um sicherzustellen, dass eine diploide Zygote entsteht (uniparentale Diploidie). Die dazu komplementäre Konstellation ist eine uniparentale Diploidie mit ausschließlich mütterlichem Genom. Dies findet sich in Teratomen des Ovars, bei denen es sich um eine unorganisierte Masse differenzierenden Embryonalgewebes handelt, jedoch ohne Anteile einer Plazenta. Ist jedes Chromosom dreifach vorhanden, spricht man von einer Triploidie (d.h. 3×23 = 69 Chromosomen). Menschliche Embryonen mit einer Triploidie sind trotz der gewaltigen Überdosis an genetischem Material in einem gewissen Maß entwicklungsfähig und kommen in seltenen Fällen bis zur Geburt. Typische Zeichen sind eine schwere Hypotrophie mit relativ großem Kopf sowie Verwachsungen der Finger und Zehen; solche Syndaktylien sind zwischen dem 3. und 4. Strahl besonders häufig (Abb. 5-24b). Triploidien entstehen durch Fehler bei der Keimzellbildung und Befruchtung und dürften bei ca. 1% aller Zygoten zu finden sein; bis zur Geburt wird die Inzidenz durch negative Selektion auf nur noch 1:20000 vermindert. Wenn der zusätzliche Chromosomensatz eines triploiden Fetus vom Vater

stammt, führt die relative Überdosis paternal exprimierter Gene wiederum zum Bild der Blasenmole in einem Teil der Chorionzotten der Plazenta (partielle Blasenmole).

Literatur Jones, K.L.: Smith's recognizable patterns of human malformation, 5th ed. Saunders, Philadelphia 1997. Scriver, C.R., A.L. Beaudet, W.S. Sly, D. Valle: The metabolic and molecular basis of inherited disease, 8th ed. Mc Graw-Hill, New York 2001. Strachan, T., A.P. Read: Molekulare Humangenetik. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg–Berlin–Oxford 1996.

FRAGEN 1 Warum liegt den meisten Stoffwechselkrankheiten ein Funktionsverlust beider Allele des betreffenden Gens zugrunde? 2 Relativ selten reicht der Ausfall eines Allels aus für die Manifestation einer Krankheit. a)

Welches sind die Erklärungsmöglichkeiten?

b)

Nennen Sie den Erbgang bzw. die Erbgänge.

3 Wodurch sind Mutationen mit Verschiebung des Leserasters (frame shift) gekennzeichnet? Nennen Sie eine häufige Konsequenz. 4 Worin besteht die „normale“ Gendosis? 5 Welche genetisch bedingten Krankheiten beruhen auf einem Gendosis-Effekt? 6 Welche Informationen müssen für eine erfolgreiche und aussagekräftige Durchführung einer Kopplungsanalyse vorliegen?

6

Allgemeine Tumorpathologie W. BÖCKER P. KLEIHUES H.K. HÖFLER S. LAX C. POREMBA R. MOLL 6.1 Definition des Tumorbegriffs 169 6.1.1

Dignitätsbeurteilung eines Tumors 170

6.1.2

Differenzierung und Histogenese 173

6.2 Epidemiologie 174 6.2.1

Inzidenz und Mortalität 174

6.2.2

Krebsrisikofaktoren 176

Chemische Verbindungen 178 Ernährung 180 Chronische Infektionen 180 Strahlen 182 Genetische Faktoren 183 6.3 Molekulare Mechanismen der Zelltransformation und Tumorentstehung 184 6.3.1

Kanzerogenese 184

6.3.2

Molekularbiologie 184

Onkogene (Protoonkogene 184 Tumorsuppressorgene 189 Molekulare Mechanismen der Apoptose 191 Telomere, Telomerase 191

DNA-Reparaturgene 191 Spezifische Tumortherapie mit Signalübertragungshemmern 192 6.4 Tumorwachstum 193 6.5 Invasion und Metastasierung 196 6.5.1

Invasion 196

6.5.2

Metastasierung 197

Metastasierungswege 198 6.6 Klassifikation 199 6.7 Nomenklatur der Tumoren 199 6.7.1

Epitheliale Tumoren 199

Benigne epitheliale Tumoren 199 Maligne epitheliale Tumoren (Karzinome) 202 Maligne invasive epitheliale Tumoren (invasive Karzinome) 203 6.7.2

Mesenchymale Tumoren 205

Benigne mesenchymale Tumoren 205 Maligne mesenchymale Tumoren (Sarkome) 206 Sonderformen mesenchymaler Tumoren 206 6.7.3

Tumoren des lymphatischen Systems 207

6.7.4

Keimzelltumoren 207

6.7.5

Embryonale Tumoren (Blastome) 208

6.8 Auswirkungen/Folgen/Klinik 208 6.8.1

Lokale Auswirkungen 208

6.8.2

Systemische Auswirkungen 209

Hormonelle Überfunktionssyndrome endokriner Tumoren 209 Paraneoplastische Syndrome (Paraneoplasien) 210

Tumormarker 210 Tumorkachexie 211 Tumoranämie 212 6.9 Bedeutung der Pathologie in der Tumordiagnostik 212 6.9.1

Zytodiagnostik 212

6.9.2

Histologische Diagnosesicherung 213

6.10 214

Tumorabwehr und Mechanismen der Manipulation des Immunsystems

Literatur 216 Fragen 217

Zur Orientierung Tumoren stellen die klinisch wichtigste Form eines Überschusswachstums dar. Nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen stehen sie an zweiter Stelle der Todesursachenstatistik. Hinsichtlich ihres Verlaufs und ihrer klinischen Symptomatik zeigen die Tumoren heterogene Krankheitsbilder: Das Spektrum reicht von Tumoren, die bei entsprechender Behandlung mit einer normalen Lebenserwartung der Patienten verbunden sind, bis hin zu solchen, die unabhängig von der Therapie in kurzer Zeit zum Tode des Patienten führen. In Deutschland erkranken pro Jahr etwa 500 pro 100 000 Menschen an einem malignen Tumor. Das Ziel dieses Kapitels ist, Kenntnisse über Entstehungsmechanismen, Wachstum und biologische Eigenschaften von Tumoren zu vermitteln. Diese stellen ein „Basiswissen“ für das Verständnis von Symptomen sowie diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen bei Tumorerkrankungen dar. Die morphologische Tumordiagnostik ist trotz aller molekularen Fortschritte nach wie vor die Grundlage für Klassifikation, Prognose und Therapie von Tumoren.

6.1

Definition des Tumorbegriffs

Als Tumor (Syn.: Geschwulst, Neoplasma [= Neubildung], Neoplasie) bezeichnet man eine abnorme Gewebemasse, die durch Vermehrung von körpereigenen entarteten Zellen (transformierte Zellen, Tumorzellen) entsteht. Dieser Prozess ist v.a. das Ergebnis von Störungen der Wachstumskontrolle und Differenzierung (Proliferation) und des Zellverlusts (Apoptose) transformierter Zellen. Die Folge hiervon ist Tumorwachstum. Zusätzliche Eigenschaften

der Tumorzellen können zu einer Invasion und Streuung von Tumorzellen im Körper (Metastasierung) führen und/oder über freigesetzte Stoffwechselprodukte (z.B. Hormone) den Organismus schädigen. Die Ursachen von Tumoren liegen meist in komplexen Aberrationen im Genom einer Zelle. Im normalen Gewebe unterliegen Zellteilung (Proliferation), Differenzierung und Apoptose von Zellen einer Regulation durch extrazelluläre Signale. So wird z.B. die Zellteilung durch Wachstumsfaktoren kontrolliert. Dieser Prozess ist eng an die Zellverlustrate gekoppelt. Aus diesem Gleichgewicht resultiert eine präzise regulierte Massenkonstanz von Geweben und Organen im Erwachsenenalter. Die durch genetische Veränderungen ausgelöste Transformation von Zellen zu Tumorzellen geht mit einer Störung der zellulären Regulationsmechanismen einher. So kann z.B. die Tumorzelle aufgrund einer „endogenen Stimulation“ proliferieren, ohne dass ein externer Wachstumsstimulus vorliegt. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von autonomem Tumorwachstum. Da dieser Prozess progressiv und nicht mit dem normalen Gewebe koordiniert ist, kommt es zur Bildung einer abnormen Gewebemasse (Tumor). Für das Tumorwachstum spielt die durch die Tumorzelle induzierte Gefäßneubildung (Tumorangiogenese) mit Ausbildung des Tumorstromas eine entscheidende Rolle. Jeder Tumor besteht somit aus den eigentlichen Tumorzellen (Tumorparenchym) und einem gefäßhaltigen Stützgewebe (Tumorstroma). Das Stroma dient als Stütze und ist wichtig für die Blutversorgung des Tumors. Zusätzlich zum unkontrollierten Wachstum können Tumorzellen die Fähigkeit erlangen, Gewebe zu infiltrieren und im Gesamtorganismus zu streuen. Die klinischen Symptome eines Tumors entstehen durch lokales Wachstum (z.B. Druck, Gewebedestruktion), Wirkungen von Stoffwechselprodukten der Tumorzellen (z.B. Hormone oder hormonähnliche Substanzen) auf den Gesamtorganismus sowie durch fortschreitende Streuung im Gesamtorganismus. Ein Tumor kann schließlich Schädigungen verursachen (Tumorerkrankung), die letztendlich den Tod des Gesamtorganismus herbeiführen können.

6.1.1 Dignitätsbeurteilung eines Tumors In der klinischen Praxis hat sich als entscheidendes pragmatisches Einteilungsprinzip einer Tumorerkrankung die Unterscheidung in gutartige (benigne) und bösartige (maligne) Tumoren herauskristallisiert. Das Verhalten eines Tumors (Dignität) ist häufig aus der Morphologie abzuleiten, sodass die morphologische Beurteilung von Tumorgewebe eine besondere Bedeutung hat. Die wichtigsten Unterscheidungskriterien zwischen benignen und malignen Tumoren sind in Tab. 6-1 aufgeführt.

Benigne Tumoren Benigne Tumoren sind überwiegend durch ein langsames, expansiv-verdrängendes Wachstum gekennzeichnet, d.h., die durch das Zellwachstum entstehende zusammenhängende Tumormasse führt zu Verdrängung und Kompression des angrenzenden normalen Gewebes mit Ausbildung einer Druckatrophie. Benigne Tumoren sind überwiegend gut begrenzt und können eine fibröse Kapsel aufweisen (Abb. 6-1). Histologisch zeigen sie einen hohen Differenzierungsgrad, d.h., sie ähneln dem entsprechenden Normalgewebe. Meist enthalten sie gleichförmige (monomorphe) Zellen (Abb. 6-2).

Tab. 6-1 Unterscheidungsmerkmale zwischen benignen und malignen Tumoren.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die klinischen Symptome entwickeln sich aufgrund des langsamen Wachstums häufig über Monate und Jahre. Tumoren lassen sich durch verschiedene klinische Methoden wie z.B. Palpation oder bildgebende Verfahren (Röntgendiagnostik, Magnetresonanztomographie, Sonographie u.a.) nachweisen. Benigne Tumoren können in der Regel durch eine chirurgische Exzision entfernt werden (Heilung). Gelegentlich verursachen sie aber schwerwiegende Komplikationen. So kann ein benigner Tumor des Gehirns oder der Meningen durch unmittelbare Druckeinwirkung auf lebenswichtige Zentren zum Tode des Tumorträgers führen. Benigne Gefäßtumoren verursachen durch Ruptur schwere, zum Tode führende Blutungen (z.B. Hämangiome der Leber mit Blutungen in den Bauchraum). Tumoren der endokrinen Organe können Überfunktionssyndrome bewirken: So verursachen Tumoren des Nebennierenmarks über die Ausschüttung von Noradrenalin und/oder Adrenalin Hochdruckkrisen mit entsprechenden Komplikationen. Tumoren des endokrinen Pankreas können über die Sekretion von Insulin (Hyperinsulinismus) Hypoglykämien auslösen (siehe Kap. 46.3.2).

Abb. 6-1 Makroskopischer Aspekt eines follikulären Schilddrüsenadenoms.

Der Tumor (T) ist scharf gegen das angrenzende normale Schilddrüsengewebe (S) abgegrenzt. Eine umschriebene Einblutung ist mit X gekennzeichnet.

Abb. 6-2 Histologischer Ausschnitt aus dem Randbereich eines follikulären Schilddrüsenadenoms (A) mit scharfer Begrenzung und sehr zarter Kapsel (Pfeile).

Der Tumor zeigt eine ähnliche follikuläre Differenzierung wie das angrenzende normale Schilddrüsengewebe (S) mit unterschiedlich großen Follikeln (Sterne). HE, Vergr. 50fach.

Maligne Tumoren Maligne Tumoren zeichnen sich durch invasives und destruierendes Wachstum sowie durch die Fähigkeit zur Verschleppung und Absiedlung von Zellen in andere Gewebe und/oder Organe (Metastasierung) aus. Histologisch zeigen maligne Tumoren im Vergleich zum Normalgewebe meist stärkere Kern- und Zellveränderungen, sog. Atypien. Das entscheidende Merkmal maligner Tumoren liegt in der Fähigkeit ihrer Tumorzellen, das normale Gewebe zu infiltrieren (Invasion) und zu zerstören (Destruktion). Dementsprechend findet man beim malignen Tumor schon makroskopisch eine tumoröse Durchsetzung des normalen Gewebes mit Zerstörung des Parenchyms. Meist haben diese Tumoren eine unscharfe Begrenzung (Abb. 6-3 und 6-4). Bei nicht ausreichender chirurgischer Entfernung kommt es daher, ausgehend von den verbliebenen Tumorzellen, zu einem Weiterwachsen und Wiederauftreten des Tumors (Tumorrezidiv). Die Fähigkeit der Tumorzellen zum invasiven Wachstum führt darüber hinaus zu Einbrüchen in Lymph- und Blutgefäße. Auf diese Weise können Tumorzellkomplexe verschleppt werden und an anderer Stelle weiterwachsen (Metastase).

Histologisch zeigen maligne Tumoren in unterschiedlichem Ausmaß einen Verlust der zellulären und geweblichen Ausreifung. Dieser Differenzierungsverlust kann so ausgeprägt sein, dass undifferenzierte (anaplastische) Tumoren entstehen, die keinerlei Ähnlichkeit zum Muttergewebe aufweisen.

Abb. 6-3 Magenkarzinom mit ausgeprägter Infiltration der gesamten Magenwand.

Im Randbereich ist die normale Wandschichtung noch erkennbar. Die gestrichelte Linie weist die Grenze von Tumor (weiß) zu angrenzenden normalen Wandschichten. M = Mukosa, Sm = Submukosa, Mp = Muscularis propria, S = Serosa.

Abb. 6-4

Magenkarzinom.

Histologische Darstellung eines atypischen Drüsenkomplexes, der die glatte Muskulatur der Muscularis propria infiltriert. HE, Vergr. 320fach.

Tumoren sind durch eine Reihe von zellulären Merkmalen charakterisiert, die für die morphologische Diagnostik von Bedeutung sind. Die Gesamtheit dieser Merkmale wird unter dem Begriff der Atypie (Abb. 6-5) zusammengefasst. Diese Merkmale sind in malignen Tumoren meist in besonderem Ausmaß entwickelt. Der Atypie liegen folgende Veränderungen zugrunde: ■

Zellpolymorphie. Variabilität von Zellgröße und -form.



Anisonukleose (-karyose). Auftreten unterschiedlich großer Kerne.



Kernpolymorphie. Unterschiede in der Kernform.

■ Kernhyperchromasie. Vergröbertes und stärker anfärbbares Kernchromatin aufgrund eines erhöhten DNA-Gehalts der Tumorzellkerne. ■ Mitosefiguren. Vermehrtes Auftreten normaler sowie insbesondere atypischer Kernteilungsfiguren, wie z.B. tri- oder tetrapolarer Mitosen. Die Zahl der Mitosen ist bei einer Reihe von Tumoren für die Bestimmung der Dignität (z.B. bei leiomyomatösen Tumoren) und der Prognose (z.B. bei Mammakarzinomen) von großer Bedeutung. ■

Nukleolenvergrößerung.



Verschiebung der Kern-Plasma-Relation zugunsten des Kerns.

■ Vermehrte zytoplasmatische Basophilie der Tumorzellen. Umstellung vom Funktionsstoffwechsel zum Proliferationsstoffwechsel mit Vermehrung des zytoplasmatischen RNA-Gehalts.

Abb. 6-5

Mammakarzinom.

Histologische Merkmale eines wenig differenzierten Karzinoms mit starken zellulären Atypien: Zellpolymorphie, Anisonukleose sowie deutliche Kernhyperchromasie. Im Zentrum eine atypische Mitose (Pfeil). HE, Vergr. 400fach. Im Vergleich zum Normalgewebe zeigen maligne Zellen Veränderungen ihres DNAGehalts, der sich mithilfe der Durchflusszytometrie messen lässt (siehe Kap. 1.3.7). Die normale menschliche Zelle besitzt einen doppelten Chromosomensatz (2n). Dies wird als Diploidie oder Euploidie bezeichnet. Zytometrische Untersuchungen von malignen Tumoren zeigen, dass Tumorzellen häufig einen erhöhten DNA-Gehalt aufweisen, der sich im histologischen Schnitt als Kernhyperchromasie manifestiert. Der DNA-Gehalt kann ein Mehrfaches des diploiden Chromosomensatzes (Polyploidie, wie z.B. tetraploid [4n] oder oktaploid [8n]) betragen oder aber Werte aufweisen, die dazwischenliegen (z.B. hyperdiploid [2,5n] oder triploid [3n]). Wenn zahlreiche Zellen eines Tumors denselben DNA-Gehalt aufweisen, spricht man von einer Stammzelllinie. Insbesondere hochdifferenzierte Tumoren weisen derartige Stammzelllinien auf. Bei wenig differenzierten malignen Tumoren findet man dagegen eine breite Streuung der DNA-Werte (Aneuploidie) mit oder ohne Stammzelllinien. Auf der chromosomalen Ebene gehen die oben aufgeführten DNA-Veränderungen mit einer erhöhten Zahl von Chromosomen und mit Chromosomenabnormalitäten einher. In der morphologischen Diagnostik sind invasives und destruierendes Wachstum sowie Metastasierung die wichtigsten Kriterien der Malignität. Auch die zytologischen Merkmale der Atypie sind charakteristische Malignitätszeichen, sie müssen aber in ihrer Wertigkeit im morphologischen und klinischen Zusammenhang gesehen und interpretiert werden.

Semimaligne Tumoren Semimaligne Tumoren stellen eine Sonderform dar. Sie wachsen zwar lokal invasiv und destruktiv, metastasieren jedoch nicht. Ein Beispiel ist das Basaliom der Haut. Es kann die Dermis, das subkutane Fettgewebe und auch angrenzende Strukturen infiltrieren, metastasiert aber nicht. Bei ungünstiger Lokalisation und unvollständiger Entfernung kann ein Basaliom aber durchaus zum Tode des Patienten führen. Vom Gesicht ausgehend, kann es z.B. Schädelbasis und Gehirn infiltrieren.

Präinvasives Karzinom (In-situ-Karzinom, intraepitheliale Neoplasie) Präinvasive Karzinome sind durch eine Proliferation atypischer, neoplastischer Zellen innerhalb des ursprünglichen Epithelverbandes gekennzeichnet. Ihre Bedeutung liegt darin, dass sie sich zu invasiven Karzinomen entwickeln können. Durch Entfernung dieser Vorläuferläsion kann man die Entstehung eines malignen metastasierungsfähigen Tumors verhindern.

Mikroinvasives Karzinom und Frühkarzinom Das mikroinvasive Karzinom ist ein invasives Karzinom, das aus einem präinvasiven Karzinom entstanden ist. Es ist durch eine frühe, meist umschriebene Invasion gekennzeichnet. Das Frühkarzinom des Magens stellt ein Adenokarzinom mit Invasion von Mukosa und/oder Submukosa dar. Es zeichnet sich gegenüber den fortgeschrittenen Magenkarzinomen durch eine exzellente Prognose (nach Operation) aus.

Präkanzerosen Unter dem Begriff Präkanzerosen fasst man genetische, klinische und/oder morphologisch definierte Erkrankungen zusammen, die mit einer erhöhten Inzidenz von malignen Tumoren einhergehen. Man unterscheidet: ■ Präkanzeröse Kondition. Zu den präkanzerösen (prämalignen) Konditionen zählen familiäre Dispositionen und/oder erworbene Erkrankungen. Bei einem Teil der familiären Dispositionen handelt es sich um genetisch bekannte Defekte (siehe Kap. 6.2.2). Bei den erworbenen Erkrankungen sind insbesondere chronische Infektionen zu nennen (siehe Kap. 6.2.2). ■ Präkanzeröse Läsion. Hierbei handelt es sich um histologisch definierte Läsionen, die mit einer erhöhten Inzidenz von malignen Tumoren einhergehen. Zu den obligaten Präkanzerosen gehören die intraepithelialen Neoplasien sowie die Dysplasien, deren Entartungsrisiko relativ hoch ist. Fakultative Präkanzerosen umfassen benigne proliferative Läsionen, die selten und meist erst nach langer Zeit zu malignen Tumoren führen oder aber ein geringes allgemeines Karzinomrisiko für das betroffene Organsystem darstellen. Die präkanzerösen Konditionen führen meist über präkanzeröse Läsionen zu einem Karzinom.

6.1.2 Differenzierung und Histogenese Tumoren weisen häufig eine gewebespezifische zelluläre, histoarchitektonische und funktionelle Ausreifung auf, die sich in der Ähnlichkeit des Tumorgewebes zum Normalgewebe ausdrückt. Diese Ausreifung bezeichnet man als Differenzierung; sie ist in Tumoren unterschiedlich ausgeprägt. So zeigt z.B. ein vom Follikelepithel der Schilddrüse ausgehender hochdifferenzierter Tumor histologische und funktionelle Merkmale des Normalgewebes. Immunhistochemisch findet man als Zeichen der funktionellen Differenzierung Thyreoglobulin in den Tumorzellen. In der Diagnostik von Tumoren macht man sich diese Tatsache zunutze, indem man aus der Morphologie eines metastasierten Tumors auf das Ursprungsgewebe schließt (Histogenese). Das histogenetische Einteilungsprinzip hat somit Bedeutung in der Diagnostik von Tumormetastasen (Rückschluss auf das Ursprungsorgan) und dient als Basis einer spezifischen Tumortherapie (Abb. 6-6). Beim Fortschreiten eines Tumors kann die gewebliche Differenzierung zunehmend verloren gehen. So kann ein Schilddrüsenkarzinom die Fähigkeit zum kohäsiven Wachstum und zur Follikelbildung verlieren und eine zunehmende Gewebeanarchie zeigen. Darüber hinaus verliert es auch die Fähigkeit der Thyreoglobulinsynthese. Dieses Phänomen bezeichnet man als Entdifferenzierung oder Anaplasie. Entdifferenzierte oder anaplastische Tumoren zeichnen sich somit aus durch:

Abb. 6-6a,b,c

a Normale Schilddrüse mit unterschiedlich großen Follikeln (Sterne). HE, Vergr. 100fach. b Follikuläres Schilddrüsenkarzinom. Der Tumor ist ebenfalls follikulär aufgebaut und zeigt darin seine Ähnlichkeit zum Muttergewebe (Sterne = Follikel). HE, Vergr. 250fach.

c Anaplastisches Schilddrüsenkarzinom mit ausgeprägter Kern- und Zellatypie. HE, Vergr. 250fach. ■

eine ausgeprägte Zell- und Kernpolymorphie sowie vermehrte Mitosefiguren,

■ starke funktionelle Abweichungen vom Muttergewebe mit Vereinfachung des Stoffwechsels und Verlust organtypischer Funktionen, ■

eine zunehmende Gewebeanarchie.

Diese Merkmale finden ihr elektronenmikroskopisches Korrelat im weitgehenden Fehlen organtypischer zytoplasmatischer Organellen und in einer Vermehrung der Ribosomen (vermehrte Basophilie des Zytoplasmas im histologischen Schnittpräparat). Anaplastische Tumoren verschiedener Gewebe können sich somit funktionell und morphologisch angleichen (funktionelle und morphologische Konvergenz). Bei einer Metastase ist eine histogenetische Aussage über den Sitz des Primärtumors dadurch meist nicht mehr möglich; häufig lassen sich aber in diesen Tumoren immunhistochemisch noch gewebespezifische Zytoskelettkomponenten nachweisen, die zwar nicht mehr auf das Ursprungsorgan, aber z.B. auf eine epitheliale oder mesenchymale Herkunft hindeuten. In Abhängigkeit vom Differenzierungsgrad reicht somit das Spektrum vom hochdifferenzierten Tumor mit hoher zellulärer, funktioneller und struktureller Ähnlichkeit zum Muttergewebe (z.B. follikuläres Schilddrüsenkarzinom, hochdifferenziertes verhornendes Plattenepithelkarzinom) bis hin zum anaplastischen Tumor ohne jede Ähnlichkeit zum Muttergewebe (z.B. anaplastisches Schilddrüsenkarzinom).

6.2

Epidemiologie

Zuverlässige epidemiologische Daten zum Vorkommen und Verlauf von Tumorerkrankungen sind die Basis für jede nationale oder regionale Krebsbekämpfungsstrategie, insbesondere für die Erkennung und Evaluation von Risikofaktoren und die Bewertung des Erfolges von Präventionsmaßnahmen und Therapiefortschritten. Sammlung und Auswertung der Daten erfolgen in Krebsregistern, deren Ziel es ist, in einem bestimmten geographischen Bezirk mit bekannter Bevölkerungszahl, Alters- und Geschlechtsverteilung (z.B. Bundesland, Kanton, Landesteil) möglichst alle Krebserkrankungen zu erfassen. Daneben werden durch die Auswertung der nationalen Todesursachenstatistik wertvolle Aussagen über die Krebsmortalität in der Bevölkerung gewonnen.

6.2.1 Inzidenz und Mortalität Die Häufigkeit des Auftretens bestimmter Tumoren oder Tumorgruppen wird als Tumorinzidenz bezeichnet und ist definiert als Zahl der Neuerkrankungen pro 100000 Personen und Jahr. Um die Inzidenz für Länder mit unterschiedlicher Bevölkerungsstruktur vergleichbar zu machen, werden die Daten auf eine Standardaltersverteilung umgerechnet (sog. agestandardized rate, ASR). In Westeuropa betrug die altersstandardisierte Inzidenzrate im Jahre 1990 für alle malignen Tumoren zusammen etwa 270 für Männer und 200 für Frauen. Daraus leitet sich ab, dass in Deutschland in einem Jahr insgesamt mehr als 300 000 Menschen an Krebs erkrankten. Die Tumormortalität ist definiert als Zahl der an einer Tumorerkrankung verstorbenen Patienten pro 100000 Personen und Jahr. Die altersstandardisierte Mortalität an allen malignen Tumoren zusammen beträgt in Europa 150–200 für Männer und 80–140 für Frauen; etwa 25% aller Menschen sterben derzeit an einer Tumorerkrankung. In asiatischen und afrikanischen Ländern sind Tumoren weniger häufig; dort liegt die Krebsmortalität an der unteren Grenze der westlichen Werte, z.B. in China bei 160 für Männer und bei 85 für Frauen. In neuerer Zeit erheben Krebsregister zunehmend auch die Überlebenszeit von Krebspatienten. Aus Inzidenz und mittlerer Überlebenszeit lässt sich für jeden Tumortyp die Prävalenz berechnen, d.h. den Prozentsatz der Bevölkerung, der zu einem definierten Zeitpunkt an einem Tumor erkrankt ist. Bei malignen Tumoren mit beschränkter Therapiemöglichkeit (z.B. Bronchialkarzinom) ist der Unterschied zwischen Inzidenz (z.B. 55,6 bei Männern in Österreich; 1990) und Mortalität (45,4) und somit auch die Prävalenz gering. Bei Mammakarzinomen hingegen ist wegen der günstigeren Prognose die Inzidenzrate (59,1) wesentlich höher als die Mortalität (22,3); eine entsprechend hohe Prävalenz ist die Folge.

Altersverteilung Trotz genereller Tendenz eines bevorzugten Auftretens maligner Tumoren in höherem Alter bestehen erhebliche organspezifische Unterschiede. Keimzelltumoren (siehe Kap. 6.7.4), embryonale Tumoren (siehe Kap. 6.7.5) und einige Formen hämatopoetischer Neoplasien manifestieren sich bevorzugt im Kindesund frühen Erwachsenenalter, Karzinome (siehe Kap. 6.7.1) hingegen im höheren Lebensalter. Beim Vergleich altersspezifischer Inzidenzraten ist es wichtig, die Daten für jede Altersgruppe populationsbezogen zu standardisieren (Abb. 6-7).

Abb. 6-7 Unterschiede in der altersbezogenen Inzidenz maligner Tumoren.

Während Mammakarzinome jenseits des 60. Lebensjahres ein Plateau erreichen, nimmt die Inzidenz (Erkrankungen pro 100000) von Prostata- und Bronchialkarzinomen bis ins hohe Alter zu (Quelle: IARC, Lyon 1998).

Abb. 6-8 Relative Häufigkeit maligner Tumoren bei Mann und Frau

(nach Claassen, Diehl, Kochsiek: Innere Medizin, Urban & Fischer).

Abb. 6-9a Inzidenz- und Mortalitätsraten für das maligne Melanom in der Europäischen Union im Jahre 1990.

Beachten Sie die generell höheren Melanomraten bei Frauen in Nordeuropa (nach EUCAN 90, IARC, Lyon, 1996).

Geschlechtsverteilung Geschlechtsgebundene Unterschiede in der Tumorinzidenz (Abb. 6-8) beschränken sich nicht auf Neoplasien des männlichen und weiblichen Genitaltrakts, sondern spiegeln auch eine unterschiedliche Exposition gegenüber Risikofaktoren wider. Dazu zählt die durch Rauchen oder durch Schäden am Arbeitsplatz verursachte höhere Inzidenz von Tumoren von Mund, Rachen, Lunge, Ösophagus und Harnwegen bei Männern. Eine ätiologisch nicht erklärbare Bevorzugung des weiblichen Geschlechts findet sich u.a. bei Meningeomen, beim malignen Melanom (Abb. 6-9a) und beim Schilddrüsenkarzinom, während Männer u.a. eine höhere Inzidenz von malignen

Gliomen, Leukämien, Magenkarzinomen (Abb. 6-9b) und hepatozellulären Karzinomen aufweisen.

Abb. 6-9b Inzidenz- und Mortalitätsraten für das Magenkarzinom in der Europäischen Union im Jahre 1990.

Beachten Sie die noch hohen Magenkrebsraten bei Männern in Mittel- und Südeuropa (nach EUCAN 90, IARC, Lyon, 1996).

Regionale Unterschiede Inzidenz und Mortalität maligner Tumoren zeigen eine erhebliche geographische Variabilität, die auf das Vorhandensein unterschiedlicher Krebsrisikofaktoren, eine unterschiedliche Qualität der Krebsfrüherkennung (Screening) und unterschiedliche Qualität der Therapie zurückzuführen ist. Früh industrialisierte Länder (Nordamerika, Westeuropa, Australien) weisen eine hohe Inzidenz von Lungen-, Darm-, Mammaund Prostatakarzinomen auf, während primäre Leberkarzinome bevorzugt in Afrika und Asien vorkommen. Die Mortalität an Zervixkarzinomen ist in Zentral- und

Südamerika, Ostafrika, Indien und benachbarten asiatischen Ländern am höchsten (Abb. 6-10).

6.2.2 Krebsrisikofaktoren Eine signifikante Senkung der Krebsinzidenz und Mortalität lässt sich langfristig nur durch primäre und sekundäre Prävention erreichen. Dies setzt jedoch die Kenntnis endogener und exogener Faktoren voraus, die kausal mit der Entstehung menschlicher Tumoren assoziiert sind. Dabei muss berücksichtigt werden, dass zwischen Beginn der Exposition und dem Auftreten eines Tumors bei Erwachsenen in der Regel ein Intervall von 25–40 Jahren liegt. Das Ziel der analytischen Epidemiologie besteht darin, diese Faktoren zu erkennen und die Krebsinzidenz (oder Mortalität) von Personengruppen, die unterschiedlichen Risiken ausgesetzt sind, miteinander zu vergleichen. Das relative Risiko (RR) bezeichnet das Verhältnis des Risikos bei Exponierten zum Risiko bei der nichtexponierten Bevölkerung, gibt also Faktoren an, um die sich die Erkrankungshäufigkeit bei einer definierten Exposition erhöht. Bei gleicher Exposition kann das relative Risiko für verschiedene Zielorgane sehr unterschiedlich sein (Tab. 62).

Tab. 6-2 Relatives Risiko von Rauchern, an einem malignen Tumor zu erkranken. Männer, die regelmäßig rauchen, haben ein mehr als 20fach erhöhtes Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken; bei Frauen ist das Risiko etwas geringer. Die rechte Spalte gibt (für Männer und Frauen) den Prozentsatz der Tumoren wieder, die weltweit durch Tabakkonsum verursacht werden; für Nordamerika und Europa sind diese Werte höher. Zur Bestimmung von Risikofaktoren werden epidemiologische Kohortenstudien durchgeführt, in denen Personengruppen anhand des Vorhandenseins bzw. Fehlens eines vermuteten Risikofaktors in zwei (oder mehr) Gruppen (Kohorten) eingeteilt werden; Inzidenz oder Mortalität der Gruppen kann dann miteinander verglichen werden.

Typische Beispiele sind Untersuchungen zum Lungenkrebsrisiko durch Radon bei Bergarbeitern oder Studien zum Auftreten von Leukämien bei Arbeitern in Kernkraftwerken.

Abb. 6-10 Regionale Unterschiede in der Krebshäufigkeit.

Beachten Sie die hohen Inzidenzraten für das Mammakarzinom (a) in Nordamerika, im Süden Lateinamerikas, in Westeuropa und Australien und für das Leberzellkarzinom (b) in Afrika und Asien (nach GloboCan, IARC, Lyon, 1997). Fall-Kontroll-Studien hingegen beginnen mit erkrankten Personen, den sog. Fällen, die nachträglich auf das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein bestimmter Risikofaktoren untersucht werden. Verglichen wird diese Gruppe mit einer Kontrollgruppe von nichterkrankten Personen mit derselben Alters- und Geschlechtsverteilung. Bei der Bewertung von epidemiologischen Studien ist stets zu untersuchen, ob der gefundene Zusammenhang zwischen einem Risikofaktor und der Krebsentstehung tatsächlich kausal ist oder durch Zufall, eine systematische Verzerrung (Bias) oder Störfaktoren (confounding factors) erklärt werden kann. Quantitativ zuverlässige Daten lassen sich auch bei einer relativ kleinen Zahl untersuchter Personen erzielen, wenn das relative Risiko sehr hoch ist, wie z.B. bei der Assoziation zwischen Rauchen und Lungenkrebs (RR > 20), Hepatitis-B-Infektion und Leberkrebs (RR > 20) und zwischen der Infektion mit Papillom-Viren (Typ 16 und 18) und dem Auftreten von Zervixkarzinomen. Ist dies nicht der Fall, lassen sich dennoch Aussagen erzielen, wenn die Probandenzahl sehr groß ist und relativ genaue Angaben über die Dauer und das Ausmaß der Exposition vorliegen. So stützt sich das Ergebnis eines erhöhten Risikos für Arbeiter in der Nuklearindustrie, an Leukämie zu erkranken (RR 1,20 bei 1 mSievert kumulativer Exposition, die nur von wenigen Arbeitern erreicht wird), auf die Untersuchung von 95000 Beschäftigten. Exposition gegenüber multiplen Kanzerogenen kann zu einem überproportionalen Anstieg des Risikos führen, z.B. die Kombination von Rauchen und Alkoholabusus (Karzinome der Mundhöhle und des Ösophagus), von Rauchen und Asbestexposition (Lungenkarzinom, Pleuramesotheliom) und, besonders in Afrika und Asien, Aflatoxin B1 und Hepatitis-B-Virus-Infektion (primäres Leberkarzinom). Wir kennen heute etwa 80 Kanzerogene, die beim Menschen Tumoren verursachen (Tab. 6-3); hinzu kommen etwa 60 Substanzen, deren kanzerogene Wirkung wahrscheinlich, jedoch nicht gesichert ist.

Chemische Verbindungen Unter den chemischen Kanzerogenen ist Rauchen (Komponenten des Rauchtabaks) bei weitem am wichtigsten. In Westeuropa ist Rauchen für 30–35%, weltweit für etwa 15% aller menschlichen Tumoren verantwortlich, mit noch immer steigender Tendenz. Neue Studien zeigen, dass die Zahl der mit Rauchen assoziierten Tumortypen weitaus größer ist, als früher angenommen wurde (Tab. 6-2).

Tab. 6-3 Wichtige, für den Menschen karzinogene chemische Substanzen. Die durchschnittliche Lebenserwartung von Rauchern ist um 7–8 Jahre reduziert (Abb. 6-11). Allein in Deutschland sterben jährlich etwa 50 000 Menschen an den Folgen dieser Sucht. Während in einigen Ländern (USA, Großbritannien, Finnland) Tabakkonsum und Lungenkrebsrate rückläufig sind, ist in Osteuropa und Asien ein starkes Anwachsen zu verzeichnen. Besonders beunruhigend ist der markante Anstieg des Rauchens bei jungen Frauen. In den USA sterben seit 1990 bereits mehr Frauen an tabakrauchinduziertem Lungenkrebs als an Brustkrebs.

Ein anderes gefährliches Kanzerogen ist Asbest, das gegen besseres Wissen bis Ende der 70er Jahre in der Bauindustrie verwendet wurde. Mit der typischen Verzögerung von 20–40 Jahren wird die Inzidenz von Pleuramesotheliomen voraussichtlich bis weit in dieses Jahrtausend ansteigen (Abb. 6-12).

Abb. 6-11

Reduktion der Lebenserwartung

um etwa 8 Jahre bei Zigaretten rauchenden britischen Ärzten im Vergleich zu Kollegen, die nie regelmäßig geraucht haben (nach R. Doll et al., Brit. Med. J. 309: 901–911, 1994).

Abb. 6-12

Spätfolgen der Asbestexposition.

Zunahme des Verbrauchs von Asbest in Großbritannien bis Ende der 70er Jahre (Säulen) und beobachtete (bis 1990) sowie geschätzte Zunahme der Todesfälle an Pleuramesotheliomen bei Männern bis zum Jahr 2040 (nach J. Peto et al., Lancet 345: 535–539, 1995). In Zentralafrika und einigen Ländern Asiens ist Aflatoxin B1, das von Schimmelpilzen bei der Lagerung von Getreide in tropischem Klima gebildet wird, allein oder in Kombination mit Hepatitis-B-Virus-Infektion für eine sehr hohe Inzidenz von Leberkrebs verantwortlich. Unter den Pharmaka sind einige Zytostatika kanzerogen und können für das spätere Auftreten eines zweiten Primärtumors nach Zytostatikatherapie verantwortlich sein; die Zahl der betroffenen Patienten ist jedoch relativ gering.

Pathogenese Die kanzerogene Aktivität aller chemischen Verbindungen bzw. ihrer aktiven Spaltoder Endprodukte beruht auf der Fähigkeit, mit zellulären Makromolekülen, insbesondere DNA und RNA, zu reagieren. Diese Reaktionsprodukte (Addukte) sind Auslöser einer Reihe zellulärer Fehlfunktionen wie DNA-Alkylierungen, DNAFehlpaarungen im Rahmen der Replikation und Transkription und Beeinträchtigung der DNA-Reparatur. Als gesichert gilt, dass v.a. Onkogene und Tumorsuppressorgene Ziele der für die Initiation infrage kommenden Noxen sind.

Chemische Kanzerogene sind Substanzen, die direkt oder als Prokanzerogen nach metabolischer Konversion in das wirksame (ultimale) Kanzerogen im Organismus ihre Wirksamkeit entfalten (siehe Tab. 6-3). Die kanzerogene Wirkung der Prokanzerogene hängt in erster Linie vom Ort ihrer Metabolisierung ab: Aus den aus der Umwelt aufgenommenen, zunächst biologisch inaktiven Prokanzerogenen werden im Organismus biologisch aktive, instabile Spaltprodukte und schließlich sehr reaktionsfähige Kanzerogene (Abb. 6-13). Wenn die für die Metabolisierung erforderlichen Enzyme im Organismus ubiquitär vorkommen, kann das Prokanzerogen an Ort und Stelle in ein Kanzerogen umgewandelt werden. Die induzierten Tumoren können dann bereits an der Eintrittspforte auftreten. So induzieren z.B. polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe an der Kontaktstelle Hautkrebs oder mit dem Zigarettenrauch inhalierte Benzpyrene Bronchialkarzinome. Verbindungen, die durch organspezifische Enzyme transformiert werden, führen zu Tumoren, die fernab der Eintrittspforte liegen. So werden Spaltprodukte aromatischer Amine (siehe unten) nach Hydroxylierung und Konjugation in der Leber und Dekonjugation in der Niere erst im Harn kanzerogen und entwickeln ihre Wirkung daher auch erst in den ableitenden Harnwegen, insbesondere in der Harnblase. Besondere Bedeutung hat die Konversion über die Nahrung aufgenommener Verbindungen durch Bakterien im Magen-Darm-Trakt. So können Nitrate und Nitrite bei Anwesenheit von Proteinen durch Bakterien (z.B. Helicobacter) zu kanzerogenen Nitrosaminen umgewandelt werden und die Entstehung von MagenDarm-Karzinomen begünstigen. Die Vielfalt der möglichen Reaktionsmechanismen chemischer Noxen sowie die unterschiedlichen zellulären DNA-Reparatursysteme sind für die Organ- und Speziesspezifität chemischer Kanzerogene verantwortlich. Die Übertragung von Erkenntnissen aus Tierexperimenten auf den Menschen ist allerdings nur mit Vorbehalt möglich.

Abb. 6-13

Chemische Kanzerogenese

am Beispiel der Benzpyrene (a), der aromatischen Amine (b) sowie der Nitrate und Nitrite (c).

Typen chemischer Kanzerogene ■ Aromatische Kohlenwasserstoffe. Die wichtigste Gruppe chemischer kanzerogener Noxen (siehe Tab. 6-3) repräsentieren die aromatischen Kohlenwasserstoffe. Bereits seit Anfang dieses Jahrhunderts ist bekannt, dass Teerpinselungen im Tierexperiment Hautkarzinome induzieren. Da nach Resorption die Bioaktivierung (Hydroxylierung) polyzyklischer aromatischer Kohlenwasserstoffe in allen Organen erfolgt, tritt der kanzerogene Effekt auch in zahlreichen Organen auf (z.B. Bronchialund Blasenkarzinome bei Rauchern). Die größte Bedeutung haben chemische Kanzerogene im Tabakrauch. Vor allem 3,4Benzpyren ist für das signifikant häufigere Auftreten von Bronchialkarzinomen bei Rauchern verantwortlich. ■ Aromatische Amine haben im Gegensatz zu aromatischen Kohlenwasserstoffen keinen lokalen Effekt, da ihre Bioaktivierung erst durch Enzyme der Leber und Niere erfolgt (siehe oben). ■ Andere Substanzen. Das schwangeren Frauen verabreichte synthetische Östrogen Diethylstilböstrol führte bei den Töchtern in hoher Inzidenz zu Adenokarzinomen der Vagina. Synthetische Androgene und anabole Steroide sowie Kontrazeptiva können zu Leberadenomen führen. Von Pilzen produzierte Toxine (Mykotoxine) wie das Aflatoxin B1 des Aspergillus flavus sind zumindest bei Tieren als Verursacher von Leberkarzinomen bekannt. Bei Parasiten ist die enge Assoziation von Infektionen durch Clonorchis sinensis (chinesischer Leberegel) mit cholangiozellulären Karzinomen und von Schistosoma mansoni mit Plattenepithelkarzinomen der Harnblase gut dokumentiert.

Ernährung Die hohe Tumorinzidenz in industrialisierten westlichen Ländern ist zu etwa 30% auf ungesunde Ernährung zurückzuführen, v.a. auf eine zu kalorienreiche, ballaststoffarme Diät mit hohem Gehalt an tierischen Fetten, unzureichendem Anteil von frischem Obst und Gemüse, verbunden mit Bewegungsarmut. Damit assoziiert ist eine hohe Inzidenz von Karzinomen des Kolons, des Rektums, der weiblichen Brust, der Ovarien und der Prostata.

Chronische Infektionen Weltweit schätzt man den Anteil der Tumoren, die durch chronische Infektionen hervorgerufen werden, auf 15%, in westlichen Ländern auf etwa 10%. Wichtigste Erreger sind Helicobacter pylori (Karzinome und maligne Lymphome des Magens),

Hepatitis-B- und -C-Virus (Leberzellkarzinom), humane Papillom-Viren (Zervixkarzinom) und das Epstein-Barr-Virus, das mit Hodgkin-Lymphomen, malignen B-Zell-Lymphomen, ferner in Asien mit Nasopharyngealkarzinomen und in Afrika mit dem Burkitt-Lymphom assoziiert ist (Tab. 6-4). Maligne Tumoren können auch durch chronische Entzündungen ohne definierten Erreger hervorgerufen werden, z.B. das Adenokarzinom der Speiseröhre bei Refluxösophagitis (Barrett-Ösophagus) und das Kolonkarzinom bei Colitis ulcerosa. Diese Erkrankungen zählen zu den präkanzerösen Konditionen.

Pathogenese viraler Infektionen Auf eine mögliche Rolle von Viren haben schon Rous (1911) und Shope (1932) hingewiesen. Heute ist ihre Rolle in der Kanzerogenese unbestritten, wenn auch Details nicht völlig geklärt sind.

Tab. 6-4 Durch chronische Infektionen verursachte Tumoren und ihr weltweiter Anteil an der Krebsmortalität. einschließlich Burkitt-Lymphom (Afrika) und Nasopharynxkarzinom (NPC, Südchina) 2 humanes T-Zell-Leukämie-Virus 3 vorwiegend in Asien 1

DNA-Tumorviren Die mit DNA-Viren assoziierte Transformation verläuft latent, d.h. meist über Jahre. Die Ursache für diesen protrahierten Effekt der DNA-Viren ist auf den komplizierten Pathomechanismus ihrer Wirkung zurückzuführen: Bei einem lytischen Infektionszyklus (Lyse der befallenen Zellen) kommt es zur Replikation

von Viren. Ein anderer Weg ist, dass die virale DNA nach dem Befall der Wirtszellen fest in das zelluläre Genom integriert wird und eine Lyse der befallenen Zellen unterbleibt. Die in das Genom integrierte virale DNA interferiert in Abhängigkeit vom Ort der Insertion im Genom mit der Expression anderer zellulärer Gene. Eine Störung des sehr komplexen Gleichgewichts der Regulation der Genexpression kann z.B. die abnorme Expression von wachstumsfördernden Onkogenproteinen zur Folge haben. Ein anderer Pathomechanismus ist für Adeno, Polyoma- und Papillom-Viren bekannt, bei dem die von der infizierten Wirtszelle produzierten viralen Proteine Komplexe mit „zelleigenen“ tumorsupprimierenden Proteinen bilden und diese inaktivieren. Das Adenovirusprotein E1A bildet Komplexe mit dem Genprodukt des Retinoblastomgens (Rb), ein Polyoma-VirusProtein (large-T) sowie zwei Proteine (E6 und E7) der Papillom-Viren binden Rbund p53-Protein (siehe Kap. 6.3.2). Die für den Menschen wichtigsten DNATumorviren sind in Tab. 6-5 zusammengefasst.

Tab. 6-5 Für den Menschen onkogene DNA-Viren.

Humane Papillom-Viren (HPV) Die wohl wichtigste Familie ist die Gruppe der humanen Papillom-Viren (HPV), der mittlerweile über 60 Typen zugerechnet werden. HPV-Typen verursachen die häufigen Hautwarzen (Verrucae vulgares). Unter den zahlreichen HPVSubtypen zeigen einige eine besondere Assoziation mit venerisch übertragenen Tumoren des weiblichen Genitaltrakts. Die HPV-Typen 6, 8 und 11 werden in benignen Kondylomen der Portio gefunden, HPV 16, 18, 31 und 33 sind in bis zu 80% der zervikalen intraepithelialen Neoplasien II und III und in invasiven Plattenepithelkarzinomen der Cervix uteri nachweisbar. Der kanzerogene Effekt beruht wahrscheinlich auf einer Komplexierung viraler Proteine mit dem rb-1und dem p53-Protein und deren Inaktivierung (siehe Kap. 6.3.2). HPV ist auch in Tumoren des Plattenepithels anderer Lokalisation nachweisbar, z.B. in spitzen Kondylomen der Glans penis und in Larynxpapillomen.

Herpesviren Unter den Herpesviren haben das Epstein-Barr-Virus (EBV) und möglicherweise das Herpes-simplex-Virus (HSV) II Bedeutung. EBV wird in Zentralafrika in allen endemischen Fällen des malignen Non-HodgkinLymphoms vom Burkitt-Typ (Malariainfektion möglicherweise wesentlicher Kofaktor!) und in sporadischen Fällen von Lymphomen in mitteleuropäischen Breiten gefunden. Eine Bedeutung von EBV wird auch beim Nasopharynxkarzinom vermutet. Die ursächliche Beziehung des HSV II mit dem Zervixkarzinom wird entgegen früheren Vermutungen in letzter Zeit wieder bezweifelt. HHV-8 (humanes Herpesvirus) wurde als auslösendes Agens für das AIDS-assoziierte Kaposi-Sarkom identifiziert.

Hepatitis-B-Virus Das einzige DNA-Virus aus der Gruppe der Hepatitisviren, das Hepatitis-BVirus (HBV), ist mit der Entstehung des hepatozellulären Leberkarzinoms eng assoziiert. Diese Assoziation wird durch die Häufigkeit des Leberzellkarzinoms in Ländern mit hoher Hepatitis-B-Durchseuchung und durch den Nachweis von in die Karzinomzellen integrierter HBV-DNA gestützt. Diese Integration einer – primär nicht onkogenen – HBV-Sequenz führt zu einer Überexpression des die Zellproliferation aktivierenden Gens Zyklin A und damit zu einer unregulierten gesteigerten Proliferation der infizierten Leberzellen.

RNA-Tumorviren Onkogene RNA-Viren (Onkornaviren) gehören in die Gruppe der Retroviren. Im Gegensatz zu den DNA-Viren führen sie akut (innerhalb weniger Wochen) zu einer Transformation. Wie alle Retroviren haben sie eine einheitliche genomische Strukturierung (Abb. 6-14). Ihre einsträngige RNA enthält: ■ ein gag-Gen, das für ein gruppenspezifisches Antigen (GAG) kodiert ■ ein pol-Gen, das für die RNA-Polymerase (POL), eine reverse Transkriptase, kodiert ■ einenv-Gen, das für das Hüllprotein (env = envelope) des Virus kodiert ■ zwei LTR(long-terminal-repeats)-Sequenzen, die die drei obigen Strukturgene flankieren. Die Virus-RNA echter Retroviren wird in der Zelle durch eine virale reverse Transkriptase in die Virus-DNA transkribiert. Diese wird als Provirus bezeichnet.

Bei der Integration der proviralen DNA in das Wirtsgenom wie auch bei der Steuerung ihrer Transkription sind die LTR-Sequenzen involviert. Akut transformierende RNA-Viren enthalten neben gag, pol und env ein zusätzliches Gen (virales Onkogen = v-onc), das für diese Wirkung verantwortlich ist. Sowohl die genetische Sequenz als auch die Funktion der Translationsprodukte der meisten heute bekannten ca. 50 viralen Onkogene ist weitgehend geklärt. Die viralen Onkogene kodieren für Rezeptoren von Wachstumsfaktoren oder DNAbindende Proteine, die die Differenzierung oder den Ablauf des Zellzyklus steuern. Obwohl diese Viren in der Tierwelt weit verbreitet sind und ihre kanzerogene Potenz erwiesen ist, spielen sie beim Menschen nur eine untergeordnete Rolle: Lediglich im Fall des Hepatitis-C-Virus wird eine Assoziation mit Leberzellkarzinomen beobachtet, und für das zur Familie der HI-Viren gehörenden humane T-Zell-Leukämie-Virus (HTLV-1) ist die kanzerogene Wirkung in Form der Induktion von T-Zell-Lymphomen erwiesen.

Strahlen Hinsichtlich der Zahl der induzierten Tumoren ist die UV-Strahlung von größter Bedeutung. Chronische Strahlenexposition verursacht epitheliale Tumoren der Haut (Basaliome und Plattenepithelkarzinome), intermittierend intensive Sonnenbestrahlung (Ferien!) auch maligne Melanome. Veränderte Freizeitgewohnheiten mit starker Sonnenexposition haben in nordischen Ländern mit hellhäutiger Population während der letzten 10–15 Jahre zu einer Verdoppelung der Inzidenz dieser Tumoren geführt. Die kanzerogene Wirkung von ionisierenden Strahlen ist seit langem bekannt. Für fast alle Tumoren wurde eine erhöhte Inzidenz nach hohen Dosen ionisierender Strahlung beobachtet, jedoch ist das relative Risiko deutlich geringer als bei UVStrahlen. Allerdings gibt es eine unterschiedliche Empfindlichkeit gegenüber ionisierender Strahlung, wie das gehäufte Auftreten von papillären Schilddrüsenkarzinomen bei Kindern in der Umgebung von Tschernobyl gezeigt hat. Eine kanzerogene Wirkung von elektromagnetischen Strahlen (z.B. Mobiltelefone!) gilt derzeit als unbewiesen.

Ionisierende Strahlen Abb. 6-14 Struktur retroviraler Genome

ohne (oben) und mit (unten) akut transformierender Sequenz (Ausschnitt aus der Virus-RNA).

Pathogenese Die onkogene Wirksamkeit ionisierender Strahlen basiert wahrscheinlich überwiegend auf einer mutagenen Wirkung intrazellulär entstehender O2-Radikale an der DNA. Ein indirekter Wirkungsmechanismus über eine passagere Phase einer strahlungsbedingten Immunsuppression hat sich zumindest für die Atombombenüberlebenden nicht beweisen lassen. Zur Frage des Tumorrisikos nach Einwirkung ionisierender Strahlen wurden nicht nur aus Tierexperimenten, sondern auch aufgrund von Studien an strahlenexponierten Personen viele Daten gewonnen, die als Basis für die Risikoabschätzungen zum Strahlenschutz der Bevölkerung und am Arbeitsplatz dienen. Der Nachweis von strahleninduzierten DNA-Alterationen (z.B. an Tumorsuppressorgenen) durch molekularbiologische Untersuchungen dürfte in Zukunft zur Früherkennung des individuellen Risikos beitragen. Das Risiko eines durch Röntgenstrahlen induzierten Tumors ist aufgrund der heute sehr guten apparativen Ausstattung und entsprechender Sicherheitsvorkehrungen für Arzt und Patient minimal. Die γ-Strahlung ist ein wesentlicher Anteil des onkogenen Wirkungspotentials von Atombombenexplosionen. Dabei werden am häufigsten Leukämien, ganz besonders bei Kindern, aber auch Magen-, Lungen- und Mammakarzinome induziert. Der unmittelbare Zusammenhang von lokaler Strahlenbelastung und Tumorrisiko geht aus der Erfahrung mit Zweittumoren nach der Strahlentherapie maligner Tumoren hervor. Exakte Risikowerte über die Induktion von Zweittumoren können nicht angegeben werden, das Risiko ist jedoch in jedem Fall wesentlich geringer als der Nutzen. Nach Strahlentherapie des Beckens bei Karzinomen der Gebärmutter machen Knochensarkome z.B. ca. 5% aller Osteosarkome aus. β-Strahlen sind in ihrer onkogenen Wirksamkeit den Röntgenstrahlen vergleichbar. Im Zusammenhang mit Atombombenversuchen und Reaktorunfällen besteht die Gefahr einer Inkorporation des kurzlebigen β-Strahlers 131Jod in die Schilddrüse von Jugendlichen. Das signifikant häufigere Auftreten von papillären Schilddrüsenkarzinomen ist durch die Tschernobyl-Katastrophe gut belegt. Die Schilddrüse kann durch kurzfristige therapeutische Verabreichung von (nichtradioaktivem) Jod abgesättigt und damit die Aufnahme von radioaktivem 131Jod verhindert oder stark reduziert werden (Jodprophylaxe!). Wesentlich (etwa 10fach) wirksamer als die locker ionisierenden Röntgen-, γ- und β-Strahlen sind die dicht ionisierenden, energiereicheren α-Strahlen. Infolge der geringen Reichweite dieser Strahlen können sie nur lokal nach Inkorporation der entsprechenden Radionuklide wirksam werden. Die Gefahr einer

Strahlenbelastung besteht besonders im Uranbergbau. Langlebige Radiumisotope wurden von den Leuchtzifferblattmalerinnen in der Uhrenindustrie, aber auch von sonst in der Radiumindustrie Tätigen inkorporiert. Ab einer mittleren Skelettdosisbelastung von 10 Gy entwickelten 30% der Personen Osteosarkome, z.T. bereits vier Jahre nach Inkorporationsbeginn. Auch das kurzlebige 224Radium (Halbwertszeit 3,64 Tage), das zur Behandlung von Knochentuberkulose bei Kindern eingesetzt wurde, induzierte in den therapeutisch üblichen Dosen in 30– 40% Knochensarkome. Die besonders hohe onkogene Wirksamkeit des in der Kerntechnik eingesetzten langlebigen α-Strahlers 239Plutonium ist experimentell bewiesen. Die Belastung mit dem langlebigen α-Strahler 232Thorium infolge Speicherung des früher verwendeten kolloidalen Röntgenkontrastmittels Thorotrast® in Makrophagen und die Induktion von Angiosarkomen haben heute nur mehr historischen Wert. Die onkogene Wirkung von Neutronen ist erst experimentell nachgewiesen.

Ultraviolette Strahlen Pathogenese Die mutagene Wirkung ultravioletter Strahlung wird ebenfalls durch direkten Schaden an der DNA durch Ausbildung von Thymin-Dimeren vermittelt. Die Induktion epithelialer Tumoren der Haut (Basaliome und Plattenepithelkarzinome) ist durch das bevorzugte Auftreten dieser Tumoren an der dem Sonnenlicht ausgesetzten Haut belegt. Besonders wirksam ist das den Sonnenbrand verursachende „UV-B“ (Wellenlänge 290–320 nm). Ein sehr drastisches Beispiel ist das Auftreten von Plattenepithelkarzinomen der Haut bei Kindern mit Xeroderma pigmentosum, einer Hauterkrankung, bei der ein vererbter Defekt des Enzyms zur Reparatur von Thymin-Dimeren vorliegt. Auch das signifikante Ansteigen der Zahl maligner Melanome in den letzten Jahrzehnten wird der zunehmenden Sonnenexposition in der Freizeit zugeschrieben. Eine onkogene Wirkung elektromagnetischer Felder ist nicht bewiesen.

Tab. 6-6 Präkanzeröse familiäre Konditionen.

Genetische Faktoren Eine genetische Prädisposition ist nach heutiger Kenntnis für bis zu 5% aller menschlichen Tumoren verantwortlich oder mitverantwortlich. Diese Annahme stützt sich weitgehend auf die zunehmende Kenntnis familiärer Tumorsyndrome, die meist durch eine Keimbahnmutation in einem Tumorsuppressorgen mit hoher Penetranz und nachfolgendem Verlust des zweiten Allels verursacht werden (siehe Kap. 6.3.2). Darüber hinaus kann eine erhöhte Suszeptibilität auch durch das individuelle Expressionsmuster verschiedener Gene mit geringer Penetranz bedingt sein, z.B. die Suszeptibilität gegenüber tabakrauchinduzierter Kanzerogenese.

Beispiele ■ Familiäre Polyposis coli. Sie stellt eine autosomal-dominante Disposition (prämaligne Kondition) dar, die durch eine Mutation des APC-Gens (Chromosom 5q21) verursacht ist. Die Mutation des APC-Gens führt zu einem Funktionsverlust des APC-Proteins, welches in der normalen Zelle den Abbau von β-Catenin einleitet. Der Anstieg des β-Catenins treibt die Zellen somit zur Proliferation. Bei den betroffenen Patienten bilden sich im 2.–3. Lebensjahrzehnt Hunderte von Adenomen im gesamten Kolon (präkanzeröse Läsionen), aus denen sich invasive Karzinome entwickeln. Bis zum 40. Lebensjahr entsteht praktisch bei allen betroffenen Patienten ein invasives Karzinom. Prophylaktisch muss daher bei diesen Patienten eine totale Kolektomie durchgeführt werden. ■ Xeroderma pigmentosum (prämaligne Kondition). Es handelt sich um eine autosomal-rezessive Störung der DNA-Reparaturmechanismen (verminderte Endonukleaseaktivität). In der Folge entstehen Thymin-Dimere. Morphologisch findet man früh Dysplasien und In-situ-Karzinome der Epidermis (präkanzeröse Läsionen) an sonnenexponierten Stellen, aus denen sich schließlich invasive Plattenepithelkarzinome entwickeln.

6.3 Molekulare Mechanismen der Zelltransformation und Tumorentstehung 6.3.1 Kanzerogenese Die Krebsentstehung stellt einen in Schritten ablaufenden Prozess (MehrschrittTheorie der Krebsentstehung) dar: Diese Theorie geht davon aus, dass sich der maligne Tumor durch eine Reihe von Defekten in verschiedenen Genen aus Vorstufen entwickelt, die zunächst nur über molekulargenetische Analysen und später (histo) morphologisch und klinisch fassbar sind (Abb. 6-15; siehe auch Kap. 31.8.1 sowie Abb. 31-33). Am besten dokumentiert ist die Entwicklung eines malignen Tumors in epithelialen Geweben. Man nimmt an, dass der Prozess durch Transformation einer einzigen Zelle eingeleitet wird (monoklonale Entwicklungstheorie). Durch Proliferation dieser transformierten Zelle kommt es zur Verdrängung und zum Ersatz von normalen Zellen durch Tumorzellen. So entwickelt sich in Epithelien eine Dysplasie (= intraepitheliale Neoplasie, siehe Kap. 6.7.1) als flache Läsion oder als Adenom (siehe Kap. 6.7.1). Der maligne Phänotyp, definiert durch Invasion und Potenz zur Metastasierung, kann sich als Kontinuum aus diesen Läsionen entwickeln. Die Tumorentwicklung vollzieht sich in Schritten und meist über viele Jahre und Jahrzehnte, wobei Veränderungen in einer Reihe von Genen und deren Genprodukten schließlich für den malignen Phänotyp verantwortlich sind.

Abb. 6-15 Genetisches Modell der kolorektalen Kanzerogenese.

Es ist weniger eine bestimmte Reihenfolge genetischer Veränderungen bedeutsam, sondern vielmehr deren Kumulation bis zu einer kritischen Gesamtzahl, die zur Karzinomentstehung führt. APC = adenomatous polyposis coli gene, DCC = deleted in colorectal carcinoma gene

6.3.2 Molekularbiologie Die beiden wichtigsten antagonistischen Systeme des Tumorwachstums werden von den Onkogenen bzw. Tumorsuppressorgenen und ihren Genprodukten repräsentiert. Darüber hinaus spielen bei der Tumorentwicklung noch eine Reihe von weiteren Gensystemen eine Rolle. Hierzu zählen die Apoptosegene, die Telomerasegene sowie

die DNA-Reparaturgene. In den folgenden Abschnitten werden zunächst die beiden oben aufgeführten Gensysteme ausführlicher besprochen.

Onkogene (Protoonkogene) Onkogene sind normale zelluläre Gene, deren Expressionsprodukte Proliferation, Mobilität und Differenzierung von Zellen regulieren. Onkogene spielen bei der Entstehung und Progression von Tumoren eine zentrale Rolle. Zurzeit sind etwa 200 Onkogene bekannt. Die Entdeckung der Onkogene geht auf die Erkennung von tumorbildenden RNAViren Anfang des Jahrhunderts zurück (Peyton Rous induzierte 1910 mit einem zellfreien Extrakt das Hühnersarkom und bekam 55 Jahre später dafür den Nobelpreis zuerkannt). Inzwischen sind mehr als 25 RNA-Tumorviren bekannt (Tab. 6-7). In diesen RNA-Viren konnten die für eine Tumorentwicklung verantwortlichen Gensequenzen nachgewiesen werden, die als virale Onkogene (v-onc) bezeichnet wurden. In der Folgezeit stellte sich heraus, dass entsprechende Sequenzen in normalen Zellen aller Wirbeltierspezies einschließlich des Menschen (zelluläre Onkogene = c-onc) vorkommen und dass sich die viralen Onkogene in der Evolution durch Transduktion aus den zellulären Onkogenen entwickelt haben müssen.

Tab. 6-7 Beispiele zellulärer Onkogene (c-onc). Die retroviralen Onkogene (v-onc) sind mit aufgeführt.

Die Kurzbezeichnungen der viralen Onkogene leiten sich von dem entsprechenden Virusnamen oder der durch Virus induzierten Erkrankung ab.

Für das Verständnis der Tumorentwicklung ist von Bedeutung, dass ein großer Teil der Onkogenprodukte Komponenten eines komplizierten Netzwerkes von Schaltelementen der intrazellulären Signalvermittlung darstellt (Abb. 6-16), an dessen Ende die mitotische Teilung steht. Der Wachstumsstimulus kommt bei der normalen Zelle nur nach entsprechender Rezeptor-Liganden-Bindung zustande. Mutationen von Protoonkogenen dagegen führen zu Proteinen (sog. Onkoproteine), bei denen diese Regulationsmechanismen gestört sind, da sie modifiziert und damit konstitutiv aktiviert sind. „Konstitutiv“ aktiv bedeutet, dass das qualitativ veränderte Genprodukt eine eigenständige biologische Aktivität entfaltet, zur Aktivität also z.B. keine Bindung eines Wachstumsfaktors an dessen Rezeptor benötigt. Andererseits können aktivierte Onkogene zu einer übermäßigen Synthese strukturell nicht veränderter Proteine führen (Überexpression eines normalen Onkoproteins) mit Überfunktion im entsprechenden Signalweg. Im Ergebnis entsteht durch beide Mechanismen eine deregulierte, gesteigerte Funktion des Gens bzw. seines Expressionsprodukts („gain of function“). Dabei ist es nicht von Bedeutung, ob nur ein oder beide Allele betroffen sind („dominantes Verhalten“).

Onkogengruppen Basierend auf der Wirkung der Onkoproteine, hat sich folgende Einteilung der Onkogene bzw. Onkoproteine als praktisch erwiesen (Tab. 6-7).1

Autokrine Wachstumsfaktoren Die Sekretion von Wachstumsfaktoren durch Tumorzellen verursacht bei Vorhandensein des entsprechenden Rezeptors auf denselben Tumorzellen eine autokrine Wachstumsstimulation. Ein Beispiel hierfür ist das Onkogen SIS, das für einen Wachstumsfaktor kodiert, der zu 92% Homologie zur β-Kette des Plättchenwachstumsfaktors (pdgf) aufweist. Tumoren, die gleichzeitig den pdgf-Rezeptor besitzen, unterhalten über das Onkoprotein sis ihre mitogene Stimulation. Weitere Beispiele sind die Onkogene fgf4 und fgf3, die für Homologe des Fibroblastenwachstumsfaktors kodieren. Eine Überexpression dieser Onkoproteine spielt eine Rolle in Astrozytomen, Osteosarkomen (sis), Magen-(fgf4), Blasen- und Mammakarzinomen sowie in Melanomen (fgf3). Eine autokrine Sekretion von Bombesin/grp (gastrin releasing peptide) ist in kleinzelligen Bronchialkarzinomen, von igf1 (insulin growth factor 1) in Kolonund Pankreaskarzinomen beschrieben worden.

Abb. 6-16 Intrazelluläre Signalvermittlung über Wachstumsfaktor-Rezeptoren.

Die Aktivierung des Wachstumsfaktor-Rezeptors erfolgt nach entsprechender Ligandenbindung durch Autophosphorylierung des dimerisierten Rezeptors. Die weitere Signalvermittlung geschieht über verschiedene Adapterproteine, die zunächst GDP gegen GTP am ras-Molekül austauschen und dieses damit aktivieren. Die Information wird vom aktivierten ras dann über eine Reihe von molekularen Schaltelementen weitergegeben, die jeweils phosphoryliert als aktive Proteinkinase nachgeschaltete Signalelemente aktivieren. Nach Weitergabe der Information erfolgt die Inaktivierung des jeweiligen Elements durch eine Proteinphosphatase. Am Ende der intrazellulären Signalvermittlung steht die Aktivierung einer Reihe von Transkriptionsfaktoren im Zellkern, die durch Anschaltung spezifischer Zielgene und Expression ihrer Genprodukte schließlich den Zellzyklusablauf vorantreiben und zur Mitose der Zelle führen. Von Bedeutung ist, dass derartige Wachstumsstimuli allein aber nicht für die maligne Transformation der entsprechenden Zellen ausreichen.

Wachstumsfaktor-Rezeptoren Eine Gruppe von Onkogenen kodiert für Wachstumsfaktor-Rezeptoren. Es handelt sich um transmembranöse Moleküle mit einer extrazellulären Ligandenbindungsdomäne und einer intrazellulären katalytischen Domäne, die in der Regel Protein-(Tyrosin-) Kinase-Aktivität aufweist (Abb. 6-16).

Die Überexpression von Wachstumsfaktor-Rezeptoren oder die Expression von mutierten Wachstumsfaktor-Rezeptoren, die konstitutiv aktiv sind, spielen bei einer Reihe von Tumoren eine Rolle. Sie bewirken somit eine permanente mitogene Stimulation und sind transformierend. Einige Beispiele sind in Tab. 6-8 zusammengefasst. Die Überexpression von erbB2 (Syn.: her-2/neu), einem WachstumsfaktorRezeptor, dessen Ligand das kürzlich identifizierte Heregulin ist, findet man bei einer Reihe von Adenokarzinomen der Mamma (Abb. 6-17), des Ovars, des Magens, der Speicheldrüse sowie der Lunge. Häufig liegt dieser Rezeptorüberexpression eine Genamplifikation zugrunde (Abb. 6-18). Die Überexpression führt durch Dimerisierung (ohne Ligandenbindung) des entsprechenden Wachstumsfaktors zu einer wirksamen mitogenen Stimulation.

Tab. 6-8 Aktivierte Onkogene (c-onc) mit prognostischer Aussagekraft in menschlichen Tumoren (Auswahl).

Abb. 6-17 erbB2-Überexpression in Mammakarzinomen.

Immunhistochemische Darstellung des ERB-B2-Rezeptors in den Tumorzellmembranen. a Mammakarzinom mit starker Expression. ERB-B2-Immunhistochemie, Vergr. 200fach. b Mammakarzinom mit fehlender Expression. ERB-B2-Immunhistochemie, Vergr. 200fach.

Zwei weitere Mitglieder der epidermalen Wachstumsfaktor-Rezeptor(EGFR)Familie sind ebenfalls häufig überexprimiert. Bei einem anderen Tyrosinkinaserezeptor, der vom RET-Onkogen kodiert wird, stehen dagegen Punktmutationen mit konstitutiver Aktivierung des Rezeptors im Vordergrund. Dieses Gen nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als in ihm dominante Keimbahnmutationen auftreten können, die mit den multiplen endokrinen Neoplasien (MEN) Typ 2A und Typ 2B assoziiert sind. Das RETOnkogen ist verantwortlich für einige Neoplasien, die vom C-Zellen-System der Schilddrüse (medulläres Schilddrüsenkarzinom) bzw. vom Nebennierenmark (Phäochromozytom) ausgehen (siehe Kap. 16.2.2). Beim papillären Schilddrüsenkarzinom ist dagegen ein somatisches Rearrangement des RET-Gens als eine wichtige genetische Aberration entdeckt worden.

Elemente der Signaltransduktionskette Das entscheidende Bindeglied zwischen dem aktivierten WachstumsfaktorRezeptor und der zellulären Reaktion (z.B. Mitose) ist die Signaltransduktion. Sie besteht aus hintereinander geschalteten Elementen, die als molekulare „Ein/Ausschalter“ wirken und in der „Einschalt-Position“ die nachgeschalteten Elemente aktivieren (Abb. 6-16). Jedes Protein dieser Kette, das in der mitogenen Signaltransduktion konstitutiv aktiviert werden kann, ist als potentielles Onkogenprotein zu betrachten, da es über die nachfolgende Kaskade Wachstumsstimuli zum Zellkern sendet.

Abb. 6-18 ERB-B2-Amplifikation in Mammakarzinomen.

In-situ-Hybridisierung mit einer ERB-B2-Sonde. a Darstellung zahlreicher roter Signale innerhalb der Tumorzellkerne, die auf eine Amplifikation hinweisen. In-situ-Hybridisierung, Vergr. 400fach.

b Tumorzellen mit zwei roten Signalen (= Allelen). In-situ-Hybridisierung, Vergr. 400fach. Aufgrund der zentralen Position der ras-Proteine ist es nicht verwunderlich, dass die RAS-Gene in der Onkogenese bei vielen Tumoren eine zentrale Bedeutung haben. Die RAS-Gene (Harvey-, Kirsten-, N-RAS) kodieren für GTP-bindende Proteine von ca. 21 kD (p21 ras). Die Aktivierung des ras-Proteins erfolgt durch Beladung mit GTP, die Inaktivierung mittels Hydrolyse durch eine intrinsische GTPase. Diese überführt ras-GTP in das inaktive ras-GDP. Die Wirkung der GTPase kann durch das GTPase aktivierende Protein (GAP), das vom Neurofibromatose-Gen 1 (NF1) kodiert wird, auf das mehr als Tausendfache verstärkt werden. Somit stellt das GAP eine molekulare Bremse für das ras-Protein dar. Punktmutationen der RAS-Gene können zu einer konstitutiven Aktivierung des entsprechenden ras-Proteins führen, ohne dass eine Rezeptor-Liganden-Bindung vorliegt. Häufig liegen Mutationen vor, bei denen die Inaktivierung zu ras-GDP defekt ist. Etwa 20% aller Tumoren zeigen RAS-Mutationen, sie treten aber besonders häufig in Tumoren des exokrinen Pankreas und des Kolons auf. Neben den Rezeptor-Proteinkinasen gibt es eine große Gruppe von zytoplasmatischen und nukleären Onkogenprodukten mit Serin/Threonin- oder Tyrosin-Proteinkinase-Aktivität. Mit Ausnahme der abl-Kinase, die durch Translokation bei der chronischen myeloischen und der akuten lymphatischen Leukämie eine ausgeprägte Tyrosinkinaseaktivität zeigt, spielen diese NichtRezeptor-Proteinkinasen jedoch bei menschlichen Tumoren nach den derzeitigen Kenntnissen eine untergeordnete Rolle.

Transkriptionsfaktoren Transkriptionsfaktoren sind nukleäre Proteine, die an regulatorische DNASequenzen von Zielgenen binden und damit die Transkription (m-RNA-Synthese) regulieren. Aktivierte Onkogene, die nukleäre proliferationsaktive Transkriptionsfaktoren kodieren, sind in Tumoren häufig nachweisbar. Beispiele hierfür sind die Onkoproteine der MYC-, FOS- und JUN-Gen-Familien sowie der E2F-Transkriptionsfaktor. Die Funktion von myc liegt in der Induktion von Proliferation und Hemmung der terminalen Differenzierung. Die mitogene Wirkung von myc besteht wahrscheinlich in der Transaktivierung von Zielgenen mit Bildung von aktiven zyklinabhängigen Kinasen (CDK) sowie Zyklin D1 und Zyklin A, die wiederum regulatorische und fördernde Bestandteile des Zellzyklusablaufs (Übergang G1Phase) darstellen. Das myc-Protein benötigt allerdings ein weiteres Protein, max,

mit dem es Heterodimere bildet, um wirken zu können. Diese Heterodimere binden dann spezifische proliferationsaktive Zielgene. Das myc-Protein allein kann Zellen zwar immortalisieren, zur malignen Transformation ist allerdings die Kooperation mit anderen zytoplasmatischen Onkoproteinen, wie z.B. ras, notwendig. Die Komplexität dieses Proteins zeigt sich darin, dass an der Regulation myc/max andere Proteine, wie z.B. das mad-Protein, beteiligt sind und dass myc bei fehlender Stimulation durch Wachstumsfaktoren auch zum programmierten Zelltod führen kann. Amplifikationen des MYC-Onkogens mit Überexpressionen des myc-Proteins kommen in zahlreichen Tumoren vor, wie z.B. den Neuroblastomen, Astrozytomen, kleinzelligen Bronchialkarzinomen sowie auch einzelnen Lymphomen.

Zykline und zyklinabhängige Kinasen Der Zellzyklus unterliegt einer präzisen Regulation durch extrazelluläre Wachstumsfaktoren (siehe Kap. 2.3.7). Von besonderer Bedeutung bei der Zellzyklusregulation sind regulatorische Proteine (Zykline), die phasenspezifisch hochreguliert werden und durch Bindung an inaktive zyklinabhängige Proteinkinasen (CDK) zur Aktivierung der Kinasen führen. Die in der G1-Phase regulierenden D- und E-Zykline sind besonders bedeutsam, da sie für den Übergang in die wachstumsfaktorunabhängige Phase des Zellzyklus und in die SPhase verantwortlich sind. Der Wirkmechanismus beruht darauf, dass Zyklin D/CDK4 und 6 sowie Zyklin E/CDK das Retinoblastomprotein inaktivieren und damit den mitogenen Transkriptionsfaktor E2F freisetzen. Die Aktivität der CDK wird andererseits von Inhibitoren reguliert. Eine Familie dieser Inhibitoren umfasst u.a. die Proteine p15, p16, p18 und p19, die selektiv Zyklin D/CDK4 und Zyklin D/CDK6 inhibieren (inhibitors of CDK4 und CDK6) und daher als INK-Proteine bezeichnet werden. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die oben aufgeführten Zykline als Onkoproteine wirken können. In der Tat ist Zyklin D1 bei einem hohen Prozentsatz von Ösophagus- und Mammakarzinomen überexprimiert, wobei eine Amplifikation des Genlokus 11q13 als Ursache angenommen wird. Die auf Chromosom 12 liegende zyklinabhängige Kinase 4 (CDK4) ist ebenfalls bei einigen Tumoren überexprimiert (z.B. Melanome und Sarkome). Folge der Überexpression von Zyklin D1 bzw. CDK4 ist die Inaktivierung des rb-Proteins (siehe Kap. 40.7.4).

Aktivierungsmechanismen von Onkogenen Die Veränderungen genetischer Informationen sind vielfältig und umfassen folgende Möglichkeiten:

Amplifikation Darunter versteht man die Vermehrung des normalerweise in zweifacher Kopie vorhandenen Gens (z.B. MYCN in Neuroblastomen, MYCL1 in kleinzelligen Lungenkarzinomen, ERB-B2 in Mamma- und Ovarialkarzinomen, Abb. 6-18). Der Nachweis der Amplifikation dieser Protoonkogene besitzt prognostische Relevanz (Tab. 6-8). Die Amplifikation von Genen kann mit zytologischen Veränderungen wie Aneuploidie und chromosomalen Abnormitäten einhergehen.

Chromosomale Translokationen Chromosomale Translokationen (Rearrangement) können entweder zur Überexpression von strukturell nicht veränderten Onkogenprodukten führen – z.B. bei der „klassischen“ Translokation t(8,14) in Burkitt-Lymphomen – oder mit einer direkten Veränderung der Chromosomenstruktur Fusionsgene bilden, die mit chimären Proteinen assoziiert sind. Letztere Form der Translokation t(9,22) wird bei chronisch-myeloischen Leukämien auf mikroskopischer Ebene als sog. Philadelphia-Chromosom beobachtet: Hierbei entsteht ein Fusionsgen BCR (bcr = breakpoint cluster region) und führt zur Expression eines entsprechenden chimären Proteins abl mit Tyrosinkinaseaktivität. Die chromosomale Translokation t(14,18) in humanen follikulären Lymphomen rekombiniert das BCL2-Gen von Chromosom 18 mit dem Immunglobulin-Schwerkettenlokus auf Chromosom 14. Diese Translokation führt zu einer nichtregulierten Überexpression des bcl2-GenProdukts (siehe Kap. 22.2.2).

Punktmutationen Bereits 1982 wurde ein weiterer Mechanismus der Onkogenaktivierung beschrieben: die Punktmutationen von bestimmten Codons (bes. 12, 13 und 61) innerhalb der Familie der RAS-Gene. Es wurde berichtet, dass 90% der duktalen Adenokarzinome des Pankreas (Ki-RAS), 50% der Kolonkarzinome (Ki-RAS), 30% der Adenokarzinome der Lunge (Ki-RAS), 50% der follikulären und undifferenzierten Schilddrüsenkarzinome (H-, Ki- und N-RAS) und 30% der myeloischen Leukämien (N-RAS) Punktmutationen aufweisen können. Punktmutationen treten auch bei hereditären Tumoren auf, z.B. bei der multiplen endokrinen Neoplasie (MEN 1) auf Chromosom 11p13 (Menin-Gen) oder im RET-Gen (Chromosom 10p11.2) bei MEN 2.

Integration einer primär nicht onkogenen Sequenz Die Integration einer primär nicht onkogenen (häufig viralen) Sequenz in ein zelluläres Gen (insertional mutagenesis) kann mit der Aktivierung des Protoonkogens assoziiert sein. Dieser Mechanismus wird häufiger im Tierreich

gefunden; beim Menschen wird ein ähnlicher Mechanismus für die Entstehung von Leberzellkarzinomen im Zusammenhang mit HBV-Infektionen diskutiert.

Deregulierung der Onkogenexpression Unter Deregulierung der Onkogenexpression versteht man eine konstitutive Überexpression des Genprodukts bei einem strukturell nicht veränderten Protoonkogen. Dieser Modus der Aktivierung muss, obwohl die Ursache der erhöhten Transkriptionsrate häufig unbekannt ist, für eine ganze Reihe von Tumoren angenommen werden.

Tumorsuppressorgene Tumorsuppressorgene sind normale zelluläre Gene, deren Genprodukte negative („supprimierende“) Regulatoren z.B. von Wachstum sind. Der Verlust dieser Funktionen („loss of function“) durch fehlende Bildung des Genprodukts oder durch ein fehlerhaftes Genprodukt führt daher zu einem deregulierten Wachstum von Tumorzellen. Die tumorpromovierende Wirkung kommt somit durch Veränderungen beider Allele eines Tumorsuppressorgens zustande. Tumorsuppressorgene zeigen ein rezessives Verhalten. Zurzeit sind mehr als 70 Tumorsuppressorgene untersucht.

Retinoblastomgen Das „klassische“ Tumorsuppressorgen ist das für die Entstehung des Retinoblastoms verantwortliche Retinoblastom(Rb1)-Gen: Der Verlust des Genprodukts rb1 führt zum Verlust der molekularen „Bremse“ des Zellzyklusablaufs in der G1-S-Phase. Nachdem zytogenetisch erkennbare Deletionen am langen Arm des Chromosoms 13 bei 15% aller Retinoblastomträger gefunden worden waren, wurde durch Anwendung molekularer Techniken diese Region genauer analysiert. Der Defekt (Deletionen oder Punktmutationen) konnte einem in der Region 13q14 liegenden Gen, dem Rb1-Gen, zugeordnet werden. Wie oben erwähnt, liegt der Defekt am Rb1-Gen immer in beiden Allelen der Tumorzellen, z.B. als Deletion der gesamten Region 13q14 des einen und als Punktmutation des anderen Allels. Diese Erkenntnis bestätigte die „two hit“-Hypothese von Knudson, nach der das familiäre Retinoblastom das Ergebnis von zwei Mutationen darstellt, wobei der Defekt an einem Allel (in allen Körperzellen!) vererbt, die maligne Transformation jedoch erst durch eine somatische Mutation des zweiten Allels ausgelöst wird. Dies geht mit dem Verlust der Funktion des Rb1-Gens einher (Abb. 6-19). Interessanterweise sind Alterationen des Rb1-Gens nicht auf Retinoblastome beschränkt.

Abb. 6-19

Funktion des Retinoblastom-1-Proteins.

Das rb1-Protein bindet in hypophosphorylierter Form den Transkriptionsfaktor E2F. Durch Einwirkung aktiver zyklinabhängiger Kinase (CDK) kommt es zu einer Hyperphosphorylierung des rb1. In diesem Zustand dissoziiert der rb1E2F-Komplex. Der nukleäre Transkriptionsfaktor E2F kann damit Zielgene aktivieren, die den Zellzyklusablauf vorantreiben. Für die Freisetzung des Transkriptionsfaktors E2F ist somit die Phosphorylierung entscheidend. Die Hyperphosphorylierung von rb1 ist wesentlich von zyklinabhängigen Kinasen abhängig (siehe Text). Das rb1-Protein ist ein nukleäres Phosphorprotein (p105rb), das den Zellzyklus kontrolliert (Abb. 6-19). In der G0-1-Phase liegt ein hypophosphoryliertes rb1Protein vor, das in dieser Form den Transkriptionsfaktor E2F bindet; möglicherweise werden durch diesen Komplex auch S-Phase-Gene inhibiert (Zellzyklusbremse!). Bei entsprechendem Wachstumsstimulus wird rb1 durch zyklinabhängige Kinasen (CDK) phosphoryliert. Im hyperphosphorylierten Zustand

dissoziiert der nukleäre Transkriptionsfaktor E2F aus dem Komplex und kann die für die Synthesephase wichtigen Gene aktivieren. Der Verlust oder die Inaktivierung des rb1 bewirkt somit den Verlust der molekularen Zyklusbremse in der wichtigsten Phase des Zellzyklus. Eine Reihe von onkogenen DNA-Viren (HPV, SV40, Adenoviren) komplexiert virale Proteine mit rb1, sodass E2F freigesetzt und eine transkribierende (aktivierende) Wirkung auf proliferationsaktive Gene ausgeübt wird. In menschlichen Tumoren sind Rb1-Mutationen neben dem oben aufgeführten Retinoblastom im Mammakarzinom, im kleinzelligen Bronchialkarzinom, im Glioblastom, im Melanom und in Sarkomen nachweisbar, wobei die Veränderungen durch somatische Mutationen zustande kommen.

TP53 Aufgrund der zellbiologisch wichtigen Funktionen wird das Tumorsuppressorgen TP53 (Syn.: P53) als „Hüter des Genoms“ bezeichnet. Es ist verantwortlich für die Entscheidung, ob eine Zelle nach einem DNA-Schaden reparabel ist und damit im Zellverband bleibt oder ob der Weg des programmierten Zelltodes (Apoptose) beschritten werden muss. Mutationen des P53-Gens können zu einem Verlust oder aber zu einer Fehlfunktion des Proteins p53 führen, sodass diese Zellen ihre DNAReparaturmechanismen nicht aktivieren können, andererseits aber auch nicht dem programmierten Zelltod anheim fallen. Das P53-Gen ist auf dem Chromosomenort 17p13 lokalisiert. Es kodiert für den kurzlebigen (geringe Halbwertszeit) nukleären Transkriptionsfaktor p53. p53 wird bei Auftreten eines genetischen Schadens im Genom einer Zelle hochreguliert und aktiviert eine Reihe von Zielgenen, die folgende Wirkungen haben: ■ Arretierung des Zellzyklus in der G1-Phase. ■ Aktivierung von DNA-Reparaturmechanismen. ■ Wenn der DNA-Schaden nicht behoben werden kann, Aktivierung des programmierten Zelltodes. Die Molekularbiologie dieser Funktionen ist heute in den Grundzügen bekannt (Abb. 6-20). Das p53-Protein wird bei einem Genschaden (ionisierende oder UV-Strahlen, Zytostatika) kurzfristig hochreguliert. Es konnten Gene identifiziert werden, die in ihrem Promotorbereich Bindungssequenzen für dieses Protein tragen. Dazu gehört v.a. das Gen WAF1 (= wilde type activating fragment 1), das für ein Inhibitorprotein zyklinabhängiger Kinasen, das p21waf1, kodiert. Die Wirkung kommt durch Bildung inaktiver quaternärer Komplexe aus p21waf1 und PCNA

(proliferating cell nuclear antigen) sowie Zyklin/CDK zustande. Eine Hemmung dieser Kinasen blockiert – durch fehlende Phosphorylierung des rb1-Proteins – den Zyklusablauf und verhindert damit den Eintritt der Zelle in die S-Phase. Dieser Arrest ermöglicht der Zelle, durch Aktivierung von Reparaturgenen den DNASchaden zu beheben. Auch hierbei ist p53 durch transkribierende Wirkung weiterer Zielgene entscheidend beteiligt. Eines dieser Gene ist GADD45 (growth arrest DNA damage). Nach Aufhebung des DNA-Schadens wird durch p53 schließlich das MDM2(murine double minute)-Gen aktiviert, dessen Genprodukt p53 inaktiviert. Die Zelle kann nun nach Behebung des Genschadens in die Synthesephase eintreten.

Abb. 6-20

Tumorsuppressorgen P53.

Das p53 wird bei einem genetischen Schaden kurzfristig vermehrt synthetisiert (hochreguliert). p53-Proteine haben eine Reihe von transkribierenden Wirkungen. So wirken sie zunächst auf das WAF1-Gen, welches zur Bildung des Genprodukts p21-waf1 führt. Dieses Protein bewirkt über die Hemmung von Zyklin-/zyklinabhängigen Kinasen eine Blockade des Zellzyklus in der G1Phase. Zusätzlich werden von p53 über GAD45-Reparaturgene aktiviert, die zur Reparatur des DNA-Schadens führen. Nach Behebung des Schadens wird schließlich durch p53 die mdm2-Proteinsynthese induziert, die durch eine Komplexierung mit p53 letzteres inaktiviert. Damit kann der Zellzyklus fortgesetzt werden, und die Zelle kann sich teilen. Bei einem persistierenden DNA-Schaden kommt es zu einer Aktivierung des BAX-Gens mit Bildung von bax-Proteinen, welche den programmierten Zelltod (Apoptose) herbeiführen. Kann der Schaden nicht behoben werden, induziert P53 die Transkription von Genen, die den Weg in die Apoptose einleiten. Dabei spielt das BAX-Gen eine

große Rolle, dessen Produkte als Homodimere den Apoptoseablauf in Gang setzen können (siehe Kap. 2.6.4). In zahlreichen Tumoren, wie z.B. Kolon-, Lungen-, Mamma- und Magenkarzinom, werden Mutationen (Missense-Mutationen) gefunden, die zum Funktionsverlust des p53-Proteins führen. Dieses mutierte Protein häuft sich infolge der verlängerten Lebensdauer im Zellkern an und ist dadurch immunhistochemisch nachweisbar. Die veränderten Proteine verlieren ihre Funktion der Zellzykluskontrolle (Zellzyklusblockade) und verschaffen den transformierten Zellen Wachstumsvorteile. Darüber hinaus fördern sie durch den Verlust der DNAReparaturmechanismen die chromosomale Instabilität. Dadurch kann es zur Akkumulation von genetischen Schäden kommen, die für zahlreiche maligne Tumoren typisch sind. Darüber hinaus kann der Funktionsverlust von p53 in Tumorzellen zu einer Resistenz gegenüber Chemo- und Strahlentherapie führen (der Apoptoseweg kann nicht aktiviert werden). Dagegen sind Tumoren, die ein funktionierendes P53 besitzen, eher radio- und chemosensibel, da ihre Zellen durch p53 dem programmierten Zelltod unterliegen. Die Zahl der neu entdeckten Tumorsuppressorgene nimmt derzeit sehr rasch zu. Einige der heute gut charakterisierten Tumorsuppressorgene sind in Tab. 6-9 zusammengestellt. Wahrscheinlich existieren für bestimmte Tumorentitäten spezifische Konstellationen von Tumorsuppressorgenen, wobei allerdings bei der Entstehung und Progression der meisten Tumoren nicht nur mehrere Tumorsuppressorgene, sondern auch Onkogene involviert sind.

Tab. 6-9 Spezifischer Verlust von wichtigen Tumorsuppressorgenloci in humanen Tumoren (Auswahl).

Molekulare Mechanismen der Apoptose Apoptose bezeichnet den Prozess des programmierten Zelltodes, der – im Gegensatz zur Nekrose – durch die betroffene Zelle selbst gesteuert und initiiert wird. Störungen in der Regulation der Apoptose sind neben der unregulierten Proliferation die entscheidenden Faktoren für das Wachstum von Tumoren. Die molekularen Mechanismen der Apoptose werden in Kap. 2.6.4 ausführlich beschrieben.

Telomere, Telomerase Auf der zellulären Ebene wird die Telomeraseaktivierung in Tumorzellen über einen Zwei-Schritt-Mechanismus erklärt: In normalen Fibroblastenkulturen in vitro kommt es nach etwa 50 Zellteilungen zu verlangsamtem Wachstum und schließlich zum Wachstumsstillstand. Dieser Punkt wird als M1 („mortality stage 1“) bezeichnet. Zellen im M1-Stadium weisen deutlich verkürzte Telomere auf. Dabei soll die Telomerenverkürzung eine Schlüsselfunktion für die p53-Aktivierung mit nachfolgendem Wachstumsstillstand innehaben. Wird nun das P53-Gen-Produkt inaktiviert, fällt die „M1-Barriere“ weg. Die Zellen teilen sich dann noch etwa 20-mal und weisen eine weitere progressive Verkürzung

der Telomeren auf. Im Rahmen dieser Telomerenerosion kommt es zu einer chromosomalen Instabilität, die schließlich zur Aneuploidie der Zelle führen kann. Bei einem Großteil dieser Zellen tritt der Zelltod ein. Ein gewisser Prozentsatz von Zellen kann diesen als M2 („mortality stage 2“) oder „crisis“ bezeichneten Punkt durch Telomeraseaktivierung überwinden. Die Aktivierung von Telomerase mit der konsekutiven Stabilisierung der Telomerenlängen ist ein Charakteristikum der M2-Immortalisierung der Zelle. Nach dem vorliegenden Modell können also nur diejenigen Zellen unsterblich sein, die eine Telomeraseaktivierung aufweisen. Daher wird postuliert, dass die M2-Krise eine wichtige Bedeutung in der Zellprotektion gegen maligne Entartung hat. Allerdings haben neuere Forschungsarbeiten gezeigt, dass insbesondere bei Sarkomen andere Mechanismen in der Stabilisierung der telomeren chromosomalen Enden von Bedeutung sein können, die als „alternative Verlängerung der Telomeren“ (ALT, alternative lengthening of telomeres) zusammengefasst werden.

DNA-Reparaturgene Der Begriff DNA-Reparatur bezeichnet einen zellulären Mechanismus zur Reparatur von Basenfehlpaarungen in der DNA (z.B. C-T statt C-G), die während der DNAReplikation oder als Folge mutagener Einflüsse auftreten können. Fehlfunktionen dieses Reparaturmechanismus durch einen angeborenen Defekt in einem der Reparaturgene prädisponieren zur Anhäufung von Mutationen in Krebsgenen und zur Entwicklung von malignen Tumoren. Den DNA-Reparaturmechanismen kommt bei der Erhaltung der Genomintegrität einer Zelle große Bedeutung zu. DNA-Schäden können unter dem Einfluss chemischer oder physikalischer Faktoren oder im Rahmen der Zellteilung entstehen. Die Reparatursysteme sind in der Lage, die Fehler zu erkennen, die veränderten Sequenzen zu entfernen und durch Replikation am gesunden Gegenstrang zu ersetzen. Inzwischen sind mehrere Krankheitsbilder bekannt, die durch angeborene Defekte in Reparaturgenen verursacht sind. Folgen sind Fehler in den entsprechenden Reparaturproteinen mit genetischer Instabilität sowie Ausbildung des „Mutatorphänotyps“, der mit einer 100fach höheren Mutationsrate einhergeht und damit die Tumorentstehung erleichtert. Reparaturgene sind zuerst bei E. coli identifiziert und hier als MutHLS-System bezeichnet worden. Das E.-coli-MutHLS-System erkennt und repariert Fehlpaarungen von maximal 4 Basenpaaren. Die Exzision der Basen und die Neusynthese des Stranges erfolgen durch Exonuklease, Helicase II, DNA-Polymerase III, DNASSB(single strand binding)-Protein und DNA-Ligase. Die humanen Gegenstücke der E.-coli-Reparaturgene konnten teilweise im Zusammenhang mit Untersuchungen zum hereditären nichtpolypösen kolorektalen

Karzinom (hereditary nonpolyposis colorectal carcinoma, HNPCC) identifiziert werden. Es handelt sich um 4 Mutatorgene – hMSH2 (2p16), hMLH1 (3p21.3), hPMS1 (2q31-q33) und hPMS2 (7p22) –, die bei diesen Patienten Keimbahnmutationen in einem Allel aufweisen. Eine zusätzlich in einer Zelle auftretende Mutation im zweiten Allel führt zu Defekten der spezifischen Reparaturproteine. Obwohl diese nicht direkt mutagen wirken, verursachen sie eine genetische Instabilität der betroffenen Zellen mit Anhäufung von Mutationen in kritischen Genen. Die Folge ist die frühe Entwicklung von Dickdarmkarzinomen, insbesondere im Zäkum. Inzwischen sind weitere Krankheitsbilder bekannt, die durch angeborene Gendefekte in Reparaturgenen verursacht sind. Hierzu zählt die autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung Xeroderma pigmentosum. Dabei liegt ein Defekt in einem der Gene vor, die für Proteine der Exzisionsreparatur kodieren. Die Folge davon ist, dass sich UVinduzierte Pyrimidin-Dimere ansammeln, die eine normale DNA-Replikation verhindern. Folge ist auch hier die Ausbildung eines „Mutatorphänotyps“ mit einer 100fach höheren Mutationsrate und der Neigung zur Entwicklung von Hautkarzinomen.

Spezifische Tumortherapie mit Signalübertragungshemmern Erkenntnisse der molekularbiologischen und molekularpathologischen Grundlagenforschung zur Tumorentstehung haben die Basis für neue Therapiekonzepte in der Onkologie geliefert. Proliferation und Überleben von Tumorzellen werden zu einem großen Teil von externen und internen Signalmolekülen gesteuert. Deregulierte Signalübertragungswege sind bei nahezu allen malignen Tumorerkrankungen für die Pathogenese bedeutsam. Die pharmakologische Inhibition durch spezifische Signalübertragungshemmer kann in den Tumorzellen zu Wachstumshemmung und Apoptose führen. Das Prinzip spezifischer Signalübertragungshemmung soll am Beispiel von STI-571 (auch Imatinib, Glivec, Gleevec) aufgezeigt werden: Bei STI-571 handelt es sich um ein Pyrimidinderivat, das selektiv die Funktion der bcr-abl-Kinase, den Plättchenwachstumsfaktor-Rezeptor („platelet-derived growthfactor receptor“, pdgf-r) und die c-kit(CD117)-Tyrosinkinasen hemmt (Abb. 621). Tyrosinkinasen sind Enzyme, die Phosphatgruppen (von ATP) auf Tyrosinresiduen anderer Moleküle übertragen und dadurch deren Aktivität regulieren. Sie haben eine wichtige Funktion bei der Signalübertragung vieler Wachstumsfaktoren und Zytokine.

Abb. 6-21 Funktion und Spezifität des Signaltransduktionshemmers STI-571.

Das Pyrimidinderivat STI-571 verhindert durch Bindung an die ATP-bindende Domäne einer Tyrosinkinase die ATP-Bindung und infolgedessen die Übertragung einer Phosphatgruppe auf das Substrat. Während das phosphorylierte Substrat die Signaltransduktion in der Zelle aktivieren würde, bleibt durch STI-571 die entsprechende Signaltransduktion aus. Die Kinaseaktivität wird inhibiert. Ein bekanntes Beispiel ist die Non-Rezeptor-Tyrosinkinase bcr-abl, die essentiell für die Pathogenese der chronisch-myeloischen Leukämie (CML) und der PhiladelphiaChromosom-positiven akuten lymphatischen Leukämie (ALL) ist. BCR-ABLFusionsgene lassen sich bei mehr als 95% der CML-Patienten und bei 20 bzw. 5% erwachsener bzw. pädiatrischer ALL-Patienten nachweisen. Das PhiladelphiaChromosom beruht auf einer Translokation der Chromosomen 9 und 22. Durch DNAAustausch entsteht das neue Fusionsgen BCR-ABL, das zu einer konstitutiven Überaktivierung der abl-Tyrosinkinase führt. Bcr-abl führt in der Tumorzelle zur Aktivierung zahlreicher Signaltransduktionswege, z.B. der Aktivierung von ras mit der Folge vermehrter Zellproliferation, Aktivierung des p85-PI-3-Kinase/Akt-Weges mit der Folge der Hemmung der Apoptose sowie Aktivierung von Crkl mit der Folge veränderter Zelladhäsion. Der Wirkmechanismus von STI-571 beruht auf einer Blockade der ATP-Bindung an die bcr-abl-Tyrosinkinase und somit auf einer Hemmung der Kinaseaktivität. Der transmembranöse Rezeptor kit (CD117) ist ein Produkt des c-KIT-Protoonkogens. Der Bindungspartner (Ligand) für kit ist ein Zytokin, das als Stammzellfaktor (SCF) bezeichnet wird. c-kit wird in zahlreichen Tumoren exprimiert, z.B. im kleinzelligen

Bronchialkarzinom, bei der Mastozytose/Mastzellenleukämie, bei akuter myeloischer Leukämie (AML), Neuroblastomen, malignen Melanomen, Ovarialkarzinomen, Mammakarzinomen und gastrointestinalen Stromatumoren (GIST). Während bei der Mehrzahl der o.g. Tumoren die Rolle von c-kit in der Pathogenese nur ansatzweise bekannt ist, scheinen bei der Mastozytose/Mastzellenleukämie und bei GIST aktivierende Mutationen von c-kit die entscheidende Rolle zu spielen. Diese führen zu einer konstitutiven Überaktivierung des c-kit-Rezeptors und zur zellulären Überstimulation durch Wachstumssignale. Bei GIST zeigte der Signalübertragungshemmer STI-571 in einer Studie bei 89% der Patienten mit nichtoperablen oder metastasierten Tumoren eine klinische Verbesserung. 68 von 139 Patienten dieser Studie, von denen weniger als 1% auf vorhergehende konventionelle Chemotherapien angesprochen hatte, zeigten ein partielles Ansprechen. Bei 54 Patienten kam es sogar zu einem Krankheitsstillstand. Der Plättchenwachstumsfaktor-Rezeptor („platelet-derived growthfactor receptor“, pdgf-r) wird bei einem Teil der Patienten mit chronischer myelomonozytärer Leukämie als Konsequenz seiner Fusion mit dem tel-Transkriptionsfaktor (t(5;12), telpdgf-r-Fusion) aktiviert. In präklinischen Studien konnte eine Hemmung leukämischer Zellen mit Expression von tel-pdgf-r-Genfusionstranskripten durch STI-571 in vitro und in vivo nachgewiesen werden. Glioblastome zeigen zum Teil eine autokrine Aktivierung von pdgf-r. In-vitro-Untersuchungen an Glioblastom-Zelllinien mit STI571 zeigten ebenfalls eine Inhibition. Die spezifische Inhibition von kritischen Signalübertragungswegen ist – ebenso wie der Einsatz von monoklonalen Antikörpern und Angiogenesehemmern – ein attraktiver Ansatz in der modernen onkologischen Therapie. Die Kombination von Signalübertragungshemmern mit konventionellen Therapiemodalitäten könnte zukünftig bei bestimmten Tumoren die Heilungschancen deutlich verbessern.

6.4

Tumorwachstum

Das Tumorwachstum geht in der Regel von einer transformierten somatischen Zelle aus (klonale Entwicklungstheorie). Durch Proliferation dieser Zelle entsteht über viele Zellzyklen zunächst eine homogene (monoklonale) Zellformation. Die genetische Instabilität der Tumorzellen führt aber dann zu einer zunehmenden Tumorzellheterogenität. Dabei entwickeln sich Subklone mit unterschiedlichen Fähigkeiten zur Infiltration und Metastasierung, die für die schrittweise ablaufende Tumorprogression verantwortlich sind. Zum Wachstum benötigt der Tumor ab einer Größe von 2 mm eine eigene Gefäßversorgung, deren Bildung er selbst induzieren kann (Tumorangiogenese).

Klonales Wachstum Tumoren entwickeln sich aus teilungsfähigen Zellen normaler Gewebe, d.h. aus dem Stammzell- oder Proliferationspool der labilen und aus potentiell teilungsfähigen Zellen der stabilen Gewebe. In der überwiegenden Zahl der menschlichen Tumoren ist wahrscheinlich eine einzige transformierte Zelle Ausgangspunkt des Tumorwachstums (klonale Entwicklungstheorie, Abb. 6-22). Für diese Theorie sprechen klinische und experimentelle Erfahrungen, dass sich Tumoren überwiegend als einzelne fokale Läsion entwickeln, sowie molekulargenetische Untersuchungen, die ein monoklonales Zellwachstum nachweisen konnten.

Angiogenese Das Tumorwachstum ist in hohem Maße von einer tumoreigenen Gefäßversorgung abhängig. Tumorzellen können bis zu einer Tumorgröße von 1–2 mm durch Diffusion aus der Umgebung ernährt werden. Das weitere Wachstum hängt dann allerdings von der Bildung eines eigenen gefäßführenden Tumorstromas ab. Die Induktion der Angiogenese wird durch angiogenetische Faktoren ausgelöst, die von Tumorzellen und von Wirtszellen sezerniert werden können. Nach ihrer Wirkung unterscheidet man: ■ Angiogenese-Stimulatoren wie saurer und basischer Fibroblastenwachstumsfaktor (FGF), Angiogenin, vaskulärer endothelialer Wachstumsfaktor (VEGF), TGF und Tumornekrosefaktor(TNF)-α ■ Angiogenese-Inhibitoren wie Angiostatin, INF-α und β-Thrombosondin, Gewebeinhibitor von Metalloproteinase-2 (TIMP-2), Heparanase. Obwohl die Regulationsmechanismen der Angiogenese heute noch nicht geklärt sind, lässt sich die große Bedeutung der Gefäßversorgung für das Tumorwachstum aus Tierexperimenten ableiten. Das Einsprossen von Kapillaren und Fibroblasten bewirkt, dass die Tumorzellen durch Perfusion ernährt werden können. Unter günstigen Bedingungen kann der Tumor zunächst exponentiell wachsen. Da die Gefäßversorgung aber mit dem späteren Tumorwachstum oft nicht Schritt hält, kommt es häufig zu ischämischen Nekrosen. Die Angiogenese ist bei verschiedenen Tumoren sehr unterschiedlich entwickelt und kann bei insuffizienter Ausbildung wesentlicher Faktor einer Rückbildung des Tumors (Tumorregression) sein.

Tumorheterogenität Tumorzellen sind genetisch instabil. Deshalb kommt es im Rahmen des klonalen Wachstums wiederholt zu Mutationen mit Ausbildung einer heterogenen Tumorzellpopulation. Hierbei können sich Zellklone (Subklone) entwickeln, die für den Tumor vorteilhafte Eigenschaften entwickeln, wie z.B. geringere Empfindlichkeit gegenüber Sauerstoffmangel, erhöhte invasive und metastatische Eigenschaften,

Resistenz gegen Zytostatika u.a. Letztlich passt sich der Tumor dadurch dem hohen Selektionsdruck vonseiten der körpereigenen Tumorabwehr an.

Zellzuwachs und –verlust Das Wachstum eines Tumors hängt vom Verhältnis zwischen Zellzuwachs und Zellverlust ab. Geht man bei einem monoklonalen Tumorwachstum von einer Tumorzellgröße von 1,0 μm aus, so entsteht der Tumor über 30 Verdopplungszyklen mit 109 Tumorzellen, was einer Masse von 1 g oder einem Durchmesser von 1 cm entspricht. Bei einer Zellzyklusdauer von 3 Tagen würde diese Tumorgröße in drei Monaten erreicht werden. Klinische Erfahrungen zeigen aber, dass Jahre bis Jahrzehnte von der Transformation bis zur klinischen Manifestation eines Tumors vergehen. Diese Tatsache spricht dafür, dass das Tumorwachstum von einer Reihe weiterer Faktoren beeinflusst wird, die im Folgenden besprochen werden.

Abb. 6-22 Entwicklung eines Tumors nach Entstehung einer transformierten neoplastischen Zelle mit klonalem Wachstum.

Beim weiteren Wachstum kommt es durch zusätzliche Mutationen zur Ausbildung von Subklonen, die in unterschiedlichen Farben dargestellt sind. Bei Tumoren besteht in der Regel ein Produktionsüberschuss von Tumorzellen, der sich in der Zunahme des Tumorvolumens manifestiert. Diese sind das Ergebnis einer

größeren Zellproduktionsrate im Vergleich zur Zellverlustrate. Mathematisch wird das Tumorwachstum als Zellzahlverdopplungszeit (die für die Verdopplung der Gesamtzahl der Tumorzellen erforderliche Zeit) bzw. Volumenverdopplungszeit angesehen. Die Zellproduktionsrate (Abb. 6-23) wird wesentlich durch die Zahl proliferierender Zellen bestimmt. Hinweise für die Größe des Proliferationskompartiments geben z.B. Einbauraten von 3H-Thymidin in Tumorzellen (Wachstumsfraktion). Quantitative Untersuchungen mithilfe dieser Methode haben gezeigt, dass die Markierungsindizes (Anteil der in DNA-Synthese befindlichen Zellen zur Gesamtzellzahl des Tumors) bei hochdifferenzierten Tumoren 2–8% betragen, bei anaplastischen, rasch wachsenden Tumoren 30% und mehr. Die Zellverlustrate ist durch die Apoptoserate und durch das Ausmaß der ischämisch oder therapeutisch ausgelösten Tumorzellnekrose bedingt. Bei differenzierten Tumoren entwickelt sich nach einer initialen reinen Wachstumsphase ein unterschiedlich großes Differenzierungskompartiment, das bei vielen Tumoren 75–90% aller Zellen umfasst. Die sich differenzierenden Zellen sind nur noch in begrenztem Ausmaß zur Zellteilung befähigt. Differenzierte neoplastische Endzellen unterliegen dem programmierten Zelltod. Unter Tumorregression versteht man die Rückbildung oder Verkleinerung eines Tumors. Sie kann spontan erfolgen ■ durch ein Missverhältnis zwischen Tumorwachstum und Gefäßversorgung mit Ausbildung einer Tumornekrose ■ durch eine Zunahme des Differenzierungskompartiments und der Apoptoserate. Von besonderer Bedeutung ist der therapeutisch induzierte Regressionsgrad (z.B. nach einer Chemotherapie), der röntgenologisch am Rückgang des Tumorvolumens oder morphologisch (Operationspräparat) am Ausmaß der Nekrosen erkennbar ist. Klinisch spricht man in diesen Fällen von partieller oder kompletter Remission („vorübergehendes“ Nachlassen von Krankheitserscheinungen). Tumorprogression ist dagegen das Fortschreiten eines Tumors mit Zunahme der Größe und/oder seiner Metastasierungsneigung.

Abb. 6-23

Entwicklung eines differenzierten Tumors.

Nach anfänglicher klonaler Zellvermehrung erfolgt in einem Teil der Zellen eine Differenzierung. Zellen des Proliferationskompartiments, aber insbesondere des Differenzierungskompartiments können über den programmierten Zelltod (Apoptose) absterben. Einzelne wenige Zellen können aus der Differenzierungsphase G0 möglicherweise wieder in das Proliferationskompartiment eintreten. Die sich differenzierenden (Transit-)Zellen haben ebenfalls noch eine begrenzte Teilungspotenz.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Das klonale Wachstum führt zur Ansammlung von Tumorzellen, die sich zunächst in Schleimhäuten und Drüsenepithel als Dysplasie, atypische Hyperplasie oder intraepitheliale Neoplasie (siehe Kap. 6.7.1) oder aber als kleiner avaskulärer, klinisch noch nicht erkennbarer Tumorknoten in Organen oder Weichgeweben manifestiert. Mit einer Zellzahl von 108–109 Tumorzellen (Tumordurchmesser 0,5–1 cm, Gewicht 0,5–1 g) kann ein Tumor bei gezielter Suche durch bildgebende Verfahren frühestens erkannt werden. Klinisch kommt es in Abhängigkeit von Wachstumsfraktion und Apoptose zu einer Tumorregression oder zu einer Tumorprogression.

In der histologischen Diagnostik von Tumoren kann die „Wachstumsfraktion“ durch die quantitative Erfassung der Tumorzellen, deren Zellkerne sich immunhistochemisch mit einem Antikörper gegen sog. Proliferationsantigene anfärben, abgeschätzt werden. So können z.B. mit dem weithin gebräuchlichen MIB-1-Antikörper alle im Zellzyklus befindlichen Zellen erfasst werden (Abb. 6-24). Am einfachen Hämatoxylin-EosinSchnitt lässt sich die Wachstumsaktivität durch Bestimmung der Mitosezahl abschätzen.

Abb. 6-24

MIB-1-Proliferationsaktivität.

Hochmalignes Lymphom mit Darstellung des Mib-1-Proliferationsantigens innerhalb der Zellkerne. MIB-1-Immunhistochemie, Vergr. 200fach.

6.5

Invasion und Metastasierung

Invasion (Syn.: Infiltration) und Metastasierung sind die beiden wichtigsten Merkmale maligner Tumoren. Invasion ist ein aktives Einwachsen von Tumorzellen in das normale Gewebe, das mit einer Zerstörung (Destruktion) der normalen Gewebestruktur einhergeht. Die Metastasierung (griech.: metastasis = Wegzug) ist die Folge des invasiven Wachstums mit Verschleppung von Tumorzellen vom Primärtumor in einen anderen Bereich des Körpers und An- und Weiterwachsen in dieser Lokalisation mit Ausbildung einer Tochtergeschwulst (Metastase). Häufig überleben metastasierte Tumorzellen oder mikroskopisch kleine Tumoren jahrelang, ohne zu wachsen (tumor dormancy = Tumorschlaf), ehe sie dann nach erfolgreicher Behandlung des Primärtumors als Spätrezidiv klinisch manifest werden.

6.5.1 Invasion Das invasive Wachstum lässt sich in folgende Schritte untergliedern:



Auflösung von Zell-Zell-Kontakten



enzymatische Degradation und Umbau extrazellulärer Gewebematrix



aktive Bewegung (Lokomotion) der Tumorzellen.

Auflösung von Zell-Zell-Kontakten Voraussetzung für Invasion und Metastasierung ist die Herauslösung einzelner maligner Zellen aus ihrem Zellverband (Abb. 6-25). Die Auflösung von Zell-Zell-Kontakten ist dabei der entscheidende Mechanismus. Die Auflösung wird durch die Verminderung oder den Verlust von interzellulären Haftstrukturen ermöglicht. Eine wichtige Klasse von Proteinen, die durch homologe Interaktionen Zell-Zell-Kontakte ausbilden und unterhalten, sind Cadherine. Bei einigen Tumoren konnte gezeigt werden, dass die fehlende Expression von ECadherin durch Allelverlust und/oder Mutation des E-Cadherin-Gens eine mögliche Ursache für die verminderte Zelladhäsion darstellt. Andererseits ist die Funktion von Cadherinen entscheidend von ihrem Phosphorylierungszustand abhängig. Wachstumsfaktoren (meist Protein-Tyrosin-Kinasen), die Cadherine phosphorylieren, können zur Auflösung der Kontakte führen und schaffen dadurch die Voraussetzung für die Ablösung von Tumorzellen aus dem Verband. Antagonist der Kinasen sind Protein-Tyrosin-Phosphatasen, die Cadherine in einem dephosphorylierten Zustand halten. Sie verhindern somit die Auflösung der Zellkontakte und können die Invasion von Zellen unterdrücken. Bei anderen Tumoren wurde eine Veränderung der Glykosylierung von Polysialinsäuren beobachtet, die zur Lösung von Zell-Zell-Kontakten führt.

Abb. 6-25 Schematische Darstellung der Invasion eines malignen Tumors.

Aufgrund verminderter Zell-Zell-Adhäsion löst sich die Tumorzelle aus dem epithelialen Tumorverband. Über ihre Lamininrezeptoren kommt es zu einer hochaffinen Bindung der Tumorzelle an die Lamininmoleküle der Basalmembran. Die Rezeptor-Liganden-Bindung induziert wiederum u.a. die Sekretion der inaktiven Prokollagenase IV, die durch Plasmin in das aktive Enzym überführt wird. Die Basalmembran wird fokal aufgelöst. Anschließend wandert die Tumorzelle aktiv durch die Basalmembran hindurch, um dann mithilfe von Fibronektinrezeptoren einen Halt im interstitiellen Bindegewebe zu finden. Die weitere Infiltration des Bindegewebes erfolgt in analoger Weise.

Enzymatische Degradation extrazellulärer Matrix Ein weiterer Schritt der Invasion ist die temporäre und reversible Auflösung (Degradation) von extrazellulärer Matrix, wie z.B. von Basalmembranen (Abb. 6-25).

Hierbei spielen Sekretion und Aktivierung einer Reihe von degradierenden Enzymen wie Metalloproteinasen, Serinproteasen (Plasmin, Plasminogenaktivatoren), Cysteinproteasen (Kathepsine), Heparanasen, Hyaluronidasen und Proteoglykanasen eine Rolle; diese werden zum Teil auch von den Tumorzellen sezerniert. Die dabei wichtigsten Enzyme, die Metalloproteinasen, teilt man in 4 Gruppen ein: ■

Kollagenasen. Sie degradieren interstitielle Typ-I-, -II- und -III-Kollagene.

■ Gelatinasen. Sie degradieren Basalmembrankollagen Typ IV und Gelatin (denaturiertes Kollagen). ■

Stromelysine. Sie degradieren v.a. Typ-IV-Kollagen.

■ Membranständige Metalloproteinasen (MMP). Sie vermitteln eine gerichtete Degradation. Die verschiedenen MMP hängen nach Art einer Kaskade voneinander ab. Da nicht alle Bestandteile von einer Zelle produziert werden, ist die MMP-Wirkung ein Ausdruck von Zell-Zell-Interaktion und -Kooperation. Neuere Untersuchungen zeigen, dass die oben aufgeführten degradierenden Metalloproteinasen ihrerseits durch Inhibitoren gehemmt werden können, die sowohl von Tumorzellen als auch von normalen Zellen gebildet werden. Experimentell lässt sich sogar das invasive Wachstum durch derartige Inhibitoren unterdrücken. Diese als Gewebeinhibitoren von Metalloproteinasen (tissue inhibitors of metalloproteinase 1 and 2 = TIMP-1 und TIMP-2) bezeichneten Proteine hemmen sowohl inaktive (latente) als auch aktivierte Metalloproteinasen und verhindern damit die Degradation der extrazellulären Matrix. Aufgrund ihrer Wirkung werden die TIMP auch als Suppressorproteine der Invasion und Metastasierung bezeichnet. Das invasive Tumorwachstum ist somit auch eine Regulationsstörung zwischen degradierenden Enzymen und ihren Regulationsproteinen (z.B. TIMPs).

Aktive Lokomotion der Tumorzellen mit Invasion des Gewebes Den letzten Schritt stellt die aktive Bewegung (Lokomotion) der Tumorzellen mit Invasion des Gewebes dar. Unter Migration (Lokomotion) versteht man die auf dem Aktinfilamentsystem beruhende aktive amöboide Fortbewegung der Tumorzellen in die enzymatisch eröffneten Geweberäume. Dieser Vorgang wird durch membranständige, extrazelluläre Matrix(EM)-Rezeptoren der Tumorzellen unterstützt, die sich an Komponenten der Basalmembran und des Stromas (Kollagene, Laminin, Fibronektin oder Vitronektin) anheften. Zu den Rezeptoren zählen die große Gruppe der Integrine (z.B. β-6,4-Integrin als Lamininrezeptor und β-4,7-Integrin als Fibronektinrezeptor) und der Hyaluronsäurerezeptor CD44 mit seinen Spleißvarianten. Die intrazelluläre Domäne der Rezeptoren stellt dabei den Fixpunkt für das Angreifen der

Aktinfilamente bei der Lokomotion dar. Zusätzlich zur mechanischen Zell-MatrixAdhäsion werden über diese Rezeptor-Liganden-Bindung auch Signale zum Zellkern transduziert, die zur Induktion von Synthese und Sekretion degradierender Enzyme (siehe oben) und zur Motilität der Tumorzellen beitragen.

6.5.2 Metastasierung Metastasierung bedeutet Verschleppung von Tumorzellen vom Primärtumor an einen anderen Ort mit Ausbildung einer Tochtergeschwulst (Metastase) ohne Kontinuität mit dem Primärtumor. Die Verschleppung von Tumorzellen kann auf dem Lymphweg (lymphogen), auf dem Blutweg (hämatogen) oder über Flüssigkeit in Körperhöhlen (kavitär) erfolgen (Abb. 6-26). Die Metastasierung verläuft in mehreren Schritten, die man insgesamt als Metastasierungskaskade bezeichnet. Hierbei kommt es zu verschiedenen Interaktionen der Tumorzellen mit Komponenten des Wirtsgewebes. So müssen sich die Tumorzellen mit immunologischen und spezifischen Tumorabwehrmechanismen auseinander setzen. Auf die einzelne Tumorzelle bezogen, ist der Metastasierungsprozess mit einer enorm hohen Tumorzellenletalität verbunden und damit ein ineffektiver Prozess.

Abb. 6-26 Prinzipien der Metastasierung am Beispiel eines Darmwandtumors.

I: Lymphogene Metastasierung. II: Hämatogene Metastasierung. III: Kavitäre Metastasierung. (Weiteres siehe Text). Bei der Metastasierungskaskade lassen sich folgende Stufen unterscheiden: ■ Eindringen in die Metastasierungswege (Intravasation). Das Eindringen in die Metastasierungswege (Lymphwege, Blutwege, Körperhöhlen) unterliegt den gleichen Prinzipien wie die Invasion.

■ Verschleppung der Tumorzellen. Die Verschleppung der Tumorzellen durch Lymphe, Blut oder Körperflüssigkeit ist zunächst durch die anatomischen Strukturen (z.B. Verlauf der Gefäße) vorgegeben. ■ Austritt aus den Metastasierungswegen (Extravasation). Für die Aggregation der Tumorzellen in Lymphbahnen, im Lymphknoten oder im Kapillarfilter von Geweben und Organen und die nachfolgende Extravasation spielen verschiedene Faktoren eine begünstigende Rolle. Um z.B. der letalen tumoriziden Wirkung des Blutes zu entgehen, umgeben sich Tumorzellkomplexe über einen lokalen Gerinnungsvorgang mit Fibrin und Thrombozyten (Tumorzellenembolus). Durch diesen Vorgang werden die Tumorzellen geschützt. Darüber hinaus wird dadurch die Anhaftung an das Gefäßendothel gefördert. Insofern kommt diesem lokalen Gerinnungsprozess ein unspezifischer „Pförtnereffekt“ für die Emigration der Tumorzellen in das Gewebe zu. Zahlreiche klinische Erfahrungen belegen, dass viele Tumoren bevorzugt in bestimmte Zielorgane metastasieren (Organpräferenz), ein Vorgang, der nicht ohne weiteres mit den hämatogenen Metastasierungswegen (siehe unten) allein erklärbar ist. Insofern stellt die Metastasierung einen selektiven Prozess dar. Die Ursache hierfür dürften Unterschiede in Membranrezeptoren der Tumorzellen (Lektinrezeptoren, Adhäsionsmoleküle, Sialylsäureliganden u.a.) sein, die nur mit entsprechenden Liganden ganz bestimmter Organendothelien (z.B. bestimmte Adhäsionsmoleküle der Immunglobulin-Superfamilie oder der Selektine) interagieren können. Für die Extravasation benutzt die Tumorzelle die aufgeführten „Invasionswerkzeuge“, um dann extravaskulär weiterzuwachsen und eine Tochtergeschwulst auszubilden (Metastase).

Metastasierungswege Lymphogene Metastasierung Die lymphogene Metastasierung ist durch Tumorausbreitung über die Lymphwege mit Tumorwachstum in den Lymphknoten (Lymphknotenmetastase) und/oder in den Lymphbahnen (Lymphangiosis carcinomatosa) charakterisiert (Abb. 6-26). Die an der Tumorfront abgelösten Tumorzellen können mit dem Lymphstrom durch spaltförmige Öffnungen in die Lymphkapillaren gelangen und werden zunächst in einen oder mehrere „Wächter“-Lymphknoten (= sentinel nodes) verschleppt. Im Lymphknoten führt das Tumorwachstum zu einer Verdrängung und Infiltration des lymphatischen Gewebes und schließlich zu einer tumorösen Vergrößerung der Lymphknoten (Lymphknotenmetastase; Abb. 6-27). Im Laufe einer Tumorerkrankung können weitere Lymphknotenstationen hintereinander befallen, aber auch Lymphknotenstationen übersprungen werden. Schließlich gelangen die

Tumorzellen über den Ductus thoracicus in das Blut, wo sie allerdings selten überleben. Bei der Lymphangiosis carcinomatosa werden die Tumorzellen in den Lymphgefäßen arretiert und wachsen dort weiter. Die lymphogene Metastasierung ist von besonderer klinischer Bedeutung, da selbst kleine Karzinome häufig Lymphknotenmetastasen aufweisen. Hieraus ergeben sich wichtige Konsequenzen für die Tumorbehandlung (Lymphadenektomie und Bestrahlung).

Hämatogene Metastasierung Die hämatogene Metastasierung beginnt mit dem Eintritt der Tumorzellen in das Blut durch Invasion von Kapillaren und kleinen Venen (Intravasation). Es folgen die hämatogene Verschleppung, Arretierung und endotheliale Haftung im Kapillarfilter des nachfolgenden Organs, die Emigration aus dem Gefäßsystem (Extravasation) und schließlich die Bildung einer Tochtergeschwulst. Dieser Prozess ist ein für die einzelne Tumorzelle außerordentlich traumatisierender Prozess, der nur von wenigen Tumorzellen überlebt wird. So gelangen von einem etwa 1 g großen Tumor täglich ca. 10 Mio. Tumorzellen in das Blut. Hiervon sind aber nur einzelne Zellen imstande, Metastasen zu bilden. Nach den wesentlichen weiterleitenden venösen Gefäßgebieten unterscheidet man drei Metastasierungstypen: Cava-Typ, Lungenvenen-Typ und Pfortader-Typ.

Abb. 6-27 Lymphknotenmetastase eines Adenokarzinoms.

Tumorausbreitung in den Rand- und Intermediärsinus des Lymphknotens. K = Lymphknotenkapsel, L = lymphatisches Gewebe, Pfeile = Tumor. HE, Vergr. 250fach. ■ Cava-Typ. Tumorzellen aus Primärtumoren von Organen, die im Einflussbereich der V. cava inferior oder superior liegen, gelangen über das rechte Herz in den Kapillarfilter der Lungen und führen zur Entwicklung von Lungenmetastasen. Hierzu gehören Tumoren des Kopf-Hals-Bereichs, der Schilddrüse, der Niere, der Leber, des unteren Rektums (Abfluss über die V. cava inferior!) und der Weichgewebe der Extremitäten. ■ Lungenvenen-Typ. Tumorzellen von Primärtumoren der Lunge werden über die Lungenvenen in den linken Ventrikel und von dort über das arterielle Gefäßsystem in Kapillarfilter von Organen des großen Kreislaufs verschleppt. ■ Pfortader-Typ (Abb. 6-26). Tumorzellen von Organtumoren im Einzugsbereich der Pfortader (Magen-Darm-Trakt, Pankreas und Milz – Ausnahme: unteres Rektum) werden in die Leber verschleppt. Im Verlauf einer Tumorerkrankung kann auch eine hämatogene Metastasierungskaskade entstehen, die beim Kolonkarzinom z.B. zunächst über den

Pfortader-Typ (Lebermetastase), dann den Cava-Typ (Lungenmetastase) und schließlich den Lungenvenen-Typ zur Generalisation des Tumorleidens führt. Darüber hinaus kann auch ein Organfilter (z.B. Lunge) übersprungen werden. So findet man gelegentlich eine generalisierte Skelettmetastasierung beim Prostatakarzinom ohne nachweisbare Lungenmetastasen. Schließlich können Tumorzellen auch aus Lymphbahnen über Querverbindungen direkt in Blutgefäße gelangen und auf diese Weise zur Metastasierung führen.

Kavitäre Metastasierung Den Einbruch eines Tumors in einen Hohlraum und das An- und Weiterwachsen an anderer Stelle dieses Hohlraums bezeichnet man als kavitäre Metastasierung (siehe Abb. 6-26). Infrage kommen die serösen Höhlen (Pleura, Perikard, Peritoneum) und die Liquorräume des Gehirns. So entstehen z.B. bei einem Eindringen von Tumorzellen meist multiple Abtropfmetastasen, die sich flächenhaft ausbreiten können (sog. Karzinose). Beim Magen- und Ovarialkarzinom kommt es bevorzugt zu einer kavitären Ausbreitung im Peritoneum mit Entwicklung einer Peritonealkarzinose, bei Lungen- und Mammakarzinomen zur Pleurakarzinose. Glioblastome können z.B. über die Liquorräume Abtropfmetastasen bilden. Die klinischen Auswirkungen eines Tumorleidens lassen sich in lokale und systemische unterteilen.

6.6

Klassifikation

Die Grundprinzipien der Tumorklassifikation sind ■ biologisches bzw. klinisches Verhalten (Dignität) ■ Einteilung nach der zellulären und geweblichen Differenzierung (morphologische und funktionelle Ähnlichkeit zu differenzierten normalen Geweben) ■ Ausbreitung der Tumorerkrankung (Stadium). Die allgemeinen Einteilungsprinzipien von Tumoren nach ihrer Dignität, Differenzierung und Histogenese werden im Kap. 6.1.2 abgehandelt. Die Ausbreitung eines Tumors wird in der Stadieneinteilung, dem sog. Staging, erfasst. Dieses kann klinisch oder durch die pathologische Untersuchung erfolgen. Das Staging ist eine der wichtigsten Grundlagen der Behandlungsplanung und der Prognoseabschätzung. Darüber hinaus dient es der Auswertung von Behandlungsergebnissen in verschiedenen Behandlungszentren und damit auch der Verbesserung der Therapie.

6.7

Nomenklatur der Tumoren

Die Eckpfeiler der heute gültigen Nomenklatur sind Dignität mit Unterscheidung in benigne und maligne Tumoren (siehe Kap. 6.1.1) sowie phänotypische Differenzierung. Phänotypisch lassen sich folgende Hauptgruppen unterteilen: ■ epitheliale Tumoren ■ neuroektodermale Tumoren ■ mesenchymale Tumoren ■ Keimzelltumoren ■ embryonale Tumoren. Der Phänotyp epithelialer Tumoren zeigt Ähnlichkeiten mit epithelialem Gewebe (Drüsen, Plattenepithel, Urothel). Die Tumorzellen synthetisieren Zytokeratine (Intermediärfilamente, siehe Kap. 2.1.2). Neuroendokrine Tumoren zeichnen sich durch die Expression neuroendokriner Marker, wie z.B. Synaptophysin, aus. Sie sind meist vom epithelialen Phänotyp (Ausnahme: Phäochromozytom). Neuroektodermale Tumoren dagegen zeigen einen glialen bzw. mesenchymalen Phänotyp mit Expression des glialen fibrillären sauren Proteins (glial fibrillary acidic protein, GFAP) oder von Vimentin. Die Gruppe der mesenchymalen Tumoren zeigt einen Phänotyp, der mesenchymalen Geweben gleicht. Sonderformen der mesenchymalen Tumoren sind die vom Knochenmark und vom lymphatischen System ausgehenden Neoplasien. Eine kleinere Gruppe von Tumoren entwickelt sich schließlich aus Keimzellen und dem embryonalen Gewebe. Darüber hinaus gibt es einige wenige Tumoren, die durch epitheliale und mesenchymale Komponenten charakterisiert sind (Mischtumoren). Im Folgenden wird die in Tab. 6-10 aufgeführte Tumornomenklatur in ihrer Systematik besprochen.

6.7.1 Epitheliale Tumoren Benigne epitheliale Tumoren Adenom Adenome sind benigne Tumoren mit epithelialem und drüsigem Phänotyp. Sie entstehen hauptsächlich in endo- und exokrinen Drüsen, in der Leber, in der Niere, in der Schleimhaut des Magen-Darm- und seltener auch des Respirationstrakts.

Morphologie

Die Adenome zeigen folgende makroskopische Wuchsformen: In soliden Organen (z.B. endo- und exokrine Drüsen, Niere, Leber) sind die Adenome knotige Neubildungen, die häufig von einer zarten fibrösen Kapsel umgeben sind. Die von Schleimhäuten ausgehenden Adenome zeigen überwiegend ein in das Lumen gerichtetes (exophytisch-polypöses) Wachstum. Histologisch sind Adenome durch eine hohe zytologische und gewebliche Ausreifung mit weitgehender Imitation des Normalgewebes gekennzeichnet. Adenome können tubulär (mit Epithel ausgekleidete Drüsen), trabekulär (Epithelzellbalken), follikulär (Follikelbläschen), azinär und drüsigzystisch aufgebaut sein.

Tab. 6-10 Nomenklatur von Tumoren.

* sog. semimaligne Tumoren ** entsteht nicht aus quergestreifter Muskulatur, sondern aus unreifen mesenchymalen Zellen *** Tumor besteht aus Drüsen und Stroma

Abb. 6-28a Makroskopischer Aspekt eines tubulären Adenoms des Kolons.

Der eigentliche Tumor befindet sich im Bereich des Pilzkopfes. Der Stiel wird von normaler Schleimhaut ausgekleidet.

Beispiele: ■ Follikuläres Adenom der Schilddrüse. Ein von neoplastischen Follikeln aufgebauter Tumor, der durch eine fibröse Kapsel vom normalen Schilddrüsengewebe abgegrenzt ist (siehe Abb. 6-1 und 6-2). ■ Tubuläres Adenom der Kolonschleimhaut. Ein aus Tubuli bestehender Tumor, der basal von der Muscularis mucosae begrenzt wird. Häufig finden sich gestielte Tumoren (Pilzform!). Das Adenom bildet den Pilzkopf, der Stiel wird von normaler Kolonschleimhaut überkleidet (Abb. 6-28); es ist im übrigen Magen-Darm-Trakt selten. ■ Villöses Adenom. Ein überwiegend breitflächiger, von Drüsenepithel ausgehender Tumor mit feinzottiger Oberfläche (makroskopisch ähnlich dem Papillom). Dieser Typ ist im Kolon häufig, im Magen selten. ■ Tubulovillöses Adenom. Mischform aus tubulärem und villösem Adenom (Magen-Darm-Trakt).

■ Zystadenom des Ovars. Adenom mit zystisch erweiterten Drüsenlumina, die meist von einem einschichtigen Epithel ausgekleidet und mit seröser Flüssigkeit oder mit Schleim angefüllt sind. Häufige Lokalisation im Ovar (Abb. 6-29), selten im Pankreas und in anderen Organen. ■ Papilläres Zystadenom. Wie Zystadenom, zusätzlich ragen papilläre Proliferationen in das Zystenlumen.

Abb. 6-28b Adenoms.

Histologisches Bild eines tubulären

Das Adenom besteht aus tubulären Drüsenverbänden. HE, Vergr. 2,5fach.

Abb. 6-29 Zystadenom des Ovars mit Ausbildung großer Hohlräume.

Sonderformen („Mischtumoren“): ■ Fibroadenom. Ein aus lockerem Stroma, Bindegewebe und Drüsen bestehender Tumor. Häufigster benigner Tumor der weiblichen Mamma. ■ Pleomorphes Adenom der Speicheldrüse (Mischtumor). Benigner Tumor der Speicheldrüse, der aus Drüsen und einem myxoiden Stroma mit teilweise chondroiden Metaplasien aufgebaut ist. Man nimmt an, dass sich die zwei Tumorkomponenten von epithelialen (myothelialen) Zellen der Speicheldrüse herleiten.

Papillom Das Papillom ist ein vom Epithel (Übergangs-, Platten- und Drüsenepithel) ausgehender Tumor. Es imponiert makroskopisch als warzenförmige Verdickung mit zottiger Oberfläche oder als blumenkohlartige Neubildung. Papillome treten hauptsächlich in den ableitenden Harnwegen, in Ausführungsgängen der Mamma und anderer Drüsen sowie seltener in der Mundschleimhaut und im Magen-DarmTrakt (= villöses Adenom) auf. In Abhängigkeit von der Lokalisation werden sie von Drüsenepithel, Urothel oder Plattenepithel überkleidet.

Maligne epitheliale Tumoren (Karzinome) Intraepitheliale Neoplasie (Carcinoma in situ, präinvasives Karzinom, Dysplasie) Hierbei handelt es sich um eine Proliferation atypischer neoplastischer Zellen, die innerhalb des bestehenden Epithelverbandes liegen oder ihn ersetzen (intraepithelial oder in situ!). Die Abgrenzung zum angrenzenden Stroma erfolgt durch eine Basalmembran. Geschichtlich bedingt haben sich in verschiedenen Organen für diese Läsionen unterschiedliche Begriffe entwickelt.

Zervikale intraepitheliale Neoplasie (CIN) Im Bereich der Portio unterteilt man die atypischen Proliferationen in Abhängigkeit vom Ausmaß in drei Grade, in die zervikale intraepitheliale Neoplasie Grad I–III (CIN I–III). Die atypischen Zellen verdrängen und ersetzen das normale Plattenepithel. Sie weisen die zytologischen Merkmale maligner Tumorzellen auf und gehen mit einer Architekturstörung des Epithels einher (Abb. 6-30).

Dysplasie In primären plattenepithelialen Geweben (Oropharynx, Ösophagus, Vagina u.a.) entsprechen Dysplasien der intraepithelialen Neoplasie der Zervix. Sie gehen häufig mit einer abnormen Verhornung und einer makroskopisch erkennbaren fleckförmigen weißen Verfärbung des Epithels einher (sog. präkanzeröse Leukoplakie). Histologisch handelt es sich hierbei um ein atypisches verhorntes Plattenepithel mit Differenzierungsstörungen und oberflächlicher Verhornung.

Abb. 6-30

Zervikale intraepitheliale Neoplasie (CIN).

a Normales, nichtverhornendes Plattenepithel der Portio-Zervix-Schleimhaut. HE, Vergr. 400fach. b Eine zervikale intraepitheliale Neoplasie mit Ersatz des gesamten normalen Epithels durch atypische neoplastische Zellen mit deutlicher Kern- und Zellpolymorphie sowie Mitosen in suprabasalen Zellschichten (Pfeile). HE, Vergr. 400fach. Dysplasie der Magenschleimhaut. c Normale Schleimhaut mit Foveolae (f) und Drüsenkörper zur Tiefe. HE, Vergr. 400fach. d Unregelmäßige Drüsenverbände, die durch ein atypisches Epithel ausgekleidet werden. HE, Vergr. 400fach. Im Gastrointestinaltrakt werden atypische Drüsenproliferate ebenfalls als Dysplasie bezeichnet. Sie sind durch unregelmäßige Drüsen mit Architekturstörungen gekennzeichnet (Abb. 6-30). Eine Sonderform der Dysplasie stellt das tubuläre Adenom dar.

Atypische Hyperplasie und Carcinoma in situ der Mamma Atypische Epithelproliferationen der Brustdrüse werden in die atypische Hyperplasie sowie in das Carcinoma in situ eingeteilt. Diese Läsionen sind durch eine Proliferation atypischer Epithelien in Gängen und/oder Läppchen gekennzeichnet, die durch eine Basalmembran vom angrenzenden gefäßhaltigen Stroma abgegrenzt werden.

Morphologie Histologisch findet man atypische Zellen, die im bestehenden Gewebeverband liegen oder ihn ersetzt haben. Die Tumorzellen zeigen Differenzierungsstörungen, wie z.B. fehlende Ausreifung und Störungen der Gewebearchitektur (Abb. 6-30). Die neoplastischen Zellen sind aber durch eine Basalmembran vom gefäßführenden Stroma abgegrenzt.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die biologische Bedeutung der intraepithelialen Neoplasie besteht in der möglichen Progression zu einem invasiven Tumor. So kann sich z.B. aus einer zervikalen intraepithelialen Neoplasie oder aus einer Dysplasie der Magenschleimhaut ein invasives Karzinom entwickeln. Aus diesem Grund bezeichnet man diese Läsion auch als präkanzeröse (prämaligne) Läsionen. Die Tatsache, dass diese morphologisch definierten Gewebeveränderungen mit einer erhöhten Inzidenz von malignen Tumoren einhergehen, hat dazu geführt,

Strategien zu entwickeln, diese Veränderungen klinisch zu erkennen, um dann durch eine Entfernung der Läsion der Entwicklung eines invasiven Tumors zuvorzukommen (Sekundärprävention, Vorsorgezytologie, siehe Kap. 1.3.5 und 39.3.5). Leider sind die diagnostischen Möglichkeiten einer Früherkennung in verschiedenen Organen sehr unterschiedlich entwickelt.

Maligne invasive epitheliale Tumoren (invasive Karzinome) Karzinome sind maligne Tumoren vom epithelialen Phänotyp. Sie entstehen in endound exokrinen Drüsen, parenchymatösen Organen wie Leber und Niere und in der Schleimhaut des Magen-Darm-Trakts, des Urogenitaltrakts, des Respirationstrakts und in der Haut. Sie machen 80% aller malignen Tumoren aus und können nach verschiedenen Gesichtspunkten klassifiziert werden.

Wuchsformen Die Wuchsformen sind von der Lokalisation des Karzinoms abhängig. In soliden Organen (z.B. Schilddrüse, Pankreas, Niere u.a.) wachsen Karzinome als grauweiße, abnorme Gewebemasse mit unscharfen Tumorrändern (Abb. 6-31). Gelegentlich sind diese Tumoren auch zystisch (z.B. Ovar).

Abb. 6-31

Makroskopie eines Mammakarzinoms.

Umschriebener, unscharf begrenzter Tumorknoten im Brustdrüsengewebe. Bei den vom Oberflächenepithel der Hohlorgane und der Haut ausgehenden Karzinomen unterscheidet man folgende Wuchsformen (Abb. 6-32):

■ Endophytisch. Tumorwachstum mit Infiltration der Wand eines Hohlorgans oder Gewebes mit unterschiedlich großen soliden oder knotigen Tumorformationen. Es gibt gelegentlich auch endophytisch wachsende Karzinome, bei denen die Tumorzellen das Organ diffus durchsetzen und makroskopisch eine diffuse Wandverdickung hervorrufen (z.B. diffus wachsendes Magenkarzinom). ■ Exophytisch. Die vom Oberflächenepithel ausgehenden Tumoren zeigen ein nach außen (in das Lumen oder an die Oberfläche) gerichtetes Wachstum; sie wachsen blumenkohlartig und haben eine glatt konturierte oder leicht unregelmäßige (polypöse) oder fingerartig verästelte (papilläre) Oberfläche. ■ Ulzerös. Tumoren von Hohlorganen können sowohl bei exophytischem als auch bei endophytischem Wachstum im Zentrum eine Tumornekrose ausbilden, die zum Aspekt eines schüsselförmig exulzerierten Karzinoms führt. Diese Veränderung ist auch im Röntgenbild sowie in der Endoskopie gut sichtbar.

Klassifikation nach dem Phänotyp Die Unterteilung der Karzinome nach ihrem Phänotyp steht heute ganz im Vordergrund der Nomenklatur maligner Tumoren. Demnach unterscheidet man folgende Karzinomtypen: ■ Plattenepithelkarzinom ■ Übergangsepithelkarzinom ■ Adenokarzinom ■ Anaplastisches Karzinom ■ Mischtypen.

Plattenepithelkarzinom Es handelt sich um plattenepithelial differenzierte Karzinome mit oder ohne Verhornung. Sie entstehen hauptsächlich im Plattenepithel (Haut, Mund-, Ösophagusschleimhaut, Vagina) oder in Schleimhautepithelien mit der Potenz zu Plattenepithelmetaplasien (Uterus-, Zervix-, Bronchial-, Urothel- und Gallenblasenschleimhaut).

Abb. 6-32 Makroskopische Wuchsformen von Tumoren der Hohlorgane und der Haut.

a Exophytisch wachsende Tumoren mit polypösem und papillärem Wachstumsmuster. b Endophytisch die Wand infiltrierende Tumoren mit solidem, knotigem oder diffusem Tumorwachstum. c Tumor mit zentraler Ulzeration.

Morphologie Makroskopisch liegt meist ein endophytisch wachsender, knotiger, oberflächlich ulzerierter Tumor vor. Seltener wachsen hochdifferenzierte Plattenepithelkarzinome exophytisch-papillär (sog. verruköses Plattenepithelkarzinom). Histologisch sind die Tumorzellen groß, polygonal oder spindelzellig mit Kernatypien und atypischen Mitosefiguren. Der verhornende Typ zeigt die Verhornung in Form von konzentrischen Hornperlen und als Einzelzellverhornung (Abb. 6-33). Daneben gibt es aber auch das nichtverhornende Plattenepithelkarzinom. Nach dem Differenzierungsgrad werden drei bzw. vier Malignitätsgrade unterschieden (G1–4: G1 hochdifferenziert, G2 mittelmäßig differenziert, G3–4 niedrigdifferenziert, undifferenziert und anaplastisch); an den Enden dieses Spektrums finden sich somit das hochdifferenzierte verhornende Plattenepithelkarzinom und das anaplastische Karzinom ohne erkennbare Differenzierungsmerkmale.

Übergangsepithelkarzinom Syn.: Transitionalzellkarzinom Das Übergangsepithelkarzinom ist ein Karzinom mit einem Phänotyp, der dem Urothel ähnlich ist. Der Tumor findet sich im Übergangsepithel der ableitenden Harnwege (Nierenbecken, Ureter, Harnblase [Urothelkarzinom], Urethra, Prostata); das vom respiratorischen Epithel der Nasenschleimhaut ausgehende Karzinom (Transitionalzellkarzinom) ist selten. In den meisten Fällen liegt ein papillär-exophytisches Wachstum vor (Abb. 6-34). Bei niedrigdifferenzierten Urothelkarzinomen wächst der Tumor endophytisch solide.

Abb. 6-33 Verhornendes Plattenepithelkarzinom mit

Ausbildung unterschiedlich großer Hornperlen (Pfeile) innerhalb der Tumorverbände. HE, Vergr. 200fach.

Abb. 6-34 Urothelkarzinom.

Histologischer Ausschnitt aus einem papillären Urothelkarzinom mit einem Ausschnitt einer Papille, die oberflächlich von einem atypischen Urothel ausgekleidet wird. HE, Vergr. 200fach.

Adenokarzinom Adenokarzinome sind epitheliale Tumoren mit drüsigem Phänotyp. Sie finden sich im Drüsenepithel der Schleimhäute (Magen-Darm-Trakt, Respirationstrakt, weibliches Genitale), Leber, Niere sowie in exokrinen und endokrinen Drüsen.

Morphologie

In Organen bilden die Karzinome makroskopisch sichtbare knotenförmige Tumorinfiltrate. Ein vom Oberflächenepithel ausgehendes Karzinom kann eine endophytische oder exophytische Wuchsform aufweisen. Zusätzlich können Ulzerationen bestehen. Mikroskopisch zeigen die Adenokarzinome unterschiedlich ausgeprägte Differenzierungsgrade (G1–3 bzw. 4) im Vergleich zum Normalgewebe. Nach der histologischen Wuchsform werden sie in papilläre, tubuläre, trabekuläre, azinäre, kribriforme, solide und diffuse Adenokarzinome weiter unterteilt. Bei der Klassifikation kann zusätzlich berücksichtigt werden, welche Substanzen die Tumorzellen bilden, z.B. Sekretionsprodukte (Muzine) oder organspezifische Substanzen (Hormone, onkofetale Antigene, Isoenzyme und Glykoproteine). Nach der Schleimproduktion unterscheidet man: ■ muzinöse Karzinome mit ausgeprägter extrazellulärer Verschleimung, die auch als Gallertkarzinome bezeichnet werden. Die Tumorzellen liegen

häufig in den Schleimseen. Makroskopisch haben diese Karzinome ein glasigtransparentes Aussehen. Sie kommen im Magen-Darm-Trakt, in der Mamma und im Ovar vor. ■ Siegelringzellkarzinome. Diese Tumoren sind durch intrazelluläre Schleimakkumulation gekennzeichnet. Der von den Tumorzellen gebildete Schleim liegt im Zytoplasma der Zellen und drängt dabei den Kern siegelringartig an den Rand der Zellen. Siegelringzellkarzinome kommen bevorzugt im Magen vor (Abb. 6-35).

Anaplastische Karzinome Anaplastische Karzinome sind maligne epitheliale Tumoren, die durch ihren Differenzierungsverlust (hochgradige Anaplasie) keinem Normalgewebe mehr ähnlich sehen (G3–4). Oft lassen sie sich nur aufgrund ihrer immunhistochemisch nachweisbaren Keratine z.B. noch als epitheliale Tumoren identifizieren.

Abb. 6-35 Schleim bildendes Adenokarzinom des Magens mit Siegelringzellen

(Pfeile). HE, Vergr. 200fach.

Karzinosarkom Diese Tumoren bestehen aus einer malignen epithelialen und einer malignen mesenchymalen Komponente. Sie kommen hauptsächlich in Geweben mesodermaler Herkunft vor. So ist das Karzinosarkom ein seltener, aber typischer Tumor des Endometriums der älteren Frau (sog. maligner mesodermaler Mischtumor). Der Tumor geht von den Endometriumdrüsen aus. Im Rahmen der

malignen Transformation entsteht ein typisches Endometriumkarzinom, das zusätzlich unterschiedlich differenzierte sarkomatöse Anteile (Fibro-, Chondro-, Rhabdomyosarkom u.a.) bildet. In anderen Organen sind diese Tumoren äußerst selten.

6.7.2 Mesenchymale Tumoren Es handelt sich um Tumoren mit einer mesenchymalen Differenzierung. Sie kommen hauptsächlich im Binde- und Stützgewebe sowie in der Muskulatur vor, d.h. in den Abkömmlingen des pluripotenten Mesenchyms des Embryos. Auch die Neoplasien, die sich von hämatopoetischen und lymphatischen Zellen ableiten lassen, gehören zu den mesenchymalen Tumoren.

Benigne mesenchymale Tumoren Benigne mesenchymale Tumoren werden nach der vorherrschenden Differenzierung benannt. Die Bezeichnungen enden mit dem Suffix -om (z.B. Lipom), das Präfix kennzeichnet die jeweilige Gewebedifferenzierung. Die Tumoren sind meist gut begrenzt. Bei hohem Fasergehalt zeigt die Schnittfläche eine wirbelförmige Struktur. Beispiele für benigne Tumoren mit mesenchymalem Phänotyp sind (s.a. Tab. 6-10): ■ Fibrome. Häufige Tumoren, die aus hochdifferenzierten Bindegewebezellen und kollagenen Fasern bestehen. Sie kommen in allen Bereichen des Organismus vor. Makroskopisch handelt es sich um faserige, weiße Knoten. Bei hohem Fasergehalt sind die Tumoren hart (Fibroma durum), bei geringem weich (Fibroma molle). ■ Leiomyome. Sie enthalten glatte Muskelzellen. Häufigste Lokalisation (90%) ist der Uterus (Myometrium) mit Ausbildung gut begrenzter Tumorknoten. ■ Rhabdomyome. Sehr seltene Tumoren, die aus reifen quergestreiften Muskelzellen bestehen und z.B. im Herzen vorkommen. ■ Lipome. Ubiquitär und häufig vorkommende Tumoren, die sich aus reifen Fettzellen (Abb. 6-36) aufbauen. Makroskopisch handelt es sich um läppchenartig gegliederte Knoten mit der typischen gelben Farbe von Fettgewebe. ■ Chondrome. Langsam wachsende Tumoren, vorwiegend in knorpeligen Bereichen des Skelettsystems. Im Aufbau gleichen sie dem normalen Knorpel. ■ Osteome. Hochdifferenzierte Tumoren des Knochengewebes mit entsprechendem Aufbau. Häufiges Vorkommen in der Haut.

■ Fibröses Histiozytom. Ein unscharf begrenzter Tumor, der aus Fibroblasten und Histiozyten besteht. ■

Angiome. Benigne Tumoren des Gefäßsystems.

Maligne mesenchymale Tumoren (Sarkome) Maligne mesenchymale Tumoren werden, bis auf wenige Ausnahmen (z.B. malignes Mesotheliom), als Sarkome bezeichnet. Die Einteilung erfolgt in Analogie zu den benignen Varianten, wobei das Präfix die zelluläre Differenzierung der Tumorzellen angibt. Sarkome metastasieren überwiegend auf dem Blutweg. Mit Ausnahme der Chondro- und Osteosarkome sind die Sarkome oft weich und von fischfleischartigem Aussehen (griech.: sarx = Fleisch). Sarkome sind wesentlich seltener als die benignen mesenchymalen Tumoren. Für die Prognose sind der Grad der histologischen Differenzierung, die Mitoserate sowie Vorkommen und Ausdehnung von Nekrosen von Bedeutung. Beispiele für Sarkome sind:

Abb. 6-36

Lipom.

Histologischer Ausschnitt aus einem Lipom mit reifen Fettzellen, die nicht von normalen Fettzellen unterschieden werden können. HE, Vergr. 400fach. ■ Fibrosarkome. Zellreiche spindelzellige maligne Tumoren mit einem meist geringen Gehalt an kollagenem Bindegewebe. ■ Leiomyosarkome. Kommen insbesondere im Uterus und in den Weichgeweben vor. Sie bestehen aus neoplastischen glatten Muskelzellen mit vermehrten Mitosefiguren. In den Tumorzellen lassen sich Aktinfilamente (glattes muskelspezifisches α-Aktin) nachweisen.

■ Rhabdomyosarkome. Diese Tumoren entstehen aus unreifen mesenchymalen Zellen, bei Kindern und Jugendlichen überwiegend im Bereich des Kopfes, des Halses und des Genitaltrakts, bei Erwachsenen in der Harnblase. Histologisch findet man unregelmäßig große, spindelige Zellen mit gelegentlicher Querstreifung. Immunhistochemisch zeigen die Tumorzellen eine Desminexpression. ■ Liposarkome. Maligne mesenchymale Tumoren mit Ausreifung der Lipoblasten zu Fettzellen (Abb. 6-37). Kommen meist in den tief liegenden Weichteilen sowie im retroperitonealen Gewebe vor. ■ Chondro- und Osteosarkome. Maligne mesenchymale Tumoren des Skelettsystems mit knorpeliger oder knöcherner Differenzierung. ■ Malignes fibröses Histozytom (MFH). Es handelt sich um ein pleomorphes Spindelzellsarkom mit Riesenzellen (siehe Kap. 45.3.2) ■ Undifferenzierte Sarkome. Diese lassen mit Ausnahme des mesenchymalen Phänotyps (Expression von Vimentin) keine Differenzierung mehr erkennen. Die Einteilung erfolgt hier häufig nach der Tumorzellform in Spindelzell-, Rundzell- und polymorphzelliges Sarkom.

Sonderformen mesenchymaler Tumoren Neoplasien des Knochenmarks Abb. 6-37 Liposarkom.

Histologischer Ausschnitt mit einem relativ zellreichen Tumor mit zahlreichen Lipoblasten, die Fettvakuolen in ihrem Zytoplasma enthalten (Pfeile). HE, Vergr. 400fach.

Neoplasien des Knochenmarks können von den einzelnen zellulären Komponenten der Knochenmarks ausgehen – Stammzellen, erythrozytopoetische Reihe, leukozytäre Reihe, megakaryozytär-thrombozytäre Reihe, myelomonozytäre Reihe. Die Tumorzellen sind entsprechend ihrer Differenzierungsreihe unterschiedlich ausgereift und werden sehr oft in das Blut ausgeschwemmt. Die Ausschwemmung bezeichnet man als Leukämie (= Weißblutigkeit). Diese Neoplasien werden somit als myeloische Leukämien bezeichnet.

6.7.3 Tumoren des lymphatischen Systems Tumoren des lymphatischen Systems sind durch eine autonome neoplastische Proliferation lymphatischer Zellen charakterisiert. Diese Erkrankung imponiert klinisch überwiegend durch vergrößerte Lymphknoten, Befall des Knochenmarks und/oder durch Ausschwemmung der Tumorzellen in das Blut. Die grundsätzliche Unterteilung der malignen Lymphome (ML) unterscheidet ■

Hodgkin-Lymphome (Morbus Hodgkin, Lymphogranulomatose) und



Non-Hodgkin-Lymphome.

Hodgkin-Lymphome Hodgkin-Lymphome sind durch die neoplastische Proliferation ein- und mehrkerniger Blasten (= Hodgkin- und Sternberg-Reed-Zellen, Abb. 6-38a) gekennzeichnet, die über die Sekretion von Zytokinen eine meist ausgeprägte reaktive Proliferation von Lymphozyten, Monozyten/Makrophagen und Eosinophilen induzieren. Die Erkrankung breitet sich meist von einer Lymphknotengruppe (z.B. Halslymphknoten) kontinuierlich auf andere Lymphknotengruppen und andere Organe (Milz, Leber, Knochenmark) aus.

Klinisch-pathologische Korrelationen Hodgkin-Lymphome treten häufig bei jungen Patienten auf. Mithilfe der modernen Strahlen- und Chemotherapie sind heute meist eine erfolgreiche Behandlung und Heilung möglich. Im späteren Stadium können Milz, Knochenmark, Leber und andere Organe befallen sein. In der Initialphase des Hodgkin-Lymphoms stehen lokale prominente Lymphknotenschwellungen im Vordergrund.

Non-Hodgkin-Lymphome Non-Hodgkin-Lymphome (NHL) stellen Neoplasien der B- und T-Zell-Reihe dar. Nach ihrer Lokalisation unterscheidet man nodale (im Lymphknoten auftretende) und extranodale (Schleimhaut des Gastrointestinaltrakts u.a.) Non-Hodgkin-Lymphome.

Histologisch werden langsam fortschreitende, niedrigmaligne NHL, bei denen reife lymphatische Zellen das Zellbild dominieren, von schnell wachsenden hochmalignen NHL mit blastischen lymphatischen Zellen unterschieden (Abb. 6-38 b und c).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Klinisch sind bei nodalen NHL periphere indolente Lymphknotenschwellungen charakteristisch. Häufig liegt zum Zeitpunkt der Diagnose bereits ein Knochenmarkbefall vor, mit Ausbildung einer Anämie, einer Thrombozytopenie und einer Leukozytopenie mit entsprechender Infektanfälligkeit bzw. Blutungsneigung. Ein Teil der NHL geht mit der Ausschwemmung der Tumorzellen in das Blut einher (= lymphatische Leukämie).

Abb. 6-38

Lymphome.

a Morbus Hodgkin. Typische großzellige Tumorzellen sowie zweikernige Tumorzelle (Reed-Sternberg-Zelle) mit den spiegelbildlich angeordneten Kernen mit prominenten Nukleolen (Pfeil). HE, Vergr. 400fach.

b Hochmalignes Lymphom aus großen, blastischen Zellen. HE, Vergr. 400fach. c Niedrigmalignes Lymphom aus kleinen lymphozytischen Zellen. HE, Vergr. 400fach.

6.7.4 Keimzelltumoren Keimzelltumoren sind von Keimzellen des Hodens oder (selten) des Ovars ausgehende, oft maligne Tumoren. Die Differenzierungspotenz der Keimzellen spiegelt sich auch in ihren Tumoren wider. Teratome (griech.: teras = Ungeheuer, Missgeburt) sind Neubildungen, in denen häufig Abkömmlinge aller drei Keimblätter (tridermale Differenzierung) entwickelt sind. Morphologisch unterscheidet man reife (adulte) und unreife Teratome. Reife Teratome enthalten gut differenzierte, ausgereifte Gewebearten wie Fett, Knorpel, Knochen, Zähne, Hirngewebe, Bronchialschleimhaut, Gastrointestinalschleimhaut, Haut u.a. Sonderformen sind die monodermale Dermoidzyste, eine aus Haut und Hautanhängen bestehende zystische Neubildung, und die sog. Struma ovarii, die aus reifem Schilddrüsengewebe aufgebaut ist. Unreife Teratome sind meist aus unreifen und ausgereiften Gewebearten aufgebaut. Darüber hinaus gibt es in den männlichen (häufig) und in den weiblichen (selten) Gonaden eine Reihe hochmaligner Keimzelltumoren, die ausführlich in Kap. 38.1.6 und 39.1.7 besprochen werden. In diesem Kapitel daher nur eine kurze Definition: ■ Seminom (im Ovar = Dysgerminom). Ein maligner, wenig differenzierter Keimzelltumor. Die Tumorzellen ähneln unreifen Keimzellen. Sie besitzen deutlich vergrößerte Kerne mit prominenten Nukleolen. ■ Embryonales Karzinom. Dieser maligne Keimzelltumor ist durch seine trabekulär-drüsige, teils papilläre Differenzierung charakterisiert. ■ Chorionkarzinom. Ein hochmaligner Keimzelltumor mit charakteristischer zyto- und synzytiotrophoblastärer Differenzierung.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Gonadale Keimzelltumoren manifestieren sich meist durch eine Vergrößerung eines Hodens und/oder durch Metastasen. Durch die moderne Chemo- und Strahlentherapie – in Kombination mit der Ablatio des Hodens – können die Patienten heute überwiegend geheilt werden.

6.7.5 Embryonale Tumoren (Blastome) Als embryonale Tumoren werden Tumoren zusammengefasst, die sich wahrscheinlich während der embryonalen Organ- und Gewebereifung entwickeln. Entsprechend zeigen

sie Ähnlichkeiten mit embryonalen Gewebeformen und bestehen häufig aus mesenchymalen und epithelialen Komponenten. Beispiele embryonaler Tumoren sind das in der Niere vorkommende Nephroblastom (Wilms-Tumor), das Neuroblastom (Nebennierenmark, Grenzstrang), das Retinoblastom und das Hepatoblastom der Leber. Diese Tumoren manifestieren sich überwiegend bei der Geburt oder in den ersten Lebensjahren. Das Osteoblastom und das Chondroblastom sind nicht zu den embryonalen Tumoren zu rechnen, sondern stellen unreife mesenchymale Tumoren dar. Das embryonale Rhabdomyosarkom ist ebenfalls kein embryonaler Tumor gemäß der oben aufgeführten Definition, sondern stellt einen malignen Tumor dar, der sich aus unreifen mesenchymalen Zellen entwickelt.

6.8

Auswirkungen/Folgen/Klinik

6.8.1 Lokale Auswirkungen Die lokalen Auswirkungen sind Folge von Expansion und/oder Invasion des Tumors sowie von Nekrosen des Tumors und/oder des angrenzenden normalen Gewebes (Abb. 6-39).

Lokale Folgen durch Tumorexpansion und/oder invasion Tumoren führen zu Funktionsstörungen von Organen und Geweben. Funktionsstörungen von Organen wie z.B. dem Gehirn sind meist direkte Folgen des komprimierenden oder destruierenden Tumorwachstums. Zusätzliche tumorbedingte Kreislaufstörungen oder Ödeme im Randbereich des Tumors können diese Störungen noch verstärken. Primäre Hirntumoren und Hirnmetastasen führen bei entsprechender Lokalisation zu Lähmungen. Der Befall parenchymatöser Organe wie Leber und Nieren bewirkt häufig erst im Endstadium einen Funktionsausfall mit entsprechender Leber- oder Niereninsuffizienz. Das Tumorwachstum im Knochen ist nicht selten Ursache eines Knochenabbaus mit mechanischer Instabilität. Diese kann dann schon bei kleinen mechanischen Einwirkungen Anlass zu einer Fraktur geben (pathologische Fraktur). Tumoren von kanalikulären Organen führen zur Stenose. Hierunter versteht man die durch das Tumorwachstum bedingte Einengung bis hin zum Verschluss (Obstruktion) durch intraluminales Wachstum oder Wandinfiltration und -verbreiterung oder auch durch Kompression von außen. Die Folgen sind Störungen des intraluminalen Transports mit Rückstau von Inhaltsstoffen (Nahrung, Sekrete, Exkremente). Beispiele

sind Tumorstenosen des Magen-Darm-Trakts, der Ureteren, des Gallenwegs- und des Tracheobronchialsystems. Von den Gefäßen sind ganz vorwiegend die Venen durch Kompression und/oder Infiltration betroffen, was zu einer lokalen Blutabflussstörung führt. Auf der Basis einer Gefäßwandinfiltration bildet sich häufig ein Thrombus, der später von Tumorzellen durchsetzt wird (Tumorthrombus). Von diesem können Tumoremboli in andere Organe verschleppt werden.

Lokale Komplikationen durch Nekrosen Tumornekrosen können Ulzerationen, Blutungen und Fisteln verursachen. Die bei größeren Tumoren oft unzureichende Gefäßversorgung sowie tumorbedingte Gefäßverschlüsse sind die Ursachen für Nekrosen des Tumors sowie des angrenzenden normalen Gewebes. Bei Tumoren der Hohlorgane entstehen häufig Ulzerationen mit Gefäßarrosionen und Blutungen. Bei tumorösem Befall benachbarter Hohlorgane können Tumornekrosen zu Verbindungen zwischen diesen beiden Hohlorganen (Fistelung) führen. Beispiele hierfür sind die Ösophagotracheal-, die enterokolische, die Rektovaginaloder die Rektovesikalfistel bei fortgeschrittenem Karzinom der entsprechenden Hohlsysteme. Derartige Fisteln können auch Folgen von Tumornekrosen nach Chemo- oder Strahlentherapie sein.

Abb. 6-39 Lokale Komplikationen des Tumorwachstums.

Die Klinik rezidivierender Blutungen sowie von Tumorfisteln ist von der Lokalisation und dem Ausmaß der Blutungen abhängig. Tumoren der Nieren und des Harntrakts verursachen häufig Blut im Urin (Hämaturie), Tumoren des Magen-Darm-Trakts sog. Teerstuhl oder Blut im Stuhl, und Tumoren des Bronchialsystems führen zu blutigem Sputum oder Bluthusten (Hämoptoe). Die Folge rezidivierender Blutungen ist Blutarmut (Anämie). Die Arrosion eines größeren Gefäßes kann zu einer schweren Blutung mit Blutungsschock führen.

Klinisch-pathologische Korrelationen Tumorstenosen des Magen-Darm-Trakts führen in Abhängigkeit von der Obstruktionshöhe zu Schluckstörungen (Ösophagus) bis zum Ileus (Dünn-, Dickdarm). Obstruktionen der Gallenwege verursachen eine mechanische Cholestase. Der einseitige Verschluss eines Ureters bewirkt eine klinisch meist stumme Hydronephrose, die wiederum Anlass für eine eitrige Pyelonephritis sein kann. Ein doppelseitiger Ureterverschluss ist mit beidseitiger Hydronephrose, Niereninsuffizienz und Urämie gekoppelt. Der zunehmende Verschluss eines Bronchiallumens kann zu einer umschriebenen Minderbelüftung der Lungen mit Dys- und/oder Atelektase oder (seltener) über einen Ventilmechanismus zu einer lokalen Überblähung der Lunge (Emphysem) führen. Zusätzlich werden durch den

Rückstau von Sekreten lokale bakterielle Infektionen der Gallenwege und des Bronchialsystems begünstigt. Die Auswirkungen eines venösen Gefäßverschlusses sind lokale Ödeme. Tumoremboli können Infarkte der betroffenen Organe verursachen. Durch Nekrosen und Gefäßarrosion entstehen Blutungen.

6.8.2 Systemische Auswirkungen Die systemischen Auswirkungen von Tumoren werden durch den metastasierenden Tumorprozess, durch organspezifische oder ektope Hormone, durch Stoffwechselprodukte (Immunglobuline u.a.) sowie durch den Tumorstoffwechsel ausgelöst.

Hormonelle Überfunktionssyndrome endokriner Tumoren Hierunter versteht man die Auswirkungen der Sekretion von organspezifischen Hormonen eines benignen oder malignen endokrinen Tumors.

Pathogenese

Die Ursache des endokrinen Überfunktionssyndroms ist ein partieller Verlust der Regulation der Hormonsekretion (Funktionsautonomie) durch die Tumorzellen. Das klinische Krankheitsbild entwickelt sich meist langsam mit der Größenzunahme des Tumors und der dadurch steigenden Sekretionsleistung.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Symptome sind hormonspezifisch. So ist das Krankheitsbild bei Tumoren der Schilddrüsenfollikel durch das Schilddrüsenhormon Thyroxin, bei Tumoren der Inselzellen des Pankreas durch die Wirkung entsprechender Hormone wie z.B. Insulin oder Gastrin geprägt. Das klinische Bild der Adenome und Karzinome der Nebennierenrinde kann durch ein Spektrum von unterschiedlichen steroiden Wirkungen charakterisiert sein (siehe Kap. 16.1.10). Wenn die hormonellen Syndrome das Krankheitsbild beherrschen, führt die vollständige chirurgische Entfernung der Tumoren meist zur Normalisierung.

Paraneoplastische Syndrome (Paraneoplasien) Definition Unter dem Begriff Paraneoplasien (griech.: neos = neu; plasein = bilden) fasst man Funktionsstörungen und Krankheitszustände zusammen, die weder durch das lokale und metastatische Tumorwachstum noch durch eine für das Muttergewebe des

Tumors charakteristische Hormonsekretion zu erklären sind. Die paraneoplastischen Syndrome werden hervorgerufen durch gestörte Bildung und Abgabe von Wirkstoffen durch die Tumorzellen, die tumorfern ihre Wirkung ausüben. Zu den Wirkstoffen gehören Hormone, Gerinnungsfaktoren, Wachstumsfaktoren u.a. Paraneoplastische Syndrome werden bei 10–15% der Patienten mit Tumorleiden beobachtet. Man unterscheidet: ■ paraneoplastische Endokrinopathien ■ paraneoplastische neurologische und muskuläre Syndrome ■ paraneoplastische hämatologische Syndrome.

Ätiologie und Pathogenese Eine Zusammenstellung der paraneoplastischen Syndrome und ihrer Ursachen gibt Tab. 6-11. Eine einheitliche Deutung ist heute noch nicht möglich. Die am besten erklärten Krankheitsbilder sind die paraneoplastischen Endokrinopathien, die durch Hormone oder hormonähnliche Substanzen ausgelöst werden. Da diese Tumoren in nichtendokrinen Organen ihren Ursprung haben, spricht man auch von ektoper Hormonbildung. Eine Erklärung hierfür könnte in der Derepression von Genen liegen, die für das betreffende ektope Hormon kodieren. Häufig treten Tumoren mit paraneoplastischen Endokrinopathien in Epithelien auf, in denen auch das Diffuse-endokrine-ZellenSystem lokalisiert ist. Man geht heute davon aus, dass sich dieses in gleicher Weise wie das übrige spezialisierte und differenzierte Epithel aus Reservezellen über eine transiente endokrine Zelle mit nur geringgradiger endokriner Aktivität entwickelt. Eine Erklärung für das Vorkommen von Tumoren mit Produktion von Peptid- oder Aminhormonen könnte darin liegen, dass sich diese Tumorzellen überwiegend zu endokrinen Zellen differenzieren. Die molekularbiologischen Grundlagen, die zur Sekretion meist nur einer Wirksubstanz führen, sind aber auch heute noch nicht ausreichend geklärt. Bei neuromuskulären paraneoplastischen Syndromen spielen zum Teil autoimmunologische Prozesse oder die Aktivierung von Viruserkrankungen eine Rolle. So kann es z.B. bei einem Thymom zu einer paraneoplastischen Myasthenia gravis kommen, die durch Muskelschwäche und Muskelermüdbarkeit charakterisiert ist. Bei der Entstehung dieses Krankheitsbildes sind blockierende Autoantikörper gegen Acetylcholinrezeptoren entscheidend, deren Bildung durch Stimulation nichtneoplastischer T-Zellen über Acetylcholinrezeptoren der myoiden Thymuszellen induziert wird. Hämatologische Paraneoplasien und Adenokarzinome können durch Sekretion von thrombosefördernden oder fibrinolytischen Substanzen Thrombosen oder Blutungen auslösen. Anämien werden möglicherweise durch zytotoxische oder die

Hämolyse fördernde Faktoren ausgelöst. Leukämoide Reaktionen schließlich können durch myelopoetisch aktive Substanzen hervorgerufen werden.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die paraneoplastischen Syndrome sind insofern wichtig, als sie ein erster Hinweis auf ein Tumorleiden sein können (Tab. 6-11). Durch eine wirksame Behandlung kann in einem Teil der Fälle auch das paraneoplastische Syndrom zum Verschwinden gebracht werden. Bei fortgeschrittenem metastasierendem Tumorleiden sind allerdings häufig nur palliative Maßnahmen möglich.

Tumormarker Tumormarker sind Substanzen, die von den Tumorzellen gebildet und als Spürsubstanzen in der Diagnostik oder im Verlauf benutzt werden. Sie lassen sich häufig immunhistochemisch im Gewebe und/oder biochemisch im Blut und teilweise in Exkrementen nachweisen. In Tab. 6-12 sind einige wichtige Tumormarker aufgeführt: ■ Onkofetale Antigene. Zwei der bestetablierten Marker sind das CEA (karzinoembryonales Antigen) und das AFP (α-Fetoprotein). CEA wird normalerweise nur im embryonalen Gewebe des Darmtrakts, des Pankreas und der Leber gebildet. Dieses komplexe Glykoprotein kann von einer Reihe von Tumoren sezerniert werden und dient damit als Verlaufsmarker. Die Erwartungen, diese Substanz auch in der Primärdiagnostik von Tumoren einsetzen zu können, sind leider gescheitert, weil erhöhte CEA-Werte auch bei benignen Erkrankungen gefunden wurden (z.B. Hepatitis, Leberzirrhose, chronisch entzündliche Darmerkrankungen u.a.). ■ Ein ähnlicher Marker ist AFP, das v.a. bei Leberzellkarzinomen und verschiedenen Keimzelltumoren nachweisbar ist. ■ Hormone. Hierbei handelt es sich einerseits um gewebetypische Hormone, andererseits um eine ektope Bildung von Hormonen im Rahmen paraneoplastischer Syndrome. ■ Isoenzyme. Eines der wichtigsten Isoenzyme ist die saure Prostataphosphatase, die als Verlaufsmarker des Prostatakarzinoms eingesetzt wird. ■ Spezifische Proteine und Glykoproteine. Hierzu zählt z.B. das prostataspezifische Antigen (PSA), welches man immunhistochemisch in Prostatakarzinomen sowie im Serum von Karzinompatienten nachweisen kann. PSA ist ein organspezifisches Protein. Das Gleiche gilt für das Thyreoglobulin (TG), ein Glykoprotein, das im Kolloid der normalen Schilddrüse vorkommt, aber auch von differenzierten Karzinomen des Follikelepithels gebildet und sezerniert wird. TG

kann somit als Verlaufsmarker bei fortschreitendem Schilddrüsenkarzinom eingesetzt werden. ■ Intermediärfilamente. Der immunhistochemische Nachweis von Intermediärfilamenten wird zur Abgrenzung epithelialer und der verschiedenen mesenchymalen Tumoren benutzt.

Tab. 6-11 Paraneoplastische Syndrome.

Tumorkachexie Definition Unter Kachexie (griech.: kachexia = schlechter Zustand) versteht man die zunehmende Auszehrung des Patienten bei fortgeschrittenem Tumorleiden mit Abmagerung, allgemeinem Kräfteverfall, Appetitlosigkeit, Anämie und Apathie.

Pathogenese

Die Entstehungsmechanismen der Kachexie sind noch nicht im Einzelnen geklärt. Diskutiert werden Stoffwechselprodukte des Tumors, die ■ zu katabolem Proteinumsatz ■ erhöhter Mobilisierung von Lipiden aus Fettgewebe ■ vermehrtem Energieverbrauch (Hypermetabolismus) der Körperzellen führen. Verantwortlich für einen Teil dieser Wirkungen ist möglicherweise Kachexin (= Tumornekrosefaktor α = TNF-α). Weitere Faktoren sind unzureichende Nahrungsaufnahme durch lokale Tumoreinwirkungen wie Behinderung der Nahrungsaufnahme, der Verdauung (Maldigestion) oder der Resorption (Malresorption), durch depressive Verstimmungen und schließlich auch durch Störungen der Geschmacksempfindungen und/oder Störungen im zentralen Hungerzentrum. Ein weiterer Faktor kann der übermäßige Verlust von Proteinen im Rahmen rezidivierender Blutungen (z.B. ulzeriertes Karzinom im Magen-Darm-Trakt) oder bei polypösen Tumoren des Magen-Darm-Trakts (Proteinverlustsyndrom) sein. Die Kachexie ist häufig mit einer erhöhten Infektanfälligkeit verbunden, sodass viele Tumorpatienten an interkurrierenden Infekten sterben. Derartige Infekte sowie auch die resorbierende Entzündung bei Tumornekrosen sind im Zusammenspiel mit Wirkungen von Tumorzellprodukten auf die Temperaturregulierung Ursachen des Tumorfiebers.

Tab. 6-12 Ausgewählte „Tumormarker“.

Tumoranämie Hierbei handelt es sich um eine Blutarmut, die durch Blutverlust, Mangel an Aufbaustoffen (Aminosäuren, Vitamine), durch vermehrte Hämolyse oder durch Verdrängung der Myelopoese bei Tumorwachstum im Knochenmark entsteht.

6.9

Bedeutung der Pathologie in der Tumordiagnostik

Voraussetzungen für eine Therapie sind der sichere morphologische Nachweis des Tumors, die Bestimmung des Tumortyps, des Malignitätsgrades und seiner Ausbreitung. Diese Parameter bestimmen wesentlich Art und Ausmaß der Therapie (Operation, Strahlen- und/oder Chemotherapie) und die Prognose. In Abhängigkeit vom Untersuchungsgut unterscheidet man zytologische und histologische sowie immunhistologische Untersuchungen. In neuerer Zeit kommen zunehmend auch molekularbiologische Methoden zur Anwendung.

6.9.1 Zytodiagnostik Die Erkennung eines Tumors in einem frühen Stadium ist von entscheidender Bedeutung. Voraussetzung hierfür sind regelmäßige Screeninguntersuchungen der Bevölkerung mit zuverlässigen und preisgünstigen Methoden. Liegt klinisch ein begründeter Tumorverdacht (z.B. Portiokarzinom) vor, so ist eine der effektivsten Suchmethoden die Gewinnung von Zellausstrichen und deren zytologische Untersuchung. Die aus dem Zellverband gelösten Zellen können z.B. durch eine Feinnadelbiopsie (Punktionszytologie) oder durch direkte Abstrichentnahme (Exfoliativzytologie) gewonnen werden. Bei der mikroskopischen Untersuchung der gefärbten Zellausstriche werden die Zellen auf Atypien untersucht. Nach dem Grad der Atypien (siehe Kap. 6.1.1) werden die Ausstriche in unverdächtige, zweifelhafte, verdächtige und positive Befunde unterteilt. Durch die zytologische Vorsorgeuntersuchung kann heute das Zervixkarzinom häufig schon im Vorstadium (intraepitheliale Neoplasie, Carcinoma in situ) erkannt werden. Ein kleiner therapeutischer Eingriff (Konisation) verhindert bei diesen Patientinnen die Progression der Präkanzerosen zu einem invasiven Karzinom. Auf diese Weise konnte die Inzidenz invasiver Plattenepithelkarzinome der Portio und Zervix erheblich reduziert werden. Punktionszytologische Untersuchungen können heute unter Einsatz bildgebender Verfahren auch schon bei kleinen Tumoren verschiedener Organe durchgeführt werden. Schließlich eignet sich die Punktionszytologie als schnelle und einfache Methode zum Nachweis fortgeschrittener maligner Tumoren und von Ergüssen.

6.9.2 Histologische Diagnosesicherung Die histologische Diagnosesicherung eines Tumors umfasst die Dignitätsbestimmung (siehe Kap. 6.1.1) und seine Typisierung (siehe Kap. 6.7), die Beurteilung von Malignitätsgrad (Grading) und Tumorausbreitung (Staging) sowie schließlich die Frage, ob und in welchem Ausmaß ein Tumor im Gesunden entfernt werden kann.

Tumorklassifikation Die Klassifikation enthält die Bestimmung der Dignität (benigne vs. maligne), des Tumortyps (z.B. Adenokarzinom, Plattenepithelkarzinom, Morbus Hodgkin) und der vermuteten Lokalisation (z.B. Schilddrüse). Bei der richtigen Zuordnung eines Tumors zu einem Organ ist die Morphologie des Tumors und des angrenzenden normalen Gewebes von großer Bedeutung. So ist z.B. ein Adenokarzinom in der Mamma bei gleichzeitigem Nachweis eines In-situ-Karzinoms in der Nachbarschaft sicher einem primären Mammakarzinom zuzuordnen. Der Nachweis von atypischen Drüsen in einem Lymphknoten ist dagegen sicher als Lymphknotenmetastase zu deuten (Abb. 6-27). Hochdifferenzierte maligne Tumoren lassen sich somit sowohl im Primärtumor als auch in der Metastase aufgrund ihrer Ähnlichkeit zum Ursprungsgewebe oft klassifizieren. Bei anaplastischen Tumoren ist dagegen eine Typisierung nicht mehr möglich. Die Klassifikation hat therapeutische und prognostische Bedeutung, da einige Tumortypen eine gute Prognose haben (z.B. differenziertes Schilddrüsenkarzinom, Seminom des Hodens, Basaliom der Haut), andere dagegen prognostisch äußerst ungünstig sind (z.B. Ösophagus-, Magen- und Lungenkarzinom). Maligne Lymphome werden chemo- und/oder strahlentherapeutisch angegangen. Bei den Karzinomen steht die chirurgische Therapie im Mittelpunkt, eventuell begleitet von Chemo- und/oder Strahlentherapie.

Tumorgraduierung (Grading) Die Graduierung eines Tumors beinhaltet die Einstufung des Malignitätsgrades aufgrund histologischer und zytologischer Kriterien. Die wichtigsten Kriterien zur Bestimmung des Malignitätsgrades sind: ■

Kernatypien (Hyperchromasie, Kernpolymorphie, Anisonukleose u.a.)



Mitosezahl pro 10 definierte Gesichtsfelder (40er Objektiv)



Differenzierung (d.h. Ähnlichkeit zum Ursprungsgewebe).

Für die meisten Organ- und Weichgewebetumoren sind Gradingsysteme erstellt worden, die eine Korrelation zur Prognose aufweisen.

Tumorstadium (Staging) Das z.Zt. am weitesten verbreitete Verfahren ist das sog. TNM-System. Hierbei werden die lokale Ausbreitung des Primärtumors (T), die regionäre Lymphknotenmetastasierung (N) und die hämatogenen Fernmetastasen (M) berücksichtigt (Tab. 6-13).

Tab. 6-13 pTNM-Klassifikation. In Abhängigkeit von der Methode, mit der die Ausdehnung des Tumors bestimmt wurde, unterscheidet man: ■ eine klinische TNM-Klassifikation (prätherapeutische klinische Klassifikation), die als cTNM bezeichnet wird. Sie ergibt sich aufgrund klinischer Untersuchungen, z.B. bildgebende Verfahren, Endoskopie, Biopsie oder chirurgische Exploration. Nach der von der verwendeten diagnostischen Methode abhängigen Zuverlässigkeit (z.B. Röntgenaufnahme versus chirurgische Exploration einschließlich Biopsie) unterscheidet man 3 Grade der Diagnosesicherheit von C1 bis C3 (C = certainty). ■ eine pathologische TNM-Klassifikation (postoperative histopathologische oder autoptische Klassifikation; pTNM). Die Ausbreitung des Tumors wird am chirurgischen Tumorresektat und an den resezierten Lymphknoten oder aber im Rahmen einer Autopsie durchgeführt. Die Feststellung von Fernmetastasen (M) erfordert eine histologische Untersuchung der als klinisch oder autoptisch als Metastase eingeordneten Läsion. Anhand dieser histopathologischen Untersuchungen werden dann die pT-, pN- und pM-Kategorien ermittelt (Tab. 6-13). Der Grad der Ausdehnung wird durch Zahlen bestimmt, die für jedes Organ festgelegt sind. pT0 bedeutet, dass histologisch kein Hinweis auf einen Tumor besteht. pT4 bedeutet ein organüberschreitendes Wachstum mit Infiltration benachbarter Organe. pT1–pT3 bezeichnen organabhängig die Größe des Primärtumors oder seine Beziehung zu Organstrukturen (wie z.B. Infiltration der

Muscularis propria oder des angrenzenden Fettgewebes bei Magen- oder Kolontumoren) oder der Organkapsel. Die organspezifischen Besonderheiten werden in den Kapiteln der Speziellen Pathologie abgehandelt. Die pTNM-Klassifikation wird heute durch die Angabe des Fehlens oder Vorhandenseins eines Residualtumors (Resttumor) nach der Behandlung ergänzt. Rx bedeutet, dass das Vorhandensein eines Residualtumors nicht beurteilt werden kann, R0, dass kein Residualtumor vorhanden ist. R1 beinhaltet den mikroskopischen und R2 den makroskopischen Nachweis eines Residualtumors. Zusätzliche Kennzeichnungen durch die Buchstaben y, r, a, m bezeichnen spezielle Fälle in der TNM-Klassifikation. So bedeuten das y-Symbol eine TNM-Klassifikation während oder nach initialer multimodaler Therapie, das r-Symbol einen Rezidivtumor nach krankheitsfreiem Intervall, das a-Symbol eine Klassifikation anlässlich einer Autopsie und das m-Symbol multiple Primärtumoren in dem untersuchten Organ. YrpT2, pN1, cM0 bedeutet also, dass ein Rezidivtumor nach initialer multimodaler Therapie und primärer chirurgischer Exstirpation mit dem histopathologischen Stadium T2, N1 ohne klinisch (c) nachgewiesene Fernmetastase vorliegt. Die Tumorausdehnung zum Zeitpunkt der Erstdiagnose beeinflusst die Prognose; diese Tatsache ist heute bei fast allen malignen Tumoren belegt und unterstreicht die große Bedeutung der Stadieneinteilung.

Schnellschnittdiagnostik Die intraoperative Schnellschnittdiagnostik umfasst die makroskopische Beurteilung und die histologische Diagnose des bei der Operation entnommenen Gewebes. Die Fragestellungen betreffen vor allem ■

die Dignität des Tumors und den Tumortyp



die Vollständigkeit der chirurgischen Entfernung (Resektionsrand).

Die Ergebnisse der Schnellschnittdiagnostik sind häufig für das weitere operative Vorgehen entscheidend (siehe Kap. 1.3.6).

Immunhistochemie Immunhistochemische Untersuchungen werden zur genauen Klassifikation von Tumoren durchgeführt. Durch den Einsatz gewebespezifischer Antigene (Keratine, Vimentin, Leukozytenantigene u.a.) lassen sich mit dieser Methode häufig selbst anaplastische Tumoren noch klassifizieren. Mit dem Nachweis organspezifischer

Antigene (Thyreoglobulin, prostatasaure Phosphatase) in einem Tumor kann selbst in metastatischen Prozessen die Organzugehörigkeit bestimmt werden.

Molekulargenetik Siehe Kap. 1.3.12 und Kap. 6.3.2.

6.10 Tumorabwehr und Mechanismen der Manipulation des Immunsystems Das Vorhandensein einer immunologischen Tumorabwehr beim Menschen zeigt sich anhand der Tatsache, dass Tumoren oft bei immungeschwächten Patienten auftreten. Beispiele sind Alter, Exposition gegenüber Chemotherapeutika oder Strahlen, angeborene oder erworbene Immundefekte wie z.B. AIDS. Die meisten Malignome entstehen aber in Individuen, die offensichtlich nicht an einer Immundefizienz leiden. Es ist daher nahe liegend, dass Tumorzellen Mechanismen entwickeln müssen, um dem Immunsystem zu entkommen. Einige der folgenden Mechanismen können dabei wirksam sein: ■ Selektives Wachstum antigennegativer Varianten. Dies könnte durch die Eliminierung stark immunogener Tumorzell-Subklone während der Tumorprogression passieren. ■ Verlust oder reduzierte Expression von Histokompatibilitätsantigenen. Durch die fehlende Expression normaler HLA-Klasse-I-Moleküle können Tumorzellen zytotoxischen T-Zellen entkommen. ■ Fehlen einer Kostimulation. Obwohl Tumorzellen Peptidantigene mit Klasse-IMolekülen exprimieren können, exprimieren sie oft keine kostimulierenden Moleküle. Letztere sind aber notwendig für die Sensibilisierung von T-Zellen. ■ Immunsuppression. Nicht nur durch onkogene Noxen wie Chemikalien und Strahlen, sondern auch durch Tumoren oder Tumorbestandteile kann es zur Immunsuppression kommen (z.B. Sekretion von TGF-β). ■ Apoptose zytotoxischer T-Zellen, z.B. durch die Expression von FAS-Liganden (bekannt für Melanome und hepatozelluläre Karzinome). Häufig sind lymphozytäre Abwehrreaktionen im Randbereich von Tumoren nachweisbar. Diese Tatsache und das seltenere Auftreten von Rezidiven oder Zweittumoren bei Lymphompatienten mit starker Graft-versus-Host-Reaktion nach allogener Knochenmarktransplantation sprechen für eine immunologische Tumorabwehr.

Die Immunmechanismen bei der Tumorabwehr entsprechen jenen, die auch gegenüber anderen Antigenen ablaufen. Die Hauptlast tragen die Lymphozyten, und zwar die gegen Tumorantigene gerichteten zytotoxischen T-Lymphozyten. Zytotoxische T-Lymphozyten scheinen den Organismus vor allem gegen die Entstehung virusassoziierter Neoplasien (z.B. EBV-induziertes Burkitt-Lymphom, HPV-induzierte Tumoren) zu schützen. Die Rolle HLA-spezifischer zytotoxischer T-Lymphozyten im Rahmen der Immunantwort auf maligne Tumoren scheint ebenfalls bedeutend zu sein. Ihre Anwesenheit in einer Reihe menschlicher Tumoren legt dies nahe. In vielen Fällen sind die tumorinfiltrierenden Lymphozyten gegen T-Zell-spezifische Tumorantigene gerichtet. Diese Lymphozyten können im Rahmen einer so genannten adoptiven Immuntherapie gesammelt, vermehrt und reinfundiert werden. Eine weitere, in die Tumorabwehr integrierte Zellpopulation sind die natürlichen Killerzellen (NK-Zellen), die ohne erkennbare Antigenspezifität agieren. Antikörper sind für die Tumorabwehr insofern von Bedeutung, als sie die zytotoxische Reaktion von Killerzellen vermitteln (ADCC = antibody dependent cellular cytotoxicity). Gelegentlich scheinen sie aber sogar einen geradezu paradoxen Effekt hervorrufen zu können, indem sie das Wachstum von Tumoren fördern (enhancement). Ursächlich wird eine blockierende Wirkung bei zytopathogenen Mechanismen angenommen. Eine selektive Zytotoxizität gegen Tumorzellen zeigen aktivierte Makrophagen, welche gemeinsam mit T-Zellen und NK-Zellen wirksam und mit Interferon-γ aktiviert werden. Diese aktivierten Makrophagen produzieren reaktive Sauerstoffmetaboliten oder sezernieren Tumornekrosefaktor. Wird ein maligner Tumor klinisch manifest, so ist dies der Beweis dafür, dass es der Immunabwehr nicht gelungen ist, den malignen Prozess zu identifizieren und zu beseitigen. Dazu können verschiedene Mechanismen beitragen, vonseiten des Immunsystems sind es Defizienz und Toleranz. Gemeint ist die Unfähigkeit, gegen einen Tumor eine Immunreaktion zu initiieren. Dies ist nichts Außergewöhnliches, wie die Beispiele von Impfversagern und Virusantigenträgern zeigen. Da das Immunsystem nicht gegen jedes beliebige Antigen einen Klon vorhalten kann, wächst ein Tumor, wenn sein Antigenmuster gewissermaßen in eine solche Nische passt. Die Aufgaben der klinischen Tumorimmunologie umfassen diagnostische wie auch prophylaktische oder therapeutische Maßnahmen. Die wichtigsten werden im Folgenden aufgeführt.

Onkologische Immundiagnostik Die onkologische Immundiagnostik umfasst eine Reihe von verschiedenen Aufgaben, wie z.B. Methoden zur Erkennung und Klassifikation von Tumoren, zum Nachweis von Metastasen sowie die Analyse von Merkmalen, die eine Aussage zur Erfolgswahrscheinlichkeit von Therapien erlauben (Prädiktion). So ist der seit langem

eingeführte Nachweis onkofetaler Antigene im Blut nicht streng spezifisch und daher für die Primärdiagnostik nicht geeignet, wohl aber für die Verlaufsbeobachtung. Ein Wiederanstieg des Serumspiegels der onkofetalen Antigene nach therapeutisch bedingtem Abfall spricht für ein Tumorrezidiv. Durch intravenöse Verabreichung von radionuklidmarkierten Antikörpern lassen sich mithilfe der Szintigraphie Primärtumoren und Metastasen nachweisen. In Blut- und Knochenmarkprodukten lassen sich Tumorzellen auffinden und eliminieren (purging). Dies ist von entscheidender Bedeutung bei der autologen Knochenmarktransplantation, um die Reinokulation maligner Zellen zu unterbinden. Mithilfe der Immunhistochemie können Tumorzellen heute wesentlich exakter klassifiziert werden (z.B. die Zuordnung eines Lymphoms zur T- oder B-Zell-Reihe).

Onkologische Immuntherapie Onkologische Immuntherapie zielt auf die Zerstörung maligner Zellen mit immunologischer Methoden hin. Diese Methoden greifen teilweise am Immunsystem an. Stets wird eine Steigerung der Immunabwehr beabsichtigt (siehe Kap. 4.3.5). Ohne Kenntnis des Tumorantigens ist nur eine globale Aktivierung möglich. Dafür werden Thymuspeptide, Zytokine (siehe Kap. 4.2.2) sowie pflanzliche und bakterielle Substanzen verwendet. Ist das Tumorantigen bekannt, können spezifische aktivierte TZellen oder – meist monoklonale – spezifische Antikörper verwendet werden. Die genannten Methoden werden in vivo und in vitro/ex vivo angewandt. Der letztgenannte Weg bedient sich beispielsweise lymphokinaktiver Killerzellen (LAKZellen), die aus dem Blut des Patienten gewonnen und unter Kulturbedingungen maximal stimuliert werden, bevor man sie dem Patienten zurückgibt. Ein spezifisches Therapiekonzept gegen überexprimierte membranassoziierte Rezeptoren wird mit der Herzeptin-Therapie verfolgt. Dabei werden blockierende Antikörper gegen den epidermalen Wachstumsfaktor-Rezeptor erbB2 therapeutisch eingesetzt, die imstande sind, Tumorwachstum in vitro und teilweise auch in vivo zu hemmen. Ihr Einsatz erfolgt derzeit v.a. beim Mammakarzinom. Eine weitere spezifische Therapie mit Antikörpern gegen das Rezeptorprotein C-Kit (CD117), welches ebenfalls eine Tyrosinkinasefunktion aufweist, wird bereits erfolgreich bei der CML und bei gastrointestinalen Stromatumoren angewandt (GLIVEC). Innovative Tumorvakzinationsstrategien basieren auf der Identifikation tumorassoziierter Antigene und machen sich rekombinante DNA-, RNA-, Protein- und Peptidvakzine zunutze. Eine Steigerung der Antigenität kann durch Infektion mit apathogenen Viren oder durch Zytokine erfolgen, wobei letztere auf die Ausprägung von HLA-Merkmalen und damit auf die zytotoxische Immunreaktion Einfluss nehmen. Diese Methoden haben in

der humanen Immunonkologie eine untergeordnete Bedeutung. Dauerheilungen konnten bisher nicht erzielt werden. Eine effiziente Immunprophylaxe ist in Spezialfällen möglich. Wenn die Induktion eines Tumors auf Viren zurückgeht, kann durch aktive Immunisierung mit abgetöteten Viren die Virusinfektion und damit die Tumorentstehung unterbunden werden. So wird von der aktiven Schutzimpfung gegen Hepatitis-B-Virus ein – allerdings erst in den kommenden Jahren – erkennbarer Rückgang des primären Leberzellkarzinoms erwartet.

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FRAGEN 1 Definieren Sie den Begriff „Tumor“. Welche Eigenschaften unterscheiden den Tumor von einer Hyperplasie? 2 Was beinhaltet der Begriff „Dignität“? Welche Dignitätsgruppen von Tumoren sind für deren Verlauf/Prognose und Therapie wichtig? 3 Welche Aussagen über das biologische Verhalten eines Tumortyps erlaubt der Vergleich zwischen Inzidenz und Mortalität dieses Tumortyps? 4 Welche wichtigen Gruppen von Krebsrisikofaktoren kennen Sie? Lassen sich einzelne Risikofaktoren bestimmten Tumortypen zuordnen? Wenn ja, welche?

5 Wo findet die für die Transformation von normalen Zellen in Tumorzellen entscheidende Schädigung statt? 6 Wie können Sie ein Protoonkogen bzw. ein Onkogen definieren? Nennen Sie Beispiele. 7 Wodurch unterscheidet sich ein Tumorsuppressorgen von einem Onkogen? Nennen Sie Beispiele wichtiger Tumorsuppressorgene. 8 Kennen Sie Beispiele des Versagens der Reparaturgene? 9 Beschreiben Sie die Kernaussage der Hypothese der „intraepithelialen Neoplasie-(Dysplasie-)Karzinom-Sequenz“. 10

Was beinhaltet die Knudson-Hypothese?

11 Nennen Sie alle wichtigen Voraussetzungen und Schritte der Metastasierung. 12 Welche wichtigen Eigenschaften muss sich eine Tumorzelle aneignen, um die Fähigkeit der Invasion und Destruktion von Basalmembranen, der extrazellulären Matrix, von Gefäßen und der Extravasation zu erlangen? Welchen Gefahren ist eine Tumorzelle im Blutstrom ausgesetzt? 13 Welche Rolle spielt die Neoangiogenese beim Wachstum eines Primärtumors bzw. einer Metastase? 14 Definieren Sie die wichtigen Kriterien einer „intraepithelialen Neoplasie“. Spielen diese Kriterien bzw. das biologische Verhalten einer intraepithelialen Neoplasie für die Therapie bzw. für die Sekundärprävention von Tumoren eine Rolle? Wenn ja, welche? 15

Beschreiben Sie die makroskopischen Wuchsformen von Karzinomen.

16

Nach welchen Kriterien werden die Karzinome histologisch eingeteilt?

17 Welche lokalen Komplikationen können Tumoren verursachen? Wodurch können systemische Auswirkungen von Tumoren bedingt sein? 18

Nennen Sie die wichtigen Metastasierungswege maligner Tumoren.

19 Beschreiben Sie die Auswirkungen einer schweren Tumorerkrankung auf den betroffenen Patienten, auf seine Umgebung, seine Familie? 20 Welches sind therapeutische Ansätze, und welche weiteren Maßnahmen sind für die Therapie und Betreuung notwendig?

21 Welche Bedeutung hat die morphologische Untersuchung für die Diagnostik sowie für die Planung der Therapie? 1 In der Regel wird das Gen durch große Buchstaben gekennzeichnet (z.B. RAS), das Genprodukt durch kleine Buchstaben (ras).

7

Allgemeine Kreislaufpathologie B.D. BÜLTMANN, K.-W. SCHMID, C.J. KIRKPATRICK 7.1 Grundformen der kardialen Überbelastung 220 7.1.1

Chronische Druckbelastung 220

Chronische Druckbelastung des linken Ventrikels 220 Chronische Druckbelastung des rechten Ventrikels 220 7.1.2

Chronische Volumenbelastung 221

7.2 Herzinsuffizienz 222 7.2.1

Akute Herzinsuffizienz 223

Akute Linksherzinsuffizienz 223 Akute Rechtsherzinsuffizienz 223 7.2.2

Chronische Herzinsuffizienz 223

Chronische Linksherzinsuffizienz 223 Chronische Rechtsherzinsuffizienz 224 7.3 Hyperämie 224 7.3.1

Aktive Hyperämie 224

7.3.2

Passive Hyperämie 224

Allgemeine passive Hyperämie 224 Lokale passive Hyperämie 224 7.4 Ödem 225 7.5 Störungen der Blutstillung und Blutgerinnung 228 7.5.1

Komponenten der Hämostase 228

Thrombozyten (Blutplättchen) 228

Gerinnungs- und Fibrinolysesystem 228 Gefäßendothel 229 7.5.2

Blutungen 230

7.5.3

Thrombose 230

7.6 Embolie 233 7.6.1

Thrombembolie 233

Venöse Thrombembolie 233 Arterielle Thrombembolie 234 Paradoxe (gekreuzte) Thrombembolie 234 7.6.2

Fettembolie 234

7.6.3

Septische Embolie 235

7.6.4

Tumorembolie 235

7.6.5

Luftembolie 235

7.6.6

Fruchtwasserembolie 235

7.6.7

Parenchymembolie 236

7.6.8

Fremdkörper- und Cholesterinembolie 236

7.7 Ischämie 236 7.8 Infarkt 236 7.8.1

Anämischer Infarkt 236

7.8.2

Hämorrhagischer Infarkt 236

7.8.3

Hämorrhagische Infarzierung 237

7.9 Hypertonie 237 7.9.1

Hypertonie im großen Kreislauf 238

Primäre (essentielle) Hypertonieformen 238 Sekundäre Hypertonieformen 238

Folgeveränderungen und 239 7.9.2

Hypertonie im kleinen 239

Ursachen der pulmonalen Hypertonie 239 Folgen der pulmonalen Hypertonie 240 7.9.3

Portale Hypertonie 240

7.10

Schock 240

7.10.1

Klassifikation des Schocks 240

Hypovolämischer Schock 240 Kardiogener Schock 240 Septisch-toxischer Schock 241 Anaphylaktischer Schock 241 Sonstige Schockformen 241 7.10.2

Pathogenese des Schocks 241

Hypovolämischer Schock 241 Kardiogener Schock 242 Septisch-toxischer Schock 242 7.10.3

Organveränderungen bei Schock 244

Akutes Lungenversagen und „Schocklunge” 244 Herz 244 Gehirn 244 Schocknieren 244 Gastrointestinaltrakt 244 Leber 245 7.11

Disseminierte intravasale Gerinnung (DIG) 245

Literatur 246

Fragen 247

Zur Orientierung Die Hauptaufgabe des Kreislaufs liegt in der Versorgung jeder Zelle des Organismus mit Sauerstoff und Nährstoffen sowie in dem Abtransport von Metaboliten und Stoffwechselwärme. Die Erfüllung dieses intensiven Stoffaustausches setzt regelrechte Verhältnisse voraus: ■ im Herzen als Pumpmotor des Kreislaufs ■ im Gefäßsystem als Verteilersystem (Arterien, Venen etc.) und als Bestandteil der Transitstrecke vom Blut zur Zelle (Kapillarsystem) ■ im Blut als Transportmedium ■ in der Lunge als Gasaustauschorgan. Die Aufrechterhaltung einer adäquaten Kreislauffunktion umfasst eine komplizierte Regulierung des Gefäß- und Blutvolumens durch das zentrale und periphere Nervensystem, die Nebenniere und Niere (Adrenalin, Renin, Angiotensin-AldosteronSystem) und die Leber (Proteine, Gerinnungsfaktoren, Komplementfaktoren etc.). Das Herz ist das zentrale Organ des Herz-Kreislauf-Systems (Abb. 7-1). Es leistet die Volumen- und Druckarbeit. Die Volumenarbeit pro Minute errechnet sich aus dem Schlagvolumen und der Herzfrequenz: Das enddiastolische Volumen des Herzens beträgt in Ruhe ca. 140 ml, mit der Systole wird ein Schlagvolumen von 70 ml ausgeworfen, sodass bei einer Herzfrequenz von 70 Schlägen in der Minute ein Herzminutenvolumen (HMV) von ca. 5 l zustande kommt. Die Volumenarbeit ist beim gesunden Menschen für beide Ventrikel gleich. Die zu leistende Druckarbeit errechnet sich im Wesentlichen aus dem Blutdruck in der Aorta (systolisch 120 mmHg) und in der A. pulmonalis (systolisch 25 mmHg). Danach hat der linke Ventrikel etwa eine fünf- bis sechsmal größere Druckarbeit zu leisten als der rechte Ventrikel. Störungen in einem der oben aufgeführten Systeme führen zu schwer wiegenden, eventuell lebensbedrohenden Schäden. Veränderungen der Flüssigkeitsverteilung führen zu Ödemen oder Dehydrierung, Veränderungen des Kreislaufsystems zu Hyperämie, Störung der Blutgerinnung und der Blutstillung, Thrombose, Embolie, Ischämie und schließlich Infarkt. Folgen eines Kreislaufversagens sind zunächst Adaptationsvorgänge zur Aufrechterhaltung der Kreislauffunktionen. Dauert es jedoch länger an, können ausgedehnte und schwer wiegende Schäden entstehen: ■ Eine sehr häufige und folgenschwere Krankheit ist die arterielle Hypertonie des großen Kreislaufs. ■ Eine kardiale Überbelastung kann zum Herzversagen führen.

■ Aus einer Ischämie des Myokards kann ein Myokardinfarkt mit konsekutivem Schock entstehen. Mit 30% der Todesursachen sind die oben aufgeführten Schäden in den westlichen Industrienationen häufigste direkte oder indirekte Todesursache.

7.1

Grundformen der kardialen überbelastung

Zwei Grundformen der chronischen überbelastung werden unterschieden: ■ Druckbelastung ■ Volumenbelastung. Die überbelastung führt zu einer Anpassung des Myokards, die sich in einer Vermehrung der Muskelmasse zeigt.

7.1.1 Chronische Druckbelastung Ätiologie Die chronische Druckbelastung entsteht durch eine Klappeneinengung oder durch eine Hypertonie und erfordert eine Mehrarbeit des vorgeschalteten Herzens. Dabei kann das linke und/oder das rechte Herz betroffen sein.

Pathogenese Die Muskulatur der vorgeschalteten Herzkammer adaptiert sich an die Mehrbelastung durch Vergrößerung der einzelnen Herzmuskelfasern (Myozyten) mit Bildung neuer Organellen, insbesondere von Myofibrillen (kontraktile Elemente) und Mitochondrien (Energiespender). Die Myozyten werden breiter und länger. Makroskopisch hat dieses eine Zunahme der Muskelwanddicke zur Folge (Ventrikelhypertrophie).

Chronische Druckbelastung des linken Ventrikels Die Aortenklappenstenose (siehe Kap. 19.4.2) führt zu einer verringerten Durchflusskapazität. Damit trotzdem ein ausreichendes Volumen ausgeworfen werden kann, muss der linke Ventrikel einen höheren systolischen Druck entwickeln und damit vermehrt Druckarbeit leisten. Das linksventrikuläre Myokard wird hypertroph, d.h., es verdickt sich. Diese Wandverdickung bezeichnet man als konzentrische Hypertrophie (Abb. 7-2). Auf diese Weise kann der linke Ventrikel lange Zeit eine ausreichende Auswurfleistung erbringen. Die Hypertrophie erfolgt auf Kosten der Lichtung (daher „konzentrisch“). In ausgeprägten Fällen kann diese Hypertrophie eine

Störung der diastolischen Füllung mit einer Blutstauung hervorrufen (siehe Kap. 7.3.2). Wächst die Muskelmasse des linken Ventrikels unter der Druckbelastung allerdings auf das Doppelte oder Dreifache der Normalmasse, wird die Anpassung zur Krankheit. Obwohl mit wachsender Muskelmasse die Koronargefäßquerschnittsfläche auf das Vierfache zunehmen kann, reicht diese Zunahme nicht mehr aus, um bei hoher Belastung den hypertrophierten Herzmuskel mit Sauerstoff zu versorgen (relative Koronarinsuffizienz; siehe Kap. 19.5.1). Die durch die relative Koronarinsuffizienz entstehende Hypoxie führt zu einer tubulären Myopathie. Insbesondere im Innenschichtbereich gehen Herzmuskelfasern zugrunde. Die nekrotischen Muskelfasern werden durch kollagenes Bindegewebe ersetzt, das die Herzaktion behindern kann. Steigt die Hypertrophie über das kritische Herzgewicht von 500 g, so kommt es zu einer Überdehnung hypertrophierter Herzmuskelfasern. Dadurch verändert sich das Gefüge der Herzmuskulatur, und die Herzkammern dilatieren (Gefügedilatation), das enddiastolische Volumen ist erhöht. Die Dilatation führt zu einer zunehmenden Linksherzinsuffizienz (siehe Kap. 7.2).

Chronische Druckbelastung des rechten Ventrikels Auch der rechte Ventrikel kann sich an eine chronische Druckbelastung adaptieren. Bei einem Druckanstieg im pulmonalen Kreislauf kommt es zu einer Rechtsherzhypertrophie. Auch der rechte Ventrikel zeigt eine zunehmende Dilatation und wird schließlich insuffizient.

Abb. 7-1 Schematische Darstellung des HerzKreislauf-Systems.

Der linke Ventrikel pumpt das Blut in das arterielle Hochdrucksystem mit parallel geschalteten Organen. Der muskelschwächere rechte Ventrikel pumpt das Blut in den Lungenkreislauf, der dem Niederdrucksystem angehört. Der Blutfluss im großen Kreislauf wird durch die Druckdifferenz in der Aorta (systolisch 120 mmHg) und in den großen Venen (5 mmHg) aufrechterhalten. Der Stoffaustausch erfolgt im Kapillarsystem. Die Organdurchblutung (Q) ist als prozentualer Anteil des Herzzeitvolumens angegeben (modifiziert nach S. Silbernagl, Despopoulos: Taschenatlas der Physiologie, Thieme 1990).

Abb. 7-2 Ventrikels.

Konzentrische Hypertrophie des linken

Im Vergleich zum normal großen Lumen des rechten Ventrikels (RV) ist das Lumen des linken Ventrikels (LV) eng (Pfeile). Die blaue Verfärbung ergibt sich durch Injektion von Farbstoff zu diagnostischen Zwecken.

Abb. 7-3 Ventrikels.

Exzentrische Hypertrophie des linken

Das Lumen des linken Ventrikels (LV) ist weit (Dilatation).

7.1.2 Chronische Volumenbelastung Bei einer chronischen Volumenbelastung (z.B. bei Klappeninsuffizienz oder Shunt) adaptieren sich die Herzkammern im Sinne einer exzentrischen Hypertrophie. Die Wand wird dicker, und gleichzeitig erweitert sich die Lichtung (Abb. 7-3). Histologisch unterscheidet sich die konzentrische nicht von der exzentrischen Hypertrophie. Auch bei Volumenbelastung nehmen die interstitiellen Kollagenfasern mit wachsendem Muskelfaserdurchmesser zu. Wie bei der Druckbelastung führt das Missverhältnis zwischen Sauerstoffbedarf und Sauerstoffangebot zu einer Koronarinsuffizienz. Tubuläre Myopathie und Myokardnekrosen in der Innenschicht mit Fibrose führen schließlich zu einer zunehmenden Herzinsuffizienz. Bei der exzentrischen Herzhypertrophie bzw. bei der Herzdilatation rundet sich die Herzspitze ab.

7.2

Herzinsuffizienz

Definition Die Herzinsuffizienz ist ein klinisches Syndrom, dessen Spektrum von leichten asymptomatischen Verläufen bis zu Beschwerden bereits im Ruhezustand des Patienten reicht. Ein unzureichendes systolisches Auswurfvolumen oder eine mangelhafte ventrikuläre Füllung führen zu einem Missverhältnis zwischen der geförderten Blutmenge und dem Blutbedarf, den die Körpergewebe zur Aufrechterhaltung ihrer metabolischen Prozesse haben. Die Herzinsuffizienz kann akut oder chronisch auftreten und den linken, den rechten oder beide Ventrikel betreffen.

Ätiologie Die Herzinsuffizienz kann durch Erkrankungen des Herzens oder durch extrakardiale Erkrankungen bedingt sein (Tab. 7-1).

Pathogenese

Pathophysiologisch lassen sich die Ursachen der Herzinsuffizienz in drei Gruppen einteilen: ■

myokardiale Erkrankungen



Druck- oder Volumenbelastung des Herzens



diastolische Behinderung der Ventrikelfüllung.

Alle myokardialen Erkrankungen, die mit einer Schädigung des Herzmuskels einhergehen (z.B. Myokardinfarkt, Myokarditis etc.), führen zu einer Reduktion des systolischen Schlagvolumens und zu einer Erhöhung des enddiastolischen ventrikulären Füllungsvolumens (Vorlast). Diese Vorlasterhöhung stellt beim gesunden Herzen über den Frank-StarlingMechanismus einen Regulationsmechanismus dar. Durch die gleichzeitige Zunahme der Herzkraft wird mit Zunahme der Vorlast das Schlagvolumen vergrößert. Dabei wirkt die sympathische Stimulation durch Erhöhung der Herzfrequenz und der Kontraktionsgeschwindigkeit synergistisch (exogene Steuerung des Schlagvolumens). Die ebenfalls sympathikusgesteuerte Kontraktion der venösen Kapazitätsgefäße (Speicher) kann über den vermehrten Rückstrom zum Herzen die Vorlasterhöhung noch weiter verstärken. Diese adaptiven Mechanismen führen somit beim gesunden Menschen zu einer den Bedürfnissen angepassten Herzleistung.

Bei Reduktion der Kontraktilität kann das Herz ein erhöhtes enddiastolisches Volumen nicht mehr auswerfen (gestörter Frank-Starling-Mechanismus). Das verminderte Auswurfvolumen führt zu einer verminderten Perfusion aller Organe. Die dann eintretenden Regulationsmechanismen wirken auf zwei Arten: ■ Sympathikus. Katecholamine tonisieren einerseits die venösen Speicher und vermehren dadurch den Rückfluß von venösem Blut zum Herzen, andererseits erhöhen sie den Widerstand im großen Kreislauf. ■ Renin-Angiotensin-Aldosteron-Mechanismus (siehe Kap. 16.1.1). Eine verstärkte Wasserretention in der Niere erhöht das intravasale Volumen, der arterielle Blutdruck steigt ebenfalls. Beide unter physiologischen Bedingungen sinnvollen Regulationsmechanismen führen über eine Zunahme von Nachlast und Vorlast zur Reduktion des Auswurfvolumens und zur Herzdilatation. Die morphologisch nachweisbare Herzdilatation ist somit ein Zeichen einer Herzinsuffizienz. Chronische Druck- und Volumenbelastungen jeglicher Ursache (siehe Tab. 7-1) führen schließlich zu einer zunehmenden Herzdilatation und einer Myokardfibrose. Die eingeschränkte Kontraktilität bewirkt in Kombination mit der Ventrikeldilatation auch hier eine Abnahme der Herzleistung und mündet in den oben beschriebenen Circulus vitiosus. Die diastolische Behinderung der Ventrikelfüllung als Ursache einer Herzinsuffizienz ist selten. Ursachen sind u.a. schwere chronisch fibrosierende Entzündungen der Herzbeutelblätter mit (als Extremform) Ausbildung eines sog. Panzerherzens (siehe Kap. 19.8.2), schwere Formen der Mitralstenose (siehe Kap. 19.4.2) und das Vorhofmyxom (siehe Kap. 19.9.1).

Tab. 7-1 Ursachen der Herzinsuffizienz.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die klinischen Symptome von Patienten mit Herzinsuffizienz resultieren überwiegend aus den Organveränderungen, die sich durch die Blutstauung vor dem insuffizienten Herzabschnitt (Rückwärtsversagen) und die nachlassende Pumpfunktion (Vorwärtsversagen) ergeben und auf die Unterversorgung der Organe mit Nährstoffen und Sauerstoff zurückgehen. Die schwerste Ausprägung ist der Schock (siehe Kap. 7.10). Die von der Blutstauung hervorgerufenen Symptome sind abhängig vom befallenen Herzabschnitt: Das Leitsymptom der Linksherzinsuffizienz ist die Atemnot, die durch das Lungenödem ausgelöst wird. Bei leichter Herzinsuffizienz besteht sie nur bei Belastung, später auch in Ruhe. Bei isolierter Rechtsherzinsuffizienz kommt es zu einer Stauung in der Leber mit Ausbildung einer Hepatomegalie sowie im Gastrointestinaltrakt, außerdem zu einer venösen Stauung insbesondere in den abhängigen Körperpartien, v.a. den unteren Extremitäten. Die Folgen sind gastrointestinale Symptome wie Appetitlosigkeit, Obstipation und Völlegefühl sowie Beinödeme. Darüber hinaus kann es durch die vermehrte Retention von Natrium und Wasser in der Niere zu einem allgemeinen osmotischen Ödem kommen (siehe Kap. 7.4). Im Endstadium liegt bei Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz meist eine kombinierte Links- und Rechtsherzinsuffizienz vor. Die Herzinsuffizienz wird nach ihrem Schweregrad in vier Grade eingeteilt (Tab. 7-2).

Tab. 7-2 Klassifikation des klinischen Schweregrades einer Herzinsuffizienz (NYHA).

7.2.1 Akute Herzinsuffizienz Akute Linksherzinsuffizienz Ätiologie Ursachen der akuten Linksherzinsuffizienz sind: ■ Myokardinfarkt ■ akute Klappeninsuffizienz wie z.B. bei akuter Endokarditis oder bei Papillarmuskelabriss ■ akute Myokarditis ■ durch Elektrolytstörungen oder Pharmaka ausgelöste Herzinsuffizienz.

Pathogenese Entscheidend für das akute Herzversagen ist meist eine Verminderung energiereicher Phosphate bei ungenügender Sauerstoffzufuhr. Die Folgen der akuten Linksherzinsuffizienz bei erhaltener Leistung des rechten Ventrikels sind: ■ Rückwärtsversagen. Der Rückstau von Blut in die Lungenstrombahn führt zur Erhöhung des hydrostatischen Druckes und zur Ausbildung einer Lungenstauung und eines Lungenödems. ■ Vorwärtsversagen. Durch die ungenügende Auswurfleistung kann ein kardiogener Schock entstehen (siehe Kap. 7.10.1).

Morphologie Das pathologisch-anatomische Substrat der akuten Linksherzinsuffizienz ist eine Linksherzdilatation mit rundbogiger Herzspitze (sog. romanischer Bogen).

Akute Rechtsherzinsuffizienz Ätiologie Ursachen der akuten Rechtsherzinsuffizienz sind in erster Linie: ■ Lungenembolien (Thrombembolie, Fettembolie etc.) ■ akutes Lungenemphysem.

Pathogenese Die akute Drucksteigerung im kleinen Kreislauf auf 50–80 mmHg führt zu einer akuten Überdehnung des rechten Ventrikels und des rechten Vorhofs. Das Blut staut sich im Venensystem der inneren Organe (Leber, Niere etc.), Haut und Schleimhäute sind zyanotisch. Da die Leber das dem rechten Herzen unmittelbar vorgeschaltete Organ ist, kommt es bei der Rechtsherzinsuffizienz vor allem zu einer ausgeprägten, klinisch palpablen Lebervergrößerung.

7.2.2 Chronische Herzinsuffizienz Häufigste Ursache einer chronischen Herzinsuffizienz sind eine chronische Volumenund Drucküberlastung eines oder beider Ventrikel.

Chronische Linksherzinsuffizienz Ätiologie Ursachen der chronischen Linksherzinsuffizienz sind: ■ koronare Herzkrankheit ■ dekompensierter Hypertonus ■ Mitralklappeninsuffizienz ■ Aortenklappeninsuffizienz oder -stenose ■ Kardiomyopathien.

Pathogenese Das Herz zeigt unterschiedliche Grade der Linksherzhypertrophie und -dilatation oder das Bild einer kongestiven Hypertrophie, bei der das Ausmaß der Hypertrophie eine ausreichende diastolische Füllung nicht mehr zulässt. Es entsteht eine interstitielle, vorwiegend perivaskuläre Myokardfibrose infolge eines sekundären Hyperaldosteronismus (siehe Kap. 16.1.10 und Abb. 16-1). Bei chronischer Linksherzinsuffizienz wird Aldosteron durch Endothelzellen und Muskelzellen der Media kleiner Myokardarterien produziert und ausgeschüttet – zusätzlich zur Produktion und Sekretion durch die Nebennierenrinde. Die Folgen sind: ■ Chronische Lungenstauung. Es entstehen eine Siderose und Fibrose der Lunge (braune Lungeninduration; siehe Kap. 24.5.1), die zum klinischen Bild der Atemnot (Dyspnoe) führen. Zumeist entwickelt sich bei der chronischen

Linksherzinsuffizienz eine konsekutive Rechtsherzüberlastung mit Hypertrophie und schließlich auch Dilatation des rechten Herzens (Cor pulmonale). ■ Vermindertes Herzminutenvolumen. Die Regulationsmechanismen der verminderten Auswurfleistung mit Störungen der Nierenfunktion sind in Kap. 7.10.3 beschrieben.

Chronische Rechtsherzinsuffizienz Ätiologie Ursachen der chronischen Rechtsherzinsuffizienz sind: ■ chronisches obstruktives Lungenemphysem ■ Staublungenerkrankungen ■ schwere Kyphoskoliosen mit Beeinträchtigung der Atemtätigkeit ■ rezidivierende Lungenembolien ■ chronische Linksherzinsuffizienz.

Pathogenese

Das rechte Herz ist hypertrophiert und dilatiert (chronisches Cor pulmonale). Das Blut staut sich im gesamten Venensystem des großen Kreislaufs mit Ausbildung einer Stauungsleber, einer Stauungsmilz, einer Zyanose und einer Stauung in Haut und Schleimhäuten. Die Erhöhung des hydrostatischen kapillären Drucks führt zu Ödemen der unteren Extremitäten, Aszites und mangelhafter Nierendurchblutung sowie zu Anasarka (Erguss, Ödem des Unterhautgewebes).

7.3

Hyperämie

Definition Hyperämie ist ein vermehrter Blutgehalt eines Organs oder eines Organbezirks. Sie kann durch einen erhöhten Bluteinstrom (aktive Hyperämie) oder einen verminderten Blutausstrom (passive Hyperämie) entstehen. Die aktive Hyperämie ist durch eine Dilatation von Arteriolen mit dadurch ausgelöster vermehrter Durchblutung der Endstrombahn gekennzeichnet. Eine passive Hyperämie oder Blutstauung resultiert aus einem verminderten venösen Abfluss mit Blutrückstau.

7.3.1 Aktive Hyperämie Die aktive Hyperämie wird entweder durch sympathische neurogene Mechanismen oder durch sog. vasoaktive Substanzen verursacht. Eine Erweiterung der arteriolären Sphinkteren mit einer Zunahme des Blutflusses in die Endstrombahn ist die Folge. Der erhöhte Blutfluss führt zur Rötung des betroffenen Gewebsbezirks. Beispiele sind die Rötung bei Erwärmung der Haut bei sportlicher (oder auch emotionaler) Aktivität, die Hyperämie der Muskulatur bei Belastung sowie insbesondere die aktive Hyperämie im Rahmen akuter Entzündungen („Tumor“, Rubor, Calor; siehe Kap. 3.1.2).

7.3.2 Passive Hyperämie Syn: Blutstauung

Allgemeine passive Hyperämie Definition und Pathogenese Unter allgemeiner passiver Hyperämie versteht man eine Blutstauung im venösen Anteil des großen und/oder kleinen Blutkreislaufs. Die Ursache dafür ist eine Herabsetzung der Pumptätigkeit des Herzens. Diese kann den rechten oder den linken Ventrikel oder beide betreffen. Die Blutstauung im kleinen Kreislauf kann auch durch Einstromhindernisse in den linken Ventrikel (z.B. Mitralklappeneinengung = Mitralstenose) oder einen Rückfluss des Blutes in der Systole bei unzureichendem Mitralklappenschluss (Mitralinsuffizienz) hervorgerufen werden.

Klinisch-pathologische Korrelationen Im Folgenden wird beispielhaft die allgemeine passive Hyperämie bei Minderfunktion des linken und des rechten Ventrikels besprochen (siehe auch Kap. 24.5.1 und Kap. 24.5.2). ■ Minderfunktion des linken Ventrikels (Linksherzinsuffizienz). Eine akute Minderfunktion des linken Ventrikels (akute Linksherzinsuffizienz) ruft bei intakter rechtsventrikulärer Pumpfunktion eine Blutstauung im Lungengefäßbett hervor. Die dadurch ausgelöste Erhöhung des intrakapillären Gefäßdrucks bewirkt eine Erweiterung des kapillären Gefäßbettes in beiden Lungen. Durch den erhöhten hydrostatischen Druck kommt es zum Austritt von Blutflüssigkeit und Erythrozyten in das Lungengewebe. Die Erythrozyten werden von den Alveolarmakrophagen phagozytiert und lysosomal abgebaut. Das Hämoglobin der Erythrozyten wird dabei in Hämosiderin umgewandelt. Die Alveolarmakrophagen, die Hämosiderin enthalten, nennt man Herzfehlerzellen.

Durch diese Ablagerung des Hämosiderins in den Alveolarepithelien und im Interstitium entsteht eine Lungenhämosiderose. Bei chronischer Linksherzinsuffizienz entwickelt sich schließlich eine Fibrose der Alveolarsepten mit Störung der Diffusion und damit des Gasaustausches. Makroskopisch zeigt die chronische Stauungslunge durch Fibrose und Hämosiderineinlagerung eine konsistenzvermehrte „rostbraune“ Schnittfläche (braune Induration). ■ Minderfunktion des rechten Ventrikels (Rechtsherzinsuffizienz). Bei Rechtsherzinsuffizienz führt der verminderte venöse Abfluss zu einer allgemeinen passiven Hyperämie im großen Kreislauf. Durch den verminderten Blutfluss kommt es darüber hinaus zu einer vermehrten Deoxygenierung des Hämoglobins im Blut. Dadurch zeigen die Haut, die Schleimhäute und die parenchymatösen Organe eine blaue Verfärbung (Zyanose). Die passive Hyperämie bei Rechtsherzinsuffizienz betrifft besonders die direkt vorgeschaltete Leber (klinisch Lebervergrößerung; siehe Kap. 32.9.5).

Lokale passive Hyperämie Definition Die lokale passive Hyperämie betrifft ein Organ/Gewebe oder einen Teil eines Organs/Gewebes. Sie ist Folge einer Venenobstruktion.

Ätiologie Ursachen sind Venenthrombosen oder Kompression der abführenden Vene von außen, z.B. durch Tumoren, arterielle Aneurysmen oder Narbenschrumpfung. Die Folgen sind abhängig von der Lokalisation. Akute Verschlüsse führen zu einer akuten lokalen passiven Hyperämie, zu Ödem und Kapillarblutungen. Chronische Verschlüsse verursachen eine Fibrose.

Klinisch-pathologische Korrelationen ■ Die Femoral- und Beckenvenenthrombose imponiert klinisch als schmerzhaftes, geschwollenes Bein mit meist starker Zyanose und Ödem. Eine chronische venöse Blutstauung verursacht eine zunehmende Fibrose mit Induration. ■ Die Blutstauung im portalen Kreislauf, z.B. als Folge einer Leberzirrhose, ist ein weiteres Beispiel einer chronischen lokalen passiven Hyperämie. Die Drucksteigerung im Kapillarbett des Pfortadersystems verursacht eine Flüssigkeitsansammlung in der Bauchhöhle (Aszites). Darüber hinaus bildet sich ein Umgehungskreislauf aus mit Eröffnung der Verbindungsvenen zwischen dem portalen und systemischen venösen Kreislauf (sog. portokavale Anastomosen). Der Umgehungskreislauf manifestiert sich besonders in

submukös erweiterten Venen im distalen Ösophagusbereich (Ösophagusvarizen), die zur Ruptur mit akut lebensbedrohlicher Blutung führen können (siehe Kap. 32.8.2 und 32.9.6)

7.4

Ödem

Definition Das Ödem ist eine abnorme Flüssigkeitsansammlung im Interzellularraum (Interstitium). Eine abnorme Flüssigkeitsansammlung in präformierten Höhlen wird als Erguss (Hydrops) bezeichnet. Dazu gehören der Aszites (Hydrops der Bauchhöhle), der Hydrothorax (Pleuraerguss), das Hydroperikard (Perikarderguss) und die Hydrozele (Hydrops der Tunica vaginalis testis). In Abhängigkeit von der Zusammensetzung unterscheidet man ein eiweißarmes Ödem (= Transsudat; spezifisches Gewicht < 1.020) und ein eiweißreiches Ödem (= Exsudat; spezifisches Gewicht > 1.020). Erhöhter hydrostatischer oder verminderter kolloidosmotischer (onkotischer) Druck im Gefäß führt zum Transsudat, erhöhte Permeabilität der Gefäßwand begünstigt die Entwicklung eines Exsudates. Eine Sonderform des Ödems ist die intrazelluläre Wasseransammlung (hydropische Zellschwellung oder Zellödem), die auf eine Membranschädigung mit Versagen der Natrium-Kalium-Pumpe zurückzuführen ist. Die Ursache der hydropischen Zellschwellung ist meist Sauerstoffmangel (Hypoxie; siehe Kap. 2.6).

Physiologische Grundlagen Zum Verständnis der Ödementstehung ist die Kenntnis der normalen Flüssigkeitsverteilung im Körper wichtig. Etwa 60% des Körpergewichts eines normalgewichtigen Erwachsenen bestehen aus Wasser. Ca. 70% der Gesamtflüssigkeit des Körpers befinden sich intrazellulär, 20% im Interstitium und 10% in den Gefäßen (die beiden Letztgenannten werden als Extrazellularraum bezeichnet). Da die Kapillarwände für Proteine in der Regel undurchlässig sind, richtet sich die Flüssigkeitsverteilung zwischen diesen beiden Kompartimenten des Extrazellularraumes nach dem Starling-Gesetz. Hierbei sind vier Kräfte von Bedeutung Abb. 7-4). Der intravasale hydrostatische sowie der interstitielle kolloidosmotische (onkotische) Druck begünstigen den Flüssigkeitsstrom aus dem Gefäß in das Interstitium, der intravasale kolloidosmotische Druck (durch Plasmaproteine, am wichtigsten ist dabei Albumin) und der interstitielle hydrostatische Druck den Einstrom von Flüssigkeit in das Gefäß. Sowohl unter physiologischen als auch unter pathologischen Bedingungen sind die entgegengesetzt wirkenden hydrostatischen und kolloidosmotischen Drücke innerhalb der Kapillaren die entscheidenden Größen, da die anderen beiden Drücke wenig ins Gewicht fallen.

Abb. 7-4 Flüssigkeitsverteilung zwischen den beiden Kompartimenten des Extrazellularraumes

nach dem Starling-Gesetz. Der Flüssigkeitsstrom längs einer Kapillare (Abb. 7-5) wird somit durch die intrakapilläre Druckdifferenz des hydrostatischen und kolloidosmotischen Drucks bestimmt. Im arteriellen Abschnitt der Kapillare ist der hydrostatische, nach außen wirkende Druck größer, sodass hier Flüssigkeit ins Interstitium ausströmt. Im venösen Abschnitt ist der hydrostatische Druck abgesunken, der nach innen gerichtete kolloidosmotische Druck dagegen leicht angestiegen, sodass im venösen Teil der Kapillare ein Teil der Flüssigkeit ins Gefäß zurückströmt. Insgesamt ergibt sich aber ein leichter Netto-Ausstrom ins Interstitium, der über Lymphgefäße abtransportiert wird.

Abb. 7-5 Flüssigkeitsstrom zwischen Gefäßlumen und Interstitium längs einer Kapillare unter physiologischen Bedingungen.

Der Flüssigkeitsstrom wird an jedem Punkt der Kapillare durch die Differenz zwischen dem hydrostatischen und dem kolloidosmotischen Druck bestimmt. Im arteriellen Abschnitt bewirkt diese Druckdifferenz einen Flüssigkeitsausstrom aus dem Kapillarlumen ins Interstitium, im venösen Abschnitt einen etwas geringeren Flüssigkeitseinstrom. Über die gesamte Kapillare ergibt sich durch die Druckverhältnisse ein leichter Netto-Ausstrom, der über die Lymphgefäße abtransportiert wird. Schwarze Pfeile zeigen den hydrostatischen Druck, gelbe Pfeile den kolloidosmotischen Druck an. Die roten Pfeile markieren die Flüssigkeitsverschiebung zwischen beiden Kompartimenten. Die Dicke der Pfeile soll die jeweilige Druckgröße symbolisieren. Roter Pfeil mit schwarzem Rand ergibt den Netto-Ausstrom über die gesamte Kapillare.

Pathogenese Ein Ödem entsteht bei Veränderungen eines oder mehrerer der folgenden Faktoren: ■ Erhöhung des intravasalen hydrostatischen Drucks (Abb. 7-6a). Die Erhöhung des hydrostatischen Drucks stellt die häufigste Ursache für eine Ödementstehung dar. Die zugrunde liegenden Mechanismen sind eine verminderte

Leistung des linken und/oder des rechten Ventrikels, Einstromhindernisse in die Ventrikel, ein Rückfluss des Blutes bei Klappeninsuffizienz oder lokale venöse Strömungshindernisse (siehe auch Kap. 7.3.2). □ Linksherzinsuffizienz. Eine Leistungsverminderung des linken Ventrikels (Linksherzinsuffizienz) führt über einen Blutrückstau in den linken Vorhof und die Pulmonalvenen zu einer Druckerhöhung in der pulmonalen Mikrozirkulation mit Flüssigkeitsaustritt ins Interstitium und in die Alveolen (Ausbildung eines Lungenödems). Die Linksherzinsuffizienz kann myogene (Herzinfarkt, Myokarditis) und/oder valvuläre Faktoren (z.B. Aorten- oder Mitralklappeninsuffizienz, Aortenklappenstenose) als Ursache haben. Ein Einflußhindernis in den linken Ventrikel wie z.B. bei Einengung der Mitralklappe (Mitralstenose) kann über eine Druckerhöhung im Lungenkreislauf direkte Ursache eines Lungenödems sein. □ Rechtsherzinsuffizienz. Ein Versagen des rechten Herzens (Rechtsherzinsuffizienz) oder eine konstriktive Perikarditis mit Beeinträchtigung des Bluteinstroms in den Herzventrikel führen durch Abflussstörung im venösen Kreislauf zu peripheren Ödemen der Extremitäten und/oder Ergüssen (z.B. Aszites). □ Lokale venöse Druckerhöhung. Eine lokale venöse Druckerhöhung mit Blutrückstau in der zugehörigen Mikrozirkulation kann auch durch eine umschriebene Lumeneinengung der venösen Strombahn entstehen (z.B. Thrombose, Druck von außen). Die Folge ist ein lokales Ödem, wie z.B. ein Ödem des rechten Beins bei einer Thrombose der rechten Femoralvene. ■ Erniedrigung des intravasalen (onkotischen) kolloidosmotischen Drucks (Abb. 7-6b). Die Aufrechterhaltung des kolloidosmotischen Drucks im Blutgefäßsystem hängt von einer adäquaten Menge an Plasmaproteinen, insbesondere Albumin, ab. Die Reduktion der Plasmaproteine (Hypoproteinämie – Plasmaproteingehalt 5 Jahre zu überleben, im Vergleich mit einer Referenzpopulation gleichen Alters

9.1

Astrozytome

Bei den Astrozytomen müssen im Wesentlichen zwei Formen unterschieden werden, das pilozytische Astrozytom des Kindes- und Jugendalters und die diffus infiltrierenden Astrozytome bei Erwachsenen.

9.1.1 Pilozytisches Astrozytom Definition Das pilozytische Astrozytom ist ein langsam wachsender astrozytärer Tumor des Kindesalters mit bevorzugter Lokalisation in den Mittellinienstrukturen des Gehirns.

Epidemiologie Neben dem Medulloblastom ist das pilozytische Astrozytom der häufigste Hirntumor des Kindesalters und manifestiert sich mit einem Altersgipfel um das 10.–13. Lebensjahr. Beide Geschlechter sind gleich häufig betroffen. Seltener treten pilozytische Astrozytome auch bei jungen Erwachsenen auf.

Lokalisation Zu den bevorzugten Lokalisationen gehören die anatomischen Strukturen um die Mittellinie des Gehirns: N. opticus und Tractus opticus (Optikusgliom), Hypothalamus, medialer Temporallappen, Kleinhirn (Abb. 9-1) und Rückenmark. Eine Lokalisation in den Großhirnhemisphären ist seltener.

Abb. 9-1

Pilozytisches Astrozytom des Kleinhirns.

a Der langsam wachsende Tumor ist makroskopisch gut abgegrenzt und hat eine große Pseudozyste gebildet, an deren Wand der solide Tumorknoten haftet. b Histologisch dominieren faserreiche Astrozyten sowie zahlreiche eosinophile Rosenthal–Fasern (Pfeile). HE, Vergr. 250fach.

Morphologie Makroskopisch handelt es sich um knollige, derbe Tumoren mit grau–weißer Schnittfläche, oft mit wasserhellen Zysten (siehe Abb. 9–1). Der Tumor infiltriert langsam, unter Auftreibung der ortsständigen Strukturen. Histologisch handelt es sich um zellarme Tumoren mit abwechselnd faserreichen und faserarmen, mikrozystisch aufgelockerten Arealen. In den faserreichen Abschnitten sieht man längliche, bipolare Tumorzellen mit feinen, haarförmigen Fortsätzen (griech.: pilos = Haar). Charakteristisch sind eosinophile, kolbenartige Auftreibungen der Zellfortsätze (sog. Rosenthal–Fasern) und intrazytoplasmatische Proteinablagerungen (sog. eosinophile Körperchen). Mitosen sind sehr selten (Wachstumsfraktion: 1–3%). Auch bei langjährigem Verlauf ist eine maligne Progression sehr selten.

Klinisch–pathologische Korrelationen Bei Optikusgliomen stehen Sehstörungen im Vordergrund, bei Lokalisation im Zwischenhirn hypothalamische Störungen und bei zerebellaren Astrozytomen Gangunsicherheit und Ataxie. Ein Teil der Symptomatik wird durch die Tumorzysten hervorgerufen und kann durch stereotaktische Punktion gemindert werden. Ein klinischer Verlauf über viele Jahre ist typisch, da wegen der meist ungünstigen Lokalisation eine vollständige chirurgische Resektion nur selten möglich ist. Eine Ausnahme stellt das Kleinhirnastrozytom dar, das wegen seiner besseren operativen Zugänglichkeit eine günstigere Prognose hat. Wegen der geringen mitotischen Aktivität ist eine Radio– oder Chemotherapie nicht angezeigt.

9.1.2 Diffus infiltrierende Astrozytome Diffus infiltrierende Astrozytome besitzen eine unterschiedliche biologische Wertigkeit und eine starke Tendenz zur malignen Progression. Sie sind die häufigsten Hirntumoren und manifestieren sich klinisch im mittleren und höheren Lebensalter. Sie können in allen Abschnitten des ZNS auftreten, zeigen jedoch eine starke Bevorzugung der Großhirnhemisphären, besonders des Frontal– und Temporallappens. Nach Histologie und biologischer Wertigkeit unterscheidet man drei Formen, das niedriggradige Astrozytom, das anaplastische Astrozytom und das Glioblastom.

Ätiologie Die Ätiologie der Astrozytome ist unbekannt, mit Ausnahme ihres Auftretens im Rahmen erblicher Tumorsyndrome (z.B. Li–Fraumeni–Syndrom, siehe Kap. 9.13.5). Wie bei Tumoren anderer Organe ist die Progression der Astrozytome begleitet von einer Akkumulation genetischer Veränderungen (siehe Abb. 9–2). Beim niedriggradigen Astrozytom findet sich häufig eine Inaktivierung des p53– Tumorsuppressorgens. Beim anaplastischen Astrozytom findet sich zusätzlich ein

Verlust von genetischem Material auf Chromosom 19q, bei Glioblastomen häufig eine Deletion großer Abschnitte des Chromosoms 10.

Klinisch–pathologische Korrelationen Bei typischer Lokalisation frontotemporal sind die neurologischen Ausfallserscheinungen gering. Im Vordergrund stehen psychoorganische Störungen in Form von Persönlichkeitsveränderungen. Die diagnostische Abklärung erfolgt häufig wegen des Auftretens von Krampfanfällen oder bei Zeichen der intrakranialen Drucksteigerung. Die Dauer der Anamnese diffus infiltrierender Astrozytome hängt im Wesentlichen von der initialen biologischen Wertigkeit ab. Bei einem niedriggradigen Astrozytom WHO–Grad II beträgt die gesamte Krankheitsdauer, d.h. von den ersten Symptomen bis zum Tode des Patienten, durchschnittlich mehr als 5 Jahre, beim anaplastischen Astrozytom 2–3 Jahre und beim Glioblastom weniger als 1 Jahr. Bei Denovo– Glioblastomen ist die klinische Anamnese in der Regel kürzer als 3 Monate, und die postoperative Überlebenszeit beträgt trotz Radiotherapie nur 6–9 Monate.

Komplikationen Die intrakraniale Druckerhöhung durch Tumorwachstum und perifokales Ödem stellt die entscheidende lebensbedrohende Komplikation dar.

Niedriggradiges Astrozytom Definition Die diffus infiltrierenden, niedriggradigen Astrozytome manifestieren sich bevorzugt bei jüngeren Erwachsenen mit einem Altersgipfel zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr. Die Wachstumstendenz ist gering. Allerdings infiltrieren sie diffus in benachbarte Strukturen, sodass eine vollständige chirurgische Resektion nicht gelingt. Im Verlauf der typischerweise auftretenden Rezidive beobachtet man histologisch eine zunehmende Zellteilungsaktivität und Anaplasie, d.h. eine Progression zum anaplastischen Astrozytom (siehe unten) oder Glioblastom (siehe unten).

Morphologie Makroskopisch handelt es sich um schlecht abgegrenzte Tumoren mit grauer, oft glasiger Schnittfläche. Wegen des infiltrativen, jedoch nicht destruierenden Wachstums resultiert eine Auftreibung benachbarter ortsständiger Strukturen (z.B. Großhirnrinde, Stammganglien). Häufig beobachtet man glattwandige Zysten mit wasserheller Flüssigkeit (Abb. 9–3a).

Histologisch lassen sich zwei Typen unterscheiden. Das fibrilläre Astrozytom zeigt eine geringe Zelldichte und besteht aus isomorphen neoplastischen Astrozyten mit kleinen, runden Zellen in einer kleinzystisch aufgelockerten Matrix (Abb. 9–3b). Das gemistozytische Astrozytom ist gekennzeichnet durch eine faserreiche Matrix und durch Tumorzellen mit großem, homogenem Zytoplasma und exzentrischem Kern. Alle Zellen zeigen eine starke Akkumulation des immunhistochemisch nachweisbaren sauren Gliafaserproteins GFAP. Mitosen sind selten.

Anaplastisches Astrozytom Dieser Tumor entwickelt sich häufig aus einem niedriggradigen Astrozytom. Er unterscheidet sich von diesem morphologisch im Wesentlichen durch eine größere Zellteilungsaktivität, die sich klinisch durch ein rascheres Auftreten von Rezidiven manifestiert.

Glioblastom Definition Das Glioblastom ist ein hochmaligner glialer Tumor astrozytären Ursprungs, der sich bevorzugt im höheren Erwachsenenalter (50.–60. Lebensjahr) manifestiert. Es ist der häufigste astrozytäre Tumor und macht 15–20% aller Hirntumoren aus. Das Glioblastom kann sich aus einem niedriggradigen Astrozytom entwickeln oder, mit sehr kurzer klinischer Anamnese, de novo entstehen (Abb. 9–2). Es ist bevorzugt in den Großhirnhemisphären lokalisiert, insbesondere frontotemporal. Gelegentlich treten Glioblastome im Hirnstamm auf, besonders bei Kindern (sog. malignes Hirnstammgliom).

Ätiologie und Pathogenese Die Ätiologie der Glioblastome ist unbekannt, mit Ausnahme ihres seltenen Auftretens im Rahmen eines Li–Fraumeni–Syndroms (siehe Kap. 9.13.5). Es lassen sich klinisch sowie molekulargenetisch zwei Glioblastomtypen unterscheiden. Das primäre Glioblastom manifestiert sich bei älteren Patienten nach kurzer Anamnese de novo und ist genetisch charakterisiert durch Amplifikation und/oder Überexpression des EGF– (epidermal growth factor)–Rezeptors, PTEN–Mutationen (PTEN = phosphatase and tensin homologue deleted on chromosome 10), p16– Deletionen und, seltener, eine Amplifikation des MDM2(murine double minute)– Gens. Das sekundäre Glioblastom entwickelt sich durch Tumorprogression aus einem niedriggradigen oder anaplastischen Astrozytom, betrifft meist Patienten im mittleren Lebensalter und enthält in mehr als 65% der Fälle eine Mutation des p53– Tumorsuppressorgens (siehe Abb. 9–2).

Abb. 9-2 Genetische Veränderungen bei der Entstehung des primären und sekundären Glioblastoms.

Die Werte in Klammern geben die Frequenz der genetischen Alterationen an (modifiziert nach P. Kleihues und W.K. Cavenee 2000).LOH = loss of heterozygosity (Verlust eines Allels); p53, p16, p14, PTEN = Tumorsuppressorgene; EGFR = epidermal growth factor receptor (Rezeptor des epidermalen Wachstumsfaktors); MDM2 = murine double minute (inaktiviert das p53–Protein).

Morphologie Makroskopisch weisen Glioblastome eine charakteristische „bunte“ Schnittfläche auf mit gelblichen Nekrosen, Blutungen und grau–weißem Tumorgewebe (Abb. 9– 3c). Das Glioblastom hat eine ausgeprägte Neigung zum diffus–infiltrativen Wachstum. Es breitet sich besonders rasch entlang kompakter Myelinbahnen aus. Typisch ist eine Ausdehnung über den Balken in die kontralaterale Hemisphäre, wodurch neuroradiologisch und makroskopisch das Bild bilateral symmetrischer Glioblastome entsteht (sog. Schmetterlingsgliom). Histologisch handelt es sich um zellreiche, meist polymorphe Tumoren mit sehr hoher Mitoserate (Wachstumsfraktion: 8–25%). Typisch, aber nicht obligat sind mehrkernige Riesenzellen. Für die Diagnose entscheidend ist das Vorkommen flächenhafter oder strichförmiger Nekrosen (Abb. 9–3d), um die sich die Tumorzellkerne radiär anordnen (Palisadenstellung der Kerne). Weiteres typisches Merkmal sind ausgeprägte Gefäßproliferationen, insbesondere in der Infiltrationszone des Tumors (siehe Abb. 9–3d). Sie werden durch ein von den

Gliomzellen sezerniertes angiogenetisches Protein (vascular endothelial growth factor, VEGF) induziert. Immunhistochemisch lässt sich trotz fortgeschrittener Entdifferenzierung zumindest in einem Teil der Tumorzellen GFAP nachweisen.

9.2

Oligodendrogliom

Definition Das Oligodendrogliom ist ein Tumor der Oligodendroglia, der fast immer im Großhirn, mit Bevorzugung der Stammganglien und des Thalamus, lokalisiertist. Er kommt in allen Altersstufen vor, mit einem Manifestationsgipfel um das 40.–60. Lebensjahr.

Abb. 9-3 Astrozytom und Glioblastom.

a Niedriggradiges, diffus infiltrierendes Astrozytom links frontotemporal. Die Schnittfläche ist homogen, die Grenze zum Hirngewebe unscharf. b Histologie. Es handelt es sich um einen zellarmen Tumor aus fibrillären Astrozyten mit Bildung zahlreicher Mikrozysten. c Glioblastoma multiforme des linken Frontallappens. Der Tumor greift auf den Balken und die rechte Großhirnhemisphäre über. Die Schnittfläche ist „bunt“, mit ausgedehnten gelblichen Nekrosen und einer größeren Blutung.

d Histologie. Der Tumor ist zellreich, undifferenziert, mit ausgedehnten Nekrosen (links), um die sich Tumorzellen palisadenartig anordnen. Typisch ist die ausgeprägte Kapillarproliferation (rechts). HE, Vergr. 200fach.

Ätiologie Ätiologische Faktoren konnten noch nicht identifiziert werden. Molekulargenetisch findet sich bei der Mehrzahl der Oligodendrogliome ein Allelverlust (loss of heterozygosity, LOH) auf den Chromosomen 1p und 19q. Die hier vermuteten Tumorsuppressorgene sind bisher nicht identifiziert.

Morphologie

Makroskopisch handelt es sich um relativ gut abgegrenzte, graurötliche Tumoren, die häufig Blutungen und Verkalkungen (Röntgenbild) aufweisen. Mikroskopisch bestehen die zellreichen Tumoren aus isomorphen Zellen mit gut erkennbarer Zellmembran, wasserhellem Zytoplasma und zentralständigem Kern (sog. Honigwaben–Architektur, Abb. 9–4). Die mitotische Aktivität ist gering (Wachstumsfraktion: < 4%). Typisch sind klein– und grobschollige Verkalkungen, insbesondere in der Infiltrationszone zum benachbarten Hirngewebe. Ein verlässlicher immunhistochemischer Marker für Oligodendrogliome steht bisher nicht zur Verfügung.

Klinisch–pathologische Korrelationen Die klinische Symptomatik richtet sich nach der Lokalisation. Besonders typisch für das Oligodendrogliom sind epileptische Krampfanfälle, die der klinischen Diagnosestellung oft um Jahre vorausgehen.

Komplikationen Wichtigste Komplikation ist auch hier die intrakraniale Drucksteigerung. Gelegentlich zeigen Oligodendrogliome eine Progression zum anaplastischen Oligodendrogliom (WHO–Grad III), das eine schlechtere Prognose aufweist. Oligodendrogliome mit Allelverlust (LOH) auf den Chromosomen 1p und/oder 19q sprechen in der Regel auf Chemotherapie an und haben eine günstigere Prognose.

9.3

Ependymom

Definition Das Ependymom ist definiert als Tumor der Ependymzellen des Ventrikelsystems und des Zentralkanals des Rückenmarks. Es ist intra– oder periventrikulär, mit Bevorzugung der Seitenventrikel und des IV. Ventrikels, und im R˜ckenmark lokalisiert. Es zeigt eine

breite Altersstreuung, wobei das Ependymom des IV. Ventrikels besonders häufig bei Kindern und Jugendlichen vorkommt.

Abb. 9-4 Oligodendrogliom.

Die Tumorzellen zeigen ein wasserhelles Zytoplasma mit gut abgrenzbarer Plasmamembran sowie ein zartes Kapillarnetz. HE, Vergr. 200fach.

Ätiologie Spinale Ependymome haben häufig eine Mutation im Neurofibromatose–Typ–2–Gen (NF2).

Morphologie

Makroskopisch handelt es sich um grobbis feinknotige, scharf abgegrenzte Tumoren mit grauer Schnittfläche. Ependymome sind zellreich. Typisch sind kernfreie Manschetten um die Tumorgefäße (sog. perivaskuläre Pseudorosetten, Abb. 9–5).

Klinisch–pathologische Korrelationen Klinisch stehen Hirndrucksymptome durch Liquorabflussstörungen im Vordergrund. Da eine vollständige chirurgische Resektion insbesondere im IV. Ventrikel und im Rückenmark selten gelingt, ist die Prognose insgesamt ungünstig (WHO–Grad II). Eine Ausnahme stellt das myxopapilläre Ependymom des Filum terminale der Cauda equina (WHO–Grad I) dar. Anaplastische Ependymome (WHO–Grad III) sind durch eine hohe mitotische Aktivität gekennzeichnet und besitzen eine entsprechend schlechtere klinische Prognose.

9.4

Plexuspapillom

Definition Das Plexuspapillom ist ein gutartiger, hochdifferenzierter Tumor des Epithels der Plexus chorioidei der Seitenventrikel und des IV. Ventrikels.

Epidemiologie Plexuspapillome sind selten und manifestieren sich bevorzugt bei jungen Erwachsenen und Kindern, nicht selten bereits im 1. Lebensjahr.

Morphologie Makroskopisch erscheinen Plexuspapillome wie stark aufgetriebene Plexus. Histologisch kann die Unterscheidung der hochdifferenzierten Papillome vom normalen Plexusgewebe schwierig sein. Ausnahme ist das seltene maligne Plexuskarzinom, das deutliche Zeichen der Anaplasie aufweist.

Abb. 9-5 Ependymom.

Bildung typischer perivaskulärer Pseudorosetten. HE, Vergr. 200fach.

Klinisch–pathologische Korrelationen Klinisch stehen Hirndrucksymptome durch Überproduktion von Liquor und daraus resultierenden Liquorabflussstörungen im Vordergrund. In der Regel ist eine vollständige chirurgische Resektion möglich (WHO–Grad I).

9.5

Neuronale Tumoren

9.5.1 Gangliozytom und Gangliogliom Definition Das Gangliozytom ist ein seltener, gutartiger, hochdifferenzierter neuronaler Tumor. Er manifestiert sich bevorzugt bei Kindern und jungen Erwachsenen und kommt überall im ZNS vor, bevorzugt jedoch im Temporallappen.

Morphologie Die Tumoren sind relativ gut abgegrenzt und weisen keine signifikante Wachstumstendenz auf. Sie sind histologisch gekennzeichnet durch eine ungeordnete Akkumulation differenzierter, häufig dysplastischer Neurone. Diagnostisch entscheidend ist das Vorkommen doppel– oder mehrkerniger Ganglienzellen. Bei Vorliegen einer signifikanten astrozytären Komponente spricht man von einem Gangliogliom. Typisch sind perivaskuläre lymphozytäre Infiltrate.

Klinisch–pathologische Korrelationen

Gangliozytome und Gangliogliome sind mögliche Ursachen einer Temporallappenepilepsie.

9.5.2 Zentrales Neurozytom Definition Das zentrale Neurozytom ist ein intraventrikulärer, neuronaler Tumor des Erwachsenenalters mit relativ guter Prognose. Er ist in den vorderen Abschnitten der Seitenventrikel der Großhirnhemisphäre um das Foramen Monroi lokalisiert und manifestiert sich bevorzugt bei jungen Erwachsenen (Durchschnittsalter 30 Jahre).

Morphologie

Das zentrale Neurozytom ist mit dem Ependym des Ventrikels verwachsen und dehnt sich intraventrikulär aus. Histologisch handelt es sich um einen monomorphen, relativ zellreichen Tumor mit geringer mitotischer Aktivität (Wachstumsfraktion: < 3%). Die neuronale Differenzierung ist immunhistochemisch durch Nachweis des synaptischen Membranproteins Synaptophysin feststellbar. Die Tumorzellen bilden neuritische Fortsätze, die histologisch als kernfreie Neuropilinseln erkennbar sind. Herdförmige Verkalkungen sind häufig.

Klinisch–pathologische Korrelationen Klinisch stehen Hirndrucksymptome im Vordergrund, meist als Folge der Verlegung des Foramen Monroi (Hydrocephalus internus). Auch bei inkompletter chirurgischer Resektion kann eine dauerhafte Heilung resultieren.

9.6

Tumoren der Pinealis

Die Glandula pinealis (Zirbeldrüse) kann Sitz verschiedener Tumoren sein, von denen sich das Pinealoblastom und das Pineozytom direkt vom Pinealisparenchym ableiten.

9.6.1 Pinealoblastom Das Pinealoblastom ist ein seltener, hochmaligner embryonaler Tumor des Kindes– und Jugendalters, der zur Gruppe der primitiven neuroektodermalen Tumoren (PNET) gehört und in seinen klinischen und histologischen Merkmalen weitgehend dem Medulloblastom (siehe Kap. 9.7.1) entspricht. Mit diesem gemeinsam hat es die Neigung zur Ausbreitung über den Liquor cerebrospinalis sowie das relativ gute Ansprechen auf Radiotherapie.

9.6.2 Pineozytom Dieser seltene differenzierte Tumor der Pinealis manifestiert sich im Gegensatz zum Pinealoblastom bevorzugt im Erwachsenenalter. Die umschriebenen Tumoren haben eine geringe Wachstumstendenz und neigen nicht zur Metastasierung über den Liquor. Das klinische Bild wird beherrscht von Symptomen, die durch Kompression benachbarter Strukturen entstehen, besonders der Vierhügelregion (Parinaud–Syndrom: konjugierte Blickparese nach oben mit Konvergenzschwäche und oft anisokoren, lichtstarren Pupillen) und des Aquäduktes (Verschlusshydrozephalus). Histologisches Merkmal sind große pineozytische Rosetten, bei denen sich mehrere Tumorzellen radiär um einen virtuellen Mittelpunkt anordnen.

9.6.3 Keimzelltumoren Primär intrakraniale Keimzelltumoren treten bevorzugt in der Pinealisregion auf, seltener suprasellär, in den Stammganglien und im Hirnstamm. Ihre histologische Klassifikation entspricht der der Keimzelltumoren des Hodens (siehe Kap. 38.1.6) und des Ovars (siehe Kap. 39.1.7). Am häufigsten ist das Germinom der Pinealisregion, das gelegentlich Anschluss an den III. Ventrikel findet und über den Liquor metastasiert. Es ist histologisch vom Seminom des Hodens nicht zu unterscheiden.

Die übrigen Keimzelltumoren, das embryonale Karzinom, der endodermale Sinustumor und das Chorionkarzinom, treten oftmals mit germinomatösen Abschnitten als gemischte Keimzelltumoren auf. Das Teratom mit Anteilen aus ekto–, endo– und mesodermalem Gewebe kommt, wie in anderen Organen, als unreife oder reife Geschwulst vor und neigt gelegentlich zur malignen Transformation.

9.7

Embryonale Tumoren

9.7.1 Medulloblastom Definition Das Medulloblastom ist ein hochmaligner embryonaler Tumor des Kleinhirns, der sich v.a. im Kleinhirnwurm, seltener in den Kleinhirnhemisphären findet. Bei seltener Lokalisation außerhalb des Kleinhirns spricht man von primitiven neuroektodermalen Tumoren (PNET). Das Medulloblastom ist der häufigste maligne Hirntumor des Kindesalters, mit bevorzugter Manifestation im 3.–8. Lebensjahr.

Ätiologie Ätiologische Faktoren konnten noch nicht identifiziert werden. Molekulargenetisch gibt es Hinweise für die Beteiligung eines noch nicht identifizierten Tumorsuppressorgens auf dem kurzen Arm von Chromosom 17. In etwa 15% der sporadischen Medulloblastome finden sich somatische Mutationen des PTCH–Gens, dem humanen Homolog des Drosophila–Gens „patched“. PTCH– Keimbahnmutationen sind verantwortlich für das autosomal–dominant vererbte Basalzellnävus–Syndrom (Gorlin–Syndrom). Betroffene Patienten zeigen eine erhöhte Prädisposition für multiple Basaliome, ferner Kieferzysten, Skelettanomalien und Hirntumoren (Medulloblastome und Meningeome).

Morphologie

Es handelt sich um weiche, feinkörnige Tumoren mit grauer Schnittfläche und typischer Lokalisation im Kleinhirnwurm (Abb. 9–6). Charakteristisch ist eine diffuse Aussaat über den Liquor cerebrospinalis sowohl anterograd (spinal) wie retrograd (intraventrikulär und an der Hirnbasis). Histologisch handelt es sich um meist wenig differenzierte, zellreiche Tumoren mit karottenförmigen Kernen und hoher mitotischer Aktivität (Wachstumsfraktion: 10– 15%). Typisch, aber nicht obligat ist die Ausbildung neuroblastischer Pseudorosetten (sog. Homer–Wright–Rosetten, siehe Abb. 9–6). Wegen der Abstammung aus pluripotenten embryonalen Zellen beobachtet man immunhistochemisch sowohl eine neuronale wie auch gliale, seltener eine myoblastische oder melanozytäre Differenzierung.

Klinisch–pathologische Korrelationen Bei kurzer Anamnese stehen klinisch Hirndrucksymptome im Vordergrund. Wegen der fast obligaten Ausbreitung entlang den Liquorwegen ist eine Radiotherapie der gesamten Neuraxis (Hirn und Rückenmark) notwendig. Trotz des hohen Malignitätsgrades des Tumors wird durch diese Therapie eine 5–Jahres– Überlebensrate bei mehr als 50% der Kinder erreicht.

Abb. 9-6

Medulloblastom des Kleinhirnwurms.

a Makroskopie b Histologisches Kennzeichen sind die neuroblastischen Rosetten. HE, Vergr. 400fach.

9.7.2 Atypischer teratoid–rhabdoider Tumor (AT/RT) Definition Maligner, embryonaler ZNS–Tumor des Kindesalters mit bevorzugter Lokalisation im Kleinhirn (50%) und Großhirn (40%).

Ätiologie Mehr als 90% der Tumoren zeigen Allelverlust (LOH) auf Chromosom 22q, verursacht durch eine Mutation des INI1–Gens, das die Chromatinstruktur beeinflusst.

Morphologie Die Makroskopie entspricht weitgehend der des Medulloblastoms. Histologisch sind atypische teratoid–rhabdoide Tumoren zellreich, polymorph, mit ausgeprägter mitotischer Aktivität. Charakteristisch sind rhabdoide Zellen mit exzentrischem Kern, prominenten Nukleoli sowie markanter Expression von Aktin und Vimentin. Zusätzlich finden sich, in variablem Ausmaß, Anteile mit primitiv– neuroektodermaler, mesenchymaler und epithelialer Differenzierung.

Klinisch–pathologische Korrelationen Bei Kindern stehen unspezifische Symptome im Vordergrund: Lethargie, Übelkeit/Erbrechen, Kopfschmerz. Je nach Lokalisation finden sich Hemiplegie oder Hirnnervenausfälle. Wegen des raschen, therapeutisch nicht wirksam beeinflussbaren Wachstums sterben die meisten Patienten innerhalb eines Jahres.

9.8

Tumoren des peripheren Nervensystems

9.8.1 Neurinom Syn.: Schwannom

Definition Das Neurinom ist ein gutartiger, gekapselter Tumor, der sich histogenetisch von den Schwann–Zellen des peripheren Nervensystems (PNS) ableitet. Neurinome können in allen Abschnitten des peripheren Nervensystems vorkommen. Bevorzugte Lokalisationen sind der Kleinhirnbrückenwinkel (Akustikusneurinom, Abb. 9–7a), die spinalen Hinterwurzeln mit Ausdehnung durch den Intervertebralkanal (sog. Sanduhrneurinom) und die Cauda equina. Das Neurinom ist der häufigste infratentorielle Tumor des Erwachsenenalters (Altersgipfel 35.–45. Lebensjahr).

Ätiologie Bilaterale Neurinome des VIII. Hirnnervs sind die wichtigste Manifestation der Neurofibromatose Typ 2. Periphere Neurinome treten gelegentlich auch bei der Neurofibromatose Typ 1 auf. Auch bei sporadischen Neurinomen sind häufig Mutationen des Neurofibromatose–Typ–2–Tumorsuppressorgens auf Chromosom 22 nachweisbar.

Morphologie Makroskopisch handelt es sich um benigne, gekapselte, derbe Tumoren mit gelblicher Schnittfläche (Verfettung). Histologisch lassen sich zwei Gewebebilder unterscheiden: Die Antoni–A– Formation ist faserreich und weist längliche Zellen mit schmalen, zigarettenförmigen Kernen auf, die Züge, Wirbel und parallele Kernreihen (Palisaden, Abb. 9–7b) bilden. Die Antoni–B–Formationen sind faserarm, retikulär und zeigen oft regressive Veränderungen, z.B. Verfettung. Die mitotische Aktivität ist sehr gering (Wachstumsfraktion: < 1%). Bei den selteneren malignen Tumoren des PNS handelt es sich meist um gemischt neuroektodermal–mesenchymale Geschwülste, die unter dem Begriff maligner peripherer Nervenscheidentumor (MPNST) zusammengefasst werden.

Klinisch–pathologische Korrelationen Akustikusneurinome führen zur einseitigen Innenohrschwerhörigkeit bzw. Taubheit (Leitsymptom) und Tinnitus. Größere Tumoren komprimieren den N. trigeminus, was sich im Verlust des Kornealreflexes manifestiert. Aus der Kompression des Kleinhirns resultiert eine Ataxie.

Abb. 9-7

Akustikusneurinom.

a Akustikusneurinom im linken Kleinhirnbrückenwinkel (Pfeil).

b Histologisch imponieren lang gestreckte Tumorzellen mit gelegentlicher Bildung paralleler Kernreihen (Palisaden). HE, Vergr. 250fach.

9.9

Meningeome

Definition Das Meningeom ist ein gutartiger, gekapselter, mesodermaler Tumor, der sich histogenetisch vom meningealen Arachnothel ableitet. Da Meningeome meist von Arachnoidalvilli in der Dura mater ausgehen, sind sie mit der harten Hirnhaut fest verwachsen. Seltener Ursprung sind Arachnoidalzellen der Plexus chorioidei der Seitenventrikel.

Lokalisation Häufigste Lokalisationen sind die Parasagittalregion der Großhirnhemisphären (Abb. 9– 8a), die Falx cerebri (Falxmeningeom) sowie, an der Schädelbasis, die Olfaktoriusrinne (Olfaktoriusmeningeom) und das Keilbein (mediales und laterales Keilbeinmeningeom). In der hinteren Schädelgrube finden sich Meningeome bevorzugt am Tentorium, am Klivus und im Kleinhirnbrückenwinkel (Abb. 9–8b). Im Spinalkanal sind Meningeome überwiegend thorakal lokalisiert. Die selteneren multiplen Meningeome (Abb. 9–8c) treten meist unilateral auf. Sie entstehen nicht multiklonal, sondern durch rasche Aussaat im Bereich der Arachnoidea.

Epidemiologie Frauen sind insgesamt häufiger betroffen als Männer. Die klinische Manifestation ist am häufigsten im mittleren und höheren Erwachsenenalter.

Ätiologie Multiple Meningeome treten im Rahmen der Neurofibromatose Typ 2 (NF2) auf (siehe Tab. 9–2). Zur Ätiologie der häufigen sporadischen Meningeome ist noch wenig bekannt. Sie treten gehäuft bei Patienten auf, die in jungen Jahren eine Schädelbestrahlung erhalten haben. In ca. 70% lassen sich Mutationen des Neurofibromatose–Typ–2–Tumorsuppressorgens auf Chromosom 22 nachweisen. Ein morphologisch nicht identifizierbarer Teil der Meningeome verfügt über Östrogen– und Somatostatinrezeptoren. Versuche, durch entsprechende Rezeptorenblocker das Wachstum wesentlich zu verlangsamen, sind jedoch bisher nicht gelungen. Der Nachweis von Östrogen– und Progesteronrezeptoren bei Meningeomen wurde mit ihrem häufigeren Auftreten bei Frauen in Zusammenhang gebracht.

Morphologie Meningeome sind der Dura anhaftende Tumoren von prall–elastischer Konsistenz. Sie komprimieren das angrenzende Hirngewebe, infiltrieren es jedoch nicht. Histologisch lassen sich zahlreiche Varianten unterscheiden: ■ Meningotheliales Meningeom (klassischer Typ). Synzytialer Zellverband mit ovalen, zigarrenförmigen Kernen, gelegentlich ohne erkennbares Chromatin (sog. Lochkerne). Die Tumorzellen bilden typische konzentrische Formationen (sog. Zwiebelschalen) mit zentraler Hyalinisierung und Bildung typischer Psammomkörper (Abb. 9–8d). Die mitotische Aktivität ist gering (Wachstumsfraktion: < 3%). ■ Fibroblastisches Meningeom. Es überwiegen spindelförmige, fibroblastenähnliche Tumorzellen. Sie bilden parallele oder sich kreuzende Bündel und enthalten reichlich interzelluläres Kollagen und Retikulin. ■ Psammomatöses Meningeom. Diese Variante ist gekennzeichnet durch eine ungewöhnliche Dichte von Psammomkörpern. Sie findet sich bevorzugt in der Olfaktoriusrinne sowie, besonders bei älteren Frauen, im Spinalkanal. ■ Anaplastisches Meningeom. Dieser seltene Subtyp weist die histologischen Zeichen der Anaplasie (Kernpolymorphie, Verlust der Differenzierung, hohe mitotische Aktivität) auf und neigt dazu, angrenzende Hirnstrukturen zu infiltrieren.

Abb. 9-8 Meningeome.

Mit Kompression, aber ohne Infiltration des Hirngewebes. a Parasagittales Meningeom. b Präpontines Meningeom. c Multiple Meningeome.

d Histologische Merkmale sind Wirbelformationen und Psammomkörper. HE, Vergr. 250fach.

Klinisch–pathologische Korrelationen Die klinische Symptomatik entwickelt sich schleichend und richtet sich nach der Lokalisation des Tumors. Trotz der geringen Wachstumstendenz können sich bei größeren Tumoren durch Ausbildung eines perifokalen Hirnödems lebensbedrohliche Hirndrucksymptome entwickeln. Eine Tumorresektion führt meist zur Heilung.

9.10

Primäre Lymphome des ZNS

Epidemiologie Die Inzidenz der primären malignen Lymphome im ZNS hat in den letzten 20 Jahren stark zugenommen. Dieser Zuwachs ist nicht nur bei Patienten, die an AIDS erkrankt sind (siehe Tab. 8–9), zu beobachten, sondern auch bei immunkompetenten Patienten.

Morphologie

Primäre Lymphome zeigen ein diffuses Wachstumsmuster. Sie treten bevorzugt in tief gelegenen Hirnabschnitten auf, z.B. subependymal und in den Stammganglien, nicht selten multifokal in beiden Großhirnhemisphären. Sie sind makroskopisch unscharf begrenzt, mit graurötlicher Schnittfläche, und weisen besonders bei AIDS–Patienten ausgedehnte Nekrosen (Abb. 9–9a) auf. Histologisch handelt es sich meist um monoklonale maligne B–Zell–Lymphome, die wie extrazerebrale Lymphome klassifiziert werden (Abb. 9–9b). Primäre T–Zell– Lymphome des Gehirns sind sehr selten.

9.11

Metastasen

Solitäre oder multiple Metastasen treten in allen Gehirnarealen, bevorzugt subkortikal, auf. Im Rückenmark sind Metastasen sehr selten. Unter den Primärtumoren sind Bronchial– und Mammakarzinome am häufigsten. Ferner neigen besonders das maligne Melanom und das hellzellige Nierenkarzinom zur Metastasierung in das ZNS.

Morphologie Es handelt sich um solitäre (ca. 30%) oder multiple, makroskopisch scharf abgegrenzte, meist runde Tumoren, oft mit zentraler Nekrose. Die klinische Symptomatik wird häufig weniger durch den Tumor selbst als durch das perifokale Ödem bestimmt. Gelegentlich beobachtet man eine diffuse Infiltration der weichen Hirnhäute (Meningeosis carcinomatosa), besonders bei primären Karzinomen des Magens, der Lunge und der Prostata. Eine Infiltration der Meningen wird ferner beobachtet bei Hirnmetastasen maligner Lymphome.

Abb. 9-9

Primäres malignes Lymphom im ZNS.

a Ausgedehntes, primär zerebrales malignes B–Zell–Lymphom der rechten Großhirnhemisphäre bei einem Kind mit konnataler HIV–Infektion. Übergreifen des Tumors auf den Balken und das Marklager der linken Großhirnhemisphäre. b Histologisch perivaskuläre Ansammlung von Lymphomzellen. Immunhistochemische Darstellung mit dem B–Zell–Marker CD26. Vergr. 100fach.

9.12

Tumoren der Schädelbasis

Tumoren der Schädelbasis können die Funktion des ZNS wesentlich beeinflussen. Dazu gehören neben den Hypophysenadenomen (siehe Kap. 13.2.3) das Kraniopharyngeom und das Chordom. Die beiden letzteren sind zwar gutartig, können jedoch wegen der Schwierigkeit einer vollständigen chirurgischen Resektion erhebliche klinische Probleme verursachen.

9.12.1

Kraniopharyngeom

Dieser benigne epitheliale Fehlbildungstumor ist meist suprasellär lokalisiert und leitet sich wahrscheinlich von Zellresten des embryonalen Hypophysengangs (Rathke– Tasche) ab. Kraniopharyngeome manifestieren sich klinisch bevorzugt im 1. und 2. Lebensjahrzehnt, meist durch Kompression benachbarter Strukturen (Hypophyse, Chiasma opticum, Hypothalamus). Bei Ausdehnung in den III. Ventrikel können sie einen Verschlusshydrozephalus hervorrufen.

Morphologie Die Tumoren sind unregelmäßig begrenzt und neigen sehr stark zur Verkalkung. Eine Ausnahme stellt die papilläre Variante dar, die nicht verkalkt und bei jungen Erwachsenen auftritt. Histologisch sind Kraniopharyngeome charakterisiert durch solide, oft bandförmige Areale mit hochdifferenziertem Plattenepithel und typischer Neigung zur Ausbildung von Kernpalisaden. Ferner beobachtet man eine ausgeprägte Keratinbildung mit Cholesterinablagerungen und extensiver Fibrose.

Klinisch–pathologische Korrelationen Klinisch stehen Sehstörungen und hypothalamisch–endokrinologische Symptome im Vordergrund. Das Kraniopharyngeom neigt nicht zur malignen Progression, führt jedoch wegen unvollständiger chirurgischer Resektion häufig zu Rezidiven.

9.12.2

Chordom

Das seltene Chordom kann sich in allen Abschnitten des axialen Skeletts manifestieren, wobei Klivus und Sakrokokzygealregion bevorzugte Lokalisationen sind (siehe Kap. 43.6.5).

Klinisch–pathologische Korrelationen Chordome des Klivus führen zur Kompression der Brücke und benachbarter Hirnnerven. Auch dieser Tumor ist benigne, jedoch in der Regel nicht vollständig resezierbar, sodass es häufig zu Rezidiven kommt mit insgesamt schlechter Prognose. Eine Infiltration des Gehirns ist sehr selten.

9.13

Erbliche Tumorsyndrome – Phakomatosen

Das Nervensystem ist bei zahlreichen erblichen neoplastischen Syndromen mit betroffen. Diese familiären Tumorerkrankungen haben einen autosomal–dominanten Erbgang und wurden früher unter dem Begriff Phakomatosen (griech.: phakos = Fleck) zusammengefasst wegen der typischen assoziierten Hautveränderungen (Tab. 9–2). Die Klärung der genetischen Grundlage dieser Erkrankungen hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Für sämtliche in Tab. 9–2 aufgeführten Erkrankungen ist das verantwortliche Tumorsuppressorgen identifiziert und sequenziert. Dadurch ist eine molekulargenetische Diagnostik sowohl pränatal wie auch bei Überträgern und bei Patienten mit geringer Penetranz der Symptome möglich. Die assoziierten Tumoren sind zum Teil für die Erkrankung spezifisch (z.B. der subependymale Riesenzelltumor bei tuberöser Sklerose) oder so typisch, dass man bei der klinischen Diagnosestellung an eine erbliche Tumorerkrankung denken sollte, z.B. bei Vorliegen multipler Neurofibrome, eines Hämangioblastoms des Kleinhirns oder des Angiolipoleiomyoms der Niere. Daneben gibt es jedoch auch assoziierte Neoplasien, die sich weder morphologisch noch klinisch von der jeweiligen sporadischen Form unterscheiden, z.B. pilozytische Astrozytome bei der Neurofibromatose von Recklinghausen (NF1) und Meningeome bei Neurofibromatose Typ 2 (NF2).

Tab. 9-2 Erbliche Tumorsyndrome mit Beteiligung des Nervensystems.

9.13.1

Neurofibromatose Typ 1 (NF1)

Syn.: Morbus von Recklinghausen Charakteristisch für die Erkrankung sind Neurofibrome des peripheren Nervensystems, die bevorzugt kutan und subkutan auftreten, bei starker Penetranz jedoch auch tiefer gelegene Nerven (Plexus brachialis und lumbosacralis, Abb. 9–10) und innere Organe

befallen können. Das Ausmaß der Neurofibromatose variiert erheblich. In schweren Fällen beobachtet man sehr große, grob entstellende Tumoren an Gesicht, Rumpf und Extremitäten.

Ätiologie Das für die Erkrankung verantwortliche NF1–Tumorsuppressorgen ist auf dem langen Arm von Chromosom 17 lokalisiert. Es kodiert für ein Protein (Neurofibromin) mit Homologie zu sog. GAP–Proteinen, die bei der intrazellulären Signaltransduktion eine Rolle spielen.

Morphologie

Makroskopisch imponieren Neurofibrome als kolbenförmige oder diffuse Auftreibungen eines peripheren Nervs oder eines Nervenplexus (siehe Abb. 9–10). Solitäre Neurofibrome können auch außerhalb der Neurofibromatose auftreten, während multiple Tumoren fast obligat hereditär sind. Histologisch setzen sich Neurofibrome aus Schwann–Zellen, Fibroblasten und Perineuralzellen zusammen. Sie bilden wellenförmige Strukturen mit reichlicher interzellulärer Ablagerung von Kollagen– und Mukoidsubstanzen. Die Zellkerne zeigen häufig Atypien. Die Proliferationstendenz ist recht unterschiedlich, jedoch zeigen einige Tumoren ein rasches Wachstum und infiltrative Tendenzen. Die für Neurinome typischen Antoni–A– und –B–Formationen fehlen. Wohl aber sieht man eine gelegentliche Bildung von Kernpalisaden, die an Meissner–Tastkörperchen der Haut erinnern. Die bei der Neurofibromatose Typ 1 gelegentlich auftretenden Optikusgliome unterscheiden sich nicht von sporadischen pilozytischen Astrozytomen derselben Lokalisation.

9.13.2

Neurofibromatose Typ 2 (NF2)

Syn.: bilaterale Akustikusneurofibromatose Anders als die Bezeichnung vermuten lässt, handelt es sich bei den Akustikustumoren nicht um Neurofibrome, sondern um Neurinome. Charakteristisch für die Erkrankung ist ihr bilateral symmetrisches Auftreten. Histologisch unterscheiden sich die Tumoren nicht von den sporadischen Tumoren derselben Lokalisation. Das gilt auch für die mit der NF2 fakultativ assoziierten Gliome und Meningeome. In den Großhirnhemisphären der Patienten, insbesondere in Rinde und Stammganglien, lassen sich histologisch disseminierte Mikrohamartome nachweisen, die an Gliome in statu nascendi erinnern, aber keine Wachstumstendenz aufweisen und klinisch unauffällig sind.

Ätiologie Der Neurofibromatose Typ 2 liegen Mutationen des NF2–Tumorsuppressorgens auf Chromosom 22 zugrunde. Dieses Gen kodiert für ein zytoskelettassoziiertes Protein (Merlin). Es ist häufig auch bei sporadischen Neurinomen, Meningeomen und spinalen Ependymomen mutiert.

Abb. 9-10

Neurofibromatose Typ 1.

Multiple Neurofibrome des Plexus lumbosacralis und der Cauda equina.

9.13.3

Tuberöse Sklerose

Syn.: Morbus Bourneville–Pringle Genetisch lassen sich zwei Formen, tuberöse Sklerose Typ 1 und Typ 2 (TSC1 und TSC2), unterscheiden, deren klinische und histologische Merkmale jedoch weitgehend überlappen.

Ätiologie Die tuberöse Sklerose ist genetisch heterogen. Die Tumorsuppressorgene TSC1 (auf Chromosom 9) und TSC2 (auf Chromosom 16) sind identifiziert, aber die Funktion der entsprechenden Genprodukte (Hamartin und Tuberin) ist noch weitgehend ungeklärt.

Morphologie

Im ZNS beobachtet man dysplastisch–hypertrophische gliale Knoten der Großhirnrinde (kortikale Tubera), daneben die für die Erkrankung typischen subependymalen Riesenzelltumoren, am häufigsten am Boden der Seitenventrikel. Gelegentlich führen sie zu einer Verlegung des Foramen Monroi, was einen Verschlusshydrozephalus zur Folge hat. Die Ventrikeltumoren sind derb, oft verkalkt und gut abgegrenzt. Histologisch dominieren großleibige, fusiforme Zellen, die an gemästete Astrozyten erinnern, in der Regel jedoch keine Immunreaktivität für GFAP aufweisen (Abb. 9– 11). Die Histogenese dieser Fehlbildungstumoren ist deshalb ungewiss. Liegen gleichzeitig multiple faziale Angiofibrome (Adenoma sebaceum, Typ Pringle) vor, kann klinisch die Diagnose einer tuberösen Sklerose gestellt werden.

Abb. 9-11 Subependymaler Riesenzelltumor bei tuberöser Sklerose.

Histologisch dominieren großleibige, bizarr geformte Tumorzellen mit unterschiedlich ausgeprägter astrozytärer, gelegentlich auch neuronaler Differenzierung. HE, Vergr. 250fach.

9.13.4

von–Hippel–Lindau–Erkrankung

Diagnostisch entscheidend im ZNS ist die Kombination von Retinaangiomatose und Kleinhirnhämangioblastom. Dieser langsam wachsende Gefäßtumor ist in der Regel in der Kleinhirnhemisphäre lokalisiert. Makroskopisch handelt es sich um weiche, blau– rote Tumoren, die oft am Rand einer assoziierten Tumorzyste liegen und vom Kleinhirngewebe gut abgegrenzt sind.

Abb. 9-12

von–Hippel–Lindau–Erkrankung.

Hämangioblastom des Kleinhirns. Der zellarme, gutartige Tumor weist eine dichtes Kapillarnetz auf. HE, Vergr. 200fach. Histologisch erkennt man in der Retikulinfärbung insbesondere perivaskulär ein dichtes Fasernetz. Das Bild ist beherrscht von dünnwandigen Kapillaren und kapillären Spalträumen, die von Endothel ausgekleidet sind (Abb. 9–12). Daneben finden sich sog. Zwischenzellen, die gelegentlich Fett speichern und deren Histogenese noch ungeklärt ist. Hämangioblastome haben eine geringe Wachstumstendenz und metastasieren nicht.

Ätiologie Das verantwortliche Gen auf dem kurzen Arm von Chromosom 3 ist identifiziert.

9.13.5 Keimbahnmutationen des p53– Tumorsuppressorgens Syn.: Li–Fraumeni–Syndrom Eine Inaktivierung des p53–Suppressorgens durch somatische Mutationen lässt sich bei Tumoren zahlreicher Organe nachweisen. Unter den Neoplasien des Nervensystems sind diese Mutationen weitgehend auf astrozytäre Gliome beschränkt. Seltener sind p53– Keimzell–Mutationen, die mit einem komplexen, autosomal–dominant vererbten Tumorsyndrom assoziiert sind. Viele der betroffenen Familien fallen in die Definition des Li–Fraumeni–Syndroms, das charakterisiert ist durch das gehäufte Auftreten von Mammakarzinomen, Weichteil– und Knochensarkomen sowie Nebennierenrindenkarzinomen, Leukämien und Hirntumoren. Bei letzteren handelt es

sich wiederum fast ausschließlich um Astrozytome, insbesondere Glioblastome (Abb. 9–13). Dies spricht dafür, dass auch bei somatischen p53–Mutationen in sporadischen Hirntumoren die Inaktivierung dieses Suppressorgens entscheidend ist für die Initiierung der malignen Transformation.

Abb. 9-13 Keimzellmutation des p53– Tumorsuppressorgens.

Stammbaum einer Familie mit Deletion von Codon 236. Der Großvater (IA) starb an einer Leukämie (LKM), zwei seiner vier Töchter (IIC, IID) an einem Hirntumor (Glioblastom = GBM und anaplastisches Astrozytom = AA). Eine von ihnen (IID) entwickelte zusätzlich ein adrenokortikales Karzinom (ACC). Zwei Enkel erkrankten ebenfalls an ZNS–Tumoren, IIIA an einem Glioblastom, IIIB an einem unklassifizierten Hirntumor (= BT; keine Biopsie). Ihre Mutter (IIA) weist dieselbe Mutation auf, ist jedoch bisher gesund. Familienmitglieder mit überprüfter, normaler DNA–Sequenz sind grün markiert.

9.14 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Tumoren des Nervensystems Der Ausbau klinischer Untersuchungsverfahren und technischer Möglichkeiten der gezielten Gewebeentnahme haben entscheidend zur steigenden Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Tumoren des Nervensystems beigetragen. Der Schnellschnittdiagnostik kommt eine hohe Bedeutung bei der Artdiagnose und Abgrenzung von Tumoren zu. Sie ist ein entscheidendes Element, wenn das Ausmaß eines Eingriffs geplant wird. Die weitergehende, definitive morphologische Untersuchung umfasst eine Vielzahl von Spezialmethoden, insbesondere die Immunhistochemie, um einen Tumor präzise zu klassifizieren. Die weitere Therapie basiert wesentlich auf dieser morphologischen Diagnose.

Literatur Burger, P.C., B.W. Scheithauer: Tumors of the central nervous system. Armed Forces Institute of Pathology, Washington D.C. 1994. Deimling, A. von, D.N. Louis, O.D. Wiestler: Molecular pathways in the formation of gliomas. Glia 15 (1995) 328–338. Kleihues, P., W.K. Cavenee (Eds.): World Health Organization Classification of Tumours. Pathology and Genetics of Tumours of the Nervous System. IARC Press, Lyon 2000. Kleihues, P., B. Schäuble, A. zur Hausen, J. Estéve, H. Ohgaki: Tumors associated with p53 germline mutations: a synopsis of 91 families. Am J Pathol 150 (1997) 1–13. Lantos, P.L., D.N. Louis, M.K. Rosenblum, P. Kleihues: Tumors of the nervous system. In: Graham, D.I., P.L. Lantos (Eds.): Greenfield's Neuropathology. 7th Edition, Arnold, London 2002. Louis, D.N., A. von Deimling: Hereditary tumor syndromes of the nervous system: overview and rare syndromes. Brain Pathol. 5 (1995) 145–151. Paulus, W.: Tumoren des Nervensystems. In: Peiffer, J., J.M. Schröder (Hrsg.): Neuropathologie. Springer, Berlin–Heidelberg–New York 1995. Peiffer J., J.M. Schröder, W. Paulus (Hrsg.): Neuropathologie. 3. Aufl. Springer, Berlin– Heidelberg–New York 2002.

FRAGEN

1 Welches ist der häufigste Tumor des Gehirns mit der höchsten Malignitätsstufe (WHO–Grad IV)? 2 Welches langsam wachsende Gliom tritt bevorzugt im Kindes– und Jugendalter auf und hat als histologisches Charakteristikum Rosenthal–Fasern? 3 Welcher von Tumorzellen synthetisierte Wachstumsfaktor induziert die Gefäßproliferation in Glioblastomen? 4 Welches Suppressorgen ist häufig in niedriggradigen Astrozytomen und in daraus entstehenden (sekundären) Glioblastomen durch Mutation inaktiviert? 5 Welcher embryonale Tumor des Gehirns manifestiert sich bevorzugt im Kindesalter und führt zu disseminierten Liquormetastasen? 6 Welcher intrakraniale Tumor tritt bevorzugt bei Frauen auf? 7 Handelt es sich bei den primär malignen Lymphomen des ZNS bevorzugt um B–Zell– oder T–Zell–Lymphome? 8 Welches ist der häufigste Keimzelltumor des Nervensystems, und wo ist er typischerweise lokalisiert? 9 Nennen Sie einen intraventrikulären Tumor des Erwachsenenalters mit relativ günstiger klinischer Prognose. 10 Welches Gliom führt klinisch zu Krampfanfällen und zeigt histologisch typische Mikroverkalkungen? 11 Welches erbliche Tumorsyndrom ist gekennzeichnet durch eine genetische Prädisposition zur Entwicklung von Mammakarzinomen, Sarkomen, Hirntumoren, Leukämie und Nebennierenrindenkarzinomen, und welches Gen ist betroffen? 12 An welches erbliche Tumorsyndrom muss man denken, wenn bei einem Patienten bilateral Akustikusneurinome diagnostiziert werden? 13 Welches sind die Indikationen zur morphologischen Untersuchung der in diesem Kapitel beschriebenen Krankheiten? Welche Untersuchungen sind indiziert? Welchen Beitrag können diese Untersuchungen zur präzisen Diagnostik und zur Planung der Therapie leisten?

10 Neuromuskuläres System C. MOLL A. BORNEMANN 10.1

Einleitung 334

10.1.1

Normale Struktur und Funktion des neuromuskulären Systems 334

10.1.2 Funktionelle Abhängigkeit der Skelett-muskulatur vom peripheren Nervensystem 334 10.1.3

Ort der Einwirkung einer pathogenen Noxe 334

10.1.4 335

Häufigkeit von anlagebedingten Krankheiten des neuromuskulären Systems

10.2

Pathologie des peripheren Nervensystems 335

10.2.1

Entwicklung, normale Struktur und Funktion 335

Leitungssystem der peripheren Nerven 335 Diagnostische Methodik bei peripheren Neuropathien 335 10.2.2

Definitionen und Epidemiologie von Neuropathien 335

Begriffe der peripheren Neuropathologie und Neurologie 335 Morphologische Grundmuster von Neuropathien 335 Neuronopathie 336 Epidemiologie von Neuropathien 336 10.2.3

Waller-Degeneration 336

10.2.4

Primäre axonale Degeneration/Axonopathie 336

10.2.5

Primäre segmentale Demyelinisierung/Entmarkung 338

Vaskuläre und interstitielle Prozesse 338 10.2.6

Wichtige ätiologische Gruppen von Neuropathien 339

Hereditäre Neuropathien 339 Entzündliche Neuropathien/Neuritiden 340

Metabolische Neuropathien 341 Toxische Neuropathien 341 10.3

Pathologie der Skelettmuskulatur 341

10.3.1

Entwicklung, normale Struktur und Funktion 341

Reife Skelettmuskelfasern sind in Längsrichtung fusionierte Muskelzellen 341 Diagnostische Methodik muskulärer Krankheiten 342 10.3.2

Neurogene Muskelatrophie 343

Spinale und periphere Muskelatrophien 343 10.3.3

Muskeldystrophien und Myopathien 345

X-chromosomal vererbte Muskel-dystrophien 345 Andere Muskeldystrophien 346 10.3.4

Myotonien 346

Dystrophia myotonica (Curschmann-Steinert) 346 Kongenitale Myotonien 347 Myositiden mit bekannten Erregern 347 10.3.5

Kongenitale Myopathien 347

10.3.6

Myositiden und Trauma 347

Nichtinfektiöse Myositiden 348 Mikro-und Makrotrauma der Muskulatur 348 10.3.7

Krankheiten der neuromuskulären Überleitung 348

Myasthenia gravis pseudoparalytica (Erb-Goldflam) 349 Andere myasthenische Syndrome 349 10.3.8

Metabolische Myopathien 349

Exemplarische metabolische und toxische Myopathien 349 10.4 Bedeutung der mikroskopischen Diagnostik bei neuromuskulären Krankheiten 350

Literatur 350 Fragen 350

Zur Orientierung Periphere Nerven und Muskulatur bilden die funktionelle Einheit des neuromuskulären Systems. Primäre Schädigungen der einen Struktur rufen daher meist sekundäre Veränderungen der anderen hervor. Nerven reagieren mit wenigen pathologischen Mustern auf eine pathogene Noxe, wobei die beiden primären Veränderungen der segmentalen Entmarkung (Demyelinisierung) und der axonalen Degeneration ineinander übergehen und schließlich in einen kompletten Faserzerfall (WallerDegeneration) einmünden können. Letzterer kommt aber, besonders bei akuten Nervenschädigungen, auch als eigenständige Reaktionsform vor. Aus der Zusammensetzung dieser drei Reaktionsmuster und den resultierenden Störungen des Faserspektrums und der Hüllenstrukturen eines Nervs können, oft mit ultrastrukturellen Zusatzinformationen, Hinweise auf die Ursachen einer Neuropathie gefunden werden. Auch die Skelettmuskulatur zeigt einige wenige, aber charakteristische Muster der Schädigung, die sich im Wesentlichen in die drei Kategorien neurogen, myopathisch oder entzündlich einreihen. Auch hier ergeben sich charakteristisch, entweder hereditäre oder erworbene Ausfallsmuster, manchmal mit sog. „spezifischen“ Strukturanomalien sowie typischen Begleitreaktionen des Gefäß- und Bindegewebegerüstes. Unter Zuhilfenahme der klinischen Befunde und von licht- und elektronenmikroskopischer Diagnostik gelingt es oft, das Diagnosespektrum entscheidend einzuengen. Viele neuromuskuläre Krankheiten des Kindes- und frühen Erwachsenenalters sind „inborn errors of metabolism“, denen genetische Anomalien in Nerven-/Muskelstrukturproteinen oder in Enzymen der Energiegewinnung zugrunde liegen, wie sie heute immer zahlreicher in molekulargenetischen Studien lokalisiert werden.

10.1

Einleitung

10.1.1 Normale Struktur und Funktion des neuromuskulären Systems Peripheres Nervensystem (PNS) nennt man das anatomische und funktionelle Netz von Nervenzellfortsätzen (Nervenfasern) und Nervenzellaggregaten (Ganglien und Plexus) außerhalb des Zentralnervensystems (ZNS: Gehirn und Rückenmark). Periphere Nerven verbinden das ZNS mit den Sinnesorganen, den inneren Organen, der Muskulatur und der Haut, vergleichbar mit bioelektrischen Kabeln. Bemarkte und unbemarkte Nervenfasern (Axone, Achsenzylinder) sind Nervenzellfortsätze, die, in Faszikeln gebündelt, die peripheren Nerven bilden. Deren Funktion ist die elektrochemische Signalübermittlung. Es werden vom ZNS wegführende (efferente) und zum ZNS hinführende (afferente) Signale unterschieden. Der resultierende Effekt eines Nervensignals am Zielorgan kann motorischer oder sensorischer Art sein.

Sekretion ist ein Sonderfall einer motorischen, Sensibilität eine spezielle Qualität einer sensorischen Funktion. Willkürliche (animale) wird von unwillkürlicher (vegetativer) Motorik unterschieden. Letztere umfasst Vasomotorik, Darm- und Drüsenmotorik. Übergänge zu und Kombination mit humoral gesteuerten, d.h. nervenfaserfreien Kontraktions- und Sekretionsvorgängen sind die Regel. Es gibt zahlreiche Modulationsmöglichkeiten und Interaktionen mit dem endokrinen System (deshalb „neuroendokrines System“). Bemarkte Nervenfasern werden von Myelin, einer komplexen membranären Sphingolipoproteinstruktur, eingefasst. Die Strecke der Bemarkung durch eine myelinisierende Zelle wird Internodium oder Myelinsegment genannt (Länge 200–800 μm). Ranvier-Schnürringe (Zellgrenzen der bemarkenden Zellen) bilden den Abschluss eines Myelinsegmentes. Isolierendes Myelin und permeable axonale Ionenkanäle bilden die strukturelle Grundlage der Nervenleitung (saltatorische Überleitung). Peripheres und zentrales Myelin sind verschieden: Schwann-Zellen (PNS) integrieren Protein-Zero (P0) und peripheres Myelinprotein 22 (PMP 22), während Oligodendrozyten (ZNS) Phospholipoprotein (PLP) einbauen (Abb. 10-1).

10.1.2 Funktionelle Abhängigkeit der Skelettmuskulatur vom peripheren Nervensystem Die für Willkürmotorik spezialisierte Skelettmuskulatur wird über eine besondere Form der Synapse, die muskuläre cholinergische Endplatte, elektromechanisch gekoppelt. Eine direkte neuronale Signalübertragung besteht auch für die Afferenzen von Sensibilitätsqualitäten der Sinnesorgane von Muskulatur und Haut. Die Zielzelle ist hier ein Interneuron oder ein motorisches Neuron im Rückenmark. Die funktionelle Abhängigkeit der Skelettmuskulatur von der peripheren Innervation kommt in dem Begriff des „neuromuskulären Systems“ zum Ausdruck. Ein einzelnes Motoneuron mit seinen zugehörigen Muskelfasern (= motorische Einheit) und deren sensorische Rückkoppelung bilden den Reflexbogen. Dieser Reflexbogen ist die funktionelle und morphologische Grundlage für das Verständnis neuromuskulärer Krankheiten. Eine Schädigung des peripheren Nervensystems resultiert obligat in einer Pathologie der quergestreiften Muskulatur (neurogene Muskelatrophie). Umgekehrt hat dagegen eine primäre Muskelkrankheit erst spät Veränderungen der peripheren Nerven zur Folge.

10.1.3

Ort der Einwirkung einer pathogenen Noxe

Bei neurogener Muskelatrophie ist vom Ausfallsmuster im Muskel nur bedingt auf den Ort der Schädigung des peripheren Nervs zu schließen. Vorderhornmotoneuron, proximale motorische Wurzel, proximaler peripherer Nerv und distale periphere Nervenäste können bei unterschiedlichen Krankheiten betroffen sein und ähnliche neurogene Ausfälle im Muskel bewirken. Klinische Information über das

Verteilungsmuster einer Muskelschwäche und Angaben über eine Mitbeteiligung der Sensibilität sind daher von entscheidender diagnostischer Bedeutung.

Abb. 10-1

Myelinproteine (modifiziert nach J. Kwon).

MAG = myelinassoziiertes Glykoprotein; PMP 22 = peripheres Myelin-Protein 22; Cx 32 = Connexin 32 (siehe auch Tab. 10-1); P0 = Protein Zero; MBP = MyelinBasic-Protein.

10.1.4 Häufigkeit von anlagebedingten Krankheiten des neuromuskulären Systems Das Fehlen von ganzen Nervenzellpopulationen im Darm (Dys- und Aganglionose) oder ein Mangel sudorimotorischer sympathischer Nervenfasern in den peripheren Nerven bei hereditärer sensorischer Neuropathie mit Anhidrose und Muskelaplasie (HSN/HSAN Typ IV; siehe Kap. 10.2.6 und Tab. 10-1) sind seltene genetisch bedingte Krankheiten. Fehlbildungen des PNS und der Skelettmuskulatur kommen, anders als im ZNS, kaum vor.

10.2 10.2.1

Pathologie des peripheren Nervensystems Entwicklung, normale Struktur und Funktion

Leitungssystem der peripheren Nerven Zum peripheren Nervensystem zählen die Hirnnerven (mit Ausnahme der als N. olfactorius und N. opticus bezeichneten Hirnbahnen), die spinalen sowie sympathischen und parasympathischen Nerven. Die Zellkörper efferenter Axone der Willkürmotorik liegen im ZNS (Rückenmark oder Hirnstamm). Periphere Nerven sind

ein Gemisch von Neuriten (Axone) motorischer und sensorischer Nervenzellen, eingebettet in bindegewebige Hüllen (Epi-, Peri- und Endoneurium).

Abb. 10-2 Klinisch-neurographische Befunde bei Neuropathien.

a Normaler Nerv mit normalem Summenpotential. b Demyelinisierung. Es findet sich ein aufgesplittertes Summenpotential nach erhöhter Latenz (unveränderte Zahl unterschiedlich schnell leitender Axone). c Axonopathie. Die Amplitude des Summenpotentials ist – bei normaler Latenz – reduziert (weniger, aber normal leitende Axone).

Diagnostische Methodik bei peripheren Neuropathien Klinisch wird mit der Elektroneurographie die Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) von subkutanen Nerven unter standardisierten Bedingungen (z.B. Hauttemperatur) bestimmt. Eine Verlangsamung der NLG mit Aufsplitterung und erhöhter Latenz des Summenpotentials findet sich typischerweise bei Entmarkung (Demyelinisierung). Charakteristisch für den Nervenfaserverlust bei Axonopathie ist die Abnahme der Amplitude des Summenpotentials (Abb. 10-2). Die morphologische Diagnostik ergänzt bei der Abklärung einer Nervenerkrankung die klinischen, elektrophysiologischen, genetischen und laborchemischen Befunde. Die histologische Beurteilung eines peripheren Nervs sollte am Paraffinschnitt (4 μm), Kunststoffsemidünnschnitt (1 μm), Zupffaserpräparat (längs orientierte Einzelfaserdarstellung 1:1) und elektronenoptisch (< 0,1 μm) erfolgen. Molekularbiologische Techniken am histologischen Schnitt werden zunehmend integriert. Der N. suralis ist der Nerv der Wahl für eine periphere Nervenbiopsie. Dies ist bedingt durch seine leicht zugängliche Lage (subkutan, retromalleolär-lateral) und den geringen sensiblen Funktionsausfall nach Durchtrennung. Auch ist seine Morphologie in der Literatur gut dokumentiert.

10.2.2 Definitionen und Epidemiologie von Neuropathien Begriffe der peripheren Neuropathologie und Neurologie Als Neuropathien werden alle peripheren Nervenkrankheiten zusammengefasst. Neuropathien können einen einzelnen (Mononeuropathie), zahlreiche (Polyneuropathie) oder nur vegetative Nerven (autonome Neuropathie) betreffen. Sprunghafter und wechselnder Befall von einzelnen Nerven kennzeichnet die Mononeuritis multiplex charakteristisch z.B. bei Vaskulitiden der Vasa nervorum. Bei einer Krankheit vorwiegend der Nervenwurzeln spricht man von Radikulopathien und in Kombination mit distalen Läsionen von Radikuloneuropathien. Sind entzündliche Veränderungen vorhanden (Leukozyten, Makrophagen, akute Destruktion), erhalten diese Begriffe das Suffix „-itis“. Die Unterscheidung zwischen „degenerativen“ Neuropathien und Neuritiden ist nicht immer möglich.

Morphologische Grundmuster von Neuropathien Den zahlreichen Krankheitsentitäten (= nosologische Krankheitsgruppen), bei denen Neuropathien auftreten, steht das limitierte Spektrum der morphologischen Veränderungen gegenüber. Der Nerv hat nur beschränkte und daher stereotype Möglichkeiten, auf Schäden zu reagieren. Grundsätzlich kann der periphere Nerv in drei Kompartimenten geschädigt sein:

Abb. 10-3 Pathologische Reaktionsmuster bei Neuropathien.

Axonale Degeneration und segmentale Demyelinisierung können ineinander übergehen und schließlich beide in eine WallerDegeneration einmünden. ■

axonal



myelinär (Schwann-Zelle)



interstitiell, einschließlich der Vasa nervorum.

Noxen, die eines der Kompartimente schädigen, führen in der Regel zur sekundären Schädigung mindestens eines weiteren Kompartimentes. Das Endstadium eines kompletten Markfaserzerfalls (Myelin und Axon) und damit die Folge einer kompletten Kontinuitätsunterbrechung wird Waller-Degeneration genannt (Abb. 103). Sie kann auch primär vorliegen (siehe Kap. 10.2.3). Morphologische Grundmuster können primär kombiniert vorkommen (primäre axonale und primäre demyelinisierende Neuropathie bei Diabetes mellitus Typ I) (siehe Kap. 10.2.4).

Neuronopathie Der primäre Krankheitsbefall von neuronalen Zellkörpern wird mit dem Ausdruck Neuronopathie belegt (= „motoneuron diseases“, siehe Kap. 8.8.8). Obwohl die Auswirkungen auf den peripheren Nerv evident sind (Axonverlust; vergleiche Abb. 10-4a und Abb. 10-4e), werden Neuronopathien primär nicht als periphere Nervenkrankheiten eingeteilt. Bei vererbten Formen bestehen aber Überschneidungen mit der Klassifizierung als hereditäre motorische Neuropathien (HMN; siehe Kap. 10.2.6). Bekanntestes Beispiel einer erworbenen Motoneuronenerkrankung ist die myatrophe (früher: amyotrophe) Lateralsklerose (ALS; siehe Kap. 8.8.8).

Epidemiologie von Neuropathien Primäre Krankheiten der peripheren Nerven sind sehr selten. Die Prävalenz ist geographisch variabel und erreicht etwa für hereditäre Formen ein Maximum von 40 Patienten pro 100000 Einwohner (für die HMSN Typ I in Norwegen). Dagegen sind Nervenerkrankungen als Folge anderer Erkrankungen und von Intoxikationen häufig bis obligat (60–100%). So ist beim Diabetes mellitus bei bis zu 60% der Patienten mit einer sekundären Polyneuropathie zu rechnen. Früher dachte man deswegen, dass der Diabetes mellitus Folge einer Nervenstörung sei. Der Alkohol ist durch direkte axonale Toxizität und durch malnutritiv bedingte Vitaminmangelzustände ein obligates Neurotoxin.

10.2.3

Waller-Degeneration

Definition Als Waller-Degeneration bezeichnet man den kompletten Nervenfaserzerfall aufgrund einer Unterbrechung von Axon und Markscheide (Abb. 10-4b).

Ätiologie Ursachen können sein: traumatische Durchtrennung des Axons; viraler Infekt; Ischämie des Axons und/oder Neurons, z.B. bei Vaskulitis der Vasa nervorum; toxische Schädigung des Axons. Die Kontinuitätsunterbrechung kann primär oder sekundär auftreten (siehe Abb. 10-3).

Morphologie Akut: hochgradiger Axonverlust mit Fragmentierung von Nervenfasern, Markscheidenabbau und Autophagosomen in Schwann-Zellen mit färberischem Verhalten wie bei kompaktem Myelin.

Subakut: Proliferation von Schwann-Zellen und Vorliegen dünnkalibriger axonaler Gruppen als Hinweis auf regenerative Veränderungen.

Folgen Die antero- und retrograden Transportvorgänge sind gestört. Das Überleben und die anschließende Proliferation der Schwann-Zellen im amputierten Nerventeil als sog. von-Hanken-Büngner-Bänder dienen den zentrifugal regenerierenden Axonen als Leitstruktur. Von entscheidender Bedeutung bei der Regeneration ist der Erhalt der bindegewebigen Hüllen der Nervenfaszikel (Perineurium). Wird das Perineurium zerstört, wachsen axonale Regenerate in das Epineurium aus und können, zusammen mit überschießender Bindegewebs- und Schwann-Zell-Proliferation, zu einem traumatischen Neurom (auch „Amputationsneurom“) führen.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Meist rasch progrediente, häufig plötzliche, vollständige schlaffe Lähmung oder komplette Anästhesie. Neurographisch kein ableitbares Summenpotential.

10.2.4

Primäre axonale Degeneration/Axonopathie

Definition Untergang des Axons bei zunächst erhaltener Myelinscheide (Abb. 10-4c).

Ätiologie Die primäre axonale Degeneration kommt bei metabolischen (Diabetes mellitus) und toxischen (Alkoholabusus), aber auch hereditären Krankheiten (neuronale Form des Morbus Charcot-Marie-Tooth; HMSN Typ II: siehe Kap. 10.2.6) vor.

Morphologie Die axonale Degeneration beginnt häufig distal (entfernt vom neuronalen Zellkörper) und setzt sich nach proximal fort („dying-back“). Typisch sind Verdichtungen des axonalen Zytoskeletts (Neurofilamente), axonale Schwellung oder Verkleinerung des axonalen Durchmessers und Unregelmäßigkeiten der Axonmembran. Das Myelin ist erhalten, hebt sich von der Axonmembran ab oder zeigt Zeichen des sekundären Abbaus.

Klinisch-pathologische Korrelationen

In der Neurographie findet man eine Reduktion des Summenpotentials bei normalen Leitgeschwindigkeiten (Abb. 10-2c; Anzahl, aber nicht Qualität der noch verbleibenden Nervenfasern ist reduziert). Die Muskelkraft ist vermindert (Ausfall motorischer Einheiten).

Abb. 10-4 Schädigungsorte und -mechanismen des peripheren Nervs.

(Motorisch: rot, mit skizzierter muskulärer Endplatte. Sensibel: blau, mit dargestelltem Tastkörperchen.) a Normal. b Waller-Degeneration. Die Schädigung kann sowohl durch Unterbrechung des Axons als auch durch viralen Infekt oder Ischämie des Neurons erfolgen. c Primäre axonale Degeneration (beginnt meist distal). d Primäre segmentale Demyelinisierung. e Neuronopathie.

10.2.5 Primäre segmentale Demyelinisierung/Entmarkung Definition Untergang der Myelinscheide (meist segmental begrenzt) bei zunächst erhaltenem Axon (Abb. 10-4d).

Ätiologie und Pathogenese Ursachen sind Lipid-, Protein- und andere Stoffwechseldefekte, hereditäre Störungen der Myelinsynthese mit Mutationen in myelinspezifischen Proteingenen oder entzündliche und Immunreaktionen gegen basisches Myelinprotein. Bei manchen primären Demyelinisierungsprozessen sind sowohl das zentrale wie das periphere Myelin betroffen, wie z.B. bei Leukodystrophien. Eine sekundäre segmentale Demyelinisierung kann immer als Folge einer primären axonalen Schädigung auftreten (siehe Abb. 10-3), so bei Axonatrophie oder -auftreibung (z.B. bei Riesenaxonneuropathie). Bei simultaner Läsion von Axon und Markscheide spricht man von gemischt axonaler und demyelinisierender Neuropathie.

Morphologie Floride Entmarkungen hinterlassen parakristalline Myelinabbauprodukte (Myelinovoide) und orthochromatische Autophagosomen in Schwann-Zellen bei intakten Axonen. Bei chronischer, wiederholter Demyelinisierung kommt es zur Remyelinisierung unter Vermehrung von Schwann-Zellen, die charakteristische „Zwiebelschalen“ (mehrere Zytoplasmalagen) um die Axone lagern (Abb. 10-5).

Klinisch-pathologische Korrelationen Durch rezidivierende Entmarkung und Wiederbemarkung kann das Bild der palpablen, verdickten Nerven im Sinne der „hypertrophen“ Neuropathie entstehen. Die Nervenleitgeschwindigkeiten sind hochgradig verlangsamt (Abb. 10-2b). In akuten Fällen kommt es zum Leitungsblock.

Vaskuläre und interstitielle Prozesse Definition Sekundäre Schädigung des Nervs als Folge primärer Veränderungen der Vasa nervorum bzw. des interstitiellen Raumes im Rahmen einer systemischen Erkrankung, z.B. der Amyloidose.

Ätiologie und Pathogenese ■ Vaskulär: Vaskulitiden führen zu Wandzerstörungen und Thrombose der Vasa nervorum mit sekundärer ischämischer Nervenläsion. Wegen einer hohen Dichte von Präarteriolen sind die Vasa nervorum Prädilektionsort für Entzündungen der arteriellen Endgefäße. ■ Interstitiell: Familiäre Amyloidneuropathien können auf Mutationen im Transthyretin-, Apolipoprotein-A-1- oder Gelsolin-Gen zurückgeführt werden. Fibrilläre Polymerisate der Defektproteine lagern sich extrazellulär endo- und epineural ab (siehe Kap. 46.3.4).

Morphologie

Bei vaskulitischer Neuropathie findet sich ein inhomogener Ausfall von Nervenfasern sämtlicher Kaliber. Im akuten Stadium imponiert die WallerDegeneration mit Abbau von Myelin und Axonen. Nicht immer sind vaskulitische Läsion und Nervenschaden zugleich im histologischen Schnittpräparat nachweisbar. Bei Amyloidosen ist ein Verlust von unbemarkten und kleinen bemarkten Nervenfasern typisch. Die großen Markfasern können lange erhalten bleiben.

Abb. 10-5 Chronische demyelinisierende und remyelinisierende Neuropathie mit Verlust markhaltiger Nervenfasern.

a HMSN Typ III (siehe Tab. 10-1). „Zwiebelschalenbildung“ durch proliferierende Schwann-Zellen. N.-suralis-Biopsie, Semidünnschnitt (1 μm) in Eponmedium („Plastikschnitt“), Methylenblau-Azur II nach Richardson. Vergr. 400fach. b HMSN Typ I. „Zwiebelschalenbildung“ aus konzentrischen Schwann-ZellFortsätzen (Pfeile). Elektronenmikroskopie, OsO4(Osmiumtetroxid)-UranylacetatKontrastierung, Vergr. 5800fach.

Klinisch-pathologische Korrelationen Vaskulitische Neuropathien imponieren klinisch häufig als Mononeuritis multiplex (siehe Kap. 10.2.2) und zeigen einen schubartigen, sprunghaften Verlauf. Amyloidablagerungen im Sehnengewebe des Karpaltunnels können zu Druckläsionen des Nervus medianus führen (eine mögliche Ursache des sog. Karpaltunnelsyndroms).

10.2.6 Wichtige ätiologische Gruppen von Neuropathien Neben den primären Formen (primäre Neuropathien) sind Neuropathien häufige Begleitkrankheiten (sekundäre Neuropathien) im Rahmen von generalisierten Krankheitsprozessen, z.B. bei Diabetes mellitus, Urämie, Vaskulitis, Paraproteinämie, Amyloidose. Chronische Störungen des intermediären Stoffwechsels sind fast obligat neuropathogen (Metabolitenakkumulation, Vitaminmangel).

Hereditäre Neuropathien Definition Es handelt sich um primäre Neuropathien, bedingt durch den Funktionsverlust myelinärer oder axonaler Proteine oder Proteolipide. Eine zweite Gruppe umfasst Störungen der Glyko-, Sphingo- und Proteolipidstoffwechsel, häufig mit generalisierter Speicherung intermediärer Stoffwechselprodukte (siehe Kap. 46.2).

Ätiologie und Pathogenese Hereditäre Neuropathien werden heute in drei große Gruppen eingeteilt, die entsprechend molekulargenetischer Befunde in weitere Untergruppen gegliedert werden: ■ hereditäre motorisch-sensorische Neuropathien (HMSN Typen I–VI) ■ hereditäre motorisch-sensorische Neuropathienen (HSN) bzw. hereditäre sensorisch-autonome Neuropathien (HSAN Typen I–V)

■ hereditäre motorische Neuropathien (HMN Typen I–V). Diese Einteilung basiert auf klinischen, histologischen und molekulargenetischen Kriterien. Dabei sind aber Krankheitsentitäten zusammengefasst, die pathogenetisch sehr verschieden sein können. Die Prävalenz hereditärer motorischsensorischer Neuropathien beträgt ca. 30/100000. Daneben bestehen hereditäre metabolische Störungen und Speicherkrankheiten, die das periphere Nervensystem im Rahmen einer Multiorganpathologie mit schädigen. Hier sind Enzymdefekte anzuführen, die nicht spezifisch, aber Schlüsselreaktionen für den Metabolismus der Nerven sind. Lipidsynthese- und abbaustörungen wie die lysosomale metachromatische Leukodystrophie (Mangel an Arylsulfatase A), die Globoidzell-Leukodystrophie (Morbus Krabbe; Mangel an Galaktosylzeramid-β-Galaktosidase), die Adrenoleukodystrophie (Störung der βOxidation mit Akkumulation von 25/26-C-Fettsäuren) oder auch Mitochondriopathien (z.B. Morbus Leigh: u.a. Mangel an Pyruvatdekarboxylase) sind bekannte Beispiele. Von den neuropathogenen Speicherkrankheiten seien die Sphingolipidosen und Mukopolysaccharidosen nur erwähnt (siehe Kap. 8.7.5 und 46.2).

Abb. 10-6 N. suralis bei hereditärer Neuropathie mit Neigung zu Druckläsionen.

Typisch dafür sind tomakulöse Verdickungen des Myelins. a Zupfpräparat, Faserlängsverlauf b Semidünnschnitt quer, Methylenblau; Vergr. 400fach.

Morphologie Das Charakteristikum der HMSN ist die Zwiebelschalenformation der SchwannZellen besonders bei HMSN Typ I (Charcot-Marie-Tooth I) und Typ III (DéjerineSottas; siehe Abb. 10-5). Zudem proliferieren die Schwann-Zellen endoneural und produzieren vermehrt Kollagen. Als Folge davon werden die Nerven dick und derb und erscheinen fast marklos („hypertrophe Neuropathie“). Typisch für die hereditäre Neuropathie mit Neigung zu Druckläsionen sind tomakulöse Verdickungen des Myelins (tomaculum, lat. = „Würstchen“) wegen genetisch bedingter Adhäsions- und Kompaktierungsstörung der peripheren

Myelinlamellen (Abb. 10-6). Hierbei kommt es auch zur segmentalen Demyelinisierung von klinisch nicht betroffenen Nerven. Bei Speicherkrankheiten und Stoffwechseldefekten, die mehrheitlich demyelinisierend sind, können charakteristisch strukturierte, elektronenoptisch fassbare Einschlusskörper im Rahmen der Entmarkungsvorgänge auf den Enzymdefekt hinweisen.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die hochgradige Verlangsamung der Nervenleitgeschwindigkeit (siehe Abb. 102b) in der Elektroneurographie steht im Kontrast zu einer geringen subjektiven Behinderung des Patienten. Orthopädische Probleme mit Fehlstellungen der Füße (Pes equinovarus) sind oft Folge einer langjährigen Neuropathie mit Beginn im Jugendalter. Bei Stoffwechseldefekten und Speicherkrankheiten stehen Symptome des ZNS im Vordergrund. Bei der hereditären Neuropathie mit Neigung zu Druckläsionen findet sich klinisch neben einer generellen Verlangsamung der Nervenleitgeschwindigkeit eine Neigung zu Paresen infolge inadäquater Traumen, besonders bei Druckbelastung (z.B. Rucksacklähmung).

Entzündliche Neuropathien/Neuritiden Durch bekannte Erreger bedingte Neuritiden Definition und Ätiologie Durch bekannte Erreger (Varicella Zoster, Borrelia burgdorferi, Mycobacterium leprae) hervorgerufene Entzündung der peripheren Nerven, oft mit direkter akuter entzündlicher Schädigung.

Pathogenese Bei erregerbedingten Neuritiden arbeitet das Immunsystem primär auf Erregerelimination hin. Das erregerhaltige neurale Stroma und Parenchym werden durch antikörpermediierte Zytotoxizität zerstört.

Morphologie

Die Präsenz von intraaxonalen Erregern mit ausgeprägter axonaler Degeneration prägt das Bild der Lepra lepromatosa (Abb. 10-7). Ansonsten eher unspezifische lymphozytäre, entzündliche, endoneurale Infiltrate mit axonaler Degeneration und/oder primärer segmentaler Demyelinisierung.

Klinisch-pathologische Korrelationen Zoster-Neuritiden sind typischerweise äußerst schmerzhaft, segmental und begleitet von bläschenförmigen Hauteffloreszenzen (Abb. 10-8). Die Infektion mit Borrelia burgdorferi ist eine durch Zecken übertragene Zoonose. Die als Lyme-Disease ursprünglich in Lyme (Connecticut, USA) beschriebene Krankheit kann ohne sofortige antibiotische Behandlung (Penizillin) in schwerer Invalidität oder mit dem Tod enden.

Abb. 10-7 Elektronenmikroskopische Darstellung (7500fach) mit Mycobacterium leprae (mb) in Schwann-Zell-Zytoplasma.

Unbemarktes Axon (ax). Im Inset (15000fach) Mykobakterienquerschnitt innerhalb eines bemarkten Axons. OsO4-Uranylacetat-Kontrastierung.

Abb. 10-8 Herpes zoster der Haut.

a Intraepidermales Bläschen (Pfeile: Epidermis). Im Bläschenlumen finden sich massenhaft Kopien von Varicellazoster-DNA; Sterne: kutane lymphozytäre Entzündung. HE, Vergr. 25fach. b In-situ-Hybridisierung mit spezifischer DNA-Sonde, Markierung mit alkalischer Phosphatase, sog. APAAP-Methode, Vergr. 100fach.

Immunpathologisch bedingte Neuritiden (speziell Guillain-Barré-Syndrom) Definition und Ätiologie Durch immunpathologische Vorgänge induzierte Neuritiden, bei denen myelinverwandte Fremdantigene eine immunologische Kreuzreaktion gegen periphere Myelinbestandteile (Ganglioside) auslösen und zusätzlich die Zytokinregulation gestört ist.

Pathogenese Das Guillain-Barré-Syndrom wurde bis vor kurzem als postinfektiöse Autoimmunkrankheit angesehen (im Sinne einer Typ-IV-Immunreaktion). Seit kurzem wird eine Kreuzantigenität zwischen Oberflächenantigenen von Campylobacter jejuni und Gangliosiden des peripheren Myelins als Ursache angenommen.

Morphologie Meist endoneurale, lockere lymphoplasmozelluläre und histiozytäre Infiltrate, besonders im Bereich der peripheren (vorderen; motorischen) Spinalnervenwurzeln und der motorischen Hirnnervenwurzeln, bis in endomysiale Nervenäste reichend. Es dominiert das Bild der primären segmentalen Demyelinisierung und der Waller-Degeneration. Ultrastrukturell findet man Makrophagen, die aktiv Myelin von Axonen „strippen“ und phagozytieren.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die schlaffen Lähmungen der Polyradikuloneuritis Guillain-Barré sind lebensgefährlich (Atemlähmung), aber zu einem großen Teil reversibel. Therapeutisch wird nebst Immunsuppressiva gelegentlich die Plasmapherese eingesetzt, um Paresen zu mildern. Laborchemisch ist eine Proteinerhöhung ohne wesentliche Zunahme der Zellzahl im Liquor typisch (dissociation albuminocytologique). Dieselbe Erkrankung mit Betonung der Hirnnerven wird als Miller-Fisher-Syndrom bezeichnet.

Metabolische Neuropathien Definition Metabolische Neuropathien sind sekundäre Neuropathien auf dem Boden von Stoffwechselerkrankungen.

Ätiologie Zugrunde liegen Diabetes mellitus, chronische Nieren-, Leber- und Schilddrüsenfunktionsstörungen sowie Vitaminmangelzustände.

Pathogenese Die inadäquate Entgiftung intermediärer Stoffwechselprodukte führt zu multifaktoriellen Störungen des neuroaxonalen und des Schwann-ZellMetabolismus.

Morphologie Man findet uncharakteristische axonal degenerative und demyelinisierende Mischbilder mit, je nach Schweregrad, Verlust von Nervenfasern aller Klassen. Beim Diabetes mellitus kann die unbemarkte und dünn bemarkte Faserpopulation besonders betroffen sein. Bei schwerer diabetischer Mikroangiopathie der Vasa nervorum (Basalmembranverdickungen) zeigen sich zusätzlich vaskuläre (ischämische) Läsionen.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die diabetische Neuropathie gehört zu den häufigsten stoffwechselbedingten Nervenerkrankungen. Das klinische Spektrum reicht von einer symmetrischen, distal betonten sensomotorischen Polyneuropathie bis zur schmerzhaften proximalen Mononeuritis multiplex (z.B. des N. femoralis). Oft ist das autonome Nervensystem beteiligt. Vegetative Störungen können ganz im Vordergrund des klinischen Beschwerdebildes stehen (siehe Kap. 46.3.2).

Toxische Neuropathien Ätiologie Diese Neuropathien werden durch exogene neurotoxische Substanzen hervorgerufen. Eine große Anzahl toxischer Substanzen schädigen das Nervensystem. Zyklische Kohlenwasserstoffe, Chemotherapeutika (INH), VincaAlkaloide, Nitroverbindungen (Nitrofurane), Schwermetalle und nicht zuletzt Methyl- und Äthylalkohol sind obligate Neurotoxine.

Morphologie Die meisten toxischen axonalen Neuropathien beginnen distal und schreiten nach proximal fort (dying-back neuropathy). Das dominierende pathomorphologische Grundmuster ist die axonale Degeneration. Kondensierung des Axoplasmas, Neurofilament- und Organellenakkumulationen sowie Schrumpfung und/oder Dilatation der

Achsenzylinder, bei zunächst erhaltenen Markscheiden, weisen auf eine primäre axonale Schädigung hin. In vielen Fällen kann ein gestörter axonaler Transport beobachtet werden. Schwann-Zellen können Fragmente der Axone phagozytieren.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Der Zusammenhang mit einer möglichen toxischen Genese einer Neuropathie muss u.a. mit einer genauen Arbeitsanamnese erfragt werden. Bei der alkoholischen Neuropathie kommt es oft zu einem Mischbild der direkten toxischen Wirkung und den Auswirkungen der Malnutrition durch Vitaminmangelzustände.

10.3 10.3.1

Pathologie der Skelettmuskulatur Entwicklung, normale Struktur und Funktion

Reife Skelettmuskelfasern sind in Längs richtung fusionierte Muskelzellen Muskelfasern entwickeln sich aus dem Mesoderm (Myotome) und sind ein aus mehreren Muskelzellen längs fusionierter Verband (echtes mehrkerniges Synzytium) mit dem kontraktilen Apparat als Besonderheit. Erst die Innervation ermöglicht einen spezifischen Stoffwechsel, der sich u.a. in einer unterschiedlichen Typenbildung von Muskelfasern zu erkennen gibt. Grob unterscheidet man: ■

Typ-I-Fasern (langsame, tonische, oxidative Fasern)



Typ-II-Fasern (schnelle, phasische, glykolytische Fasern).

Die Typendifferenzierung ist bei Geburt abgeschlossen. Eine gesonderte Myoblastenpopulation bleibt metabolisch wenig aktiv und lagert sich den reifen Muskelfasern als Satellitenzellen an. Diese bilden ein zelluläres Regenerationspotential nach Muskelfaseruntergang. Eine Muskelfaser ist ein Bündel von Myofibrillen (Abb. 10-9). Die Myofibrillen bestehen aus zahlreichen hintereinander angeordneten Segmenten (Sarkomere), die durch Z-Scheiben voneinander getrennt sind. Die Sarkomere werden aus dünnen (Aktin) und dicken (Myosin) Myofilamenten gebildet. Mehrere Proteine sind mit den Aktinfilamenten assoziiert (α-Aktin, Tropomyosin und Troponin) oder mit den Myosinfilamenten (C-Protein). Ein Netz von Desmin (Intermediärfilament) umgibt die Z-Scheiben. Der subsarkolemmale Dystrophinkomplex (Dystrophin mit Syntrophin und Dystrobrevin) verankert die Aktinfilamente in der Plasmamembran der Muskelfaser. Weitere wichtige, z.T. extrazelluläre Strukturproteine, die mit Dystrophin interagieren, sind Sarkoglykane und Dystroglykane sowie Laminine und

Integrine. Das sarkotubuläre Netzwerk, das über die transversalen Tubuli mit dem Extrazellularraum kommuniziert, dient dem Ionenaustausch (v.a. Kalzium). Aus der speziellen ultrastrukturellen und funktionellen Situation folgt, dass bei einer Vielzahl pathologischer Veränderungen eine elektronenoptische Untersuchung nötig wird.

Tab. 10-1 Exemplarische Gen-/Proteindefekte bei ausgewählten neuromuskulären Krankheiten.

Diagnostische Methodik muskulärer Krankheiten Das klinische Bild ist geprägt durch Muskelschwäche, -atrophie und/oder Spontanaktivität (Faszikulationen). Pathologische Prozesse können grundsätzlich den Kontraktions- oder den Relaxationsvorgang betreffen. Klinik, genetisches Muster (Tab. 10-1), Prädilektionsorte, Elektromyographie und Muskelbiopsie führen meist zur Diagnose (siehe Abb. 10-11). Die Erhöhung der Kreatinkinase im Serum spricht für Muskelfaseruntergang. In der Elektromyographie unterscheidet man ein neurogenes, ein myopathisches und ein myositisches Gewebemuster. An diese Diagnostik schließt sich die Muskelbiopsie an, die histologische, enzymhistochemische, immunhistochemische, elektronenoptische und morphometrische Daten liefert.

Abb. 10-9 Wichtige muskuläre Membranproteine (modifiziert nach J. Kwon) und Dystrophinkopplung der kontraktilen Filamente.

10.3.2

Neurogene Muskelatrophie

Spinale und periphere Muskelatrophien Definition und Epidemiologie Die neurogene Muskelatrophie ist eine Folge der Denervierung. Sie ist im Erwachsenenalter die häufigste Gruppe neuromuskulärer Krankheiten. Sämtliche erworbenen peripheren motorischen Neuropathien mit ihren Auswirkungen auf die Muskulatur gehören in diese Gruppe.

Ätiologie Die Ursachen der Denervierung liegen spinal (im Vorderhornmotoneuron) oder bulbär (in den Hirnnervenkernen), radikulär oder distal im Nerv selbst. Neurogene Prozesse sind entweder hereditär oder erworben. Spinale Muskelatrophien werden nach Erbgang, Verteilungsmuster und Beginn der Krankheit in infantile, juvenile und adulte Formen eingeteilt. Sporadisches Auftreten kommt vor. Wenig progressive kongenitale spinale Muskelatrophien werden, gemäß dem Ausfall motorischer Nervenfasern, auch den hereditären motorischen Neuropathien zugeordnet (HMN-Typen, siehe Kap. 10.2.6). Spinale Muskelatrophien folgen verschiedenen Erbgängen und treten überwiegend im Kindesalter auf. Die infantile spinale Muskelatrophie Werdnig-Hoffmann und die X-chromosomale bulbospinale Muskelatrophie (Gendefekte siehe Tab. 10-1) führen, trotz unterschiedlicher Gendefekte, zur pathogenetisch unklaren, gemeinsamen phänotypischen Endstrecke der Motoneuronendegeneration. Dies trifft auch für die familiäre und sporadische myatrophe (früher: amyotrophe) Lateralsklerose (ALS) zu.

Abb. 10-10 Neurogene Muskelatrophie.

Typengruppierung: Statt normaler schachbrettartiger Durchmischung der Typ-Iund Typ-II-Fasern erfolgt eine Gruppierung von Fasern gleichen Typs. Ursache ist die kompensatorische kollaterale Reinnervation durch eine benachbarte motorische Einheit und dadurch eine „Gleichschaltung“ der Fasertypen einer Geweberegion (neurogener Umbau) ggf. mit Wiederherstellung der Faserkaliber (vgl. Abb. 10-11). Gefrierschnitttechnik (unfixierter Gewebeschnitt) und enzymhistochemischer Nachweis von ATPase bei pH 9,5. Vergr. 100fach.

Morphologie und Verlauf Spinale und peripher-neurogene Muskelatrophie sind nicht unterscheidbar. Zu Beginn findet sich eine disseminierte Einzelfaseratrophie. Später kommt es zur Reinnervation denervierter Muskelfasern durch kollaterale, noch intakte motorische Einheiten mit Typengleichschaltung (sog. Fasertypengruppierung; Abb. 10-10). Schließlich folgt die Gruppenatrophie (Abb. 10-11, 10-12b und c). Bei langsam progredienten neurogenen Prozessen kann die Gruppenbildung einheitlicher Fasertypen – auch ohne Atrophie – der einzige Hinweis auf eine neurogene Muskelerkrankung sein. Die Inaktivität eines Muskels über längere Zeit, zum Beispiel bei Immobilisation nach Fraktur, führt zu einer reversiblen Atrophie der Typ-II-Fasern (sog. selektive Typ-II-Faseratrophie).

Abb. 10-11 Schritte der neurogenen Atrophie schematisch.

Dargestellt sind zwei motorische Einheiten, die nacheinander ausfallen. a Normalzustand. b Ausfall einer motorischen Einheit (akut – subakut). c Zunächst kompensiert die benachbarte motorische Einheit den Ausfall (mit Typengleichschaltung, sog. „type grouping“; siehe auch Abb. 10-10).

d Später degeneriert das kompensierende Neuron, und man erkennt die typische Gruppenatrophie.

Abb. 10-12 Synopsis typischer Histologien bei Muskelkrankheiten.

a Normale Skelettmuskulatur. Dargestellt sind Muskelfasern mit peripher gelegenen Zellkernen. Zwischen den Fasern Kapillaren. Schachbrettartige Durchmischung der Muskelfasern. b Neurogene Atrophie, Frühstadium mit Einzelfaseratrophien. c Neurogene Atrophie, Spätstadium. Gruppenatrophie und Kernkonglomerate. d Myopathie/Muskeldystrophie. Vakatwucherung von Fett- und Bindegewebe (1), Einzelfaseruntergänge mit Myophagie (2), Degeneration des zentralen Sarkoplasmas (3, Zielscheibenfaser) und Vermehrung von zentral gelegenen Zellkernen (4). e Myotubuläre (zentronukleäre) kongenitale Myopathie. Unreife Muskelzellen (oder Muskelfasern). f Myositis, Typ Dermatomyositis. Perivaskuläre Entzündung mit perivaskulären Lymphozytenansammlungen. g Myositis, Typ Polymyositis. Endomysiale Entzündung mit Myophagie. h Metabolische Myopathie. Perivaskuläre Lymphozytenansammlungen und/oder Fettstoffwechselstörung (z.B. Karnitin-Mangel) mit Fettspeicherung. Die mitochondriale und metabolische Myopathie können auch kombiniert auftreten. i Mitochondriale Myopathie. Vermehrung von Mitochondrien („ragged-red“Fasern).

Klinisch-pathologische Korrelationen Muskelschwäche und Muskelatrophie sind Leitsymptome neurogener Muskelatrophien. Bei Kindern findet sich Muskelhypotonie („floppy infant“), später auch -atrophie. Während bei Kindern und Jugendlichen in der Regel proximale Muskelgruppen mit betroffen sind, findet man bei Erwachsenen häufiger zunächst eine distale Prädilektion. Augenmuskeln sind immer, bulbäre Muskeln oft verschont. Letzteres trifft nicht zu bei bulbärem Befall einer myatrophen (amyotrophen) Lateralsklerose (echte Bulbärparalyse bei ALS). Nicht selten imponieren dann sichtbare Faszikulationen der Zunge (Spontanaktivität). Bei ALS sind das erste und das zweite motorische Neuron von der Degeneration betroffen. Die Lähmungen können daher spastisch und/oder schlaff imponieren.

Komplikationen Durch die neurogene Atrophie von Atem- und Zwerchfellmuskulatur entwickeln sich bei diesen Patienten in der Regel schwere respiratorische Komplikationen, die schließlich zum Tode führen.

10.3.3

Muskeldystrophien und Myopathien

Definition und Epidemiologie Muskeldystrophien sind progrediente, hereditäre, primäre Krankheiten, die mit einer Destruktion der quergestreiften Muskulatur, gelegentlich auch der Herzmuskulatur, einhergehen. Sie werden nach genetischen und klinischen Gesichtspunkten in etwa 20 Formen eingeteilt. Es gibt X-chromosomale, autosomal-dominante und autosomalrezessive Muskeldystrophien. Myopathien unterscheiden sich von Muskeldystrophien durch einen im Vergleich geringeren Gewebeschaden und klinisch weniger aggresiven Verlauf. Myopathien können kongenital oder erworben sein.

Morphologie Das morphologische Bild der Muskeldystrophien ist gekennzeichnet durch Kaliberschwankungen mit disseminierten atrophischen und hypertrophischen Muskelfasern, Vermehrung zentral gelegener Muskelzellkerne, Abrundung der Muskelfasern im Querschnitt und endomysialer Fibrose. Dies entspricht einem Muster, das grundsätzlich als „myopathisch“ bezeichnet wird. Je nach Progredienz der Krankheit können mehr oder weniger Muskelfasereinzelnekrosen mit resorptiven (Myophagie) und regenerativen (Myotubenbildung) Veränderungen hinzutreten. Im Endstadium kann ein großer Teil der Muskulatur durch Binde- und Fettgewebe minderwertig ersetzt sein (Wucherung von Vakatfett- und -bindegewebe; siehe Abb. 10-12d). Gelegentlich ist die Herzmuskulatur am Krankheitsprozess beteiligt.

X-chromosomal vererbte Muskel-dystrophien Epidemiologie Es handelt sich um die Muskeldystrophien vom Typ Duchenne und vom Typ Becker, die beide Mutationen im Dystrophin-Gen aufweisen und zu den häufigsten Muskeldystrophien zählen. Die Inzidenz beträgt ca. 3–4‰ der Knabengeburten für den Typ Duchenne und etwa ein Zehntel davon für den Typ Becker.

Abb. 10-13 Motorische Endplatte: zelluläre Pathologie bei Muskeldystrophie und Myasthenie.

Dystrophinexpression: Fehlt bei Muskeldystrophie vom Typ Duchenne, kann fehlen bei Muskeldystrophie vom Typ Becker. Bei Myasthenie blockieren kompetitive Antikörper gegen den Acetylcholinrezeptor die Bindungsstelle des Liganden Acetylcholin. Der assoziierte Na+-Ionenkanal bleibt geschlossen.

Ätiologie Bei den Muskeldystrophien Typ Duchenne und Typ Becker liegt das mutierte Gen auf dem X-Chromosom (p21; kurzer Arm; Tab. 10-1). Deletionen können in genomischer DNA aus zirkulierenden Leukozyten nachgewiesen werden. Das Proteinprodukt des normalen, sehr großen Gens, Dystrophin, ist subsarkolemmal in der Muskelfaser lokalisiert und dient wahrscheinlich der Halterung kontraktiler Proteine (Abb. 10-13). Sein Fehlen oder sein funktioneller Defekt ist direkte Ursache beider Krankheiten. Dystrophinexpression und ihr Mangel lassen sich immunhistochemisch nachweisen (Abb. 10-14). Dystrophin-assoziierte Membranproteine wie Dystrobrevin sind zusätzlich hochgradig reduziert.

Abb. 10-14 Normale, subsarkolemmal gelegene Dystrophinexpression sämtlicher Muskelfasern.

Primärer Antikörper gegen 60-kD-Segment des Dystrophinmoleküls. Immunfluoreszenz am Gefrierschnitt mit Texasrot als Fluorogen. Vergr. 256fach.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Duchenne-Muskeldystrophie manifestiert sich bereits früh nach der Geburt. Um das 12. Lebensjahr werden die Patienten rollstuhlabhängig. Der rasch progressive Muskelschwund führt ausnahmslos zum Tode der betroffenen Knaben in den ersten zwei Lebensdekaden. Im frühen Kindesalter fällt eine „Pseudohypertrophie“ der Wadenmuskulatur auf („Pseudo-“, weil keine Muskelzunahme, sondern eineabnahme mit Hyperplasie funktionell minderwertiger Füllgewebe auftritt). Zunehmende Schwierigkeiten beim Treppensteigen, Stammaufrichten (mit Abstützen der Hände an den Beinen:

Gowers-Zeichen) und beim Gehen mit Absinken des Beckens nach der Spielbeinseite (Trendelenburg-Zeichen) sind Leitsymptome. Nicht selten entwickelt sich eine Lordose. Die Becker-Muskeldystrophie verläuft gutartiger. Als klinisch-chemischer Marker bei Patienten und symptomatischen Konduktorinnen hat sich die Kreatinkinase im Blut bewährt. Sehr hohe Werte kommen nur bei progressiven Muskeldystrophien, im akuten Schub einer Myositis oder bei akuter Rhabdomyolyse (siehe Kap. 10.3.6) vor.

Andere Muskeldystrophien Autosomal-dominant vererbte Formen werden nach dem bevorzugten klinischen Verteilungsmuster bezeichnet (fazio-skapulo-humerale, distale, okulo-pharyngeale und einige Gliedergürteltypen der Muskeldystrophie). Demgegenüber werden autosomal-rezessive Muskeldystrophien nach dem Beginn der klinischen Symptomatik und der Primärlokalisation eingeteilt. Infantile, juvenile und adulte Formen werden unterschieden. In diese Gruppe gehört die (juvenile) Muskeldystrophie vom Gliedergürteltyp mit häufigem Beginn im Beckengürtel. Die Streuung sowohl der klinischen Erstmanifestation (4.–50. Lebensjahr) wie der primär betroffenen Rumpfmuskelgruppen ist groß. Dystrophinkomplex-assoziierte Proteine (Sarkoglykane und Dystroglykane) sind involviert: Den vererbten Gliedergürteldystrophien („limb girdle dystrophies“) liegen zahlreiche unterschiedliche Mutationen an über 14 Genlokus von dystrophinassoziierten muskulären Membranproteinen zugrunde (Tab. 10-1 und Abb. 10-9).

10.3.4

Myotonien

Definition Es handelt sich um eine heterogene Gruppe von Muskelkrankheiten mit typischen klinischen und elektromyographischen Befunden. Die Störung liegt in der Reizrückbildung und der elektromechanischen Entkoppelung, wobei eine verzögerte Relaxation nach Kontraktion der Muskulatur klinisch im Vordergrund steht.

Morphologie Nebst den bereits angesprochenen allgemeinen myodystrophen Veränderungen ist eine hochgradige Vermehrung zentral gelegener Zellkerne (= myopathisches Zeichen) in den Muskelfasern charakteristisch.

Ätiologie und Pathogenese Molekulargenetisch sind unterschiedliche Gendefekte identifiziert. Die bekannten Mutationen betreffen Proteine der transmembranären Ionenkanal- und austauschermoleküle (Tab. 10-1).

Klinisch-pathologische Korrelationen Nebst Facies myopathica (weinerlicher Gesichtsausdruck, Ptose) fallen die Patienten dadurch auf, dass sie bei der Begrüßung mit längerem Händedruck Mühe haben, den Griff zu lösen. Bei Beklopfen der Muskulatur wird durch protrahierte Kontraktion eine Delle sichtbar. Im akustischen Elektromyogramm hört man das typische Geräusch der sich repetitiv entladenden motorischen Einheitspotentiale mit kontinuierlicher Amplitudenabnahme.

Dystrophia myotonica (Curschmann-Steinert) Definition Die myotone Dystrophie ist eine Multiorgankrankheit, die Herz, glatte Muskulatur und endokrine Organe (insbesondere Gonaden) in Mitleidenschaft zieht.

Ätiologie und Pathogenese Das mutierte Gen ist auf dem langen Arm des Chromosoms 19 (19q13.3) lokalisiert. Der Erbgang ist autosomal-dominant. Der pathogenetische Defekt liegt in der Fehlfunktion einer membranären Natrium-Chlorid-Pumpe, die Chlorionen vermindert und Natriumionen vermehrt durch die Membran transportiert (Tab. 101).

Morphologie

In Frühstadien findet sich eine Fasertypendisproportion, d.h. ein Vorherrschen (Prädominanz) mit Atrophie der Typ-I-Fasern. Die verminderten Typ-II-Fasern sind dagegen hypertroph.

Klinik

Nebst Muskelatrophie und -schwäche finden sich Stirnglatze, Knochenveränderungen, Linsenkatarakt, eine Gonadeninsuffizienz, Herzrhythmusstörungen und Persönlichkeitsveränderungen.

Kongenitale Myotonien Definition Die klassische Form ist die autosomal-dominant vererbte Myotonia congenita (Thomsen), bei der die Patienten trotz Muskelschwäche eine Muskelhypertrophie aufweisen.

Ätiologie und Pathogenese

Bei der autosomal-dominanten Myotonia congenita (Thomsen) ist ein Defekt im Skelettmuskel-Chloridkanal-Gen nachgewiesen und auf Chromosom 7q35 (langer Arm, Position 35) lokalisiert. Es ist eine Punktmutation in diesem Gen identifiziert, die zum Austausch einer einzigen Aminosäure führt (Glutaminsäure anstelle von Glyzin; Tab. 10-1).

Morphologie

Ähnlich der myotonen Dystrophie (siehe oben).

Klinisch-pathologische Korrelationen Der Beginn der Krankheit liegt im Säuglingsalter und imponiert zunächst als motorischer Entwicklungsrückstand. Die verlängerten Kontraktionen führen zu plumpen Bewegungen, Reflexe (Abwehrbewegungen) erfolgen stark verzögert. Nach Aufwärmen kann eine Verbesserung erzielt werden.

10.3.5

Kongenitale Myopathien

Definition Die seltenen kongenitalen Myopathien sind durch besondere, teilweise definierende strukturelle Veränderungen (sog. spezifische Strukturanomalien) gekennzeichnet. Ihr Erbgang ist häufig autosomal-dominant.

Ätiologie Lokalisation der mutierten Gene siehe Tab. 10-1.

Tab. 10-2 Orientierende Kriterien für die Unterscheidung von neurogenen, primär myopathischen und entzündlichen Muskelveränderungen (siehe auch Abb. 10-12).

Morphologie Das morphologische Bild kongenitaler Myopathien wird durch die zugrunde liegende spezifische Strukturanomalie bestimmt. Im Falle der myotubulären Myopathie (Abb. 10-12e) erinnert es an unreifes Skelettmuskelgewebe mit frühen Differenzierungsstufen der Muskelfasern.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Kongenitale Myopathien manifestieren sich bereits im frühen Kindesalter oder bestehen bereits bei Geburt und sind meist stationäre, gelegentlich jedoch progrediente Krankheiten, die proximale und distale Muskelgruppen betreffen.

10.3.6

Myositiden und Trauma

Jede entzündliche Veränderung der Skelettmuskulatur wird als Myositis bezeichnet. Eine Myositis kann akut oder chronisch verlaufen. Im Gegensatz zu vielen neuromuskulären Krankheiten ergeben sich bei Myositiden spezifische Möglichkeiten der kurativen Therapie. Eine genaue Ursachenabklärung der Myositis ist dafür Voraussetzung. Traumatische Muskelläsionen führen zu reaktiv entzündlichen Veränderungen im Rahmen der Resorption und Regeneration.

Es besteht ein myositisches Grundmuster (siehe oben) mit Entzündung und weiteren Befunden (zur Differentialdiagnose Tab. 10-2).

Myositiden mit bekannten Erregern Ätiologie Myositiden können viral (Coxsackie, Influenza, HIV), bakteriell (lokale oder septisch-metastatische Pyomyositis durch Staphylokokken, Streptokokken, Clostridien und gramnegative Bakterien) oder parasitär (Trichinose, Toxokariosis, Trypanosomiasis, Toxoplasmose) bedingt sein. Bakterielle und parasitäre Erreger können histologisch in der Muskulatur nachgewiesen werden. Viren können unter Verwendung virusspezifischer Oligonukleotide (Primer) mit Hilfe der Polymerase-Kettenreaktion in Biopsiematerial nachgewiesen werden. Möglicherweise viraler Ursache ist das „chronische Ermüdungssyndrom“ (chronic fatigue syndrome). Der Erreger konnte aber noch nicht sicher identifiziert werden.

Morphologie Der bakterielle Infekt führt zur eitrigen Myositis (Pyomyositis). Anaerobier wie die Gasbrand-Clostridien rufen ödematöse Gewebenekrosen mit Gasbildung hervor. Der Nachweis von reichlich grampositiven dicken Stäbchen gelingt immer. Virale Myositiden sind durch uncharakteristische schüttere Lymphozyteninfiltrate mit Einzelzellnekrosen gekennzeichnet. Bei Trichinose sind die Larven der Würmer in elliptischen Strukturen (bis 400 μm Durchmesser) mit dicker Kapsel spiralig eingelagert und endomysial abgelegt.

Klinisch-pathologische Korrelationen Bei Pyomyositiden finden sich schmerzhafte Schwellung, Rötung und lokale Überwärmung sowie Fieber und Abgeschlagenheit. Anaerobierinfektionen (z.B. durch Clostridien) sind gefürchtete Komplikationen tiefer (Stich-)Verletzungen oder infizierter, primär versorgter, offener Frakturen. Die Gasbildung mit Gewebsemphysem und dem typischen, palpatorisch fassbaren Knistern charakterisiert den Gasbrand. Nur breites Débridement und hyperbare Sauerstofftherapie können den häufig letalen Verlauf verhindern. Bei enteraler Infektion mit Trichinella spiralis kann nach der Generalisierungsphase der Aussaat der Larven eine lokale Myalgie auftreten.

Nichtinfektiöse Myositiden Definition Nichtinfektiöse Myositiden sind immunologisch bedingte Krankheiten (siehe Kap. 47.1). Im Skelettmuskel kann ein dermatomyositischer von einem polymyositischen Typ unterschieden werden (Abb. 10-12f, g). Bis zu 15% der Fälle von Dermatomyositis und ca. 8% aller Myositiden sind, außer im Kindesalter, als paraneoplastisch anzusehen. Die verursachenden Tumoren sind meist in Lunge, Ovarien, Mamma, Gastrointestinaltrakt oder im blutbildenden System zu suchen. Bei fast 40% aller Patienten mit Myositis liegt eine Dermatomyositis vor. Sekundäre therapiebedingte Myopathien (z.B. die sog. Steroidmyopathie) sind von der Grundkrankheit abzugrenzen. Die Einschlusskörpermyositis (inclusion-body myositis: IBM) soll bei über 50-jährigen Männern die häufigste Myositisform sein. Die Krankheit ist mit Autoimmunkrankheiten assoziiert, nicht aber mit paraneoplastischen Syndromen.

Ätiologie und Pathogenese

Die Polymyositis ist eine immunologisch bedingte chronische Muskelkrankheit, die oft längere Zeit unerkannt und schleichend verläuft. Autoantigene gegen muskeleigene Proteine führen zu einer antikörpervermittelten zytotoxischen Eliminierung von Muskelzellen.

Morphologie Die Dermatomyositis manifestiert sich in der Regel als Vaskulitis/Perivaskulitis, während sich die Polymyositis im Sinne der autoaggressiven Entzündung direkt gegen Muskelfasern richtet und Entzündungsinfiltrate endomysial zu suchen sind. Perifaszikuläre Atrophie und myopathische Veränderungen sind weitere Befunde. Bei der Einschlusskörpermyositis findet man neben zytotoxischen T-ZellInfiltraten praktisch keine Myonekrose und Myophagie, dafür definierende, wenn auch nicht spezifische vakuoläre tubulofilamentöse sarkoplasmatische und intranukleäre Einschlüsse heterogener Zusammensetzung von bis zu 20 nm Durchmesser.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Einschlusskörpermyositis (IBM) verläuft langsam progredient mit proximal betonter Muskelschwäche ohne Schmerzen. Während bei der Polymyositis und der Dermatomyositis Steroide den Krankheitsverlauf beeinflussen können, ist die IBM steroidresistent.

Mikro- und Makrotrauma der Muskulatur Definition Als Mikrotrauma bezeichnet man die Schädigung vereinzelter Muskelfasern ohne größere Läsion des Muskelfaserverbandes. Ein Makrotrauma besteht, wenn größere Teile der Muskulatur geschädigt sind.

Ätiologie und Pathogenese

Mikrotraumen entstehen als Folge von inadäquaten zeitlichen und räumlichen Belastungen der Muskulatur und bei brüsker Dehnung ohne vorherige „Aufwärmphase“. Sie sind eine häufige Erscheinung nach Leistungsüberforderung und fast obligat nach extremen Dauerleistungen und/oder „Bodybuilding“. Makrotraumen liegen fast immer bei Mehrfachverletzten mit ausgedehnten Weichteilkontusionen vor. Kompartimentsyndrom nennt man den Circulus vitiosus der Muskelschwellung durch Ödem mit Drosselung der arteriellen Durchblutung und Ischämie innerhalb eines geschlossenen Faszienfaches.

Morphologie Das Spektrum reicht von der Einzelfasernekrose bis zu ausgedehnten Rhabdomyolysen. Letztere zeigen im akuten Stadium nekrotische, kernfreie Muskelfasern und Entzündung, später schwere Atrophie und Regeneratbildung (Myoblastenhaufen und fusionierte Myotuben).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Es besteht eine Schmerzsymptomatik vom Muskelkater bis zur hochdolenten Myalgie. Kritisch ist die Ausscheidung von Myoglobin durch die Niere, die mitunter irreversible Schäden davontragen kann („Crush-Niere“ bei schwerer Myoglobinurie). Klinisch-chemischer quantitativer Indikator für den Muskelfaserzerfall ist die Kreatin-Phosphokinase (CPK) im Blut.

10.3.7 Krankheiten der neuromuskulären Überleitung Definition und Epidemiologie Krankheiten der neuromuskulären Überleitung, auch als Krankheiten der motorischen Endplatten bezeichnet, können hereditär oder erworben sein. Sie werden als myasthenische Syndrome bezeichnet. Ihr bekanntester Vertreter ist die Myasthenia gravis pseudoparalytica (Erb-Goldflam) mit einer Prävalenz von ca. 3 Patienten pro 100000 Einwohner.

Myasthenia gravis pseudoparalytica (Erb-Goldflam) Ätiologie und Pathogenese Die häufigste Krankheit der neuromuskulären Überleitung ist die Myasthenia gravis (MG), eine progrediente Autoimmunerkrankung mit gegen Acetylcholinrezeptor (AchR) gerichteten zirkulierenden Autoantikörpern (IgG), die die Wirkung des Acetylcholins kompetitiv hemmen (siehe Abb. 10-13). Die Pathogenese der MG bei der lymphofollikulären Thymitis ist heute in vielen Schritten geklärt: der AChR ist ein pentamerer Ionenkanal, der in der Zellmembran von Myoidzellen des Thymusmarks (siehe Einleitung) vorkommt. Im Rahmen der lymphofollikulären Thymitis geraten die myoepithelialen Zellen des Thymusstromas (sog. Myoidzellen) in unmittelbare Nachbarschaft zu dendritischen Zellen, die den AChR als Immunogen aufnehmen, prozessieren und T-Zellen präsentieren. Die so aktivierten T-Zellen stimulieren ihrerseits B-Zellen, die Autoantikörper gegen AChR bilden. Die aus dem Thymus ins Blut freigesetzten Autoantikörper blockieren die AChR der Endplatte der quergestreiften Muskulatur und verursachen die für die MG typische Muskelschwäche bzw. erhöhte Muskelermüdbarkeit (siehe Kap. 4.3.1).

Morphologie In der biopsierten Muskulatur finden sich oft lockere, diffuse endomysiale lymphozytäre Infiltrate. Enzymhistochemisch (Acetylcholinesterase), immunhistochemisch (Acetylcholinrezeptor) und ultrastrukturell kann ein Verlust differenzierter muskulärer Endplattenstrukturen nachgewiesen werden. Spätfolgen können Denervierungszeichen und neurogene Faseratrophie sein. Bei manifester Myasthenie findet man im Thymus in ca. 10% (epitheliale) Thymome (eher ältere Patienten). Eine lymphofollikuläre Thymitis findet sich in ca. 60% (eher jüngere Patienten).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Klinische und elektrophysiologische Parameter genügen meist für eine zuverlässige Diagnose. Daher wird selten biopsiert. Leitsymptom ist eine pathologische zunehmende Ermüdbarkeit bei kontinuierlicher Belastung verschiedener Muskelgruppen. Prädilektionsorte sind Augen-, Gaumensegel- und Schlundmuskeln. Typischerweise nehmen die Beschwerden gegen Abend zu. Klinisch bewirkt die Testinjektion eines stark wirksamen Cholinesterasehemmers eine dramatische Besserung der Schwächesymptomatik (positiver Tensilon-Test). Acetylcholin, vermindert gespalten, ist plötzlich am Rezeptor länger präsent und kann den Antikörper am Rezeptor verdrängen (siehe Abb. 10-13). Nebst symptomatischer Behandlung der Myasthenia gravis mit Acetylcholinesterasehemmern, Steroiden und Immunsuppressiva ist die Thymektomie angezeigt.

Andere myasthenische Syndrome Kongenitale myasthenische Syndrome sind von der Myasthenia gravis abzugrenzen. Spezifische elektrophysiologische und ultrastrukturelle Befunde legen nahe, dass es bei einigen dieser Krankheiten zu präsynaptischen Veränderungen der motorischen Endplatte kommt (vgl. Abb. 10-13). Die Ätiologien sind größtenteils unbekannt. Kongenitale myasthenische Syndrome werden heute noch den kongenitalen Myopathien zugeordnet. Das erworbene myasthenische Syndrom Lambert-Eaton entwickelt sich im höheren Erwachsenenalter, meist als paraneoplastisches Syndrom bei Bronchus- und Magenkarzinomen. Pathogenetisch werden Antikörper gegen Kalziumkanalproteine verantwortlich gemacht. Über verschiedene Mechanismen führen Penicillamin, Diphenylhydantoin, Chloroquin, Resochin und D-/L-Karnitin zu medikamentös induzierten myasthenischen Syndromen. Der Extremfall einer Krankheit der neuromuskulären Überleitung präsynaptischer Lokalisation ist der Botulismus. Das Toxin von Clostridium botulinum führt zu einer Synthesestörung der präsynaptischen Vesikelmatrix und verhindert damit die Freisetzung von Acetylcholin.

10.3.8

Metabolische Myopathien

Definition Die Gruppe der metabolischen Myopathien umfasst eine Reihe meist hereditärer Defekte der Energiegewinnung des Muskelgewebes, die in leichteren Fällen erst bei starker Belastung klinisch apparent werden. Betroffen sind in erster Linie Glykogenolyse, dieβ-Oxidation von Fettsäuren, die oxidative Phosphorylierung und der Kalziumstoffwechsel.

Klinisch-pathologische Korrelationen Das häufigste klinische Symptom ist eine Schwäche der Extremitätenmuskulatur. Bei mitochondrialen Myopathien sind okuläre Muskeln in der Regel schwer betroffen. Andere Symptome metabolischer Myopathien sind Krämpfe (Relaxationsstörung), Myalgien, Myoglobinurie und Trainingsintoleranz. Speicherkrankheiten siehe Kap. 46.2.

Exemplarische metabolische und toxische Myopathien Lipidstoffwechsel-assoziierte Myopathien Lipidmyopathien zeigen in Spezialfärbungen eine vermehrte Neutralfettspeicherung in den Muskelfasern. Dieser an sich unspezifische Befund kann auf einen Mangel der Aminosäure L-Karnitin hinweisen. Karnitin ist für den Transport von Lipiden durch die mitochondrialen Membranen notwendig. Andere Defekte der β-FettsäureOxidation gehen ebenfalls mit Neutralfettspeicherung in der Muskulatur einher (Abb. 10-12h).

Mitochondriale Myopathien Dies sind Systemkrankheiten, die auch Herz, Leber, Nieren und Gehirn betreffen (z.B. mitochondriale Enzephalomyopathien). Die Mitochondrien der Muskelfasern sind typischerweise vermehrt (sog. „ragged-red fibers“, Abb. 10-12i und Abb. 1015) und in Größe, Form und Textur der Cristae pathologisch strukturiert. Häufig finden sich parakristalline mitochondriale Einschlüsse und Neutralfettüberladung der Muskelzellen. Ursächlich liegen Defekte der Substratutilisation, der Atmungskette und des Zitronensäurezyklus (Krebszyklus), also der Energieerhaltung und übermittlung, zugrunde. Ein großer Teil der betroffenen Enzyme ist im mitochondrialen Genom kodiert, demzufolge mütterlich vererbt. Mutationen betreffen oft Deletionen nukleärer und mitochondrialer genomischer DNA.

10.4 Bedeutung der mikroskopischen Diagnostik bei neuromuskulären Krankheiten Die Skelettmuskulatur macht ca. 40% der Masse des menschlichen Organismus aus und ist, so gesehen, das größte Organ des Körpers. Auf der einen Seite besteht eine auffallende histologische Homogenität im Dienst der Funktion. Auf der anderen Seite bildet das periphere Nervensystem ein komplexes Netzwerk von Leitungsbahnen von und zu Muskulatur und Sinnesorganen mit fast unbegrenzten Modulationsmöglichkeiten. Makroskopisch-pathologische Befunde am neuromuskulären System, die über eine klinisch faßbare Muskelatrophie hinausgehen, sind selten. Die definitive neuromuskuläre Diagnostik muß daher letztlich mikroskopisch erfolgen.

Abb. 10-15 Muskelquerschnitt mit zahlreichen sog. „Ragged-red“-Fasern.

Akkumulierte Mitochondrien sind rot gefärbt. (Gomöri-Trichrom, Gefrierschnitt, Vergr. 200fach).

Literatur Peripheres Nervensystem Dyck, P.J., P.K. Thomas, R. Bunge (eds.): Peripheral Neuropathy. W.B. Saunders, Philadelphia, London, Toronto 1984. Johnson, P.C.: Peripheral nerve. In: Davis, R.L., D.M. Robertson (eds.): Textbook of Neuropathology, 1004–1081. Williams & Wilkins, Baltimore 1991. Mumenthaler, M., H. Schliack (Hrsg.): Läsionen peripherer Nerven. 6. Aufl. Thieme, Stuttgart, New York 1981. Schröder, J.M.: Pathologie peripherer Nerven. Springer, Berlin–Heidelberg 1999. http://molgen-www.uia.ac.be/CMTMutations Muskulatur Engel, A.G, C. Franzini-Armstrong: Myology. 2nd ed. McGraw Hill, New York 1994. http://www.neuro.wustl.edu/neuromuscular

Jerusalem, F., S. Zierz: Muskelerkrankungen. 2. Aufl. Thieme, Stuttgart, New York 1991. Pfeiffer, J., J.M. Schröder, W. Paulus: Neuropathologie: Morphologische Diagnostik der Krankheiten des Nervensystems und der Skelettmuskulatur. 3. Auflage, Springer, Berlin, Heidelberg, New York 2002. Carpenter St., G. Karpati: Pathology of Skeletal Muscle. 2nd Edition, Oxford University Press 2001. http://www.enmc.org/nmd/diagnostic.html http://www.dmd.nl http://www3.ncbi.nlm.nih.gov:80/htbin-post/Omim/dispmim?300377

FRAGEN 1 Welche Formen von Nervenfaserdegenerationen kennen Sie? Nennen Sie typische Krankheitsbeispiele für die einzelnen Ausfallmuster. 2 Welche morphologischen Charakteristika gehören zum Bild der Myositis? 3 Wie kommt die so genannte Gruppenatrophie bei neurogener Muskelschädigung zustande? 4 Welche genetische Anomalie liegt den myotonen Dystrophien zugrunde? 5 Welches sind die Indikationen zur morphologischen Untersuchung der in diesem Kapitel beschriebenen Krankheiten? Welche Untersuchungen sind indiziert? Welchen Beitrag können diese Untersuchungen zur präzisen Diagnostik und zur Planung der Therapie leisten?

Sinnesorgane

Augenhintergrund: Retinopathia diabetica.

11 Auge D. v. DOMARUS, K. DEUBLE-BENTE 11.1

Normale Struktur und Funktion 352

11.2

Lider (Blephara) 352

11.2.1

Entzündungen 352

Gerstenkorn (Hordeolum) 352 Hagelkorn (Chalazion) 352 Dellwarze (Molluscum contagiosum) 352 11.2.2

Xanthelasmen 353

11.2.3

Fehlstellungen 353

11.2.4

Tumoren 353

Nävuszellnävus und Papillom 353 Basaliom, Plattenepithelkarzinom und Talgdrüsenkarzinom 353 11.3

Bindehaut (Konjunktiva) 353

11.3.1

Entzündungen (Konjunktivitiden) 353

Diffuse unspezifische Konjunktivitis 354 Follikuläre Konjunktivitis 354 Papilläre Konjunktivitis 354 Membranöse Konjunktivitis 354 Granulomatöse Konjunktivitis 354 11.3.2

Degenerationen 354

Flügelfell (Pterygium) 354 Lidspaltenfleck (Pinguecula) 354 Amyloidose 354

11.3.3

Tumoren 354

Nävuszellnävus und Melanosis conjunctivae 354 Malignes Melanom 354 Papillom 355 Andere seltene Tumoren und tumorartige Läsionen 355 11.4

Hornhaut (Kornea) 355

11.4.1

Entzündungen (Keratitiden) 355

Bakterielle Keratitis 355 Mykotische Keratitis 355 Virale Keratitis 355 11.4.2

Degenerationen 355

Arcus lipoides (senilis) 355 Hornhautbanddegeneration 355 Pannus corneae 355 Hornhautpigmentierungen (korneale Pigmentierungen) 355 11.4.3

Dystrophien 355

Keratokonus 356 Cornea guttata und Fuchs-Endothel-/Epitheldystrophie 356 11.4.4

Tumoren 356

11.5

Lederhaut (Sklera) 356

11.5.1

Entzündungen (Skleritis und Episkleritis) 356

11.5.2

Intra- und episklerale Fremdkörper 356

11.6

Vorderkammer 356

11.6.1

Abnormer Inhalt 356

11.6.2

Winkelblock 356

11.6.3

Kammerwinkelvertiefung 357

11.7

Linse (Lens) 357

11.7.1

(Sub-)Luxationen 357

11.7.2

Grauer Star (Katarakt) 357

11.7.3

Kunstlinsen (Pseudophakos) 357

11.8

Glaskörper (Vitreus) 358

11.8.1

Einlagerungen 358

11.8.2

Persistierende Gewebestrukturen 358

11.9

Netzhaut (Retina) 358

11.9.1

Ursachen retinaler Veränderungen 358

11.9.2

Vaskuläre Erkrankungen 358

Zentralarterienverschluss 358 Zentralvenenverschluss 359 Diabetische Retinopathie 359 11.9.3

Netzhautablösung (Amotio retinae) und Netzhautspaltung (Retinoschisis) 359

Netzhautablösung (Amotio retinae) 359 Netzhautspaltung (Retinoschisis) 359 11.9.4

Makuladegeneration 359

11.9.5

Retinoblastom 360

11.10

Gefäßhaut (Uvea) 360

11.10.1

Regenbogenhaut (Iris) 360

Entzündungen (Iritis oder Uveitis anterior) 360 Kolobome 361 Gefäßerkrankungen 361 Tumoren 361

11.10.2

Ziliarkörper 361

Entzündungen (Cyclitis oder Uveitis intermedia) 361 Tumoren 361 11.10.3

Aderhaut (Chorioidea) 361

Entzündungen (Chorioiditis oder Uveitis posterior) 361 Gefäßerkrankungen und Blutungen 361 Tumoren 361 11.11

Sehnerv (N. opticus) 363

11.11.1

Sehnerventzündung (Neuritis nervi optici) 363

11.11.2

Vaskuläre Erkrankungen 363

11.11.3

Optikusatrophie bei Glaukom 363

11.11.4

Tumoren 363

Primäre Tumoren 363 Sekundäre Tumoren 363 11.12

Augenhöhle (Orbita) 363

11.12.1

Entzündungen 363

Augenhöhlenentzündung (Orbitaphlegmone) 363 Muskelentzündung (Myositis) 363 Tränendrüsenentzündung (Dakryoadenitis) 364 11.12.2

Tumoren 364

Tumoren der Augenhöhle (Orbita) 364 Tumoren der Tränendrüse 364 11.13

Grüner Star (Glaukom) 364

11.14

Verletzung (Trauma) 365

11.14.1

Stumpfes Trauma (Contusio bulbi) 365

11.14.2

Perforierende Verletzungen 365

11.14.3

Sympathische Ophthalmie 365

11.15

Schrumpfung des Augapfels (Atrophia bulbi und Phthisis bulbi) 365

11.15.1

Atrophia bulbi 365

11.15.2

Phthisis bulbi 365

11.16

Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Augenerkrankungen 365

Literatur 366 Fragen 366

Zur Orientierung Die Notwendigkeit einer speziellen Augenpathologie ergibt sich daraus, dass im Auge Gewebestrukturen vorkommen, die wir im übrigen Körper nicht vorfinden. Zu den häufigsten Augenerkrankungen gehören die Katarakt (grauer Star) und das Glaukom (grüner Star). Das Glaukom lässt sich primär nicht als Krankheitsbild diagnostizieren, sondern an seinen Folgen erkennen, wie z.B. einer Optikusexkavation und einer retinalen Atrophie. Oft müssen Pathologen und Kliniker zusammenarbeiten, um eine endgültig verlässliche Diagnose zu stellen. Zur Untersuchung gelangen sowohl vollständig enukleierte Bulbi als auch Biopsiematerial vom Lid sowie von Konjunktiva, Orbita und Hornhaut.

11.1

Normale Struktur und Funktion

Wegen der besonderen anatomischen Struktur sind dem Kapitel ein Schema (horizontaler Sagittalschnitt) des gesamten Bulbus (Abb. 11-1) sowie ein Querschnitt durch das Oberlid (Abb. 11-2) vorangestellt.

11.2 11.2.1

Lider (Blephara) Entzündungen

Gerstenkorn (Hordeolum) Das Gerstenkorn (Hordeolum) ist eine akute Entzündung der Meibom-Drüse. Erreger sind meist Staphylokokken. Histologisch liegt eine eitrige Entzündung vor.

Hagelkorn (Chalazion) Das Chalazion ist eine durch Talgretention bedingte chronisch-granulomatöse Entzündung des Lides. Histologisch besteht eine histiozytäre und lymphozytäre Infiltration mit Fremdkörperriesenzellen (Abb. 11-3). Klinisch liegt eine tumorartige Läsion vor, die von einem Nävuszellnävus, Papillom und Basaliom abgegrenzt werden muss.

Abb. 11-1 Bulbus.

Horizontaler Sagittalschnitt durch den

Abb. 11-2

Querschnitt durch das Oberlid.

Wegen der wichtigen Differentialdiagnose zum Talgdrüsenkarzinom (siehe Kap. 11.2.4) sollte jedes Chalazion des älteren Menschen, das intraoperativ solide erscheint, histologisch untersucht werden.

Dellwarze (Molluscum contagiosum) Die Dellwarze (Molluscum contagiosum) ist eine typische tumorartige, warzenförmige Liderkrankung des Kindes (siehe Kap. 42.6.2), die durch eine Infektion mit Paravaccinia-Viren verursacht wird. Häufig tritt eine sekundäre Konjunktivitis auf. Histologisch typisch sind große epitheliale Zellen mit eosinophilem Zytoplasma, das massenhaft Viren und Vireneinschlusskörperchen enthält.

11.2.2

Xanthelasmen

Xanthelasmen sind Veränderungen der Lider mit oberflächlich gelegenen gelblichen Lipideinlagerungen. Histologisch sieht man Ansammlungen von lipidbeladenen Makrophagen (Schaumzellen), die entzündungsfrei in der Subkutis liegen.

Abb. 11-3 Granulomatöse histiozytäre Entzündung des Lides bei einem Chalazion.

Zentrale Riesenzelle. Am Rand Infiltrate aus Lymphozyten und neutrophilen Granulozyten. HE, Vergr. 256fach.

11.2.3

Fehlstellungen

Beim Ektropium sind die Lider aufgrund einer Atrophie des M. orbicularis oculi nach außen gekippt.

Das Gegenstück dazu ist das Entropium, das im fortgeschrittenen Alter gelegentlich auftritt. Die Lider sind aufgrund einer Hypertrophie des lidkantennahen Anteils dieses Muskels einwärts gekippt. Beide Erkrankungen gehen meist mit einer milden Entzündung einher.

11.2.4

Tumoren

Prinzipiell sind alle Tumoren der Haut (siehe Kap. 42.7) auch im Lidbereich zu finden.

Nävuszellnävus und Papillom Der häufige Nävuszellnävus (siehe Kap. 42.7.4) und das Papillom (siehe Kap. 42.7.1) sind benigne Tumoren. Sie werden klinisch oft miteinander verwechselt.

Basaliom, Plattenepithelkarzinom und Talgdrüsenkarzinom Das Basaliom (siehe Kap. 42.7.1) ist ein semimaligner Tumor, der lokal destruierend wächst, aber nicht metastasiert. Hingegen ist das Plattenepithelkarzinom ein maligner Tumor mit Metastasierungstendenz (siehe Kap. 42.7.1). Das Talgdrüsenkarzinom (Meibom-Karzinom) ist ein seltener maligner Tumor der Meibom-Talgdrüsen. Er metastasiert relativ früh in die präaurikulären und submandibulären Lymphknoten. Die Histologie entspricht derjenigen anderer Talgdrüsenkarzinome. Differentialdiagnostisch ist klinisch das Chalazion (siehe Kap. 11.2.1) abzugrenzen.

11.3 11.3.1

Bindehaut (Konjunktiva) Entzündungen (Konjunktivitiden)

Die Konjunktivitis (Bindehautentzündung) ist die häufigste Erkrankung des Auges. Sie lässt sich klinisch leicht durch die entsprechende konjunktivale aktive Hyperämie („Injektion”) diagnostizieren, die bei allen Formen in unterschiedlicher Ausprägung auftritt. Nach ätiologischen, klinischen und histologischen Gesichtspunkten lassen sich folgende Formen unterscheiden:

Diffuse unspezifische Konjunktivitis Diese Konjunktivitis stellt sich klinisch als mäßige Rötung und Injektion dar. Ursachen sind meist akute chemische oder physikalische Reizungen. Histologisch bestehen in der Regel eine geringe bis mäßige leukozytäre Infiltration und ein Ödem der Konjunktiva mit meist wenigen Lymphozyten.

Follikuläre Konjunktivitis Die follikuläre Konjunktivitis wird in erster Linie durch Viren, Allergene oder chronische Einwirkung chemischer Substanzen verursacht. Sie ist klinisch an subepithelial gelegenen Knötchen erkennbar, die histologisch aus Ansammlungen von Lymphozyten (Lymphfollikeln) bestehen. Sonderformen der follikulären Konjunktivitis sind die Keratoconjunctivitis epidemica und das Trachom. Bei der epidemischen Keratokonjunktivitis handelt es sich um eine Infektion mit dem Adenovirus Typ 8, beim Trachom um eine Infektion mit Chlamydia trachomatis. Das Trachom kommt in Mitteleuropa praktisch nicht vor, ist sonst aber weltweit verbreitet. Histologisch sind intrazytoplasmatische basophile Einschlusskörperchen typisch.

Papilläre Konjunktivitis Die papilläre Konjunktivitis wird in erster Linie durch Allergene hervorgerufen. Das klinische Bild ist durch pflastersteinartige Verdickungen der Konjunktiva mit in typischer Weise zentral gelegener Kapillare gekennzeichnet (Abb. 11-4). Histologisch besteht eine papillenförmige Verdickung der Konjunktiva durch diffuse Infiltrate von Lymphozyten, Plasmazellen und gelegentlich Eosinophilen.

Membranöse Konjunktivitis Die membranöse (pseudomembranöse) Konjunktivitis kommt bei der Diphtherie, der Gonoblennorrhö und bei der Infektion mit β-hämolysierenden Streptokokken vor. Klinisch findet sich eine membranöse Auflagerung aus Fibrinexsudat auf darunter liegenden Gewebenekrosen. Histologisch besteht die entzündliche Membran (Pseudomembran) aus Fibrin und Zelldetritus mit Nekrosen der oberen Epithelschicht.

Abb. 11-4

Papilläre Konjunktivitis.

Pflastersteinartige Verdickungen der Bindehaut (Konjunktiva) mit zentralem Gefäßbaum. Spaltlampenfoto.

Granulomatöse Konjunktivitis Die granulomatöse Konjunktivitis kommt als Fremdkörpergranulom sowie im Rahmen der Sarkoidose (siehe Kap. 47.1.7) und der Tuberkulose vor (siehe Kap. 48.2.7). Sie ist klinisch durch kleine, subepithelial gelegene Knötchen gekennzeichnet, die solitär oder multipel auftreten. Histologisch findet man Granulome aus Epitheloidund Riesenzellen.

11.3.2

Degenerationen

Flügelfell (Pterygium) Die ätiologie des Flügelfells (Pterygium) ist unbekannt. Auffallend häufig tritt es bei Seeleuten und Landwirten auf. Klinisch findet sich eine im Lidspaltenbereich gelegene, reich vaskularisierte Verdickung der Konjunktiva mit übergang auf die angrenzende nasale Kornea. Histologisch zeigt sich eine Degeneration der konjunktivalen Kollagenfasern.

Lidspaltenfleck (Pinguecula) Es handelt sich um eine häufig im höheren Lebensalter vorkommende gelbliche Verdickung der Konjunktiva, die klinisch ohne Bedeutung ist. Histologisch liegt eine Degeneration der Kollagenfasern wie beim Pterygium vor.

Amyloidose Es findet sich eine fleischfarbene glasige Verdickung der Konjunktiva, die durch Amyloidablagerungen im konjunktivalen Stroma entsteht. Die ätiologie ist unbekannt (siehe Kap. 46.3.4).

11.3.3

Tumoren

Nävuszellnävus und Melanosis conjunctivae Beide Erkrankungen sind häufig. Klinisch finden sich unterschiedliche Pigmentierungsgrade. Histologisch liegt beim Nävuszellnävus eine subepitheliale Ansammlung von Nävuszellen vor, während bei der Melanosis dort Melanozyten liegen. Während der Nävuszellnävus benigne ist, lassen sich bei der Melanosis benigne und maligne Formen unterscheiden.

Malignes Melanom Das maligne Melanom kann sowohl de novo als auch aus einem Nävus oder einer Melanosis entstehen. Es zeigt ein relativ rasches Wachstum. Klinisch findet man einen unterschiedlich prominenten, meist kräftig braun pigmentierten Tumor (gelegentlich aber auch unpigmentiert). Histologisch liegen dicht gepackte epitheloide Zellen mit deutlicher Polymorphie sowie zahlreichen Mitosen und unterschiedlichem Pigmentgehalt vor (siehe Kap. 42.7.4).

Papillom Die Ursache sind stets Viren. Der reich vaskularisierte Tumor mit zerklüfteter Oberfläche kann gestielt oder breitbasig sein. Nach operativer Entfernung treten häufig Rezidive auf. Histologisch liegt ein reich vaskularisierter, von nichtverhornendem Plattenepithel bedeckter papillärer Tumor vor (siehe Kap. 6.7.1).

Andere seltene Tumoren und tumorartige Läsionen Lymphangiom, Hämangiom, Phakomatose, Onkozytom (Karunkel), Epitheldysplasie, Carcinoma in situ, Plattenepithelkarzinom, Mukoepidermoidkarzinom (siehe in den jeweiligen Kapiteln).

11.4 11.4.1

Hornhaut (Kornea) Entzündungen (Keratitiden)

Bakterielle Keratitis Es handelt sich um eine in erster Linie durch Pneumokokken, aber auch Proteus, E. coli, β-hämolysierende Streptokokken u.a. hervorgerufene bakterielle Entzündungen. Meist liegt eine Nekrose des Hornhautepithels vor. Ein Defekt der Bowman-Membran fördert die Ausbreitung der Bakterien im Hornhautstroma. Histologisch sieht man im Hornhautstroma überwiegend segmentkernige Granulozyten. Im weiteren Verlauf kommt es durch Bildung von proteolytischen Enzymen (u.a. Kollagenasen) zur Auflösung der kollagenen Fasern und damit zur Ulkusbildung. Die Entzündung schreitet gelegentlich zur Peripherie hin fort (Ulcus serpens). Häufig heilt die bakterielle Keratitis mit Narbenbildung ab, evtl. kommt es dabei zu einer Gefäßeinsprossung in die Kornea.

Mykotische Keratitis Infektionen mit Candida albicans, Aspergillus und anderen Pilzen führen zu einer umschriebenen Infiltration der Hornhaut durch Pilzhyphen. Häufig entwickelt sich ein Hypopyon (Eiteransammlung am Boden der Vorderkammer). Histologisch findet man Pilzhyphen im Hornhautstroma mit leukozytärer Entzündungsreaktion.

Virale Keratitis Die häufigste Form ist die Herpeskeratitis mit typischen verästelten Hornhautläsionen (Keratitis dendritica). Selten bildet sich eine Ulzeration aus, die zur Perforation der Kornea führen kann (Abb. 11-5). Histologisch sieht man ein entzündliches Ödem mit meist geringer, überwiegend lymphozytärer Infiltration.

Abb. 11-5

Ulzerierende Keratitis.

Tiefes Hornhautulkus kurz vor der Perforation, Hornhautstroma erheblich ödematös. Wahrscheinlich virale ätiologie (Herpeskeratitis). Konjunktiva mit massiver Injektion. Spaltlampenfoto.

11.4.2

Degenerationen

Arcus lipoides (senilis) Es handelt sich um eine häufige Erkrankung mit ringförmiger weißgelblicher Einlagerung von Lipiden im peripheren Hornhautstroma. Klinisch ist der Arcus lipoides meist ohne Bedeutung, vor dem 50. Lebensjahr kann er gelegentlich Ausdruck einer Lipidstoffwechselstörung sein.

Hornhautbanddegeneration Die Hornhautbanddegeneration zeigt sich als eine Trübung der Kornea im Lidspaltenbereich, die durch Einlagerung von Kalziumsalzen in die BowmanMembran zustande kommt. Sie tritt bei Morbus Still (siehe Kap. 44.2.4), Hyperparathyreoidismus (siehe Kap. 15.3) sowie zahlreichen anderen Erkrankungen auf.

Pannus corneae Der Pannus ist eine durch eine Fibrose hervorgerufene Trübung in der vorderen Hornhaut zwischen Bowman-Membran und Epithel. Er kann nach Entzündungen oder Traumen auftreten.

Hornhautpigmentierungen (korneale Pigmentierungen) Eisenablagerungen im Hornhautstroma (Hämatokornea) kommen nach Vorderkammerblutungen vor. Kupfereinlagerungen beim Morbus Wilson (hepatolentikuläre Degeneration, siehe Kap. 11.3.3) führen zum typischen bräunlichen Kayser-Fleischer-Ring. Histologisch findet sich eine Kupferablagerung in der peripheren Descemet-Membran.

11.4.3

Dystrophien

Hornhautdystrophien sind erbliche Hornhauterkrankungen, die meist bilateral auftreten.

Keratokonus Der Keratokonus entwickelt sich meist doppelseitig im 2.–3. Lebensjahrzehnt als eine zunehmende zentrale Vorwölbung und Verdünnung der Hornhaut. Bei Einriss der Descemet-Membran entsteht ein akuter Keratokonus. Histologisch zeigt sich eine zentral verdünnte Hornhaut mit Narbenbildung, multiplen Rupturen bzw. Unterbrechungen der zentralen Bowman-Membran.

Cornea guttata und Fuchs-Endothel-/Epitheldystrophie Zunächst treten warzenförmige Verdickungen der Descemet-Membran auf (= Cornea guttata; Abb. 11-6). Mit zunehmender endothelialer Degeneration und Atrophie kommt es durch Eindringen von Kammerwasser zur Aufquellung des Hornhautstromas und -epithels. Diesen Zustand bezeichnet man als Fuchs-Endothel/Epitheldystrophie.

Klinisch-pathologische Korrelationen der Hornhautdystrophien Zahlreiche Hornhautdystrophien, die hier nicht alle aufgeführt werden können, verursachen Veränderungen des Hornhautstromas, die zu einer Trübung der brechenden Medien führen. Sofern die Trübungen im optischen Strahlengang liegen, resultiert daraus eine entsprechende Herabsetzung des Sehvermögens.

11.4.4

Tumoren

Korneale Tumoren sind äußerst selten. Die Histologie ähnelt den entsprechenden Tumoren der Konjunktiva (siehe Kap. 11.3.3).

11.5

Lederhaut (Sklera)

11.5.1

Entzündungen (Skleritis und Episkleritis)

Entzündungen unterschiedlicher ätiologie können zu einer Verdünnung der Sklera führen.

Abb. 11-6

Cornea guttata.

Warzenförmige Verdickungen der Descemet-Membran, Endothelzellen verdünnt und rarefiziert. Hornhautstroma aufgelockert. PAS, Vergr. 256fach.

11.5.2

Intra- und episklerale Fremdkörper

Fremdkörper finden sich u.a. nach operativen Maßnahmen gegen Netzhautablösungen (z.B. Silikonplomben oder Fadenmaterial), seltener nach Traumen. Histologisch sieht man eine mäßige chronische Entzündung in der Umgebung der Plombe, gelegentlich Fadengranulome.

11.6

Vorderkammer

Die Bedeutung der Vorderkammer liegt u.a. in der Aufrechterhaltung des Kammerwasserabflusses im Kammerwinkel. Der Abfluss kann durch Zell- oder Gewebeeinlagerungen in den offenen Kammerwinkel oder auch durch Kammerwinkelveränderungen gestört werden, die zu einem Winkelblock führen (siehe unten). Auch eine traumatische Vertiefung des Kammerwinkels führt häufig zu einer Funktionsstörung (Sekundärglaukom durch verminderten Abfluss oder Hypotoniesyndrom durch vermehrten Abfluss des Kammerwassers).

11.6.1

Abnormer Inhalt

Verschiedene Substanzen können die Vorderkammer ganz oder teilweise ausfüllen und so den Kammerwinkel partiell funktionslos machen: ■

Blut, das zu einer resorptiven Entzündung führt



Eiteransammlungen nach infektiösen Prozessen



Tumorzellen, insbesondere bei Melanomen



Linseneiweißmassen im Kammerwinkel.

11.6.2

Winkelblock

Eine Anlagerung der Iriswurzel an die Hornhaut und das Trabekelwerk führt zu einer Verlegung des Kammerwinkels und damit zu einem Winkelblock (Abb. 11-7). Hierbei kommt es zu erheblichen Drucksteigerungen. Die häufigste Ursache ist die Rubeosis iridis, eine Neovaskularisation der Iris (siehe Kap. 11.9.2 und 11.10.1).

Abb. 11-7

Sekundärer Winkelblock.

Die Iris ist an die Rückfläche der Kornea angelagert. PAS, Vergr. 64fach.

Abb. 11-8 Vertiefter Kammerwinkel nach Trauma mit Epithelauskleidung (offene Pfeile).

Schwarzer Pfeil: Ende der Descemet-Membran. Doppelpfeile: innerer Wundrand der perforierenden Verletzung. PAS, Vergr. 64fach.

11.6.3

Kammerwinkelvertiefung

Im Gegensatz zum Winkelblock führt der traumatische Abriss der Iriswurzel zu einer Vertiefung des Kammerwinkels, der sog. Kontusionsdeformität (Abb. 11-8).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Jegliche Veränderung im Kammerwinkel des Auges kann eine erhebliche Störung des Kammerwasserabflusses zur Folge haben. Hieraus resultiert häufig ein sekundäres Glaukom, das entsprechend seiner ätiologie therapiert werden muss. Unbehandelt führen derartige Glaukome zur Erblindung.

11.7 11.7.1

Linse (Lens) (Sub-)Luxationen

Die Linsenluxation ist eine Verlagerung der Linse, z.B. in die Vorderkammer oder den Glaskörper. Sie ist durch einen Abriss der Zonulafasern oder durch deren mangelhafte Ausbildung bedingt. Ursachen können ein Trauma, eine Operation, das MarfanSyndrom (siehe Kap. 5.3.1) und zahlreiche andere Syndrome sein.

11.7.2

Grauer Star (Katarakt)

Definition Der graue Star (die Katarakt) ist eine Trübung der Linse, die verschiedenste Ursachen haben kann. Die häufigsten augenärztlichen Operationen betreffen diese Erkrankung. Allein in Deutschland werden zurzeit jährlich etwa 400000 Kataraktoperationen durchgeführt. Die klinisch große Vielfalt der Kataraktformen lässt neben der ätiologischen Einteilung auch eine Einteilung nach der Lokalisation der Trübungszonen zu, wie z.B. Kapselstar, Rindenstar oder Kernstar (Abb. 11-9).

Epidemiologie und ätiologie Die häufigste Form ist die senile oder Alterskatarakt. Seltener kommen Katarakte im Kindesalter und kongenital vor. Weitere Ursachen sind Traumen und Stoffwechselstörungen, wie z.B. der Diabetes mellitus.

Abb. 11-9

Mature Katarakt (reifer grauer Star).

Bei weiter Pupille (Mydriasis) wird die durchgetrübte Linse als weißgraue Scheibe sichtbar. Spaltlampenfoto.

Pathogenese Die Linsentrübung entsteht einerseits durch Wasseraufnahme, andererseits durch Zerstörung des regulären zwiebelschalenförmigen Aufbaus der Linse oder durch proliferative Veränderungen.

Morphologie

Histopathologisch lassen sich im Wesentlichen die Kolliquationskatarakt und die proliferative Katarakt unterscheiden. Bei der Kolliquationskatarakt werden durch

degenerative Vorgänge die sog. Linsenfasern (Fortsätze der Epithelzellen) zerstört und aus ihrem Verband gelöst. Es entstehen Wasserspalten und Morgagni-Kugeln (degenerierte und rundlich aufgedunsene Linsenepithelzellen). Bei der Proliferationskatarakt kommt es zur Vermehrung von Linsenepithelzellen, die vorwiegend unter der Vorderkapsel liegen, aber auch, wie bei der sog. Cataracta complicata, bis auf die Hinterkapsel vordringen können. Bei vollständiger Trübung der Linse spricht man von maturer Katarakt (Abb. 11-9). Bei vollständiger Verflüssigung der Linsenrinde kommt es zu einem Absinken des Kerns, zur Morgagni-Katarakt. Das verflüssigte Linseneiweiß tritt dabei durch die makroskopisch noch intakte Linsenkapsel aus und führt zu einem „phakolytischen” Glaukom (sekundäres Offenwinkelglaukom, siehe Tab. 11-1), bei dem dieses Linseneiweiß zu einer resorptiven histiozytären Entzündung führt.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die resultierende Verstopfung des Trabekelwerks verursacht ein Glaukom (siehe Kap. 11.13).

11.7.3

Kunstlinsen (Pseudophakos)

Bei Staroperationen wird heute üblicherweise eine Kunstlinse implantiert, die meist aus PMMA (Plexiglas) besteht und häufig Bügel aus Polypropylen besitzt. Diese Linsen werden in der Regel in den verbleibenden Linsenkapselsack implantiert oder auch in den Sulcus ciliaris. Histologisch sind gelegentlich resorptive Entzündungen mit oder ohne Bindegewebeproliferationen erkennbar.

11.8

Glaskörper (Vitreus)

Der Glaskörper zeigt wegen seiner äußerst zellarmen Struktur kaum eigene Reaktionsweisen. Histologisch handelt es sich entweder um zelluläre Einlagerungen oder um persistierende Gewebestrukturen aus der Embryonalperiode. Aus der Retina können Gefäßproliferationen in den Glaskörper vordringen.

11.8.1

Einlagerungen

■ Blutungen. Blutungen nach einem Trauma oder aus proliferierten retinalen Gefäßen werden im Laufe von Wochen resorbiert, bei stärkerer Ausprägung entstehen Narben. ■ Entzündungen. Bei Entzündungen aus der Umgebung des Glaskörpers, wie z.B. im Rahmen einer Uveitis anterior, intermedia oder posterior (siehe Kap. 11.10), kommt es zu unterschiedlich ausgeprägten Infiltrationen durch Lymphozyten und Leukozyten, die sich diffus im Glaskörper verteilen. Je nach Ausprägungsgrad der

Entzündung spricht man von Endophthalmitis oder, bei Einbeziehung aller Strukturen, von Panophthalmitis. ■ Andere Einlagerungen. Einlagerungen von Cholesterin bezeichnet man als Synchisis scintillans, diejenigen von Kalziumseifen als asteroide Hyalose.

11.8.2

Persistierende Gewebestrukturen

Gelegentlich findet man Reste der A. hyaloidea. Auch auf der Linsenrückfläche kommen derartige Reste von Gefäßstrukturen vor (Reste der Tunica vasculosa lentis). Der primäre hyperplastische persistierende Glaskörper (PHPV) entsteht aus Resten des primären Glaskörpers, der sich im Raum zwischen Linse und Ziliarkörper befindet.

11.9

Netzhaut (Retina)

Zum besseren Verständnis retinaler Erkrankungen ist die normale Struktur der Retina anhand eines Fundusfotos (Abb. 11-10) dargestellt.

11.9.1

Ursachen retinaler Veränderungen

Die Retina kann bei einer Reihe anderer Grunderkrankungen Veränderungen aufweisen: ■ Intraretinale Blutungen kommen vor bei Diabetes mellitus (siehe Kap. 46.3.2), Zentral- oder Astvenenverschluss, Morbus Coats (anlagebedingte Fehlbildung retinaler Gefäße) und nach Traumen. Die Blutungen liegen in der inneren oder auch äußeren retikulären Schicht. ■ Präretinale Blutungen kommen vor bei Gefäßproliferationen, nach Traumen und retinalen Rissbildungen. Sie liegen vor der Membrana limitans interna. ■ Subretinale Blutungen entstehen aus proliferierten Gefäßen im Rahmen der Makuladegeneration oder nach Traumen. Diese Blutungen liegen in der Regel entweder zwischen Pigmentepithel und Bruch-Membran oder zwischen Pigmentepithel und Rezeptoren. ■ Retinale Atrophien sind Folge arterieller (seltener venöser) Gefäßverschlüsse, Traumen und v.a. länger bestehender Glaukome. ■ Retinale Nekrosen können durch arterielle Gefäßverschlüsse sowie entzündlich (Zytomegalievirus, HIV, siehe Kap. 48.1) bedingt sein. Auch der CottonWool-Herd beim Diabetes mellitus stellt eine umschriebene retinale Nekrose nach retinalem arteriellem Verschluss (meist Arteriole) dar. ■ Retinopathia proliferans ist eine zunächst intra-, später präretinale Gefäßproliferation. Sie kommt vor bei diabetischer Retinopathie,

Zentralarterienverschluss, Zentralvenenverschluss oder älterer Amotio retinae (Netzhautablösung). Die proliferierten Gefäße zeigen einen pathologischen Wandaufbau und neigen daher zu Exsudationen und Blutungen. ■ Harte Exsudate sind intraretinale Ablagerungen eiweißreicher Flüssigkeiten. Sie kommen bei Gefäßläsionen vor, besonders bei Diabetes mellitus, Hypertonus (siehe Kap. 7.9), venöser Stauung und Morbus Coats. ■ Retinale Narben mit Glia- und Bindegewebeproliferationen und entsprechendem Verlust der normalen retinalen Schichten treten nach Traumen, nach Licht- und Laserkoagulation sowie Kryokoagulationen im Rahmen der Netzhautchirurgie auf.

Abb. 11-10

Fundus, rechtes Auge.

Austritt des Sehnervs (Papille) am rechten Bildrand (nasal). Von dort bogenförmige Ausbreitung der retinalen Arterien und Venen. Zentral im gefäßfreien Bezirk liegt die Makula.

11.9.2

Vaskuläre Erkrankungen

Zentralarterienverschluss Der Zentralarterienverschluss führt zu einem ischämischen Infarkt. Durch Embolie (z.B. Cholesterinkristalle), arteriosklerotische Verengung oder Thrombosierung kommt es zum Verschluss der Zentralarterie entweder auf dem Papillenkopf oder innerhalb der Retina mit akuter Nekrose der Ganglienzellen und der Nervenfaserschicht. Die Folge ist ein akuter Visusverlust.

Histologisch finden sich Ganglienzellnekrosen mit einem Ödem, nach Wochen und Monaten kommt es zur Atrophie der inneren retinalen Schichten. Die äußeren retinalen Schichten bleiben unverändert. Prinzipiell spielen sich die gleichen Veränderungen beim Astarterienverschluss ab.

Zentralvenenverschluss Im Gegensatz zum ischämischen Infarkt des arteriellen Verschlusses handelt es sich beim venösen Gefäßverschluss um eine hämorrhagische Infarzierung, die sich histologisch insbesondere in der Nervenfaserschicht zeigt. Klinisch typisch sind intraretinale streifige Blutungen, pralle Gefäße und ein Papillenödem. Nach Wochen bis Monaten kommt es zu einer intra- und präretinalen Gefäßproliferation mit Blutungen in den Glaskörper. Häufig treten Gefäßproliferationen auf der Irisvorderfläche (Rubeosis iridis, Abb. 11-11) mit Ausbildung eines sekundären Winkelblockglaukoms auf (siehe Abb. 11-7).

Diabetische Retinopathie Die diabetische Retinopathie ist eine der häufigsten Erblindungsursachen in den Industrieländern. Sie tritt als eine Mikroangiopathie mit folgenden klinischen und histopathologischen Veränderungen in Erscheinung: ■

Mikroaneurysmen, d.h. Aussackungen von Arteriolen oder Kapillarwänden



fleckförmige oder auch größerflächige intraretinale Blutungen



harte Exsudate



Cotton-Wool-Herde (retinale Nekrose, siehe Kap. 11.9.1)



Arteriolen- und Kapillarverschlüsse



intraretinale und präretinale Gefäßproliferationen.

Die wesentlichen Ursachen der Mikroangiopathie (siehe Kap. 36.9) sind ein Perizytenschaden sowie eine Aufsplitterung der kapillären Basalmembran. Durch präretinale Proliferationen kommt es gelegentlich zu ausgedehnten Glaskörperblutungen sowie durch bindegewebige Glaskörperstränge zur Netzhautablösung (Traktionsamotio). Häufige Spätschäden sind Rubeosis iridis, sekundäres Winkelblockglaukom, Iridopathia diabetica, hyaline Wandverdickung der Arteriolen, Cataracta diabetica und diabetische Optikusatrophie.

Abb. 11-11

Rubeosis iridis.

Der Pfeil markiert die Rubeosisgefäße auf der Irisvorderfläche. PAS, Vergr. 128fach.

11.9.3 Netzhautablösung (Amotio retinae) und Netzhautspaltung (Retinoschisis) Netzhautablösung (Amotio retinae) Ursachen sind zum einen eine Riss- und Lochbildung der Netzhaut verschiedener ätiologien, wie Trauma und Traktion, zum anderen eine Ansammlung subretinalen Exsudats bei Aderhauttumoren und diabetischer Retinopathie. Histologisch findet sich ein eiweißreiches (PAS-positives) Exsudat zwischen sensorischer Netzhaut (Retina) und Pigmentepithel der Aderhaut. Eine lange bestehende Atrophie der Retina, insbesondere der Rezeptoren, führt zum Funktionsverlust. Weiterhin entsteht eine Retinopathia proliferans (siehe Kap. 11.9.1). Therapeutische Möglichkeiten sind die Sklera eindellende Operationen (Plomben bzw. Cerclage) sowie Kryokoagulation u.a. (Abb. 11-12).

Netzhautspaltung (Retinoschisis) Eine Spaltung der Netzhaut zwischen der inneren und äußeren retikulären Schicht mit Unterbrechung der Neurone führt zu einem vollständigen Funktionsausfall im betroffenen Bereich. Histologisch fehlt das subretinale Exsudat der Netzhautablösung.

11.9.4

Makuladegeneration

Eine der häufigsten Erblindungsursachen im höheren Lebensalter ist die senile Makuladegeneration mit zunehmendem Visusverlust, Defekten des retinalen Pigmentepithels und subretinaler Exsudation in der Makula. In einem Alterskollektiv von 52 bis 64 Jahren ermittelte man eine Prävalenz von 1,6% der altersabhängigen Makuladegeneration (AMD), in der Gruppe von 65 bis 74 Jahren eine Prävalenz von 11% und bei über 74-Jährigen eine von 27,9%. Man unterscheidet zwischen der trockenen (d.h. ohne subretinale Exsudation) und der feuchten Makuladegeneration (mit Exsudation). Das Bild des exsudativen Spätstadiums zeigt eine subretinale Fibrosierung und Vaskularisation. Es wird auch als Morbus Junius-Kuhnt oder disciforme Makuladegeneration bezeichnet.

Abb. 11-12

Amotio retinae.

Die Netzhaut ist vollständig abgehoben und liegt als Platte hinter der getrübten Linse. Von dort aus zieht ein Netzhautstrang (gebogener Pfeil) zur Papille. Der kurze Pfeil markiert das Bett der aufgenähten Plombe. Histologisch finden sich allgemeine Zeichen der Atherosklerose, insbesondere in der Choriokapillaris, außerdem Defekte des retinalen Pigmentepithels in der Makula, gelegentlich in der Bruch-Membran, und evtl. Gefäßeinsprossung in den Subretinalraum.

11.9.5

Retinoblastom

Definition Das Retinoblastom ist ein embryonaler Tumor der Retina. Epidemiologie und ätiologie Es ist der häufigste intraokulare Tumor im Kindesalter und kommt meist im 1.–3. Lebensjahr, äußerst selten bei Jugendlichen und Erwachsenen vor. Die Inzidenz dieses Tumors liegt bei 1 zu 15000–18000 Lebendgeburten. über 90% der Retinoblastome treten spontan auf, 5–10% werden autosomal-dominant vererbt. 20% der Tumoren bilden sich beidseits.

Morphologie Der maligne Tumor wächst zunächst per continuitatem mit Ausbreitung in die Umgebung. Er dringt in den N. opticus und die Orbita ein und breitet sich weiter kranial, v.a. intrazerebral, aus (Abb. 11-13a). Die Prognose des Tumors ist bei rechtzeitiger Erkennung und Therapie mit 80–90% überlebenschance relativ gut. Die Letalitätsrate steigt auf 65%, wenn der N. opticus über die Lamina cribrosa hinein infiltriert ist. Histologisch werden zwei Wachstumsformen unterschieden: ■ Endophytische Retinoblastome wachsen in das Bulbusinnere (z.B. in den Glaskörper) hinein. ■ Exophytische Tumoren wachsen nach außen und führen zu einer Invasion der Aderhaut und Sklera. Die differenzierten Retinoblastome enthalten Flexner-Wintersteiner-Rosetten (Abb. 11-13b); diese bestehen aus kreisförmig angeordneten Tumorzellen um ein optisch leer erscheinendes Lumen herum. Einige Tumoren enthalten Pseudorosetten, d.h. Ansammlungen der Tumorzellen um ein zentrales Gefäßlumen herum. Kalzifizierungen kommen in allen Ausprägungsformen des Tumors vor (Röntgendarstellung!). Bei den undifferenzierten Retinoblastomen fehlen Rosetten und Pseudorosetten häufig.

Klinisch-pathologische Korrelationen Leukokorie („weiße Pupille”), fehlender Rotlichtreflex, gelegentlich Auftreten eines Strabismus, Lichtscheu.

11.10 Gefäßhaut (Uvea) Wir differenzieren je nach anatomischer Lage zwischen vorderer Uvea (Iris), mittlerer Uvea (Ziliarkörper) und hinterer Uvea (Aderhaut). Entsprechend werden Entzündungen auch als Uveitis anterior, Uveitis intermedia oder Uveitis posterior bezeichnet.

Abb. 11-13

Retinoblastom.

a Der primär retinale Tumor ist durch die Bulbuswand in den Orbitaraum eingebrochen und hat zum Bild eines Orbitatumors mit entsprechender Verdrängung des Augapfels nach vorn (Protrusio bulbi) geführt.

b Man sieht zwei typische Flexner-Wintersteiner-Rosetten innerhalb lockerer Tumorzellen. HE, Vergr. 256fach.

11.10.1

Regenbogenhaut (Iris)

Entzündungen (Iritis oder Uveitis anterior) Nichtgranulomatöse Iritis Die nichtgranulomatöse Iritis ist eine der häufigsten intraokularen Entzündungen. Sie neigt zu Rezidiven. Die ätiologie ist außerordentlich vielschichtig und in den meisten Fällen nicht geklärt. Histologisch liegt eine vorwiegend lymphozytäre, gelegentlich auch plasmazelluläre Entzündung vor.

Granulomatöse Iritis Die selten auftretende granulomatöse Iritis kommt bei Sarkoidose, Tuberkulose, Lues oder Lepra vor (siehe Kap. 11.9.1). Histologisch finden sich knötchenförmige Verdickungen der Iris, die aus Epitheloidzellen, Riesenzellen und Lymphozyten bestehen (Granulome).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Klinisch findet man bei der nichtgranulomatösen Iritis eine ziliare Injektion, einen Vorderkammer-Reizzustand und eine miotische Pupille mit Synechierungsneigung. Bei der granulomatösen Iritis findet man zusätzlich auf der Irisvorderfläche zahlreiche Knötchen, die als winzige Tumoren imponieren können.

Kolobome Kolobome sind Substanzdefekte der Iris. Sie kommen kongenital, posttraumatisch oder postoperativ (Iridektomie) vor.

Gefäßerkrankungen Die wichtigste Gefäßerkrankung der Iris ist die Rubeosis iridis. Es handelt sich hierbei um eine Gefäßproliferation auf der Irisvorderfläche. Sie kommt bei Diabetes mellitus, Zentralvenenverschluss, Amotio retinae, Zentralarterienverschluss und chronischer Uveitis (seltener) vor. Die Pathogenese ist ungeklärt, eine ischämische Ursache wird u.a. diskutiert. Im weiteren Verlauf kommt es durch zunehmende Ausbildung der Rubeosis auch zu einer Ausbreitung in den Kammerwinkel, der zunächst nur ausgekleidet, dann aber relativ

rasch durch eine Anlagerung der Iriswurzel an das Trabekelwerk verlegt wird. Dieser sog. Winkelblock bei Rubeosis iridis (Abb. 11-11) ist meist mit einem Sekundärglaukom verbunden, das auch Neovaskularisationsglaukom genannt wird.

Tumoren Irisnävus Der Irisnävus ist relativ häufig; es handelt sich um eine Ansammlung von Nävuszellen, die in seltenen Fällen maligne entarten (siehe Kap. 11.9.1).

Malignes Melanom der Iris Es handelt sich um ein Melanom, das in der Regel relativ langsam wächst, wobei es sich zunächst lokal bis in den Ziliarkörper und auch in den Kammerwinkel hinein ausbreitet. Da es selten metastasiert, ist die Prognose gut. Bei zirkulärer Ausbreitung im Kammerwinkel spricht man von einem Ringmelanom (mit deutlich schlechterer Prognose).

11.10.2

Ziliarkörper

Entzündungen (Cyclitis oder Uveitis intermedia) Entzündungen des Ziliarkörpers umfassen unspezifische und granulomatöse Entzündungen (siehe Kap. 11.10.1). Nur selten ist die ätiologie aufklärbar.

Tumoren Tumoren im Ziliarkörper sind selten. Sie haben ihren Ursprung in den ortsansässigen Geweben (Abb. 11.14) und umfassen das Leiomyom (siehe Kap. 45.3.1), das Hämangiom (siehe Kap. 45.3.1), das Neurofibrom (siehe Kap. 9.13) und das maligne Melanom (siehe Kap. 42.7.4).

11.10.3

Aderhaut (Chorioidea)

Entzündungen (Chorioiditis oder Uveitis posterior) Entzündungen der Aderhaut kommen als nichtgranulomatöse und (seltener) granulomatöse Form vor. Eine Sonderform ist die sympathische Ophthalmie (siehe Kap. 11.14.3).

Gefäßerkrankungen und Blutungen Wesentliche Bedeutung hat die Atherosklerose (siehe Kap. 20.2.1) der Aderhaut. Blutungen der Aderhaut kommen bei Atherosklerose, Trauma oder Uveitis vor. Zunächst werden sie resorbiert, später bilden sich Narben. Die expulsive Blutung stellt eine seltene Sonderform der Aderhautblutung nach Trauma, Operation oder perforierendem Ulkus dar. Durch die plötzliche Hypotonie des Bulbus kann es zur Ruptur eines arteriellen Aderhautgefäßes mit einer Massenblutung kommen.

Tumoren Primäre Tumoren Benigne Tumoren Häufigster benigner Tumor der Aderhaut ist der Nävuszellnävus (siehe Kap. 42.7.4). Er ist in jedem zehnten Auge vorhanden, relativ klein und meist unter 1 mm groß. Maligne Entartung ist möglich. Histologisch finden sich relativ umschriebene Ansammlungen von unterschiedlich stark pigmentierten Nävuszellen. Die Nävuszellen der Aderhaut unterscheiden sich von jenen an anderen Lokalisationen. Sie sind meist spindelige Zellen mit hyperchromatischem Kern, wenig Zytoplasma und ohne Malignitätszeichen.

Abb. 11-14

Malignes Melanom des Ziliarkörpers.

Relativ kleines malignes Melanom des Ziliarkörpers mit Durchbruch durch die Sklera (im vorliegenden Schnitt nicht getroffen) und relativ großer Ausbreitung episkleral. PAS, Vergr. 16fach. Andere benigne Tumoren der Aderhaut sind das Hämangiom, das Osteom und das Neurinom. Sie sind sehr selten.

Malignes Melanom Epidemiologie und Ätiologie Das maligne Melanom der Aderhaut ist der häufigste primär in der Aderhaut vorkommende maligne Tumor im Erwachsenenalter. Die Inzidenz liegt bei etwa 10 Fällen auf 100000 (Studie von Jensen, Kopenhagen). 85% aller intraokularen malignen Melanome liegen in der Aderhaut. Weiße Hauttypen sind sehr viel häufiger betroffen als schwarze. Bilaterale maligne Melanome der Aderhaut sind extrem selten. Bei ca. 10% aller klinisch vermuteten malignen Melanome findet man kein malignes Melanom, sondern eine andere Erkrankung wie z.B. eine Blutung, Metastase o.ä. Andererseits findet man in etwa 10% aller blinden, enukleierten Augen ein malignes Melanom als Zufallsbefund.

Morphologie

Typisch ist ein prominenter, dunkel pigmentierter Tumor der Aderhaut (Abb. 11-15), der zunächst die Retina unbeeinträchtigt vorwölbt. Häufig finden sich im Randbereich eine Ablagerung von Lipofuszin sowie eine kollaterale und tumorferne exsudative Amotio retinae, selten dagegen Blutungen und entzündliche Reaktionen. Der Tumor infiltriert später Sklera, Vortexvenen und Ziliarnerven. Ein Durchbruch des Tumors im Bereich des vorderen Augensegmentes nach außen ist heute eine außerordentliche Rarität. Pigment- und Gefäßreichtum der Tumoren sind sehr unterschiedlich. Nach Callender werden folgende Zelltypen unterschieden: ■ Spindel-A-Zell-Typ (5%): spindelige Zellen ohne Nukleolus, mit typischer Längsfalte (Kernfalte), selten Mitosen. Die Prognose ist gut, die 15-Jahres-überlebensrate beträgt 92%. ■ Spindel-B-Zell-Typ (38%): spindelige Zellen mit Nukleolus, keine Kernfalte, gelegentlich Mitosen (Abb. 11-16 und Abb. 11-17). überlebensrate 75%. ■ Epitheloider Zelltyp (3%): relativ große, runde, plumpe Zellen, prominenter Nukleolus, große Kerne, reichlich Mitosen, sehr lockerer Zellverband. überlebensrate 28%.

■ Gemischter Zelltyp (45%): besteht aus Spindel-B-Zellen und Epitheloidzellen (Abb. 11-18). überlebensrate 41%. ■ Nekrotischer Zelltyp (7%): Der Tumor ist größtenteils nekrotisch, sodass sich die Tumorzellen als solche nicht mehr identifizieren lassen. überlebensrate 41%.

Abb. 11-15

Malignes Melanom der Aderhaut.

Der tiefbraune Tumor hat die Bruch-Membran durchbrochen. Am Rand subretinale PAS-positive Exsudation (hellviolett gefärbt). übersichtsaufnahme.

Abb. 11-16 Malignes Melanom der Aderhaut vom Spindel-B-Zell-Typ.

Tumorzellen vom Spindel-B-Zell-Typ. PAS, Vergr. 256fach.

Prognose und Metastasierung Als therapeutische Maßnahmen kommen infrage: Strahlentherapie, Exzision oder Enukleation. Die Gesamtprognose ist abhängig vom Zelltyp, von der Tumorgröße (Volumen) und der Invasion in Sklera und Vortexvenen. Der Tumor metastasiert überwiegend in Leber, Knochen und Hirn.

Sekundäre Tumoren Metastasen Abb. 11-17 Malignes Melanom der Aderhaut vom Spindel-B-Zell-Typ.

Einbruch in eine Vortexvene und damit Aussaat in das venöse System und in die Orbita wahrscheinlich. PAS, Vergr. 64fach. 12% aller an einem Karzinom verstorbenen Patienten weisen Metastasen in den Augen auf, wobei am häufigsten die Aderhaut, seltener die übrigen Gewebe betroffen sind. Der Primärtumor liegt am häufigsten in der Mamma (40%, siehe Kap. 41.6.3) und in den Bronchien (29%, siehe Kap. 24.7.2). Im Gegensatz zum malignen Melanom der Aderhaut breiten sich die Karzinommetastasen zunächst flächenhaft aus. Der Tumorzelltyp der Metastasen entspricht weitgehend dem des Primärtumors. Metastasen finden sich häufig in beiden Augen. Da sie vorwiegend im Endstadium der Tumorerkrankung vorkommen, spielen sie klinisch meist keine Rolle.

Abb. 11-18 Malignes Melanom der Aderhaut vom gemischten Zelltyp.

Durchbruch durch die Sklera. Histologisch gemischter Zelltyp, mittleres Segment des Bulbus. übersichtsaufnahme.

Maligne Lymphome und Leukämien Leukämien (siehe Kap. 21.7) und maligne Lymphome (siehe Kap. 22.2.2) können metastatisch in der Aderhaut auftreten, ebenso sind sie in der übrigen Uvea zu finden.

11.11 Sehnerv (N. opticus) 11.11.1

Sehnerventzündung (Neuritis nervi optici)

Häufige Ursache einer Entzündung des Sehnervs ist die Encephalomyelitis disseminata (multiple Sklerose, MS, siehe Kap. 8.6.1). Etwa 20% aller Patienten mit MS zeigen eine Neuritis als Erstsymptom, ca. 35% entwickeln im Verlauf eine Neuritis. Das klinische Bild ist durch einen akuten Visusverlust mit Zentralskotom und ein echographisch darstellbares Optikusödem gekennzeichnet. Histologisch findet man eine diffuse Lymphozyteninfiltration des N. opticus.

11.11.2

Vaskuläre Erkrankungen

Arterielle Verschlüsse der nutritiven Optikusgefäße führen zu akutem Visusverlust. Histologisch findet man eine akute Nekrose der Nervenfasern des N. opticus. Eine wichtige Sonderform ist die ischämische Optikusatrophie bei Arteriitis temporalis (hohe Blutsenkungsgeschwindigkeit) mit typischem histologischem Bild der Riesenzellarteriitis, siehe Kap. 47.1.6.

11.11.3

Optikusatrophie bei Glaukom

Ursache ist eine Druckatrophie und/oder eine chronische Ischämie. Histologisch ist sie durch eine Atrophie der Optikusaxone vor der Lamina cribrosa gekennzeichnet, d.h. noch innerhalb des Bulbus.

11.11.4

Tumoren

Primäre Tumoren Gliom (juveniles pilozytisches Astrozytom) 80% der Gliome treten bei Patienten unter 15 Jahren auf. Bei 30% sind sie mit einer Neurofibromatose verbunden. Histologisch bestehen sie aus spindeligen Zellen mit geringer Polymorphie, die oft bündelweise zusammengefasst sind. Typisch sind Rosenthal-Fasern (siehe Kap. 9.1). Die Prognose ist relativ gut. Klinisch finden sich Exophthalmus, Ptosis sowie Motilitätseinschränkung und meist erst sehr spät eine Visusminderung.

Meningeom Das Meningeom ist ein Tumor der Optikusscheide. Es wächst sehr langsam und führt zu einer zunehmenden Protrusio bulbi. Zur Histologie vgl. Meningeome des intrakranialen Raums (siehe Kap. 9.9).

Sekundäre Tumoren Sekundäre Tumoren kommen als fortgeleitete Tumoren (z.B. Keilbeinmeningeom, siehe Kap. 9.9, Retinoblastom, siehe Kap. 11.9.5, oder malignes Melanom der Aderhaut, siehe Kap. 11.10.3) sowie als metastatische Absiedlungen im N. opticus vor (z.B. Lymphome, Karzinome u.a.).

11.12 Augenhöhle (Orbita) 11.12.1

Entzündungen

Augenhöhlenentzündung (Orbitaphlegmone) Orbitaphlegmonen sind meist aus den Nasennebenhöhlen (siehe Kap. 23.1.2) fortgeleitete bakterielle Entzündungen (am häufigsten durch Staphylokokken). Histologisch besteht eine eitrige Entzündung. Klinisch typisch ist ein hochakutes Krankheitsbild mit Protrusio, Chemosis und Schmerzen sowie Bewegungseinschränkung.

Muskelentzündung (Myositis) Es handelt sich um eine Entzündung der Augenmuskeln. Die Ursachen sind vielschichtig; häufig kommt sie im Rahmen einer endokrinen Orbitopathie vor (Morbus Basedow, siehe Kap 14.5.2). Histologisch zeigt sich eine umschriebene lymphozytäre Infiltration (meist) der geraden Augenmuskeln. Klinisch finden sich Bewegungseinschränkung, Schmerzen und mäßige Protrusio.

Tränendrüsenentzündung (Dakryoadenitis) Die Entzündung der Tränendrüse kommt als akute bakterielle und als chronische Dakryoadenitis vor. Die chronische Form tritt häufig im Rahmen der Sarkoidose (siehe Kap. 47.1.7) und des Sjögren-Syndroms (siehe Kap. 26.3.6) auf. Histologisch sieht man eine eitrige oder eine lymphoplasmazelluläre Entzündung. Klinische Kennzeichen sind Schwellung und Rötung im temporal oberen Orbitabereich (Paragraphenlid).

11.12.2

Tumoren

Tumoren der Augenhöhle (Orbita) Tumoren der Orbita sind selten (z.B. 263 Tumoren bei 4,3 Mio. Einwohnern in Dänemark). Am häufigsten kommen vor: Hämangiome, Lymphome, Neurofibrome, Gliome des N. opticus, Meningeome, Dermoidzysten sowie Metastasen (siehe im jeweiligen Kapitel). Daneben können sog. entzündliche Tumoren auftreten. Je nach Größe und Lage des Tumors finden sich klinisch eine Bulbusverlagerung und eine Protrusio bulbi.

Tumoren der Tränendrüse

Pleomorphes Adenom; adenoidzystisches Karzinom. Histologie siehe Kap. 26.3.8.

11.13 Grüner Star (Glaukom) Das Glaukom hat in der Ophthalmopathologie eine besondere Bedeutung, da eine große Anzahl von Augen nach Erblindung wegen unerträglicher Schmerzen enukleiert werden müssen. Das klinische Bild ist durch Erhöhung des intraokularen Drucks und Minderperfusion des N. opticus gekennzeichnet. In der Folge kommt es zu einer Papillenexkavation mit Atrophie des N. opticus (Abb. 11-19) und Gesichtsfelddefekten. Eine Sonderform ist das akute Glaukom, das zur massiven Druckerhöhung sowie Rötung des Auges führt. Die Unterscheidung der in Tab. 11-1 aufgeführten Formen des Glaukoms ist wegen der klinischen Relevanz unbedingt erforderlich. Das mit weitem Abstand häufigste Glaukom ist das primäre Offenwinkelglaukom (oder auch primäre chronische Glaukom). Bei dieser Form sind lichtmikroskopisch keine Veränderungen erkennbar, lediglich die Folgen des Glaukoms lassen die Diagnose zu. Hier ist in der Frühphase eine medikamentöse Therapie erforderlich. Einige der genannten sekundären Offenwinkelglaukome lassen sich durch die Entfernung des abnormen Kammerinhaltes therapieren, während eine zelluläre Kammerwinkelauskleidung sowie die Veränderungen im Trabekelwerk sich nur indirekt beheben lassen, wie z.B. durch Zyklodestruktion (Zyklokryokoagulation oder Zyklophotokoagulation). Beim Winkelblockglaukom ist im Gegensatz zum Offenwinkelglaukom die Iriswurzel an die periphere Hornhautrückfläche angelagert. Auch hier ist wieder eine unterschiedliche ätiologie möglich, die in Tab. 11-1 dargestellt ist. Beim primären Winkelblock ist eine periphere Iridektomie (Irisausschneidung) in der Anfangsphase nötig, um einen Fluss des Kammerwassers von der Hinterkammer in die Vorderkammer zu ermöglichen. Andererseits sind beim sekundären Neovaskularisationsglaukom sowohl eine Therapie der Neovaskularisation mittels Koagulation als auch eine zusätzliche Druck senkende Operation erforderlich, meist in Form einer Verkleinerung der KammerwasserProduktionsstelle durch Koagulation des Ziliarkörpers.

Abb. 11-19

Glaukompapille.

Tiefe Aushöhlung der Papille durch Atrophie des Gewebes. Die retinalen Gefäße knicken am Papillenrand ab. Fundusfoto.

Tab. 11-1 Einteilung der Glaukome. 1. Offenwinkelglaukom a) primär b) sekundär ■ I. abnormer Vorderkammerinhalt (Blut, Fibrin, Linseneiweiß, Tumorzellen) ■ II. zelluläre Kammerwinkelauskleidung (Epithelimplantation, Endothelialisierung der Vorderkammer) ■ III. Veränderungen im Trabekelwerk (Pseudoexfoliationsglaukom, Posner-Schlossman-Syndrom, Heterochromiezyklitis, Siderosis) 2. Winkelblockglaukome a) primär ■

I. Kurzbau des Auges (Hyperopie)



II. große Linse

b) sekundär ■ I. Neovaskularisationen (Rubeosis im Kammerwinkel, bei Zentralvenenverschluss, Diabetes mellitus, Amotio retinae, Zentralarterienverschluss) ■

II. Pupillarblock



III. ziliolentikulärer Block

11.14 Verletzung (Trauma) 11.14.1

Stumpfes Trauma (Contusio bulbi)

Folgen einer stumpfen Verletzung (Faustschlag, Tennisball u.a.) können in jeder Gewebestruktur des Auges auftreten, abhängig von der Stärke des ursächlichen Traumas. Klinisch finden sich Einblutungen in die Konjunktiva (Hyposphagma), in die Vorderkammer (Hyphaema), in die Iris, in den Glaskörper, in die Retina und in die Chorioidea.

11.14.2

Perforierende Verletzungen

Die Verletzung entsteht am Ort des Traumas mit entsprechender Zerstörung des jeweiligen Gewebes sowie meist ausgeprägten Blutungen. Kombinationen mit Contusio bulbi oder intraokularen Fremdkörpern sind möglich und führen ggf. zu einer Siderosis (Verrostung) und Chalcosis bulbi (Verkupferung des Auges). Eine insuffiziente Adaptation von Wundrändern führt zum Einwachsen des Konjunktivalepithels in das Bulbusinnere.

11.14.3

Sympathische Ophthalmie

Die sehr seltene sympathische Ophthalmie stellt eine der gefürchtetsten ophthalmologischen Komplikationen dar. Die Ursache ist bis heute ungeklärt. Voraus geht immer eine Verletzung des uvealen Gewebes (meist durch akzidentelles Trauma, seltener durch Operationen). Vermutet wird eine immunologische Reaktion gegen uveales Gewebe. Typischerweise erkrankt hierbei das zunächst unbeteiligte Auge des Patienten an einer chronischen Uveitis. Histologisch findet man eine dichte lymphozytäre Entzündungsreaktion in der Aderhaut mit Fuchs-Dalen-Körperchen (Epitheloidzellhaufen). Patienten mit einer sympathischen Ophthalmie sind in doppelter Weise betroffen: Zuerst wird ein Auge durch eine (meist schwere) perforierende Verletzung erheblich geschädigt. Nach einem Zeitraum von wenigen Wochen bis zu vielen Jahren erkrankt das zweite Auge, sodass eine beidseitige Erblindung eintreten kann. Die optimale Erstversorgung eines Auges mit perforierender Verletzung ist unbedingt notwendig, um eine sympathische Ophthalmie zu vermeiden.

11.15 Schrumpfung des Augapfels (Atrophia bulbi und Phthisis bulbi) Es handelt sich hierbei um einen Endzustand nach zahlreichen verschiedenen, lange bestehenden intraokularen Erkrankungen.

11.15.1

Atrophia bulbi

Atrophie des Ziliarepithels, der Retina und des N. opticus durch langfristige intraokulare Drucksteigerung, chronische Entzündungen oder persistierende Hypotonie. Im fortgeschrittenen Stadium findet sich eine Schrumpfung aller Gewebestrukturen.

Abb. 11-20

Phthisis bulbi.

Desorganisierte Reste eines geschrumpften Bulbus. Die Linse fehlt, die Reste der abgehobenen und destruierten Retina sind noch erkennbar. Im N. opticus Verkalkungen. HE, übersichtsaufnahme.

11.15.2

Phthisis bulbi

Es handelt sich um eine Atrophia bulbi mit Schrumpfung und Desorganisation bis zum funktionellen Verlust des Auges. Histologisch findet sich ein kleiner Bulbus mit erheblich verdickter Kornea und Sklera, Vernarbungen und Desorganisation des intraokularen Gewebes. In Spätstadien sieht man intraokulare Verkalkungen oder Verknöcherungen (Abb. 11-20).

11.16 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Augenerkrankungen Insbesondere die Tumorpathologie ist von großer Bedeutung für Pathologen, Kliniker und Patienten. Dies betrifft die Tumoren der Lider, der Bindehaut, der Aderhaut, weniger häufig (da seltener zu finden) die Tumoren der Regenbogenhaut, des Ziliarkörpers sowie der Netzhaut. Neoplastische Veränderungen der Hornhaut, der Linse sowie der Lederhaut spielen praktisch keine Rolle, da sie fast nie auftreten. Der Ophthalmologe benötigt Informationen über die Dignität der Tumoren, aber auch über die Art des infiltrativen Wachstums und möglichst eine Aussage darüber, ob ein maligner Tumor im Gesunden exzidiert wurde oder nicht. Der Kliniker sei aber mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass der Pathologe jeweils nur eine Aussage über den ihm vorliegenden Schnitt machen kann. Eine Aussage über das Tumorwachstum in der Ebene über oder unter dem jeweiligen Schnitt kann er nicht treffen! Stufen- oder gar Serienschnitte lassen sich wegen des hohen Zeitaufwandes und der damit verbundenen Kosten nur in Ausnahmefällen anfertigen. Für den Kliniker ist auch die Unterscheidung der Entzündungen in granulomatöse und nichtgranulomatöse Formen wichtig. Granulomatöse Entzündungen sind ätiologisch der Sarkoidose (siehe Kap. 47.1.7) zuzuordnen, seltener der Tuberkulose (siehe Kap. 48.2.7) oder gar der Lepra (siehe Kap. 48.2.7). Eine vom Pathologen oft fehlgedeutete granulomatöse Entzündung stellt das Chalazion (siehe Kap. 11.2.1) dar, das dem Ophthalmologen als chronische entzündliche Veränderung des Lides geläufig ist. Sie kann aus einem Hordeolum oder als resorptive Entzündung bei einer Talgdrüsenretention (Meibom-Drüse) entstehen. Der Pathologe kann auch wesentliche Hinweise auf die Ursache akuter Entzündungen geben, z.B. durch Erregerdiagnostik (Mykose? Bakterielle Infektion?).

Degenerative Erkrankungen bedürfen gelegentlich der Spezialfärbungen für Eisen (Siderosis, siehe Kap. 32.10.1) und Kupfer (Chalkosis, Morbus Wilson, siehe Kap. 32.10.2). Die Kupfer- und Eisenablagerungen haben zwar wegen ihrer Seltenheit eine untergeordnete Bedeutung, können aber im Einzelfall entscheidende Hinweise auf eine erforderliche Therapie liefern, z.B. bei Morbus Wilson.

Literatur Garner, A., G. Klintworth: Pathobiology of ocular disease. Marcel Dekker, New York 1982. Naumann, G.O.H.: Pathologie des Auges. 2. Auflage. Springer, Berlin–Heidelberg– New York 1997. Spencer, W.H.: Ophthalmic pathology, Vol. 1–3. W.B. Saunders, Philadelphia 1985.

FRAGEN 1 Welches ist die klinisch relevanteste Differentialdiagnose des Chalazions? 2 Was ist ein Kayser-Fleischer-Ring, und bei welcher Erkrankung ist er ein wichtiger klinischer Hinweis? 3 Was ist die klinische Folge einer Hornhautendothelatrophie? 4 Welche Substanzen können sich in der Vorderkammer ansammeln? 5 Welche Erkrankungen resultieren aus den unter 4 genannten Substanzablagerungen im Kammerwinkel? 6 Nennen Sie die wichtigsten pathologischen Veränderungen bei der diabetischen Retinopathie. 7 Welches ist der häufigste intraokulare Tumor im Kindesalter? 8 Wie sieht das typische histologische Bild des Retinoblastoms aus? 9 Welche Primärtumoren verursachen häufig Aderhautmetastasen? 10

Nennen Sie eine häufige Ursache der Neuritis nervi optici?

11

Was ist eine sympathische Ophthalmie?

12 Welches sind die Indikationen zur morphologischen Untersuchung der in diesem Kapitel beschriebenen Krankheiten? Welche Untersuchungen sind indiziert? Welchen Beitrag können diese Untersuchungen zur präzisen Diagnostik und zur Planung der Therapie leisten?

12 Ohr A. BEHAM, H. DENK 12.1

Anatomische Grundlagen 367

12.2

Äußeres Ohr 367

12.2.1

Entzündliche Erkrankungen – Otitis externa 367

12.2.2

Nichtinfektiöse Erkrankungen 368

12.2.3

Tumoren 368

12.3

Mittelohr 368

12.3.1

Entzündliche Erkrankungen – Otitis media 368

12.3.2

Nichtinfektiöse Erkrankunge 369

12.3.3

Tumoren 370

12.4

Innenohr 370

12.4.1

Toxische Schädigung 370

12.4.2

Infektiöse Schädigung 370

12.4.3

Traumatische Schädigung 370

12.4.4

Morbus Menière 370

12.4.5

Tinnitus 370

Literatur 370 Fragen 370

12.1

Anatomische Grundlagen

Das äußere Ohr besteht aus der Ohrmuschel (Auricula) und dem äußeren Gehörgang (Meatus acusticus externus). Es dient der Schallaufnahme und Schallzuleitung zum Mittelohr. Der äußere Gehörgang wird durch das Trommelfell (Membrana tympani) vom Mittelohr getrennt. Er wird von Haut ausgekleidet. Das Mittelohr besteht aus mit Schleimhaut ausgekleideten luftgefüllten Kammern. Sein Zentrum ist die Paukenhöhle (Cavum tympani), die über die Ohrtrompete (Tuba auditiva) mit dem Nasopharynx

verbunden ist. Über das Antrum mastoideum steht sie mit den Cellulae mastoideae in Verbindung. Die drei Gehörknöchelchen Hammer (Malleus), Amboss (Incus) und Steigbügel (Stapes) werden von der Paukenhöhlenmukosa umschlossen. Die Gehörknöchelchen sind gelenkig miteinander verbunden und übertragen mechanisch die Bewegungen des Trommelfells über die Fenestra vestibuli (ovales Fenster) auf die Flüssigkeit des Innenohrs. Das Innenohr (Labyrinth) besteht aus einer knöchernen Kapsel (knöchernes Labyrinth), worin das häutige Labyrinth eingelagert ist. Der zwischen knöchernem und häutigem Labyrinth liegende Raum ist mit einer Flüssigkeit (Perilymphe), das häutige Labyrinth selbst mit Endolymphe gefüllt. Das Zentrum des knöchernen Labyrinths ist das Vestibulum, in das die drei Bogengänge, der Aquaeductus vestibuli und die Schnecke (Cochlea) einmünden. Das häutige Labyrinth enthält die beiden Sinnesorgane, das Gehörorgan (Cochlea) und das Gleichgewichts oder Vestibularorgan. Dieses wird von der Pars vestibularis des N. statoacusticus innerviert.

12.2 12.2.1

Äußeres Ohr Entzündliche Erkrankungen – Otitis externa

Darunter versteht man in erster Linie eine infektiöse Entzündung des äußeren Ohres, die meist he rvorgerufen wird ■ durch Bakterien (Staphylokkoken, Streptokokken, Proteus vulgaris, Pseudomonas aeruginosa), ■

aber auch durch Viren (Herpesviren)



oder durch Pilze (Candida, Aspergillus).

Daneben können auch nichtinfektiöse Entzündungen im Rahmen von Kontaktekzemen auftreten (z.B. durch Inhaltsstoffe von Kosmetika, Parfüms, Ohrringen u.a.).

Diffuse Otitis externa Häufige Erkrankung, deren Entstehung durch Hautverletzungen bzw. Hautmazerationen durch anhaltende Feuchtigkeit (z.B. häufiges Baden) begünstigt wird. Nach Infektion kommt es im äußeren Gehörgang zu Rötung und Ödem der Haut sowie zur Ausbildung eines übel riechenden entzündlichen Exsudats.

Umschriebene Otitis externa Abszedierte Entzündung von Haarfollikeln nach Infektion durch Staphylokkoken (sog. Gehörgangsfurunkel).

Perichondritis Nach Infektion mit Bakterien (z.B. Pseudomonas aeruginosa) tritt eine eitrige Entzündung zwischen Perichondrium und Knorpel der Pinna auf. Dadurch kann die Blutversorgung des Knorpels so eingeschränkt werden, dass er nekrotisch wird.

Schwer wiegend verlaufende („maligne“) Otitis externa Gewöhnlich bei älteren Patienten mit Diabetes mellitus oder Patienten mit herabgesetzter Immunabwehr auftretende Erkrankung. Nach Infektion mit Pseudomonas aeruginosa oder anaeroben Bakterien kommt es zu einer phlegmonöseitrigen Entzündung des äußeren Gehörgangs mit Übergreifen auf Knorpel, Knochen und Weichgewebe. Häufig setzt sich die Entzündung auf die Schädelbasis unter Einschluss des 9., 10., 11. und 12. Hirnnervs fort und kann so zu Meningitis, Abzessen und Sepsis führen.

12.2.2

Nichtinfektiöse Erkrankungen

Chondrodermatitis nodularis chronica helicis Knotige Veränderung des äußeren Ohres derzeit unbekannter Ätiologie, die mit degenerativen und entzündlichen Veränderungen von Haut, Subkutis und Knorpel einhergeht. Die Epidermis über der Läsion ist oft ulzeriert und reaktiv verbreitert. Im darunter liegenden Bindegewebe tritt fibrinoides Material, umgeben von Granulationsgewebe und Entzündungsinfiltraten, mit Übergreifen auf das Perichondrium auf. Der Ohrknorpel ist durch degenerative Veränderungen bis zu Zysten- und Spaltbildungen gekennzeichnet.

Keloid Typischerweise am Ohrläppchen nach vorangegangenem Trauma (z.B. Ohrringe) lokalisierte umschriebene, überschießende Narbenbildung. Histologisch steht dabei das Auftreten breiter, eosinophiler Bündel hyalinisierten Kollagens im Vordergrund.

Gicht Umschriebene Ablagerung von Uratkristallen in Subkutis und Knorpel des äußeren Ohres infolge einer Hyperurikämie. Die Kristalle bilden amorphe, weißliche Massen, die von Fremdkörperriesenzellen, Histiozyten und Bindegewebe umgeben sind (sog. Gichttophi)

12.2.3

Tumoren

Tumoren sind am häufigsten an der Ohrmuschel lokalisiert und entsprechen daher meist UVB-assoziierten, von der Epidermis ausgehenden aktinischen Keratosen, Keratoakanthomen, Plattenepithelkarzinomen und Basalzellkarzinomen („Basaliomen“; siehe Kap. 42.7.1). Selten sind Tumoren der Zeruminaldrüsen.

12.3 12.3.1

Mittelohr Entzündliche Erkrankungen – Otitis media

Die Otitis media (Mittelohrentzündung) stellt eine der häufigsten Erkrankungen des Kindesalters mit bevorzugtem Auftreten im Winter und Frühling dar und wird hervorgerufen durch ■ Bakterien (Streptokokken, Pneumokokken, Haemophilus, Proteus, Staphylokkoken, Pseudomonas u.a.) ■

Viren (Influenzaviren, Enteroviren, Rhinoviren, Adenoviren u.a.).

Die Erreger gelangen meist während oder nach einer Infektion des Nasopharynx über die Tuba auditiva, selten nach Trommelfellperforation oder ausnahmsweise hämatogen bzw. lymphogen ins Mittelohr.

Akute Otitis media Die Entzündung ist durch Schleimhautrötung, -ödem, granulozytäre Infiltration und Eiterbildung gekennzeichnet. Da der Eiter durch entzündungsassoziierte Tubenblockade nicht abfließt, kann die Entzündung durch Übergreifen auf die Umgebung schwerwiegende Komplikationen wie Mastoiditis, Labyrinthitis, Trommelfellperforation, Hirnabszess, Meningitis oder Thrombophlebitis nach sich ziehen (Abb. 12-1).

Seröse Otitis media Auftreten von wässriger (seröser) oder visköser (seromuköser) Flüssigkeit im Mittelohr infolge einer mechanischen Abflussbehinderung in der Tuba auditiva. Meist am Beginn einer viralen oder bakteriellen Otitis media, chronischen Rhinosinusitis oder bei allergischen Grunderkrankungen. Die Komplikationen bestehen hauptsächlich in Superinfektionen und Fibrosen.

Chronische Otitis media Entweder sekundär infolge einer akuten Otitis media oder primär chronisch auftretende Entzündung mit Ausbildung von Granulationsgewebe. Regelmäßig findet sich eine Perforation des Trommelfells, durch die sich charakteristischerweise mukopurulente Flüssigkeit nach außen entleert. Durch narbige Umwandlung des Granulationsgewebes kann es zu einer Fibrose in der Paukenhöhle mit nachfolgender Höreinschränkung kommen.

Abb. 12-1

Otitis media mit Komplikationen

(Ausbreitung des Entzündungsprozesses).

Entzündlicher Ohrpolyp Es handelt sich um eine polypoide Läsion im trommelfellnahen, äußeren Gehörgangsanteil oder im Mittelohr, die aus entzündlichem, von Zylinderepithel oder Plattenepithel überkleidetem Granulationsgewebe besteht. Der Polyp entsteht meist im Mittelohr infolge einer chronischen Otitis media und wölbt sich durch einen Defekt im Trommelfell nach außen in den Gehörgang vor.

12.3.2

Nichtinfektiöse Erkrankungen

Cholesteatom Zystenartige Läsion im Mittelohr, die von geschichtetem, verhorntem Plattenepithel ausgekleidet und von Hornmassen erfüllt ist. Das Cholesteatom entsteht entweder als Komplikation einer Otitis media oder selten auf dem Boden eines kongenitalen Einschlusses von Plattenepithel im Os temporale und ist gewöhnlich im Recessus epitympanicus oder Antrum des Mastoids zu finden. Die dabei auftretenden Hornlamellen rufen chronische Entzündungen, Blutungen, Granulombildungen und manchmal Drucknekrosen des Knochens hervor (Abb. 12-2).

Abb. 12-2

Cholesteatom.

Es findet sich eine von verhorntem Plattenepithel ausgekleidete und von Hornlamellen erfüllte Zyste (rechte Bildhälfte), die eine Entzündung der angrenzenden Mittelohrschleimhaut hervorgerufen hat (linke Bildhälfte). HE, Vergr. 40fach.

Otosklerose Die Otosklerose ist eine Erkrankung derzeit unbekannter Ätiologie, die im knöchernen Labyrinth und im Bereich der Fußplatte des Steigbügels auftritt und zu einem zunehmenden, meist beidseitigen Hörverlust führt. Die Betroffenen sind zwischen 10 und 40 Jahre alt. Pathohistologisch wird perivaskulär resorbierter Knochen durch ein zellreiches fibrovaskuläres Gewebe mit irregulär strukturiertem, neu gebildetem Knochen ersetzt.

12.3.3

Tumoren

Neoplasien des Mittelohrs stellen Raritäten dar, unter denen vom Glomus jugulare und Glomus tympanicum ausgehende Paragangliome erwähnenswert sind.

12.4 12.4.1

Innenohr Toxische Schädigung

Durch eine Reihe unterschiedlicher Medikamente wie Aminoglykosid-Antibiotika, Schleifendiuretika, Salicylate, Chinin und Zytostatika kann eine toxische Schädigung des Innenohrs mit Hör- und Gleichgewichtsstörungen ausgelöst werden.

12.4.2

Infektiöse Schädigung

Infektiöse Erkrankungen des Innenohrs werden in erster Linie durch Viren und Bakterien verursacht. Die Viren (Zytomegalie-, Masern-, Mumps-, Röteln- und Herpesviren) können das Innenohr hämatogen, entlang dem 7. und 8. Hirnnerv, vom Mittelohr ausgehend oder über die Meningen erreichen. Die bakterielle Infektion tritt meist als Folge einer Otitis media auf, daneben durch Übergreifen einer Knochenerkrankung (Ostitis, Osteomyelitis) oder entlang von Nerven und Gefäßen. Die Infektionen führen zu Gleichgewichtsstörungen, Drehschwindel sowie Schwerhörigkeit bis zum kompletten Hörverlust sowie Meningitis.

12.4.3

Traumatische Schädigung

Traumatische Schädigungen des Innenohrs führen meist dauerhaft zu Schwerhörigkeit oder völligem Gehörverlust. Die Schädigungen sind polyätiologisch und rühren in erster Linie von Frakturen des Os temporale, Schallbelastungen (Explosionen und Schüsse), intensiver Lärmbelastung (z.B. Motorlärm, Musiklärm in Diskotheken u.Ä.) und Barotraumen (z.B. in Flugzeugen, beim Tauchen) her.

12.4.4

Morbus Menière

Der Morbus Menière ist eine Erkrankung des Hör- und Gleichgewichtsorgans, die sich durch episodenartige Gleichgewichtsstörungen, Gehörverlust und Tinnitus äußert. Pathohistologisch liegt eine Ausweitung des endolymphatischen Raums aufgrund vermehrter Flüssigkeit („Hydrops“) vor. Die genaue Ursache ist derzeit unbekannt, eine vorangegangene subklinisch verlaufene virale Labyrinthitis kommt infrage.

12.4.5

Tinnitus

Es handelt sich um eine rein subjektive Geräuschwahrnehmung bei fehlendem akustischem Reiz. Das Geräusch kann pfeifend, zischend, summend, klingelnd, rauschend u.a. sein und permanent oder temporär auftreten. Tinnitus tritt als Symptom bei unterschiedlichen Erkrankungen des Ohres, Herz-Gefäß-Erkrankungen, Anämie oder Hypothyreose auf.

Literatur Arnold W., R.J. Kau, H.P. Niedermeyer: Ohr. In: Doerr, W., G. Seifert, E. Üehlinger (Hrsg.): Spezielle pathologische Anatomie; Bd. 4. 2. Aufl. Springer, Berlin 1999, pp 265–516. Schuknecht, H.F.: Pathology of the ear. 2nd ed. Lea & Febiger, Philadelphia, Baltimore 1993.

FRAGEN 1 Nennen Sie die wichtigsten entzündlichen Erkrankungen des Ohrs, deren Ursachen und Folgen. 2 Welche Erkrankungen können zu Gehöreinschränkung oder Gehörverlust führen? 3 Haben Tumoren im Bereich des Ohrs eine große praktische Bedeutung? Wenn ja, welche? 4 Welches sind die Indikationen zur morphologischen Untersuchung der in diesem Kapitel beschriebenen Krankheiten? Welche Untersuchungen sind indiziert? Welchen Beitrag können diese Untersuchungen zur präzisen Diagnostik und zur Planung der Therapie leisten?

Neuroendokrines System

Allelverlust des MEN–1–Gens (grünes Fluoreszenzsignal; weißer Pfeil) im Vergleich zum Chromosom 11 (rote Signale) im Zellkern eines Tumors von einem MEN–1–Patienten. Darstellung mittels Fluoreszenz–in–situ–Hybridisierung (FISH). Im rechten Bildbereich ist ein grünes Fluoreszenzsignal verloren gegangen. Normalbefund (links) mit je zwei roten und grünen Signalen.

Neuroendokrines System PH. U. HEITZ G. KLÖPPEL

Zur Orientierung Jeder multizelluläre Organismus braucht für die Steuerung seiner Entwicklung und seiner Aktivitäten eine gut funktionierende interzelluläre Kommunikation. Je höher der Organismus in der phylogenetischen Reihe steht, d.h., je komplexer und vielfältiger seine Organisation und Aktivitäten sind, desto höher sind seine Ansprüche an deren Regulation. Das neuroendokrine System des Organismus (Nervensystem und peripheres neuroendokrines System) ist – zusammen mit dem Immunsystem – für die interzelluläre Kommunikation verantwortlich. Mit Hilfe chemischer Signalstoffe reguliert es sämtliche Zell– und Organsysteme. Im engen Sinn umfasst das neuroendokrine System die eigentlichen endokrinen Drüsen sowie das disseminierte neuroendokrine System. Aufgrund der umfassenden Effekte chemischer Botenstoffe und ihrer gegenseitigen Beeinflussung innerhalb zusammenhängender Regelkreise führen Störungen des neuroendokrinen Systems zu außerordentlich tief greifenden und komplexen Syndromen.

Schilddrüsenerkrankungen (siehe Kap. 14) und der Diabetes mellitus (siehe Kap. 46.3.2) sind häufige Beispiele. Allgemeines Die Funktion des neuroendokrinen Systems besteht in der Aufrechterhaltung und Feinregulierung der Hom 246;ostase. Es ist aufgebaut aus funktionell vernetzten endokrinen Drüsen (Hypophyse, Schilddrüse, Nebenschilddrüsen, Nebennieren, Gonaden) sowie aus topographisch weitreichend disseminierten, funktionell jedoch integrierten Zellsystemen (endokrines Pankreas, Lunge, Magen–Darm–Trakt etc.). Die funktionelle Vernetzung des Systems beruht auf Regelkreisen mit Rückkopplungsmechanismen, sog. Feedback–Systemen. Man unterscheidet: ■ Peptidhormone (z.B. GnRH, TRH, SRH, CRH, ACTH, ADH, Prolaktin, Oxytocin, Parathormon, Kalzitonin). ■ Glykoproteinhormone (z.B. FSH, LH, TSH). ■ Steroidhormone (z.B. Testosteron, Östrogene, Gestagene, Kortikosteroide). Die Synthese von Peptid– und Glykoproteinhormonen erfolgt über Vorläufer (Präprohormone) an Ribosomen im rauen endoplasmatischen Retikulum und im Golgi– Apparat. Die enzymatische Spaltung zum definitiven Sekretprodukt läuft darauf in neurosekretorischen Granula ab. Die Sekretion des Hormons setzt auf einen adäquaten Stimulus ein, d.h., sie erfolgt reguliert (Abb. 13-A). Sie folgteinem zirkadianen Rhythmus, der durch sehr rasche Rhythmen (Sekunden bis Minuten) und übergeordnete langsame Rhythmen überlagert wird.

Abb. 13-A Allgemeines Schema der Biosynthese von Peptidhormonen.

• Rezeptor in der Zellmembran

Abb. 13-B

Sekretionswege einer neuroendokrinen Zelle.

Bei einem Neuron mit Sekretion von Peptiden und/oder Aminen wird die Sekretion als neurokrin bezeichnet. Die Synthese von Steroidhormonen läuft in einer Reihe von Schritten, ausgehend vom Cholesterin, in Zytoplasma und Mitochondrien ab (siehe Abb. 16–2). Die Steroide werden auf einen Stimulus hin rasch synthetisiert und sezerniert, also nicht in der Zelle gelagert. Da im Gegensatz zu peptidhormonbildenden Zellen keine Hormonspeicherung erfolgt, finden sich in den steroidbildenden Zellen keine Sekretgranula. Der morphologische Nachweis neuroendokriner Zellen gelingt elektronenmikroskopisch und immunhistochemisch. Elektronenmikroskopisch sind membranbegrenzte Sekretgranula mit unterschiedlich großem und verschieden geformtem, elektronendichtem Kern charakteristisch und teilweise typisch für bestimmte Peptidhormone (siehe Abb. 1–5f und 17–1b). Immunhistochemisch ermöglichen einerseits allgemeine neuroendokrine Marker (Synaptophysin, Chromogranine, neuronspezifische Enolase) und anderseits spezifische Immunreaktionen mit Hormonen den spezifischen Nachweis neuroendokriner Zellen (siehe Abb. 1–5f, 13–2c und f, 17–1a, 17–4c und d und 17–6c).

Die Sekretion bzw. der Transport der Hormone zur Zielzelle kann auf verschiedenen Wegen erfolgen (Abb. 13–B): autokrin, parakrin, endokrin (bzw. hämokrin) oder solinokrin (Sekretion in das Lumen eines Hohlorgans). Krankheiten des neuroendokrinen Systems beruhen auf Störungen eines oder mehrerer Schritte in der Biosynthese und/oder Sekretion von Hormonen (vgl. Abb. 13–A), auf Störungen spezifischer Zellrezeptoren sowie auf inadäquaten Reaktionen der Zielzelle. Daraus resultiert eine inadäquate Regulation der Homöostase. Unterfunktion Genetisch bedingte enzymatische Defekte der Hormonbiosynthese führen zur herabgesetzten Hormonsekretion und damit zur Unterfunktion der betreffenden Zielzelle bzw. Zieldrüse. Innerhalb eines Feedback–Systems resultiert daraus eine verminderte Hemmung der Sekretion des Hormons, das die Zielzelle bzw. Zieldrüse stimuliert. Die dadurch verstärkte Stimulation führt zur Hyperplasie der durch den genetischen Defekt betroffenen Drüse. Eine Unterfunktion kann auch durch eine Agenesie oder Aplasie einer Drüse bedingt sein oder aus einer entzündlichen, immunologischen bzw. tumorösen Destruktion einer endokrinen Drüse oder aus dem Fehlen von Rezeptoren für das stimulierende Hormon resultieren. Unterfunktion einer Drüse, die trophische Hormone sezerniert, führt zu Unterfunktion, Atrophie bzw. zum reduzierten Wachstum des Zielorgans (Abb. 13-C). Überfunktion Eine Überfunktion kann aus einer partiellen oder weitgehenden Autonomie einer Läsion, vor allem eines Tumors einer Zieldrüse oder aus deren erhöhter Stimulation, entstehen. Die erhöhte, teilweise autonome Sekretion von Hormonen durch die Zieldrüse hemmt die Sekretion des trophischen Hormons der vorgeschalteten Drüse. Die Serumkonzentration des Hormons der Zielzelle ist dabei erhöht, diejenige des Hormons der vorgeschalteten Drüse hingegen erniedrigt. Bei gesteigerter Stimulation durch die vorgeschaltete Drüse sind hingegen die Serumkonzentrationen sowohl des trophischen als auch des Hormons der Zieldrüse erhöht. Die Bestimmung der Serumkonzentrationen verschiedener Hormone eines bekannten Regelkreises erlaubt demnach oft die Lokalisation der Störung der Hormonsekretion. Geeignete Stimulationstests tragen dazu bei, primäre Erkrankungen von Zielorganen (Schilddrüse, Nebennierenrinde, Gonaden) vom sekundären Ausfall von Hormonen der Zielorgane infolge eines Hypopituitarismus (siehe Kap. 13.2.2) zu differenzieren.

Abb. 13-C Stark vereinfachte Darstellung eines möglichen Regelkreises mit Feedback–Hemmung der stimulierenden Drüse(n) durch die Hormone der Zieldrüse.

Hy = Hypothalamus; H = Hypophyse (stimulierende Drüsen); A = Zieldrüse, z.B. Schilddrüse oder Nebennierenrinde; Z = Zielorgane der Hormone der Drüse A. ① Normale Homöostase. ② Tumor der Hypophyse (Knoten). Verstärkte Stimulation der Zieldrüse durch inadäquat erhöhte Hormonsekretion des Tumors, dadurch inadäquat erhöhte Hormonsekretion der Zieldrüse. Der negative Feedback–Mechanismus hemmt die Hormonsekretion des Hypophysentumors ungenügend (z.B. durch Mangel an Rezeptoren der Tumorzellen). ③ Inadäquat erniedrigte Hormonproduktion der Zieldrüse wegen Aplasie, enzymatischen Defekts der Hormonsynthese, Zerstörung durch Entzündung oder Tumor. Infolge der ungenügenden Feedback–Hemmung inadäquat ho–he Hormonsekretion der stimulierenden Drüsen. ④ Zerstörung der Hypophyse durch einen Tumor oder eine Entzündung. Ungenügende Stimulation, dadurch ungenügende Hormonproduktion der Zieldrüse sowie ungenügende Hemmung des Hypothalamus durch Hormone der Zieldrüse. Verstärkte (erfolglose) Stimulation der Hypophyse durch den Hypothalamus.

⑤ Tumor der Zieldrüse (Knoten) mit inadäquat erhöhter Hormonproduktion. Die inadäquat erhöhte Feedback–Hemmung auf Hypothalamus und Hypophyse führt zu deren verminderter Hormonproduktion. Die Bestimmung der Serumkonzentration der Hormone von Hypophyse bzw. Zieldrüse erlaubt oft die Lokalisation der Ursache eines hormonal induzierten Syndroms (vgl. Text).

13 Hypophyse PH. U. HEITZ P. KOMMINOTH G. KLÖPPEL 13.1

Normale Struktur und Funktion 377

13.2

Adenohypophyse (Hypophysen-vorderlappen) 378

13.2.1

Hyperpituitarismus 378

13.2.2

Hypopituitarismus 380

13.2.3

Läsionen der Adenohypophyse 381

Tumoren 381 Nekrose 381 Syndrom der „leeren Sella“ 381 13.2.4

Prognose und Therapie hypophysärer Erkrankungen 381

13.3

Neurohypophyse (Hypophysen-hinterlappen) 381

13.3.1

Diabetes insipidus und Syndrome of inappropriate antidiuresis (SIAD) 381

13.4 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Erkrankungen der Hypophyse 382 Literatur 382 Fragen 383

Zur Orientierung Die Hypophyse befindet sich an einer wichtigen Schaltstelle des neuroendokrinen Regulationssystems. Die Funktionen der Adenohypophyse werden über die neurovaskuläre Verbindung durch den Hypothalamus gesteuert, während die Hormone der Neurohypophyse in den Neuronen des Hypothalamus synthetisiert, transportiert und durch diese sezerniert werden (Neurosekretion). Tumoren der Adenohypophyse sind häufig – sie machen 10 bis 15% aller operierten intrakranialen Tumoren aus. Ungefähr 60% dieser Tumoren führen durch inadäquate Hormonsekretion zu dramatischen klinischen Syndromen – zur Hyperprolaktinämie mit deren Folgen, zu Riesenwuchs oder zur Akromegalie und zur Cushing-Krankheit.

13.1

Normale Struktur und Funktion

Kein anderes Organ des menschlichen Körpers von derart kleiner Dimension übt derart weitreichende und vielfältige Funktionen aus wie die Hypophyse. Das Organ wiegt beim Erwachsenen durchschnittlich 0,6 g (0,4–0,8 g), der größte Durchmesser beträgt 10–15 mm. Das Organ besteht aus zwei Teilen: Adenohypophyse und Neurohypophyse. Die bei Tieren vorhandene Pars intermedia ist beim Menschen in die Adenohypophyse integriert. An ihrer Stelle findet sich oft ein Spalt mit kleinen kolloidgefüllten Zysten oder kleinen Plattenepithelnestern. Die Adenohypophyse entsteht aus einer Ausstülpung des Rachendachs, der sog. RathkeTasche. Diese liegt vor einer Ausstülpung des III. Hirnventrikels, die zur Neurohypophyse wird. Das Os sphenoidale bildet die sog. Sella. Letztere wird durch die Dura mater mit einem zentralen Durchlass für den Hypophysenstiel, dem Diaphragma sellae, vom Rest der Schädelhöhle abgegrenzt. Die Hypophyse wird zu einem kleinen Teil direkt aus Seitenästen der A. carotis interna mit Blut versorgt. Der größte Anteil an Blut erreicht die Hypophyse indirekt über ein kapilläres Portalsystem: Aus der A. carotis interna entspringend, penetrieren die oberen hypophysären Arterien in das Infundibulum des Hypothalamus und bilden die langen Portalgefäße, die via Hypophysenstiel die Adenohypophyse erreichen. Sie führen 70–90% des Blutes. Die unteren hypophysären Arterien entspringen ebenfalls der A. carotis interna, penetrieren in den distalen Abschnitt des Hypophysenstiels sowie in die Neurohypophyse und bilden die kurzen Portalgefäße, die 10–30% des Blutes führen. Entscheidend für die Funktion der Hypophyse ist der Hypothalamus: Stimulierende oder hemmende Substanzen regulieren Hormonbiosynthese und Hormonsekretion der Adenohypophyse. Hypothalamische Neurone enden an den hypophysären Portalgefäßen und sezernieren dort sog. Releasing-Hormone, die daraufhin zur Adenohypophyse transportiert werden und dort ihre Wirkung entfalten: Dies ist die neurovaskuläre Verbindung von Hypothalamus und Adenohypophyse (Abb. 13-1). Im Gegensatz dazu werden weitere hypothalamische Hormone (siehe unten) von Neuronen in den Nuclei supraopticus und paraventricularis im Hypothalamus synthetisiert, in Granula zu den Nervenendigungen der Neurohypophyse transportiert und auf adäquate Stimuli sezerniert (Neurosekretion). Die Adenohypophyse wird lediglich durch vaskuläre sympathische Nervenfasern innerviert.

Abb. 13-1 Neurovaskuläre Steuerung der Synthese und Sekretion von Hormonen der Adenohypophyse durch hypothalamische Hormone.

Die Steuerung des Hypothalamus erfolgt über Feedback-Hemmung durch Hormone der Zielorgane sowie durch Zentren des Zentralnervensystems. Entsprechend ihrer unterschiedlichen ontogenetischen Herkunft und Funktion sind die beiden Anteile der Hypophyse unterschiedlich aufgebaut: Die Adenohypophyse mit ihrer Pars tuberalis (an der Vorderseite des Hypophysenstiels) besteht aus Strängen epithelialer Zellen, die durch ein reiches fibrovaskuläres Netz versorgt werden bzw. voneinander getrennt sind. Eingehende elektronenmikroskopische und immunzytochemische Analysen ergaben, dass jedes Hormon durch einen Zelltyp synthetisiert und sezerniert wird. Ausnahmen bilden die Gonadotropine (FSH und LH), unter gewissen Bedingungen auch Wachstumshormon und Prolaktin, die durch dieselbe Zelle synthetisiert werden können. Die Neurohypophyse besteht aus unmyelinisierten Nerven und einem Mesenchym aus gliaartigen Pituizyten. Die Hormone (antidiuretisches Hormon = ADH und Oxytocin) werden in Neurosekretgranula in den Axonen der Neuronen der Nuclei supraopticus und paraventricularis vom Hypothalamus in die Neurohypophyse transportiert und bis zu ihrer regulierten Sekretion eingelagert. Diese erfolgt von den Axonenden direkt in Blutkapillaren (Neurosektion). ADH greift in den Wasserstoffwechsel ein, Oxytocin ist an der Milchejektion der Mamma bei der Laktation beteiligt.

13.2 13.2.1

Adenohypophyse (Hypophysenvorderlappen) Hyperpituitarismus

Definition Der Hyperpituitarismus umfasst Syndrome, die auf der erhöhten Sekretion eines oder mehrerer Hormone der Adenohypophyse beruhen: Prolaktin (PRL), Wachstumshormon (GH), Kortikotropin (ACTH, Gonadotropine (FSH, LH). Oft ist der zirkadiane Sekretionsrhythmus aufgehoben.

Ätiologie und Pathogenese Meist sind gutartige hormonproduzierende Hypophysentumoren die Ursache: Es treten praktisch ausschließlich gutartige Tumoren – Hypophysenadenome – auf. Karzinome sind eine Rarität. Hypophysenadenome machen 10–15% aller operierten intrakraniellen Tumoren aus. Selten ist ein Hyperpituitarismus durch hypothalamische Steuerungsdefekte bedingt (Ausnahme: CRH). Der Verlust der hormonalen Feedback-Inhibition aufgrund des funktionellen Ausfalls einer Zieldrüse (z.B. Schilddrüse, Nebennierenrinde) kann zur erhöhten Sekretion des entsprechenden trophischen Hormons (z.B. TSH oder ACTH) führen (siehe Abb. 13-C).

Morphologie Die Adenome (Abb. 13-2) können sehr klein sein: Bei einem Durchmesser von weniger als 10 mm werden sie als Mikroadenome bezeichnet. Anderseits können die Tumoren durch zunehmende Größe die Sella erweitern, den Processus clinoideus arrodieren, das Diaphragma sellae durchstoßen, in den Subarachnoidealraum eindringen und das Chiasma opticum oder die Sehnerven komprimieren. Dadurch können, zusätzlich zum hormonalen Syndrom, lokale Symptome entstehen (siehe unten). Die Adenome können auch aggressiv wachsen und das Os sphenoidale, den Sinus cavernosus, den Sinus sphenoidalis oder den Hypothalamus infiltrieren (invasives Wachstum; Abb. 13-2b). Die Schnittfläche der Tumoren ist meist braunrot. Sie sind weich und vom Hypophysenparenchym makroskopisch gut abgrenzbar, obwohl eine Kapsel oft fehlt oder unvollständig ist. Bei großen Tumoren treten häufig ischämische Nekrosen oder als deren Folge Pseudozysten sowie Blutungen auf. Eine ausgedehnte Nekrose führt zum Bild der sog. Hypophysenapoplexie. Das Restparenchym kann – abhängig von der Größe des Adenoms – gut erhalten, komprimiert oder nahezu vollständig zerstört sein. Mikroskopisch ist die Differenzierung zwischen erhaltenem Parenchym und dem Tumor bzw. dessen Abgrenzung gegenüber einer Hyperplasie nicht immer einfach. In dieser Situation leistet eine Silberfaserfärbung, die die Struktur des erhaltenen Parenchyms bzw. dessen Zerstörung im Allgemeinen gut

erfasst, wertvolle Dienste (Abb. 13-2e). Konventionell lichtmikroskopisch können die verschiedenen Adenomtypen nicht mit Sicherheit differenziert werden. Die elektronenmikroskopische und vor allem die immunzytochemische Analyse erlauben aber im Allgemeinen eine genaue Diagnose (Abb. 13-2).

Klassifikation Die Klassifikation beruht auf klinischen Krankheitsbildern bzw. auf Messungen der Serumkonzentration von Hormonen (Tab. 13-1).

Abb. 13-2

Hypophysenadenome.

a Seitliche Magnetresonanz-Aufnahme eines Patienten mit sehr großem hormoninaktivem Hypophysenadenom, das die Hirnbasis infiltriert p: posterior (Bild: G. Spinas, Zürich). b Sehr großes, hormoninaktives Hypophysenadenom, das zur Zerstörung des Chiasma opticum geführt und den Hypothalamus infiltriert hat. c–f Prolaktinom der Hypophyse. c Histologische Übersicht: Das zentral gelegene Tumorgewebe erscheint kompakt. Immunzytochemische Darstellung des Prolaktins (braunes Reaktionsprodukt), Vergr. 4fach. d Solider, kleinzelliger, monomorpher Tumor. HE, Vergr. 100fach. e Das Tumorgewebe wächst in unregelmäßigen, teils breiten Zellsträngen. Dadurch wird das Retikulinfasernetz im Vergleich zum normalen Parenchym rarefiziert (rechts unten). Versilberung nach Gomöri, Vergr. 40fach.

f Der Tumor besteht nur aus prolaktinproduzierenden Zellen. Immunzytochemische Darstellung des Prolaktins im Zytoplasma der Tumorzellen (schwarz). Zellkerne hellblau, Restzytoplasma grau. Vergr. 1000fach.

Tab. 13-1 Klassifikation von Adenomen der Adenohypophyse mit Angabe der ungefähren Häufigkeitsverteilung. Die angegebene Häufigkeit von Adenomen schwankt, weil einerseits das klinische Krankheitsbild, andererseits der immunhistochemische Hormonnachweis als Basis der Häufigkeitsberechnung dienen können. >Häufig dominiert die Produktion eines Hormons, es kommen aber auch plurihormonale Adenome vor. Diese Hormone können auch nur synthetisiert, aber nicht oder nur in sehr geringer Menge sezerniert werden, sodass daraus kein hormonal bedingtes Syndrom resultiert. Adenome mit Produktion von Prolaktin (PRL; siehe Abb. 13-2), Wachstumshormon (GH) und Kortikotropin (ACTH) machen zusammen ca. 60% aller Tumoren aus. Ungefähr 30% der Adenome führen nicht zu einem klinischen überfunktionssyndrom. Immunzytochemisch kann aber bei diesen Tumoren häufig eine unterschiedlich stark ausgeprägte Produktion von Gonadotropinen (FSH und LH), bzw. der biologisch inaktiven α-Kette von Glykoproteinhormonen (sog. αonly-Adenome), nachgewiesen werden (Tab. 13-1). Prolaktinome (siehe Abb. 13-2) bei jungen Leuten und bei Frauen sowie ACTHproduzierende Tumoren sind im Allgemeinen klein (sog. Mikroadenome). GHproduzierende und hormonal inaktive Adenome, aber auch Prolaktinome bei Männern und älteren Patienten sind oft groß.

Molekularpathologie Die Adenome haben eine hohe proliferative Aktivität. Mutationen im Rb-Gen oder im p53-Gen sind mit invasivem Wachstum assoziiert. Es sind auch Allel-Deletionen auf 13q12–14 nachgewiesen.

Klinisch-pathologische Korrelationen Bei Hypophysentumoren treten häufig lokale Symptome, kombiniert mit hormonal bedingten Fernsymptomen, auf. Lokale Symptome und Folgen finden sich bei großen Tumoren und umfassen: ■ Kompression des Hypophysen-Restparenchyms mit Funktionsverlust. ■ Sehstörungen infolge Drucks des Tumors auf das Chiasma opticum bzw. die Sehnerven. Klassisch ist die bilaterale homonyme Hemianopsie. ■ Röntgenologisch findet sich bei größeren Tumoren eine Erweiterung der Sella mit Arrosion des Processus clinoideus. Mit Hilfe der Computertomographie oder der Magnetresonanz können aber heute auch Mikroadenome lokalisiert werden. ■ Selten kann bei großer Ausdehnung des Tumors an der Hirnbasis der intrakranielle Druck erhöht sein. Dies kann Kopfschmerzen, Nausea und Erbrechen verursachen und zur Suche nach einem Hirntumor Anlass geben. Fernsymptome bestehen aus einem partiellen Hyperpituitarismus bei hormonal aktiven Tumoren. Bei Kompression der Restparenchyms der Hypophyse oder des Hypophysenstiels durch den Tumor kann die Kombination „partieller Hyperpituitarismus und Hypopituitarismus“ auftreten. Bei (oft großen) sekretorisch inaktiven Tumoren oder bei Sekretion von Hormonen ohne Bioaktivität klinischer Relevanz kann ein Hypopituitarismus das Leitsymptom darstellen. Das häufigste überfunktionssyndrom ist die Hyperprolaktinämie. Sie führt bei der Frau zu Amenorrhö, seltener zu Galaktorrhö. Aufgrund der auffälligen Symptomatik werden Prolaktinome bei der Frau häufig bereits als Mikroadenome entdeckt. Da eine Hyperprolaktinämie auch sekundär durch Medikamente (Neuroleptika, Antihypertensiva, Östrogene) oder hypothalamische Läsionen (Zerstörung des Transportwegs des Dopamins durch Tumor, Blutung oder Trauma) bedingt sein kann, ist für die Diagnose eines Prolaktinoms zusätzlich zur Hyperprolaktinämie der Nachweis eines Tumors in der Adenohypophyse Voraussetzung. Beim Mann sind es oft lokale Symptome, die auf ein großes Prolaktinom hinweisen, da die Symptome einer verminderten Libido, Impotenz oder Infertilität seltener auftreten und oft spät bemerkt bzw. abgeklärt werden. Das Wachstumshormon entfaltet seine Wirkung einerseits direkt, anderseits über hepatische Wachstumsfaktoren, z.B. IGF-1 (insulin-like growth factor), die unter anderem das Knochenwachstum stimulieren. Dementsprechend führt ein wachstumshormonproduzierendes Adenom der Hypophyse beim Kind vor dem Schluss der Epiphysenfugen zum Riesenwuchs. Früh auftretende Myo-, Neuro- und Arthropathien machen diese jungen Menschen frühzeitig zu Invaliden. Glücklicherweise tritt diese Erkrankung heute dank rechtzeitiger Diagnose und Exzision des Hypophysenadenoms nur noch selten in voller Ausprägung auf.

Beim erwachsenen Menschen tritt bei überproduktion von Wachstumshormonen (GH) sehr schleichend, d.h. über Jahre oder Jahrzehnte, eine Akromegalie auf. Sie äußert sich in einem appositionellen Wachstum an der Kortikalis von Knochen und führt daher zur Vergrößerung und Protrusion der „Akren“: Oberrand der Orbita, Ober- und Unterkiefer, kleine Knochen der Finger und Zehen. Die Zähne können infolge des Kieferwachstums weit auseinander stehen. Die Gesichtszüge wirken grob, Hände und Füße grob und groß. Vergrößert sind auch Lippen und Zunge. Hinzu treten Glukoseintoleranz, Osteoporose und arterielle Hypertonie. Da wachstumshormonproduzierende Hypophysenadenome aufgrund der langsamen und lang dauernden Entwicklung oft groß sind, treten häufig zusätzliche lokale Symptome auf (siehe oben). Adenome mit ACTH-Sekretion (meist Mikroadenome) führen über eine Stimulation der Kortikoidsekretion durch die Nebennierenrinde zur Cushing-Krankheit. Hypothalamisch-hypophysäre Stimulation macht ca. 70% dieser Krankheit aus, die auch durch Nebennierenrindentumoren bedingt sein kann (siehe Kap. 16.1.10). Es darf nicht übersehen werden, dass eine Akromegalie durch GHRH(Wachstumshormon-stimulierendes Hormon)-sezernierende endokrine Tumoren von Pankreas und Magen-Darm-Trakt, die Cushing-Krankheit durch ACTH- oder CRH(Kortikotropin-releasing-Hormon)-sezernierende Tumoren des Bronchus (vor allem kleinzelliges Bronchuskarzinom) oder anderer Organe bzw. durch therapeutisch verabreichtes Kortisol verursacht werden kann. Im Gegensatz zu Hypophysenkrankheiten treten die Symptome hier wegen der zugrunde liegenden Tumorbiologie meist rasch auf (siehe Abb. 16-4).

13.2.2

Hypopituitarismus

Definition und Epidemiologie Die Unterfunktion der Adenohypophyse besteht in der inadäquat niedrigen Sekretion eines (partieller Hypopituitarismus) oder aller Hypophysenhormone (Panhypopituitarismus). Diese Krankheiten sind selten.

Ätiologie und Pathogenese Etwa 90% aller Fälle von Panhypopituitarismus sind durch Kompression des Hypophysenstiels oder durch Zerstörung des Hypophysenparenchyms bedingt. Die restlichen ca. 10% werden durch Tumormetastasen, ungenügende arterielle Blutversorgung, Thrombosen des Sinus cavernosus, Entzündungen, Stoffwechselerkrankungen (Hämochromatose), iatrogene Maßnahmen oder genetische Störungen verursacht. Sehr seltene Läsionen des Hypothalamus, die sich infolge Zerstörung der neurovaskulären hypothalamisch-hypophysären Achse und/oder der Axone der Neurohypophyse als Ausfall der hypothalamischen Steuerung bzw. der Sekretion auswirken, sind meist für einen partiellen

Hypopituitarismus verantwortlich. Dabei tritt ein isolierter Ausfall des Wachstumshormons, seltener von Gonadotropinen, ACTH oder TSH auf. Es müssen mindestens 80% der Zellen der Adenohypophyse funktionell ausfallen, bis klinische Symptome auftreten. Die häufigste Reihenfolge des Ausfalls ist: Gonadotropine, Wachstumshormon, TSH, ACTH und zuletzt Prolaktin. Bei ausgedehnter Zerstörung der Hypophyse kann auch die Neurohypophyse betroffen sein. Dabei entsteht das klinische Bild des Diabetes insipidus (siehe Kap. 13.3.1).

Morphologie Die hypothalamischen Läsionen umfassen im Wesentlichen das Kraniopharyngeom, Gliome, Keimzelltumoren und die Langerhans-Zell-Histiozytose (siehe auch Kap. 9 und 40.7.7).

Molekularpathologie Eine Reihe von Mutationen (Deletionen, Punktmutationen) führt vor allem zum isolierten Ausfall einzelner Hormone mit entsprechend verminderter Stimulation der peripheren Drüse, z.B. Ausfall von ■

TSH (Mutation auf Chromosom 1q22),



LH (19q13.32),



FSH (11p13).

Auch Rezeptoren für hypothalamische Hormone können inaktiviert sein, z.B. GnRHR (4q21.2) und GHRH-R (7p15-p14). Schließlich sind endokrine Syndrome durch Deletionen, Punktmutationen oder Translokationen verursacht: ■

hypogonadotroper Hypogonadismus



Kallmann-Syndrom: Xp22.3



Prader-Labhard-Willi-Syndrom:15q11.

Klinisch-pathologische Korrelationen Der Ausfall trophischer Hormone der Hypophyse kann zum Hypogonadismus (Ausfall von FSH, LH), zur Hypothyreose (Ausfall von TSH) oder zu Nebennierenrindeninsuffizienz (Ausfall von ACTH) führen (siehe Kap. 16.1.11). Ein Ausfall des Wachstumshormons wirkt sich besonders beim Kind dramatisch aus: Es kommt zum hypophysären Zwergwuchs, der zudem häufig mit einem Hypogonadismus kombiniert ist.

13.2.3

Läsionen der Adenohypophyse

Tumoren Vor allem sekretorisch inaktive Tumoren führen zu lokalen Symptomen. Da ein hormoninduziertes Syndrom fehlt, führen erst diese lokalen Symptome auf die Spur. Zu diesem Zeitpunkt sind die Tumoren meist schon groß (Abb. 13-2b). Sie imponieren aufgrund einer kleinen Zahl neurosekretorischer Granula im Zytoplasma der Zellen meist als „chromophob“ – groß- oder kleinzellig –, können aber auch weitgehend oder ausschließlich aus sog. Onkozyten bestehen. Immunhistochemisch finden sich trotz fehlender endokriner Symptome ziemlich häufig die β-Ketten von FSH und/oder LH. Noch häufiger ist der Nachweis der α-Kette von Glykoproteinhormonen (sog. α-only-Adenome).

Nekrose Dieses Krankheitsbild ist bekannt unter der Bezeichnung Sheehan-Syndrom oder Post-partum-Nekrose der Hypophyse. Die Adenohypophyse vergrößert sich, vor allem aufgrund einer Hyperplasie der prolaktinproduzierenden Zellen während der Schwangerschaft auf ca. 1–1,2 g. Das Organ ist möglicherweise aus diesem Grund empfindlicher gegenüber Hypoxie. Zu einer Hypophysennekrose kann es außerdem bei Diabetes mellitus, Kreislaufstillstand, erhöhtem Hirndruck, massivem Volumenverlust, Schock und disseminierter intravasaler Gerinnung kommen. Histologisch besteht eine Nekrose bzw. später eine Fibrose mit ausgedehnter Zerstörung des Parenchyms. Der vernarbte kleine Rest der Adenohypophyse kann zum Bild der sog. „leeren Sella“ führen. Diese kann mit den bildgebenden Verfahren erfasst werden. Die Neurohypophyse bleibt bei Hypophysennekrosen oft unbeteiligt.

Syndrom der „leeren Sella“ Diese Erkrankung ist selten. Meist besteht ein Defekt des Diaphragma sellae mit Herniation der Arachnoidea in die Sella. Der Druck des Liquors führt zur Atrophie der Hypophyse. Weitere Ursachen sind die Nekrose der Hypophyse bzw. eines Hypophysenadenoms oder die iatrogene chirurgische bzw. radiologische Zerstörung der Drüse. Die Sella kann erweitert sein.

13.2.4 Prognose und Therapie hypophysärer Erkrankungen Bei früher Diagnosestellung und adäquater Therapie können hypophysäre Erkrankungen heute erfolgreich behandelt werden. Die Hormonsekretion von wachstumshormonproduzierenden Tumoren kann durch Somatostatin und Analoga, die

Prolaktinsekretion von Prolaktinomen durch Dopaminagonisten gehemmt werden. Dabei kommt es gelegentlich auch zum Stopp des Wachstums bzw. zum Rückgang der Größe des Tumors. Die Tumoren können heute transnasal erfolgreich exzidiert werden. Bei Hypopituitarismus können Symptome durch geeignete Substitutionstherapie weitgehend beherrscht werden.

13.3

Neurohypophyse (Hypophysenhinterlappen)

13.3.1 Diabetes insipidus und Syndrome of inappropriate antidiuresis (SIAD) Definition Erkrankungen der Neurohypophyse führen zu einer inadäquat reduzierten bzw. erhöhten Sekretion des antidiuretischen Hormons (ADH), bezogen auf die Osmolalität der Extrazellularflüssigkeit. Eine herabgesetzte Sekretion von ADH führt zum neurohypophysären Diabetes insipidus, eine erhöhte Freisetzung zum SIAD (Syndrome of inappropriate antidiuresis; Schwartz-Bartter-Syndrom). Die Krankheiten sind selten. Krankheiten, die auf Störungen der Sekretion von Oxytocin beruhen, sind nicht bekannt.

Ätiologie und Pathogenese Funktionsstörungen der Neurohypophyse können auf einen Defekt der Osmorezeptoren im Hypothalamus (Nuclei supraopticus und paraventricularis), auf eine Zerstörung des Hypophysenstiels bzw. der Neurohypophyse oder auf Mutationen im Genom (siehe unten) zurückgeführt werden. Ursachen des neurohypophysären Diabetes insipidus sind Tumoren und Entzündungen des Hypothalamus und der Hypophyse, die eine der vorgenannten Strukturen infiltrieren bzw. zerstören können, z.B. supraselläre Tumoren (Abb. 133), das Kraniopharyngeom (siehe Kap. 9.12.1), Metastasen, Abszesse, Meningitiden, eine Hypophysennekrose, eine Langerhans-Zell-Histiozytose (siehe Kap. 40.7.7), chirurgische oder radiologische Schäden der Hypophyse, schwere Schädel-HirnTraumen und andere, nicht geklärte Ursachen. Die Ursachen des SIAD sind außerordentlich vielfältig. Am häufigsten ist die paraneoplastische Sekretion von ADH, vor allem durch kleinzellige Bronchuskarzinome, weniger häufig durch Tumoren des Thymus und des Pankreas oder maligne Lymphome. Seltener tritt das Syndrom auch bei Hirndruck oder Enzephalitiden auf. Die Ursachen sind nicht geklärt. Bei Lungenerkrankungen wie Pneumonie oder Tuberkulose wird als Ursache des SIAD eine gesteigerte ADHSekretion infolge Stimulation von Barorezeptoren vermutet.

Abb. 13-3 Kleines Astrozytom (Pfeile) am Boden des III. Ventrikels (V).

Es führte durch Zerstörung der zur Neurohypophyse ziehenden hypothalamischen Axone zu einem Diabetes insipidus. HE, Vergr. 100fach.

Morphologie Die Morphologie der erwähnten Krankheiten ist in den entsprechenden Kapiteln abgehandelt.

Molekularpathologie Der hereditäre neurohypophysäre Diabetes insipidus ist durch eine Punktmutation am Lokus 20p12.21 bedingt, die eine abnorme Struktur von ADH/Neurophysin II verursacht. Der Erbgang ist autosomal-dominant.

Der renale Diabetes insipidus beruht auf einer Punktmutation im Gen des Vasopressin-V2-Rezeptors (Xq27–q28) oder des Wasserkanalgens Aquaporin 2 (12q13) mit X-chromosonalem bzw. autosomal-rezessivem Erbgang. Die Inaktivierung der V2-Rezeptoren bzw. des Aquaporins 2, die in der apikalen Membran von Zellen des distalen Tubulus bzw. des Sammelrohrs lokalisiert sind, führt zur Unfähigkeit der Niere, den Urin zu konzentrieren.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die wichtigste physiologische Wirkung von ADH besteht in der Wasserresorption durch den distalen Nierentubulus und die Sammelrohre. Wegen der inadäquat reduzierten ADH-Sekretion entsteht beim Diabetes insipidus ein renaler Wasserverlust mit Polyurie (hypoosmolarer Urin mit niedriger Natriumkonzentration), Hyperosmolalität des Plasmas und der Extrazellularflüssigkeit mit Hypernatriämie und mit Polydipsie. Folgen sind Dehydratation – vor allem bei Kindern – mit Lethargie, Nausea, Tremor, später mit Bewusstseinstrübung. Das SIAD führt im Gegensatz zum Diabetes insipidus infolge inadäquat gesteigerter ADH-Sekretion zur Retention von Wasser und damit zur Hypoosmolalität der Extrazellularflüssigkeit mit Hyponatriämie. Der Urin ist hyperosmolar, die Natriumkonzentration erhöht. Es besteht eine Normovolämie. Es treten vor allem neurologische Symptome auf, die auf ein Hirnödem, das dem Schweregrad der Hypoosmolalität parallel verläuft, zurückzuführen sind.

13.4 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Erkrankungen der Hypophyse Wichtig bei der Diagnostik sind der Nachweis von Tumorgewebe im Exzisat sowie die spezifische Darstellung der Hormonproduktion durch den Tumor mithilfe der Immunzytochemie. Bei der Diagnostik eines Diabetes insipidus kommt der Artdiagnose (Entzündung bzw. Tumor) im Hinblick auf eine rationale Therapie entscheidendes Gewicht zu.

Literatur Siehe Literaturverzeichnis in Kap. 18.

FRAGEN 1 Worin besteht der Unterschied in der Steuerung der Hormonsekretion zwischen Adeno- und Neurohypophyse? 2 Nennen Sie die häufigsten Ursachen eines Hyperpituitarismus bzw. eines Hypopituitarismus.

3 Wie häufig sind Hypophysentumoren (Inzidenz)? 4 Was ist bei der allgemeinen Symptomatik von Hypophysentumoren zu berücksichtigen? 5 Welche endokrinen Krankheiten werden durch Hypophysentumoren verursacht? 6 Nennen Sie die Erkrankungen der Neurohypophyse und deren Symptomatik. 7 Welches sind die Indikationen zur morphologischen Untersuchung der in diesem Kapitel beschriebenen Krankheiten? Welche Untersuchungen sind indiziert? Welchen Beitrag können diese Untersuchungen zur präzisen Diagnostik und zur Planung der Therapie leisten?

14 Schilddrüse PH. U. HEITZ P. KOMMINOTH G. KLÖPPEL 14.1

Normale Struktur und Funktion 385

14.2

Kongenitale Anomalien 387

14.2.1

Allgemeines 387

14.2.2

Agenesie/Aplasie 387

14.2.3

Thyreoglossuszyste 387

14.2.4

Ektopie der Schilddrüse 387

14.3

Struma 387

14.4

Thyreoiditis 388

14.4.1

Granulomatöse Thyreoiditis 388

14.4.2

Chronische lymphozytäre Thyreoiditis 390

14.4.3

Chronische invasiv-fibröse Thyreoiditis 390

14.5

Funktionsstörungen 391

14.5.1

Hypothyreose 391

14.5.2

Hyperthyreose 393

Hyperthyreose bei diffuser Struma 394 Toxischer Knotenkropf 394 Toxisches („autonomes“) Adenom 395 14.6

Tumoren der Schilddrüse 395

14.6.1

Allgemeines 395

14.6.2

Epitheliale Tumoren 395

Follikuläres Adenom 395

Andere benigne Tumoren 396 Follikuläres Karzinom 396 Papilläres Karzinom 397 Medulläres Karzinom 399 Undifferenziertes (anaplastisches) Karzinom 399 14.6.3

Nichtepitheliale Tumoren 400

Maligne Lymphome 400 Weitere nichtepitheliale Tumoren 401 14.6.4

Metastasen in der Schilddrüse 401

14.6.5

Klinisch-pathologische Korrelationen der Schilddrüsentumoren 401

14.7 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Schilddrüsenerkrankungen 402 Ph. U. Heitz C. Moll Literatur 404 Fragen 404

Zur Orientierung Die Schilddrüse ist dank ihrer Lokalisation diagnostischen (Feinnadelpunktion, Biopsie) und therapeutischen Verfahren relativ gut zugänglich. In Diagnose und Therapie von Schilddrüsenkrankheiten sind während der vergangenen Jahre deutliche Fortschritte erzielt worden. Die Schilddrüse greift mit ihren Hormonen tief in den Stoffwechsel ein. Zeugnis dafür legen die durch Über- oder Unterfunktion des Organs verursachten Krankheiten ab: Hyper- und Hypothyreose sind Stoffwechselstörungen, welche die Lebensqualität deutlich beeinträchtigen und schwerwiegende Komplikationen nach sich ziehen können. Die Vergrößerung der Schilddrüse – die Struma – hat schon viele Künstler (z.B. Michelangelo) beschäftigt, weil sie den betroffenen Menschen ein charakteristisches Aussehen verleiht. Schilddrüsenerkrankungen sind häufig, ihre Pathogenese ist sehr unterschiedlich. Patienten, die an einem Schilddrüsentumor leiden, können heute oft geheilt werden, da der Übergang heilbarer Tumoren in rasch tödlich verlaufende Tumortypen oft vermieden werden kann. In der Schilddrüse treten auch familiäre Tumoren auf, die durch Keimbahnmutationen bedingt sind (medulläres Karzinom). Dank moderner

molekularbiologischer Verfahren können Träger dieser Genmutationen identifiziert werden – mit Hilfe der sekundären Prävention gelingt es, die Entstehung von Tumoren zu verhindern und dadurch die betroffenen Patienten zu retten.

14.1

Normale Struktur und Funktion

Die Schilddrüse entsteht am Foramen caecum, d.h. am Zungengrund. Die entodermale Anlage wandert kaudal bis auf die Höhe des Schilddrüsenknorpels. Dort wächst sie zu zwei Lappen aus, die in der vorderen Mittellinie durch einen Isthmus verbunden bleiben. Die C-Zellen sind neuroektodermalen Ursprungs und wandern von der 5. Schlundtasche in das Schilddrüsenparenchym ein. Das Gesamtgewicht der adulten Drüse beträgt 20–25 g. Die unmittelbare Nachbarschaft zum N. laryngealis recurrens und den Nebenschilddrüsen macht chirurgische Interventionen an der Schilddrüse schwierig. Histologisch besteht das Organ aus Follikeln, die durch kubische Epithelzellen ausgekleidet sind. Diese tragen auf ihrer Oberfläche eine große Zahl von Mikrovilli. Im Lumen findet sich Kolloid, darin Thyreoglobulin, ein Glykoprotein mit einem Molekulargewicht von ca. 660000 Dalton, das die Schilddrüsenhormone T3 (Trijodthyronin) und T4 (Tetrajodthyronin) enthält. Die kalzitoninproduzierenden C-Zellen sind zwischen die Follikelepithelzellen eingestreut und nur bei immunzytochemischer Darstellung des Kalzitonins erkennbar. Das Stroma der Drüse besteht aus spärlichem, sehr dicht vaskularisiertem Bindegewebe zwischen den Follikeln sowie einigen Bindegewebesepten, die die Drüse durchziehen.

Abb. 14-1 Wichtige Schritte in der Hormonsynthese und -sekretion der Follikelepithelzelle der Schilddrüse.

Die Kaskade wird durch TSH stimuliert. Über Interaktion mit dem TSH-Rezeptor aktiviert TSH die Adenylatcyclase. Dadurch wird zyklisches AMP (Adenosinmonophosphat; cAMP) gebildet, das die cAMP-abhängige Proteinkinase A aktiviert. Diese bringt ihrerseits die vielfältigen Abläufe der differenzierten Schilddrüsenfunktion in Gang. ① Signaltransduktion via TSH-Rezeptor, cAMP und Phosphatidyl-Inositol-Phosphat; ② Aufnahme des Jod-Ions (anorganisches Jod) in die Schilddrüsenzelle durch aktiven Transport (Natriumjodid-Symporter); ③ Oxidation des Jod-Ions mit Hilfe der Peroxidase; ④ Kopplung des Jods an die Tyrosinreste des Thyreoglobulins; ⑤ Bildung von T3 aus MJT + DJT sowie von T4 aus DJT + DJT; ⑥ Resorption des Kolloids mit Thyreoglobulin und T3/T4; ⑦ lysosomale Proteolyse; ⑧ Recycling der Aminosäuren; ⑨ Dejodinierung und Recycling des anorganischen Jods.

TSH = Thyreoidea-stimulierendes Hormon; MJT = Monojodtyrosin; DJT = Dijodtyrosin; T3 = Trijodthyronin; T4 = Tetrajodthyronin (Thyroxin). Hormonsynthese und -sekretion der Follikelepithelzelle sowie deren Steuerung sind komplex (Abb. 14-1). Im Serum sind T3 und T4 weitgehend an das thyroxinbindende Globulin (TBG) gebunden (ca. 99%), lediglich eine kleine Fraktion bindet an Präalbumin und Albumin. Die freie Fraktion der Hormone ist entsprechend klein (ca. 0,5%). Die Serumkonzentration von TBG beeinflusst den Metabolismus – sie ist beispielsweise erhöht bei Schwangerschaft, Einnahme oraler Kontrazeptiva, Östrogen sowie Lebererkrankungen, dagegen erniedrigt bei Leberinsuffizienz, Nephropathien mit Proteinverlust und unter Steroidtherapie. T3 wird durch die Schilddrüse sezerniert, entsteht aber zusätzlich im Blut und in Zielzellen aus T4 durch Dejodination. Die Wirkung von T3 und T4 ist vielfältig. Die Wirkung von T3 ist wesentlich stärker als die von T4. T3 und T4 wirken auf die Transkription von DNA zu RNA im Zellkern, stimulieren die oxidative Phosphorylierung in den Mitochondrien, die Aktivität vieler Enzyme sowie den transmembranären Transport vieler Substanzen. Sehr wichtig sind Wirkungen von T3 auf das kardiovaskuläre System: T3 stimuliert den kardialen Blutauswurf und senkt den peripheren arteriolären Widerstand. Kombiniert mit der Stimulation des Grundumsatzes kommt es zu einer beträchtlichen Stimulation der HerzKreislauf-Aktivität (siehe auch Kap. 14.5.2). Eine inadäquat erhöhte Stimulation führt außerdem zur Verminderung der Glukosetoleranz und zur Lipolyse. Insuffiziente T3-/T4Wirkung verlangsamt hingegen die metabolischen Abläufe. Kalzitonin gehört zur Hormonfamilie der „Calcitonin gene peptides“ (CALC-I-Gen auf Chromosom 11). Das eigentliche Hormon (32 Aminosäuren, Molekulargewicht ca. 3500 Dalton) wird vor allem in neuroendokrinen Zellen der Schilddrüse (C-Zellen) und der Lunge produziert, dann in neuroendokrinen intrazytoplasmatischen Granula eingelagert bzw. von dort sezerniert. Regulation sowie Sekretion sind komplex und noch nicht klar. Ebenso sind die physiologischen Wirkungen nicht geklärt. Wichtige Zielorgane scheinen Knochen (Inhibition der Osteoklastenfunktion) und Niere (Hemmung der tubulären Kalzium- und Phosphat-Reabsorption) zu sein. Kalzitonin senkt dadurch die Serumkonzentration von Kalzium. Erstaunlicherweise sind Kalzitonin-Vorläufer, u.a. Prokalzitonin, bei Infekten und vor allem bei Sepsis im Blut sehr stark erhöht. Sie werden dabei von allen Körperzellen durch die CALC-I-Gen-Expression produziert. Die Funktion der Schilddrüse kann durch Bestimmung der Serumkonzentrationen von T3, T4 und TSH oder mittels Erfassung der Aufnahme von radioaktivem Jod (RadiojodTest) oder Technetium durch ein Szintigramm erfasst werden. Ebenso kann die Serumkonzentration des Kalzitonins gemessen werden.

14.2 14.2.1

Kongenitale Anomalien Allgemeines

Anomalien der Schilddrüse sind selten. Es handelt sich um Agenesie/Aplasie, Ektopie oder aber um eine Thyreoglossuszyste der Schilddrüse. Die Anomalien resultieren aus Störungen der Entwicklung oder der kaudalen Migration der Schilddrüsenanlage.

14.2.2

Agenesie/Aplasie

Die Agenesie bzw. Aplasie besteht definitionsgemäß im Fehlen bzw. in der fehlenden Entwicklung der Schilddrüsenanlage. Ihre Ursachen sind nicht geklärt. Beide führen zum athyreoten Kretinismus (siehe Kap. 14.5.1).

14.2.3

Thyreoglossuszyste

Die Thyreoglossuszyste entsteht aus dem persistierenden Ductus thyroglossus. Sie liegt in der Mittellinie ventral der Trachea (Durchmesser ca. 2–3 cm). Nahe dem Zungengrund ist sie meist durch Plattenepithel, weiter kaudal durch Follikelepithel ausgekleidet. Meist besteht ein dichtes lymphozytäres Infiltrat in der Zystenwand. Der Zysteninhalt ist muzinös, gelegentlich treten Blutungen auf. Die Thyreoglossuszyste entspricht der medianen Halszyste. Ihre klinische Bedeutung liegt vor allem in der Differentialdiagnose gegenüber Tumoren. Komplikationen sind Infektionen mit Abszess- und eventuell Hautfistelbildung. Die postoperative Rezidivrate liegt bei 30%. Die Entstehung eines Tumors ist selten.

14.2.4

Ektopie der Schilddrüse

Die Ektopie der Schilddrüse ist selten. Sie resultiert aus einer Fehlmigration der Schilddrüsenanlage. Das Organ liegt dann im Verlauf des Ductus thyroglossus oder im Mediastinum. Es kann am Zungengrund, in oder etwas seitlich der Mittellinie liegen, immer aber im vorderen Halsdreieck, d.h. medial des M. sternocleidomastoideus. Bei zu weitgehender Migration liegt die ektopische Schilddrüse retrosternal. Sie tritt entweder isoliert oder zusätzlich zu einer regelrecht entwickelten Schilddrüse auf. Die Verwechslung einer ektopischen Schilddrüse mit einem Lymphknoten oder mit der Metastase eines hochdifferenzierten Schilddrüsenkarzinoms muss vermieden werden. Bei isoliert auftretender ektopischer Schilddrüse kann eine Hypothyreose (siehe Kap. 14.5.1) klinisches Leitsymptom sein. Eine ektopische Schilddrüse am Zungengrund kann zum Passagehindernis werden (Zungengrundstruma).

14.3

Struma

Struma: etymologische Herkunft unklar. Ursprünglich wurden so (tuberkulöse) Lymphdrüsenschwellungen, später – vorwiegend im deutschen Sprachgebiet – der Kropf bezeichnet.

Definition Jede (nichtneoplastische, nichtentzündliche) Vergrößerung der Schilddrüse über die obere Normgrenze des Gewichts (20–25 g) wird als Struma bezeichnet. Die Struma ist ein wichtiges Symptom von Funktionsstörungen der Schilddrüse. Sie kann diffus bzw. knotig (ein- oder beidseitig) sein. Die hier zu besprechenden Strumen sind der einfache, diffuse und der knotige Kropf.

Epidemiologie Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Jodmangel ist die bei weitem häufigste Ursache einer Struma. Weltweit leiden noch heute ca. 200 Millionen Menschen an einer Jodmangelstruma, die vor allem in Gebirgsregionen (z.B. Alpen, Himalaja, Anden), aber auch in weit vom Meer gelegenen Gegenden endemisch sein kann. Von einer „endemischen Struma“ wird gesprochen, falls mindestens 10% der Bevölkerung Kropfträger sind. Durch die Verwendung von jodiertem Kochsalz nimmt die Zahl von Kropfträgern deutlich ab. Dadurch kann offenbar der tägliche Bedarf von ca. 500 μg Jod gedeckt werden.

Ätiologie und Pathogenese

Wie oben ausgeführt, ist Jodmangel die häufigste Ursache einer Struma. Deutlich weniger drastisch als beim Jodmangel ist die Wirkung strumigener (strumaauslösender) Substanzen, wie Kalzium und Fluorid im Trinkwasser, Kohl, Blumenkohl etc. Um eine Struma zu induzieren, müssen daher große Mengen dieser Substanzen eingenommen werden. Jede inadäquate Senkung der T3-/T4-Sekretion (z.B. bei Jodmangel) führt über ein negatives Feedback zur kompensatorischen Steigerung der Synthese und Sekretion von Thyreotropin-releasing-Hormon (TRH) und Thyreotropin (TSH) durch Hypothalamus bzw. Hypophyse. Im intakten Schilddrüsenparenchym entstehen dadurch eine Hypertrophie und Hyperplasie der Follikelepithelzellen, die ihrerseits durch vermehrte T3-/T4-Produktion (vgl. Abb. 13-C) zur euthyreoten Struma führen. Selten treten hereditäre Defekte in der T3-/T4-Synthese auf. Sie führen in der Regel zur Struma mit Hypothyreose, da die gegenregulatorische Stimulation die reduzierte T3-/T4-Sekretion nicht ausgleichen kann (siehe Abb. 14-1 und Kap. 14.5).

Morphologie Bei der diffusen Struma, die reversibel ist, entsteht zunächst eine Hypertrophie, danach eine Hyperplasie der Follikelepithelzellen. Die Schilddrüse ist beidseits diffus vergrößert mit einem Gewicht von bis zu ca. 150 g. Die Follikel sind klein und enthalten spärlich Kolloid. Bei Erreichen der Euthyreose beginnt die Akkumulation von Kolloid – das Follikellumen wird weit, die Follikelepithelzellen werden flach (diffuse Kolloidstruma). Das Gewicht der Struma steigt nun an und kann 500 g oder mehr erreichen. Dieser Vorgang läuft in verschiedenen Regionen der Struma unterschiedlich rasch und darüber hinaus in unterschiedlichem Ausmaß ab, sodass unterschiedlich große Follikel gefunden werden können. Praktisch jede diffuse Struma wird nach längerem Bestehen zur irreversiblen Knotenstruma (Abb. 14-2). Die Ursachen dieses Übergangs sind nicht klar. Hyperplasie sowie Kolloidakkumulation im Follikellumen erfolgen inhomogen. Dadurch können Knoten entstehen. Die Entstehung der zusätzlichen Fibrose ist unklar. Das Gewicht der Knotenstruma kann auf über 2 kg ansteigen. Histologisch ist sie durch Heterogenität charakterisiert: Es bestehen unterschiedlich große Knoten mit hyperplastischen kleinen und/oder kolloidgefüllten großen Follikeln, unregelmäßig stark ausgeprägte und verteilte Fibrose, Blutungen und Hämosiderinablagerungen, Verkalkungen und oft unterschiedlich große Zysten.

Klinisch-pathologische Korrelationen Bei diffuser Struma besteht meist eine Euthyreose; es kann aber eine prä-(sub)klinische Hypothyreose mit erhöhter Serumkonzentration von TSH entstehen (Hyperthyreose bei diffuser Struma; siehe Kap. 14.5.2). Ein Enzymdefekt in der T3/T4-Synthese führt zur Struma mit Hypothyreose. Wichtig ist der Übergang in die irreversible Knotenstruma, die meist nicht symmetrisch ist. Die Knotenstruma ist in mehrfacher Hinsicht wichtig: ■ Sie kann durch ihre Größe und derbe Konsistenz verunstaltend wirken, vor allem aber lokal zur Dysphagie und zum inspiratorischen Stridor führen. Besonders retrosternale Strumen können diese Symptome früh verursachen. Die Symptome können infolge einer raschen Volumenzunahme, beispielsweise bei einer Blutung in die Knoten, akut verstärkt werden. ■ Sie kann eine Hyperthyreose verursachen, d.h. sich zur toxischen Knotenstruma entwickeln. ■

Die Differentialdiagnose gegenüber Tumoren kann schwierig sein.

Abb. 14-2 Großer Knotenkropf einer 52-jährigen Frau aus einem Jodmangelgebiet.

Gewicht 580 g.

Folgen/Komplikationen Bei Stridor und/oder Dysphagie muss die Struma chirurgisch entfernt bzw. durch Operation auf ein kleines Volumen reduziert werden. Bei Hyperthyreose kann eine thyreostatische Behandlung erfolgreich sein.

14.4

Thyreoiditis

Drei Entzündungen der Schilddrüse sind klinisch relevant: ■ Granulomatöse Thyreoiditis (Abb. 14-3). ■ Chronische lymphozytäre Thyreoiditis (Abb. 14-3). ■ Chronische invasiv-fibröse Thyreoiditis. Akute Entzündungen der Schilddrüse treten meist sekundär nach einer hämatogenen Streuung von Bakterien, Pilzen oder Viren auf. Sie sind selten klinisch relevant.

14.4.1

Granulomatöse Thyreoiditis

Syn.: subakute, nichteitrige granulomatöse Thyreoiditis; virale Thyreoiditis; Thyreoiditis de Quervain

Definition Die granulomatöse Thyreoiditis weist charakteristische histiozytäre Granulome auf, die Riesenzellen enthalten.

Abb. 14-3 Herdförmige Zerstörung des Schilddrüsenparenchyms bei granulomatöser Thyreoiditis:

keine Hypothyreose (Euthyreose). Im Gegensatz dazu führt die chronische lymphozytäre Thyreoiditis mit ausgedehnter Vernarbung der gesamten Schilddrüse zur Hypothyreose.

Epidemiologie Frauen sind ca. dreimal häufiger betroffen als Männer.

Ätiologie und Pathogenese

Die Ätiologie der Erkrankung ist nicht geklärt. Viele Befunde weisen auf eine virale Genese hin: Die granulomatöse Thyreoiditis geht häufig mit viralen Infekten des oberen Respirationstrakts einher, wie Influenza, Mumps, Infekte durch Adeno-, Coxsackie- oder ECHO-Viren. Bei ca. 50% der Patienten können Antikörper gegen Viren nachgewiesen werden. Auch der klinische Verlauf passt zum Bild einer Virusinfektion, die spontan ausheilt. Pathogenetisch ist eine Immunreaktion gegen virale Proteine oder Glykoproteine an der Oberfläche der Follikelepithelzellen denkbar.

Abb. 14-4

Granulomatöse Thyreoiditis.

a Hemithyreoidektomie: Ein Teil des Schilddrüsenlappens ist durch die Entzündung betroffen und bereits teilweise fibrosiert. Es ist nicht der ganze Schilddrüsenlappen befallen (vgl. Abb. 14-5a; siehe auch Abb. 14-16). b Mehrere histiozytäre Granulome (Pfeilspitzen); das Kolloid liegt nicht mehr in intakten Follikeln und wird von vielkernigen Riesenzellen phagozytiert. Das Schilddrüsenparenchym ist lokal weitgehend zerstört. In den rot gefärbten Arealen besteht eine Fibrose (Vernarbung; Pfeile). Elastin-van-Gieson, Vergr. 200fach.

Morphologie

Die Schilddrüse ist meist asymmetrisch vergrößert durch feste, weiß-gelbe Herde („Knoten“). Wichtig ist, dass die Schilddrüse im Gegensatz zur chronischen lymphozytären Thyreoiditis meist nur herdförmig, d.h. nicht diffus, zerstört wird. Sie ist mit der Umgebung nicht verwachsen. Mikroskopisch besteht nur in sehr frühen Stadien eine Zerstörung der Schilddrüsenfollikel mit Infiltration durch neutrophile Granulozyten. Die charakteristische Morphologie (Abb. 14-4a, b) tritt danach in Form histiozytärer Granulome auf, die sich im Bereich von Gruppen zerstörter Follikel bilden. Sie enthalten vielkernige Riesenzellen, oft mit phagozytiertem Kolloid (siehe Abb. 1416). Dazu kommt ein lymphoplasmazelluläres Infiltrat. Im Spätstadium verstärkt sich die Fibrose, zurück bleibt eine Narbe.

Klinisch-pathologische Korrelationen Im Gegensatz zur chronischen lymphozytären Thyreoiditis tritt die Krankheit akut auf mit Fieber, „Halsschmerzen“ (schmerzhafte Schwellung der Schilddrüse) oder Otalgien. Die Blutsenkungsreaktion ist erhöht. Es kann eine frühe, vorübergehende Hyperthyreose auftreten, die wahrscheinlich auf die rasche Schilddrüsenparenchymzerstörung mit T3-/T4-Austritt in das Serum zurückzuführen ist. Später kann auch eine transiente Hypothyreose, die nach Abklingen der Parenchymzerstörung wieder verschwindet, auftreten. Die Krankheit dauert Wochen bis Monate und heilt meist spontan aus.

Folgen/Komplikationen Aufgrund der lediglich herdförmigen Zerstörung des Schilddrüsenparenchyms entsteht meist keine permanente Hypothyreose. Nach Abklingen der akuten Symptome kann die Abgrenzung der herdförmigen Fibrose von einem Tumor schwierig sein.

14.4.2

Chronische lymphozytäre Thyreoiditis

Syn.: Struma lymphomatosa; Thyreoiditis Hashimoto

Definition Die chronische lymphozytäre Thyreoiditis ist charakterisiert durch eine immunologisch bedingte ausgedehnte Zerstörung des Schilddrüsenparenchyms.

Epidemiologie Die chronische lymphozytäre Thyreoiditis tritt am häufigsten im Alter von 30–50 Jahren auf. Frauen sind ca. zehnmal häufiger betroffen als Männer. Sie ist heute die häufigste Ursache der Hypothyreose.

Ätiologie und Pathogenese

Die Ätiologie und die Pathogenese sind derzeit noch unklar, es ist aber eine ganze Reihe von pathogenetischen Faktoren bekannt: Endresultat ist eine Zerstörung des Schilddrüsenparenchyms. Dabei sind sowohl zytotoxische T-Zellen als auch Antikörper beteiligt. Es handelt sich um Antikörper gegen die mikrosomale Fraktion von Follikelepithelzellen, gegen Thyreoglobulin, seltener gegen die Follikelepithelzellmembran, gegen die Hormone T3 und T4 oder gegen eine „NichtThyreoglobulin-Fraktion“ des Kolloids. Auch Thyreoidea-stimulierende Immunglobuline (TSI) wurden nachgewiesen, allerdings in nichtsignifikanter Menge. Die Krankheit tritt familiär gehäuft auf und ist mit dem HLA-DR5-Genotyp assoziiert. Die Prävalenz von Autoantikörpern und der immunologischen Zerstörung

anderer Organe – Nebennieren, Langerhans-Inseln, Belegzellen der Magenkorpusschleimhaut (mit perniziöser Anämie) – ist bei Patienten mit chronischer lymphozytärer Thyreoiditis gegenüber der Normalbevölkerung erhöht.

Morphologie

Die Schilddrüse ist durch das dichte entzündliche Infiltrat im frühen Stadium deutlich, meist symmetrisch, vergrößert. Sie ist derb, aber nicht mit der Umgebung verwachsen. Die Lappen sind vergrößert, ihre Schnittfläche ist grau-weiß (Abb. 145a). Mikroskopisch (Abb. 14-5b, c und Abb. 14-17) besteht ein sehr dichtes, diffuses lymphoplasmazelluläres Infiltrat (B- und T-Lymphozyten) mit Makrophagen und meist Ausbildung von Lymphfollikeln mit Keimzentren. Die Schilddrüsenfollikel sind ausgedehnt zerstört und konfluieren zu Zellsträngen. Falls Follikellumina noch vorhanden sind, enthalten sie meist Kolloid. Auffällig sind Onkozyten, d.h. große Zellen (Durchmesser 30–40 μm) mit feingranulärem eosinophilem Zytoplasma. Elektronenmikroskopisch sind sie mit Mitochondrien und Lysosomen angefüllt sind. Früh tritt eine Fibrose auf. Im Spätstadium wird die Schilddrüse zunehmend kleiner. Es besteht dann eine ausgedehnte Zerstörung des Parenchyms mit Fibrose. Die entzündlichen Infiltrate verschwinden allmählich.

Klinisch-pathologische Korrelationen Der Beginn der Krankheit ist schleichend. Es bestehen meist weder Schmerzen noch allgemeine Entzündungssymptome. Aufgrund der Zerstörung des Schilddrüsenparenchyms entwickelt sich eine Hypothyreose, deren Schweregrad über Monate und Jahre sehr langsam zunimmt (Abb. 14-5d). Im frühen Stadium liegen die Serumkonzentrationen von T3 und T4 im Normbereich, diejenige von TSH kann aber bereits erhöht sein. Später fallen trotz erhöhter TSH-Stimulation die Serumkonzentrationen von T3 und T4 und die Jodaufnahme infolge Zerstörung des Parenchyms ab (vgl. Abb. 14-3).

Folgen/Komplikationen Die Hypothyreose ist wegen der Zerstörung des Schilddrüsenparenchyms meist irreversibel. Daher muss eine T3-/T4-Substitutionstherapie durchgeführt werden. Die Inzidenz von Schilddrüsenkarzinomen ist bei oder nach chronisch lymphozytärer Thyreoiditis nicht erhöht; demgegenüber scheint die Inzidenz maligner Non-HodgkinLymphome gesteigert zu sein.

14.4.3

Chronische invasiv-fibröse Thyreoiditis

Syn.: Thyreoiditis Riedel; eisenharte Struma Riedel

Definition Diese Thyreoiditis ist durch chronische Entzündung mit schwerer Fibrose und Zerstörung des Schilddrüsenparenchyms charakterisiert. Die Schilddrüse ist im Gegensatz zu den anderen Thyreoiditiden mit ihrer Umgebung verwachsen.

Epidemiologie Die Erkrankung ist sehr selten. Sie tritt am häufigsten im vierten bis siebten Lebensjahrzehnt auf. Frauen sind ca. dreimal häufiger betroffen als Männer.

Ätiologie und Pathogenese Die Ätiologie der Erkrankung ist nicht bekannt. Die Krankheit entspricht nicht dem Spätstadium einer lymphozytären Thyreoiditis (Hashimoto). Sie kann kombiniert sein mit einer retroperitonealen Fibrose, einer primär sklerosierenden Cholangitis und Arteriitiden, sodass möglicherweise eine systemische (genetisch bedingte?) Fibrosklerose vorliegt. Bisher sind keine autoreaktiven Antikörper nachgewiesen worden.

Abb. 14-5

Chronische lymphozytäre Thyreoiditis.

a Thyreoidektomie: florides Stadium mit deutlicher Vergrößerung der Schilddrüse („Struma“; Gewicht: 32 g) und grauer Schnittfläche (vgl. Abb. 14-4a; siehe auch Abb. 14-17). b Dichte lymphoplasmazelluläre Infiltration der Schilddrüse. Desorganisation und Zerstörung des Parenchyms (Pfeile). HE, Vergr. 200fach. c Spätstadium mit ausgedehnter Zerstörung des Parenchyms und Fibrose. Spärliche, weitgehend zerstörte, (funktionslose) Schilddrüsenfollikel (Pfeile) und spärliche entzündliche Restinfiltrate. Immunzytochemische Darstellung von Zytokeratinen. Vergr. 200fach. d Patientin mit chronischer lymphozytärer Thyreoiditis: Die Erkrankung hat nach einem Verlauf von mehreren Jahren zu einer Hypothyreose geführt. Die Patientin zeigt eine trockene Haut, eine herdförmige Vitiligo, einen müden, niedergeschlagenen Gesichtsausdruck und schwierig zu kämmendes, trockenes und „struppiges“ Haar (Bild: J.J. Staub, Basel).

Morphologie Die Schilddrüse ist anfangs meist vergrößert (entzündliches Infiltrat), später verkleinert (Fibrose). Die Konsistenz ist derb bis hart. Die Erkrankung kann zunächst herdförmig sein, später wird sie diffus. Mikroskopisch besteht eine Zerstörung des Schilddrüsenparenchyms, begleitet von einer schweren Fibrose mit lymphoplasmahistiozytären Infiltraten. Die Arterien zeigen eine deutliche Intimaproliferation und -fibrose. Wichtig ist die Ausdehnung der Fibrose und Entzündung über die Schilddrüsenkapsel hinaus mit Fixation der Schilddrüse an das umgebende Gewebe, d.h. Muskulatur und Trachea.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Zunächst besteht eine Euthyreose, später tritt mit der Parenchymzerstörung meist eine zunehmende Hypothyreose auf. Probleme entstehen vor allem wegen der Fixation der Schilddrüse an das umgebende Gewebe. Es besteht eine derbe, oft schmerzlose Masse am Hals. Die Differentialdiagnose zu malignen Tumoren ist dadurch klinisch schwierig.

Folgen/Komplikationen Probleme verursacht diese Thyreoiditis vor allem lokal. Da die Krankheit invasiv ist, kann sie infolge einer Trachealstenose zu Stridor und Dyspnoe, zu Dysphagie und zur Zerstörung des N. laryngeus recurrens führen.

14.5

Funktionsstörungen

Aufgrund der vielfältigen Wirkungen von T3 und T4 greifen Funktionsstörungen der Schilddrüse tief in den Metabolismus ein und verursachen dementsprechend schwerwiegende, teils dramatische Symptome.

14.5.1

Hypothyreose

Definition Von primärer Hypothyreose spricht man, wenn deren Ursache in der Schilddrüse selbst liegt, von sekundärer Hypothyreose, wenn eine ungenügende Stimulation durch Hormone von Hypothalamus oder Hypophyse besteht. Die Hypothyreose führt zu einem hypometabolischen Zustand, der auf einer inadäquat niedrigen Hormonsekretion (T3 und T4) beruht. Bei Auftreten vor Geburt oder beim Kleinkind entsteht der sog. Kretinismus, bei Auftreten im Adoleszenten- und Erwachsenenalter ein Myxödem.

Epidemiologie Die Prävalenz beträgt beim Erwachsenen 5–10% bei der Frau bzw. 0,5–2% beim Mann.

Ätiologie und Pathogenese Pathogenetisch sind entweder funktionelle Störungen der T3-/T4-Synthese und Sekretion oder eine Reduktion des Schilddrüsenparenchyms verantwortlich. Selten besteht eine periphere Resistenz gegenüber T3 und T4. Ursachen (Abb. 14-6): ■ Funktionelle Störungen: □ Jodmangel □ Eiweißretentionskrankheit: inkorrekte Faltung von Thyreoglobulin (siehe Kap. 46.2.6) □ Genetische Defekte der Synthese von T3 und T4 □ TRH- bzw TSH-Ausfall von Hypothalamus bzw. Hypophyse □ periphere Resistenz gegen T3 und T4. ■ Reduktion des Schilddrüsenparenchyms: □ chronische lymphozytäre Thyreoiditis □ chirurgische Resektion □ Röntgenbestrahlung □ Agenesie, Aplasie, Hypoplasie. Von den funktionellen Störungen ist nur die Jodmangelstruma häufig (bis 90% aller Schilddrüsenläsionen); bei der Reduktion des Parenchyms ist die chronische lymphozytäre Thyreoiditis am häufigsten. Die Resistenz auf T3 und T4 ist wahrscheinlich auf periphere Rezeptordefekte zurückzuführen.

Abb. 14-6

Ursachen einer Hypothyreose.

Morphologie Die verschiedenen Schilddrüsenkrankheiten sind andernorts in diesem Kapitel beschrieben. Beim Myxödem werden hydrophile Glykosaminoglykane in das Bindegewebe des gesamten Organismus eingelagert.

Molekularpathologie Eine – oft kongenitale – Hypothyreose kann bedingt sein durch ■ Mutationen im Thyreoglobulin mit inkorrekter Faltung (autosomal-rezessiver Erbgang; Punktmutation im Genlokus 8q24.2–24.3),

■ eine Inaktivierung des TSH-Rezeptors (autosomal-dominant oder somatisch; Punktmutation 14q31), ■ eine Inaktivierung der Transkriptionsfaktoren TTF1 und TTF2 (Thyroidtranscription factor) sowie PAX-8 infolge von Punktmutationen (TTF1: auf 14q13; TTF2: autosomal-rezessiv, auf 9q22; PAX-8: autosomal-rezessiv, auf 2q12–14), ■ die Inaktivierung von Enzymen (Thyroidea-Peroxidase: autosomal-rezessiv, 2pter-12), ■ die Inaktivierung von Zellmembrankanälen (Natrium-jodid-Symporter, autosomal-rezessiv, 19p12–13.2). Die periphere Resistenz gegenüber T3 und T4 beruht auf einer Mutation des nukleären T3-/T4-Rezeptors, bedingt durch eine Punktmutation oder Deletion im Genlokus 3p24.3 (autosomal-dominant; siehe auch Kap. 14.3).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die Symptome des Myxödems treten schleichend auf. Es entsteht eine Verlangsamung des Stoffwechsels und damit auch der körperlichen und intellektuellen Aktivität: Müdigkeit, Lethargie bis zur Depression, Kälteintoleranz, Apathie, verlangsamte Sprache. Danach entsteht ein periorbitales Ödem, Haut und Unterhaut werden verdickt und trocken. Die Schweißproduktion sinkt. Das Myxödem zeigt sich besonders in der Gesichtshaut (pastöser Aspekt), die Zunge vergrößert sich. Herzfrequenz und -schlagvolumen sinken. Die Amplitude der Herzaktivität im EKG wird kleiner. Die Peripherie wird daher schlechter mit Blut versorgt. Der Kretinismus ist mit endemischem Kropf und schwerem Jodmangel vergesellschaftet. Er besteht in Intelligenzschwäche, Schwerhörigkeit oder Taubstummheit, Hypothyreose und Kleinwuchs. Das Screening von Neugeborenen und Säuglingen auf Hypothyreose ist wichtig, da der Kretinismus bei Auftreten klinischer Symptome bereits irreversibel ist. Die kongenitale Hypothyreose in jodreichen Gegenden wird meist durch eine Agenesie oder Aplasie bzw. durch eine Ektopie der Schilddrüse verursacht. Die Häufigkeit beträgt ca. 1/4000 Lebendgeburten. Bei Schilddrüsenaffektion (primäre Hypothyreose) ist die Serumkonzentration von T3 und T4 erniedrigt, diejenige von TSH erhöht. Bei hypothalamischen oder hypophysären Erkrankungen (sekundäre Hypothyreose) ist auch die Konzentration von TSH erniedrigt (vgl. Abb. 13-C).

Abb. 14-7

Ursachen einer Hyperthyreose.

IgG: Thyreoidea-stimulating- (TSI) und Thyreoidea-growth-stimulatingImmunoglobulins (TGI); TSH-R: TSH-Rezeptor.

14.5.2

Hyperthyreose

Definition Die Hyperthyreose führt zu einem hypermetabolischen Zustand, der auf einer inadäquat erhöhten Sekretion von T3 und T4 beruht.

Epidemiologie In Gebieten mit ausreichender Jodversorgung ist die Hyperthyreose bei diffuser Struma (Morbus Basedow), in Jodmangelgebieten hingegen der toxische Knotenkropf die häufigste Ursache einer Hyperthyreose. Die Hyperthyreose tritt am häufigsten zwischen dem 30. und 60. Lebensjahr auf. Die Prävalenz beim Erwachsenen beträgt 1–3% bei der Frau bzw. 0,1% beim Mann.

Ätiologie Eine transiente Hyperthyreose kann bei Schilddrüsenentzündungen auftreten (siehe Kap. 14.4). Die persistierende, inadäquat erhöhte Sekretion von T3 und T4 wird praktisch immer durch eine der drei folgenden Krankheiten verursacht (Abb. 14-7): ■ Hyperthyreose bei diffuser Struma (Morbus Basedow; Graves' disease, autoimmune Hyperthyreose) ■

toxischer Knotenkropf



toxisches („autonomes“) Adenom.

Seltene Ursachen sind: Schilddrüsenkarzinom, Chorionkarzinom, TSH-sezernierendes Hypophysenadenom, Struma ovarii (bei Teratom), jodinduzierte Hyperthyreose, neonatale Thyreotoxikose bei Morbus Basedow der Mutter, iatrogene (exogene) Hyperthyreose.

Abb. 14-8

Hyperthyreose bei diffuser Struma.

a Patientin mit Ophthalmopathie: Exophthalmus, Retraktion des Oberlids (Bild: G. Spinas, Zürich).

b Computertomographie der linken Orbita einer Patientin; Exophthalmus, retrobulbäre entzündliche Infiltration mit Ödem (Bild: G. Spinas, Zürich). c Prätibiales Myxödem. Die Haut über den Infiltraten ist deutlich gerötet (Bild: G. Spinas, Zürich). d Thyreoidektomie: vergrößerte Schilddrüse mit vergrößerten Lobuli, ohne Knoten (diffuse Struma, 29 g). Die Schnittfläche ist matt (wenig Kolloid) und gelb-braun. e Schilddrüsenparenchym grob lobuliert und mit Follikeln unterschiedlicher Größe und Form. In Septen und Parenchym Infiltrate von Lymphozyten mit Lymphfollikelbildung (Pfeile). HE, Vergr. 50fach. f Follikel mit hyperplastischem und hypertrophem (zylindrischem) Epithel (Rechtecke), spärlich Kolloid im Lumen. HE, Vergr. 1000fach.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Haut ist warm, feucht und gerötet. Es bestehen eine periphere Vasodilatation sowie eine Tachykardie und ein erhöhtes kardiales Schlagvolumen, Palpitationen, Rhythmusstörungen und eine Vergrößerung des Herzens. Es kann eine sog. thyreotoxische Kardiomyopathie mit high output failure entstehen (siehe auch Kap. 14.1). Die Schweißproduktion ist erhöht. Äußerlich am auffälligsten sind die Augensymptome, die vor allem im Rahmen der Hyperthyreose bei diffuser Struma auftreten: Exophthalmus durch retrookuläre entzündliche Infiltrate in der Orbita bedingt, Retraktion des oberen Augenlids, langsamer Augenschluss (Orbitopathie; als „Merseburger Trias“ wird die Kombination Schilddrüsenvergrößerung, Exophthalmus und Tachykardie bezeichnet. (Abb. 14-8a, b). Es kommt zu zunehmender Atrophie der Skelettmuskulatur sowie zu einer generalisierten Hyperplasie des lymphatischen Gewebes; in vielen Organen kommt es zu umschriebenen lymphozytären Infiltraten. Gelegentlich tritt ein prätibiales Ödem auf (Abb. 14-8c). Die Serumkonzentrationen von T3 und T4 sind erhöht, die von TSH erniedrigt, ausgenommen beim TSH-produzierenden Hypophysenadenom (vgl. Abb. 13-C). Das toxische (autonome) Adenom lässt sich oft als Knoten palpieren und äußert sich szintigraphisch infolge Aufnahme von radioaktivem Jod (z.B. J125) als heißer Knoten. Besteht ein schwerer Infekt, ein Trauma oder ein anderer zusätzlicher Stress, kann es bei zuvor nicht erkannter oder inadäquat behandelter Hyperthyreose zu einer thyreotoxischen Krise kommen. Dieser akute schwere hypermetabolische Zustand ist lebensgefährlich. Er äußert sich durch hohes Fieber, Vorhofflimmern, Delirium und Koma.

Hyperthyreose bei diffuser Struma Syn.: autoimmune Hyperthyreose; Morbus Basedow; Graves' disease

Pathogenese

Die Hyperthyreose bei diffuser Struma (Morbus Basedow) ist auf einen immunologischen Prozess zurückzuführen. Möglicherweise besteht ein Defekt in der Funktion von T-Suppressor-Lymphozyten. Durch die Aktivierung von BLymphozyten treten verschiedene Immunglobuline G auf, welche TSH-Rezeptoren der Follikelepithel-Zellmembran stimulieren. TSI (Thyreoidea-stimulierende Immunglobuline) stimulieren die T3-/T4-Synthese und -Sekretion, TGI (Thyroidgrowth-Immunglobuline stimulieren die Synthese von Strukturproteinen). Dies bewirkt eine Hypertrophie und Hyperplasie des Follikelepithels. Die Krankheit ist mit dem HLA-DR3-Genotyp assoziiert. Es ist derzeit nicht klar, ob die Stimulation der Immunglobuline durch ein neu auftretendes Antigen der Follikelepithelzelle oder durch Verlust der Kontrolle der Antikörperproduktion gegen Follikelepithelzellen bewirkt wird. Die Orbitopathie bei der Hyperthyreose (siehe unten) ist vermutlich ebenfalls auf zirkulierende Antikörper gegen ein Antigen der Augenmuskeln zurückzuführen. Diese Antikörper können bei 80–90% der Patienten mit Ophthalmopathie nachgewiesen werden und zeigen eine Kreuzreaktion mit der mikrosomalen Fraktion der Follikelepithelzelle. Der Exophthalmus im Rahmen der Ophthalmopathie entsteht durch ein retrookuläres Ödem, Ablagerung von Glykosaminoglykanen, lymphozytäre Infiltrate und eine zunehmende Fibrose.

Morphologie

Die Schilddrüse ist vergrößert, es besteht also eine Struma. Eine Fixation an das umgebende Gewebe findet sich nicht. Die Schnittfläche ist matt, weich, gelb-braun (Abb. 14-8d). Mikroskopisch (Abb. 14-8e, f) sind die Follikel unregelmäßig, teils verzogen, das Lumen ist meist eng. Dies ist auf eine Hyperplasie der Follikelepithelzellen sowie eine Vergrößerung der Einzelzelle zurückzuführen: Das Follikelepithel ist hochzylindrisch, es bilden sich intrafollikuläre Papillen ohne BindegewebeGefäßachse. Das Kolloid im Follikellumen ist spärlich und schwach anfärbbar. Im Stroma besteht eine deutliche lymphozytäre Infiltration, ab und zu treten Lymphfollikel auf. Es besteht eine deutliche Hyperämie. Unter Therapie ändert sich das typische Bild. So kommt es insbesondere nach präoperativer Jodgabe („Plummerung“) zur Akkumulation von Kolloid, während Zellvermehrung und -vergrößerung zurückgehen. Die hormonale Aktivität einer derartig therapierten Schilddrüse ist histologisch schwierig beurteilbar.

Toxischer Knotenkropf Pathogenese Der toxische Knotenkropf beruht auf der Entstehung disseminierter autonomer Follikelepithelzellen (sog. disseminierte Follikelautonomie). Er entsteht aus einer diffusen Struma. Dabei spielen aktivierende Punktmutationen im TSH-Rezeptor eine wichtige Rolle (autosomal-dominanter Erbgang oder somatische Punktmutationen auf 14q31).

Morphologie Die hormonale Aktivität des toxischen Knotenkropfs ist morphologisch schwierig zu analysieren. Er zeigt Herde oder ganze Knoten mit geringgradiger Hypertrophie und Hyperplasie des Follikelepithels. Andere Bereiche sind dagegen inaktiviert, d.h., das Follikelepithel ist atrophisch.

Toxisches („autonomes“) Adenom Pathogenese Das toxische Adenom ist ein follikulärer Tumor, der morphologisch schwierig von einem nichttoxischen Adenom zu unterscheiden ist (siehe Kap. 14.6.2). Die Pathogenese ist noch nicht klar. Die Tumorzellen tragen TSH-Rezeptoren und sind offenbar fähig, mit oder ohne Stimulation durch TSH T3 und T4 in Mengen zu produzieren, die inadäquat hoch sind. Es sind derzeit bereits über 30 aktivierende Punktmutationen des TSH-Rezeptors bekannt (autosomal-dominanter Erbgang oder somatische Punktmutationen auf 14q31).

Morphologie Das toxische Adenom ist morphologisch nicht einfach von einem nichttoxischen follikulären Adenom zu unterscheiden. Das umgebende Schilddrüsenparenchym ist beim „dekompensierten“ toxischen Adenom aber inaktiviert, d.h., das Follikelepithel ist atrophisch. Dies kommt über die zumindest partielle Suppression der TRH-/TSHSekretion des Hypothalamus bzw. der Hypophyse infolge der hohen T3-/T4Sekretion durch die Schilddrüse zustande (vgl. Abb. 13-C).

14.6 14.6.1

Tumoren der Schilddrüse Allgemeines

Epidemiologie Tumoren der Schilddrüse treten meist in Form eines solitären, langsam wachsenden Knotens auf. Der Knoten kann an das umgebende Gewebe fixiert sein. Schilddrüsentumoren sind nicht häufig: Die malignen Tumoren machen bei der Frau ca. 1%, beim Mann ca. 0,15% aller maligner Tumoren aus. Von solitären Tumorknoten in der Schilddrüse sind 80–90% Adenome, 10–20% Karzinome. In Strumen treten die Tumoren häufiger auf als in der nichtvergrößerten Schilddrüse. Die Tumoren sind – mit Ausnahme des medullären Karzinoms – bei der Frau zwei- bis dreimal häufiger als beim Mann. Im Allgemeinen treten sie ab dem 50. Lebensjahr auf. Eine Ausnahme bildet das papilläre Karzinom, das bereits beim Kind und häufig bei jungen Menschen vorkommt.

Ätiologie und Pathogenese Über die Ätiologie der Schilddrüsentumoren ist wenig bekannt. Es ist aber gesichert, dass in Jodmangelgebieten follikuläre Adenome und Karzinome häufiger auftreten als in jodreichen Regionen. Radioaktive Strahlung führt zu einer deutlich gesteigerten Inzidenz, vor allem von papillären Karzinomen. Man weiß heute auch, dass sich auf Zellen hochdifferenzierter Schilddrüsentumoren TSH-Rezeptoren befinden können und das Tumorwachstum durch TSH-Stimulation angeregt werden kann.

Tab. 14-1 Klassifikation der Schilddrüsentumoren (WHO 1988).

Die Prozentzahlen bedeuten die relative Inzidenz der Typen maligner Tumoren (alle malignen Tumoren = 100%) und gelten für Nichtstruma-Endemiegebiete.

Klassifikation Die Schilddrüsentumoren werden in epitheliale und nichtepitheliale Tumoren eingeteilt (Tab. 14-1).

14.6.2

Epitheliale Tumoren

Follikuläres Adenom Definition Das follikuläre Adenom ist ein gutartiger epithelialer Tumor mit follikulärer Differenzierung. Praktisch alle benignen Schilddrüsentumoren sind follikuläre

Adenome oder Varianten davon. Zusammen macht die Gruppe 80–90% aller Schilddrüsentumoren aus.

Abb. 14-9

Follikuläres Adenom der Schilddrüse.

Der Tumor komprimiert das Restparenchym (Pfeile) und ist durch eine Bindegewebskapsel begrenzt.

Morphologie Der Knoten ist meist solitär, durch eine Kapsel scharf begrenzt. Der Durchmesser beträgt selten über 4 cm. Das umgebende Parenchym ist komprimiert (Abb. 14-9). Mikroskopisch sind Adenome meist follikulär gebaut, wobei die Follikel sehr unterschiedlich weit sein können. Trabekuläre Adenome enthalten oft lichtmikroskopisch kaum erkennbare Mikrofollikel. Der Phänotyp der Tumorzellen gleicht dem der normalen Schilddrüsenfollikelepithelzelle. Die Tumoren können auch teilweise oder vollständig aus sog. Onkozyten (= zytoplasmareiche Zellen mit in der Hämatoxylin-Eosin-Färbung eosinophil gefärbtem Zytoplasma) aufgebaut sein. Selten sind hellzellige follikuläre Adenome: Das Zytoplasma dieser Tumorzellen enthält reichlich Glykogen. Kapseldurchbrüche bzw. Gefäßeinbrüche dürfen definitionsgemäß nicht vorhanden sein (siehe unten „Follikuläres Karzinom“). Durch Blutungen können diese Knoten rasch an Volumen zunehmen und Schmerzen verursachen. Schwierig kann die Differentialdiagnose zwischen einem hyperplastischen Knoten und einem Adenom in einer Knotenstruma sein.

Molekularpathologie Es findet sich häufig ein Verlust der Heterozygosität (LOH) auf 10q (PTENMutation; PTEN = phosphatase and tensin homologue deleted on chromosome 10).

Klinisch-pathologische Korrelationen Follikuläre Adenome imponieren nach Radiojodgabe szintigraphisch als kalte Knoten, da sie meist hormonal inaktiv sind. Sie produzieren aber praktisch immer Thyreoglobulin. Die Tumoren können, unter anderem durch TSH-Stimulation, eine Hyperthyreose verursachen: Es handelt sich dabei um die sog. toxischen („dekompensierten“) Adenome. Der Knoten ist dann im Szintigramm nicht kalt, sondern heiß (siehe Kap. 14.5.2). TSH stimuliert über den TSH-Rezeptor des Thyreozyten das Wachstum von Adenomen. Bei ca. 25% der toxischen Adenome können Punktmutationen im TSH-Rezeptor nachgewiesen werden, welche die GTP-ase-Aktivität des Thyreozyten hemmen. Dadurch wird eine Stimulation der T3- und T4-Produktion bewirkt (siehe Kap. 14.5.2). Follikuläre Adenome können in follikuläre Karzinome übergehen, dies allerdings meist erst nach langem Verlauf.

Andere benigne Tumoren Alle weiteren benignen Tumoren sind Seltenheiten: hyalinisierende trabekuläre Adenome, Adenolipome, Teratome, Fibrome, Hämangiome, Granularzelltumoren.

Follikuläres Karzinom Definition Das follikuläre Karzinom (Abb. 14-10a) ist ein maligner epithelialer Tumor mit follikulärer Differenzierung, ohne papilläre Anteile.

Epidemiologie Follikuläre Karzinome treten in einer vorbestehenden Knotenstruma, d.h. in Jodmangelgebieten, wesentlicher häufiger auf als in der nicht vergrößerten Schilddrüse. Sie sind in Struma-Endemiegebieten die häufigsten malignen Schilddrüsentumoren. Die Inzidenz sinkt mit dem Rückgang der Strumainzidenz bei Jodprophylaxe (siehe Kap. 14.3). Der Tumor ist dann mit 10–20% der zweithäufigste aller malignen Schilddrüsentumoren.

Abb. 14-10 Follikuläres Karzinom der Schilddrüse.

a Großer Tumor mit zentraler Fibrose (weiß), Nekrosen (Pfeile) und Einbruch in eine Kapselvene der Schilddrüse (Doppelpfeil). b Das Tumorparenchym ist weitgehend solide, enthält aber auch unterschiedlich große Follikel mit wenig Kolloid (Pfeile). Zellen und Kerne sind monomorph. Der Tumor ist in eine größere Vene eingebrochen (Pfeilspitzen), im Lumen sind Erythrozyten zu sehen. Die Tumorzellen enthalten Thyreoglobulin (braun). Immunzytochemische Reaktion für Thyreoglobulin, Vergr. 200fach.

Morphologie

Der Knoten besitzt meist eine Kapsel, auf der Schnittfläche ist das Tumorparenchym braun, teils grau. Oft besteht eine zentrale Narbe. Mikroskopisch (Abb. 14-10b und Abb. 14-18) sind unterschiedlich große Follikel mit Zellen, die dem Phänotyp der Follikelepithelzellen ähnlich sind, vorhanden. Im trabekulären Tumortyp sind die Mikrofollikel oft kaum zu erkennen. Das Knotenzentrum ist oft fibrosiert und enthält Reste von Blutungen (Hämosiderin). Der Tumor ist schwierig von einem follikulären Adenom zu unterscheiden, da zytologische Malignitätskriterien nicht sicher erfasst werden können. Mitosen oder Zell- und Kernpolymorphie fehlen meistens. Daher ist auch die zytologische Diagnose der Dignität eines follikulären Schilddrüsentumors schwierig bis unmöglich (siehe Kap. 14.7). Entscheidende Malignitätskriterien sind Durchbrüche der Tumorkapsel mit Infiltration des umgebenden Gewebes sowie Einbrüche in kleine Kapselvenen (mikroinvasives Karzinom) oder in große Venen (makroinvasives Karzinom). Follikuläre Karzinome können teilweise oder ganz aus Onkozyten oder selten aus sog. hellen Zellen (mit Glykogen im Zytoplasma) bestehen. Bei der letzteren Variante muss der Tumor von einer Metastase eines klarzelligen Nierenkarzinoms abgegrenzt werden.

Molekularpathologie Amplifikation des c-ras-Onkogens und Punktmutationen in den Ha-ras-, N-ras- und Ki-ras-Onkogenen sind häufig. Außerdem ist LOH von p53 und p16 (auf 9p) sowie auf 2p und 2q, 3p, 7q und 11q13 nachgewiesen worden.

Klinisch-pathologische Korrelationen In follikulären Karzinomen kann immunzytochemisch praktisch immer eine Thyreoglobulinproduktion nachgewiesen werden, mit Ausnahme der soliden, in ein anaplastisches Karzinom übergehenden und der hellzelligen Anteile.

Metastasierung Das follikuläre Karzinom metastasiert vorwiegend hämatogen in Lunge, Skelett und Gehirn. In Tab. 14-2 ist die pTNM-Klassifikation maligner Schilddrüsentumoren aufgeführt.

Prognose Das mikroinvasive follikuläre Karzinom zeigt bei korrekter Diagnostik und gezielter Therapie eine mittlere 10-Jahres-Überlebensrate von > 95%, das makroinvasive Karzinom von ca. 90%.

Papilläres Karzinom Definition Das papilläre Karzinom (Abb. 14-11a) ist ein maligner epithelialer Tumor mit papillären, aber oft auch follikulären Strukturen.

Epidemiologie Das papilläre Karzinom ist mit 70–80% aller Schilddrüsenkarzinome außerhalb der Struma-Endemiegebiete der häufigste maligne Schilddrüsentumor.

Pathogenese Das papilläre Karzinom entsteht in einer nichtvergrößerten Schilddrüse ebenso häufig wie in einer Struma.

Tab. 14-2 pTNM-Klassifikation maligner Schilddrüsentumoren.

Abb. 14-11 Papilläres Karzinom der Schilddrüse.

a Hemithyreoidektomie: Der kleine Tumor liegt rechts auf dem Schnitt in einem nichtvergrößerten Schilddrüsenlappen. b Im Schilddrüsenparenchym Tumorgewebe mit verzogenen Follikeln und Papillen (großer Pfeil), die eine Bindegewebe-Gefäßachse enthalten (kleine Pfeile). Das Epithel ist zylindrisch, die Kerne liegen sehr dicht. HE, Vergr. 200fach.

c Papillen, in denen die Bindegewebe-Gefäßachse deutlich sichtbar ist (Pfeile). Die Kerne der Tumorzellen sind ziegelartig übereinander geschachtelt. HE, Vergr. 400fach (vgl. Abb. 14-18). d Lymphknotenmetastase. Das Tumorgewebe produziert Thyreoglobulin (braun) und enthält einige Mikroverkalkungen (Psammomkörper; Pfeile). Immunzytochemische Reaktion für Thyreoglobulin, Vergr. 200fach.

Morphologie

Der Tumor kann sehr klein sein (Mikrokarzinom: Durchmesser weniger als 10 mm) und wird aufgrund seiner frühen lymphogenen Metastasierung bei bis zu 20% der Patienten indirekt via Lymphknotenmetastasen am Hals entdeckt. Im Schnitt kann der Tumor durch eine Kapsel begrenzt sein. Sie kann aber auch fehlen. Die Schnittfläche ist weiß bis grau. Mikroskopisch (Abb. 14-11b–d) liegen meist unregelmäßig geformte, länglich verzogene Follikel vor, wobei der follikuläre Anteil sehr unterschiedlich ausgedehnt sein kann. Für die Diagnose entscheidend sind einfache oder verzweigte Papillen mit einer fibrovaskulären Achse, die in das Follikellumen hineinragen. Der Tumor besteht aus phänotypisch Follikelepithelzellen ähnlichen Zellen. Die Tumorzellen sehen lichtmikroskopisch wie übereinander geschachtelt aus (siehe Abb. 14-19). Der Zellkern zeigt in ca. 50% der Tumoren den sog. Milchglasaspekt, d.h., es besteht ein sehr feinkörniges Chromatin mit an den Kernrand angelagertem Heterochromatin. Milchglaskerne können bei diesen Tumoren auch in den follikulären Anteilen nachgewiesen werden. Ziemlich häufig treten auch Kalzispheriten (oder sog. Psammomkörper) auf. Ihr Durchmesser beträgt bis ca. 10 μm. Da diese Psammomkörper in anderen Schilddrüsenkarzinomen praktisch nicht vorkommen, können sie diagnostisch verwendet werden. Man kennt mehrere histologische Varianten dieses Tumors, z.B. die follikuläre, die diffus-sklerosierende sowie die onkozytäre Variante. Papilläre Karzinome können solide Zellstränge und Plattenepithelmetaplasien aufweisen. Sie können dann mit einem Plattenepithelkarzinom verwechselt werden. Der Verlauf ist bei diesen Tumoren aggressiver, die Prognose entsprechend schlechter als beim hochdifferenzierten Typ.

Molekularpathologie Bei ca. 20% der papillären Karzinome kann eine Amplifikation des Onkogens c-ras, bei ca. 60% eine vermehrte Expression der mRNA von c-myc und c-fos nachgewiesen werden. Somatische Rearrangierung des RET-Protoonkogens (vor allem parazentromere Inversion des langen Arms des Chromosoms 10) ist in bis zu 60% der papillären Karzinome gefunden worden. Darüber hinaus treten p21Deletionen und LOH von p16 auf.

Klinisch-pathologische Korrelationen Praktisch alle papillären Schilddrüsenkarzinome produzieren Thyreoglobulin mit Ausnahme der soliden Abschnitte bzw. der Zellen in der Plattenepithelmetaplasie.

Metastasierung Das papilläre Karzinom metastasiert lymphogen, vor allem in die regionären Halslymphknoten. Eine hämatogene Metastasierung erfolgt, wenn überhaupt, erst relativ spät, vorwiegend in die Lunge.

Prognose Bei korrekter Diagnostik und gezielter Therapie weist das papilläre Karzinom allgemein eine gute Prognose auf. Vor allem bei Patienten unter 45 Jahren entspricht die Lebenserwartung nahezu derjenigen einer Kontrollpopulation, sogar bei pT4 N1 M1-Tumoren. Bei älteren Patienten verläuft die Krankheit aggressiver. Tumoren mit soliden Anteilen, Plattenepithelmetaplasien oder mit Durchbruch durch die Organkapsel der Schilddrüse zeigen dabei eine deutlich schlechtere Prognose. Im Mittel überleben ca. 60% dieser Patienten 10 Jahre.

Medulläres Karzinom Definition Das medulläre Karzinom (Abb. 14-12a) ist ein maligner Tumor mit phänotypischer C-Zell-Differenzierung. Die wichtigsten Aspekte der überwiegenden Mehrzahl dieses Karzinomtyps sind: ■ Produktion von Kalzitonin, calcitonin gene peptide sowie von karzinoembryonalem Antigen (CEA), weniger häufig von Somatostatin, Gastrinreleasing-Peptid (GRP), Serotonin, ACTH oder Prostaglandinen. ■ Neuroendokriner Phänotyp der Tumorzellen, d.h. Nachweis von Synaptophysin (in Vesikeln) sowie von Chromogranin A (in der Matrix der neurosekretorischen Granula), die elektronenmikroskopisch nachgewiesen werden können (siehe Kap. 17.1). ■ Häufige Einlagerung von Amyloid im Stroma. ■ Bei ca. 30% der Tumoren tritt eine Amplifikation des N-myc-Onkogens auf.

Epidemiologie Der Tumor macht 5–10% der malignen Schilddrüsentumoren aus. Er kann sporadisch (ca. 80%) oder familiär gehäuft auftreten. Der sporadische Tumor tritt meist solitär, der genetisch determinierte in multiplen Knoten auf. Bei ca. 50% der sporadischen Tumoren liegen zur Zeit der Diagnose bereits regionäre Lymphknotenmetastasen vor. Das familiäre medulläre Karzinom tritt sehr häufig mit genetisch determinierten Syndromen auf. 10–15% der medullären Schilddrüsenkarzinome sind mit einer MEN 2a oder b (= multiple endokrine Neoplasie; siehe Kap. 18.2) kombiniert. Der Tumor tritt dann bereits bei Kindern und Jugendlichen auf. Insgesamt sind ca. 20% der Tumoren familiär.

Morphologie

Die Schnittfläche ist entweder weich und grau-braun oder derb und grau. Histologisch (Abb. 14-12b) kann das Bild stark variieren – der Tumor kann solide, follikuläre oder seltener (pseudo)papilläre Areale enthalten. Die Zellen sind rundoval oder spindelig (siehe Abb. 14-20) und in Platten angeordnet. Das Stroma enthält oft Amyloid, in dem unter anderem Prokalzitonin nachgewiesen werden kann.

Molekularpathologie Bei den sporadischen Tumoren sind in bis zu 80% somatische MissensePunktmutationen, vor allem im Codon 918 des Exons 16 des RET-Protoonkogens (Chromosom 10q11.2), nachgewiesen worden (siehe Kap. 18.2). Beim familiären medullären Karzinom treten in insgesamt 6 Exons des RET-Protoonkogens regelmäßig aktivierende Missense-Punktmutationen auf (siehe Kap. 18.2).

Metastasierung Das medulläre Karzinom metastasiert meist früh lymphogen in die regionären Halslymphknoten, später hämatogen, u.a. in Lunge und Leber.

Prognose Das spontan auftretende medulläre Karzinom zeigt bei Fehlen von Lymphknotenmetastasen zum Zeitpunkt der Diagnosestellung eine gute Prognose. Die mittlere 10-Jahres-Überlebensrate bei Vorhandensein von Lymphknotenmetastasen beträgt dagegen lediglich 40%. Genetisch determinierte medulläre Schilddrüsenkarzinome im Rahmen einer MEN 2 treten wesentlich früher im Leben auf und verlaufen teilweise aggressiver (siehe Kap. 18.2).

Undifferenziertes (anaplastisches) Karzinom Definition Das anaplastische Karzinom (Abb. 14-13a) ist ein hochmaligner Tumor, der aus wenig differenzierten Zellen besteht.

Epidemiologie Das anaplastische Karzinom macht derzeit weniger als 3% der malignen Schilddrüsentumoren aus. Es tritt meist im Alter von über 60 Jahren auf.

Ätiologie Dieser Tumor kann offenbar spontan entstehen. Oft kann aber ein vorbestehendes follikuläres oder papilläres Karzinom nachgewiesen werden.

Abb. 14-12 Medulläres Karzinom der Schilddrüse.

a Thyreoidektomie: stark vergrößerter Schilddrüsenlappen: Die Schnittfläche ist derb und grau und zeigt frische Einblutungen. Der Patient wurde molekularbiologisch untersucht und zeigte in der Keimbahn keine Mutationen

des RET-Protoonkogens (siehe Kap. 18.2). Der Tumor wurde daher als sporadisch eingestuft. b Platten, bestehend aus spindeligen Tumorzellen. Mäßig stark ausgeprägte Zellund Kernpolymorphie. Wenig Amyloid (Pfeil). HE, Vergr. 400fach. c Kalzitoninproduktion durch Tumorzellen. Immunzytochemische Reaktion für Kalzitonin, Reaktionsprodukt braun, Vergr. 400fach.

Morphologie

Makroskopisch ist der Tumor oft groß, weich, grau, mit Blutungen und Nekrosen. Mikroskopisch ist er sehr zellreich, meist hochgradig polymorphzellig, mit an Riesenzellen reichen Arealen. Nekrosen sind häufig. Der Tumor bricht in Venen ein und durchwächst oft die Organkapsel sowie die umgebenden Strukturen (Abb. 14-13b, c). Oft sind zumindest Anteile des Tumors sarkomähnlich gebaut.

Molekularpathologie Es bestehen oft Missense-Mutationen im p53-Gen. Zusätzlich wurden ein Verlust von 9p und 16p, ein LOH auf 7q sowie der Verlust eines Allels auf 1q, 9p, 11, 17, 19 und 22q gefunden.

Metastasierung Das anaplastische Karzinom ist hochmaligne und metastasiert früh sowohl lymphogen als auch hämatogen. Metastasen können oft in vielen Organen nachgewiesen werden. Lokale Komplikationen, bedingt durch das infiltrativdestruktive Wachstum, stehen jedoch oft im Vordergrund.

Prognose Der Tumor wächst rasch und ist zum Zeitpunkt der Diagnose oft bereits in das die Schilddrüse umgebende Gewebe eingewachsen. Das undifferenzierte Karzinom hat daher eine ausgesprochen schlechte Prognose. Nur ca. 20% der Patienten überleben ein Jahr nach Diagnosestellung. Der Übergang von einem follikulären oder papillären Karzinom in ein anaplastisches Karzinom muss daher durch präzise Diagnostik und adäquate Therapie unbedingt vermieden werden.

14.6.3

Nichtepitheliale Tumoren

Maligne Lymphome Maligne Lymphome, meist immunoblastische Non-Hodgkin-Lymphome, können in der Schilddrüse entstehen oder sie sekundär befallen. Diese Tumoren wurden früher

oft als kleinzellige Variante des anaplastischen Karzinoms diagnostiziert. Die chronische lymphozytäre Thyreoiditis kann als Vorläuferläsion von malignen Lymphomen gelten.

Abb. 14-13 Undifferenziertes (anaplastisches) Karzinom der Schilddrüse.

a Thyreoidektomie: Der Tumor nimmt den linken Teil des Schilddrüsenlappens ein; seine Schnittfläche ist teils grau, teils braun. Rechts unten findet sich ebenfalls Tumorgewebe, ebenso ein Einbruch in eine große Vene (Pfeil). b Der Tumor ist in die Trachea eingebrochen (Querschnitt) und wächst in deren Lumen weiter (Pfeile). Elastin-van-Gieson, Vergr. 100fach. c Fehlen einer organoiden Struktur, deutliche Zell- und Kernpolymorphie. HE, Vergr. 200fach.

Weitere nichtepitheliale Tumoren Maligne Hämangioendotheliome wurden früher gelegentlich in Strumen gefunden. Sie sind heute eine Rarität. Es handelt sich dabei um hochmaligne Tumoren. Ebenso selten treten Fibrosarkome oder Osteosarkome auf. Bei Plattenepithelkarzinomen handelt es sich um wohl meist von außen in die Schilddrüse einwachsende Karzinome.

14.6.4

Metastasen in der Schilddrüse

Metastasen, vor allem von malignen Melanomen sowie Bronchus- und Mammakarzinomen, sind in der Schilddrüse häufig nachweisbar. Sie sind meist klein und klinisch nicht relevant. Relevant sind hingegen oft Metastasen klarzelliger Nierenzellkarzinome. Sie können bei langsamem Wachstum des Primärtumors den ersten Hinweis auf diesen geben. Die Metastasen sind histologisch schwierig von der hellzelligen Variante des follikulären Schilddrüsenadenoms oder -karzinoms zu unterscheiden. Der immunzytochemische Nachweis von Thyreoglobulin kann dabei entscheidende Hilfe leisten, da Thyreoglobulin ausschließlich durch die Follikelepithelzellen der Schilddrüse oder durch Schilddrüsentumoren produziert wird.

14.6.5 Klinisch-pathologische Korrelationen der Schilddrüsentumoren

Schilddrüsentumoren äußern sich in einer nichtvergrößerten Schilddrüse meist als solitärer, langsam wachsender Knoten. In der Knotenstruma ist die Diagnose wesentlich schwieriger. Einzig das anaplastische Karzinom wächst rasch. Bei Ausdehnung über die Schilddrüsenkapsel ist der Knoten an seine Umgebung fixiert. Eine rasche Volumenzunahme, die Schmerzen verursachen kann, ist meist durch Blutungen oder Nekrosen bedingt. Die Symptome sind lokal auf mechanische Auswirkungen des Tumors zurückzuführen: Stridor, Dysphagie. Die Durchwachsung des N. laryngeus recurrens führt zu Heiserkeit. Vor allem beim anaplastischen Karzinom muss oft eine Tracheotomie durchgeführt werden wegen Einwachsens des Tumors in die Trachea.

Das medulläre Karzinom kann ebenfalls lokale Symptome verursachen. Die Serumkonzentration des Kalzitonins ist der wichtigste diagnostische Hinweis auf diesen Tumortyp. Trotz erhöhter Serumkonzentration des Kalzitonins sind die Patienten meist normokalzämisch. Eine Hyperthyreose tritt mit Ausnahme des follikulären Adenoms (toxisches, „autonomes“ Adenom) bei Schilddrüsentumoren sehr selten auf. Follikuläre und papilläre Schilddrüsentumoren bzw. deren Metastasen können aufgrund ihrer Speicherkapazität und Syntheseaktivität durch Szintigraphie oft lokalisiert bzw. durch therapeutische Dosen von radioaktivem Jod verstrahlt werden. Nach totaler chirurgischer Thyreoidektomie oder Radiojod-Elimination des Schilddrüsenparenchyms ist der Anstieg der Serumkonzentration vom Thyreoglobulin ein zuverlässiger Marker für den Verlauf des Tumors bzw. des Therapieerfolgs. Im Gegensatz dazu können die nichthormonproduzierenden undifferenzierten Karzinome nicht durch Radiotherapie behandelt werden.

Folgen/Komplikationen Die Folgen und Komplikationen bei Schilddrüsentumoren sind auf lokale Auswirkungen bzw. auf Metastasen zurückzuführen. Eine totale Thyreoidektomie bedeutet lebenslange Substitutionstherapie mit Schilddrüsenhormonen.

14.7 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Schilddrüsenerkrankungen (Abb. 14-14) PH. U. HEITZ C. MOLL Solitäre Knoten der Schilddrüse sind sehr häufig: Ihre Prävalenz beträgt 2–4% der adulten Bevölkerung in Nicht-struma-Endemiegebieten. Eine morphologische Diagnose muss insbesondere bei Knoten in der Schilddrüse erzwungen werden. Dies gilt vor allem für solitäre Knoten. Folgende Veränderungen äußern sich als Schilddrüsenknoten: ■ Kolloidknoten einer Struma ■ Tumoren ■ Zysten ■ Narben

■ Thyreoiditis (insbesondere granulomatöse Thyreoiditis).

Abb. 14-14

Interdisziplinäre Abklärung einer Struma.

Die Feinnadelpunktion wird eher durchgeführt, falls eine chirurgische Maßnahme antizipiert wird. Die Bestimmung der Serumkonzentration von TSH wird demgegenüber wahrscheinlich veranlasst, falls eine endokrinologische Abklärung vermutet wird. Jod-Szintigraphie mit J123 oder J125. FNP: Feinnadelpunktion. Die Diagnostik des solitären bzw. des wachsenden Schilddrüsenknotens umfasst folgende Untersuchungen, wobei bei jedem Patienten zu entscheiden ist, wieweit die Abklärung erfolgen muss: ■ Anamnese, klinische Untersuchung, Bestimmung der Serumkonzentrationen von T3, T4 und TSH zum Nachweis einer euthyreoten, hypo- oder hyperthyreoten Stoffwechsellage. ■ Ultraschall zum Nachweis einer Zyste (Abb. 14-15). ■ Szintigramm zum Nachweis eines sog. „kalten Knotens“, in dessen Bereich die Radiojodid-Aufnahme gegenüber der des übrigen Schilddrüsenparenchyms deutlich reduziert ist. ■ Feinnadelpunktion zur zytopathologischen Untersuchung. Die definitive Diagnose eines tumorverdächtigen Schilddrüsenknotens muss mikroskopisch erfolgen. Dazu ist die Feinnadelpunktion die schnellste, effizienteste und gleichzeitig schonendste Methode. Sie ist als Triageuntersuchung aufzufassen, die neoplastische Veränderungen mit hoher Sensitivität diagnostizieren lässt. Der verdächtige

Knoten wird meist unter palpatorischer und/oder sonographischer Kontrolle mit der feinen Nadel repetitiv fächerförmig angestochen. Die mikroskopischen Schneidebewegungen der Punktionsnadel genügen bei der Schilddrüse bereits für ein repräsentatives Sampling durch Kapillarkräfte. Ein hoher Aspirationsdruck erhöht lediglich den Blutanteil der Probe. Zusätzlich zur üblichen Nassfixation empfiehlt es sich, bei Schilddrüsenpunktaten eine Trockenfixation durchzuführen, da dabei vorhandenes Kolloid besser erhalten bleibt. Sollte die Feinnadelpunktion eines Schilddrüsenknotens kein repräsentatives Material ergeben, muss zunächst die Wiederholung der Untersuchung, am besten unter Schnellbefundkontrolle, erfolgen. Damit gelingt es praktisch immer, diagnostische Punktate zu gewinnen (Abb. 14-16 bis 14-20).

Abb. 14-15 Ultrasonogramme bei solitärem Schilddrüsenknoten links.

Die zytopathologische Untersuchung nach ultraschallgesteuerter Feinnadelpunktion (siehe Kap. 1.3.5) ergab die Diagnose „zystischer Strumaknoten“. Die histopathologische Diagnose am Operationspräparat lautete: „zystische Knotenstruma“.

a Große zystische Läsion mit wandständiger, solider Raumforderung (unten). b Im Power-Doppler-Mode stellt sich die solide Raumforderung als gut perfundiert dar (Bilder: K.-P. Jungius, Zürich).

Abb. 14-16 Granulomatöse Thyreoiditis: Feinnadelpunktat.

Mehrkernige histiozytäre Riesenzellen, vereinzelte Epitheloidzellen mit länglichen hellen, taillierten Kernen auf lockerem, gemischtzellig entzündlichem Hintergrund. Papanicolaou-Färbung, Vergr. 400fach (vgl. Abb. 14-4).

Abb. 14-17 Chronische lymphozytäre Thyreoiditis: Feinnadelpunktat.

Verbände onkozytär umgewandelter Thyreozyten mit geringgradiger Polymorphie und mikrofollikulären, wenig Kolloid enthaltenden Follikeln auf lymphozytärem entzündlichem Hintergrund. Papanicolaou-Färbung, Vergr. 400fach (vgl. Abb. 14-5).

Abb. 14-18 Mäßig differenziertes follikuläres Karzinom der Schilddrüse: Feinnadelpunktat.

Deutlich vergrößerte, in der Architektur gestörte neoplastische Thyreozyten. Gelegentlich sieht man Zellverbände, die mikrofollikuläre Formationen bilden (rechts) und wenig Kolloid enthalten können. Bei gut differenzierten follikulären Karzinomen der Schilddrüse ist eine rein zytologische Abgrenzung zum Adenom in der Regel nicht möglich, und man begnügt sich mit der Diagnose „follikuläre Neoplasie“. Eine histologische Abklärung ist in dieser Situation indiziert. Papanicolaou-Färbung, Vergr. 630fach (vgl. Abb. 14-10).

Abb. 14-19 Papilläres Karzinom der Schilddrüse: Feinnadelpunktat.

Dieser Tumor ist zytologisch durch einen pseudopapillären Verband (ohne sichtbare Stromaachse), ziegeldachartige Übereinanderschachtelung der Zellkerne und eine charakteristische Kernmorphologie definiert. Unscharf aufgehelltes Chromatin, das milchig-transparent erscheint, wird als Milchglasaspekt (im angelsächsischen Sprachgebrauch als „ground glass nuclei“ oder „orphan Annie's eyes“) bezeichnet (Pfeil). Die Kerne erinnern zudem häufig an Kaffeebohnen wegen streifenförmiger Chromatinkondensation („nuclear grooves“) in der Mitte der Kerne. Diese Kerneigenschaften finden sich auch bei follikulären Wuchsformen des papillären Karzinoms. Papanicolaou-Färbung, Vergr. 630fach (vgl. Abb. 14-11). Zytologisch sind die nichtfollikulären Karzinome (papillär, medullär, anaplastisch) mit hoher Treffsicherheit zu diagnostizieren. Eine chirurgische Intervention kann entsprechend geplant werden. Schwierigkeiten ergeben sich bei gut differenzierten follikulären Neoplasien: Die Differentialdiagnose zwischen einem follikulären Adenom bzw. einem hochdifferenzierten follikulären Karzinom ist zytologisch nicht möglich, da zytologische Malignitätskriterien weitgehend fehlen. In dieser Situation ist primär eine diagnostische Exzision des Knotens mit vollständiger histologischer Aufarbeitung anzustreben. Dabei müssen bei follikulären Tumoren möglichst große Anteile der Tumorkapsel untersucht werden, da Kapseldurchbrüche und insbesondere Gefäßeinbrüche bei diesen Tumoren entscheidende Kriterien der Malignität darstellen.

Abb. 14-20 Medulläres Karzinom der Schilddrüse: Feinnadelpunktat.

Der Tumor imponiert im Punktat meist ovalär- bis spindelzellig, mit reichlich granuliertem Zytoplasma. Die Kerne liegen exzentrisch und zeigen häufig keine nukleären Malignitätskriterien. Mehrkernige Tumorzellen sind typisch. Charakteristische Verbände fehlen. Die Kalzitonin-Immunzytochemie kann bereits am zytologischen Präparat die Diagnose sichern. Immunzytochemische Darstellung von Kalzitonin. Papanicolaou-Färbung, Vergr. 450fach (vgl. Abb. 14-12).

Literatur Siehe Literaturverzeichnis in Kap. 18.

FRAGEN 1 Welche erfolgreiche prophylaktische Maßnahme (Primärprävention) hat zum entscheidenden Rückgang der Struma in früheren Struma-Endemiegebieten geführt? 2 Die funktionellen Auswirkungen einer granulomatösen Thyreoiditis unterscheiden sich von denjenigen der chronischen lymphozytären Thyreoiditis. Bei welcher Thyreoiditis sind die Folgen für den Patienten schwer wiegend? Welches sind Gründe für den unterschiedlichen Verlauf der beiden Erkrankungen?

3 Welche Krankheiten können eine Hypo-, welche eine Hyperthyreose verursachen? 4 Weshalb ist die Differenzierung zwischen den verschiedenen Formen maligner (vor allem maligner epithelialer) Tumoren der Schilddrüse wichtig? 5 Weshalb muss der Übergang differenzierter Tumoren in ein undifferenziertes Karzinom unbedingt vermieden werden, und wie kann dies durchgeführt werden? 6 Welches sind wichtige Maßnahmen bei der Abklärung von Schilddrüsenknoten? 7 Welches sind die Indikationen zur morphologischen Untersuchung der in diesem Kapitel beschriebenen Krankheiten? Welche Untersuchungen sind indiziert? Welchen Beitrag können diese Untersuchungen zur präzisen Diagnostik und zur Planung der Therapie leisten?

15 Nebenschilddrüsen PH. U. HEITZ P. KOMMINOTH G. KLÖPPEL 15.1

Normale Struktur und Funktion 405

15.2

Agenesie und Aplasie 406

15.3

Hyperparathyreoidismus 406

15.3.1

Primärer Hyperparathyreoidismus 406

15.3.2

Sekundärer Hyperparathyreoidismus 408

15.4

Hypoparathyreoidismus 409

15.5 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Erkrankungen der Nebenschilddr!üsen 410 Literatur 410 Fragen 410

Zur Orientierung Die sehr kleinen Nebenschilddrüsen (Gewicht pro Drüse ca. 35–40 mg) üben über die Regulation des Kalziumstoffwechsels eine lebenswichtige homöostatische Funktion aus. Ihr Fehlen ist mit dem Leben nicht vereinbar. Anderseits sind durch Erkrankungen der Nebenschilddrüsen ausgelöste hyperkalzämische Zustände schwerwiegend; die sog. hyperkalzämische Krise stellt eine unmittelbare Lebensbedrohung dar. Der Hypoparathyreoidismus ist selten, es sind jedoch verschiedene genetische Formen bekannt.

15.1

Normale Struktur und Funktion

Die Nebenschilddrüsen entstehen aus den Schlundtaschen – die oberen aus dem Endoderm der vierten, die unteren aus der dritten Schlundtasche. Meist werden vier Drüsen angelegt. Bei ca. 10% der Menschen entwickeln sich nur zwei oder aber bis zu sechs Drüsen. Beim Erwachsenen ist die Nebenschilddrüse oval und von einer dünnen Kapsel umgeben, 4–6 mm im größten Durchmesser. Das Gewicht der Einzeldrüse beträgt 35–40 mg. Die Schnittfläche ist „rehbraun“. Die oberen Drüsen liegen auf der Hinterfläche nahe dem oberen Pol der Schilddrüsenlappen; die Lokalisation der unteren Drüsen ist

unregelmäßiger – sie können am Unterpol des Schilddrüsenlappens oder ektopisch im Thymus bzw. im umgebenden Gewebe liegen. Mikroskopisch bestehen die Nebenschilddrüsen beim Kind nahezu ausschließlich aus Parenchymzellen und zartem Stroma; bis zum Alter von 25 Jahren nimmt der Anteil an Fettgewebe bis auf ca. 30% zu. Danach bleibt er mehr oder weniger konstant. Das Parenchym besteht hauptsächlich aus den sog. Hauptzellen mit einem Durchmesser von 10–20 μm. Ihr Glykogengehalt schwankt stark, der Kern ist rund und liegt zentral. Beim Erwachsenen kommen regelmäßig Onkozyten (oxyphile Zellen) mehr oder weniger zahlreich in Gruppen vor. Sie sind deutlich größer als die Hauptzellen (Durchmesser 20– 40 μm), ihr Zytoplasma ist eosinophil und feingranulär. übergangsformen zwischen Hauptzellen und Onkozyten kommen vor. Elektronenmikroskopisch ist der Golgi-Apparat in der Hauptzelle groß, die Zahl der Mitochondrien relativ niedrig. Lipofuszin und Sekretgranula sind nebst einer unterschiedlichen Menge von Glykogen nachweisbar. Beim Onkozyten dominieren Mitochondrien das Zytoplasma.

Parathormon (PTH) Das Hormon der Nebenschilddrüsen, das Parathormon, ist ein Peptid mit 84 Aminosäuren. Nach der Sekretion wird es sehr rasch in ein N-terminales Fragment von 34 Aminosäuren mit einer sehr kurzen Halbwertszeit im Serum (Minuten) und in ein Cterminales Fragment mit einer Halbwertszeit im Serum von mehreren Stunden gespalten. Die biologisch relevante Aktivität liegt in der N-terminalen 34er Sequenz. PTH ist einer der wichtigsten Regulatoren des Kalziumstoffwechsels (Abb. 15-1). Es erhöht die Konzentration des ionisierten Kalziums in der Extrazellularflüssigkeit. Seine Sekretion wird durch die Serumkonzentration von ionisiertem Kalzium über einen Kalziumrezeptor in der Membran der Nebenschilddrüsenzellen gesteuert. „Setpoint“: ca. 4 mg Kalzium (ionisiert) pro dl = 1 mmol/l). Die Bindung von PTH an seinen Rezeptor der Zielzelle stimuliert deren Adenylatcyclase und leitet dadurch die Reaktion der Zielzelle ein. Hauptzielorgane sind Niere und Knochen; eine indirekte Wirkung übt das Hormon auch auf die Dünndarmmukosa aus. PTH bewirkt direkt und indirekt eine Erhöhung der Serumkonzentration sowohl des Gesamtkalziums als auch des sofort verfügbaren ionisierten Kalziums. Direkte Wirkungen: PTH stimuliert die Kalziumrückresorption im proximalen Nierentubulus aus dem Glomerulusfiltrat über ein kalziumbindendes Protein sowie die Phosphatexkretion. PTH mobilisiert Kalzium, einerseits aus der löslichen Fraktion des Knochens (rasche Wirkung), andererseits über die Knochenresorption via Osteoklasten (prolongierte Wirkung).

Abb. 15-1

Regulation des Kalziumstoffwechsels.

An der Regulation sind das ionisierte Kalzium des Serums und des Extrazellularraums, Parathormon (PTH), Vitamin D3 (1,25[OH2]D) und ParathyroidHormone-related Peptide (PTHrP) beteiligt. (Modifiziert nach S.J. Marx, NEJM 343, 1863–1875, 2000.) Indirekte Wirkungen: PTH stimuliert das geschwindigkeitsbestimmende Enzym der Niere, die 1α-Hydroxylase, die das 25-Hydroxycholecalciferol zu 1,25Dihydroxycholecalciferol hydroxyliert. Dieser aktive Metabolit des Vitamins D3 (Cholecalciferol) stimuliert die Kalziumaufnahme durch die Mukosa des Dünndarms über ein kalziumbindendes Protein und hemmt die Sekretion von PTH. Die Parathormonsekretion wird durch die Serumkonzentration des Kalziums über einen negativen Feedback-Mechanismus gesteuert. Das strukturell dem PTH verwandte Hormon parathyroid hormone-related protein wird durch Zellen verschiedener Organe sezerniert, z.B. durch Chondrozyten, und wirkt lokal: Es reguliert die lokale Organisation von Knorpel sowie Interaktionen zwischen Epithelien und Mesenchym, z.B. in der Mamma und bei der Zahnentwicklung. Dabei spaltet es sich in verschiedene Peptide auf.

15.2

Agenesie und Aplasie

Agenesie und Aplasie der Nebenschilddrüsen sind Entwicklungsstörungen der dritten und vierten Schlundtasche und mit dem Leben nicht vereinbar. Die seltene Hypoplasie führt zum Hypoparathyreoidismus (siehe Kap. 15.4).

15.3

Hyperparathyreoidismus

Definition Der Hyperparathyreoidismus besteht in einer inadäquat gesteigerten Sekretion von PTH durch die Nebenschilddrüsen. Beim primären Hyperparathyreoidismus liegt die auslösende Ursache in der Nebenschilddrüse. Er führt zur Hyperkalzämie. Beim Sekundären Hyperparathyreoidismus besteht eine periphere Resistenz gegenüber der Parathormonwirkung, meist infolge einer Nierenerkrankung. Dies führt über den oben erwähnten Regelkreis zur adäquat gesteigerten Parathormonsekretion, d.h. zur Normokalzämie.

15.3.1

Primärer Hyperparathyreoidismus

Definition Der primäre Hyperparathyreoidismus führt aufgrund einer Erkrankung der Nebenschilddrüsen (siehe unten) über eine inadäquat gesteigerte Parathormonsekretion zur erhöhten Serumkonzentration von Parathormon mit Hyperkalzämie, Hypophosphatämie und Hyperkalziurie.

Epidemiologie Der Hyperparathyreoidismus ist im mittleren Lebensabschnitt am häufigsten. Die Prävalenz beim Erwachsenen beträgt 0,1–0,5%. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Beim jungen Menschen ist der primäre Hyperparathyreoidismus die führende Ursache für die Hyperkalzämie, beim älteren Menschen ist die Hyperkalzämie in erster Linie bedingt durch maligne Tumoren (Plasmozytom, Knochenmetastasen, paraneoplastische Hyperkalzämie durch Sekretion von PTH-related protein) und erst in zweiter Linie durch einen primären Hyperparathyreoidismus. Alle übrigen Ursachen einer Hyperkalzämie sind heute selten. Das solitäre Adenom einer Nebenschilddrüse dominiert als Ursache (ca. 80% der Patienten). Selten bestehen zwei Adenome (2–3%) oder Karzinome (2–3%). Die sog. primäre Hyperplasie tritt bei ca. 15% der Patienten mit primärem Hyperparathyreoidismus auf.

Ätiologie und Pathogenese Die Ätiologie der zugrunde liegenden Erkrankungen ist nicht geklärt. Pathogenetisch wichtig ist die inadäquat erhöhte Parathormonsekretion durch Nebenschilddrüsentumoren (Adenome, sehr selten Karzinome) sowie durch die wesentlich seltenere sog. primäre Hyperplasie der Nebenschilddrüsen.

Nebenschilddrüsenadenome oder die Hyperplasie treten oft auch im Rahmen einer multiplen endokrinen Neoplasie Typ 1 (MEN 1) auf (siehe Kap. 18.1).

Abb. 15-2

Adenom einer Nebenschilddrüse.

a Schnittfläche: Es besteht eine feine Kapsel, die Schnittfläche ist gelb-braun, teilweise eingeblutet. Gewicht des Tumors: 3 g; max. Durchmesser: 2,5 cm. b Kompaktes Tumorparenchym. Restparenchym der Nebenschilddrüse mit Fettgewebe (links unten). HE, Vergr. 100fach.

Morphologie ■ Das Adenom (Abb. 15-2a) der Nebenschilddrüse wiegt im Allgemeinen zwischen 0,5 und 5 g, es sind aber auch Tumoren mit einem Gewicht von über 100 g beschrieben worden. Der Tumor ist von einer Kapsel umgeben, weich, auf Schnitt gelb-braun. Gelegentlich können Adenome in ektopischen Drüsen auftreten. Mikroskopisch (Abb. 15-2b) besteht das Adenom aus Zellplatten und strängen, die durch feine Bindegewebssepten mit reichlichen Kapillaren voneinander getrennt sind. Die Struktur ist solide oder follikulär (adenomatös). Follikuläre Abschnitte können Schilddrüsengewebe sehr ähnlich sehen. Fettgewebe fehlt praktisch vollständig. Meist besteht das Adenom aus Hauptzellen, die gegenüber der Norm oft leicht vergrößert sind und teilweise ein optisch leeres Zytoplasma aufweisen (herausgelöstes Glykogen). Oft sind Areale mit übergangsformen zu Onkozyten sowie Gruppen echter Onkozyten vorhanden. Gelegentlich findet sich herdförmig eine Hyperchromasie und Polymorphie der Kerne. Wasserhelle Zellen sind in Adenomen selten. Rein onkozytäre Tumoren treten ebenfalls selten auf. Mitosen lassen sich im Allgemeinen nicht nachweisen. Bei günstig liegendem Schnitt kann eine kleine Kappe normalen Nebenschilddrüsenparenchyms mit Fettgewebe gesehen werden (Abb. 15-2b). Dies hilft bei der schwierigen Differentialdiagnose gegenüber einer Hyperplasie. Beim Adenom sind die restlichen Drüsen nicht vergrößert. ■ Das Karzinom der Nebenschilddrüsen ist im Allgemeinen nicht größer als ein Adenom, aber oft mit dem umgebenden Gewebe verwachsen. Die diagnostischen Kriterien für das Karzinom sind schwierig zu fassen: trabekulärer Aufbau, breite Bindegewebssepten, Mitosen, Invasion der Kapsel, Einbrüche in Venen, Blutungsreste (Hämosiderin). Metastasen treten, wenn überhaupt, in regionären Lymphknoten auf. Der Verlauf ist im Allgemeinen lang dauernd; oft erfolgt der Tod infolge Komplikation des Hyperparathyreoidismus, d.h. der Hyperkalzämie, und nicht unmittelbar durch das Tumorwachstum oder die Tumorausbreitung. ■ Die primäre Hyperplasie macht ca. 15% aller Nebenschilddrüsenveränderungen beim primären Hyperparathyreoidismus aus; ca. 12% bestehen in einer Hauptzellhyperplasie, ca. 3% in einer Hyperplasie der wasserhellen Zellen. Es sind im Allgemeinen alle Nebenschilddrüsen betroffen, allerdings oft in unterschiedlich starkem Ausmaß. Bei der Hauptzellhyperplasie (Gesamtgewicht der vier Nebenschilddrüsen im Allgemeinen um 1 g) sind die Drüsen weich, gelbbraun, manchmal enthalten sie kleine Pseudozysten. Mikroskopisch fehlt Fettgewebe aufgrund der Verdrängung durch das Parenchym weitgehend. Das Parenchym besteht aus breiten Platten, gebildet aus Hauptzellen; oft kommen jedoch übergangszellen und große Gruppen von Onkozyten vor. Die Hyperplasie kann knotig sein. Eine rein mikroskopische Unterscheidung einer Hyperplasie von einem Adenom ist dann schwierig. Oft müssen alle Nebenschilddrüsen bioptisch untersucht werden.

Bei der sog. wasserhellen Hyperplasie liegt das Gesamtgewicht der Drüsen oft zwischen 5 und 10 g. Die Histologie unterscheidet sich von derjenigen der Hauptzellhyperplasie durch die großen Zellen (Durchmesser bis 40 μm) mit optisch leerem Zytoplasma. Die Zellkerne sind charakteristischerweise entlang der Bindegewebe-Gefäß-Achse lokalisiert. Im Elektronenmikroskop zeigt sich, dass das Zytoplasma der Zellen kleine Vakuolen enthält. Knochenläsionen Aufgrund der Kalziummobilisation aus dem Knochen über längere Zeit entstand früher häufig eine Fibroosteoklasie (80–90% der Betroffenen). Das heute seltene makroskopische Vollbild der Krankheit ist die Osteodystrophia (Osteitis) fibrosa cystica generalisata, die durch von Recklinghausen 1891 erstmals beschrieben wurde. Hierbei ist das Knochengewebe durch ein osteoklasten- und faserreiches Granulationsgewebe ersetzt. Rezidivierende Einblutungen führen zu Hämosiderinablagerungen (sog. „brauner Tumor“). Charakteristisches histologisches Substrat ist die dissezierende Fibroosteoklasie. Es handelt sich dabei um Resorptionszonen mit vermehrten Osteoklasten und einer Tunnelierung der Knochenbälkchen (Abb. 15-3). Dazu kommt eine Fibrose im Bereich des Endosts (Endostfibrose), die auf die Markräume übergreifen kann.

Molekularpathologie In den Adenomen können oft nachgewiesen werden: ■

Verlust eines Allels von Chromosom 1p



Rearrangierung und überexpression von PRAD1



allelische Deletionen von 13q12–14



Verlust von 9p



Deletion von 11q 23



gelegentlich überexpression von Cyclin D1.

Im Rahmen der MEN 1 findet sich oft ein Verlust von 11q13 (siehe Kap. 18.1).

Klinisch-pathologische Korrelationen Abb. 15-3 Fibroosteoklasie (Osteitis fibrosa cystica).

In der Bildmitte ein Knochenbälkchen. Es wird aufgesplittert und abgebaut durch zellreiches Stroma (Bildmitte) mit Osteoklasten (Pfeile, „Fibroosteoklasie“). Links unten und rechts intaktes Knochenmark. HE, Vergr. 200fach. Früher blieb die Krankheit meist unerkannt bis zum Erscheinen von Symptomen seitens des Knochens (Spontanfrakturen) und von Nierensteinen. Seit Einführung der automatisierten Labormultianalyse wird eine Hyperkalzämie wesentlich häufiger und früher erfasst. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass einer Hyperkalzämie auch andere Ursachen als ein Hyperparathyreoidismus zugrunde liegen können (siehe Epidemiologie). Früher hatten bis zu 70% der Betroffenen Nierensteine, heute sind es weniger als 25%. Die Fibroosteoklasie (Abb. 15-3) mit dem Bild der sog. Osteitis fibrosa cystica ist heute selten (10–15% der Patienten mit primärem Hyperparathyreoidismus). Auch das sog. Osteoklastom („brauner Tumor“) wird heute praktisch nicht mehr gesehen. Die Frühsymptome sind Muskelschwäche sowie rasche Ermüdbarkeit. Neuropsychiatrische Störungen sind häufig und können das klinische Bild dominieren: Depression, ängstlichkeit, Psychosen. Oft tritt eine arterielle Hypertonie auf (ca. 50%). Gehäuft sind auch die akute Pankreatitis und peptische Ulzera. Die Ursachen sind nicht klar. Die peptischen Ulzera werden auf die Kalzium- oder PTHinduzierte gesteigerte Salzsäuresekretion durch die Belegzellen der Magenkorpusschleimhaut zurückgeführt („Stein-, Bein-, Magenpein“). Gefürchtet ist die lebensbedrohliche hyperkalzämische Krise, die zu metastatischen Verkalkungen führen kann. Es bestehen eine schwere Hyperkalzämie

und, meist als Folge einer Niereninsuffizienz, eine Hyperphosphatämie sowie eine Exsikkose. Es kann eine metastatische Verkalkung in Lunge, Niere oder Magenschleimhaut auftreten. Kalziumpyrophosphat-Ablagerungen führen zu Arthropathien (sog. Chondrokalzinose) bei 15–20% der Betroffenen (siehe Kap. 44.2.5).

Therapie Die Therapie des primären Hyperparathyreoidismus besteht in der Exzision der adenomatösen oder hyperplastischen Drüse(n). Bei der Hyperplasie kann entweder eine subtotale Parathyreoidektomie oder eine totale Parathyreoidektomie mit autologer Transplantation einer Nebenschilddrüse (subkutan oder in die Skelettmuskulatur) durchgeführt werden (Abb. 15-4a, b).

15.3.2

Sekundärer Hyperparathyreoidismus

Definition Beim sekundären Hyperparathyreoidismus ist die Störung im Kalziumstoffwechsel auf extraglanduläre Ursachen zurückzuführen (Nierenkrankheit, D3-Hypovitaminose, intestinale Malabsorption). Es besteht zunächst eine Hypokalzämie, die durch kompensatorisch (adäquat) erhöhte PTH-Sekretion ausreguliert wird. Diese Regulation führt zur Hyperplasie der Nebenschilddrüsen.

Ätiologie und Pathogenese

Meist liegt die auslösende Krankheit in der Niere, d.h. im wichtigsten Zielorgan von PTH. Andere Ursachen können eine D3-Hypovitaminose oder eine intestinale Malabsorption sein. Eine chronische Glomerulonephritis oder interstitielle Nephritis führt im Stadium des beginnenden Nierenversagens zu einer Phosphatretention durch die Niere. Die Hyperphosphatämie sowie der Nierenschaden bewirken eine herabgesetzte 1-α-Hydroxylierung des 25-Hydroxycholecalciferols. Die Kalziumresorption durch den Dünndarm sinkt. Darüber hinaus kann infolge der Niereninsuffizienz ein Kalziumverlust entstehen. Dadurch wird die Hypokalzämie noch verstärkt. Wegen der Nierenkrankheit ist die PTH-Wirkung auf die Niere eingeschränkt (Zielorganresistenz). Durch eine kompensatorisch gesteigerte PTHProduktion wird mittels Kalziummobilisation aus dem Knochen die Normokalzämie sichergestellt.

Abb. 15-4 Autologe Transplantation des Teilstückes einer Nebenschilddrüse in Skelettmuskulatur. Zustand 5 Monate nach Transplantation.

a Das Nebenschilddrüsengewebe ist knotig und mit der Muskulatur (rot) verwachsen. b Das Nebenschilddrüsengewebe ist vital, eng mit der Muskulatur verzahnt und gut vaskularisiert. HE, Vergr. 200fach.

Morphologie Es besteht eine Hauptzellhyperplasie aller Nebenschilddrüsen, allerdings meist in unterschiedlichem Ausmaß. Oft sind auch Gruppen von Onkozyten eingestreut. Fettgewebe fehlt weitgehend.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Klinik ist durch die Grundkrankheit dominiert. Im Knochen kann infolge der Kalziummobilisation eine Fibroosteoklasie (= renale Osteopathie) entstehen.

Folgen/Komplikationen Die Nebenschilddrüsenhyperplasie kann sich nach Behebung der Ursache zurückbilden, z.B. nach Nierentransplantation. Bei langem Bestehen kann die Hyperplasie knotig und teilweise autonom werden, d.h., es kann symptomatisch ein „primärer“ Hyperparathyreoidismus mit Hyperkalzämie entstehen. Diese Form des Hyperparathyreoidismus wird dann oft tertiärer Hyperparathyreoidismus genannt, weil er auf dem Boden eines sekundären entsteht.

15.4

Hypoparathyreoidismus

Definition und Epidemiologie Inadäquat niedrige Sekretion von Parathormon oder Sekretion eines Parathormons mit herabgesetzter biologischer Wirkung führt zum Hypoparathyreoidismus. Das Syndrom ist selten.

Ätiologie und Pathogenese Ein Ausfall der Nebenschilddrüsen kann nach Thyreoidektomie (mit gleichzeitiger Entfernung der Nebenschilddrüsen; Abb. 15-5), chirurgischen Eingriffen wegen eines Hyperparathyreoidismus oder nach radikaler Neck-Dissektion auftreten. Im Rahmen der Unterfunktion mehrerer endokriner Drüsen (siehe Kap. 18.3) kann eine immunologisch bedingte Zerstörung der Nebenschilddrüsen auftreten. Im Rahmen der T-Zell-Defizienz bei Thymushypoplasie (DiGeorge-Syndrom; siehe Kap. 47.2.2) tritt ebenfalls eine Nebenschilddrüsenhypoplasie auf, die zum Hypoparathyreoidismus führt.

Molekularpathologie Die Veränderung des Parathormons, die zum Verlust seiner Wirkung führt, ist durch eine Punktmutation auf 11p15.3–15.1 bedingt (autosomal-dominanter Erbgang). Die polyglanduläre endokrine Insuffizienz wird durch eine Punktmutation auf 21q22.3

ausgelöst (autosomal-rezessiv), das DiGeorge-Syndrom ist durch eine Deletion auf 22q11 bedingt (autosomal-dominant).

Abb. 15-5 Verkalkung von Arterienwänden im Kleinhirn, 32 Jahre nach Thyreoidektomie.

Konsekutiver Hypoparathyreoidismus wegen Mitentfernung der Nebenschilddrüsen. Röntgenaufnahme einer Kleinhirnscheibe.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Der Hypoparathyreoidismus ist durch erniedrigte Serumkonzentration von Parathormon, Hypokalzämie und Hyperphosphatämie gekennzeichnet. Bei der Nebenschilddrüsenzerstörung durch immunologische Mechanismen bzw. bei der Hypoplasie im Rahmen der T-Zell-Defizienz treten häufig eine mukokutane Candidiasis, eine Alopecia areata sowie Vitiligo auf. Die Allgemeinsymptome des Hypoparathyreoidismus sind häufig kaum erkennbar, in extremen Situationen treten auf: ■

Irritabilität, Depression und Psychosen,

■ erhöhter Liquordruck, Papillenödem (Differentialdiagnose: intrakranialer Tumor), ■

intrakraniale Verkalkungen, vor allem von Arterienwänden (Abb. 15-5),



Katarakt mit Verkalkung der Kornea,

■ Zeichen verlangsamter Konduktivität der Myokardinnervation: Verlängerung des QT-Intervalls und Verbreiterung der T-Zacke im EKG,



Schmelzdefekte, Zahnhypoplasie, verzögerte Zahneruption.

Pseudo-Hypoparathyreoidismus Er kommt sehr selten vor und ist hereditär. Das klinische Bild entspricht einem Hypoparathyreoidismus bei adäquater oder erhöhter Parathormonsekretion (intakte Nebenschilddrüsen) aufgrund einer Zielorganresistenz. Es besteht ein Defekt in der Interaktion des (biologisch aktiven) Parathormons mit dessen Rezeptor sowie in der Transduktion des Signals. Paternales Imprinting des GNAS-1-Gens; Punktmutation auf 20q13.2–13.3 (autosomal-dominanter Erbgang). Daraus resultiert eine Inaktivierung der mRNA für Gs-α (Guanin-Nukleotid-bindendes Protein). Klinisches Bild ist die hereditäre Osteodystrophie (Albright) mit Kleinwuchs, rundem Gesicht, kurzem Nacken sowie abnorm verkürzten Metakarpal- und Metatarsalknochen (insbesondere des fünften Strahls).

15.5 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Erkrankungen der Nebenschilddrüsen Die Form der Nebenschilddrüsenerkrankung beim Hyperparathyreoidismus kann nur durch die morphologische Untersuchung definiert werden. Dies gilt oft auch für die Fibroosteoklasie des Knochens sowie für die dem sekundären Hypoparathyreoidismus zugrunde liegende Nierenerkrankung.

Literatur Siehe Literaturverzeichnis in Kap. 18.

FRAGEN 1 Nennen Sie das Normgesamtgewicht von vier Nebenschilddrüsen. 2 Welches sind direkte, welches indirekte Wirkungen des Parathormons? 3 Was ist der wichtigste Effekt des Parathormons auf den Kalziumstoffwechsel? 4 Nennen Sie die wichtigsten Unterschiede zwischen primärem und sekundärem Hyperparathyreoidismus. 5 Nennen Sie die häufigsten Ursachen einer Hyperkalzämie. 6 Nennen Sie die Symptome des Hyperparathyreoidismus. 7 Worin besteht die Therapie des primären Hyperparathyreoidismus?

8 Welches sind die häufigsten Ursachen des sekundären Hyperparathyreoidismus? Erklären Sie die Pathophysiologie. 9 Welches sind die Indikationen zur morphologischen Untersuchung der in diesem Kapitel beschriebenen Krankheiten? Welche Untersuchungen sind indiziert? Welchen Beitrag können diese Untersuchungen zur präzisen Diagnostik und zur Planung der Therapie leisten?

16 Nebennieren PH. U. Heitz P. Komminoth G. Klöppel 16.1

Nebennierenrinde 411

16.1.1

Normale Struktur und Funktion 411

16.1.2

Fehlbildungen 412

Agenesie, Aplasie und Hyperplasie 412 Ektopie 413 16.1.3

Stoffwechselstörungen 413

16.1.4

Kreislaufstörungen 413

16.1.5

Entzündungen 413

16.1.6

Zysten und Pseudozysten 413

16.1.7

Atrophie 414

16.1.8

Hyperplasie 414

16.1.9

Tumoren 415

Adenom 415 Karzinom 415 Mesenchymale Tumoren 416 Metastasen 416 16.1.10

Überfunktionssyndrome 416

Hyperkortisolismus 416 Hyperaldosteronismus 417 Adrenale Virilisierung und Feminisierung 418 Adrenogenitales Syndrom 419

16.1.11

Unterfunktionssyndrome 419

Akute Nebennierenrindeninsuffizienz 419 Primäre chronische Nebennieren-rindeninsuffizienz 420 Sekundäre chronische Nebennieren-rindeninsuffizienz 421 16.2

Nebennierenmark und Paraganglien 421

16.2.1

Normale Struktur und Funktion 421

16.2.2

Tumoren des Nebennierenmarks 421

Phäochromozytom 421 Neuroblastom, Ganglioneuroblastom, Ganglioneurom 422 Paragangliome 423 16.3 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Erkrankungen der Nebennieren 423 Literatur 423 Fragen 424

Zur Orientierung Das Normalgewicht beider Nebennieren zusammen beträgt bis zu 11 g (siehe Abb. 16-3). Sie bestehen aus zwei Anteilen – Rinde und Mark. Diese Komponenten unterscheiden sich hinsichtlich Ontogenese, Struktur und Pathologie. Die zwei Anteile sind funktionell teilweise voneinander abhängig. Die Nebennieren sind durch die Sekretion von Steroidhormonen und Katecholaminen an der Regulation vieler Stoffwechselprozesse beteiligt. Dementsprechend komplex sind die Stoffwechselstörungen bei Nebennierenerkrankungen. Neben Überfunktionssyndromen kommen lebensgefährliche Unterfunktionssyndrome vor.

16.1 16.1.1

Nebennierenrinde Normale Struktur und Funktion

Die Nebennierenrinde entwickelt sich aus dem mesodermalen Zölomepithel nahe der Urogenitalfalte. Bei Geburt beträgt das Gewicht einer Nebenniere 4–5 g, d.h., es entspricht ungefähr einem Drittel des Gewichts der Niere.

Vor der Geburt besteht die Nebennierenrinde aus einer breiten fetalen Zone. Nach der Geburt bilden sich innerhalb weniger Monate drei Zonen aus: ■

Zona glomerulosa (subkapsulär),



Zona fasciculata und



Zona reticularis (an der Grenze zum Nebennierenmark).

Makroskopisch ist die Schnittfläche gelbbraun: Die gelbe Farbe rührt von Lipiden – Cholesterin, Triglyzeride, Phospholipide – her, die als Vorläufer der Steroidhormone in den Nebennierenrindenzellen liegen. Für die braune Farbe sind sog. Lipochrome verantwortlich. Die Zona glomerulosa liegt subkapsulär und macht 10–15% des Gewebevolumens der Nebennierenrinde aus. Sie ist beim Menschen oft nur herdförmig ausgebildet und daher schwierig zu sehen. Sie besteht aus kleinen Zellgruppen in alveolärer Anordnung. Im Zytoplasma der Zellen finden sich wenige Lipidtröpfchen. Die Zona fasciculata macht ca. 80% des Gewebevolumens der Nebennierenrinde aus und besteht aus Zellsträngen, meist mit reichlichen kleinen zytoplasmatischen Lipidtröpfchen. Die Zona reticularis macht 5–10% des Gewebevolu-mens der Nebennierenrinde aus. Sie ist durch unregelmäßig angeordnete Zellgruppen mit eosinophilem Zytoplasma und wenigen Lipidtröpfchen gekennzeichnet. In diesen Zellen finden sich Lipochrome. Die Zona glomerulosa synthetisiert und sezerniert vor allem Mineralokortikoide. Aldosteron ist beim Menschen der wichtigste Vertreter. Die Regulation der Aldosteronsekretion erfolgt über das Renin-Angiotensin-I-Angiotensin-II-System (Abb. 16-1). Dieses Regulationssystem ist von der ACTH-Stimulation weitgehend unabhängig (siehe unten). Aldosteron ist wichtig für die Regulation des Volumens der Extrazellularflüssigkeit. Das Hormon bewirkt Retention von Natrium, Exkretion von Kalium (durch Stimulation des Natrium-Kalium-Austausches im distalen Nierentubulus) und damit Erhöhung des Blutdrucks und Expansion der Extrazellularflüssigkeit durch Wasserretention. Die Zonae fasciculata und reticularis produzieren vor allem Glukokortikoide und Androgene. Die Regulation erfolgt von Hypothalamus bzw. Hypophyse über die Hormone CRH (Kortikotropin-releasing-Hormon) und ACTH (Kortikotropin). ACTH (39 Aminosäuren) ist Bestandteil des größeren Moleküls POMC (Proopiomelanocortin), aus dem die Hormone β-Lipotropin, β-Endorphin und β-Melanotropin sowie ACTH enzymatisch abgespalten werden. Kortisol, der wichtigste Vertreter der Glukokortikoide, hemmt die Proteinsynthese, senkt den Appetit, bewirkt einen Anstieg der freien Fettsäuren im Blut durch

Stimulation der Lipolyse und stimuliert die Glukoneogenese in der Leber durch Mobilisation von Glykogen und Aminosäuren aus Knochen, Muskeln und Bindegewebe. Es hemmt die Glukoseaufnahme in die Muskelzelle, die antibakteriellen Wirkungen von Phagozyten und Immunsystem sowie die endotheliale Adhäsion und Diapedese von neutrophilen Granulozyten; außerdem stimuliert es den Abbau von lymphatischen Geweben, vor allem von T-Zellen. Insgesamt hemmt Kortisol also entzündliche und immunologische Reaktionen und wirkt damit antientzündlich und antiallergisch. Die Androgene bewirken eine Verstärkung der sekundären männlichen Geschlechtsmerkmale. Der weitaus größte Teil der Androgene, vor allem Testosteron als wirksamstes Androgen, wird aber in den Leydig-Zellen des Hodens bzw. in den interstitiellen Thekazellen und Hiluszellen des Ovarialstromas gebildet. Die Synthesewege der adrenalen Steroide sind in Abb. 16-2 dargestellt.

16.1.2

Fehlbildungen

Agenesie, Aplasie und Hyperplasie Agenesie und Aplasie der Nebennierenrinde sind sehr selten. Eine Hypoplasie tritt bei Anenzephalie auf. Dabei fehlt die fetale Zone.

Abb. 16-1 Renin-Angiotensin-Aldosteron-System (stark vereinfacht).

Angelpunkte des Systems sind die Reninsekretion und der Effekt des Aldosterons auf den distalen Nierentubulus (siehe auch Text). Bei der zytomegalen Hyperplasie („Zytomegalie“, Adrenoleukodystrophie) besteht die Rinde aus sehr großen, eosinophilen Zellen (zytomegale Zellen). Der Erbgang ist noch nicht bekannt. Die Erkrankung steht trotz des ähnlichen Namens nicht mit einem Zytomegalievirusinfekt in Zusammenhang.

Abb. 16-2

Biosynthese der adrenalen Steroide.

◯ = Lokalisation der häufigsten Enzymdefekte. Die mit „P-450“ beginnenden Bezeichnungen sind die modernen Termini, die gängigeren Bezeichnungen (z.B. 17-Hydroxylase) sind zum Verständnis ebenfalls aufgeführt. Der Syntheseweg Progesteron–Aldosteron wird vor allem durch Angiotensin II und die Kaliumionenkonzentration im Serum gesteuert (vgl. Abb. 16-1). Die Synthese von Kortisol unterliegt überwiegend der Steuerung durch ACTH (Feedback-System; vgl. Abb. 16-3).

Ektopie Ektopische Nebennierenrindenanteile können retroperitoneal vom Zwerchfell bis zum Becken auftreten, u.a. unter der Nierenkapsel, im Hoden, im Samenstrang oder im Ovar. Meist ist nur Kortex vorhanden. Bei Stimulation durch ACTH tritt gelegentlich eine Hyperplasie auf. Tumoren des ektopischen Nebennierenrindengewebes sind selten.

16.1.3

Stoffwechselstörungen

Hämochromatose siehe Kap. 32.10.1, Amyloidose siehe Kap. 46.3.4.

16.1.4

Kreislaufstörungen

Blutungen bzw. hämorrhagische oder (seltener) anämische Infarkte können einerseits sehr klein sein, andererseits die Nebennierenrinde vollständig zerstören. Kreislaufstörungen treten am häufigsten bei Kindern auf (siehe Kap. 16.1.11). Ursachen sind beim Neugeborenen ein Geburtstrauma, beim Kind eine Sepsis (siehe Kap. 16.1.11), beim Erwachsenen eine Therapie mit Antikoagulanzien, ein Kreislaufschock oder eine operative Traumatisierung.

16.1.5

Entzündungen

Zwei Entzündungen der Nebennierenrinde sind wichtig: ■

Autoimmun-Adrenalitis (siehe Kap. 16.1.11)



Tuberkulose (siehe Kap. 48.2.7).

16.1.6

Zysten und Pseudozysten

Meist handelt es sich um lymphangiektatische Zysten, die durch Endothel ausgekleidet sind. Pseudozysten treten nach Blutungen bzw. hämorrhagischer Infarzierung auf. Sie sind definitionsgemäß nicht durch Epithel oder Endothel ausgekleidet.

Abb. 16-3

Nebennieren normaler Größe.

Die lipoidreiche Zona fasciculata (subkapsulär) hebt sich von der deutlich gefärbten Zona reticularis ab. Das Nebennierenmark ist schwach angefärbt und enthält größere Gefäße (Zentralvene, oben). Gesamtgewicht beider Nebennieren: 10 g. HE, Vergr. 1fach.

16.1.7

Atrophie

Eine Nebennierenrindenatrophie kann durch Ausfall der Stimulation durch ACTH (Hypopituitarismus), durch lang dauernde exogene Steroidzufuhr (Inhibition der ACTHSekretion) oder bei einer Autoimmun-Adrenalitis auftreten. Die Kapsel ist meist verdickt. Die Zonae fasciculata und reticularis sind verschmälert und desorganisiert, Zellstränge sind kaum noch erkennbar, Lipide fehlen im Zytoplasma der Zellen weitgehend. Bei der Autoimmun-Adrenalitis bestehen zusätzlich lymphozytäre Infiltrate (siehe Kap. 16.1.11).

16.1.8

Hyperplasie

Definition Von einer Hyperplasie spricht man bei einem Gesamtgewicht beider Nebennieren von über 12 g (Abb. 16-3 und Abb.16-5).

Ätiologie Die Nebennierenrindenhyperplasie beruht meist auf einer inadäquat gesteigerten Stimulation der Nebennierenrinde durch ACTH oder eine Substanz mit ACTHähnlicher biologischer Wirkung (Abb.16-4). Die ACTH-Stimulation kann bedingt sein durch ■ hypothalamisch-hypophysäre Regulationsstörung, z.B. chronische Stresssituation ■

hypophysäre Überproduktion von ACTH (Hypophysenadenom)

■ ektopische Sekretion von ACTH bzw. einer Substanz mit gleicher oder ähnlicher biologischer Aktivität durch einen Tumor. Dabei handelt es sich meist um ein kleinzelliges Bronchuskarzinom, ein Thymom oder einen neuroendokrinen Tumor der Schilddrüse (medulläres Karzinom), des Pankreas oder des Magen-DarmTrakts, ■ ektopische Sekretion von CRH (Kortikotropin-releasing-Hormon) oder einer Substanz mit biologisch ähnlicher Aktivität durch einen Tumor (selten)

■ herabgesetzte Feedback-Inhibition durch Kortisol wegen verminderter Produktion durch die Nebennierenrinde infolge Enzymdefekts. ■ Selten besteht eine Stimulation der Zona glomerulosa, deren Pathogenese derzeit nicht bekannt ist.

Abb. 16-4 Hyperkortisolismus durch ektopische Produktion von ACTH (a) oder CRH (b).

Ektopisch sezerniertes ACTH (a), CRH (b) oder exogen zugeführtes Kortisol (c) interferieren mit dem physiologischen Regelkreis. Hy = Hypothalamus; H = Hypophyse; NNR = Nebennierenrinde; Z = Zielorgane. Vgl. Abb. 13-C.

Morphologie

Die Rinde ist auf über 1 mm verbreitert. Sie besteht aus deutlichen gelb-braunen Zonen. Die Hyperplasie kann diffus auftreten, ist aber oft mikronodulär oder kombiniert diffus-nodulär (Abb. 16-5a). Der Durchmesser der Knoten beträgt meist weniger als 1 cm. Mikroskopisch sind vor allem die Zonae fasciculata und reticularis betroffen, deren Struktur insgesamt aber erhalten ist. In den Knoten ist die Anordnung der Zellen unregelmäßig, deren Zytoplasma meist lipidreich (Abb. 16-5b). Bei der Hyperplasie der Zona glomerulosa ist die Verbreiterung nur mikroskopisch nachweisbar. Diese Zone ist dann im Gegensatz zur normalen Nebennierenrinde deutlich zu sehen, und es können darin kleine Knoten auftreten.

Abb. 16-5

Nebennierenrindenhyperplasie.

a Die Nebenniere ist vergrößert (Gewicht 8 g), an der Oberfläche sind kleine Knötchen (Mikronoduli; Pfeile) erkennbar.

b Die Nebennierenrinde ist verbreitert und enthält Mikronoduli (Pfeile). Im Zentrum Nebennierenmark und Zentralvene. Die Grenze zwischen Rinde und Mark ist gestrichelt markiert. HE, Vergr. 2fach.

16.1.9

Tumoren

In der Nebennierenrinde treten folgende Tumoren auf: ■

Adenom



Karzinom



mesenchymale Tumoren (selten).

Adenom Das Nebennierenrindenadenom ist ein gutartiger, meist solitärer, durch eine zarte Bindegewebskapsel begrenzter Tumor, bestehend aus Zellen, die phänotypisch den Zellen der normalen Nebennierenrinde ähnlich sind. Er kann Hormone produzieren und entsprechende Überfunktionssyndrome verursachen (siehe Kap. 16.1.10) oder inaktiv sein. Die Tumoren sind häufig und treten vor allem im mittleren Lebensalter auf. Ätiologie und Pathogenese sind derzeit nicht bekannt.

Morphologie

Makroskopisch variiert die Größe der Tumoren stark. Das Gewicht liegt zwischen wenigen Gramm (vor allem hormonaktive Tumoren) und mehreren 100 Gramm. Die Schnittfläche ist je nach Lipid- bzw. Lipochromgehalt goldgelb bis gelbbraun. Es besteht oft eine deutlich sichtbare Kapsel. Mikroskopisch ist der Aufbau dem der Nebennierenrinde ähnlich, wenn auch weniger geordnet. Die Zellen können sehr unterschiedlich groß sein und „polymorph“ erscheinen. Je nach dem dominierenden Zelltyp unterscheidet man klar-, kompakt-, glomerulosa- oder gemischtzellige Adenome (siehe Abb. 16-8a, b). Gefäßeinbrüche dürfen definitionsgemäß nicht vorhanden sein (siehe Karzinom).

Molekularpathologie Es finden sich Abnormitäten in p53, p57 und im Insulin-Growth-Factor-II-Gen. Diese Tumoren sind oft nicht monoklonal.

Karzinom Das Nebennierenrindenkarzinom ist ein maligner epithelialer Tumor, bestehend aus Zellen, deren Phänotyp demjenigen von Nebennierenrindenzellen ähnlich ist. Nebennierenrindenkarzinome sind selten, beim Kind aber häufiger als Adenome.

Morphologie Nebennierenrindenkarzinome sind häufig groß (Gewicht bis mehrere Kilogramm). Als Regel gilt: Je höher das Gewicht eines Nebennierenrindentumors, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Malignität. Ein Gewicht von über 100 g ist verdächtig; Tumoren mit einem Gewicht von über 400 g sind häufig Karzinome. Die Invasion des umgebenden Parenchyms oder Kapseldurchbrüche können gelegentlich bereits makroskopisch gesehen werden. Die Schnittfläche ist gelb-braun und zeigt oft ausgedehnte Nekrosen und/oder Blutungen. Mikroskopisch können in einem Tumor alle Differenzierungsgrade – hochdifferenziert bis sehr niedrig differenziert – vorkommen. Hochdifferenzierte Abschnitte erinnern an Nebennierenrindengewebe, wobei die Zellen groß, das Zytoplasma lipidarm und die Kerne chromatinreich sind. Niedrigdifferenzierte Abschnitte sind zellreich, solide, und ihr Zellbild ist hochgradig polymorph. Nekrosen sind häufig. Die Zahl der Mitosen liegt höher als 6 pro 50 Felder bei hoher Vergrößerung. Die besten Kriterien für die Diagnose der Malignität sind das Vorliegen atypischer Mitosen sowie der Nachweis von Einbrüchen in Kapillaren und/oder Kapselvenen (Abb. 16-6a, b).

Molekularpathologie Alle bekannten genetischen Schäden sind beim Karzinom häufiger als beim Adenom. Zusätzlich zu den beim Adenom aufgeführten genetischen Befunden finden sich beim Karzinom LOH von 11q13, 1p, 3p, 17, 2p16, 9p (p16). Monoklonalität ist charakteristisch für das Karzinom.

Abb. 16-6

Nebennierenrindenkarzinome.

a Karzinom mit Hyperkortisolismus. Tumor mit gelbem Parenchym, multiplen Blutungen und Durchbruch in das benachbarte Fettgewebe (Pfeile). Durchbrochene „Tumorkapsel“ (Nebenenierenrinde) gestrichelt. b–d Karzinom bei einem 5½ Jahre alten Kind. b Oben groß- und polymorphzelliger Bau, unten rechts kleinzelliges Tumorgewebe mit atypischen Mitosen (Pfeile). HE, Vergr. 200fach c Einbruch des Karzinoms in eine große Kapselvene. HE, Vergr. 200fach. d Nachweis von mutiertem p53-Protein in vielen, teils deutlich vergrößerten und polymorphen Tumorzellkernen mithilfe der Immunzytochemie (braunes Reaktionsprodukt). Vergr. 200fach.

Mesenchymale Tumoren Diese Tumoren sind sehr selten und bleiben klinisch meist stumm. Es kommen vor: Fibrome, Lipome, Neurinome, Hämangio(endothelio)me, Myelolipome.

Metastasen Nebennierenmetastasen sind häufig, können klein und multipel, aber auch groß sein. Am häufigsten finden sich Metastasen des kleinzelligen Bronchuskarzinoms und des Mammakarzinoms.

16.1.10

Überfunktionssyndrome

Entsprechend der Hormonproduktion der normalen Nebennierenrinde können prinzipiell drei durch inadäquate Hormonproduktion verursachte Syndrome auftreten: ■

Hyperkortisolismus



Hyperaldosteronismus



Virilisierung/Feminisierung.

Zusätzlich können Mischsyndrome, vor allem bei malignen Tumoren, auftreten; adrenogenitales Syndrom (siehe unten).

Hyperkortisolismus Syn.: Cushing-Syndrom

Definition Die Krankheit ist durch eine lang dauernde, inadäquat erhöhte Sekretion von Kortisol bedingt.

Epidemiologie Die Erkrankung ist bei der Frau dreimal häufiger als beim Mann (mit Ausnahme der paraneoplastischen und iatrogenen Form) und tritt meist langsam progredient im mittleren Lebensalter auf.

Ätiologie und Pathogenese

Die Ätiologie der Erkrankung ist nicht bekannt. Es können mindestens vier pathogenetische Mechanismen unterschieden werden (siehe Abb. 13-C und 16-4): ■ hypothalamisch-hypophysär: 60–70% (Morbus Cushing i.e.S.) ■ adrenal: 20–25% ■ paraneoplastisch (ektopisch): 10–15% ■ iatrogen.

Morphologie Die hypothalamisch-hypophysäre Form wird meist durch ein ACTHproduzierendes Mikroadenom der Hypophyse verursacht. In beiden Nebennieren

besteht eine Hyperplasie vor allem der Zonae fasciculata und reticularis. Diese Hyperplasie kann diffus, mikronodulär oder gemischt sein. Die adrenale Form ist meist durch einen Tumor mit Kortisolproduktion bedingt. Paraneoplastisch sind oft kleinzellige Bronchuskarzinome (ca. 60%), Thymome (ca. 15%) oder endokrine Pankreastumoren (ca. 10%) die Ursache. Diese Tumoren synthetisieren und sezernieren ACTH oder eine Substanz mit ACTH-ähnlicher biologischer Wirkung. Eine CRH-Produktion ist selten. Sie kann bei neuroendokrinen Tumoren des Pankreas oder des Magen-Darm-Trakts auftreten. In beiden Situationen besteht eine doppelseitige Nebennierenrindenhyperplasie (siehe Abb. 16-4 und 16-5). Bei der iatrogenen Form kann durch lang dauernde Therapie mit Glukokortikoiden ein dem Cushing-Syndrom sehr ähnliches Bild entstehen. Diese Therapie wird bei Autoimmunkrankheiten oder Immunsuppression nach Organtransplantation häufig eingesetzt. Es entsteht dabei eine Atrophie der Nebennierenrinde infolge der Feedback-Hemmung von Hypothalamus und Hypophyse durch exogen verabreichtes Kortisol. Es muss dabei bedacht werden, dass bei Absetzen der Therapie langsam ausgeschlichen werden muss, um die Glukokortikoidsekretion der Nebennierenrinde via ACTH-Stimulation wieder in Gang zu bringen.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Beim Nebennierenrindenadenom erscheinen die Symptome der Krankheit meistlangsam. Beim Karzinom (siehe Abb. 16-6) tritt hingegen meist rasch eine stark ausgeprägte klinische Symptomatik auf. Der lang dauernde Kortisoleffekt führt zur gestörten Glukosetoleranz und kann einen Diabetes mellitus verursachen (ca. 20%). Darüber hinaus entstehen „Mondgesicht“ und „Büffelnacken“, Striae (Dehnungsnarben) auf dem Abdomen (Fettgewebshyperplasie; Abb. 16-7a, b), Osteoporose, Menstruationsstörungen, erniedrigte Libido und Impotenz. Bei der hypothalamischen Form sind sowohl ACTH als auch Kortisol im Serum erhöht; die ACTH-Sekretion kann durch exogene Glukokortikoidzufuhr (z. B. Dexamethason) gesenkt werden. Bei der adrenalen Form ist Serum-ACTH erniedrigt, Serumkortisol hingegen erhöht. Bei der paraneoplastischen Form sind (ektopisches) ACTH und Kortisol erhöht. Diese ektopische, meist durch einen malignen Tumor bedingte ACTH-Sekretion lässt sich durch Dexamethason kaum hemmen. Bei der paraneoplastischen Form tritt eine rasche Entwicklung des Syndroms auf mit Schwäche, Muskelatrophie und Hypokaliämie.

Abb. 16-7 Junge Patientin mit Hyperkortisolismus (Morbus Cushing).

a Die Patientin litt an der voll ausgebildeten Symptomatik, verursacht durch eine hypothalamisch-hypophysäre Dysregulation der CRH-ACTH-KortisolSekretion. Sie zeigt ein ausgeprägtes „Vollmondgesicht“ mit Hautrötung. b Striae abdominales bei derselben Patientin. Die Fettgewebshyperplasie führte zu Hautnarben (Foto: G. Spinas, Zürich).

Folgen/Komplikationen Tumoren in der Hypophyse oder Nebennierenrinde können operativ entfernt werden, dies gilt auch für Tumoren mit ektoper Hormonproduktion. Nach bilateraler Adrenalektomie, die heute nur noch ausnahmsweise durchgeführt wird, besteht keine Feedback-Inhibition des Hypothalamus und der Hypophyse durch Kortisol mehr. Dadurch wird die hypothalamisch-hypophysäre Achse stimuliert, und es entsteht eine ACTH-Zell-Hyperplasie in der Hypophyse. Später können sich daraus Adenome entwickeln. Infolge der weitgehend unkontrollierten Sekretion von POMC-Produkten, vor allem Melanotropin (siehe Kap. 16.1.1), entsteht eine Hautpigmentierung.

Hyperaldosteronismus Primärer Hyperaldosteronismus (niedriges Serumrenin) Syn.: Conn-Syndrom

Definition und Epidemiologie Inadäquat gesteigerte Sekretion von Aldosteron durch die Nebenniere mit Suppression der Reninsekretion. Die Krankheit ist selten.

Ätiologie und Pathogenese

In ca. 60% besteht ein aldosteronsezernierender Tumor einer Nebenniere. In ca. 40% kann eine doppelseitige mikronoduläre Nebennierenrindenhyperplasie nachgewiesen werden, deren Pathogenese derzeit nicht geklärt ist (siehe Abb. 16-1).

Morphologie

Der aldosteronproduzierende Tumor ist meist ein einseitiges kleines Adenom (Durchmesser im Allgemeinen unter 2 cm, Gewicht bis 5 g) mit goldgelber Schnittfläche (Abb. 16-8a). Es besteht mikroskopisch entsprechend aus lipidreichen Zellen (hellzelliges Adenom; Abb. 16-8b). Karzinome sind eine Rarität. Die beidseitige Hyperplasie kann diffus sein mit Verbreiterung der Zona glomerulosa. Häufiger ist sie nodulär. Die Differentialdiagnose gegenüber dem Adenom kann dabei schwierig sein.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die Krankheit tritt schleichend auf und äußert sich zunächst in einer milden Hypertonie. Es kommen dazu Müdigkeit, Muskelschwäche und selten Lähmungen oder Tetanie (Hypokaliämie). Die Laborbefunde sind diagnostisch entscheidend mit den folgenden Serumkonzentrationen: erhöhtes Natrium, erniedrigtes Kalium und Renin, erhöhtes Aldosteron (dessen Sekretion nur unvollständig supprimierbar ist) sowie Alkalose. Im Urin besteht eine erhöhte Kaliumexkretion. Der Nachweis der Ursache ist oft schwierig, weil sowohl Nebennierenrindenhyperplasie als auch die meist kleinen Adenome nicht einfach zu lokalisieren sind. Weniger als 1% der Menschen mit Hypertonie leidet an einem primären Hyperaldosteronismus.

Abb. 16-8 Adenom der Nebennierenrinde mit primärem Hyperaldosteronismus.

a Kleines Adenom mit goldgelber Schnittfläche. b Geringgradig desorganisierte Architektur des Nebennierenrindengewebes im Tumor. Zellen mit reichlich Lipidtröpfchen. HE, Vergr. 200fach.

Folgen/Komplikationen Ziel einer Operation ist die Entfernung des Tumors. Bei beidseitiger Hyperplasie muss unter Umständen eine bilaterale Adrenalektomie mit konsekutiver Substitution von Steroidhormonen durchgeführt werden.

Sekundärer Hyperaldosteronismus (hohes Serumrenin) Definition und Epidemiologie Es handelt sich um eine erhöhte Aldosteronproduktion der Nebennierenrinde infolge Stimulation durch das Renin-Angiotensin-System. Der sekundäre Hyperaldosteronismus ist wesentlich häufiger als der primäre (siehe Abb. 16-1).

Ätiologie und Pathogenese Der sekundäre Hyperaldosteronismus tritt auf bei ■ Mangeldurchblutung einer oder beider Nieren, d.h. vor allem bei chronischer Herzinsuffizienz. Dabei wird auch zusätzlich extraadrenal Aldosteron durch Endothelzellen und glatte Muskelzellen in intramyokardialen Koronararterienästen produziert. ■ Krankheiten mit Natriumretention im Gewebe (Ödeme) oder in der Peritonealhöhle (Aszites), wie z.B. bei Leberzirrhose oder nephrotischem Syndrom. Dabei entstehen eine Hyponatriämie und eine Hypovolämie. Dies führt zu einer weiteren Stimulation des Renin-Angiotensin-Systems. ■ Reninproduzierendem Tumor (selten). ■ Bartter-Syndrom bei Hyperplasie des juxtaglomerulären Apparats mit erhöhter Reninproduktion, erhöhtem Serumaldosteron, Hypokaliämie, niedrigem Blutdruck, Resistenz der Blutgefäße gegen die Angiotensinwirkung. Das BartterSyndrom darf nicht mit dem Schwartz-Bartter-Syndrom (siehe Kap. 13.3.1) verwechselt werden.

Morphologie

Eine Hyperplasie der Zona glomerulosa ist häufig, jedoch nicht immer vorhanden.

Adrenale Virilisierung und Feminisierung Definition und Epidemiologie Virilisierung bzw. Feminisierung infolge eines Nebennierenrindentumors mit Sekretion von Androgenen und/oder Östrogenen. Die Tumoren sind selten, treten aber gehäuft bei Kindern unter 12 Jahren auf.

Pathogenese

Die Virilisierung beruht auf der inadäquat erhöhten Sekretion von Androgenen wie Dehydroepiandrosteron, Androstendion oder Testosteron. Bei der Feminisierung werden Östrogene durch die Wirkung einer Aromatase produziert, die Testosteron zu Östradiol umbaut (der erste Ring des Testosterons wird dabei aromatisiert; siehe Abb. 16-2).

Morphologie

Die Tumoren sind oft groß (mehrere 100 Gramm bis zu einem Kilogramm) und oft maligne (über 50%).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Beim Mädchen führt die Virilisierung zu Klitorisvergrößerung und beschleunigtem Knochenwachstum. Bei der Frau tritt eine tiefe Stimme auf, der Behaarungstyp wird männlich, und es kann Bartwuchs bestehen. Beim Knaben kommt es bei Virilisierung zu beschleunigtem Knochenwachstum und zu einer vorzeitigen Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale. Allerdings tritt keine vorzeitige Fertilität auf. Daher wird dieser Zustand als Pseudopubertas praecox bezeichnet. Beim Mann bewirkt die Feminisierung das Auftreten einer Gynäkomastie, eines weiblichen Behaarungstyps sowie Verlust von Libido und Potenz.

Adrenogenitales Syndrom Definition Beim adrenogenitalen Syndrom kommt es zur inadäquat erhöhten Produktion und Sekretion von adrenalen Androgenen und/oder Aldosteron infolge von Enzymdefekten der Nebennierenrinde mit teilweisem oder vollständigem Verlust der Kortisolproduktion. Das Syndrom tritt je nach Schweregrad des Enzymdefekts unmittelbar nach Geburt oder erst während des Erwachsenenalters auf.

Ätiologie und Pathogenese

Es sind mindestens acht Enzymmutationen der Steroidbiosynthese bekannt, die nach Schweregrad des Defekts bzw. je nach betroffenem Enzym zu verschiedenen Krankheitsbildern mit unterschiedlicher Ausprägung führen. Der Schweregrad hängt

vom Ausmaß der Kortisolproduktion und -sekretion ab, da Kortisol als einziges Nebennierenrindenhormon über das negative Feedback die hypothalamischhypophysäre Sekretion von CRH bzw. ACTH deutlich hemmt (vgl. Abb. 13-C). Die infolge niedriger Kortisolsekretion gesteigerte CRH- und ACTH-Sekretion bewirkt eine Stimulation der intakten Synthesewege. Damit werden andere Nebennierenrindenhormone als Kortisol in inadäquat hoher Menge synthetisiert und sezerniert. Die häufigsten Enzymdefekte sind (vgl. Abb. 16-2): ■ 21-Hydroxylase-Mangel (1 pro 5000 bis 1 pro 15 000 Geburten) ■ 11β-Hydroxylase-Mangel (1 pro 100 000 Geburten) ■ 17-Hydroxylase-Mangel (seltener).

Morphologie Die ACTH-Stimulation verursacht eine diffuse oder noduläre Hyperplasie beider Nebennierenrinden, die ein erhebliches Ausmaß annehmen kann (10- bis 20faches Normalgewicht). Sie sind gyriert, d.h. zerebriform, auf der Schnittfläche gelb-braun. Histologisch besteht eine diffuse Hyperplasie (siehe Abb. 16-5).

Molekularpathologie Der 21-Hydroxylase-Mangel beruht auf einer Punktmutation oder Deletion auf 6q21, der 11β-Hydroxylase-Mangel auf einer Punktmutation auf 8q21 und der 17Hydroxylase-Mangel auf einer Punktmutation auf 10q24.3. Der Erbgang ist bei allen drei Typen autosomal-rezessiv.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Das klinische Krankheitsbild kann aus dem Enzymdefekt abgeleitet werden (siehe Abb. 16-2). Der 21-Hydroxylase-Mangel führt zur Virilisierung und, je nach Schweregrad des Enzymdefekts, zur erniedrigten Aldosteronsekretion. Letztere führt zum Salzverlust mit Hyponatriämie und Hyperkaliämie. Bei deutlich ausgebildetem Enzymdefekt bestehen beim Mädchen bei der Geburt eine Klitorisvergrößerung und verwachsene Labioskrotalfalten. Die inneren Reproduktionsorgane sind normal ausgebildet. Beim Knaben kann ein Kryptorchismus oder eine Hypospadie bestehen. Der Tod kann in der ersten Lebenswoche eintreten, insbesondere bei hochgradigem Kortisoldefekt. 11β-Hydroxylase-Mangel führt zur Virilisierung. Bei diesem Enzymdefekt kann neben Kortisolmangel ebenfalls der Umbau vom 11-Desoxykortikosteron zum Kortikosteron und Aldosteron blockiert sein, sodass ebenfalls ein Salzverlustsyndrom entstehen kann.

Bei 17-Hydroxylase-Mangel sind Kortisol- und Androgensynthese blockiert. Der Syntheseweg konzentriert sich auf denjenigen der Mineralokortikoide. Dies führt zur inadäquat hohen Aldosteronsekretion mit konsekutiver Hypernatriämie, Hypokaliämie und Hypertonie. Die sexuelle Differenzierung ist unvollständig.

16.1.11

Unterfunktionssyndrome

Akute Nebennierenrindeninsuffizienz Definition Akuter Kreislaufkollaps infolge akuten Ausfalls der Sekretion von Kortikosteroiden.

Ätiologie und Pathogenese ■ Akute Dekompensation einer chronischen primären Nebennierenrindeninsuffizienz durch eine zusätzliche Belastung, z.B. Stress. ■ Zu rasches Absetzen von Steroiden nach lang dauernder Steroidmedikation oder verspätete Erhöhung der Steroiddosis bei Patienten nach bilateraler Adrenalektomie. ■ Massive Destruktion der Nebennierenrinde durch hämorrhagische Nekrose (Blutung unter Geburt, Septikämie).

Waterhouse-Friderichsen-Syndrom Definition und Epidemiologie Akute Nebennierenrindeninsuffizienz durch Sepsis und Endotoxinschock mit disseminierter intravasaler Gerinnung und hämorrhagischer Nekrose. Das Syndrom tritt am häufigsten bei Kindern auf, kommt aber insgesamt selten vor.

Ätiologie und Pathogenese Eine Sepsis, verursacht durch Meningokokken, Pneumokokken, Staphylokokken oder Haemophilus influenzae, mit Endotoxinämie führt zum Endotoxinschock, d.h. zum Endothelschaden, zur disseminierten intravasalen Gerinnung und zur hämorrhagischen Diathese. Bei der Frau können septischer Abort, Schwangerschaftstoxikose, Eklampsie, vorzeitige Plazentalösung oder Fruchtwasserembolie Ursachen der disseminierten intravasalen Gerinnung und hämorrhagischen Diathese sein.

Morphologie Die Nebennieren sind hämorrhagisch und nekrotisch. Meist finden sich einige erhaltene Parenchyminseln (Abb. 16-9a).

Klinisch-pathologische Korrelationen Der Verlauf ist meist fulminant. Nach Auftreten von Fieber kommt es sehr rasch zu Hautpetechien (Abb. 16-9b), Purpura und Blutungen in Organen. Es stellt sich rasch ein Kreislaufkollaps ein, der zum Herzversagen durch Arrhythmien führt. Ohne adäquate Therapie tritt der Tod infolge des akuten Nebennierenrindenversagens oft innerhalb von 24 Stunden ein.

Folgen/Komplikationen Bei frühzeitiger Diagnose und Therapie mit hoch dosierten Antibiotika und Steroiden können die Patienten oft gerettet werden.

Primäre chronische Nebennierenrindeninsuffizienz Syn.: Addison-Krankheit

Definition Reduktion bzw. Ausfall der Nebennierenrindenhormonsekretion infolge Zerstörung, Rezeptormutationen oder Enzymmutationen der Nebennierenrinde. Die Erkrankung ist selten.

Ätiologie und Pathogenese

Die Erkrankung tritt bei Zerstörung von mindestens 90% des Nebennierenrindenparenchyms auf. Diese kann zustande kommen durch: ■ Autoimmun-Adrenalitis (50–65%) ■ Tuberkulose (5–30%) ■ Tumormetastasen (5–10%); selten sind: ■ Amyloidose ■ Hämochromatose ■ Sarkoidose

■ Enzymmutationen mit adrenogenitalem Syndrom (siehe Kap. 16.1.10) ■ Rezeptormutation. Bei der Autoimmun-Adrenalitis treten bei 60–70% der Patienten Antikörper gegen zytoplasmatische Antigene von Nebennierenrindenzellen auf. Die Rolle der Antikörper in der Pathogenese der Erkrankung ist nicht klar. Da Antikörper bei Tuberkulose praktisch nicht auftreten, ist eine Bedeutung bei der Pathogenese wahrscheinlich. Antikörper gegen Nebennierenrindenzellen treten auch bei polyglandulärer Unterfunktion auf (siehe Kap. 18.3).

Abb. 16-9

Waterhouse-Friderichsen-Syndrom.

a Ausgedehnte hämorrhagische Zerstörung beider Nebennieren. b Petechiale Hautblutungen.

Morphologie Bei der Autoimmun-Adrenalitis besteht eine weitgehende Zerstörung des Parenchyms mit lymphozytären Infiltraten. Die Zerstörung der Nebennierenrinde führt zur Atrophie (Abb. 16-10a, b).

Tuberkulose siehe Kap. 48.2.7.

Molekularpathologie Der ACTH-Rezeptor kann mutiert und dadurch inaktiviert sein (Punktmutation auf 18p11.2, autosomal-rezessiv). Enzymmutationen mit adrenogenitalem Syndrom siehe Kap. 16.1.10.

Klinisch-pathologische Korrelationen Schleichend entwickeln sich Schwäche, Müdigkeit, Anorexie, Nausea, Erbrechen, Gewichtsverlust und Hypotonie; die Pigmentierung der Haut wird deutlich. Sie tritt sowohl an lichtexponierten als auch an bedeckten Stellen auf und dürfte durch die erhöhte Sekretion von Proopiomelanocortin (POMC) und dessen Produkten bedingt sein. Die Laborwerte sind zu Beginn unauffällig. Danach sinken die Serumkonzentrationen von Natrium, Chlorid, Bikarbonat, Glukose und Kortisol ab, hingegen steigen die Konzentrationen von Kalium (Verlust der Aldosteronwirkung) und ACTH. Im Urin sinken die Konzentrationen der 17Ketosteroide und 17-Hydroxysteroide ab. Bei einer zusätzlichen Belastung kann eine akute, lebensgefährliche sog. AddisonKrise auftreten mit hyperkaliämischen Herzrhythmusstörungen und Hypoglykämie.

Abb. 16-10 Autoimmun-Adrenalitis.

a Atrophische Nebennieren (Gewicht zusammen 2 g); vgl. Abb. 16-3 und 16-5. b Zur Unkenntlichkeit zerstörtes Nebennierengewebe. Verbände atrophischer Nebennierenrindenzellen (Pfeile) mit herdförmigen Lymphozyteninfiltraten. HE, Vergr. 200fach.

Sekundäre chronische Nebennierenrindeninsuffizienz Bei Ausfall von CRH bzw. ACTH werden Produktion und Sekretion von Glukokortikoiden und Androgenen ungenügend stimuliert. Es kommt dagegen im Allgemeinen zu keiner inadäquat erniedrigten Sekretion von Aldosteron, da Mineralokortikoide über das Renin-Angiotensin-System reguliert werden. Salzverlust, Hyponatriämie und Hyperkaliämie fehlen daher. Der Ausfall der Androgensekretion kann durch die Gonaden ausgeglichen werden.

16.2 16.2.1

Nebennierenmark und Paraganglien Normale Struktur und Funktion

Das System entsteht aus dem Neuroektoderm. Die Neuroblasten differenzieren im Nebennierenmark zu Phäochromozyten, zu Ganglienzellen und zu extraadrenalen paraganglionären Zellen. Das System besteht aus: ■ Nebennierenmark, paravertebralen (inkl. Zuckerkandl-Organ) und viszeralen Paraganglien, assoziiert mit dem sympathischen Nervensystem ■ branchiomeren und vagalen Paraganglien, assoziiert mit dem parasympathischen Nervensystem. Die paraganglionären Zellen produzieren vor allem Katecholamine. Acetylcholin stimuliert deren Biosynthese und Sekretion. Im Zentralnervensystem ist Dopamin, im peripheren Nervensystem Noradrenalin, im Nebennierenmark Adrenalin das dominierende Katecholamin (Abb. 16-11). Die Granula des Nebennierenmarks enthalten neben Katecholaminen (ca. 20% des Trockengewichts) ATP, Chromogranine, Neuropeptide, Ascorbat, Glykosaminoglykane sowie Enzyme.

16.2.2

Tumoren des Nebennierenmarks

Phäochromozytom Definition Das Phäochromozytom ist ein Tumor des Nebennierenmarks oder der chromaffinen Zellen anderer Lokalisation (extraadrenales Paragangliom).

Epidemiologie Am häufigsten tritt es zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr auf. Beide Geschlechter sind gleich häufig betroffen.

Lokalisation Abdomen 97%, Nebennierenmark unilateral 70–90%, Nebennierenmark bilateral 10–20%.

Abb. 16-11 Biosynthese der Katecholamine.

Ca. 10% der Phäochromozytome sind maligne. Besonders bilaterale Nebennierenmarktumoren sind oft mit hereditären Syndromen assoziiert, vor allem mit MEN 2, mit Phakomatosen (von-Hippel-Lindau-Syndrom bzw. Sturge-WeberKrabbe-Krankheit sowie Neurofibromatose Typ I; siehe Kap. 9.13 und 18.2).

Morphologie

Die Tumoren sind oft klein, können aber auch mehrere Hundert Gramm wiegen. Die Schnittfläche ist grau, nach Oxidation an der Luft oder in Formaldehyd wird sie braun. Bei großen Tumoren treten häufig Nekrosen und Pseudozysten auf. Oft ist eine deutliche Kapsel vorhanden (Abb. 16-12a). Histologisch sind große polygonale Zellen alveolär angeordnet. Zellen und Kerne wirken „polymorph“, die Zellkerne sind im Allgemeinen chromatinreich (Abb. 1612b). Die Dignität der Tumoren (10% maligne) ist nur durch lymphogene oder hämatogene Ausbreitung bzw. durch Auftreten von Metastasen in Lymphknoten, Leber oder Skelett zu beweisen.

Abb. 16-12 Phäochromozytom einer Nebenniere.

a Tumor des Nebennierenmarks mit grauer, teils hämorrhagischer Schnittfläche. Die um den Tumor liegende Nebennierenrinde ist auf dem Schnitt gelb (Pfeile).

b Teils große, alveolär angeordnete Tumorzellen, „polymorphes“ Zellbild. Zwischen den Zellgruppen („Zellballen“) gefäßführende Bindegewebssepten. HE, Vergr. 125fach.

Molekularpathologie Auf 1p, 17p (p53) und 22q wurden LOH gefunden. Mutationen auf 3p treten im Rahmen des von-Hippel-Lindau(VHL)-Syndroms auf. Punktmutationen im RETGen (10q11.2) werden im Rahmen einer MEN gefunden (siehe Kap. 18.2).

Klinisch-pathologische Korrelationen Das Phäochromozytom ist ein Imitator vieler anderer Krankheiten – es wird daher wegen der sehr unterschiedlichen Symptome und deren Verlauf oft verkannt. Im Allgemeinen ist Noradrenalin im Tumor das dominierende Katecholamin, es kann aber auch Adrenalin sein; selten wird ausschließlich Dopamin sezerniert. Es bestehen eine, teils paroxysmale, Hypertonie (0,1–0,2% der Hypertoniker leiden an einem Phäochromozytom), Hypermetabolismus, Hyperglykämie, Kopfschmerzen, Schwitzen und Tremor.

Folgen/Komplikationen Der Tumor kann durch seine funktionellen Auswirkungen zum Tode führen. Bei akuten Sekretionsspitzen von Katecholaminen können Herzversagen, Herzinfarkt, Herzflimmern, Hirnblutung oder die sog. Katecholamin-Kardiomyopathie (Myozytolyse, Nekrosen durch Vasokonstriktion) auftreten. Durch eine Operation kann der Patient aber aufgrund des häufigen benignen Verhaltens des Tumors (ca. 90%) gerettet werden.

Neuroblastom, Ganglioneuroblastom, Ganglioneurom Das Neuroblastom ist ein maligner Tumor des Nebennierenmarks und der benachbarten Paraganglien (ca. 80%) oder der intrathorakalen Paraganglien (ca. 20%). Es ist einer der häufigsten Tumoren beim Kleinkind und tritt in ca. 80% vor dem Alter von vier Jahren, in ca. 35% vor dem Alter von zwei Jahren auf. Näheres zu den Tumoren siehe Kap. 40.7.1.

Ätiologie und Pathogenese

Der Tumor tritt sporadisch auf. Es existiert eine hereditäre Form mit einer Deletion auf Chromosom 1 (1p31), wobei das N-myc-Onkogen amplifiziert ist.

Morphologie Der Tumor ist meist lobuliert, weich, die Schnittfläche ist rotgrau mit Blutungen, Nekrosen und Verkalkungen. Histologisch ist der Tumor kleinzellig, die Kern-Plasma-

Relation ist zugunsten der Kerne verschoben, die Kerne sind hyperchromatisch. Es bilden sich ab und zu Pseudorosetten aus. Das Tumorgewebe enthält zarte Bindegewebssepten. Das Neuroblastom kann zum malignen Ganglioneuroblastom oder zum gutartigen Ganglioneurom ausdifferenzieren, das aus Ganglienzellen mit einem Schwann-ZellStroma besteht.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Das Neuroblastom produziert meist Dopamin. Es metastasiert in das Skelett, in die Leber oder generalisiert. Der Verlauf ist rasch, häufig wird das Tumorleiden erst durch Metastasen klinisch manifest.

Folgen/Komplikationen Prognostisch günstig sind ein frühes Stadium der Erkrankung sowie ein Alter von weniger als einem Jahr. Bei diesen Säuglingen können sich selbst disseminierte Formen des Neuroblastoms (sog. Stadium IVs) zurückbilden. Sind Vanillinmandelsäure und Homovanillinsäure im Urin erhöht, ist dies ein gutes prognostisches Zeichen, weil die Tumorzellen offenbar differenziert genug sind, um Katecholamine zu produzieren.

Paragangliome Definition und Epidemiologie Paragangliome sind Tumoren, die in extraadrenalen Paraganglien entstehen. Ca. 50% der Tumoren entstehen in der Karotisgabel, ca. 40% finden sich im Mittelohr. Sie sind selten und treten vor allem zwischen 30 und 60 Jahren auf; es besteht keine Bevorzugung eines Geschlechts. Die Tumoren treten im Allgemeinen sporadisch auf, familiäre Tumoren sind aber bekannt. Nach Exzision kommt es in 10–50% der Fälle zu einem Rezidiv, ca. 10% der Tumoren setzen Metastasen. Paragangliome der vagalen Paraganglien sind in ca. 15% maligne. Paragangliome des Mediastinums und des Retroperitoneums sind in ungefähr 10% der Fälle maligne.

Morphologie

Der Durchmesser der Tumoren beträgt 1–6 cm, sie sind prall-elastisch, die Schnittfläche ist rot-braun. Es besteht häufig eine Kapsel, jedoch sind die Tumoren meist an die umgebenden Strukturen adhärent. Histologisch finden sich alveolär angeordnete Zellgruppen, sog. Zellballen oder -stränge. Es besteht ein dichtes Kapillarnetz, Mitosen sind selten.

Folgen/Komplikationen Das Paragangliom des Glomus jugulare ist der häufigste Tumor des Mittelohrs. Es ist wegen der Infiltration benachbarter Strukturen oft nicht vollständig operabel. Dies führt zu Rezidiven.

Klinisch-pathologische Korrelationen Paragangliome der sympathischen (retroperitonealen) Paraganglien können Katecholamine, meist Dopamin, sezernieren. Tumoren der parasympathischen (mediastinalen) Paraganglien sind meist endokrin inaktiv.

Abb. 16-13 3-dimensionale Volumenrekonstruktion aufgrund von CT-Daten.

Die koronare Projektion zeigt ein „Inzidentalom“ (Pfeile) kranial und ventral der linken Nebenniere, ca. 5 cm kranial der linken Niere (Bild: S. Wildermuth, Zürich).

16.3 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Erkrankungen der Nebennieren Vergrößerungen einer oder beider Nebennieren werden oft zufällig im Rahmen einer Untersuchung des Abdomens mit bildgebenden Verfahren entdeckt (sog. „Inzidentalome“, Abb. 16-13). Bei Fortschreiten der Läsion oder Überbzw. Unterfunktion müssen Art und Dignität der Läsion morphologisch abgeklärt werden. Bei Phäochromozytomen ist zudem

ein von-Hippel-Lindau-Syndrom oder eine multiple endokrine Neoplasie (MEN 2) auszuschließen bzw. nachzuweisen (siehe Kap. 18.2).

Literatur Siehe Literaturverzeichnis in Kap. 18.

FRAGEN 1 Nennen Sie die wichtigsten Effekte der Nebennierenrindensteroide. 2 Welche Ursachen einer Nebennierenrindenhyperplasie kennen Sie? 3 Welches sind die wichtigsten Überfunktionssyndrome, die durch inadäquate Steroidsekretion der Nebennierenrinde verursacht werden? 4 In welchem Lebensalter treten Nebennierenkarzinome relativ häufig auf? 5 Welche Ursachen hat das adrenogenitale Syndrom? 6 Welche Ursachen haben die primäre akute und chronische Nebennierenrindeninsuffizienz? 7 Nennen Sie wichtige Tumoren des Nebennierenmarks. a)

Typen

b)

Hormonproduktion

c)

Wichtige Effekte der inadäquaten Hormonsekretion

8 Definieren Sie das „Inzidentalom“. 9 Welches sind die Indikationen zur morphologischen Untersuchung der in diesem Kapitel beschriebenen Krankheiten? Welche Untersuchungen sind indiziert? Welchen Beitrag können diese Untersuchungen zur präzisen Diagnostik und zur Planung der Therapie leisten?

17 Disseminiertes neuroendokrines System PH. U. HEITZ P. KOMMINOTH G. KLÖPPEL 17.1

Normale Struktur und Funktion 425

17.2

Nichttumoröse Veränderungen 426

17.2.1

Magen 426

17.2.2

Endokrines Pankreas 427

17.3

Tumoren 427

17.3.1 Tumoren des Bronchialsystems, des Magen-Darm-Trakts, des Urogenitaltrakts und der Haut 427 17.3.2

Tumoren des Pankreas 430

17.4 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Läsionen des disseminierten neuroendokrinen Systems 432 Literatur 432 Fragen 432

Zur Orientierung Dieses System umfasst alle neuroendokrinen Zellen, die verstreut (lat. disseminare = aussäen) in Lunge, Magen, Darm, Pankreas, Urogenitalsystem und Haut verteilt sind. Sie bilden keine isolierten Organe oder Gewebeformationen. Trotz ihrer unterschiedlichen Lokalisationen bilden sie aufgrund gemeinsamer struktureller (neuroendokrine Sekretgranula) und biochemischer Merkmale (neuroendokrine Marker) eine vernetzte Einheit. Neuroendokrine Marker, z.B. Synaptophysin und Chromogranine, werden in der Diagnostik zur Identifizierung neuroendokriner Zellen bzw. Tumoren eingesetzt.

17.1 Normale Struktur und Funktion Abb. 17-1 Zellen des disseminierten neuroendokrinen Systems.

a Zwei angeschnittene S-Zellen mit Sekretinproduktion im Epithel einer Duodenalzotte (braun). Immunperoxidase-Reaktion für Sekretin. DifferentialInterferenz-Kontrast-Optik, Vergr. 400fach. b Elektronenmikroskopie einer enterochromaffinen Zelle (mit Serotoninproduktion). Im Zytoplasma findet sich eine große Zahl von Sekretgranula mit elektronendichter Matrix (K = Zellkern). Vergr. 5000fach. Die Zellen des disseminierten neuroendokrinen Systems sind wahrscheinlich terminale Differenzierungen ortsständiger Stammzellen. Ihr zellbiologisches Programm befähigt sie zur Produktion und Speicherung biogener Amine und Peptide (Hormone und Transmittersubstanzen). Die Speicherung erfolgt in membranbegrenzten Granula, die einen elektronendichten Kern besitzen. Diese Sekretgranula verleihen den Zellen ihr charakteristisches ultrastrukturelles Bild (Abb. 17-1). Durch immunhistochemischen Nachweis von Peptiden lassen sich die neuroendokrinen Zellen identifizieren und typisieren (Tab. 17-1). Gegenwärtig werden im Bronchialsystem, in Pankreas, MagenDarm-sowie Urogenitaltrakt 15 Zelltypen unterschieden. Für viele der von ihnen produzierten Peptide ist die physiologische Rolle als Hormon bekannt (z.B. Gastrin, Sekretin, Cholezystokinin); bei einigen (z.B. Somatostatin) besteht jedoch noch Unklarheit.

Tab. 17-1 Wirkung und Produktionsort einiger wichtiger gastrointestinaler und pankreatischer Hormone. Durch Sekretion in das Interstitium werden auf parakrinem Weg (z.B. Somatostatin) direkt benachbarte Zielzellen, über die Benutzung der Blutbahn auf endokrinem Weg entfernte Zielzellen (z.B. durch Gastrin) erreicht (siehe Abb. 13-B). Die Langerhans-Inseln des Pankreas bestehen zu 60–70% aus insulinproduzierenden Zellen (B-Zellen, β-Zellen) und zu 20–25% aus Glukagonzellen (A-Zellen, α-Zellen). Die übrigen Zellen bilden Somatostatin (D-Zellen, δ-Zellen) oder pankreatisches Polypeptid (PP-Zellen). Die Insulin- und Glukagonsekretion wird antagonistisch über den Glukosespiegel im Blut reguliert. Insulin fördert den Glukosestoffwechsel in der Leber und die Glukoseaufnahme in die Fett- und Muskelzellen. Glukagon stimuliert die hepatogene Glukosebereitstellung. Somatostatin hemmt die Sekretion von Insulin (und vielen anderen Hormonen), PP die durch Sekretin und Cholezystokinin stimulierte Abgabe des Pankreassekrets. Alle Pankreashormone gelangen über das Pfortadersystem zuerst in die Leber und von dort aus in den großen Kreislauf.

17.2 17.2.1

Nichttumoröse Veränderungen Magen

Gastrin und Histamin stimulieren die Salzsäuresekretion der Parietalzellen der Magenkorpusmukosa. Gastrin stimuliert auch die Histaminsekretion durch ECL-Zellen (histaminproduzierende „enterochromaffine cell-like cells“).

Eine Vermehrung der ECL-Zellen im Magenkorpus findet man bei chronischatrophischer Korpusgastritis im Rahmen einer perniziösen Anämie mit autoimmuner Zerstörung der HCl (und Intrinsic-Faktor) bildenden Parietalzellen. Da unter hypoaziden Bedingungen die Sekretion der gastrinproduzierenden G-Zellen im Magenantrum nur mehr unvollständig supprimiert wird, kommt es auch zu einer Hypergastrinämie und GZell-Hyperplasie. Die daraus resultierende diffuse ECL-Zell-Hyperplasie im Magenkorpus kann nach langjährigem Bestehen Ausgangspunkt von Tumoren werden (siehe Kap. 17.3.1). Im zurückgelassenen Antrumrest nach Billroth-II-Resektion kann sich wegen der fehlenden Feedback-Suppression durch HCl ebenfalls eine G-Zell-Hyperplasie entwickeln.

17.2.2

Endokrines Pankreas

Nichtneoplastische Veränderungen, assoziiert mit Diabetes mellitus oder Hypoglykämie Diabetes mellitus, siehe Kap. 46.3.2

Hyperinsulinämische Hypoglykämie Definition Das persistierende Hypoglykämiesyndrom beruht auf einem organischen Hyperinsulinismus. Es kommt bei Neugeborenen und Erwachsenen vor und kann zu schweren neurologischen Schäden führen.

Ätiologie und Pathogenese

Die bei der Nesidioblastose auftretende dysregulierte Insulinproduktion und sekretion beruht auf Punktmutationen auf 11p15.1–p14 bzw. 11p15.1 (autosomalrezessiver Erbgang). Diese verursachen Mutationen im Sulfonylharnstoff-Rezeptor (SUR) bzw. im ATP-sensitiven Kaliumkanal KCNJ11 der Membran der B-Zellen in den Langerhans-Inseln. Infolge des dadurch entstehenden Kalziuminfluxes sind die B-Zellen konstitutiv aktiv, d.h., sie sind von einer Stimulation ihrer Insulinsekretion durch ein Ansteigen des Blutzuckers unabhängig.

Morphologie

Im Neugeborenen- und Säuglingsalter findet sich als morphologisches Substrat des Hyperinsulinismus eine diffuse oder fokale Nesidioblastose, während es sich bei Erwachsenen praktisch immer um einen insulinproduzierenden Tumor (Insulinom; siehe unten) handelt. Unter Nesidioblastose (griech.: nesidion = Insel, blastein = bauen) versteht man das Auftreten von Inseln mit hypertrophierten und

unkontrolliert insulinproduzierenden Zellen im gesamten Pankreas (diffuse Nesidioblastose) oder beschränkt auf einen Lobulus (fokale Nesidioblastose). Der Hyperinsulinismus bei fokaler Nesidioblastose wird durch Exzision des tumorartig vergrößerten Lobulus aus dem Pankreas behoben. Bei diffuser Nesidioblastose hilft meist nur eine subtotale Resektion.

17.3

Tumoren

17.3.1 Tumoren des Bronchialsystems, des MagenDarm-Trakts, des Urogenitaltrakts und der Haut Definition Alle Tumoren des disseminierten neuroendokrinen Systems wurden früher als Karzinoide bezeichnet. Da diese Bezeichnung viele Missverständnisse zwischen Pathologen und Klinikern (die unter Karzinoiden oft nur die Tumoren mit Karzinoidsyndrom verstehen) hervorgerufen hat, wird sie in neuen Klassifikationen durch den Ausdruck des (neuro)endokrinen Tumors ersetzt. Der Begriff des APUDoms ist ebenfalls, wie das APUD-Zell-System (alte Bezeichnung für disseminiertes neuroendokrines System), überholt und sollte unseres Erachtens nicht mehr gebraucht werden. Neuroendokrine Tumoren sind gutartige Tumoren oder langsam wachsende Karzinome, die in Abhängigkeit von Lokalisation und Größe früher oder später metastasieren. Niedrigdifferenzierte neuroendokrine Karzinome sind hochmaligne (Beispiel: kleinzelliges Lungenkarzinom).

Epidemiologie Die neuroendokrinen Tumoren machen insgesamt ca. 2% aller malignen Tumoren aus. Sie treten in allen Altersklassen bei Männern und Frauen ungefähr gleich häufig auf, finden sich jedoch überwiegend im höheren Lebensalter.

Ätiologie und Pathogenese Für die meisten Tumoren des neuroendokrinen Systeme sind Ätiologie und Pathogenese unbekannt. Für spezielle Lokalisationen und Tumortypen sowie in Zusammenhang mit erblichen Syndromen spielen jedoch folgende Faktoren eine Rolle: ■ Exogene Kanzerogene (Benzpyrene im Zigarettenrauch) spielen eine wichtige Rolle bei der Entstehung des kleinzelligen Lungenkarzinoms, der niedrigdifferenzierten Variante der neuroendokrinen Tumoren der Lunge (siehe

Kap. 24.7.2). Für die hochdifferenzierten neuroendokrinen Tumoren sind sie nach dem derzeitigen Stand der Kenntnisse von untergeordneter Bedeutung. ■ Eine langjährige Hypergastrinämie scheint die Proliferation von ECL-Zellen im Magenkorpus zu stimulieren und die Ursache einer verstärkten sowie multiplen Tumorentwicklung bei atrophischer Korpusgastritis zu sein. ■ Genetische Faktoren sind von ausschlaggebender Bedeutung bei der Entstehung von neuroendokrinen Tumoren im Rahmen der Syndrome der multiplen endokrinen Neoplasie (siehe Kap. 18.1 und 18.2).

Morphologie

Die meisten Tumoren des diffusen neuroendokrinen Systems liegen in der Schleimhaut bzw. der Submukosa des Bronchial- und Magen-Darm-Trakts. Von den üblichen Karzinomen unterscheiden sie sich durch ihre vorwiegend submuköse Lokalisation, wobei die bedeckende Schleimhaut lange intakt bleibt. Später wachsen sie durch die Muscularis propria und führen zu lymphogenen und dann hämatogenen Metastasen, die oft größer als der Primärtumor sind. Mikroskopisch handelt es sich um hochdifferenzierte Tumoren (monomorphe Zellen mit gut entwickeltem Zytoplasma) mit zumeist lobulär-solidem und/oder trabekulärem (strangartigem) Muster. Die Bestimmung der Dignität und damit die Klassifikation der Tumoren sind schwierig (Tab. 17-2 und 17-3), jedoch ist mit der neuen WHO-Klassifikation der Grundstein zu einer verbesserten Diagnostik gelegt worden. Durch spezielle Färbungen (Versilberungsmethoden) lassen sich argentaffine (aus enterochromaffinen [EC-] und ECL-Zellen bestehende Tumoren) und argyrophile (praktisch alle anderen neuroendokrinen) Tumoren unterscheiden. Durch die Immunhistochemie ist eine Differenzierung aufgrund der jeweiligen Hormonproduktion möglich.

Tab. 17-2 Kriterien für die Beurteilung der Dignität eines neuroendokrinen Tumors. Lokalisation Typ (histologisch und Hormonproduktion) Durchmesser* Differenzierungsgrad Funktion* Gewebsinvasion* Angioinvasion*

Proliferationsindex* * entscheidende Kriterien

Tab. 17-3 Prinzip der Klassifikation neuroendokriner Tumoren. (WHO 2000, vereinfacht) Hochdifferenzierter neuroendokriner Tumor hormonell aktiv hormonell inaktiv Hochdifferenziertes neuroendokrines Karzinom hormonell aktiv hormonell inaktiv Niedrigdifferenziertes neuroendokrines (kleinzelliges) Karzinom Gemischter exokriner-endokriner Tumor Tumorähnliche Läsionen

Molekularpathologie In neuroendokrinen Tumoren des Magen-Darm-Trakts sind genetische Alterationen auf Chromosom 11 sowie Verlust von Chromosom 18 oder 18q gefunden worden. In den Tumoren des Pankreas ist Monoklonalität bei benignen Tumoren selten, bei malignen Tumoren häufig. Es ist eine Reihe chromosomaler Aberrationen bekannt, wobei vor allem Deletionen auf 3p, 6q und 9q wichtig sind. Tumoren im Rahmen einer MEN 1 siehe Kap. 18.1.

Abb. 17-2 Hilusnaher, teilweise intrabronchialer neuroendokriner Tumor der Lunge (Pfeile).

Abb. 17-3

Neuroendokrine Tumoren des Magens.

a Großer, solitärer neuroendokriner Tumor des Magens (größter Durchmesser: 11 cm) b Multiple, kleine neuroendokrine Tumoren des Magenkorpus (Pfeile) bei chronisch-atrophischer Korpusgastritis mit ECL-Hyperplasie. c Kleiner, hochdifferenzierter neuroendokriner Tumor in der Magenkorpusschleimhaut. Immunzytochemische Darstellung (Avidin-BiotinKomplex-Methode) für Chromogranin, Vergr. 100fach.

Abb. 17-4

Neuroendokriner Tumor des Ileums.

a Die Schnittfläche ist gelb. Der Tumor (größter Durchmesser 3 cm) durchwächst die Ileumwand, deren Muskulatur weitgehend zerstört und durch Tumor- und Bindegewebe ersetzt ist (weiß). Der Tumor zieht die Ileumwand ein und breitet sich lymphogen in der Schleimhaut aus (gelbes Knötchen links vom Tumor). Es besteht bereits eine Lymphknotenmetastase (der Ileumwand anhängendes Gewebe). b Adenomatös solider Bau, monomorphes Zellbild. Konzentration von eosinophilen neurosekretorischen Granula am Sekretionspol der Tumorzellen. HE, Vergr. 1000fach. c Chromogranin A im Zytoplasma (eigentlich in der Matrix der Sekretgranula) vieler Tumorzellen (Reaktionsprodukt: schwarz-braune Granula). Chromogranin A wird durch viele neuroendokrine Zellen produziert und kann daher als allgemeiner

Marker neuroendokriner Zellen eigesetzt werden. Semidünnschnitt. Protein-AGold-Reaktion für Chromogranin A (monoklonaler Antikörper) mit Silberverstärkung, Vergr. 1000fach. d Produktion von Substanz P. Immunzytochemische Lokalisation von Substanz P (braunes Reaktionsprodukt). Vergr. 1000fach.

Klinisch-pathologische Korrelationen ■ Bronchialsystem. Diese Tumoren machen ca. 25% aller neuroendokrinen Tumoren aus. Die niedrigdifferenzierten und undifferenzierten neuroendokrinen Tumoren werden in Kap. 24.7.2 besprochen. Die differenzierten Tumoren finden sich zu 80% hilusnah, wo sie sich überwiegend intrabronchial entwickeln und durch Bronchusstenose zu rezidivierter Bronchitis und Atelektase führen (Abb. 172). Eine endokrinologische Symptomatik (Cushing-Syndrom) ist selten. ■ Magen. Zwei Situationen lassen sich unterscheiden: der sporadische neuroendokrine Tumor, der solitär auftritt und bei 20–40% der Patienten zum Zeitpunkt der Diagnose bereits metastasiert hat (Abb. 17-3a), und der neuroendokrine Tumor bei chronisch-atrophischer Korpusgastritis, der multipel auftritt, auf dem Boden einer ECL-Hyperplasie entsteht und nur selten metastasiert (siehe Kap. 17.2; Abb. 17-3b, c). Eine endokrinologische Symptomatik fehlt. ■ Duodenum. Die duodenalen neuroendokrinen Tumoren bevorzugen das proximale Duodenum, sind oft kleiner als 1 cm und zeigen trotzdem bei mehr als 60% der Patienten zum Zeitpunkt der Diagnose bereits Lymphknotenmetastasen, die bedeutend größer werden können als der Primärtumor. Zu über 50% handelt es sich um gastrinproduzierende Tumoren, von denen wiederum etwa die Hälfte die Ursache eines Zollinger-Ellison-Syndroms ist (siehe unten). Tumoren mit Somatostatinproduktion und Lokalisation in der Duodenalpapille (Papilla Vateri) sind häufig mit einer Neurofibromatose Recklinghausen Typ 1 assoziiert, zeigen aber keine hormonale Symptomatik. ■ Jejunum, Ileum und Meckel-Divertikel. Das terminale Ileum ist bevorzugter Sitz von neuroendokrinen Tumoren (29% aller neuroendokrinen Tumoren; Abb. 17-4a-d). Tumoren, die zum Zeitpunkt der Diagnose größer als 2 cm sind, haben nahezu in 100% bereits lymphogen oder auch hämatogen metastasiert. Lokal verursachen sie eine Obstruktion (Ileus), insbesondere wegen der begleitenden Fibrose des Mesenteriums. Systemisch kommt es durch die Sekretion von Serotonin und Substanz P (neurales Undekapeptid, das an der Schmerzleitung im Nervensystem beteiligt ist; Abb. 17-4d) sowie über die Aktivierung der Kininkaskade durch Kallikrein mit Bildung von Bradykinin zum Karzinoidsyndrom. Dieses ist durch anfallsweise Flush-Symptomatik (Gesichtsrötung durch Vasodilatation), wässrige Diarrhöen, kolikartige Bauchschmerzen und Bronchuskonstriktionen charakterisiert. Es kann durch Stress (körperliche und/oder psychische Belastung) infolge Katecholaminsekretion

ausgelöst werden. Es tritt allerdings erst nach Metastasierung in die Leber auf, da Serotonin und Substanz P, die über die Pfortader zur Leber gelangen, größtenteils dort metabolisiert werden und damit nicht in den großen Kreislauf gelangen. Bei langem Bestehen kann eine plaqueartige Endokardfibrose des rechten Herzens auftreten. ■ Appendix. In der Appendix treten neuroendokrine Tumoren ebenfalls häufig auf (19% aller neuroendokrinen Tumoren). Es handelt sich um Tumoren mit Serotoninproduktion. Sie sind klein (1–1,5 cm) und liegen in der Appendixspitze. Meist werden sie zufällig bei einer Appendektomie wegen appendizitischer Beschwerden gefunden. Sie besitzen eine gute Prognose, da eine Metastasierung zum Zeitpunkt der Diagnose eine Ausnahme darstellt (Abb. 17-5). ■ Rektum. Während im Kolon neuroendokrine Tumoren selten sind, sich jedoch meist maligne verhalten, treten sie im Rektum relativ häufig auf (13% aller gastrointestinalen neuroendokrinen Tumoren). Letztere weisen eine gute Prognose auf, da sie zumeist endoskopisch bereits als kleine Schleimhautpolypen (1 cm) entdeckt und abgetragen werden können. Sie produzieren Glukagon und pankreatisches Polypeptid, führen aber zu keiner hormonalen Symptomatik. ■ Urogenitaltrakt. Von Bedeutung sind die neuroendokrinen Tumoren in reifen Teratomen des Ovars, wo sie teilweise zusammen mit Schilddrüsengewebe („Strumakarzinoid“) vorkommen. Bilden sie die einzige oder überwiegende Komponente eines Teratoms, so handelt es sich um große feste Ovarialtumoren (5–25 cm), die jedoch nur selten zu Metastasen führen. Bei Serotoninproduktion können sie auch ohne Lebermetastasierung ein Karzinoidsyndrom verursachen, da der venöse Abfluss des Ovars direkt in die V. cava führt, d.h. die Leber umgeht. ■ Haut. Neuroendokrine Tumoren der Haut (Merkel-Zell-Tumoren) sind selten: Sie wachsen relativ langsam, verhalten sich jedoch maligne.

Abb. 17-5 Hochdifferenzierter neuroendokriner Tumor der Appendix.

Der Tumor besteht aus dicht liegenden kleinen Zellgruppen, füllt das Lumen der Appendix aus und treibt die Appendix auf. HE, Vergr. 4fach.

Tab. 17-4 Prinzip der Klassifikation neuroendokriner Pankreastumoren. Hochdifferenzierter neuroendokriner Tumor gutartig hormonell aktiv Ø < 2 cm, nichtangioinvasiv, keine Metastasen Insulinom Glukagonom Somatostatinom Gastrinom VIPom

Produktion von Serotonin andere hormonell inaktiv fragliche Dignität Ø > 2 cm, angioinvasiv, keine Metastasen hormonell aktiv* hormonell inaktiv Hochdifferenziertes neuroendokrines Karzinom Invasion und Metastasen hormonell aktiv* hormonell inaktiv Wenig differenziertes neuroendokrines Karzinom * gleiche Tumortypen wie bei gutartigen Tumoren

17.3.2

Tumoren des Pankreas

Definition Es handelt sich um Tumoren mit histologisch endokrinem Aufbau („Inselzelltumoren“). Durch die unkontrollierte Sekretion von bestimmten Hormonen (Insulin, Gastrin, vasoaktives intestinales Polypeptid [VIP] oder Glukagon) können charakteristische Syndrome hervorgerufen werden. Diese Tumoren werden daher als Insulinome, Gastrinome, VIPome und Glukagonome klassifiziert (Tab. 17-4). Sog. nichtfunktionelle Tumoren weisen dagegen keine hormonelle Symptomatik auf.

Epidemiologie Neuroendokrine Pankreastumoren sind im Kindesalter extrem selten. Beim Erwachsenen treten sie in allen Altersklassen sowie bei Männern und Frauen etwa gleich häufig auf, sind insgesamt aber nicht häufig. Die Prävalenz beträgt unter 1/000. Insulinome und Gastrinome machen 60%, nichtfunktionelle Tumoren 30% dieser Neoplasien aus.

Morphologie Makroskopisch sind es gut begrenzte, solitäre runde Tumoren mit einem Durchmesser von 1–4 cm, die in allen Teilen des Pankreas auftreten können (Abb. 17-6a).

Histologisch handelt es sich um monomorphe Tumorzellen mit einem feingranulären Zytoplasma. Die Zellen sind solide, trabekulär und pseudoglandulär angeordnet (Abb. 17-6b). Die immunzytochemische Darstellung der Hormone erlaubt eine funktionell-morphologische Einteilung dieser Tumoren (Abb. 17-6c). Elektronenmikroskopisch finden sich in den Tumorzellen membranbegrenzte neurosekretorische Hormongranula. Obwohl die neuroendokrinen Pankreastumoren histologisch hochdifferenziert sind, verhalten sie sich mit Ausnahme des Insulinoms häufig maligne. Dies gilt vor allem für Gastrinome, VIPome, Glukagonome und nichtfunktionelle Tumoren. Da die histologischen Kriterien für Malignität bei diesen Tumoren unzuverlässig sind, kann nur das Vorhandensein von Metastasen oder eine Tumorinvasion in umgebende Organe den Nachweis der Malignität sichern. Die ersten Metastasen finden sich in den regionären Lymphknoten und in der Leber. Trotz Metastasierung können häufig lange Überlebenszeiten (5–10 Jahre) beobachtet werden.

Abb. 17-6

Neuroendokriner Pankreastumor.

a Gut abgegrenzter, großer Tumor im Pankreaskörper (Pfeilspitzen). b Kleiner endokriner Pankreastumor mit solidem histologischem Muster. HE, Vergr. fach. c Immunzytochemischer Nachweis von Glukagon (braunes Reaktionsprodukt) in einem endokrinen Pankreastumor. Vergr. fach.

Klinisch-pathologische Korrelationen ■ Insulinom. Die unkontrollierte Insulinproduktion des Tumors führt zum hyperinsulinämischen Hypoglykämiesyndrom (Heißhunger, Bewusstseinsverlust, neurologische Symptomatik). Die meisten Insulinome sind 1–2 cm groß und benigne. Bei etwa 5% der Patienten treten multiple Insulinome auf. In Insulinomen kann es zur gleichen Amyloidablagerung wie in den Inselzellen des Pankreas von Typ-II-Diabetikern kommen (siehe Kap. 46.3.2). ■ Gastrinom. Durch die Hypergastrinämie – als Folge einer unkontrollierten Abgabe von Gastrin aus dem Tumor – kommt es zur Hyperazidität im Magen und im Duodenum mit rezidivierenden duodenalen Ulzera. Dieser Symptomenkomplex wird als Zollinger-Ellison-Syndrom (ZES) bezeichnet. Gastrinome treten sporadisch oder hereditär (etwa 30% der Patienten) bei multipler endokriner Neoplasie Typ I (MEN I) (siehe Kap. 18.1) auf. Sporadische Gastrinome finden sich zu etwa je 50% im Pankreas und Duodenum, bei MEN I zu 90% im Duodenum, wobei sie oft multipel auftreten. Bei Diagnosestellung haben etwa 60% der Gastrinome bereits metastasiert. Die Metastasierung erfolgt in peripankreatische oder periduodenale Lymphknoten, später hämatogen in die Leber. Maligne duodenale Gastrinome scheinen eine bessere Langzeitprognose zu haben als maligne pankreatische Gastrinome. ■ Seltene Tumoren mit hormonalen Syndromen: □ VIPome sezernieren vasoactive intestinal peptide, ein Neurotransmitterhormon, dessen Hypersekretion wässrige Durchfälle, Hypokaliämie und Achlorhydrie verursacht („watery diarrhoea, hypokalaemia and achlorhydria syndrome“, WDHA-Syndrom, Verner-Morrison-Syndrom). □ Glukagonome sezernieren im Übermaß Glukagon und werden von einer nekrolytischen Dermatitis, einem Diabetes mellitus sowie Gewichtsverlust begleitet. □ ACTH-produzierende Tumoren führen zum Cushing-Syndrom (siehe Kap. 16.1.10). □ Viele dieser Tumoren sind maligne und weisen zum Zeitpunkt der Diagnose bereits eine beträchtliche Größe (3–6 cm) auf. ■ Tumoren ohne hormonelle Syndrome. Diese Tumoren werden als Zufallsbefunde oder aufgrund ihrer lokalen Symptomatik bzw. Metastasen entdeckt. Sie produzieren häufig pankreatisches Polypeptid.

17.4 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Läsionen des disseminierten neuroendokrinen Systems Die Pathologie steht hier vor der Aufgabe, die Art einer Läsion, bei einem Tumor dessen Dignität und Ausdehnung festzulegen sowie die Hormonproduktion zu definieren. Zu einer guten Diagnostik gehören auch der Nachweis einer MEN 1 bzw. MEN 2 (siehe Kap. 18.1 und 18.2) bzw. deren Ausschluss.

Literatur

Siehe Literaturverzeichnis in Kap. 18.

FRAGEN 1 Nennen Sie die Charakteristika des disseminierten neuroendokrinen Systems. 2 Wie werden die „Karzinoide“ in aktuellen Klassifikationen bezeichnet? 3 Welches sind die entscheidenden Kriterien der Beurteilung der Dignität neuroendokriner Tumoren? 4 In welchen Organen treten neuroendokrine Tumoren häufig auf? 5 Wie werden neuroendokrine Pankreastumoren klassifiziert? 6 Welcher neuroendokrine Tumor des Pankreas tritt am häufigsten auf und führt infolge seiner Hormonproduktion zu neurologischen Symptomen? 7 Welches sind die wichtigsten hormonell aktiven neuroendokrinen Pankreastumoren? 8 Welche Pankreasveränderungen findet man beim hyperinsulinämischen Hypoglykämiesyndrom? 9 Welches sind die Indikationen zur morphologischen Untersuchung der in diesem Kapitel beschriebenen Krankheiten? Welche Untersuchungen sind indiziert? Welchen Beitrag können die Untersuchungen zur präzisen Diagnostik und zur Planung der Therapie leisten?

18 Polyglanduläre Störungen PH. U. HEITZ, P. KOMMINOTH, G. KLÖPPEL 18.1

Multiple endokrine Neoplasie Typ 1 (MEN 1) 433

18.2

Multiple endokrine Neoplasie Typ 2 (MEN 2) 435

18.3

Pluriglanduläre endokrine Insuffizienz 436

18.4 436

Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik polyglandulärer Störungen

Literatur zu Kap. 13 bis 18 437 Fragen 438

Zur Orientierung Polyglanduläre Störungen umfassen synchron oder metachron auftretende Hyperplasien und/oder Tumoren bzw. immunologische Zerstörungen neuroendokriner Organe. Sie sind entweder durch das Tumorwachstum und die Metastasierung oder durch die dysregulierte bzw. die ungenügende Hormonsekretion sowie deren Folgen lebensgefährlich. Die Molekulargenetik der MEN 1 und MEN 2 wurde während der vergangenen Jahre erarbeitet. Die den Krankheiten zugrunde liegenden Genmutationen können heute nachgewiesen werden. Dadurch wird eine sekundäre Prävention von Tumoren bei Trägern der Mutation möglich. Andererseits kann auf eine weitere Kontrolle von Nichtträgern verzichtet werden. Die MEN 1 wird durch die Inaktivierung eines Tumorsuppressorgens, die MEN 2 hingegen durch onkogene, sich dominant auswirkende Punktmutationen verursacht.

18.1

Multiple endokrine Neoplasie Typ 1 (MEN 1)

Definition und Epidemiologie Die MEN 1 (oder MEA 1 = multiple endokrine Adenomatose 1) ist eine seltene, autosomal-dominant vererbte Erkrankung: Der Gendefekt führt zur Entwicklung von multiplen endokrinen Tumoren in der Hypophyse, den Nebenschilddrüsen, dem Pankreas sowie dem Duodenum und vereinzelt auch in anderen Organen. Die Tumoren können gleichzeitig oder zeitlich gestaffelt auftreten (siehe Abb. 18-2).

Tab. 18-1 Vererbungs- und Phänotyp der MEN 1 und MEN 2.

Ätiologie und Pathogenese Die Erkrankung ist durch vererbte inaktivierende Mutationen des MEN-1-Gens (Chromosom 11q13) bedingt. Das Gen kodiert ein als „Menin“ bezeichnetes Protein (Tab. 18-1). Es handelt sich um ein mutiertes Allel eines Tumorsuppressorgens. Bei Verlust des zweiten, noch gesunden Allels (z.B. durch Chromosomendeletion) wird das Tumorsuppressorgen inaktiviert und damit die Tumorentwicklung in verschiedenen Organen eingeleitet (Abb. 18-1 und 18-2).

Abb. 18-1

Allelverlust des MEN-1-Gens

(grünes Fluoreszenzsignal; weißer Pfeil) im Vergleich zum Chromosom 11 (rote Signale) im Zellkern eines Tumors von einem MEN-1-Patienten. Darstellung mittels Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH). Im rechten Bildbereich ist ein grünes Fluoreszenzsignal verloren gegangen. Normalbefund (links) mit je zwei roten und grünen Signalen.

Abb. 18-2 bei MEN 1.

Lokalisation und Häufigkeit von Tumoren

Abb. 18-3 Mikroadenomatose des Pankreas bei MEN 1 (Pfeile) und Anteil eines abgekapselten Makrotumors (oberer Bildrand).

Die übrigen kleinen braunen Bezirke entsprechen nichtvergrößerten Inseln. Immunozytochemische Darstellung von Synaptophysin. Vergr. 100fach.

Klinisch-pathologische Korrelationen (Abb. 18-2)

■ Hypophyse. Die sich in der Hypophyse entwickelnden Adenome produzieren meist Prolaktin oder sind hormonell inaktiv (siehe Kap. 13.2.3). Eine GH- oder ACTH-Bildung ist selten. Klinisch treten diese Tumoren bei 9–40% der Patienten in Erscheinung. ■ Nebenschilddrüsen. Bei der MEN 1 muß davon ausgegangen werden, dass alle Nebenschilddrüsen hyperplastisch sind. Diese Veränderungen werden als adenomatöse Hyperplasie bezeichnet. Wahrscheinlich handelt es sich jedoch auch hier um multiple Tumoren. Klinisch kommt es zum primären Hyperparathyreoidismus, der sich bei nahezu allen (≥ 80–98%) MEN-1-Patienten manifestiert. ■ Pankreas und Duodenum (Abb. 18-3 und 18-4). Im Pankreas und im Duodenum finden sich zahlreiche multihormonale Mikrotumoren (< 0,5 cm) neben einzelnen Makrotumoren. Entwickelt sich ein Hypoglykämiesyndrom (10–30% der Patienten), kann davon ausgegangen werden, dass einer der Makrotumoren im Pankreas Insulin produziert. Kommt es zum Zollinger-Ellison-Syndrom (20–60% der Patienten), ist die Ursache in meist multiplen, sehr kleinen duodenalen Tumoren

mit Gastrinproduktion (Abb. 18-4a, b, c) zu suchen (siehe Kap. 17.3.1). Die Tumoren wachsen langsam und metastasieren spät. ■ Andere Organe. Neuroendokrine Tumoren können sich auch in Thymus, Lunge und Magen entwickeln. Zumeist ist keine hormonale Symptomatik mit diesen seltenen Manifestationen einer MEN 1 verbunden (5–9%). Weitere betroffene Organssysteme beinhalten: Nebennierenrinde (Hyperplasie, Adenome), Haut und Subkutis (Lipome, Angiofibrome, Kollagenome), glatte Muskulatur (Leiomyome) und Spinalkanal (Ependymome).

Abb. 18-4 bei MEN 1.

Neuroendokrine Tumoren im Duodenum

a Zwei kleine neuroendokrine Tumoren im Duodenum bei MEN 1 (Pfeile). Die Tumoren verbreitern die Oberfläche der Falten, sind aber von der Oberfläche her schwierig zu lokalisieren. Die Schnittfläche der Tumoren ist gelblich. b Kleines Gastrinom in der Duodenalschleimhaut (gestrichelte Linie). HE, Vergr. 400fach. c Immunzytochemische Darstellung von Gastrin (Avidin-Biotin-Komplex-Methode mit Silberverstärkung). Vergr. 200fach.

Abb. 18-5 Medulläres Schilddrüsenkarzinom (links) und C-Zell-Hyperplasie (Pfeile).

Immunozytochemische Darstellung von Kalzitonin, Vergr. 200fach.

Abb. 18-6

MEN 2b.

a Ganglioneuromatose in der Appendix. Die braunen Strukturen entsprechen dramatisch proliferierten Ganglienzellen und myelinisierten Nervenfortsätzen. Immunzytochemische Darstellung von Protein S-100. Vergr. 10fach. b Verdickte und myelinisierte Kornealnerven werden bei der Spaltlampenuntersuchung sichtbar.

18.2

Multiple endokrine Neoplasie Typ 2 (MEN 2)

Definition und Epidemiologie (Abb. 18-5 bis 18-8) Das gemeinsame, gleichzeitige oder zeitlich gestaffelte Auftreten von medullärem Schilddrüsenkarzinom (siehe Kap. 14.6.2) mit oft bilateralen Phäochromozytomen charakterisiert die MEN 2. Sie wird wie die MEN 1 autosomal-dominant vererbt. Bei der MEN 2a findet sich in ca. 10% zusätzlich eine meist asymptomatische Nebenschilddrüsenhyperplasie, bei der MEN 2b dagegen ein marfanoider Habitus und multiple neurogene Tumoren (Ganglioneurome) im Bereich der Schleimhäute des Mundes und des Gastrointestinaltrakts (Abb. 18-6). Ein dritter Typ besteht in isoliert auftretenden familiären medullären Schilddrüsenkarzinomen. Die Krankheiten sind selten.

Ätiologie und Pathogenese Das Gen der MEN 2 liegt in der perizentromeren Region des Chromosoms 10 (Lokus 10q11.2). Bei der MEN 2a wurden mehrere sog. Missense-Punktmutationen in den Exons 10 und 11 (seltener in den Exons 13 und 14) im sog. RET-Protoonkogen beschrieben. Bei der MEN 2b liegt hingegen meist eine einzige Mutation im Exon 16 vor. Es handelt sich um onkogene, sich dominant auswirkende Punktmutationen (Abb. 18-7).

Abb. 18-7 Molekularbiologische Untersuchung von Blutzellen und Tumorgewebe einer Familie mit MEN 2.

Die PCR-SSCP(Polymerase-Kettenreaktion-Single-Strand-Conformation Polymorphism)-Analyse zeigt bei einer Patientin mit medullärem Schilddrüsenkarzinom (schwarzer Kreis) wie bei einer Schwester mit erhöhter Serumkonzentration von Kalzitonin (Gelbahn Nr. 7) sowie bei einer zweiten Schwester und zwei Kindern (alle symptomfrei; Gelbahnen 6, 2 und 3) ein aberrantes Bandenmuster mit Zusatzbanden (roten Pfeilspitzen), die auf das Vorliegen von Mutationen hinweisen. Die übrigen Familienangehörigen zeigen unauffällige Bandenmuster (vgl. normale Kontroll-DNA; NN: Normalkontrolle nicht denaturiert, ND: Normalkontrolle denaturiert). Die Sequenzanalyse (unten) zeigte eine Missense-Punktmutation (TGC → TAC, Cys → Tyr) in Codon 611 des Exons 10 im RET-Protoonkogen. Die Familienmitglieder 2, 3, 6 und 7 konnten aufgrund der nachgewiesenen Keimbahnmutation als MEN-2-Genträger identifiziert und einer sekundären Prävention (prophylaktische Thyreoidektomie) zugeführt werden. Die Familienmitglieder 1 und 5 sind keine Träger der Punktmutation und müssen daher nicht mehr weiter kontrolliert werden. Methodik siehe Kap. 1.3.12.

Klinisch-pathologische Korrelationen Das MEN-2-assoziierte medulläre Schilddrüsenkarzinom sowie die Phäochromozytome gehen aus einer nodulären Hyperplasie hervor (Abb. 18-5) und sind deshalb sehr häufig bilateral in den Schilddrüsenlappen bzw. im Nebennierenmark angelegt. In Makroskopie und Mikroskopie unterscheiden sich diese Tumoren nicht von den jeweiligen sporadisch auftretenden Neoplasien (siehe dort). Bei der MEN 2 manifestiert sich das medulläre Schilddrüsenkarzinom jedoch viel früher als bei sporadischen Fällen (im Alter von 10–30 Jahren gegenüber ca. 50. Lebensjahr). Außerdem tritt es meist vor dem Phäochromozytom auf. Durch genetisches und klinisches Screening hat sich die Prognose für MEN-2-Patienten hinsichtlich des medullären Schilddrüsenkarzinoms stark verbessert. Die Phäochromozytome sind meist benigne. Es kann heute dank der molekularbiologischen Diagnostik eine gezielte Sekundärprävention durchgeführt werden. Therapie der Wahl ist die frühzeitige, vollständige Entfernung der Schilddrüse vor Auftreten der medullären Schilddrüsenkarzinome (prophylaktische Thyroidektomie), meist bereits im Kindesalter.

18.3

Pluriglanduläre endokrine Insuffizienz

Definition und Epidemiologie Dieses Krankheitsbild umfasst komplexe autoimmune Endokrinopathien. Pluriglanduläre endokrine Insuffizienzsyndrome entwickeln sich vor allem bei Frauen ab dem 40. Lebensjahr. Oft handelt es sich um Patienten mit einem HLA-DR4-Status. Molekulargenetisch kann eine Punktmutation auf 21q22.3 nachgewiesen werden (autosomal-rezessiver Erbgang).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Eine Nebenniereninsuffizienz durch eine chronische Autoimmun-Adrenalitis (siehe Kap. 16.1.11) und eine Hypothyreose durch eine chronische lymphozytäre Thyroiditis (siehe Kap. 14.4.2) sind am häufigsten miteinander assoziiert. Andere Kombinationen sind ein Typ-I-Diabetes mit einer Hypothyreose oder einer perniziösen Anämie.

18.4 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik polyglandulärer Störungen Morphologisch ist die Artdiagnose der Läsion festzulegen und die Prognose möglichst präzise zu definieren. Außerdem müssen an normalen Zellen (z.B. Leukozyten des Blutes, normale Gewebe) und am Tumorgewebe die molekulargenetischen Veränderungen nachgewiesen werden. Finden sich Mutationen ausschließlich im Tumorgewebe eines Patienten, kann ein durch Keimzellen übertragenes Leiden ausgeschlossen werden. Finden

sich Mutationen auch in normalen Zellen, handelt es sich um ein familiäres Leiden. Die weiteren Familienmitglieder müssen daher molekulargenetisch untersucht werden. Bei Vorhandensein einer Mutation sollten sie einer sekundären Prävention zugeführt werden, um dem Auftreten von Tumoren zuvorzukommen.

Abb. 18-8 Lokalisation und Häufigkeit von Tumoren bei MEN 2.

Literatur zu Kap. 13 bis 18 Becker, K.L., J.P. Bilezikian, W.J. Bremner, W. Hung, C.R. Kahn, D.L. Loriaux, R.W. Rebar, G.L. Robertson, L. Wartofsky (eds.): Principles and Practice of Endocrinology and Metabolism. Lippincott, Philadelphia 1990. Conn, P.M., S. Melmed: Endocrinology. Basic and Clinical Principles. Humana Press, Totowa, New Jersey 1997. DeLellis, R., Heitz, Ph.U., Lloyd, R., Eng, C. (eds.): Pathology and Genetics of Tumours of Endocrine Organs. WHO Classification of Tumours, IARC, Lyon/Fr 2004. Kovacs, K., L.S. Asa (eds.): Functional Endocrinology, 2nd ed. Blackwell Science, Oxford 1998. Larsen, P.R., Kronenberg, H.M., Melmed, S., Polonsky, K.S. (eds.): Williams Textbook of Endocrinology, 10th ed., Saunders, Philadelphia, 2003. Lechago, J., V.E. Gould: Bloodworth’s Endocrine Pathology, 3rd ed. Williams & Wilkins, Baltimore 1997.

Solcia, E., G. Klöppel, L.H. Sobin (eds.), C. Capella, R.A. De Lellis, Ph.U. Heitz, E. Horvath, K. Kovacs, E. Lack, R.V. Lloyd: Histological Typing of Endocrine Tumours, 2nd ed., WHO, Springer, Heidelberg 2000. Stefaneau, L., H. Sasano, K. Kovacs (eds.): Molecular and Cellular Endocrine Pathology, Arnold, London 2000.

FRAGEN 1 Welcher prinzipielle Unterschied besteht zwischen der MEN 1 und der MEN 2? 2 In welchen Organen entstehen Läsionen a) bei der MEN 1? b) bei der MEN 2? 3 Welches sind die Indikationen zur morphologischen Untersuchung der in diesem Kapitel beschriebenen Krankheiten? Welche Untersuchungen sind indiziert? Welchen Beitrag können diese Untersuchungen zur präzisen Diagnostik und zur Planung der Therapie leisten?

Kardiovaskuläres System

großes Bild: Koronarsklerose, HE-Färbung kleines Bild (oben rechts): Röntgen-Thorax – Normalbefund kleines Bild (unten rechts): Röntgen-Thorax – dilatative Kardiomyopathie

19 Herz B.D. BÜLTMANN C.J. KIRKPATRICK H.A. BABA 19.1

Normale Struktur und Funktion 442

19.2

Fehlbildungen des Herzens 443

Herzentwicklung 443 Blutzirkulation vor der Geburt 444 Einteilung der Herzfehlbildungen 445 19.2.1

Arteriovenöse Shuntvitien 445

Vorhofseptumdefekt (Atriumseptum defekt, ASD) 445 Endokardkissendefekte (AV-Kanal, atrioventrikulärer Septumdefekt = AVSD) 446 Ventrikelseptumdefekt (VSD) 446 19.2.2

Venoarterielle Shuntvitien 447

Transposition der großen Arterien 447 19.2.3

Obstruktive Erkrankungen 448

Hypoplastisches Linksherzsyndrom 448 Aortenisthmusstenose 449 Kongenitale Stenosen der Aorten- und Pulmonalklappe 450 19.3

Pathologie des Reizleitungssystems 450

19.3.1

Erregungsbildungsstörung 450

19.3.2

Erregungsleitungsstörungen 451

19.3.3

Molekulare Pathologie 453

19.4

Endokard 454

19.4.1

Endokarditis 455

Nichtinfektiöse Endokarditiden 455 Infektiöse Endokarditis 457 19.4.2

Erworbene Herzklappenfehler 459

Mitralklappenstenose 459 Mitralklappeninsuffizienz 460 Mitralklappenprolaps 461 Ringverkalkung der Mitralklappe 461 Aortenklappenstenose 461 Aortenklappeninsuffizienz 462 19.5

Koronare Herzkrankheit 462

19.5.1

Angina pectoris und relative Koronarinsuffizienz 463

19.5.2

Akuter Koronartod 465

19.5.3

Myokardinfarkt 465

19.6

Myokard 469

19.6.1

Primäre Kardiomyopathien 469

Dilatative Kardiomyopathie 470 Hypertrophe Kardiomyopathie 470 Restriktive Kardiomyopathie 471 Arrhythmogene rechtsventrikuläre Kardiomyopathie 471 Nicht klassifizierbare Kardiomyopathien 471 19.6.2

Spezifische (sekundäre) Kardiomyopathien 472

19.6.3

Myokarditis 472

Nichtinfektiöse Formen der Myokarditis 472 Infektiöse Formen der Myokarditis 473 19.7

Plötzlicher Herztod 476

19.8

Perikard 476

19.8.1

Perikarderguss 477

19.8.2

Perikarditis 477

19.9

Tumoren des Herzens 478

19.9.1

Primäre Tumoren des Herzens 478

19.10

Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Herzerkrankungen 479

Literatur 480 Fragen 480

Zur Orientierung Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) waren im Jahr 1990 HerzKreislauf-Erkrankungen weltweit für 11% aller Todesursachen verantwortlich; mit einem Anstieg auf 15% ist bis zum Jahre 2020 zu rechnen. Nach Mitteilung des Statistischen Bundesamtes verstarben in Deutschland im Jahre 2000 insgesamt 171 132 Patienten (20,4% aller Sterbefälle) an primären Herzerkrankungen (akuter Myokardinfarkt, chronisch ischämische Herzerkrankungen, angeborene und erworbene Herzklappenfehler sowie Endokarderkrankungen) mit einer Sterbeziffer (Zahl der Verstorbenen je 100 000 Einwohner) von 208. Hinsichtlich der Morbidität primärer Herzerkrankungen stehen für die Gesamtbevölkerung in Deutschland keine Zahlen zur Verfügung. Möglich sind allerdings Aussagen über stationäre Morbiditätsziffern (vollstationäre Patienten pro 100 000 Einwohner): 1999 wurden insgesamt 786 821 Patienten wegen einer Herzerkrankung stationär behandelt, mit einer Morbiditätsziffer für den akuten Herzinfarkt von 82, sonstige Formen chronischer ischämischer Herzerkrankungen von 113, angeborenen und erworbenen Herzklappenfehlern sowie Endokarderkrankungen von 13. Die geschätzten Ausgaben der Krankenkassen im Jahre 2001 für diagnostische kardiale Untersuchungen (z.B. Linksherzkatheter) sowie therapeutische Maßnahmen (z.B. Dilatation und Rekanalisation von Koronararterien = PTCA, Herzoperationen und Anschlussrehabilitation und -heilbehandlungen) liegen in der Größenordnung von 2,781 Milliarden Euro. Hinzu kommen noch Kosten für 409 Herztransplantationen, die 2001 in Deutschland durchgeführt wurden. Aus diesen Zahlen wird ersichtlich, dass den Herzerkrankungen nicht nur medizinisch, sondern auch gesundheitspolitisch eine enorme Bedeutung zukommt. Das Fach Pathologie hat entscheidend mit zur Aufklärung von Herzkrankheiten beigetragen. Aufgrund zahlloser Obduktionsbefunde wurden die verschiedenen kardialen Krankheitsbilder makroskopisch und mikroskopisch charakterisiert und so weit wie möglich die Ätiologie und Pathogenese beschrieben. Die Kenntnis dieser pathomorphologischen Befunde ist heute für den klinisch tätigen Arzt eine bindende Voraussetzung, um die bei der kardialen

Diagnostik erhobenen zahlreichen Befunde (EKG, Labor, Echokardiographie, Angiographie u.a.) einem bestimmten Krankheitsbild zuordnen zu können. Die Pathologie ist auch heute noch – unabhängig von Obduktionen – aktiv durch die Beurteilung von Endomyokardbiopsien in die kardiale Diagnostik eingebunden, wobei hier die Schwerpunkte auf dem Nachweis und der ätiologischen Abklärung von entzündlichen Herzmuskelerkrankungen und der morphologischen Charakterisierung von primären und sekundären Kardiomyopathien liegen. Endomyokardbiopsien gehören zum klinisch-diagnostischen Standardrepertoire beim Monitoring von Abstoßungsreaktionen nach Herztransplantation.

19.1

Normale Struktur und Funktion

Das Herz ist das zentrale Organ des Herz-Kreislauf-Systems (Abb. 7-1). Das Herzgewicht eines gesunden Menschen beträgt ca. 0,5% seines Körpergewichts (Tab. 19-1) und besteht hauptsächlich aus Muskelmasse (Myokard). Morphologisch und funktionell unterscheidet man zwischen dem Arbeitsmyokard und den spezialisierten Myokardstrukturen des Reizleitungssystems, das für den koordinierten Funktionsablauf der Herzaktion verantwortlich ist. In den Myozyten der Herzvorhöfe sind elektronenmikroskopisch endokrine Granula nachweisbar, in denen der atriale natriuretische Faktor (ANF) gebildet wird, der über komplexe Regulationsmechanismen die Diurese und das Gefäßund Blutvolumen beeinflusst (siehe Kap. 36.1). Mit 5% des Herz-Zeit-Volumens wird das Myokard über die Koronararterien (A. coronaria dextra und A. coronaria sinistra) mit Blut versorgt, mit Einmündung in ein sehr dichtes, im Interstitium des Herzens gelegenes Kapillarsystem, das für die Sauerstoffversorgung der Herzmuskulatur verantwortlich ist (nummerisches Verhältnis Kapillare/Myozyt 1:1).Im Interstitium sind histologisch noch zusätzlich afferente und efferente Fasern des vegetativen Nervensystems in unmittelbarer Nachbarschaft der Kapillaren und postkapillärer Venolen nachweisbar. Fibroblasten, Makrophagen/Histiozyten und verschiedene Elemente der extrazellulären Matrix vervollständigen die Struktur. Die Herzkammern (rechter und linker Vorhof, rechte und linke Herzkammer) sind von Endokard ausgekleidet, das – wie auch die Herzklappen – von Endothelzellen überzogen wird, unterlagert von fibroelastischem Gewebe. Das Herz ist insgesamt sackförmig von fibrokollagenem Perikard und Epikard umkleidet, jeweils überzogen von Mesothelzellen.

Tab. 19.1 Herz – Maße und Gewichte. Der Blutstrom im Herzen wird von den zwischen Vorhof und Kammern liegenden Segelklappen (links zweizipfelige Mitral-, rechts dreizipfelige Trikuspidalklappe) und den Taschenklappen der beiden Ausflussbahnen (Aorten- und Pulmonalklappe) reguliert. Beim Herzen unterscheidet man zwischen der Volumen- und der Druckarbeit. Die Volumenarbeit pro Minute errechnet sich aus dem Schlagvolumen und der Herzfrequenz: Das enddiastolische Volumen der Herzens beträgt in Ruhe ca. 140 ml, mit der Systole wird ein Schlagvolumen von 70 ml ausgeworfen, sodass bei einer Herzfrequenz von 70 Schlägen/Minute ein Herz-Minuten-Volumen (HMV) von ca. 5 l zustande kommt. Die Volumenarbeit ist beim gesunden Menschen für beide Ventrikel gleich. Die zu leistende Druckarbeit errechnet sich im Wesentlichen aus dem Blutdruck in der Aorta (systolisch 120 mmHg) und in der A. pulmonalis (systolisch 25 mmHg). Danach hat der linke Ventrikel etwa 5–6-mal größere Druckarbeit zu leisten als der rechte Ventrikel. Kommt es durch unterschiedliche angeborene oder erworbene Ursachen zur Schädigung einzelner oder mehrerer Komponenten dieser komplexen anatomischen Herzstruktur, resultieren hieraus verschiedene selektive oder kombinierte Defekte, die sich klinisch unter dem Bild einer isolierten oder globalen, akuten oder chronischen Störung der HerzKreislauf-Funktion manifestieren. Beispiel: Bei chronischer Überbelastung des Herzens wird zwischen einer Druckbelastung (z.B. durch eine Klappeneinengung oder durch einen Hypertonus) und einer Volumenbelastung (z.B. Klappeninsuffizienz, Shunt) unterschieden. Die überbelastung führt zu einer Vermehrung der Muskelmasse, die sich klinisch und pathologisch-anatomisch messbar durch eine Links- und/oder

Rechtsherzhypertrophie dokumentiert (z.B. bei pulmonaler Hypertension, siehe Kap. 19.2.1). Die chronische Druckbelastung manifestiert sich morphologisch unter dem Bild einer konzentrischen Hypertrophie der Ventrikelwandung auf Kosten der Ventrikellichtung. Bei der chronischen Volumenbelastung adaptieren sich die Herzkammern im Sinne einer exzentrischen Hypertrophie. Die Wand wird dicker bei gleichzeitiger Erweiterung der Ventrikellichtung. Histologisch unterscheiden sich konzentrische und exzentrische Hypertrophie nicht. Wächst die Muskelmasse der Ventrikel auf das Doppelte oder Dreifache an, wird die Anpassung zur Krankheit. Obwohl mit zunehmender Muskelmasse die Gefäßquerschnittsfläche auf das Vierfache zunehmen kann, reicht dies nicht mehr aus, um den hypertrophierten Herzmuskel bei extremer Belastung ausreichend mit Sauerstoff zu versorgen (relative Koronarinsuffizienz; siehe Kap. 19.5.1). Die dadurch entstehende Hypoxie führt zu Herzmuskelzelluntergängen und zu einer zunehmenden interstitiellen Fibrose des Myokards. Dadurch verändert sich das Gefüge der Herzmuskulatur, und die Herzkammern dilatieren (Gefügedilatation). Die Dilatation mündet dann in eine zunehmende Links- und/oder Rechtsherzinsuffizienz ein (siehe Kap. 7.2). Zunehmende klinische und pathologisch-anatomische Beachtung findet das so genannte Altersherz. Unter diesem Begriff werden Veränderungen zusammengefasst, die durch im Alter auftretende „physiologische“ Veränderungen bedingt sind, die die Gesamtüberlebenszeit des Herzens und des Gesamtorganismus terminieren. Ursächlich werden neben metabolischen, endokrinologischen und immunologischen Faktoren im Alter zunehmende genetische Mutationen verantwortlich gemacht; ebenso die veränderte Produktion von freien Radikalen, die insbesondere im Bereich der Mitochondrien zu einer Veränderung des oxidativen Zellstoffwechsels führen. Klinisch fällt beim alten Patienten beispielsweise ein vermindertes maximales kardiales Auswurfvolumen bei körperlicher Belastung auf, die frühe diastolische Füllung des linken Ventrikels ist reduziert, die ventrikuläre Relaxation verlängert, die normale systolische Funktion erhalten. Es treten gehäuft Rhythmusstörungen auf. Im Rahmen von Autopsien wurde bei über 80-jährigen Patienten eine senile kardiovaskuläre Amyloidose gefunden, die mit 80% im Vorhof und mit 20% systemisch im Herzen ausgeprägt ist. Es kommt zu einer zunehmenden Verdickung, teilweise Verkalkung der Aorten- und Mitralklappensegel sowie bei 10% der Patienten zu Verkalkungen im Mitralklappenring. Im Myokard fallen bevorzugt subendound subepikardiale Fibrosierungen auf. Die Herzmuskelzellen zeigen histologisch häufig eine so genannte basophile Degeneration und vermehrt perinukleäre Lipofuszinablagerungen. Das Altersherz wird insgesamt vulnerabler gegenüber körperlicher Anstrengung und sonstigen kardialen Noxen.

19.2

Fehlbildungen des Herzens

Definition Kongenitale Fehlbildungen des Herzens sind angeborene Abweichungen des Herzens und/oder der großen Gefäße von der Norm. Sie entstehen während der 1.–7. Schwangerschaftswoche durch Störung der normalen Herzentwicklung.

Epidemiologie Von 1000 lebend geborenen Kindern haben etwa 8–10 einen angeborenen Herzfehler, der sich entweder unmittelbar nach der Geburt, häufiger im Kindesalter und zum Teil erst im Erwachsenenalter klinisch relevant bemerkbar macht. Durch Fortschritte in der Diagnostik (u.a. Vorsorgeuntersuchungen), der medikamentösen Notfallbehandlung und der Herzchirurgie können Lebensqualität und Lebenserwartung bei etwa 90% dieser Patienten verbessert, bei einem Teil kann sogar eine normale Lebenserwartung erreicht werden.

Ätiologie 90% aller kindlichen Herzerkrankungen sind angeborene Fehlbildungen multifaktorieller Genese. Ca. 45% der betroffenen Kinder haben zusätzlich andere Fehlbildungen. Kongenitale Fehlbildungen werden häufig bei Chromosomenanomalien beobachtet, treten bei primär mütterlichen Erkrankungen auf oder sind durch exogene Faktoren bedingt (Tab. 19-2).

Herzentwicklung Zum besseren Verständnis der verschiedenen angeborenen Fehlbildungen des Herzens soll kurz auf die embryonale Entwicklung eingegangen werden (Details siehe anatomische Lehrbücher). Aus dem ursprünglich gestreckten Herzschlauch entsteht durch Längenwachstum eine Herzschleife mit Wanderung des kaudalen Vorhofteils nach hinten oben. Der Innenraum des Herzens ist zu diesem Zeitpunkt ungegliedert (Cor commune). Das Herz beginnt zu schlagen (21. Tag post conceptionem). Anschließend erfolgt eine äußere Untergliederung durch Bildung von Längsfurchen (Sulcus interventricularis) zwischen beiden Ventrikelhälften sowie einer quer verlaufenden Furche (Sulcus atrioventricularis) als Grenze zwischen den Vorhöfen und Ventrikeln (22. Tag post conceptionem). Dieser äußeren Untergliederung schließt sich die innere Septierung an: Im Bereich des Ostium atrioventriculare commune bilden sich aus den Endokardkissen die Segelklappen (28. Tag post conceptionem; Abb. 19-1a). Das Septum interatriale entsteht aus einem von hinten oben nach unten vorn wachsenden Septum primum. Vor Erreichen der

Endokardkissen und somit komplettem Verschluss des Foramen primum entsteht in seinem oberen Bereich eine Öffnung (Foramen secundum). Rechts vom Septum primum wächst das Septum secundum nach unten vorn, welches das Foramen secundum weitgehend bedeckt. Es verbleibt jedoch eine öffnung zwischen dem Unterrand des Septum secundum und dem Septum primum, das Foramen ovale (Abb. 19-1c). Die gemeinsamen Ventrikel werden durch das Septum interventriculare in eine rechte und linke Kammer geteilt. Dieses wächst von kaudal nach kranial auf die Endokardkissen zu, es verbleibt jedoch eine Restverbindung zwischen beiden Ventrikeln (Foramen interventriculare; Abb. 19-1b). Vor dem Verschluss des Foramen interventriculare kommt es zur Unterteilung des Ausflusstrakts, d.h. des Bulbus und Truncus arteriosus, durch längs verlaufende Wülste, die sich zum Septum aorticopulmonale, dem Trunkusseptum, vereinigen. Dieses verdreht sich spiralig und trennt die Aorta ascendens vom Truncus pulmonalis (33. Tag post conceptionem). Als Letztes schließt sich das Foramen interventriculare aus dem Gewebe der Bulbuswülste und des hinteren Endokardkissens. Die Vereinigungsstelle bleibt membranös (Pars membranacea des Septum interventriculare; Abb. 19-1c). Nach 45–57 Tagen ist die Herzentwicklung abgeschlossen.

Tab. 19-2 Häufigkeit von Herzfehlern bei chromosomalen Aberrationen, isolierten Gendefekten und exogenen Noxen.

Blutzirkulation vor der Geburt Das oxygenierte Blut aus der Plazenta gelangt über die V.umbilicalis (NV) in die Leber und – von ihr abzweigend – über den Ductus venosus (DV) über die Lebervenen in die V. cava inferior (IVC) und somit in den rechten Vorhof (Abb. 19-2). Das Blut, das in den rechten Vorhof fließt, ist Mischblut, da sich das oxygenierte mit venösem Blut aus den Abdominalorganen und den unteren Extremitäten sowie mit Blut aus der V. cava superior (SVC) vermischt. Der größte Teil dieses Blutes fließt im Kurzschluss durch das Foramen ovale (FO) in den linken Vorhof, der restliche Anteil durch die Trikuspidalklappe in den rechten Ventrikel und von dort in die Pulmonalarterie. Nur 10– 15% des Blutes gelangen in die Lunge, während der größte Teil über den Ductus arteriosus Botalli (DA) unter Umgehung der Lungengefäße in die Aorta fließt. Die fetalen Pulmonalarterien besitzen eine breite Media und weisen eine durch Hypoxie bedingte physiologische Vasokonstriktion auf. Der Pulmonalgefäßwiderstand nimmt in den ersten zwei bis drei Lebenstagen ab und erreicht Erwachsenenwerte nach zwei Wochen, begleitet von der Konstriktion des Ductus arteriosus Botalli (DA). Das Blut des linken Vorhofes entstammt also zum überwiegenden Teil dem rechten Vorhof. über den linken Ventrikel und die aszendierende Aorta gelangt es in Kopf, Hals und Arme. Distal des Ductus arteriosus Botalli mischt sich Blut aus dem rechten Ventrikel bei. Das Blut kehrt über die beiden Umbilikalarterien (NA), die aus den Aa. iliacae internae (AIL) abgehen, zur Plazenta zurück. Die Umbilikalarterien, der Ductus venosus, die V. umbilicalis, das Foramen ovale und der Ductus arteriosus Botalli verschließen sich nach der Geburt.

Einteilung der Herzfehlbildungen Unter klinischen und funktionellen Aspekten (Tab. 19-3) werden die angeborenen Fehlbildungen des Herzens unterteilt in ■

Arteriovenöse Shuntvitien (Kap. 19.2.1)



Venoarterielle Shuntvitien (Kap. 19.2.2)



Obstruktive Erkrankungen (Kap. 19.2.3).

Im Folgenden werden die wichtigsten klinisch relevanten Fehlbildungen beschrieben.

Abb. 19-1

Bildung der Vorhof- und Ventrikelsepten.

19.2.1

Arteriovenöse Shuntvitien

Es wird lediglich eine Auswahl von Vitien vorgestellt (Tab. 19-3).

Abb. 19-2

Fetale Zirkulation.

AA = Aorta ascendens, AD = Aorta descendens, AIL = Arteria iliaca, AP = Arteria pulmonalis, DA = Ductus arteriosus Botalli, DV = Ductus venosus, FO = Foramen ovale, IVC = Vena cava inferior, LV = linker Ventrikel, NA = Nabelarterien, NV = Nabelvene, RV = rechter Ventrikel, SVC = Vena cava superior.

Vorhofseptumdefekt (Atriumseptumdefekt, ASD) Definition Der Vorhofseptumdefekt stellt eine angeborene offene Verbindung zwischen beiden Vorhöfen dar. Man unterscheidet zwischen: ■

ASD-II (Fossa-ovalis-Defekt oder Ostium-secundum-Defekt)



ASD-I (Ostium-primum-Defekt)



Sinus-venosus-Defekt.

Pathogenese

ASD-II: Beim ASD-II bleibt das Foramen ovale teilweise oder ganz offen. Es ist die häufigste Form des Vorhofseptumdefektes (70–90%). Es können einerseits multiple Perforationen oder gar ein Fehlen des Septum secundum vorliegen. Selbst wenn der Defekt einen Durchmesser von 2–3 cm erreicht, bleibt das Shuntvolumen wegen des kleinen Druckgradienten zwischen links und rechts gering (Vorhofdruck links 10 mmHg; rechts 5 mmHg). Der Ostium-secundum-Defekt ist in der Kindheit meist asymptomatisch, eine pulmonale Hypertonie entwickelt sich bei Kindern auch bei großen ASDs selten (Abb. 19-3). ASD-I: Der Ostium-primum-Defekt ist ein tief liegender Defekt im Vorhofseptum, unmittelbar über dem Ansatz der Atrioventrikularklappen. Oft ist das aortale Mitralsegel gespalten und damit schlussunfähig. Der ASD-I ist mit 5% wesentlich seltener als der ASD-II, aber funktionell bedeutender, da er meist als kompletter Endokardkissendefekt (siehe unten) auftritt. Beim isolierten ASD-I-Defekt sind die hämodynamischen Veränderungen die gleichen wie beim ASD-II. Da aber oft durch die Spaltung des aortalen Mitralsegels eine Mitralinsuffizienz entsteht, kommt es über eine links-atriale Drucksteigerung zu einer Erhöhung des Druckgradienten und damit auch des Shuntvolumens. Ein komplettes Fehlen des Vorhofseptums mit SingleAtrium (Cor triloculare biventriculare) ist meist mit multiplen anderen schweren Herzanomalien vergesellschaftet.

Tab. 19-3 Einteilung der Fehlbildungen des Herzens nach klinischpathophysiologischen Aspekten und Häufigkeit (alle Herzfehler = 100%).

Abb. 19-3

ASD-II.

Großer Defekt bei einer 80-jährigen Frau (Zufallsbefund bei der Autopsie). Obwohl der Defekt einen Durchmesser von 30 mm aufweist, blieb er bis zum Tode der Frau unerkannt. Die Volumenbelastung hat zu einer starken Hypertrophie (Doppelpfeile) des rechten Ventrikels (RV) geführt. Der einfache Pfeil weist in Richtung der Ausflussbahn mit dem Conus pulmonalis. Die Schrittmacherelektrode (Sternchen) steht in keinem Zusammenhang zum ASD-II.

Klinisch-pathologische Korrelationen Aufgrund des geringen Shuntvolumens bleiben Patienten mit ASD-I und ASD-II lange symptomlos. Das Vitium wird meist zufällig im Rahmen einer klinischen Untersuchung entdeckt. Deshalb ist der ASD der häufigste kongenitale Herzfehler bei Erwachsenen. Die Mortalität bis zum 20. Lebensjahr erreicht kaum 1%. Die Therapie besteht im chirurgischen Verschluss des Vorhofseptums. Wegen der hohen Inzidenz von Herzrhythmusstörungen bei verzögerter Operation liegt der angestrebte Operationszeitpunkt im Kleinkindesalter.

Endokardkissendefekte (AV-Kanal, atrioventrikulärer Septumdefekt = AVSD) Endokardkissendefekte resultieren aus einer Fehlentwicklung des Endokardkissens: ■

Ostium-primum-Defekt



partieller oder inkompletter AV-Kanal



totaler AV-Kanal.

Ist der Ostium-primum-Defekt (siehe ASD-I) mit einem Spalt im aortalen Mitralsegel oder seltener im Trikuspidalsegel vergesellschaftet, so liegt ein partieller oder inkompletter AV-Kanal vor. Kommt zu den oben beschriebenen Klappenveränderungen ein Ventrikelseptumdefekt hinzu, so wird diese Veränderung als totaler Atrioventrikularkanal (AV-Kanal, AVSD) bezeichnet.

Klinisch-pathologische Korrelationen Durch den großen Links-rechts-Shunt auf Vorhof- und Ventrikelebene kommt es zu schwerer Herzinsuffizienz. Zeichen der pulmonalen Hypertonie entwickeln sich im ersten Lebensjahr. Ohne Operation sterben 50% der Kinder innerhalb der ersten 6 Lebensmonate, nur 15% überleben bis zum 2. Lebensjahr. Eine Trisomie 21 findet man bei 40–60% der Kinder mit diesem Herzfehler (siehe Tab. 19-2). Der AV-Kanal kommt auch mit anderen Fehlbildungen vor, z.B. mit viszeralen Asymmetrien oder Poly- und Aspleniesyndromen.

Ventrikelseptumdefekt (VSD) Der Ventrikelseptumdefekt (VSD) liegt in 80% der Fälle im Bereich der Pars membranacea des Septums und wird daher auch als perimembranöser infrakristaler Defekt bezeichnet (Abb. 19-4). Er liegt im Ausflusstrakt des linken Ventrikels unterhalb der Aortenklappe. Seltener findet man Defekte, die nur im muskulären Anteil liegen (muskuläre Ventrikelseptumdefekte: subaortal, infundibulär, suprakristal, outlet, subpulmonal). Sie machen 5–7% der Ventrikelseptumdefekte aus, sind meist kleiner, kommen multipel vor und können sich spontan verschließen.

Abb. 19-4

Ventrikelseptumdefekt.

Der Defekt (Pfeile) liegt unmittelbar unterhalb der Aortenklappen im Bereich des Septum membranaceum und wird daher auch perimembranöser Ventrikelseptumdefekt genannt. Beachte die exzentrische Muskelhypertrophie des linken Ventrikels. Bei mittelgroßen bis großen Ventrikelseptumdefekten mit großen Shuntvolumina tritt früh eine pulmonale Hypertonie mit druckabhängiger pulmonaler Vaskulopathie auf, die sich morphologisch dokumentiert als (Einteilung nach Heath und Edwards, 1958): reversible Veränderungen

■ □

Grad I: Mediahypertrophie



Grad II: Mediahypertrophie mit Intimaproliferation



Grad III: Intima- und Mediafibrose

irreversible Veränderungen □

Grad IV: plexiforme und aneurysmatische Veränderungen



Grad V: angiomatoide Läsionen



Grad VI: nekrotisierende Arteriitis.

Dadurch steigen der Lungengefäßwiderstand und damit der Druck im rechten Ventrikel an. übersteigt letzterer den linksventrikulären Druck, fließt das Blut von rechts nach links und führt dem großen Kreislauf ungesättigtes Blut zu. Der Patient wird zyanotisch. Diese Shuntumkehr wird als Eisenmenger-Reaktion bezeichnet.

Klinisch-pathologische Korrelationen Symptomatik und Prognose hängen von der Größe des Ventrikelseptumdefekts ab. 25–40% der Ventrikelseptumdefekte verschließen sich spontan, besonders die kleinen. Ein kleiner VSD geht mit normaler Lebenserwartung einher, große sollten früh erkannt und operativ verschlossen werden.

19.2.2

Venoarterielle Shuntvitien

Man unterscheidet zwischen venoarteriellen Shuntvitien mit vermehrter (Transposition der großen Arterien) und Vitien mit verminderter Lungendurchblutung (FallotTetralogie).

Transposition der großen Arterien Definition Bei der kompletten, nicht korrigierten Transposition der großen Arterien (TGA) ist die normale posteriore und inferiore Position der Aorta in Relation zur Pulmonalarterie vertauscht in eine anteriore Position, indem die Aorta aus dem rechten und die Pulmonalarterie aus dem linken Ventrikel entspringt. Da die Aorta rechts vom Truncus pulmonalis liegt, bezeichnet man diese Transposition als dextro(D)Transposition (Abb. 19-5 und 19-6). Transpositionen der großen Arterien machen 6% der Herzvitien aus.

Pathogenese Durch die Transposition der großen Arterien werden beide Kreisläufe parallel geschaltet. Das systemisch-venöse Blut rezirkuliert über den rechten Vorhof und rechten Ventrikel über die Aorta in den systemischen Kreislauf. Das pulmonalvenöse Blut kehrt in den linken Vorhof und linken Ventrikel zurück und rezirkuliert über die Pulmonalarterie in die Lungen. Somit entstehen separierte Kreisläufe. Damit dieser Zustand mit dem Leben vereinbar ist, müssen Austauschmöglichkeiten zwischen beiden Kreisläufen bestehen, entweder durch ein offenes Foramen ovale, durch einen ASD, einen VSD oder über den Ductus arteriosus Botalli.

Klinisch-pathologische Korrelationen Patienten mit einer kompletten typischen D-Transposition sind nur lebensfähig, solange ein Shunt besteht. Bis zur Geburt fließt ein ausreichendes Shuntvolumen durch das Foramen ovale und den Ductus arteriosus Botalli. Probleme treten auf, wenn sich nach der Geburt beide Verbindungen schließen und keine weiteren Shunts vorhanden sind. 40% der Betroffenen haben zusätzlich einen Ventrikelseptumdefekt. Während ein isolierter großer Ventrikelseptumdefekt ein lebensbedrohliches Vitium darstellt, ist der gleiche Defekt bei der TGA lebensrettend. Fehlt ein Shunt, muss notfallmäßig eine Atrioseptostomie mit einem Ballonkatheter durchgeführt werden, gefolgt von einer arteriellen Switchoperation. Wegen der frühen Manifestation einer pulmonalen Hyperperfusion, im Röntgenbild erkennbar an einer von hilär nach peripher fortschreitenden besenreiserartigen Zeichnungsvermehrung der Pulmonalgefäße, bedürfen auch Patienten mit totaler Lungenvenenfehleinmündung der Korrektur im Neugeborenen- oder frühen Säuglingsalter.

Fallot-Tetralogie Definition Die Fallot-Tetralogie umfasst folgende 4 Veränderungen: ■ Ventrikelseptumdefekt ■ Pulmonalstenose (sowohl infundibulär, valvulär als auch supravalvulär möglich) ■ Dextroposition der Aorta, wobei sie über dem Ventrikelseptumdefekt reitet ■ Rechtsherzhypertrophie (Abb. 19-7). Die Fallot-Tetralogie ist die häufigste Form der zyanotischen kongenitalen Herzfehlbildungen. Die Schwere der Symptome ist vom Grad der Pulmonalstenose abhängig. In 20% findet sich zusätzlich ein Vorhofseptumdefekt (FallotPentalogie), in 20% ein rechtsseitiger Aortenbogen oder ein fehlender Ductus arteriosus Botalli.

Abb. 19-5

Transposition der großen Arterien (TGA).

Die TGA ist im Vergleich zum Normalherzen in der Klappenebene und in der Aufsicht von vorn dargestellt. a Normalherz in der Klappenebene. Zwischen der Aorten- und der Mitralklappe besteht eine direkte bindegewebige Kontinuität. Ventral und links liegt normalerweise die A. pulmonalis mit dem muskulären Conus pulmonalis, dorsal und rechts die Trikuspidalklappe. Von der Aorta gehen die A. coronaria sinistra und die A. coronaria dextra ab. M = Mitralklappe, T = Trikuspidalklappe, A = Aortenklappe, P = Truncus pulmonalis, A.c.s. = A. coronaria sinistra, A.c.d. = A. coronaria dextra. b Transposition der großen Arterien in der Klappenebene. Der Truncus pulmonalis nimmt den Platz ein, den im Normalherzen die Aorta innehat; er steht in bindegewebiger Kontinuität mit der Mitralklappe. Die Aorta liegt dagegen ventral und rechts vor der Pulmonalis (daher: D-Transposition) und hat einen muskulären ventrikulären Konus.

c Normalherz in der Aufsicht von vorn. Die Lagebeziehung der großen Arterien ist schematisch dargestellt. d Transposition der großen Arterien in der Aufsicht von vorn. Bei der DTransposition liegt die Aorta ventral und rechts vom Truncus pulmonalis und hat einen muskulären Konus.

Pathogenese Die pathophysiologischen Auswirkungen resultieren vor allem aus der infundibulären Pulmonalstenose sowie dem Rechts-links-Shunt mit Zyanose, die bei den Kindern normalerweise in den ersten 6 Lebensmonaten auftritt. Die rechtsventrikuläre Hypertrophie ist ein Zeichen der Myokardreaktion auf die Druck- und Volumenbelastung durch die Pulmonalstenose und den Shunt (Abb. 19-7). Bei einzelnen Patienten mit Fallot-Tetralogie ist die Aorta so weit dextroponiert, dass beide großen Arterien dem rechten Ventrikel entspringen (double outlet right ventricle).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die Kinder entwickeln innerhalb der ersten 6 Lebensmonate eine Zyanose mit generalisierter Hypoxämie. Der verminderte Blutfluss in den Pulmonalgefäßen zeigt sich radiologisch in einer verminderten Gefäßzeichnung. Palliative Operationstechniken (aortopulmonale Anastomose, Waterston-Anastomose zwischen rechter A. pulmonalis und Aorta ascendens oder eine Blalock-TaussigAnastomose zwischen der linken A. subclavia und den Pulmonalarterien) können vor einer definitiven Korrekturoperation durchgeführt werden. Wegen der höheren kumulativen Sterblichkeit des zweizeitigen Vorgehens tendiert man heute an vielen Zentren zur elektiven Frühkorrektur.

Abb. 19-6

Herzbasis bei D-Transposition

(siehe auch Abb. 19-5). RA = rechter Vorhof, LA = linker Vorhof, A = Aorta, P = Truncus pulmonalis.

19.2.3

Obstruktive Erkrankungen

Hypoplastisches Linksherzsyndrom Es gibt zwei Formen von hypoplastischem Linksherzsyndrom: ■

hypoplastischer linker Ventrikel mit Mitral- und Aortenatresie,



hypoplastischer linker Ventrikel mit Mitralstenose und Endokardfibroelastose.

Beim hypoplastischen Linksherzsyndrom sind der linke Ventrikel und die aszendierende Aorta unterentwickelt, die systemische Durchblutung erfolgt über einen persistierenden Ductus arteriosus Botalli (Abb. 19-8).

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Kinder zeigen nach der Geburt eine auffallende Blässe, Blutdruck und Puls fehlen. Das hypoplastische Linksherzsyndrom ist häufig mit einem vorzeitigen Verschluss des Foramen ovale kombiniert. Shuntoperationen (Norwood-Operation) mit End-zu-SeitAnastomose zwischen A. pulmonalis und Aorta mit Anlage eines zentralen Shunts sind möglich.

Abb. 19-7

Fallot-Tetralogie.

a Normalherz im Frontalschnitt. Der obere Teil des Ventrikelseptums wurde herausgeschnitten. Die normal gelegene Aorta „reitetӍ über diesem Defekt (Kreis), weil die Ausflussbahn in die Aorta in einem Bajonettknick verläuft. Eingezeichnet sind die linksventrikuläre Einflussbahn (Doppelpfeil) und Ausflussbahn (Pfeil). Sternchen = hinterer Papillarmuskel, Doppelsternchen = vorderer Papillarmuskel, RV = rechter Ventrikel. Der blaue Farbstoff wurde für diagnostische Zwecke injiziert. b Frontalschnitt durch ein Herz mit einer Fallot-Tetralogie. Man blickt auf den perimembranösen Defekt (Doppelpfeile im Kreis) mit der darüber „reitendenӍ Aorta. Beachte im vorliegenden Fall die ausgeprägte exzentrische Rechtsherzhypertrophie (Pfeile). Doppelsternchen = vorderer Papillarmuskel, RV = rechter Ventrikel, LV = linker Ventrikel.

Abb. 19-8

Linksventrikuläre Hypoplasie.

Frontalschnitt durch das Herz mit Blick auf die dorsale Herzhälfte. Linker Vorhof (LA) und linker Ventrikel (LV) sind hypoplastisch, das linksventrikuläre Myokard allerdings stark hypertroph. Es besteht ein Missverhältnis zwischen der Größe der linken und der rechten Kammer. Der rechte Ventrikel (RV) bildet allein die Herzspitze. RA = rechter Vorhof.

Aortenisthmusstenose Syn.: Koarktation der Aorta Nach der Lokalisation unterscheidet man zwei Formen: ■ Präduktale Form (infantile Form): Hier findet sich eine tubuläre Hypoplasie des Aortenbogens. Sie kommt als Folge eines verminderten Blutflusses in der Fetalperiode über die Aorta ascendens zustande (Abb. 19-9). ■ Postduktale Form (adulte Form): Hier liegt die Stenose distal der Mündung des Ductus arteriosus Botalli (Abb. 19-10).

Abb. 19-9

Präduktale Aortenisthmusstenose.

Unmittelbar vor der Einmündung des Ductus arteriosus Botalli (4 Pfeile) in die Aorta findet sich eine Einengung (Doppelpfeil), die zu einem Druckgradienten führt. Postduktal ist die Aorta weit. Aa = Aorta ascendens, Ap = A. pulmonalis, Tb = Truncus brachiocephalicus, Ad = Aorta descendens, Ac = A. carotis communis sinistra, As = A. subclavia sinistra. Die pathophysiologischen Folgen betreffen zum einen das Myokard, zum anderen die Blutversorgung der unteren Körperhälfte: Die linke Kammer hat eine vermehrte Druckarbeit zu leisten und hypertrophiert konzentrisch auf Kosten der Lichtung. Zudem wird ihre Innenschicht bei relativer Koronarinsuffizienz durch Innenschichtnekrosen zunehmend fibrosiert. Die interstitielle Fibrose behindert die Kontraktilität des Myokards mit konsekutiver Hypertrophie. Die Aortenstenose erschwert den Blutzustrom zur unteren Körperhälfte. Für die Prognose der Isthmusstenose ist deshalb die Entstehung von Kollateralen von Bedeutung. Bei der postduktalen Form besteht das Problem der Versorgung der unteren Körperhälfte bereits vor der Geburt (Abb. 19-10).

Kollateralwege werden daher bereits pränatal, vor allem über die A. thoracica interna und die Aa. intercostales, ausgebildet. Bei der präduktalen Stenose erhält die obere Körperhälfte in der pränatalen Lebensphase ihr Blut über den Aortenbogen, die untere über den Ductus arteriosus Botalli. Erst bei Verschluss des Ductus arteriosus Botalli nach der Geburt wird die Stenose daher funktionell bedeutungsvoll.

Abb. 19-10

Postduktale Aortenisthmusstenose.

Die Stenose liegt distal der Mündung des Ductus arteriosus Botalli. Diese Stenose ist im Gegensatz zur präduktalen Stenose bereits im Fetalleben wirksam und verursacht somit Kollateralkreisläufe, vor allem über die A. thoracica interna und die Aa. intercostales.

Klinisch-pathologische Korrelationen Patienten mit einer postduktalen Aortenisthmusstenose haben bei gleich schwerer Stenose eine bessere überlebenschance als Patienten mit einer präduktalen Stenose. Symptome bei der adulten (postduktalen) Form entwickeln sich erst im Jugendlichenoder Erwachsenenalter. Bei beiden Formen sind die Femoralispulse schwach oder fehlen, der Blutdruck ist in den oberen Extremitäten hoch und in den unteren Extremitäten vermindert. Beim Turner-Syndrom (Monosomie X, Tab. 19-2) ist die Aortenisthmusstenose eine häufige kardiale Fehlbildung.

Kongenitale Stenosen der Aorten- und Pulmonalklappe Kongenitale Stenosen der Aorten- oder Pulmonalklappen wirken sich auf das Myokard des linken oder rechten Ventrikels aus, in dem vermehrt Druckarbeit geleistet werden muss, und führen zu einer Hypertrophie des entsprechenden Ventrikels.

19.3

Pathologie des Reizleitungssystems

Durch das spezialisierte neuromyokardiale Reizleitungssystem wird über elektrophysiologische Mechanismen der Herzschlag ca. 100 000-mal pro Tag initiiert (Erregungsbildung) und in das Arbeitsmyokard weitergeleitet (Erregungsleitung), was in regelmäßigen rhythmischen Herzaktionen resultiert. Das Reizleitungssystem unterliegt der Kontrolle des vegetativen Nervensystems, funktioniert aber auch autonom, z.B. bei Zustand nach Herztransplantation. Mit dem Elektrokardiogramm (EKG) steht dem Kliniker eine elegante Untersuchungsmethode zur Verfügung, die Gesamtheit der elektrophysiologischen Vorgänge unter normalen oder krankhaften Bedingungen zu analysieren, z.B. Erregungsbildungs- bzw. Erregungsleitungsstörungen. Transiente Rhythmusstörungen können, müssen aber nicht in jedem Fall ein morphologisches Substrat haben, im Gegensatz zu permanenten Rhythmusstörungen, bei denen immer ein pathologischer Befund entweder im Reizleitungssystem oder im umgebenden Myokard zu finden ist (siehe Abb. 19-14). Pathologisch-anatomisch ist eine gezielte und aufwendige Untersuchung des gesamten Herzens erforderlich, um zumindest einige der klinisch manifesten oder vermuteten Störungen des Reizleitungssystems einem morphologisch fassbaren Substrat zuzuführen.

19.3.1

Erregungsbildungsstörung

Die Erregungsbildung geht vom 1–2 cm langen und 0,5 cm dicken Sinusknoten aus. Er liegt unmittelbar unter dem Epikard ventrolateral der Mündung der V. cava superior im rechten Vorhof, schmiegt sich in die Delle zwischen V. cava und Vorhof und umschlingt mit seinen Ausläufern etwa ein Viertel der Cava-Mündung. Im Zentrum des Knotens verläuft meist die Knotenarterie, von deren Adventitia kollagene und elastische Fasern allseits ausstrahlen und ein Maschenwerk bilden, in dessen Nischen die Schrittmacherzellen liegen (Abb. 19-11a). Da der Knoten unmittelbar subepikardial liegt, kann jeder Krankheitsprozess, der den Herzbeutel erreicht, auf den Knoten übergreifen und seine Funktion beeinträchtigen (Perikardkarzinose, Perikarditis). Die häufigste Erkrankung des Sinusknotens (SickSinus-Syndrom, SSS) besteht in einem überwiegen der Bindegewebsfasern im Verhältnis zu den Parenchymzellen (Abb. 19-11b). Teilweise liegt auch eine fibrolipomatöse Umwandlung vor, die Ursache ist unklar. Das SSS wird gehäuft diagnostiziert bei Hypertonus, koronarer Herzerkrankung, rheumatischer Herzerkrankung, bei verschiedenen Kardiomyopathien und kongenitalen Herzerkrankungen. Es tritt gehäuft im Alter auf und ist klinisch charakterisiert durch ein Bradykardie-Tachykardie-Syndrom.

19.3.2

Erregungsleitungsstörungen

Der Sinusknoten steht mit den Vorhofmuskelfasern in Kontakt. Die nächste morphologisch erkennbare Struktur des Erregungsleitungssystems ist der AV-Knoten.

Die vom Sinusknoten ausgehende Erregung erreicht den AV-Knoten über die Vorhofmuskulatur ohne morphologisch nachweisbare Bahnen.

Abb. 19-11

Der normale und der kranke Sinusknoten.

a Normaler Sinusknoten mit Knotenarterie. In einem Maschenwerk aus Kollagenfasern (rot) liegen Schrittmacherzellen (gelb, Pfeile). Sternchen = Knotenarterie. b Sick-Sinus-Syndrom (SSS). Der kranke unterscheidet sich vom normalen Sinusknoten durch einen hohen Gehalt an Kollagenfasern (rot). Van Gieson, Vergr. 50fach.

AV-Knoten Der AV-Knoten liegt im Vorhofseptum, subendokardial dextroventral des Sinus coronarius, zwischen der Fossa ovalis und dem Ansatz des septalen Trikuspidalsegels. Er sitzt dem Herzgerüst auf und besteht aus schlanken, scheinbar wirr angeordneten Muskelfasern. Er wird durch die Nodalarterie versorgt, die aus der rechten Koronararterie entspringt und den Knoten über das hintere Vorhofseptum erreicht. Im AV-Knoten ist ein seltener benigner Tumor beschrieben worden, das AVMesotheliom, der bereits bei jungen Patienten zum kompletten AV-Block und plötzlichen Herztod führen kann (Abb. 19-12).

His-Bündel Abb. 19-12

AV-Mesotheliom (AVM)

mit Infiltration des Septum interventriculare (Si), speziell der Pars membranacea (Pm). HE, Vergr. 10fach. Inset: Destruktion des His-Bündels durch Zytokeratinpositive Tumorzellen (Vergr. 120fach). Der AV-Knoten geht in das His-Bündel über (Abb. 19-13). Im Anfangsteil des Bündels unterscheiden sich die spezifischen Fasern weder in der Größe noch in der Anordnung von denen des Knotens; distalwärts ordnen sie sich parallel zur Längsachse des Bündels an. Dieser Teil des Erregungsleitungssystems ist morphologisch am leichtesten erkennbar. Die empfindlichste Stelle ist der Endbereich des His-Bündels. Hier konzentriert sich die Leitungsstruktur auf kleinstem Raum (das penetrierende Bündel hat einen Durchmesser von 1–2 mm). Gleichzeitig finden sich distal des Bündels nur noch wenige Ersatzschrittmacherzellen, die bei einer Unterbrechung geeignet sind, einen Ersatzrhythmus zu generieren. Nicht selten ist daher der plötzliche Tod durch Asystolie das erste Zeichen einer Schädigung des HisBündels.

Abb. 19-13

His-Bündel.

Der Anfangsteil des His-Bündels (Pfeile) ist allseits von kollagenem Bindegewebe (rot) des Herzgerüstes eingeschlossen. Van Gieson, Vergr. 25fach.

Die morphologischen Veränderungen des His-Bündels resultieren überwiegend aus von benachbarten Strukturen ausgehenden Schädigungen (Abb. 19-14):

Ventrikelseptum Eine besonders bei älteren Patienten vulnerable Struktur ist die Kuppe des Ventrikelseptums, bedingt durch eine mit dem Alter zunehmende Sklerosierung des Endomyokards, die klinisch zur Entwicklung eines kompletten oder inkompletten AV-Blocks führen kann.

Klappenerkrankungen Eine Aortenklappenendokarditis kann auf das Herzskelett übergreifen und das HisBündel zerstören. Bei älteren Patienten verkalken häufig die Basen der Aortenklappe und des Mitralanulus. Diese degenerativen Verkalkungen greifen auf den fibrösen Raum des His-Bündels über und führen zur Druckatrophie reizleitender Fasern (Abb. 19-15). Beim Mitralklappenprolaps (siehe Kap. 19.4.2) lassen sich in allen Abschnitten des Reizleitungssystems gehäuft degenerative Veränderungen (Verfettung, Fibrose) nachweisen, die zu plötzlich auftretenden, zum Teil tödlich endenden Rhythmusstörungen führen können.

Operationen Die Nachbarschaft des His-Bündels zum Septum membranaceum birgt die Gefahr, dass der Chirurg das Bündel verletzt, wenn er einen perimembranösen Ventrikelseptumdefekt verschließt.

Myokarderkrankungen Selbstverständlich können jede Form einer Myokarditis (siehe Kap. 19.6.3) und ein Großteil der primären und spezifischen (sekundären) Kardiomyopathien (siehe Kap. 19.6.1 und 19.6.2) das Erregungsleitungssystem funktionell und morphologisch beeinträchtigen; ebenso bestimmte Systemerkrankungen, z.B. primäre Vaskulitiden, Sarkoidose, Amyloidose und Hämochromatose. Atherosklerotisch bedingte Stenosen und Verschlüsse im proximalen Ramus interventricularis anterior können umschriebene ischämische Läsionen mit umschriebenen Nekrosen des His-Bündels auslösen. Hierdurch kommt es zur Unterbrechung der AV-überleitung.

Idiopathisch Gelegentlich fehlen im Endteil des Bündels, vor allem im Wurzelgebiet des linken Schenkels, spezifische Fasern, oder sie sind auf eigentümliche Weise fadenförmig atrophiert, ohne dass die Ursache erkennbar wäre. Man spricht dann von einem

idiopathischen AV-Block. In seltenen Fällen beobachtet man diese Veränderung bei jungen, scheinbar gesunden Menschen, die plötzlich und unerwartet tot zusammenbrechen.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die Erfahrung zeigt, dass die AV-überleitung gestört ist, wenn bei einem Patienten die Hälfte oder mehr der normalerweise vorhandenen spezifischen Fasern im HisBündel fehlen. Die umgekehrte Schlussfolgerung gilt aber nicht zwangsläufig: Bei einem Patienten mit AV-Block kann die Struktur intakt sein (bei Elektrolytstörungen oder einer medikamentösen Hemmung der Leitfähigkeit). Weniger folgenschwer als der AV-Block sind Ausfälle in den Schenkeln des Erregungsleitungssystems (Schenkelblock). Da der linke Schenkel unmittelbar subendokardial verläuft, kann auch er fibrosieren, wenn das Endokard sich fibrös verdickt, z.B. bei der dilatativen Kardiomyopathie. In höherem Lebensalter kommt es gehäuft zu Rhythmusstörungen (Vorhofflattern, Vorhofflimmern), die durch eine im Alter zunehmende physiologische Verfettung von Sinus- und AV-Knoten verursacht werden. Man behandelt sie entweder medikamentös oder durch Schrittmacherimplantat. Zu erwähnen ist noch die arrhythmogene rechtsventrikuläre Kardiomyopathie (ARVCM) (siehe Kap. 19.6.1). Klinisch imponieren komplexe Rhythmusstörungen, die letal verlaufen können. Die Beziehung dieser Erkrankung zum Reizleitungssystem ist unklar.

Erregungsleitung über akzessorische Bündel Normalerweise ist das His-Bündel die einzige leitende Verbindung zwischen den Vorhöfen und den Kammern (Abb. 19-16a). Kollagenes Binde- und Fettgewebe im Sulcus atrioventricularis verhindert, dass die Erregung vom Vorhof direkt auf das Ventrikelmyokard überspringt. In frühen Stadien der Herzentwicklung sind die Vorhöfe und die Kammern durch Herzmuskelfasern verbunden. Bleiben Reste dieser muskulären atrioventrikulären Verbindung erhalten (Kent-Bündel), können sie die Erregung fehlleiten. Neben einem Zuwenig (Abb. 19-16b) kann auch ein Zuviel (Abb. 19-16c) an leitendem Gewebe zwischen den Vorhöfen und den Kammern tödliche Rhythmusstörungen nach sich ziehen.

Abb. 19-14 Bedrohung des Erregungsleitungssystems durch Krankheitsprozesse benachbarter Strukturen.

Die empfindlichste Stelle ist das His-Bündel, vor allem im Endbereich. Aus dem Zuviel an leitendem Gewebe resultieren in einigen Fällen hochfrequente Kammertachykardien, die tödlich enden. Zu diesem Krankheitsbild gehört das Präexzitationssyndrom oder Wolff-Parkinson-White-Syndrom (WPW). Durch Serienschnitte der AV-Region lassen sich akzessorische Bündel nachweisen (Abb. 1917).

19.3.3

Molekulare Pathologie

Beim familiären Wolff-Parkinson-White-Syndrom wurde kürzlich eine MissenseMutation in Chromosom 7q34-36 identifiziert, die für die γ2-regulatorische Untereinheit der AMP-aktivierenden Proteinkinase (PRKAG 2) kodiert. Für das dominant vererbliche Long-QT-Syndrom, das durch eine im EKG nachweisbare Verlängerung der QT-Zeit und durch rezidivierende Synkopen charakterisiert ist, wurden durch

Kopplungsanalysen 4 chromosomale Alterationen (11p15.5, 7q35-36, 3p21-24, 4q2527) lokalisiert, die mit Störungen des Kalium- und Natriumkanalsystems im Myokard vergesellschaftet sind. Gezieltes molekulargenetisches Screening von Familien mit dem gehäuft in Japan und Thailand auftretenden Brugada-Syndrom, das klinisch durch ein meist nächtlich auftretendes, gehäuft tödlich verlaufendes Kammerflimmern charakterisiert ist, deckte bestimmte Mutationen im Gen SCN5A auf, das für eine porenformende α-Subeinheit des kardialen Natriumkanals kodiert.

Abb. 19-15 Region.

Histologischer Schnitt durch die AV-

Kalkmassen im Herzskelett komprimieren das His-Bündel (His, Pfeile), wodurch es zu einem AV-Block kommen kann. Van Gieson, Vergr. 25fach.

19.4 Endokard Abb. 19-16 Schematische Zusammenfassung der Pathologie des Erregungsleitungssystems.

a Normales His-Bündel. Es stellt die einzige erregungsleitende Struktur zwischen Vorhof und Kammer dar. b Zu wenig leitendes Gewebe. Fehlt dem His-Bündel (vor allem in seinem Endteil) mehr als die Hälfte der Fasern, ist die AV-überleitung gestört (AV-Block). c Zu viel leitendes Gewebe. Neben dem His-Bündel verbindet ein akzessorisches Bündel Vorhof und Kammer; es schafft die Voraussetzung für eine ReentryTachykardie (Präexzitationssyndrom, Wolff-Parkinson-White-Syndrom).

Abb. 19-17

Wolff-Parkinson-White-Syndrom.

Akzessorisches Bündel des rechten Ventrikels im subepikardialen Fettgewebe (F) des Sulcus atrioventricularis.

Bei diesem 25-jährigen Bauarbeiter war ein WPW-Syndrom elektrokardiographisch nachgewiesen worden. Er verstarb akut im Rahmen einer körperlichen Anstrengung. Aufgrund des kurz vor seinem Tod erstellten Elektrokardiogramms gelingt es, das verantwortliche akzessorische Bündel (Sternchen) zwischen der Seitenwand des rechten Ventrikels und dem rechten Vorhof nachzuweisen. In anderen Fällen finden wir pathologische Verbindungen in unmittelbarer Nähe des Erregungsleitungssystems. Doppelsternchen = Trikuspidalklappe, RV = Lumen des rechten Ventrikels, RA = Lumen des rechten Vorhofs. Van Gieson, Vergr. 25fach. Das Endokard überzieht als glatte Innenhaut die gesamte innere Oberfläche des Herzens. Es lässt folgende Schichtung erkennen: Zum Lumen hin wird es von einem einfachen, flachen Endothel bekleidet. Dieses liegt auf einer Basallamina. Danach folgt eine subendotheliale Schicht, die aus lockerem Bindegewebe mit einigen Fibroblasten und spärlichen Kollagenfibrillen besteht. Anschließend folgt eine myoelastische Schicht aus dichtem kollagenem Bindegewebe und elastischen Lamellen sowie einzelnen eingestreuten glatten Muskelzellen. Die letzte subendokardiale Schicht aus lockerem Bindegewebe hat unmittelbaren Anschluss an das Endomysium des Myokards. Alle Herzklappen werden von Endokard überkleidet. Die Atrioventrikularklappen sind membranöse Segel, die im Anulus fibrosus verankert sind. Die Klappen sind mit den Papillarmuskeln durch die Chordae tendineae verbunden. Die Atrioventrikularklappen enthalten auch unter normalen Bedingungen einige Herzmuskelfasern, Nerven und kleine begleitende Blutgefäße. Die Semilunarklappen von Aorta und Truncus pulmonalis sind gefäßfrei. Krankheitsrelevant sind die interstitiellen und endothelialen Zellen der Herzklappen. Die interstitiellen Bindegewebezellen zeigen phänotypische und funktionelle Eigenschaften von Fibroblasten, glatten Muskelzellen und Myofibroblasten, die insgesamt verantwortlich sind für die Synthese von kollagenen Fasern sowie die Bildung und Homöostase der interzellulären Matrix. Die kollagenen Fasern, die radial von elastischen Fasern umrandet werden, sind verantwortlich für die strukturelle Integrität der Herzklappen, die interzelluläre Grundsubstanz sorgt für die Gleitfähigkeit der Herzklappen. Die auf der Oberfläche der Herzklappen lokalisierten Endothelien unterscheiden sich von den üblichen Gefäßendothelien funktionell dadurch, dass sie auf Noxen anders reagieren, wahrscheinlich durch eine differente Genexpression bedingt.

19.4.1

Endokarditis

Definition Unter einer Endokarditis versteht man eine Entzündung des Endokards. Nach der Lokalisation unterscheidet man die Entzündung der Klappen (Endocarditis valvularis) und die des parietalen Endokards (Endocarditis parietalis).

Ätiologie Man unterscheidet infektiöse von nichtinfektiösen Endokarditiden.

Pathogenese

Von besonderer klinischer Bedeutung sind vor allem die Entzündungen der Herzklappen, da diese zu Störungen der hämodynamischen Klappenfunktion führen können. Die Klappen des linken Herzens sind wesentlich häufiger betroffen als die des rechten. Wahrscheinlicher Grund ist ihre erheblich höhere funktionelle Belastung. Abhängig von der auslösenden Noxe spielen sich die primär pathogenetisch relevanten Veränderungen entweder im Klappenstroma (z.B. rheumatisches Fieber) und/oder im Endothelzellbelag ab (z.B. infektiöse Endokarditis). Bei fortgeschrittenen Krankheitsstadien wird die gesamte Klappe in den Entzündungsprozess einbezogen. Wird die Flächenreserve einer Herzklappe, die normalerweise bis 80% betragen kann und die für den Schließungsprozess essentiell ist, über den kritischen Punkt reduziert, kommt es zur Klappeninsuffizienz.

Nichtinfektiöse Endokarditiden Endocarditis verrucosa rheumatica Die Endocarditis verrucosa rheumatica war in der präantibiotischen ära die häufigste und wichtigste Form der nichtinfektiösen Endokarditis. Es handelt sich hierbei um eine Teilkomponente des akuten rheumatischen Fiebers, das sich klinisch und pathologisch-anatomisch als Pankarditis, Polyarthritis der großen Gelenke mit wanderndem Befall, als kutane Hauteffloreszenzen (Erythema marginatum) und neurologisch als Chorea minor dokumentiert. Sie ist selten geworden; gefürchtet sind jedoch die postinflammatorischen Komplikationen, insbesondere sekundäre Herzklappenveränderungen, z.B. die postrheumatische Mitralklappenstenose.

Definition Das akute rheumatische Fieber ist eine immunologisch vermittelte entzündliche Systemerkrankung. Sie tritt etwa 2–3 Wochen nach einem antibiotisch nicht behandelten Infekt mit β-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe A bei ca. 3% der Patienten auf.

Pathogenese Die exakte Pathogenese ist unklar, man vermutet eine Hypersensitivitätsreaktion gegenüber Zellwandbestandteilen von Gruppe-A-Streptokokken. Zusätzlich spielen mit großer Wahrscheinlichkeit auch Autoimmunreaktionen eine Rolle, da Antikörper gegen bestimmte typenspezifische M-Proteine und gruppenspezifische

Karbohydrate der Gruppe-A-Streptokokken mit Glykoproteinen in Herz, Gelenken und neuronalen Strukturen kreuzreagieren.

Morphologie Morphologisch werden 3 Krankheitsphasen unterschieden: ■ In der exsudativen Frühphase (rheumatisches Frühinfiltrat) kommt es 2–3 Wochen nach dem Streptokokkeninfekt (meist Pharyngitis, seltener Scharlach) zu einer entzündlichen Reaktion, die mit einer degenerativen Schädigung des kollagenen Bindegewebes und Veränderungen der interzellulären Grundsubstanz einhergeht, teilweise unter dem Bild einer fibrinoiden Nekrose. Gleichzeitig bilden sich im Bereich der Herzklappen, speziell an den Mitralklappen, oberflächliche Thromben aus – of-fensichtlich verursacht durch eine entzündungsbedingte Exulzeration des Endothels, v.a. am Schließungsrand. Der makroskopische Aspekt entspricht einer verrukösen Endokarditis (Abb. 19-18a, b). ■ In der 3.–8. Woche entwickelt sich die eigentliche zelluläre Reaktion (proliferative Phase) mit dem histologischen Bild von sog. Aschoff-GeipelKnötchen (rheumatisches Granulom). Sie bilden sich v.a. im Interstitium des Myokards häufig perivaskulär aus (Abb. 19-18c). Die zentrale fibrinoide Nekrose wird von T-Lymphozyten, Plasmazellen, großen basophilen histiozytären Zellen (Anitschkow-Zellen) und mehrkernigen Riesenzellen (Aschoff-Zellen) umrandet. Diese rheumatischen Granulome persistieren in der Regel 3–6 Monate. ■ Nach Abklingen der entzündlichen Reaktion kommt es zur Abräumung des fibrinoiden nekrotischen Materials, begleitet von einem fibroblastenreichen Granulationsgewebe mit Ausbildung kollagener Fasern, die im Sinne einer Defektheilung aus dem zellreichen Rheumagranulom die rheumatische Narbe entstehen lassen. Abhängig vom Ausmaß der entzündlichen Veränderungen und/oder bei rezidivierenden Krankheitsschüben kommt es im Rahmen der Narbenbildung zunächst zu einer Verdickung, später zu einer Verkürzung und/oder Verwachsungen, speziell im Kommissurenbereich der Herzklappen und häufig unter Einbezug von Sehnenfäden. Der Vernarbungsprozess wird durch rezidivierende Mikrothromben auf der Klappenoberfläche verstärkt, die durch vernarbendes Granulationsgewebe resorbiert werden. Hauptmanifestationen dieser postrheumatischen Klappenveränderungen sind die Mitralklappe (65–70%) und die Aortenklappe (25%).

Abb. 19-18 Verruköse Endokarditis der Mitralklappe.

a Makroskopie. Kleine warzenförmige thrombotische Auflagerungen im Bereich des Klappenschließungsrandes (Pfeile). b Histologie. Verruköser Fibrinplättchenthrombus am Klappenschließungsrand (Pfeile). c Florides rheumatisches Granulom im Myokard mit zahlreichen AnitschkowZellen (Sterne) und Aschoff-Riesenzellen (Pfeil). HE, Vergr. 120fach.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Symptome der akuten rheumatischen Karditis können ähnlich wie bei der Virusmyokarditis (siehe Kap. 19.6.3) sehr wechselvoll sein, wobei extrakardiale Manifestationen (Gelenke, Haut, ZNS) mit berücksichtigt werden sollten. Pathologische Auskultationsbefunde könnten auf eine Endocarditis rheumatica verrucosa oder auf eine rheumatische Perikarditis (Perikardreiben) hinweisen, Rhythmusstörungen deuten auf eine Beteiligung des Reizleitungssystems hin. Tödliche Verläufe in der akuten Phase haben sich in den letzten 40 Jahren von ca. 20 auf ca. 2% vermindert. Die Spätprognose hängt in erster Linie davon ab, ob ein Klappenfehler entsteht oder nicht. Bei zwei oder mehr Rückfällen steigt das Risiko für einen erworbenen Klappenfehler, insbesondere eine Mitralklappenstenose, auf bis zu 90%. Bei 95% der Patienten mit erworbener Mitralklappenstenose wird ein akutes rheumatisches Fieber ätiologisch und pathogenetisch verantwortlich gemacht. Bevor es jedoch zur klinisch manifesten Symptomatik eines postrheumatischen Klappenfehlers kommt, vergehen in der Regel Jahre, meist 2–3 Jahrzehnte.

Endocarditis thrombotica Die Endocarditis thrombotica wird bei fast 2% aller Autopsien im Erwachsenenalter gefunden. Sie kommt bei Krankheiten mit starker Auszehrung wie malignen Neoplasien, lang dauernder Urämie oder allgemeinem Marasmus vor (so genannte Endocarditis marantica). Die Pathogenese ist unklar. Morphologisch finden sich zunächst bis 1 mm große warzenförmige Auflagerungen (Abb. 19-19), die durch sekundäre Thrombusbildung erheblich größer werden können. Sie sind bevorzugt an den Schließungsrändern der Mitral- und Aortenklappe lokalisiert. Die klinischpathologische Korrelation ist unklar, selten können sie jedoch Quellen arterieller Embolien darstellen.

Endocarditis thrombotica Libman-Sacks Die Endocarditis thrombotica Libman-Sacks findet sich vor allem beim systemischen Lupus erythematodes (SLE), aber auch bei anderen sog. Kollagenkrankheiten.

Abb. 19-19 Endocarditis thrombotica der Aortenklappe.

Wärzchenartige Auflagerungen auf dem Schließungsrand der Aortenklappe (Pfeile).

Morphologie Größere Verrucae bilden sich am Klappenansatz, bevorzugt der Mitral- und Trikuspidalklappe, und am parietalen Endokard des linken Ventrikels.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die endokardiale Beteiligung ist eine schwerwiegende Komplikation des SLE, weil der entzündliche Prozess zu ausgeprägten hämodynamisch wirksamen Klappenveränderungen führen kann (Aorten- und Mitralklappeninsuffizienz), die manchmal chirurgisch behandelt werden müssen.

Endokarditis beim Karzinoidsyndrom Beim Karzinoidsyndrom, besonders beim neuroendokrinen Karzinom des Dünndarms mit Lebermetastasen, können schwere fibrosierende Endokarditiden entstehen, die sich ausschließlich im rechten Ventrikel abspielen und die Trikuspidal- und Pulmonalklappe befallen.

Pathogenese

Der Pathomechanismus der Endokardveränderungen ist bislang noch nicht im Einzelnen geklärt. Diskutiert wird ein Einfluss von Serotonin, Bradykinin, Neuropeptid K, Substanz P und atrialem natriuretischem Faktor (ANF).

Morphologie Knorpelartige Verdickungen des Endokards treten v.a. an der Pulmonal-, seltener an der Trikuspidalklappe auf. Folgeveränderungen sind eine Pulmonal- und/oder eine Trikuspidalinsuffizienz mit einer allgemeinen Blutstauung im großen Kreislauf.

Endocarditis parietalis fibroplastica Löffler Die Endocarditis parietalis fibroplastica Löffler ist eine Endomyokarditis, die im Gegensatz zur Mehrzahl der Endokarditiden nicht das valvuläre, sondern das parietale Endokard und das Myokard beider Ventrikel befällt. Sie wird deshalb heute als Sonderform einer restriktiven Kardiomyopathie (siehe Kap. 19.6.1) eingruppiert. Diese in gemäßigten Klimazonen selten auftretende Erkrankung ist klinisch durch eine verminderte Ventrikelfüllung bei normaler systolischer Funktion und deutlicher Dilatation beider Vorhöfe charakterisiert.

Pathogenese ätiologie und Pathogenese sind unbekannt. Häufig zeigen die Betroffenen eine Bluteosinophilie, die ein allergisch-hyperergisches Geschehen vermuten lässt.

Morphologie Im Initialstadium steht eine Endomyokarditis mit eosinophiler Granulozytose des parietalen Endokards und des Myokards im Vordergrund. Diese führt über Thrombenbildung mit konsekutiver Organisation zu einer diffusen Endomyokardfibrose (Abb. 19-20a, b). Sie beginnt meist im Spitzenbereich der Ventrikel und führt zu einer Lichtungseinengung, kann aber auch auf die Vorhofklappen und beide Vorhöfe übergreifen. Die Fibrose führt zu einer zunehmenden Beeinträchtigung der Ventrikelaktion (restriktive Kardiomyopathie).

Klinisch-pathologische Korrelationen Klinisch treten Zeichen einer Links- oder Rechtsherzinsuffizienz auf, die differentialdiagnostisch eine Abgrenzung von anderen Kardiomyopathien notwendig macht. Bei isolierten parietalen Thrombosen muss ein primärer oder sekundärer Herztumor ausgeschlossen werden. Die Diagnose wird durch eine Endomyokardbiopsie gesichert.

Infektiöse Endokarditis Akute infektiöse Endokarditis Herzklappenentzündungen, die durch Bakterien oder andere Mikroorganismen hervorgerufen werden, können in kurzer Zeit zu schweren Klappenschädigungen mit folgender Klappeninsuffizienz führen. Durch ihre Auswirkungen auf den Kreislauf und die extrakardialen Organe stellt die infektiöse Endokarditis häufig eine systemische Krankheit dar.

Ätiologie Infektionserreger sind meist pyogene Bakterien wie Streptokokken, Staphylococcus aureus, Pneumokokken und Enterokokken sowie selten auch Pilze (Candida, Aspergillus) und Rickettsien. Pilzendokarditiden werden infolge der Antibiotikatherapie der bakteriellen Endokarditiden in letzter Zeit vermehrt diagnostiziert.

Pathogenese

Klappenschäden mit Fibrinplättchenthromben, sog. nichtbakterielle thrombotische Vegetationen (NBTV), können im Rahmen einer Bakteriämie, die z.B. bei einem ärztlichen Eingriff oder bei der Infektion eines anderen Organs auftritt, infiziert werden. Diese infizierten Vegetationen bestehen aus thrombotischem Material und Bakterien und stellen eine permanente Streuquelle dar. Häufig gehen die thrombotischen Auflagerungen mit einer Klappendestruktion einher, die zu einer Insuffizienz führt. Aus dieser Pathogenese ergibt sich eine Reihe von prädisponierenden Faktoren. Hierzu gehören einige Erkrankungen, die die Infektionsresistenz herabsetzen, wie z.B. Diabetes mellitus, Leberzirrhose, Alkoholabusus, Virushepatitis, Verbrennungen und Immundefizite. Für die Lokalisation der Klappenschädigung sind mechanische und hämodynamische Faktoren (Bluthochdruck) mit verantwortlich. Hieraus ergeben sich die Prädilektionsstellen für eine derartige Endokarditis im Bereich der Schließungsränder der Aorten- und Mitralklappe

sowie der Chordae tendineae. Entsprechend sind lokal prädisponierende Faktoren Vorschäden der Herzklappen wie ■ vorangegangene Endocarditis rheumatica ■ Läsionen durch Katheter ■ angeborene Vitien ■ altersbedingte Klappenschäden ■ Randbereich von Kunstklappen. Voraussetzung für das Auftreten einer infektiösen Endokarditis ist das Eindringen der infektiösen Erreger in die Blutbahn. Eintrittspforten der Infektionserreger sind: ■ Infektionen im Bereich der Zähne und der Tonsillen ■ invasive diagnostische Eingriffe (z.B. Venenkatheter) ■ bakterielle Organinfektionen, z.B. des Respirationstraktes oder des Gallenoder Harnsystems. Durch kontaminierte Kanülen verursachte infektiöse Endokarditiden werden vermehrt bei jüngeren drogenabhängigen Personen beobachtet (Staphylococcus epidermidis). Bei diesen Endokarditisformen sind insbesondere die Klappen des rechten Ventrikels beteiligt, und Pilzinfektionen treten gehäuft auf.

Abb. 19-20 Löffler.

Endocarditis parietalis fibroplastica

a Makroskopisches Bild. Der Blick in den rechten Ventrikel zeigt thrombotische Auflagerungen auf dem Endokard (Pfeil) und eine Endokardfibrose (Doppelpfeile). b Histologisches Bild. Entzündliches Exsudat im Myokard (M) mit zahlreichen eosinophilen Granulozyten (Pfeile). HE, Vergr. 120fach.

Morphologie Charakteristisch für die bakterielle Endokarditis sind Klappenulzerationen und bakteriell besie-delte Thromben, in denen sich unterschiedlich viele neutrophile segmentkernige Granulozyten finden. Sie wird daher auch als Endocarditis ulceropolyposa bezeichnet (Abb. 19-21). Die Thromben können den ganzen Schließungsrand einer Klappe umsäumen oder sich von der Aorten- und Mitralklappe auf das angrenzende parietale Endokard des linken Herzens ausdehnen. Bevorzugt breiten sich die Thromben von der Mitralklappe zur hinteren Wand des linken Vorhofs aus.

Klinisch-pathologische Korrelationen Das klinische Bild ist geprägt von:

■ Veränderungen an den Herzklappen. Der entzündliche Prozess verursacht eine Klappeninsuffizienz mit ihren hämodynamischen Komplikationen: In 50%

der Fälle resultiert aus der Volumenbelastung eine biventrikuläre Herzinsuffizienz. Häufig lässt sich ein Herzklappengeräusch nachweisen. ■ Systemische Auswirkungen. Der Kreislauf und extrakardiale Organe werden durch einen rezidivierenden septischen Schock (siehe Kap. 7.10) geschädigt. Typisch hierfür sind hohes Fieber und bei längerem Verlauf eine Anämie. Thrombembolien in das Gehirn, die Nieren und die Milz können zu weiteren Komplikationen mit neurologischer und/oder renaler Symptomatik führen. Die Nierenbeteiligung kann sich auch im Rahmen einer primären Glomerulonephritis mit Hämaturie manifestieren. Eine thrombembolische Hautbeteiligung kann sich in Form von Petechien, subungualen Blutungen oder Osler-Knötchen äußern. Eine Myokarditis kann z.B. durch Koronararterienembolien, bakterielle Toxine oder septische Abszesse entstehen. Eine Perikarditis, ein akuter Sehnenfadenabriss oder ein Ringabszess bei einer Aortenklappenendokarditis (AV-Block) können das klinische Bild weiter verschlechtern.

Subakute infektiöse Endokarditis Die subakute infektiöse Endokarditis wird wegen ihres schleichenden Verlaufs auch als Endocarditis lenta bezeichnet. Per definitionem spricht man von einer Endocarditis lenta, wenn die Erkrankung länger als 40 Tage anhält.

Abb. 19-21 Endocarditis ulceropolyposa der Mitralklappe.

a Makroskopisches Bild. Neben den ausgeprägten und bakteriell infizierten thrombotischen Auflagerungen sieht man Klappendestruktionen, die eine Mitralinsuffizienz verursacht haben (Sonde in einem Klappendefekt). b Histologisches Bild. Im Klappenstroma sind Bakterienrasen (Pfeile) und Fibringerinnsel mit zahlreichen segmentkernigen Granulozyten (Doppelpfeile) zu sehen. HE, Vergr. 100fach.

Ätiologie Diese Endokarditis wird in 70% der Fälle durch nichthämolysierende Streptokokken mit relativ geringer Virulenz (z.B. Streptococcus viridans), seltener durch Staphylokokken, Bakterien der Haemophilus-Gruppe, Escherichia coli oder Enterokokken verursacht. Sie siedeln sich besonders auf vorgeschädigten Herzklappen ab (siehe Kap. 19.4.2).

Morphologie Die morphologischen Veränderungen sind denen bei der akuten bakteriellen Endokarditis vergleichbar, allerdings ist das Ausmaß der Klappenschädigung meist wesentlich geringer. Die Läsionen der Klappen sind kleiner und früher von reparativen Organisations- und Vernarbungsprozessen begleitet. Die schleichend verlaufende Endocarditis lenta greift auf die Ringfasern der Mitralklappe, auf das angrenzende Kammer- und Vorhofendokard und auch auf den Anulus der Aortenklappe über. Je nachdem, ob die bakterielle Zerstörung oder die reaktive, vernarbende Reparatur überwiegt, resultieren Klappeninsuffizienzen oder Stenosen. Stenosen entstehen besonders dann, wenn die Erkrankung in langen Schüben verläuft und die Segel- und Taschenklappen vernarben.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Im Vergleich zur akuten infektiösen Endokarditis, bei der es sich klinisch um ein akut einsetzendes hochdramatisches, septikopyämisches Krankheitsbild handelt, entwickelt sich die Endocarditis lenta über Wochen bis Monate eher schleichend. Charakteristisch sind rezidivierende Fieberschübe, eine zunehmende Anämie und eine entzündliche Milzschwellung. Die Diagnose wird durch eine auskultatorische und echokardiographische Untersuchung des Herzens mit entsprechendem Nachweis von Herzklappenveränderungen gesichert. Der für die Therapie entscheidende Erregernachweis wird mikrobiologisch anhand einer Blutkultur im akuten Fieberschub geführt. Diese früher tödlich verlaufende Endokarditis kann heute therapeutisch beherrscht werden.

19.4.2

Erworbene Herzklappenfehler

Ätiologie Als Folge einer Endokarditis kommt es zu Funktionsstörungen der Klappen. Häufigste Ursache erworbener Herzklappenfehler war lange Zeit die rheumatische Endokarditis im Rahmen eines rheumatischen Fiebers (siehe Kap. 19.4.1), allerdings haben sich die ätiologischen Verhältnisse geändert: Nun sind zunehmend mit Defekt verheilte infektiöse Endokarditiden die Ursache. Ein weiterer Aspekt ist ebenfalls zu berücksichtigen: Aufgrund der heute höheren Lebenserwartung treten immer mehr degenerative Klappenveränderungen klinisch in den Vordergrund. Mit zunehmendem

Alter verdicken sich die Klappenschließungsränder der Mitralklappe, histologisch charakterisiert durch eine progrediente Fibrose in Kombination mit Lipidablagerungen und dystrophen Verkalkungen des Klappenstromas. Eine im Alter physiologische Verkürzung der Basis-Spitzen-Länge des linken Ventrikels führt zu einer relativen Verlängerung von histologisch intakten Sehnenfäden, was sich in einer Mitralklappenprolaps-ähnlichen klinischen Symptomatik ausdrückt. Auch im Bereich der Aortenklappen kommt es im Alter, beginnend im Klappengrund, zu degenerativen Veränderungen mit Fibrose, Lipidablagerungen und Verkalkungen, die das gesamte Klappenstroma erfassen (sog. aufsteigende Aortenklappenstenose) und sich klinisch zu einem funktionell wirksamen Klappendefekt auswachsen können.

Mitralklappenstenose Pathogenese Bei einer transversalen Schrumpfung und Verwachsung der Mitralsegel ist eine Stenose die Folge. Liegt eine sagittale Schrumpfung mit Verplumpung und Verkürzung der Sehnenfäden vor, führt dies zu einer Klappeninsuffizienz. Analoge Veränderungen können sich an der Aortenklappe abspielen. Die hämodynamischen Konsequenzen für das Herz und den Kreislauf unterscheiden sich je nach der Art des Klappenfehlers (Abb. 19-22).

Definition Die Mitral(klappen)stenose stellt eine entzündlich bedingte Klappenvernarbung mit Verminderung der Mitralklappenöffnungsfläche (normal 4–6 cm2) dar.

Pathophysiologie Durch die Stenose kommt es zu einer symptomatischen Einflussstörung in den linken Ventrikel mit Blutstau vor der linken Herzkammer. Folge ist ein Anstieg des linksatrialen Drucks, des Pulmonalvenen- und schließlich des Pulmonalkapillardrucks mit Ausbildung eines Lungenödems. Darüber hinaus führt der pulmonale Hypertonus zur Rechtsherzhypertrophie. Die linke Herzkammer erhält zu wenig Blut und ist daher klein.

Abb. 19-22 Schema der hämodynamischen Folgen verschiedener Klappenfehler.

Die Pfeile geben die Strömungsrichtung des Blutes an. a Normales Herz. RA = rechter Vorhof, LA = linker Vorhof, RV = rechter Ventrikel, LV = linker Ventrikel, A = Aorta. b Mitralstenose mit typischem kleinem linkem Ventrikel, großem linkem Vorhof und konsekutiver Rechtsherzhypertrophie. c Mitralinsuffizienz mit exzentrischer Hypertrophie des linken Ventrikels, großem linkem Vorhof und konsekutiver Rechtsherzhypertrophie. d Aortenstenose mit konzentrischer Linksherzhypertrophie. e Aorteninsuffizienz mit exzentrischer Linksherzhypertrophie und -dilatation.

Morphologie Typisch für die Mitralstenose sind ein kleiner linker Ventrikel und ein großer, dilatierter linker Vorhof (Abb. 19-23).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Da die Einflussstörung in den linken Ventrikel bei Anstieg der Herzfrequenz zunimmt, leiden Patienten mit Mitralstenose unter Belastungsdyspnoe. Im dilatierten linken Herzvorhof entstehen durch Wirbelbildung Parietalthromben. Diese können als verschleppte Thromben Embolien verursachen oder bei ausreichender Größe das Mitralostium verlegen.

Mitralklappeninsuffizienz Definition Bei der Mitral(klappen)insuffizienz handelt es sich um eine Schlussunfähigkeit der Mitralklappe. Nach dem Verlauf unterscheidet man die akute und die chronische Mitralinsuffizienz.

Ätiologie Dieakute Mitralinsuffizienz wird durch plötzlich auftretende Klappendefekte ausgelöst. Beispiele sind:

Abb. 19-23 Mitralstenose.

Im oberen Teil des Bildes blickt man auf die Klappenebene. Die Trikuspidalklappe ist weit offen, im Vergleich dazu hat die Mitralklappe eine knopflochartige Stenose (Pfeile). Im unteren Teil zeigt der Querschnitt durch die Ventrikelebene einen relativ kleinen, kontrahierten linken Ventrikel und einen deutlich dilatierten rechten Ventrikel. Das rechtsventrikuläre Myokard ist hypertrophiert, die Muskeldicke erreicht nahezu die des linken Ventrikels. A =

Aorta, Ap = A. pulmonalis, LM = linksventrikuläres Myokard, RM = rechtsventrikuläres Myokard. ■ Ruptur eines Papillarmuskels bei Herzinfarkt ■ eitrige Endokarditis der Mitralklappe ■ Riss einer Chorda tendinea bei Mitralklappenprolaps ■ Lockerung einer prothetischen Klappe. Diechronische Mitralinsuffizienz entsteht durch: ■ relative Mitralinsuffizienz bei ausgeprägter Linksherzdilatation ■ narbige Verkürzung des Papillarmuskels nach Herzinfarkt ■ Mitralklappenprolaps.

Pathogenese

Die hämodynamische Folge der Klappeninsuffizienz ist der systolische Rückfluss von Blut aus dem linken Herzventrikel in den linken Herzvorhof. Um trotzdem ein ausreichendes Herz-Zeit-Volumen auswerfen zu können, muss der linke Ventrikel eine erhöhte Volumenarbeit leisten. Bei einer geringen Mitralklappeninsuffizienz adaptiert sich das Myokard, es kommt zu einer Volumenhypertrophie. Diese ist durch eine nur mäßiggradige Hypertrophie der Muskulatur und eine Dilatation der linken Herzkammer charakterisiert. Typisch ist die Erhöhung des enddiastolischen Volumens.

Klinisch-pathologische Korrelationen Bei der chronischen Mitralinsuffizienz steht die Belastungsdyspnoe im Vordergrund, ein Lungenödem ist selten. Bei der akuten Mitralinsuffizienz entsteht häufig eine akute Dyspnoe mit Lungenödem.

Mitralklappenprolaps Definition Beim Mitralklappenprolaps handelt es sich um einen systolisch auftretenden Prolaps eines oder beider Mitralsegel in den linken Vorhof.

Epidemiologie Die Erkrankung ist sehr häufig; sie wird bei etwa 5% der Bevölkerung beobachtet. Frauen sind häufiger betroffen als Männer, der Altersgipfel liegt zwischen 20 und 30 Jahren.

Ätiologie Die Ursachen sind unbekannt. Das familiär gehäufte Auftreten und das konstante Vorkommen beim Marfan-(Arachnodaktylie-)Syndrom sprechen für einen genetischen Hintergrund.

Morphologie Wichtigstes anatomisches Zeichen ist die halbkugelige Vorwölbung der Mitralsegel in den Vorhof (Abb. 19-24). Die Segel sind durch herdförmige Ansammlungen von sauren Mukopolysacchariden in der Klappenfibrosa (myxoide Degeneration der Mitralklappe) in Form und Festigkeit geschwächt.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Bedeutung des Mitralklappenprolapses ergibt sich aus der Schwere der damit verbundenen Mitralinsuffizienz. Diese kann durch die Schwächung der Klappenfibrosa langsam auftreten. Sie kann sich durch eine zusätzlich aufgepfropfte infektiöse Endokarditis oder durch einen Papillarsehnenabriss akut verschlechtern. Der Mitralklappenprolaps ist heute in Europa die häufigste Ursache einer reinen Mitralinsuffizienz. Andere Komplikationen, die man ätiologisch in einen Zusammenhang mit einem Mitralklappenprolaps gebracht hat, sind die Neigung zu systemischen Embolien sowie Herzrhythmusstörungen (meist supraventrikuläre Arrhythmien in Form einer anhaltenden Tachykardie) bis hin zum plötzlichen Herztod.

Abb. 19-24 Mitralklappenprolaps.

Die Mitralsegel wölben sich in der Systole ballonartig gegen den Vorhof vor und lassen dadurch häufig eine spaltförmige öffnung, durch die das Blut in den Vorhof zurückströmt (Mitralinsuffizienz).

Ringverkalkung der Mitralklappe Bei der Ringverkalkung der Mitralklappe handelt es sich um eine Verkalkung des Klappenansatzrandes, die so ausgeprägt sein kann, dass sie im Röntgenbild sichtbar ist. Die Pathogenese ist unklar. Sie wird fast nur bei alten Frauen beobachtet und hat meist keine hämodynamischen Folgen, da die Segel nicht mit einbezogen sind. Selten kann die Ringverkalkung der Mitralklappe jedoch Ursache einer Mitralinsuffizienz sein.

Aortenklappenstenose Definition Die Aorten(klappen)stenose stellt eine Einengung der Aortenklappe mit Entleerungsbehinderung dar.

Ätiologie Die Aortenstenose ist oft rheumatisch bedingt oder tritt als verkalkende Aortenstenose alter Menschen auf.

■ Verkalkende Aortenklappenstenose. Verkalkungen der Aortenklappen werden bei jeder fünften Autopsie ab dem 65. Lebensjahr ohne Bezug zu einer Endokarditis nachgewiesen. Sie treten bei bikuspidalen Klappen wesentlich häufiger auf als bei normalen trikuspidalen Klappen. Die ätiologie der Erkrankung ist unklar. Sie kann sich unabhängig von einer Hypertonie oder Hyperkalzämie entwickeln. ■ Bikuspidale Aortenklappe. Sie besteht nicht aus drei, sondern aus zwei Taschenklappen. Etwa 1% der Bevölkerung besitzt eine bikuspidale Aortenklappe. Die abnorme mechanische Belastung der beiden Taschenklappen führt häufig zu degenerativen Fibrosen und Verkalkungen, die sich an der Aortenklappenbasis nachweisen lassen.

Pathogenese Durch die Einengung des Klappenostiums (normal 3,5–5 cm2) muss der linke Ventrikel eine vermehrte Druckarbeit leisten. Bei schweren Stenosen kann die Ostiumfläche auf 0,7 cm2 reduziert sein. Daraus resultiert eine erhebliche Druckhypertrophie, jedoch zunächst ohne wesentliche Dilatation der Kammer. Erst in den weit fortgeschrittenen Stadien kommt es zu einer Erhöhung des enddiastolischen Volumens mit zunehmender Dilatation des linken Ventrikels und Abnahme des Schlagvolumens (dekompensierte Aortenstenose). Die Folge ist dann eine zunehmende Blutstauung vor dem linken Herzen.

Morphologie

Bei der verkalkenden Aortenklappenstenose bestehen in ausgeprägten Fällen Anhäufungen von Kalkmassen in den dem Sinus valsalvae zugewandten Seiten der Taschenklappen mit Einengung des Aortenostiums (Abb. 19-25). Im Gegensatz zur rheumatischen Endokarditis verwachsen die Kommissuren der Klappen nicht.

Klinisch-pathologische Korrelationen Klinisch führt die Obstruktion der Ausflussbahn des linken Ventrikels zu einer Druckhypertrophie des linken Herzventrikels und zu einer Blutstauung in die Lunge mit Ausbildung einer Dyspnoe. Bei schweren Fällen kann als Therapie ein künstlicher Klappenersatz notwendig sein.

Aortenklappeninsuffizienz Definition Bei der Aorten(klappen)insuffizienz handelt es sich um eine Schlussunfähigkeit der Aortenklappe.

Ätiologie Ursachen der akuten Aorteninsuffizienz sind: ■ Aneurysma dissecans ■ bakterielle Endokarditis. Die chronische Aorteninsuffizienz entwickelt sich am häufigsten bei: ■ rheumatischer Endokarditis ■ ausgeheilter bakterieller Endokarditis ■ Dilatation der Aorta.

Abb. 19-25 Verkalkende Aortenklappenstenose.

Man sieht starke knollenförmige Kalkansammlungen (Pfeile) in den den Sinus valsalvae zugewandten Seiten der Taschenklappen, eine reaktive Fibrose der Klappen, aber keine Verwachsungen.

Pathogenese Während der Diastole wird infolge der Windkesselfunktion der Aorta durch die insuffiziente Aortenklappe Blut in den linken Herzventrikel zurückgetrieben. Dies äußert sich in einem steil abfallenden diastolischen Druck im Anfangsteil der Aorta. Die durch die Regurgitation erhöhte Volumenarbeit führt zu einer Volumenhypertrophie, die im Gegensatz zur Druckhypertrophie aber sehr bald mit einer Dilatation des Ventrikels einhergeht (exzentrische Hypertrophie). Der diastolische Blutreflux kann darüber hinaus den Einfluss von Blut in die Koronararterien behindern, wodurch die durch die Linksherzhypertrophie begünstigte relative Koronarinsuffizienz noch verstärkt wird. Folgen sind Myokardischämien und Fibrosen.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die Herzinsuffizienz tritt hier viel früher ein als bei der Aortenstenose. Die klinische Symptomatik ist durch ein Lungenödem mit schwerer Dyspnoe gekennzeichnet. Besonders bei akuter Aorteninsuffizienz kann sich das Lungenödem dramatisch schnell entwickeln.

19.5

Koronare Herzkrankheit

Definition Der Begriff koronare Herzkrankheit umfasst alle morphologisch oder funktionell fassbaren stenosierenden Erkrankungen der Koronargefäße, die zu einer unzureichenden Blutversorgung des Myokards führen. Für die Koronararterien ist es wichtig, die Zahl der epikardialen Gefäße mit kritisch stenosierenden Läsionen zu definieren. Von besonderer Bedeutung sind vier äste der Koronararterien: ■ die rechte Koronararterie (RCA) mit ihren akut marginalen (RCA-AM), posterior deszendierenden (RCA-PD) und posterolateralen (RCA-PL) Abzweigungen ■

der linke Hauptast der Koronararterie (LCA)

■ die linke anteriore deszendierende Arterie (LAD oder RIVA = Ramus interventricularis anterior) und deren diagonale äste (LAD-D) ■ die linke A. circumflexa (RCX) und deren stumpfwinklige (= engl.: obtuse) Marginaläste (RCX-OM). Je nach Ausmaß der stenosierenden Läsionen unterscheidet man klinischangiographisch und pathologisch-anatomisch zwischen einer Ein-, Zwei-, Drei- und Viergefäßerkrankung.

Epidemiologie Die koronare Herzkrankheit ist eine der häufigsten Erkrankungen in Ländern mit höherem Lebensstandard (Morbidität- und Mortalitätsziffern: siehe Kapitelanfang „Zur OrientierungӍ).

Ätiologie Ursache der koronaren Herzkrankheit ist in mehr als 90% der Fälle eine Atherosklerose der großen extramuralen Koronararterien. Die Risikofaktoren der Koronarsklerose entsprechen denen der allgemeinen Atherosklerose (siehe Kap. 20.2.1). Besonders eindrucksvoll ist der Zusammenhang zwischen Rauchen und koronarer Herzkrankheit. Die Atherosklerose der Kranzarterien ist oft wesentlich stärker ausgeprägt als in anderen Organarterien; es besteht häufig keine übereinstimmung im Schweregrad der Aorten-, Zerebral- und Koronarsklerose. Eine allgemeine, gleichmäßig verteilte Atherosklerose ist eher die Ausnahme als die Regel. Seltene Ursachen für die koronare Herzkrankheit sind Koronarspasmen (PrinzmetalAngina) sowie primäre oder systemische Vaskulitiden, Dissektionen der Arterienwand sowie verschleppte Embolien, z.B. bei Endocarditis ulceropolyposa.

Abb. 19-26

Plaqueformen.

a Stabile Plaque mit 50%iger Einengung des Gefäßlumens (L). b Kritische Plaque mit schlitzförmig-exzentrischer hochgradiger Stenose (90%) des Lumens (L) der Koronararterie. c Instabile Plaque. Ruptur einer instabilen Plaque (kleiner Pfeil) durch Einblutung (Sternchen) und sekundäre intraluminale Thrombosebildung (großer Pfeil). MassonTrichom, Vergr. 10fach.

Pathogenese und Morphologie

Wenn mehr als 75% des Lumens einer Koronararterie durch atherosklerotische Läsionen verschlossen sind, ist bei erhöhter O2-Anforderung des Arbeitsmyokards, z.B. bei akuter körperlicher Anstrengung, und bei 90%iger Stenose bereits unter Ruhebedingungen nicht mehr mit einer ausreichenden Blutversorgung zu rechnen. Von Bedeutung ist – auch bei geringeren Stenosegraden – die Morphologie der atherosklerotischen Plaques: Man unterscheidet allgemein bei der Atherosklerose zwischen Lipidflecken, fibrösen Plaques und komplizierten oder komplexen Läsionen (siehe Kap. 20.2.1). Bei der koronaren Atherosklerose wird morphologisch und auch angiographisch zusätzlich zwischen stabilen (Stenosegrad < 75%), kritischen (Stenosegrad > 75%) (Abb. 19-26a–c) und instabilen Plaques unterschieden. Ursache für die Umwandlung einer stabilen Plaque unterschiedlicher morphologischer Zusammensetzung in eine instabile Läsion ist entweder eine Plaqueruptur, eine Plaqueeinblutung, eine Thrombose (Abb. 19-26c) oder ein Mediaspasmus, die jeweils zu einer inkompletten oder kompletten Einengung des Restlumens führen. Im Schulterbereich von atherosklerotischen Plaques sind bei 35% der Patienten unterschiedlich dichte, chronisch entzündliche, zellige Infiltrate im Bereich der Media und auch der tiefer liegenden Adventitia nachzuweisen, bei denen es sich immunhistologisch hauptsächlich um Infiltrate aus T-Lymphozyten handelt. Mit molekularbiologischen Methoden konnten bei einem Teil der Patienten in diesen Läsionen Viren (Epstein-Barr-Virus, Zytomegalievirus, Herpes-simplex-Virus) sowie Chlamydia pneumoniae nachgewiesen werden. Inwieweit diese Mikroorganismen zur Entstehung der Atherosklerose bzw. zur Umwandlung von stabilen Plaques in instabile Läsionen beitragen, ist heute Gegenstand einer ausführlichen Diskussion hinsichtlich therapeutischer Aspekte.

Klinisch-pathologische Korrelationen Klinisch manifestiert sich die koronare Herzkrankheit unter dem Bild einer stabilen oder instabilen Angina pectoris, eines Myokardinfarkts, einer Herzrhythmusstörung, eines plötzlichen Herztodes und einer akuten oder chronischen Herzinsuffizienz. Der Krankheitsverlauf kann – wie Obduktionsbefunde zeigen – aber auch klinisch stumm sein. Der individuelle Krankheitsverlauf variiert von Patient zu Patient und ist trotz Einsatz moderner kardiodiagnostischer Methoden, u.a. der Koronarangiographie, für den einzelnen Patienten nicht sicher voraussagbar (Abb. 19-27).

19.5.1 Angina pectoris und relative Koronarinsuffizienz Definition Die Angina pectoris stellt einen Symptomenkomplex der koronaren Herzkrankheit dar, der durch Thoraxschmerzen, Engegefühl, Druckgefühl und retrosternales Brennen charakterisiert ist.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Klinisch unterscheidet man zwischen einer stabilen und einer instabilen Angina pectoris. Bei der stabilen Angina pectoris treten die Beschwerden nach meist gut definierbaren Anstrengungen auf. Bei der instabilen Angina pectoris nehmen Anfallsfrequenz und -dauer zu und manifestieren sich schließlich auch unabhängig von körperlichen oder psychischen Belastungen. Die von Prinzmetal beschriebene Form der instabilen Angina pectoris tritt bei angiographisch häufig weitgehend normalen Koronararterien auf. Sie stellt eine unter Ruhebedingungen und meist zyklisch in regelmäßigen Intervallen auftretende Form der Angina pectoris mit heftiger und oft lang dauernder Schmerzintensität dar. Im intravaskulären Ultraschall sieht man kleine flache Atherome. Durch Vasokonstriktion der großen epikardialen Koronararterien kommt es in Ruhe zu typischen transitorischen EKGVeränderungen in Form von ST-Strecken-Hebungen.

Abb. 19-27 Komplikationen der koronaren Herzkrankheit.

Pathogenese Die Angina pectoris wird durch eine myokardiale Ischämie bei verminderter koronarer Durchblutung ausgelöst, die allerdings nicht ausreicht, um einen Herzinfarkt hervorzurufen. Physiologischerweise reguliert unter anderem der arterielle Sauerstoffpartialdruck (pO2) die Durchblutung der Koronargefäße, die je nach Bedarf auf das Drei- bis Fünffache gesteigert werden kann (Koronarreserve). Ein Absinken des pO2 führt zu einem Anstieg der Koronardurchblutung. Kann das Koronarsystem bei vermehrter Belastung des Herzmuskels die notwendige Blutmenge nicht mehr liefern, liegt eine relative Koronarinsuffizienz vor. Sie ist meist die akute Folge einer vermehrten Belastung. Bei manchen Menschen liegt jedoch bereits in Ruhe eine chronische Insuffizienz des Koronarsystems vor. Stenosen der Koronararterien bei Atherosklerose sind die häufigste, Aortenklappenfehler, ein plötzlicher Blutdruckabfall oder ein Koronararterienspasmus seltene Ursachen der Koronarinsuffizienz. Als Folge sinkt der ATP-Spiegel im Herzmuskel (akute Hypoxidose) und das Laktat steigt durch die anaerobe Glykolyse an.

Morphologie

Die morphologischen Befunde an den Herzkranzgefäßen sind in Tab. 19-4 zusammengefasst. Die Hypoxidose führt im Myokard zu umschriebenen nekrobiotischen Veränderungen. Die Muskelfasern passen sich dem Sauerstoffmangel an, indem sie einen Teil ihrer „sauerstoffhungrigenӍ Myofibrillen abbauen. Diese Muskelfasern gleichen leeren Schläuchen (Abb. 19-28). Die Restmyofibrillen lagern sich dem Sarkolemm an, das Zentrum bleibt leer (sog. kolliquative Myozytolyse). Funktionell entsprechen diese Fasern dem „hibernating myocardiumӍ (wörtlich übersetzt: Myokard im Winterschlaf). Dadurch wird die Leistungsfähigkeit eingeschränkt, aber die Patienten überleben. Bei Wiederherstellung eines normalen pO2 kommt es in diesen Muskelfasern zu einer Regeneration. Diese Myopathie ist unspezifisch. Sie tritt bei jeder Form von Sauerstoffmangel ein sowie bei lang dauernder β-Blocker-Therapie, Hypokaliämie und Hypokalzämie. Bei stark ausgeprägter Hypoxidose entwickeln sich selektiv Nekrosen im Myokard des linken Herzens. Sie finden sich zuerst in den Papillarmuskeln und in der Innenschicht der linken Kammerwand („letzte WieseӍ). Die Nekrosen werden von Makrophagen abgeräumt und durch kollagenes Bindegewebe ersetzt. Bei schweren Formen der relativen Koronarinsuffizienz entsteht eine disseminierte Myokardfibrose, die in eine spezifische (sekundäre) dilatative Kardiomyopathie einmünden kann (siehe Kap. 19.6.2).

Tab. 19-4 Koronare Herzkrankheit: Vergleich klinischer und pathologisch-anatomischer Koronararterienbefunde.

Abb. 19-28

Kolliquative Myozytolysen

(Sterne) bei koronarer Dreigefäßerkrankung mit Vakuolisierung des Sarkoplasmas der Herzmuskelzellen im Randbereich einer alten Infarktnarbe (blau). MassonTrichrom, Vergr. 100fach.

19.5.2

Akuter Koronartod

Der akute Koronartod ist definiert als ein unerwarteter plötzlicher Herztod, der ein bis sechs Stunden nach einem akuten Herzanfall eintritt. Er ist wahrscheinlich verursacht durch eine ischämiebedingte Arrhythmie und nicht Folge eines Herzinfarkts. Obduktionsbefunde dokumentieren eine stenosierende Zwei- und Dreigefäßerkrankung in 85–90% und eine Eingefäßerkrankung in 10–15% der Fälle. Histologisch finden sich bei 80% der Patienten in Organisation stehende Thrombosen. Instabile Plaques zeigen in 40% Intimaeinblutungen oder eine Plaqueruptur (20%) sowie thrombozytenreiche, nicht lichtungsverschließende Thrombosen in 30–75% der Fälle. Im Lumen kleinerer intramyokardialer Arterienäste sind häufig zahlreiche Mikroembolien nachweisbar, die unter anderem für die Entstehung fataler Arrhythmien verantwortlich gemacht werden. Im Myokard ist weder makroskopisch noch mikroskopisch ein frischer Herzinfarkt erkennbar.

19.5.3

Myokardinfarkt

Syn.: Herzinfarkt

Definition Unter einem Herzinfarkt versteht man eine Koagulationsnekrose der Herzmuskulatur, die durch eine anhaltende Ischämie bei absoluter Koronarinsuffizienz eintritt. Für die definitive Diagnose eines akuten Myokardinfarkts müssen nach WHO-Kriterien zwei der folgenden drei klinischen Kriterien zutreffen: ■

akute Brustschmerzen über eine Dauer von 20 Minuten



typische Veränderungen in einem 12-Kanal-EKG



erhöhte Serumwerte der Herzmarker.

Epidemiologie In den westlichen Industrieländern erleiden jedes Jahr ca. 300 pro 100 000 Einwohner einen Herzinfarkt. Etwa 30% der Herzinfarkte verlaufen tödlich. Wegen der entscheidenden pathogenetischen Bedeutung der Koronarsklerose für den Myokardinfarkt gelten für seine Epidemiologie analoge Verhältnisse wie für die Atherosklerose (siehe Kap. 20.2.1).

Abb. 19-29 Rechte Koronararterie mit Einblutung in eine instabile Plaque

(Pfeil) und sekundärer lichtungsverschließender Thrombose (Pfeilspitzen).

Ätiologie Dem Herzinfarkt liegt meist eine Koronarsklerose zugrunde. Häufigste Ursache für die meist akut einsetzende Ischämie ist ein Verschluss eines Koronararterienastes durch eine akute Koronarthrombose. Der Thrombus kann sich auf einer atherosklerotischen Plaque entwickeln und bei größeren Herzinfarkten in über 80% der Fälle nachgewiesen werden (Abb. 19-29). Seltene Ursachen des akuten Gefäßverschlusses sind Einblutungen in atheromatöse Plaques oder eine schnelle Progression der Koronarsklerose.

Pathogenese und Morphologie Bei einer absoluten Ischämie des Myokards sind Veränderungen an den Zellorganellen schon nach etwa 10 Minuten elektronenmikroskopisch sichtbar. Weil die oxidative Energiegewinnung gestört ist, wird der Energiestoffwechsel auf anaerobe Glykolyse umgestellt, und der ATP-Spiegel sinkt. Durch die erniedrigte ATP-Konzentration funktioniert die Energie verbrauchende Ionenpumpe an den Membranen nicht mehr ausreichend. Dies führt zu einer intra- und extrazellulären Ionenverschiebung und zu einem vermehrten Wassereinstrom in die Herzmuskelzellen. Infolge des gegenläufigen Kaliumausstroms kommt es zu Repolarisationsstörungen der Zellmembranen. Dadurch können unter Umständen unmittelbar nach dem akuten Ereignis EKG-Veränderungen auftreten. In einem frühen Stadium zeigt sich lichtmikroskopisch eine so genannte „trübe SchwellungӍ des Sarkoplasmas. Die entsprechenden ultrastrukturellen Veränderungen sind eine Schwellung der Mitochondrien mit einer Fragmentierung der Cristae mitochondriales – Sitz der Atmungskette – und eine deutliche Dilatation des sarkoplasmatischen Retikulums. Nach etwa 30 Minuten führt die Ischämie des Myokards zu einer irreversiblen Muskelschädigung. Sie wird verursacht durch ■ einen maximal verminderten ATP-Gehalt (weniger als 10% der Normalzelle) ■ Stopp der anaeroben Glykolyse ■ eine massive osmotische überladung der Herzmuskelzelle durch Laktat, Glukose-1-Phosphat, Glukose-6-Phosphat, Alpha-Glycerol-Phosphat, anorganische Phosphate, Ammoniak und Wasserstoffionen ■ Ionenverschiebungen mit erhöhtem intrazellulärem Gehalt an Natrium, Kalzium, Chlor und Wasserstoff sowie vermindertem Gehalt an intrazellulärem Kalium und Magnesium ■ Schwellung der Mitochondrien mit amorpher Matrix

■ Ruptur sarkolemmaler Strukturen mit beginnender Freisetzung von Myoglobin und Troponin, die sich nach 1–2 Stunden im Serum nachweisen lassen.

Abb. 19-30 Histologische Veränderungen bei sich entwickelnder ischämischer myokardialer Koagulationsnekrose.

a Regional (gestrichelte Linie) ausgebildete Kontraktionsbänder (Pfeile) und Kontraktionsbandnekrosen (Sterne) in Herzmuskelzellen. M: normales Myokard. Luxol, Vergr. 120fach. b „Wavy (gewellte) fibersӍ mit beginnendem Kernverlust der Herzmuskelzellen (Wf), beginnende Koagulationsnekrosen (Pfeil), interstitielles ödem (Stern) und beginnende Margination von neutrophilen Granulozyten im Kapillarbereich (Pfeilspitze). HE, Vergr. 100fach. c Voll ausgebildete Koagulationsnekrose (N) mit Infiltration durch neutrophile Granulozyten (Pfeile). HE, Vergr. 80fach.

Abb. 19-31 Frischer Myokardinfarkt. Makroskopisches Bild.

Lehmfarbene Abblassung des Myokards im Infarktgebiet und rötliches, resorptives Granulationsgewebe im Randbereich (Pfeile). Nach etwa 4–6 Stunden verursacht die beginnende Koagulationsnekrose irreversible Veränderungen der Myofibrillen. Das Sarkoplasma lässt sich histologisch intensiv eosinrot anfärben. Ein eindrucksvolles morphologisches Zeichen der Myozytenschädigung sind die Hyperkontraktionsbänder der Myofibrillen sowie so genannte „wavyӍ (gewellte) Muskelfasern (Abb. 19-30a, b). Infolge der gestörten Membranfunktion gelangen zytoplasmatische lysosomale und mitochondriale Enzyme ins Serum (Tab. 19-5). Durch die Schädigung der Herzmuskelzellen werden Entzündungsmediatoren aktiviert und führen nach etwa 6–24 Stunden zum Einwandern von Entzündungszellen, vor allem neutrophiler Granulozyten aus dem hyperämischen Randsaum in die Myokardnekrose (Abb. 19-30c). Der Herzinfarkt ist zu diesem Zeitpunkt makroskopisch als lehmfarbene Nekrose sichtbar (Abb. 19-31). Ab dem 3.–7. Tag beginnt die Bildung von Granulationsgewebe. Aus dem erhaltenen interstitiellen Gewebe am Rande der Nekrose sprießt eine zunehmende

Zahl von Kapillaren in die Nekrose ein. Die Makrophagen des Granulationsgewebes bauen die Koagulationsnekrose ab. Fibroblasten synthetisieren am Ende der 2. Woche zunehmend Kollagenfasern. Nach etwa 6 Wochen ist die Nekrose durch kollagenes Bindegewebe ersetzt. Die entstandene Myokardinfarktnarbe ist makroskopisch als grauweiße Schwiele erkennbar (Abb. 19-32). Die im zeitlichen Verlauf auftretenden Veränderungen sind in Tab. 19-5 aufgeführt. Da der Herzmuskel zu den Dauergeweben gehört, findet keine nennenswerte Regeneration statt, sodass das restliche Parenchym einer vermehrten Belastung ausgesetzt ist. Kompensatorisch hypertrophieren die Herzmuskelfasern, die Kerne sind polypoid. Die pathomorphologische Diagnose eines Herzinfarkts im Initialstadium stellt bei der Obduktion ein erhebliches Problem dar, insbesondere da die subtilen elektronenmikroskopischen Veränderungen im autoptischen Material infolge überlagerung durch Autolyse nicht mehr zu sichern sind. Die frühen histologischen Veränderungen, z.B. Kontraktionsbänder, sind nur dann einem frühen Stadium eines Herzinfarkts beweisend zuzuordnen, wenn entsprechende klinische Parameter (infarktspezifische EKG- und/oder Laborveränderungen) flankierend zur Seite stehen.

Tab. 19-5 Veränderungen beim akuten transmuralen Herzinfarkt im zeitlichen Verlauf.

Abb. 19-32

Myokardinfarktnarbe (Makroskopie).

Die Narbe der gesamten Hinterwand des linken Ventrikels ist durch ihre weiße Farbe charakterisiert.

Lokalisation Die Lokalisation des Infarkts hängt vom Versorgungstyp der Koronararterien ab. Bei über 70% der Menschen liegt ein Normalversorgungstyp vor, d.h., die Hinterwand der linken Kammer wird von der rechten Kranzarterie mit versorgt. Beim Rechtsversorgungstyp (ca. 10%) versorgt die rechte Kranzarterie auch die linke Herzkante. Beim Linksversorgungstyp (ca. 20%) wird das gesamte linke Herz von der linken Kranzarterie versorgt. Unter Berücksichtigung dieser anatomischen Varianten richtet sich die Lokalisation eines Herzinfarkts nach dem Versorgungsgebiet des verschlossenen Koronararterienastes (Abb. 19-33). Der Myokardinfarkt ist fast immer im linken Herzen lokalisiert. Drei Infarkttypen, deren Lokalisationen außerordentlich variieren können, spielen für die Praxis die entscheidende Rolle: ■ Vorderwandinfarkt (ca. 50%). Bei dieser häufigsten Form resultiert aus einem Verschluss im proximalen Abschnitt des R. interventricularis anterior ein Infarkt in der Vorderwand und im Kammerseptum. ■ Hinterwandinfarkt (ca. 25%). Ein Verschluss der rechten Kranzarterie führt meistens zu einem basisnahen Hinterwandinfarkt, weil die rechte Kranzarterie in über 70% der Fälle nicht nur den rechten Ventrikel, sondern auch basale Teile der Hinterwand des linken Ventrikels versorgt.

■ Seitenwandinfarkt (ca. 10%). Ursache des Seiten- oder Kanteninfarkts ist ein Verschluss des R. circumflexus der linken Kranzarterie. Versorgt dieses Gefäß bei einem Linksversorgungstyp die gesamte Hinterwand des linken Ventrikels, so nimmt der Infarkt einen großen Bereich der Hinterwand des linken Ventrikels ein. Die Lokalisation des Gefäßverschlusses und die Tatsache, dass sich zwischen den Koronararterienästen Kollateralen ausbilden konnten, entscheiden über die Größe des Infarkts, der Durchmesser beträgt im Allgemeinen etwa 2–8 cm. Je nach der Tiefe des Infarkts in die Kammerwand unterscheidet man:

Abb. 19-33

Lokalisation des Myokardinfarkts

in Abhängigkeit vom befallenen Koronargefäß (Erklärungen siehe Text). a Vorderwandinfarkt bei Thrombose des Ramus interventricularis anterior (RIVA). b Seitenwand- oder Kanteninfarkt bei Thrombose des Ramus circumflexus der A. coronaria sinistra. c Hinterwandinfarkt bei Thrombose der A. coronaria dextra. ■ Transmuralen Infarkt. Diese häufigere Infarktform durchsetzt alle drei Wandschichten und ist manchmal mehrere Zentimeter groß. Eines oder mehrere Koronargefäße sind verschlossen. ■ Innenschichtinfarkt (subendokardialer Infarkt). Beim subendokardialen Infarkt finden sich multifokale oder kompakte Nekroseherde im inneren Drittel der Ventrikelwand. Eine schwere stenosierende Koronarsklerose engt das Gefäßlumen auf 20% ein, Thromben lassen sich meist nicht nachweisen. Betroffen sind die sog. letzten Wiesen, da die Koronararterien funktionell Endarterien darstellen.

Klinisch-pathologische Korrelationen Der schwere, meist retrosternale Schmerz ist das Leitsymptom des akuten Myokardinfarkts (sogenannter Vernichtungsschmerz). Ein Blutdruck unter 90 mmHg systolisch und eine Herzfrequenz über 100 Schläge/Minute sind Zeichen des myokardialen Pumpversagens und des beginnenden kardiogenen Schocks. Typische EKG-Veränderungen erlauben eine Aussage über das Alter, die Lokalisation und näherungsweise auch über die Größe des Infarkts. Die Labordiagnostik ergibt Hinweise auf die irreversible hypoxische Schädigung von Myokardzellen. Bildgebende Verfahren, z.B. Koronarangiographie, Echokardiographie, Szintigraphie, Magnetresonanztomographie, werden genutzt, um die Ursache (z.B. Gefäßverschluss), das Ausmaß sowie evtl. Komplikationen der Myokardschädigung zu lokalisieren und zu quantifizieren. Ziel der akut therapeutischen Maßnahmen ist es, die Ursache der absoluten Koronarinsuffizienz zu beseitigen, z.B. durch Thrombolyse, perkutane transluminale Koronarangioplastie (PTCA) mit Ballondilatation und/oder Stentimplantation sowie akute Bypass-Operationen, um eine frühestmögliche Reperfusion des betroffenen Myokardabschnitts zu erreichen. Den Fortschritten der Akuttherapie sind entscheidende Verbesserungen in der Prognose des Herzinfarkts in den letzten Jahrzehnten zu verdanken. In großen Studien zeigte sich, dass etwa die Hälfte der nichttödlichen Herzinfarkte, besonders bei Diabetikern, Hypertonikern und alten Menschen, bei fehlenden pektanginösen Beschwerden trotz ausgeprägter Ischämie klinisch stumm für den Patienten und Arzt verlaufen können (sog. stumme Myokardischämie). Als Ursache der stummen Myokardischämie werden vor allem ein kleines Ischämiegebiet und eine gestörte Schmerzwahrnehmung diskutiert. Bei Diabetikern wird sie für einen hohen Prozentsatz der akuten Todesfälle verantwortlich gemacht.

Komplikationen und Folgen Die klinischen Folgen hängen von der Lokalisation und Ausdehnung des Infarkts bzw. der Infarktnarbe und dem Ausmaß der myokardialen Funktionsstörung sowie vom Zeitpunkt der akuten therapeutischen Interventionen nach akutem Myokardinfarkt ab. ■ Kardiogener Schock. Der Verlust an kontraktiler Herzmuskelmasse kann zu einer verminderten Auswurfleistung mit unterschiedlich stark ausgeprägter Herzinsuffizienz führen. Bei einem Verlust von über 40% der linksventrikulären Muskelmasse reicht die Auswurfleistung des Herzens nicht mehr aus. Es kommt zum Zusammenbruch des Kreislaufs mit Lungenödem und kardialem Schock (siehe Kap. 7.10). ■ Rhythmusstörungen. In der frühen Infarktphase kommt es bei über 90% der Patienten zu bedeutsamen Rhythmusstörungen. Etwa 50–60% der Todesfälle treten in der Prähospitalphase ein und sind überwiegend durch Kammerflimmern bedingt.

Auch kleine Infarkte und stumme Myokardischämien können durch schwere Rhythmusstörungen zum akuten Herztod führen. ■ Papillarmuskelabriss. Die ischämische Nekrose eines Papillarmuskels verursacht diese seltene Komplikation, wobei der hintere Papillarmuskel häufiger betroffen ist als der vordere. Die Folge ist eine akute Mitralinsuffizienz mit akuter Linksherzinsuffizienz. Die transösophageale Ultraschalluntersuchung ist die wichtigste Methode zur Abklärung des akuten Papillarmuskelabrisses. ■ Pericarditis epistenocardica. über dem Infarktgebiet entwickelt sich in ca. 30% der Fälle eine Perikarditis. Das vorwiegend fibrinöse Exsudat verursacht ein auskultatorisch hörbares Reibegeräusch. Die Organisation der fibrinösen Entzündung kann zu Verwachsungen von Epikard und Perikard führen und dadurch den Herzbeutel obliterieren. ■ Herzwandruptur. Sie tritt in 3–6% der Fälle am 3.–10. Tag nach dem akuten Ereignis auf. Mit einem Endotheldefekt beginnt im Bereich der entzündlich veränderten Nekrose ein Prozess, der sich „fuchsbauartigӍ ausbreitet. Vor allem bei transmuralen Myokardinfarkten kann die Herzwand rupturieren, Blut in den Herzbeutel ausströmen und zur meist tödlichen Herzbeuteltamponade führen. ■ Parietale Endokardthrombose. Die Entzündungsreaktion kann von der Infarktzone auf das Endokard übergreifen. Abscheidungsthromben, die sich bei etwa 45% der Herzinfarktpatienten auf dem entzündlichen Endokard entwickeln, sind in 10–20% die Quelle arterieller Thrombembolien, die z.B. tödlich verlaufende anämische Hirninfarkte verursachen können. ■ Herzwandaneurysma. Bei bis zu 30% der Patienten treten meist im Bereich der Herzbasis oder des hinteren Papillarmuskels Aneurysmen auf. Sie entwickeln sich im funktionell minderwertigen Narbengewebe und verursachen Strömungsanomalien, die die Entstehung von parietalen Thromben begünstigen. ■ Reokklusionen und Reinfarkt. Die Häufigkeit von Reinfarkten wird von den Klinikern mit 15–35%, von Pathologen mit 23–65% angegeben. Sie können Stunden bis Tage, aber auch Wochen bis Monate nach dem initialen Herzinfarkt auftreten. Der Ort des ursprünglichen Koronarverschlusses mit der meist zugrunde liegenden Plaqueruptur mit aufgelagerten Thromben, höhergradigen Stenosen und der Freisetzung von Thrombin aus thrombotischem Material bilden die Kristallisationspunkte für die Ausbildung einer Reokklusion nach zunächst erfolgreicher Reperfusion bei ca. 5–15% der behandelten Patienten. In 50% der Fälle geht der Wiederverschluss des Koronargefäßes mit einem Reinfarkt einher, seine Letalität ist im Vergleich zum Erstinfarkt etwa um das Doppelte erhöht. Restenosen nach PTCA oder Stentverschlüsse stellen weitere Ursachen dar. Später auftretende Reinfarkte sind in der Regel in einem anderen Versorgungsgebiet lokalisiert als der Erstinfarkt. Prädisponierend hierfür ist häufig eine schwere koronare

Herzerkrankung, meist eine Dreigefäßerkrankung mit multifokal ausgeprägten Gefäßstenosen. ■ Reperfusionsstörungen. Eine rasche Wiederdurchblutung bewahrt gefährdetes Myokardgewebe vor dem endgültigen Untergang. Dieser eminente Nutzen kann jedoch – abhängig vom Zeitpunkt und von der Effektivität der nach dem Infarktereignis eingeleiteten therapeutischen Maßnahmen – teilweise wieder durch die erneut einsetzende Reperfusion des geschädigten Gewebes aufgehoben werden. Erfolgt die Reperfusion erst nach 6 Stunden oder später, entstehen im geschädigten Myokard hochreaktive freie Radikale, die zu irreversiblen Zell- und Gewebeschäden führen. Histologisch finden sich bevorzugt in peripheren Nekrosearealen zusätzliche Koagulationsnekrosen, eine kolliquative Myozytolyse und Kontraktionsbandnekrosen der Myozyten sowie Endothelschwellungen und Endothelnekrosen. Sie werden von einer verstärkten Adhäsion und Penetration neutrophiler Granulozyten im Kapillarbereich mit gleichzeitigem Austritt von Erythrozyten aus dem geschädigten Gefäßsystem begleitet. Diese Veränderungen können letztendlich in eine Umwandlung des primär anämischen in einen sekundär hämorrhagischen Herzinfarkt einmünden.

19.6 19.6.1

Myokard Primäre Kardiomyopathien

Im Jahre 1995 wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der International Society and Federation of Cardiology Task Force (ISFC-Task-Force) eine neue Klassifikation der Kardiomyopathien eingeführt, die sich im Wesentlichen an pathophysiologischen und – so weit wie möglich – an ätiologischen und pathogenetischen Prinzipien orientiert.

Definition Kardiomyopathien sind Erkrankungen des Myokards, die mit einer kardialen Dysfunktion einhergehen. Man unterscheidet die dilatative, die hypertrophe, die restriktive und die arrhythmogene rechtsventrikuläre Kardiomyopathie sowie nicht klassifizierbare Kardiomyopathien. Von diesen primären sind die spezifischen (sekundären) Kardiomyopathien zu unterscheiden (siehe Kap. 19.6.2).

Dilatative Kardiomyopathie Definition und Epidemiologie Die dilatative Kardiomyopathie (DCM) ist klinisch und morphologisch durch eine Dilatation und systolische Dysfunktion des linken oder beider Herzventrikel

charakterisiert. Die Inzidenzrate beträgt 36,5 auf 100 000 Personen. In den USA sterben jährlich mehr als 10 000 Patienten an dieser Erkrankung. Für das klinische Bild sind eine zunehmende Herzinsuffizienz, Arryhthmien und ein plötzlicher, unerwarteter Herztod typisch. Die DCM ist heute eine der Hauptindikationen für eine Herztransplantation.

Ätiologie Die DCM ist das Endstadium einer heterogenen Gruppe von Erkrankungen. Bekannte Ursachen sind die Myokarditis, eine koronare und hypertensive Herzerkrankung, Endokrinopathien und Stoffwechselerkrankungen, Alkoholabusus, Zytostatikatherapie u.a. Hiervon abzugrenzen ist die idiopathische DCM. Bei gut einem Viertel der Fälle liegt eine positive Familienanamnese vor, teilweise mit autosomal-dominantem oder -rezessivem Erbgang, teilweise X-chromosomal oder mitochondrial assoziiert. Molekulargenetische Untersuchungen zeigen ein heterogenes Muster mit zahlreichen Loki und Genmutationen, die am Beispiel der autosomal-dominanten Form der DCM demonstriert werden sollen: 1q32 (kardiales Troponin T), 2q31, 2q35 (Desmin), 4q12 (β-Sarcoglycan), 5q33 (δ-Sarcoglycan), 9q13-22, 10q21-23, 14q11 (β-Myosin, schwere Kette) und 15q14 (Aktin). Obwohl diese verschiedenen Mutationen mit der Entstehung einer DCM in Zusammenhang gebracht werden, ist der pathogenetische Mechanismus, durch den einzelne Mutationen zur Krankheitsentwicklung beitragen, noch nicht aufgeklärt. Kürzlich wurde ein neuer pathogenetischer und klinisch relevanter Aspekt für die Entwicklung einer DCM aufgezeigt: Für die normale embryonale Entwicklung des Herzens und zur Verhinderung einer DCM in späteren Lebensaltern sind die Expression und die Funktionsfähigkeit des Wachstumsrezeptors Erb-B2 (Her2/neu) von Bedeutung. Bei bestimmten Formen des Mammakarzinoms (siehe Kap. 41.6.1) kommt es zu einer unkontrollierten Amplifikation des Erb-B2-Rezeptors. In großen klinischen Studien konnte gezeigt werden, dass die Blockade dieses Wachstumsrezeptors durch einen humanisierten Antikörper (Herceptin, Trastuzumab) zu einer verlängerten überlebenszeit der Patienten führte. Gleichzeitig fiel auf, dass sich bei 7% der Patientinnen, die nur mit Herceptin behandelt wurden, unter Therapie eine Herzinsuffizienz unter dem klinischen Bild einer DCM entwickelte, bei kombinierter Herceptin- und Chemotherapie erhöhte sich der Prozentsatz auf 28%. Unter Kenntnis dieser physiologischen und pathophysiologischen Vorgänge wird das Verständnis der Entwicklung einer DCM unter Herceptintherapie in ein neues Licht gerückt.

Morphologie

Morphologisch ist die DCM durch eine ausgeprägte Dilatation der Ventrikel bei normaler Kammerwandstärke charakterisiert. Oft finden sich Parietalthromben auf dem leicht fibrosierten Endokard (Emboliequelle). Histologisch liegt eine leichte bis mittelgradige interstitielle Fibrose ohne begleitende interstitielle Entzündung

vor, die Myokardiozyten sind zum Teil durch bizarre Kaliberschwankungen ohne Nachweis frischer oder älterer Herzmuskelzellnekrosen charakterisiert (Abb. 1934). Die Diagnose wird durch eine Endomyokardbiopsie gesichert.

Hypertrophe Kardiomyopathie Definition Die hypertrophe Kardiomyopathie (HCM) stellt eine primäre, genetisch bedingte Hypertrophie der Herzmuskulatur dar, die mit einer Einengung der Ventrikellichtung einhergeht. Man unterscheidet die obstruktive Form (HOCM) mit Einengung der Ausflussbahn des linken oder rechten Ventrikels und eine nichtobstruktive Form (HNCM), die auch das interventrikuläre Septum betreffen kann.

Ätiologie Es handelt sich häufig um eine familiäre Erkrankung mit autosomal-dominantem Erbgang, die durch genetische Störungen der β-Myosin-Schwerkette (Chromosom 14q1), des α-Tropomyosins (Chromosom 15q2), des Troponins T (Chromosom 1q1) und einer bisher nicht näher definierten Störung im Chromosom 11p13-q13 bedingt ist. Mittlerweile sind mehr als 70 chromosomale Aberrationen oder Genmutationen beschrieben worden.

Abb. 19-34 Endomyokardbiopsie bei dilatativer Kardiomyopathie (DCM)

mit interstitieller Fibrose (blau) und bizarr gestalteten Myozyten. MassonTrichrom, Vergr. 200fach.

Morphologie Bei der HOCM steht makroskopisch eine asymmetrische Hypertrophie des ventrikulären Septums im Vordergrund. Ein subvalvulärer Muskelwulst unterhalb der Aortenklappe bedingt eine Stenose der Ausflussbahn des linken Ventrikels (subvalvuläre muskuläre Aortenstenose). Histologisch findet sich eine Texturstörung der Herzmuskelfasern mit irregulärem Verlauf und wirbeliger Anordnung. Diese ist auch immunhistologisch (Desmin-Färbung) und/oder elektronenmikroskopisch als Fehlanordnung der Myofibrillen zu erkennen; zusätzlich sind noch eine interstitielle Fibrose und eine leichte Endokardfibrose nachweisbar. Bei der hypertrophen, nichtobstruktiven Kardiomyopathie (HNCM) liegt eine Hypertrophie der spitzennahen Kammermuskulatur und der freien Wand des linken Ventrikels vor. Die Kammerlichtung ist eng, ohne Obstruktion der Ausflussbahn. Das mikroskopische Bild entspricht dem der HOCM.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Eine Herzinsuffizienz ist bei Patienten mit einer HOCM selten. Es besteht aber die Gefahr eines plötzlichen Herztodes, in der Regel hervorgerufen durch Arrhythmien. Bei ausgeprägter Septumhypertrophie ist eine chirurgische Therapie möglich. Die Diagnose kann durch eine Endomyokardbiopsie gesichert werden.

Restriktive Kardiomyopathie Die restriktive oder obliterative Kardiomyopathie ist in Mitteleuropa die seltenste Form einer primären Kardiomyopathie. Sie wird durch eine Fibrose des Endomyokards hervorgerufen, ist weitgehend identisch mit der tropischen Endokardfibrose und weist Beziehungen zu der Endocarditis parietalis fibroplastica Löffler auf (siehe Kap. 19.4.1). Morphologisch ist das Lumen der Ventrikel durch die erhebliche Endokardfibrose und ausgeprägte Parietalthromben stark eingeengt. Hämodynamisch zeigt der meist normal große Ventrikel eine Störung der diastolischen Dehnbarkeit. ätiologisch und differentialdiagnostisch sollten unter anderem eine Amyloidose, Speicherkrankheiten (Hämochromatose, Glykogenspeicherkrankheit, Morbus Fabry u.a.), eine Sarkoidose und eine systemische Sklerodermie ausgeschlossen werden. Bei der eosinophilen Variante (Endocarditis parietalis fibroplastica Löffler) sind andere Ursachen einer eosinophilen Myokarditis auszuschließen, z.B.hypereosinophiles Syndrom, systemische Vaskulitiden mit Eosinophilie und parasitäre Infektionen. Die Diagnose wird durch eine Endomyokardbiopsie gesichert.

Arrhythmogene rechtsventrikuläre Kardiomyopathie Bei der arrhythmogenen rechtsventrikulären Kardiomyopathie (ARVCM) handelt es sich um eine rechtsventrikuläre Kardiomyopathie, die in der segmentalen Verdünnung der rechtsventrikulären Muskulatur mit Einlagerung von Fett-Bindegewebe ihre pathologisch-anatomischen Charakteristika hat (Abb. 19-35). Ein übergreifen auf den linken Ventrikel ist selten, aber möglich. Klinisch imponieren komplexe Rhythmusstörungen, die sich bereits im jugendlichen Alter manifestieren und bei akuter körperlicher Belastung zum akuten Herztod führen können. Die ätiologie ist unklar. Hereditäre Faktoren sind bei einem Teil der Patienten anzunehmen. Bisher wurden genetische Mutationen für folgende Loki nachgewiesen: 1q42q43, 2q32, 14q23-24 und 14q12-q22. Histologisch muss diese Erkrankung von einer banalen Lipomatose des Myokards abgegrenzt werden (Fehlen von Fibrosearealen). Die Diagnose kann durch eine Endomyokardbiopsie und/oder kernspintomographische Untersuchung des Herzens gesichert werden.

Abb. 19-35 Arrhythmogene rechtsventrikuläre Kardiomyopathie (ARVCM).

a Diaphanoskopie des Myokards des rechten Ventrikels mit massiver Fettdurchwachsung (gelb) und nur geringen Resten intakter Herzmuskulatur (schwarz). b Angiofibrolipomatöse Umwandlung des Myokards. Masson-Trichom, Vergr. 25fach. c EKG-getriggertes MR-Bild des rechten Ventrikels mit fokalen lipomatösen Herden (Pfeile).

Nicht klassifizierbare Kardiomyopathien Unter diesem Begriff werden seltene primäre Herzerkrankungen zusammengefasst (z.B. Fibroelastose, Spongy myocardium, systolische Dysfunktion mit minimaler Dilatation, verschiedene Mitochondriopathien, Karzinoidherz), die in keine der bisher genannten Formen der primären Kardiomyopathien eingeordnet werden können. ätiologie und Pathogenese sind noch unklar.

19.6.2

Spezifische (sekundäre) Kardiomyopathien

Dieser Begriff wurde von WHO und ISFC-Task-Force 1995 zusätzlich eingeführt. Mit dieser Bezeichnung werden Herzmuskelerkrankungen beschrieben, die mit herzspezifischen oder systemischen Erkrankungen assoziiert sind. Die ischämische Kardiomyopathie präsentiert sich klinisch und morphologisch als dilatative Kardiomyopathie mit einer verminderten Ventrikelkontraktion, die durch das Ausmaß der koronaren Herzerkrankung und ihre ischämischen Folgeschäden nicht erklärt werden kann. Bei der hypertensiven Kardiomyopathie findet sich klinisch und morphologisch ein Mischbild aus linksventrikulärer Hypertrophie, dilatativer oder restriktiver Kardiomyopathie. Unter einer valvulären Kardiomyopathie wird eine kardiale Dysfunktion definiert, die die zu erwartende Pumpleistungsstörung überschreitet, die durch den reinen Klappenfehler zu erwarten gewesen wäre. Metabolische und endokrine Kardiomyopathien werden bei Thyreotoxikose, Hypothyreoidismus, Nebenniereninsuffizienz, Phäochromozytomen, Akromegalie und beim Diabetes mellitus gesehen; weiterhin bei angeborenen Speicherkrankheiten (Glykogenspeicherkrankheiten, Hämochromatose, Hurler-Syndrom, Refsum-Syndrom, Niemann-Pick-Erkrankung, Hand-Schüller-Christian-Erkrankung, Morbus Fabry u.a.). Weitere Ursachen können Störungen des Kalium- und Magnesiumstoffwechsels sowie Ernährungsstörungen (Kwashiorkor, Beri-Beri, Selenmangel, Amyloidose u.a.) sein.

Die alkoholische Kardiomyopathie ist eine klinische Diagnose. Es ist bisher unbekannt, bei welcher genauen täglichen Alkoholmenge und welcher Dauer des Alkoholabusus mit dem Auftreten einer alkoholischen Kardiomyopathie zu rechnen ist. Noxen sind der Alkohol selbst und sein erster Metabolit, das Acetaldehyd. Eine bisher unbekannte spezifische individuelle Disposition scheint Vorbedingung zu sein. Die histologischen Veränderungen sind uncharakteristisch, können jedoch im Finalstadium in eine dilatative Kardiomyopathie einmünden. Inwieweit das immer wieder in der Literatur erwähnte „Münchner BierherzӍ und „Tübinger WeinbauernherzӍ als alkoholbedingt einzuordnen ist, wurde ätiologisch und pathogenetisch nie abgeklärt. Im Zunehmen begriffen sind medikamentös-toxische Kardiomyopathien. Phenothiazin, trizyklische Antidepressiva und Lithiumkarbonat, Drogen (z.B. Kokain) u.a. induzieren Funktionsstörungen, Arrhythmien und Repolarisationsstörungen. Gefürchtet ist die durch Zytostatikatherapie, speziell Adriamycin, induzierte Kardiomyopathie, die in ihrer akuten Phase histologisch durch multifokale areaktive Herzmuskelzellnekrosen charakterisiert ist („Schweizer-Käse-MusterӍ). Bei subakuten Formen finden sich klinisch Perikardergüsse, Rhythmusstörungen und reversible/passagere Störungen der Pumpfunktion. Auch nach Strahlentherapie des Mediastinums sind Kardiomyopathien beobachtet worden, die häufig mit chronischen Perikardergüssen einhergehen. Die peripartale Kardiomyopathie manifestiert sich meist unter dem morphologischen und klinischen Bild einer dilatativen Kardiomyopathie in der Peripartalperiode. Sie muss differentialdiagnostisch von einer akuten Virusmyokarditis abgegrenzt werden. Bestimmte Systemerkrankungen, z.B. SLE, Polyarteriitis nodosa, rheumatoide Arthritis, Sklerodermie und Dermatomyositis sowie die Sarkoidose können ursächlich für spezifische Kardiomyopathien identifiziert werden. Sonstige spezifische Kardiomyopathien treten bei Muskeldystrophien, z.B. Morbus Duchenne, Becker-Typ, und myotonen Dystrophien auf sowie bei neuromuskulären Erkrankungen, z.B. Friedreich-Ataxie (siehe Kap. 8.8.7).

19.6.3

Myokarditis

Definition Die Myokarditis ist definiert als eine Schädigung kardialer Myozyten mit reaktiver Infiltration des Herzmuskels durch Entzündungszellen, die klinisch mit einer kardialen Dysfunktion einhergeht. Nach der WHO/ISFC-Task-Force-Nomenklatur von 1995 zählt sie heute zu den spezifischen Kardiomyopathien unter dem Begriff der entzündlichen Kardiomyopathie.

Epidemiologie Die Häufigkeit der Myokarditis ist schwer zu ermitteln, weil die klinische Diagnose mit Unsicherheiten behaftet ist. In unausgelesenem autoptischem Untersuchungsgut sind mit einer Häufigkeit von 5% entweder akut entzündliche Veränderungen oder umschriebene myokardiale Narben nachzuweisen, die als Folgezustände einer abgelaufenen oder abheilenden Myokarditis zu interpretieren sind. Bei Kindern und Jugendlichen, die unter dem Bild des unerwarteten und plötzlichen Herztodes sterben, finden sich entzündliche myokardiale Veränderungen in 17–21%. Bei Infektionen mit Coxsackie-Viren der Gruppe B wird die Inzidenz einer Myokarditis anhand epidemiologischer Daten auf 5–20% geschätzt. Das Manifestationsalter einer Virusmyokarditis ist in industrialisierten Ländern zunehmend in der jungen Erwachsenenperiode anzusiedeln: 52% der Virusmyokarditiden manifestieren sich im Alter von 20–39 Jahren. Bei Neugeborenen und Kindern unter 6 Monaten sind fulminante Krankheitsverläufe bekannt: Die Coxsackie-Virus-induzierte Säuglingsmyokarditis hat eine Mortalität von bis zu 50%.

Ätiologie Man unterscheidet zwischen infektiösen und nichtinfektiösen Formen der Myokarditis.

Nichtinfektiöse Formen der Myokarditis Bei letzteren werden immunpathologische Mechanismen für die Entstehung verantwortlich gemacht, die sich morphologisch unter folgenden Krankheitsbildern dokumentieren kann:

Riesenzellmyokarditis Eine seltene Erkrankung unbekannter ätiologie, die Jugendliche und Patienten im jungen Erwachsenenalter befallen kann. Sie ist klinisch durch einen rapiden, meist fatalen Verlauf charakterisiert, mit einer massiven Destruktion der Myokardiozyten durch mehrkernige Riesenzellen in Begleitung von Lymphozyten, Plasmazellen und auch eosinophilen Granulozyten. Die Diagnose wird durch eine Endomyokardbiopsie gesichert. Therapie der Wahl ist eine hoch dosierte immunsuppressive Therapie bzw. eine Herztransplantation.

überempfindlichkeitsmyokarditis Diese Erkrankung wird durch eine überempfindlichkeitsreaktion auf verschiedene Medikamente hervorgerufen (Sulfonamide, Isoniazid, Penicillin, Tetrazykline, Phenylbutazon, Methyldopa, Kokain, Streptomycin u.a.) und ist histologisch durch

eine interstitielle chronische Entzündung charakterisiert, typischerweise mit Lymphozyten, Plasmazellen, Makrophagen und reichlich eosinophilen Granulozyten. Klinisch finden sich eine Bluteosinophilie, Herzrhythmusstörungen, eine leichte Kardiomegalie, leicht erhöhte herzspezifische Enzyme und eine erhebliche Tachykardie. Die Diagnose erfolgt durch Endomyokardbiopsie.

Hypereosinophile Myokarditis Diese Erkrankung tritt bei Patienten im mittleren Erwachsenenalter auf, die eine mehr als 6 Monate bestehende Bluteosinophilie von über 1500 Eosinophilen/mm3 aufweisen. Die Entzündung spielt sich in beiden Ventrikeln ab und ist histologisch (Endomyokardbiopsie) durch eine massive Infiltration des Endo- und Myokards durch eosinophile Granulozyten mit ausgedehnten Herzmuskelzellnekrosen charakterisiert.

Rheumatische Myokarditis Die rheumatische Myokarditis stellt eine granulomatöse Myokarditis im Rahmen des rheumatischen Fiebers dar (siehe Kap. 19.4.1).

Granulomatöse Myokarditis Ätiologie Die häufigste Form der granulomatösen Myokarditiden ist die Myokarditis bei systemischer Sarkoidose. Eine Herzbeteiligung (Rhythmusstörungen) findet sich in 20% der Fälle, in 6% stellt die Myokarditis die Todesursache dar.

Morphologie Die epitheloidzelligen Granulome mit Langhans-Riesenzellen können bei der Sarkoidose sehr groß sein. Sie liegen meist in der Wand des linken Ventrikels sowie im Septum interventriculare unter Einbeziehung des Reizleitungssystems.

Infektiöse Formen der Myokarditis Bakterielle und mykotische Myokarditis Ätiologie Die bakterielle Myokarditis ist eine hämatogen entstandene eitrige Myokarditis. Zu den häufigsten Erregern gehören Staphylokokken, Pseudomonas, Proteus, Aerobacter, Klebsiella und Pneumokokken. Eine Abwehrschwäche, z.B. bei einem

Diabetes oder bei schweren Verbrennungen, kann prädisponierend wirken. Ausgangsherde können die unterschiedlichsten Infektionen im Organismus sein. Seit Einführung der Antibiotikatherapie sind bakterielle Myokarditiden seltener geworden, bei primär oder sekundär immungeschwächten Patienten finden sich allerdings zunehmend Pilzinfektionen (Candida albicans, Aspergillen u.a.).

Morphologie Das makroskopische Bild zeigt Myokardabszesse, die sich oft als kleine gelbliche Herde darstellen. Histologisch findet man im Bereich von untergegangenem Muskelgewebe Granulozytenaggregate.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die myokardialen Schädigungen sind oftmals im EKG nachweisbar. Die Prognose der bakteriellen/mykotischen Myokarditis ist schlecht. Häufig sterben die Patienten an den Folgen der septischen Allgemeininfektion im septischen Schock (siehe Kap. 7.10).

Diphtheriemyokarditis Die diphtherieassoziierte Myokarditis war vor der Einführung der Diphtherieschutzimpfung eine sehr gefürchtete, oft tödliche Komplikation. Das von Corynebacterium diphtheriae freigesetzte Exotoxin gelangt auf dem Blutweg in die Herzmuskelfasern, bevorzugt des rechten Herzens und des Reizleitungssystems, mit konsekutiver Verfettung und scholligem Zerfall, begleitet von einer mononukleären Entzündung. Bei Ausheilung entwickelt sich eine interstitielle Fibrose. Tödliche Ausgänge mit akuter Herzdilatation drohen besonders in der zweiten Woche nach Infektion, wenn es dem Patienten bereits besser geht und er langsam mobilisiert wird.

Myokarditis durch Protozoen Ätiologie Die Toxoplasmose (Toxoplasma-gondii-Infektion) ist ein Risiko für Patienten unter Chemotherapie, bei AIDS und nach Organtransplantationen. Bei Herztransplantationen kann es unter immunsuppressiver Therapie in der frühen postoperativen Phase zu einer Reaktivierung einer bereits durchgemachten Toxoplasmose kommen; auch Denovo-Infektionen sind bekannt, wobei der Erreger teilweise aus dem Spenderorgan auf den Transplantatempfänger übertragen wird.

Die gehäuft in Lateinamerika auftretende Chagas-Erkrankung, verursacht durch Trypanosoma cruzi, manifestiert sich am Herzen meist als akute, in 10–30% als chronische Myokarditis.

Morphologie

Die Toxoplasmen werden in kleinen Pseudozysten in den aufgetriebenen Muskelfasern nachgewiesen. Eine stärkere entzündliche Reaktion fehlt meist. Die von der Chagas-Krankheit befallenen Herzen sind erheblich vergrößert. Die dilatierten Ventrikel haben schlaffe Kammerwände. Histologisch sind ausgedehnte herdförmige Infiltrate von Lymphozyten und Plasmazellen nachzuweisen. Dazwischen finden sich feinfleckige Myokardnekrosen. Pseudozysten mit Erregern sind allerdings nur selten zu beobachten. Darüber hinaus findet sich eine Zerstörung der Nervenzellen in den Ganglien der Herzvorhöfe.

Virale Myokarditis Ätiologie Zahlreiche Viren können eine Herzmuskelentzündung auslösen. Man unterscheidet zwischen primär kardiotropen Viren (Enteroviren, speziell Coxsackie-B-Viren; Adenoviren; neonatal: Parvo-B19-Viren) und nichtkardiotropen Viren (Zytomegalievirus, Flaviviren, FSME-, Dengue-, Hantavirus; Hepatitis-C-Virus; Herpes-simplex-Virus; HI-Virus; Influenzaviren; Masernvirus; Mumpsvirus: Parvo-B19-Virus; Respiratory-syncytial-Virus; Rötelnvirus; Tollwutvirus; Varicella-Zoster-Virus). Bei ihnen kommt es im Rahmen einer allgemeinen Virusinfektion zu einer Herzbeteiligung im Sinne einer Myokarditis, meist unter dem histologischen Bild einer interstitiellen Begleitmyokarditis mit nur geringgradig ausgeprägten Herzmuskelzellnekrosen.

Pathogenese am Beispiel der Coxsackie-B-VirusInfektion Die Eintrittspforte der Coxsackie-B-Viren als häufigste Erreger einer Virusmyokarditis ist vorwiegend der Mund mit initialer Virusvermehrung im Pharynx und Intestinaltrakt. Nach Replikation des Virus in regionalen Lymphknoten kann es im Rahmen einer kurzen virämischen Phase zu einer ausgedehnteren Infektion von Zellen des retikuloendothelialen Systems mit weiterer Virusvermehrung kommen. Virusvirulenz und Wirtsfaktoren modulieren den weiteren Verlauf. Die Infektion von Zielorganen, z.B. Herz, erfolgt im Rahmen der virämischen Phase, die mit dem Auftreten von neutralisierenden Antikörpern endet. Im Verlauf einer Coxsackie-B-Virus-

Infektion werden infektiöse Viruspartikel über mehrere Wochen mit dem Stuhl ausgeschieden. Für die initiale Organschädigung ist eine virusinduzierte Lyse von Myozyten verantwortlich, verursacht durch eine intrazelluläre Virusreplikation, die bereits vor Ausbildung der zellulären Entzündungsreaktion nachweisbar ist. Die reaktive Entzündungsreaktion durchläuft zwei Phasen: ■ zunächst die unspezifische Immunantwort mit Makrophagen und natürlichen Killerzellen ■ die spezifische Immunantwort mit T-Helferzellen und zytotoxischen TLymphozyten in einer zweiten Welle. Diese Entzündungsreaktion erscheint trotz Expression kardiodepressiver Zytokine, wie Interleukin-1-β und TNF-α, als protektiv, da es der zellulären Immunität in der Regel gelingt, infizierte myokardiale Zellen zu eliminieren. Dementsprechend heilen die meisten Myokarditiden aus. Im Rahmen der narbigen Defektheilung kann es jedoch zu einer bleibenden funktionellen Schädigung des Herzmuskels kommen. Bei einem Teil der Patienten entwickelt sich aus bisher unbekannten Gründen eine chronische Myokarditis, bei der es sich nicht notwendigerweise um eine persistierende Coxsackie-B-VirusInfektion handeln muss, da klinische Befunde auch eine postvirale Immunpathogenese der Myokardschädigung ohne Viruspersistenz belegen. Eine persistierende enterovirale Infektion kann zudem auch im Stadium der chronischen Myokarditis noch spontan mit und ohne Residualschädigung ausheilen. Andererseits entwickelt ein Teil der Patienten mit akut aufgetretener schwerster Herzinsuffizienz ein chronisch progredientes Krankheitsbild im Sinne einer dilatativen Kardiomyopathie, die ebenfalls mit Viruspersistenz assoziiert sein kann. Bei durchschnittlich 25% der Patienten mit chronischer Myokarditis und/oder dilatativer Kardiomyopathie gelingt mit molekularbiologischen Methoden ein positiver Enterovirusnachweis im Herzmuskelgewebe.

Morphologie Die endgültige Sicherung der klinischen Verdachtsdiagnose „MyokarditisӍ erfolgt durch die histologische Beurteilung einer Endomyokardbiopsie. Nach der Dallas-Klassifikation von 1984 unterscheidet man zwischen ■ einer akuten Myokarditis, charakterisiert durch fokale oder diffuse mononukleäre Entzündungsinfiltrate mit Myozytolysen und interstitiellem ödem (Abb. 19-36a) ■ einer abheilenden Myokarditis mit lymphozytärem Infiltrat ohne Myozytolysen

■ einer abgeheilten Myokarditis mit kleinen Narben nach vorheriger akuter Myokarditis (hierbei muss die Myokarditis durch eine vorausgegangene Biopsie gesichert worden sein). Die so genannten Dallas-Kriterien für die histologisch-pathologische Beurteilung von Endomyokardbiopsien basieren auf histologischen Routinefärbungen ohne immunhistochemische und molekularbiologische Untersuchungen und sind deshalb lediglich für die Beurteilung einer akuten Myokarditis mit nekrobiotischen Veränderungen von Myozyten in Anwesenheit eines ausgeprägten Entzündungsinfiltrats nützlich. Problematisch ist die alleinige Anwendung der Dallas-Kriterien für chronische Herzmuskelerkrankungen, da chronisch dilatierte Herzen in jedem Falle eine Myozytenhypertrophie, daneben aber auch eine Myozytendegeneration und eine interstitielle Myokardfibrose aufweisen. In solchen Herzen findet man immer wieder lymphozytäre Infiltrate ohne offensichtliche Myozytennekrosen, die Ausdruck sowohl einer viralen als auch einer autoimmunologischen chronischen Herzerkrankung sein können (Abb. 19-37). Dementsprechend wurde in der 1996 publizierten WHO/ISFC-Task-Force-Klassifikation der Kardiomyopathien erstmalig auch der Begriff inflammatorische Kardiomyopathie als akute und chronische Myokarditis mit kardialer Dysfunktion eingeführt. Für die chronische Myokarditis/inflammatorische dilatative Kardiomyopathie wurden 1998 erneut durch die WHO/ISFC-Task-Force auf der Grundlage immunhistochemischer Untersuchungen Kriterien für die Diagnosik der chronischen Entzündung des Herzens festgelegt und somit die DallasKlassifikation an die neue Definition angepasst. Durch die Verwendung monoklonaler Antikörper gegen Lymphozytenoberflächenantigene (z.B. CD3, CD4, CD8) sowie gegen Makrophagen (CD68) werden entzündliche Veränderungen des Herzmuskels im Sinne einer chronischen Myokarditis/entzündlichen dilatativen Kardiomyopathie definiert, wenn mehr als 14 Lymphozyten/Makrophagen/mm2 nachweisbar sind (Abb. 19-37). Wichtige ätiologische Hinweise für eine Viruspathogenese der Myokarditis lassen sich aus der molekularpathologischen Diagnostik von Endomyokardbiopsien ableiten, wobei sowohl die In-situ-Hybridisierung (Abb. 19-36b) als auch die PolymeraseKettenreaktion (PCR) (Abb. 19-36c, d) zum Einsatz kommen.

Abb. 19-36

Akute Virusmyokarditis.

a Umschriebene Myozytennekrosen (N), umrandet von CD3-positiven TLymphozyten (braun) und PGM-1-positiven Makrophagen (rot). Immunhistochemische Doppelfärbung, Vergr. 120fach. b Enteroviruspositive In-situ-Hybridisierung von Myozyten (schwarze Signale). HE, Vergr. 100fach. c Lage der PCR-Primer-Bindungsstellen im Coxsackie-Virus-B3-Genom. 1. PCR: Primer EVprim1, EVprim2. Nested PCR: Primer EVprim3, EVprim4. d Nachweis von Coxsackie-Virus-B3-(CVB3-)RNA durch nested RT-PCR in einer Endomyokardbiopsie eines Patienten mit akuter Myokarditis. Spur 1–3: Positiver Nachweis der Glycerin-Aldehyd-Phosphat-Dehydrogenase (GAPDH) als Hinweis für eine erfolgreiche DNA/RNA-Extraktion des untersuchten Gewebes (sog. „Housekeeping-GenӍ) in drei Endomyokardbiopsien. Spur 4: H2O-Kontrolle; Spur 5: Nachweis von CVB3-RNA in einer Endomyokardbiopsie; Spur 6, 7: Kein CVB3-RNA-Nachweis in zwei Endomyokardbiopsien; Spur 8: H2O-Kontrolle; M: Marker.

Abb. 19-37 Virale Myokarditis: chronische Myokarditis/inflammatorische dilatative Kardiomyopathie.

a Chronische Myokarditis mit multifokalen CD3-positiven T-LymphozytenInfiltraten im Interstitium (Pfeile) ohne Myozytennekrosen. Immunhistochemische Färbung, Vergr. 200fach. b Inflammatorische dilatative Kardiomyopathie mit ausgeprägter interstitieller Fibrose (blau) und multifokalen lympho-mononukleären Infiltraten im angrenzenden Myokard. Masson-Trichrom, Vergr. 100fach.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Diagnose einer Virusmyokarditis ist zweifelsfrei nur aus der Endomyokardbiopsie unter Einbezug histologischer, immunhistochemischer und molekularpathologischer Methoden möglich. Die Endomyokardbiopsie erfolgt im Rahmen der invasiven kardiologischen Diagnostik und ist bei allen Patienten indiziert, bei denen eine neu aufgetretene ungeklärte Herzinsuffizienz, lebensbedrohliche ventrikuläre Rhythmusstörungen oder ein reanimationspflichtiger Zustand vorliegt. Differentialdiagnostisch ist im Rahmen der invasiven kardiologischen Diagnostik eine koronare Herzerkrankung durch Koronarangiographie auszuschließen. Eine Endomyokardbiopsie ist allerdings nur dann indiziert, wenn sichergestellt ist, dass eine umfassende histologische, immunhistochemische und molekularpathologische Diagnostik (Abb. 19-36b, d) durchgeführt wird. Zur Minimierung des „sampling errorӍ wird allgemein die Entnahme von fünf rechtsoder linksventrikulären Endomyokardbiopsien empfohlen. Die molekularpathologische Diagnose einer Virusmyokarditis rechtfertigt ein Umdenken hinsichtlich therapeutischer Konsequenzen. Bei viruspositiver Myokarditis ist eine immunsuppressive Therapie mit Kortikosteroiden kontraindiziert, da hierdurch eine erhöhte Virusreplikation induziert und das endogene Interferonsystem gehemmt werden kann. Kontrollierte Therapiestudien zur antiviralen Interferonbehandlung von Patienten mit enteroviraler Myokarditis liegen bislang nicht vor. Allerdings zeigen erste Pilotstudien zur Behandlung enteroviruspositiver Kardiomyopathiepatienten mit rekombinantem Interferon-α-2A eine Verbesserung hämodynamischer Parameter. Die immunsuppressive Therapie bei molekularbiologisch gesicherter virusnegativer Myokarditis repräsentiert einen durch Einzelstudien gesicherten Therapiefortschritt, kontrollierte Studien stehen jedoch bisher ebenfalls aus. Eine allgemein gültige therapeutische Empfehlung beinhaltet bei histologisch gesicherter Myokarditis stets die körperliche Schonung für 3–6 Monate und eine symptomatische medikamentöse Therapie.

19.7

Plötzlicher Herztod

Im Rahmen zunehmender Freitzeitaktivitäten, die teilweise durch Sport ausgefüllt werden, kommt es in den Medien immer häufiger zu Berichten über plötzliche Todesfälle bei Hobby- und Hochleistungssportlern. Bei Abklärung dieser plötzlichen Todesfälle müssen u.a. auch forensische Aspekte berücksichtigt werden (Tod aus natürlicher oder unnatürlicher Ursache, z.B. Doping).

Definition Die WHO definiert den plötzlichen Herztod (sudden cardiac death: SCD) als einen Tod, der sich innerhalb von 24 Stunden nach Einsetzen kardialer Symptome ereignet. Der SCD muss eine natürliche Ursache haben, unerwartet aufgetreten und nicht durch extrakardiale Ursachen bedingt sein.

Epidemiologie In den USA sterben jährlich zwischen 300 000 und 400 000 Menschen an einem SCD, in Deutschland wird die Anzahl mit rund 100 000 Fällen angegeben. Männer (70%) sind wesentlich häufiger betroffen als Frauen (30%).

Ätiologie Hauptursache des SCD ist eine bis dato klinisch unbekannte koronare Herzerkrankung (80%), gefolgt von Kardiomyopathien, hypertensiver Herzerkrankung, Herzklappenerkrankungen, Myokarditis, nicht atherosklerotisch bedingter koronarer Herzerkrankung, kongenitalen Herzerkrankungen und pathologischen Veränderungen des Reizleitungssystems. In 10% der Fälle hat der SCD kein morphologisches Substrat.

Plötzlicher Herztod bei Sportlern Obduktionsbefunde bei so genannten Hobbysportlern (Jogging, Marathonlauf, Schwimmen, Fahrradfahren, Skifahren, Fußballspielen) zeigen, dass in mehr als 70% eine koronare Herzerkrankung für den SCD verantwortlich gemacht werden muss, gefolgt von anderen Ursachen (Tab. 19-6).

Tab. 19-6 Ursachen für den plötzlichen Herztod bei Sportlern. Bei Leistungssportlern, die in der Regel einer ärztlichen Kontrolle unterliegen, ändert sich das Spektrum (Tab. 19-6). Die Inzidenz der koronaren Herzerkrankung nimmt deutlich ab zugunsten von primären und sekundären myokardialen Erkrankungen,

kongenitalen Koronararterienanomalien und klinisch nicht erkannten entzündlichen Herzerkrankungen. Nicht immer liegt dem plötzlichen Herztod ein organisches Leiden zugrunde. Mitunter ist er auch die Folge einer Herzerschütterung im Rahmen eines stumpfen Thoraxtraumas (Ball, Hockeyschläger). Dass selbst verhältnismäßig schwache Hiebe auf die Brust tödliche Auswirkungen haben können, hängt offenbar mit einer bestimmten Phase des Herztaktes zusammen. Während der Repolarisation, wenn sich die elektrische Erregung am Herzen nach dem Auswurf des Blutes zurückbildet, ist der Herzrhythmus einige Millisekunden lang besonders labil. Wird er in diesem Augenblick gestört, kann er in bedrohlicher Weise entgleisen.

19.8

Perikard

Das Perikard besteht aus dem viszeralen und dem parietalen Blatt; das viszerale Blatt ist gleichzeitig die äußerste Schicht des Herzens (Epikard). Das Epikard setzt sich aus kollagenen und elastischen Fasern zusammen und wird von einer Einzelschicht von Mesothelzellen überzogen. Unter physiologischen Bedingungen enthält das Perikard bis zu 30 ml seröse Flüssigkeit. Der Herzbeutel verhindert eine gleichzeitige Dehnung beider Herzhälften. Er begrenzt die akute Dilatation und erlaubt nur einem Ventrikel eine beträchtliche akute Erweiterung, z.B. dem rechten bei akuter Lungenembolie.

19.8.1

Perikarderguss

Hydroperikard Syn.: Herzbeutelerguss

Definition Der Begriff Hydroperikard bezeichnet eine pathologische, nichtentzündliche Flüssigkeitsansammlung im Herzbeutel, die bernsteinfarben ist und einen geringen Eiweißgehalt aufweist (spezifisches Gewicht unter 1015).

Ätiologie Das Hydroperikard tritt sowohl bei einer chronischen Herzinsuffizienz als auch bei Hypalbuminämie auf und wird auf einen erhöhten hydrostatischen bzw. einen verminderten onkotischen Druck zurückgeführt (siehe Kap. 7.4).

Hämoperikard Definition Das Auftreten von Blut im Herzbeutel wird als Hämoperikard bezeichnet und umfasst Blutungen in den Herzbeutel sowie Blutbeimengungen im Sinne eines hämorrhagischen Ergusses.

Ätiologie Die Ursachen eines Hämoperikards umfassen: ■ Ruptur eines transmuralen Myokardinfarkts ■ Ruptur eines Aortenaneurysmas, das im Herzbeutelanteil der Aorta ascendens liegt ■ Thoraxtrauma mit traumatischen Einrissen von Gefäßen und/oder Herzvorhöfen ■ Blutbeimengung bei einer Perikardkarzinose (Abb. 19-38) ■ Blutbeimengung bei einer Perikarditis (siehe Kap. 19.8.2).

Abb. 19-38 Fibrinöshämorrhagische Perikarditis

bei metastasierendem Mammakarzinom.

Klinisch-pathologische Korrelationen Rasch auftretende Herzbeutelergüsse lösen eine akute Herzbeuteltamponade aus, die schon bei einer Menge von 150–300 ml einen tödlichen Ausgang haben kann. Diese minimale Menge ist abhängig vom Herzgewicht, da sich die Herzbeutelgröße dem Herzvolumen durch Wachstum anpasst. Eine Herzbeuteltamponade führt zu einem Druckanstieg im Perikard, einer reduzierten Ventrikelfüllung und auch zu einer verminderten Koronardurchblutung. Das Schlagvolumen sinkt schließlich auf eine ungenügende Menge ab. Therapeutisch ist eine Druckentlastung erforderlich. Bei einer langsamen Vermehrung eines Herzbeutelergusses passt sich dagegen das Perikard durch allmähliches Wachstum an, und der Herzbeutel kann dann bis zu 2 Liter Flüssigkeit enthalten. Auch hier ist therapeutisch eine Druckentlastung indiziert. Empfehlenswert ist eine zytologische Untersuchung der Perikardflüssigkeit, insbesondere bei hämorrhagischen Ergüssen, z.B. zum Ausschluss einer Perikardkarzinose.

19.8.2

Perikarditis

Ätiologie Die ätiologie der Perikarditis variiert. Eine wesentliche Gruppe sind erregerbedingte Entzündungen, z.B. durch Bakterien, Viren oder Pilze. Iatrogene Eingriffe können Mikroorganismen den Zugang ermöglichen. Eine andere vielfältige Gruppe der Perikarditiden ist Ausdruck einer Krankheit außerhalb des Perikards. Dazu gehören: ■

Stoffwechselerkrankungen wie bei Urämie und diabetischer Ketoazidose

■ Bindegewebeerkrankungen wie rheumatoide Arthritis und systemischer Lupus erythematodes (SLE) ■

Myokarderkrankungen wie Myokardinfarkt und Myokarditis



Erkrankungen benachbarter Organe



postoperative (traumatische) Perikarditis.

Morphologie Die bakterielle Perikarditis kann serös, fibrinös oder eitrig sein. Die urämische Perikarditis ist eine fibrinöse Entzündung. Die Pericarditis epistenocardica entwickelt sich bei einem Herzinfarkt als fibrinöse, gelegentlich auch serofibrinöse und hämorrhagische Perikarditis und ist meist auf das Infarktgebiet beschränkt. Die rheumatische Perikarditis dokumentiert sich unter dem Bild einer serofibrinösen Entzündung mit typischer fibrinoider Verquellung des Bindegewebes und auch

rheumatischen Granulomen. Die tuberkulöse Perikarditis entsteht häufig durch direktes übergreifen aus der Nachbarschaft, z.B. eines tuberkulösen Lymphknotens oder eines tuberkulösen Lungenherdes mit histologisch nachweisbaren tuberkulösen Granulomen. Bei malignen Tumoren kann eine fibrinöse, seröse und oft hämorrhagische Perikarditis die karzinomatösen Infiltrate der Herzbeutelblätter begleiten (Abb. 19-38). Die so genannte traumatische Spätperikarditis (Postkardiotomiesyndrom) wird frühestens eine Woche nach einem herzchirurgischen Eingriff gesehen und imponiert morphologisch als serofibrinöse Perikarditis.

Klinisch-pathologische Korrelationen Wichtig bei den verschiedenen Formen einer Perikarditis ist die Ursachenklärung, die entweder histologisch, mikrobiologisch oder molekularpathologisch durchgeführt werden kann. Komplikationen der verschiedenen Perikarditisformen sind umschriebene oder flächenhafte Verwachsungen, die teilweise zu einer vollständigen Obliteration des Herzbeutels bis hin zum Bild einer Pericarditis constrictiva führen können. Hierdurch kommt es zu einer Beeinflussung der diastolischen Kammerfüllung mit Einflussstauung und vermindertem Schlagvolumen, die häufig einen chirurgischen Eingriff im Sinne einer Entfernung (Dekortikation) der Schwielen erforderlich macht.

19.9

Tumoren des Herzens

Klinisch und pathologisch-anatomisch müssen Pseudotumoren (parietale Thromben, entzündlicher, kalzifizierender amorpher und mesothelialer Pseudotumor) sowie Heterotopien und ektopes Gewebe (AV-Mesotheliom, Teratom, ektopes Schilddrüsengewebe) von den primären und metastatischen Tumoren des Herzens abgegrenzt werden.

19.9.1

Primäre Tumoren des Herzens

Primäre Tumoren des Herzens und des Perikards sind selten. Sie werden in weniger als 0,1% der Obduktionen beobachtet. Im Herzen sind benigne Formen dreimal häufiger als maligne, im Perikard (Mesotheliome) sind beide Formen gleich häufig. Tumoren des Herzens werden in allen Altersklassen beobachtet. Histogenetisch handelt es sich um mesenchymale Tumoren, die vom Endokard (papilläres Fibroelastom), vom Myokard (Rhabdomyome, Purkinje-Zell-Hamartom), vom Fettgewebe (lipomatöse Hypertrophie, Lipome, selten Liposarkome), vom Bindegewebe (Fibrome, inflammatorischer myofibroblastischer Tumor, malignes fibröses Histiozytom, Fibrosarkom, Leiomyosarkom), von Blutgefäßen (Hämangiom, epitheloides Hämangioendotheliom, Angiosarkom) oder von neuralem Gewebe (Granularzelltumor, Schwannom/Neurofibrom, Paragangliom, malignes Schwannom/Neurofibrosarkom) ausgehen. Hinzu kommen noch maligne Lymphome und das Myxom, dessen Histogenese bis heute unklar ist.

Kardiales Myxom Syn.: „VorhofmyxomӍ

Epidemiologie Das kardiale Myxom ist der häufigste Herztumor. Es tritt vor allem zwischen dem 30. und 60. Lebensjahr auf. Frauen sind häufiger betroffen als Männer.

Morphologie

Kugelförmige oder polypöse Geschwülste liegen auf dem Endokard (Abb. 19-39) und sind makroskopisch und mit bildgebenden radiologischen Verfahren kaum von einem organisierten Thrombus zu unterscheiden. Sie kommen grundsätzlich in allen Herzhöhlen vor, sind jedoch zu 95% in den Vorhöfen, insbesondere links in der Nähe der Fossa ovalis, anzutreffen. Histologisch zeigt dieser Tumor ein ausgesprochen heterogenes Bild, das durch Vernarbungsprozesse und Thrombosen unterschiedlichen Alters kompliziert wird. Zur sicheren Identifizierung des Tumors werden heute immunhistologische Verfahren eingesetzt, die eine variable Immunoreaktivität gegenüber S100, SM-Aktin, CD31 und Vimentin sowie Calretinin aufweisen.

Abb. 19-39 Vorhofmyxom des Herzens.

Typischer polypöser gelappter Tumor, der häufig nur durch einen schmalen Stiel mit dem Endokard verbunden ist und durch seine Beweglichkeit die Klappenebene verlegen kann.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Durch Verlegung der Klappenebene können kardiale Myxome die diastolische Ventrikelfüllung behindern und zu einer Blutstauung führen. Je nach Lokalisation sind Embolien im großen oder kleinen Kreislauf möglich, ebenso Herzrhythmusstörungen. Bei 1% der Patienten findet sich ein autosomaldominantes Syndrom, charakterisiert durch lentigoartige Hautveränderungen in Kombination mit blauen Nävi, myxoiden Tumoren der Haut, Schwannomen sowie unterschiedliche endokrine überfunktionen, kalzifizierende Sertoli-Zell-Tumoren des Hodens und anderen Läsionen. Aus klinischer Sicht sind die Tumoren gut operabel.

Sekundäre Tumoren des Herzens Die metastatischen (sekundären) Tumoren des Herzens sind erheblich häufiger als die primären. Bei sorgfältiger Untersuchung findet man in etwa 10% der an einem malignen Tumorleiden Verstorbenen Herzmetastasen, öfter in der linken als in der rechten Kammerwand. Metastasen im Perikard sind häufige Befunde im Endstadium eines Tumorleidens. Der häufigste Primärtumor für Herz- und Herzbeutelmetastasen ist das maligne Melanom, gefolgt von dem Bronchialkarzinom, dem Mammakarzinom und den malignen Lymphomen.

19.10 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Herzerkrankungen In der Vergangenheit hat das Fachgebiet Pathologie durch die exakte pathomorphologische Auswertung von zahlreichen Obduktionsbefunden erheblich zur Aufklärung von primären und sekundären Herzerkrankungen beigetragen. Diese Aufgaben werden auch heute noch wahrgenommen, wobei die Indikationsstellung für die Obduktion insofern einem Wandel unterworfen ist, als dass heute primär forensische (in Kooperation mit der Rechtsmedizin) und gutachterliche Fragestellungen (z.B. Abklärung eines akuten Herztodes beim Sport, im Beruf und/oder bei Unfällen) in den Vordergrund treten. 1970 wurde die Endomyokardbiopsie in das klinisch-diagnostische Spektrum zur Abklärung von Herzerkrankungen eingeführt, bei der im Rahmen einer invasiven transvaskulären Herzkatheteruntersuchung rechts- und linksventrikulär kleine Gewebeproben aus dem Endomyokard entnommen und einer pathohistologischen Untersuchung zugeführt werden. Die zunächst nur mit Routinefärbungen durchgeführte histologische Diagnostik resultierte beispielsweise in einer neuen – bis dato nicht möglichen – Klassifikation der Myokarditis. Durch die Anwendung zusätzlicher immunhistochemischer und insbesondere molekularpathologischer Verfahren hat das Fach

Pathologie das Verständnis der ätiologie und Pathogenese, z.B. von entzündlichen Herzerkrankungen, erheblich erweitert. Daraus ergeben sich direkt klinisch-therapeutische Konsequenzen, z.B. bei der Behandlung von viral bedingten Myokarditiden und/oder bei der Therapie der Herztransplantatabstoßung.

Literatur Crone, S.A., Y.Y. Zhao, L. Fan et al.: Erb-B2 is essential in the prevention of dilated cardiomyopathy. Nat. Med. 8 (2002) 459–465. Feldmann, A.M., D. Mc Namara: Myocarditis. N. Eng. J. Med. 343 (2000) 1388–1398. Guertl, B., C. Noehammer, G. Hoefler: Metabolic cardiomyopathies. Int. J. Exp. Path. 81 (2000) 349–372. Maisch, B.: Einteilung der Kardiomyopathien nach der WHO/ISCF Task Force – Mehr Fragen als Antworten? Med. Klinik 93 (1998) 199–209. Mylonakis, E., S.B. Calderwood: Infective endocarditis in adults. N. Engl. J. Med. 345 (2001) 1318–1330. Priori, S.G., J. Barhanin, R.N. Hauer et al.: Genetic and molecular basis of cardiac arrhythmias: impact on clinical management. Eur. Heart J. 20 (1999) 174–195. Richardson, P.: Report of the 1995 World Health Organization and Federation of Cardiology Task Force on the definition and classification of cardiomyopathies. Circulation (1996) 841–842. Shaw, T., E. Perry, W. Mukenna: Dilated cardiomyopathy: a genetically heterogeneous disease. Lancet 360 (2002) 654–655. Silver, M.D., A.J. Gotlieb, F.J. Schoen: Cardiovascular Pathology. Churchill Livingstone, New York 2001. Yeghia Zarians, Y., J.B. Braunstein, A. Askari, P.H. Stone: Unstable angina pectoris. N. Engl. J. Med. 342 (2000) 101–113.

FRAGEN

1 Bei welchen chromosomalen oder sonstigen genetischen Aberrationen ist mit einer gehäuften Manifestation von angeborenen Herzfehlern zu rechnen? 2 Beschreiben Sie die Morphologie der Eisenmenger-Reaktion und daraus resultierende pathophysiologische Konsequenzen. 3 Bei welchen Herzfehlern ist mit einer pulmonalen Hypertonie zu rechnen? 4 Welche angeborenen Herzfehler sind heute noch nicht korrigierbar? 5 Welches sind pathologisch-anatomisch verifizierbare Substrate von Herzrhythmusstörungen? 6 Nennen Sie Risikofaktoren für die Entstehung einer infektiösen Endokarditis und potentielle lokale oder systemische Komplikationen der Endokarditis. 7 Wie lautet die Definition und welches sind morphologische Kriterien der koronaren Herzerkrankung? 8 Wie lautet die Definition des plötzlichen Herztodes? 9 Wie wird die Diagnose einer Virusmyokarditis zweifelsfrei gesichert? 10 Wie kann eine Kardiomyopathie definiert werden? Wie werden Kardiomyopathien eingeteilt? 11 Welches sind die Indikationen zur morphologischen Untersuchung der in diesem Kapitel beschriebenen Krankheiten? Welche Untersuchungen sind indiziert? Welchen Beitrag können diese Untersuchungen zur präzisen Diagnostik und zur Planung der Therapie leisten?

20 Gefäße G.B. BARETTON, C.J. KIRKPATRICK, B.D. BÜLTMANN 20.1

Normale Struktur und Funktion 481

20.1.1

Arterien und Arteriolen 482

20.1.2

Kapillaren, postkapilläre Venolen, Venen 483

20.1.3

Lymphgefäße 483

20.1.4

Reaktionen von Zellen der Gefäßwand auf Schäden 483

20.2

Arteriosklerose – Atherosklerose 484

20.2.1

Atherosklerose 484

20.2.2

Mediasklerose Mönckeberg 492

20.2.3

Arteriolosklerose 493

20.2.4

Arteriolonekrose 494

20.3

Idiopathische Medianekrose Erdheim-Gsell 494

20.4

Aneurysmen 494

Atherosklerotisches Aneurysma 495 Kongenitales Aneurysma 495 Aortendissektion (dissezierendes Aneurysma) 495 Entzündliches Aneurysma 496 Arteriovenöses Aneurysma 496 20.5

Vaskulitis 496

20.5.1

Arterien 497

Primäre Vaskulitiden 497 Sekundäre Vaskulitiden 502

20.5.2

Venen 502

Phlebitis, Thrombophlebitis, Phlebothrombose 502 Phlebektasien und Varizen 503 20.6

Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Gefäßerkrankungen 504

Literatur 504 Fragen 504

Zur Orientierung Die Gefäßversorgung hat eine zentrale Bedeutung für die Aufrechterhaltung der Organfunktionen. Gefäßkrankheiten sind häufig und spielen eine herausragende Rolle in der medizinischen Praxis. Da pathologische Prozesse im arteriellen Gefäßgebiet im Vordergrund der Todesstatistiken stehen, beginnt das Kapitel mit einer detaillierten Darstellung der Atherosklerose als wichtigster Entität. Das die Grenze zwischen Blut und Gefäßwand bildende Endothel wurde als wesentliches pathogenetisches Element sowohl bei der Entstehung als auch beim Verlauf verschiedenartiger Gefäßerkrankungen erkannt. Das Konzept der Endotheldysfunktion ist essentiell für das Verständnis der z.T. paradox erscheinenden Reaktionen, wie der arteriellen Vasokonstriktion nach Endothelschädigung, die auf einen Verlust der endothelialen Stickoxidase zurückzuführen ist. Auch beim arteriellen Hochdruck und beim Diabetes mellitus, zwei weiteren weltweit wichtigen Krankheiten, wird der Endotheldysfunktion bei den Veränderungen der Arteriolen eine zentrale Rolle zugeschrieben. Aneurysmen haben große Bedeutung in der Neuro- und Gefäßchirurgie und müssen früh erkannt werden, da sie rupturieren und zu massiven Blutungen führen können. Ebenfalls klinisch bedeutsam und zugleich diagnostisch anspruchsvoll ist die Gruppe der entzündlichen Gefäßerkrankungen (Vaskulitiden), die eine hohe Relevanz für viele Sparten der Medizin besitzen, von der Dermatologie bis hin zur Nephrologie und Rheumatologie. Schließlich gehören auch Venenleiden zu den häufigen Krankheiten unserer Gesellschaft, sie umfassen Ektasien (Varizen) sowie Entzündungen, die nicht selten mit Venenthrombosen und Thrombembolie einhergehen.

20.1

Normale Struktur und Funktion

Blutgefäße gehören zu den einfachsten Gewebestrukturen im Körper. Die Gefäßwand setzt sich prinzipiell aus lediglich zwei Zelltypen zusammen, den Endothelzellen und glatten Muskelzellen. Entsprechend lassen sich auch die meisten vaskulären Erkrankungen auf Fehlfunktionen dieser beiden Zelltypen zurückführen oder entstehen aus der Interaktion von Leukozyten mit ihnen. Die Zellen, welche die Gefäße umgeben,

d.h. die Bindegewebezellen der Adventitia sowie die Perizyten der Kapillaren und postkapillären Venolen, sind für pathologische Gefäßprozesse dagegen nur von untergeordneter Bedeutung. Perizyten können jedoch die Endothelzellfunktion beeinflussen, und die Adventitiazellen reagieren auf Medialäsionen, z.B. nach Angioplastie oder bei Vaskulitis. Eine einschichtige flache Endothelzellschicht kleidet die Tunica intima aus, die innerste Gefäßwandschicht. Die Endothelzellen sind flach, haben in den geraden, abgangslosen Gefäßabschnitten in der Aufsicht eine eher ovale Form und sind parallel zueinander ausgerichtet. Der Zellkern ist flach oval. Im Bereich von Abgängen sind die Endothelzellen polygonal mit einer weniger deutlichen linearen Anordnung. Die Integrität der Endothelschicht ist für die Gefäßfunktion entscheidend. Normalerweise sind Endothelzellen nicht teilungsaktiv. Nach vaskulären Läsionen mit Endotheldenudation können sie allerdings rasch proliferieren, um die Integrität wiederherzustellen. Mittlerweile ist bekannt, dass sie keineswegs nur eine einfache „mechanische“ Barriere darstellen, welche die Permeation durch die Gefäßwand beeinflusst, sondern dass sie eine Vielzahl unterschiedlicher Funktionen ausüben: ■ Bildung einer semipermeablen Membran zwischen dem zirkulierenden Blut und den übrigen Gefäßwandschichten sowie dem zu versorgenden Gewebe ■ Expression von Adhäsionsmolekülen an ihrer luminalen Oberfläche (z.B. P-Selektin, E-Selektin, interzelluläres Adhäsionsmolekül-1/ICAM-1, Plättchen-/EndothelZelladhäsionsmolekül-1/PCAM-1, vaskuläres Zelladhäsionsmolekül-1/VCAM-1), u.a. für Blutzellen ■ Expression von Rezeptoren für Hormone (z.B. Steroidhormone) und vasoaktive Mediatoren ■ Produktion von vasoaktiven Stoffen mit regulatorischer Wirkung auf den Gefäßtonus □

z.B. vasodilatatorisch: NO, Prostazyklin



z.B. vasokonstriktiv: Endothelin, angiotensin converting enzyme/ACE

■ Beeinflussung der lokalen Bluthomöostase durch Bildung von Gerinnungs- und Fibrinolysefaktoren □ z.B. prothrombotisch wirken von-Willebrand-Faktor/vWF, Tissue-Factor/TF, Plättchenaktivierungsfaktor (PAF), Plasminogen-Aktivator-Inhibitor/PAI □ z.B. antithrombotisch wirken Prostazyklin, Thrombomodulin, Plasminogenaktivator, heparinartige Moleküle ■ parakrine Wachstumsregulation des subendothelialen Gewebes und Beeinflussung von Entzündungsreaktionen durch Bildung von

□ Wachstumsfaktoren und Mediatoren, z.B. platelet-derived growth factor/PDGF, basic-fibroblast growth factor/bFGF, Makrophagenkoloniestimulierender Faktor/M-CSF □

Wachstumsinhibitoren, z.B. Heparin, transforming growth factor-β/TGF-β.

Die glatten Muskelzellen liegen in der auf die Intima folgenden Tunica media (oder auch einfach Media). Sie sind spindelförmig, mit einem einzelnen, lang gezogenen Zellkern und dienen einerseits der Vasokonstriktion bzw. der Vasodilatation, sind jedoch auch in der Lage, Kollagen, Elastin und Proteoglykane, also wichtige Stabilisationsfaktoren für das Gefäß, zu bilden. Ihr Wachstum und ihre Migration werden u.a. reguliert durch PDGF, bFGF sowie Interleukin-1/IL-1, z.B. aus Endothelzellen und Entzündungszellen. Der Aufbau der Media ist in den verschiedenen Gefäßtypen unterschiedlich und lässt so eine histologische Klassifikation zu.

20.1.1

Arterien und Arteriolen

Als Arterien bezeichnet man Blutgefäße, die das Blut vom Herzen wegführen, sei es in den großen Kreislauf oder in den Lungenkreislauf. Der Durchmesser des Arterienlumens variiert von den herznahen Arterien hin zur Peripherie stark; so weist die Aorta beim Erwachsenen einen Durchmesser von 2,5 cm auf, während die kleinen peripheren Arterienäste (Arteriolen) innerhalb von Organen oder der Muskulatur nur noch einen Lumendurchmesser von 20–100 μm besitzen. Der prinzipielle feingewebliche Aufbau der Arterienwand ist dabei gleich (Abb. 20-1): Als Intima wird die das Lumen begrenzende innerste Wandschicht bezeichnet. Sie besteht aus dem einschichtigen flachen Endothel sowie einer darunter liegenden dünnen, zellarmen, lockeren Bindegewebeschicht, dem subendothelialen Stroma. Hieran schließt sich eine sehr dünne Schicht aus dicht liegenden elastischen Fasern an, die Lamina elastica interna. Darauf folgt die Media; sie besteht hier aus glatten Muskelzellen und elastischen Fasern. Der Gehalt an elastischen Fasern nimmt von den herznahen Arterien zur Peripherie hin ab, die Menge an glatten Muskelzellen zu. Deshalb unterscheidet man Arterien vom elastischen Typ (in aller Regel die herznahen Arterien wie z.B. Aorta und A. carotis communis) von Arterien vom muskulären Typ (z.B. die Aa. renales und andere periphere Arterien). Auf die Media folgt wiederum eine sehr dünne Schicht dicht gelagerter elastischer Fasern, die Lamina elastica externa. Hieran schließt sich die Adventitia an, eine lockere Bindegewebeschicht, die auch gut vaskularisiert sein kann.

Abb. 20-1

Normaler Wandaufbau einer Arterie.

Das Gefäßlumen wird von dem einschichtigen, flachen Endothel ausgekleidet, das dem schmalen intimalen Bindegewebe aufsitzt. Es schließen sich die Lamina elastica interna, die Tunica media bzw. „Media“ mit unterschiedlichen Mengen an glatter Muskulatur und elastischen Fasern, die Lamina elastica externa und die Adventitia an. Während die Muskelzellen der Media in kleinen Arterien weitgehend durch direkte Sauerstoffdiffusion aus dem Lumen versorgt werden, ist dies für große Arterien in der Regel nicht ausreichend. Hier wird die Media durch zusätzliche Gefäße aus der Adventitia versorgt. Diese Vasa privata der größeren Arterien bezeichnet man auch als Vasa vasorum.

20.1.2

Kapillaren, postkapilläre Venolen, Venen

Kapillaren haben etwa den Durchmesser eines Erythrozyten (7–8 μm). Die Kapillarwand ist sehr dünn und besteht lediglich aus einer Endothelzellschicht und einer schmalen Basalmembran. Perizyten sind modifizierte glatte Muskelzellen, welche die Kapillaren umgeben und deren Funktionen bislang noch weitgehend unbekannt sind. Sie teilen mit den Endothelzellen die gemeinsame Basalmembran. Da aus einer einzelnen Arteriole viele Kapillaren entspringen, ist der Gefäßquerschnitt groß und die Strömungsgeschwindigkeit entsprechend gering. Dadurch sind Kapillaren hervorragend zum Stoffaustausch durch Diffusion zwischen Blut und Gewebe geeignet. Es bestehen jedoch regionäre Unterschiede in der Kapillarstruktur, v.a. im Hinblick auf die Kontinuität von Endothel und Basalmembran:

■ Eine kontinuierliche Endothelzellschicht findet sich z.B. in Muskulatur, Herz, Lunge, Haut, ZNS. ■ Fenestriertes Endothel ist typisch z.B. für endokrine Organe, Glomeruli und Magen-Darm-Trakt. ■ Sinusoide = diskontinuierliches Endothel plus lückenhafter oder fehlender Basalmembran sind z.B. in Leber, Milz und Knochenmark nachweisbar. Diese Diskontinuität bzw. Lücken erleichtern die transkapilläre Passage. Nach dem Kapillarbett gelangt das Blut in die postkapillären Venolen und danach sequentiell durch Sammelvenolen in die kleinen, mittleren und großen Venen. Die postkapillären Venolen stellen dabei nochmals einen wichtigen Ort des Stoffaustausches zwischen Gewebe und Blut dar. Da der hydrostatische Druck geringer als im Kapillarbett und im Gewebe ist, kann Flüssigkeit aus dem Gewebe wieder nach intravasal gelangen. Venen sind großlumige, aber dünnwandige Gefäße mit unscharf begrenzter Lamina elastica interna. Die Media ist außerdem nicht so gut entwickelt wie bei den Arterien. Venen sind so genannte Kapazitätsgefäße, in denen sich ca. zwei Drittel des gesamten Blutvolumens befinden. Aufgrund ihres schwachen Wandaufbaus sind Venen prädestiniert für irreguläre Dilatation und Kompression/Penetration von außen durch verschiedene pathologische Prozesse (z.B. Entzündung, Tumoren). Venenklappen, die in vielen Venen ausgebildet sind, verhindern den Blutrückstrom, insbesondere in den Extremitäten.

20.1.3

Lymphgefäße

Lymphgefäße sind dünnwandig und werden von Endothel ausgekleidet. Sie dienen als Drainagesystem für interstitielle Flüssigkeit, spielen aber auch durch Verschleppung von Bakterien bzw. Tumorzellen eine wichtige Rolle bei der Ausbreitung entzündlicher bzw. neoplastischer Erkrankungen.

20.1.4 Schäden

Reaktionen von Zellen der Gefäßwand auf

Die wesentlichen Zellelemente in der Blutgefäßwand sind die Endothelzellen und die glatten Muskelzellen in der Media. Beide Zelltypen sind daher für die Gefäßpathologie von entscheidender Bedeutung.

Endotheldysfunktion Der Begriff „endotheliale Dysfunktion“ wird verwendet, um verschiedene Formen von potentiell reversiblen Veränderungen des Funktionszustandes von Endothelzellen unter Umwelteinflüssen zu beschreiben. Endothelzellen können auf verschiedene pathologische Reize durch Modulation ihrer konstitutiven Funktionen reagieren und

auch neue, induzierte Eigenschaften entwickeln. Endothelstimulation bezeichnet dabei rasche, innerhalb von Minuten ablaufende, reversible Reaktionen ohne Proteinneusynthese, z.B. ■ Erhöhung der Gefäßpermeabilität durch Histamin, Serotonin und andere vasoaktive Mediatoren ■

Inhibierung der endothelialen NO-Freisetzung



Umverteilung des P-Selektins durch Thrombin- oder Histaminstimulation.

Endothelaktivierung bezeichnet dagegen Veränderungen in der zellulären Genexpression und Proteinsynthese, was ggf. Stunden oder auch Tage in Anspruch nimmt. Dies kann durch inflammatorische Prozesse (z.B. durch Zytokine oder bakterielle Faktoren), hämodynamischen Stress und Lipide (wie bei der Atherosklerose), so genannte advanced glycosylation end products (AGEs) bei Diabetes mellitus, aber auch durch Viren, Komplementfaktoren und Hypoxie ausgelöst werden. Dabei können aktivierte Endothelzellen ein neues Spektrum von Adhäsionsmolekülen, verschiedenen Zyto- und Chemokinen, Wachstumsfaktoren, vasoaktiven Molekülen, MHC-Molekülen, pro- und antikoagulatorischen Substanzen und anderen Genprodukten exprimieren. Die komplexen molekularen Regulationsmechanismen der Endothelzellaktivierung sind derzeit Gegenstand intensiver Forschung.

Intimaverdickung Vaskuläre Schädigungen stimulieren das Wachstum glatter Muskelzellen in der Media durch Verschiebung des physiologischen Gleichgewichts von Inhibition und Stimulation. Die Reparation von Gefäßwandläsionen umfasst einen physiologischen Heilungsprozess mit Bildung einer Neointima durch ■

Migration glatter Muskelzellen aus der Media in die Intima



nachfolgende Proliferation dieser Intimazellen



Synthese und Ablagerung von extrazellulärer Matrix.

Nur fokale Endothelzelldefekte können auch durch Migration und Proliferation benachbarter Endothelzellen beseitigt werden. Eine ausgeprägtere oder chronische Schädigung der Mediamyozyten führt zu einem komplexeren Reparaturmechanismus. Während des Heilungsprozesses kommt es zu einem Wechsel vom „kontraktilen“ zum „proliferativ-synthetisierenden“ Phänotyp der glatten Muskelzellen mit deutlicher Abnahme der kontraktilen Filamente und gesteigerter Mitosefrequenz. Nach Ende der akuten oder chronischen Schädigung oder auch nach Wiederherstellung der Endothelintegrität können die intimalen Myozyten wieder in ihren physiologischen, nichtproliferativen Zustand zurückkehren.

Ein überschießender Heilungsprozess bewirkt eine Intimaverdickung. Stenosen oder Verschlüsse kleiner oder mittlerer Blutgefäße oder Gefäßprothesen können die Folge sein. Dieser Pathomechanismus spielt bei verschiedenen Gefäßerkrankungen eine wichtige Rolle (z.B. Restenosen nach Angioplastie, Transplantatvaskulopathie, Atherosklerose).

20.2

Arteriosklerose – Atherosklerose

Definition Arteriosklerose (wörtlich: Arterienverhärtung) ist der Oberbegriff für eine Reihe von Arterienerkrankungen, in deren Folge es durch Wandverdickung zu einer Verfestigung der Arterienwand mit konsekutivem Elastizitätsverlust und auch zur Lumeneinengung kommt. Genau genommen umfasst dieser Begriff drei verschiedene Erkrankungsformen: ■ die Atherosklerose als wichtigste Form, gekennzeichnet durch Lipideinlagerungen und Bildung fibröser Plaques in der Intima (siehe Kap. 20.2.1) ■ die Mönckeberg-Mediaverkalkung mit weitaus geringerer klinischer Bedeutung, charakterisiert durch spangenartige Kalkablagerungen in der Media mittlerer Arterien von über 50-Jährigen, häufig mit sekundärer Ossifizierung (siehe Kap. 20.2.2) ■ die Arteriolosklerose/-hyalinose als Erkrankung der kleinen Arterien und Arteriolen, die meist mit Hypertonus und Diabetes mellitus assoziiert ist (siehe Kap. 20.2.3).

20.2.1

Atherosklerose

Die Atherosklerose ist eine Erkrankung der elastischen sowie der großen und mittleren muskulären Arterien. Sie wird gemäß WHO definiert als „eine variable Kombination von Veränderungen der Intima, bestehend aus einer herdförmigen Ansammlung von Fettsubstanzen, komplexen Kohlenhydraten, Blut und Blutbestandteilen, Bindegewebe und Kalziumablagerungen, verbunden mit Veränderungen der Arterienmedia“. Im deutschen Sprachraum wird eine semantische Trennung der Begriffe „Atherosklerose“ und „Arteriosklerose“ leider nicht konsequent durchgeführt, sodass sie oftmals synonym gebraucht werden.

Epidemiologie und klinische Bedeutung Die Atherosklerose mit ihren Folgeerkrankungen führt heute in den westlichen Industrienationen die Mortalitätsstatistik bei den 30–65-Jährigen an. In dieser Altersgruppe sind 30% der Todesfälle auf sie zurückzuführen, in den höheren

Altersgruppen sogar über 50%. Damit hat die Atherosklerose aktuell eine höhere Morbidität als jede andere Erkrankung. Während von den 30er bis zu den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts diese Zahlen stetig anstiegen, geht v.a. die Mortalität in jüngerer Zeit statistisch langsam zurück. Dies wird insbesondere durch Prävention (z.B. Veränderung der individuellen Lebensgewohnheiten), bessere Behandlungsmethoden der wichtigsten Folgeerkrankungen (Herzinfarkt, Schlaganfall) und eine bessere Rückfallprophylaxe erklärt. Das Ausmaß der Atherosklerose, das Alter bei der Erstmanifestation von Folgeerkrankungen und die Mortalität weisen deutliche geographische Unterschiede auf. In weiten Teilen Asiens und Afrikas setzt die Atherosklerose später ein und zeigt eine langsamere Progression als in den westlichen Industrienationen. Auch Folgeerkrankungen manifestieren sich daher später und die Mortalität ist prozentual niedriger. Auffallend ist jedoch, dass sich bei Migration von Menschen aus diesen Gebieten in die westlichen Industrienationen mit übernahme der dortigen Lebens- und Ernährungsgewohnheiten die epidemiologischen Daten den oben genannten angleichen. Diese Beobachtungen weisen bereits auf eine multifaktorielle Ursache der Atherosklerose hin. Eine Reihe von Risikofaktoren konnte in den letzten Jahrzehnten in Großstudien (z.B. Framingham-Studie) nachgewiesen werden.

Ätiologie: Risikofaktoren Als Risikofaktoren werden jene Faktoren bezeichnet, die das Auftreten und die Progression einer Erkrankung statistisch begünstigen können. Solche Risikofaktoren können einerseits eine genetische Prädisposition, andererseits Umwelteinflüsse sein (Tab. 20-1). Nach ihrer Bedeutung für die Progression der Atherosklerose werden sie nach Risikofaktoren erster und zweiter Ordnung gegliedert.

Risikofaktoren erster Ordnung Tab. 20-1 Risikofaktoren für atheromatöse Läsionen (nach A. J. Lusis: Atherosclerosis. Nature 407 [2000] 234). Genetische Prädisposition ■ erhöhte LDL/VLDL-Spiegel ■ reduzierte HDL-Spiegel ■ erhöhte Lipoprotein-A-Spiegel ■ Homozysteinämie ■ familiäre Häufung ■ Diabetes mellitus und Adipositas ■ erhöhte Spiegel von Gerinnungsfaktoren ■ Depressionen und Verhaltensstörungen ■ Geschlecht ■ systemische Entzündungserkrankungen ■ metabolisches Syndrom Umweltfaktoren ■ fettreiche Ernährung ■ Nikotinabusus ■ niedrige Antioxidanzienspiegel ■ Bewegungsmangel ■ Infektionen (Chlamydien, Zytomegalievirus) ■ Hypertonie. Die Bedeutung der Hypertonie im großen Kreislauf für die Entwicklung der Atherosklerose ist seit langem bekannt. Die hämodynamischen Auswirkungen verursachen Endothelschäden, die die Entwicklung der atherosklerotischen Läsionen fördern. ■ Fettstoffwechselstörungen, Hyperlipidämie (z.B. familiäre Hyperlipidämien) und Hypo-HDL-ämie (z.B. Tangier-Syndrom). Bei der familiären Hyperlipidämie

Typ II ist die Anzahl der LDL-Rezeptoren (LDL = Low-density-Lipoprotein) an der Zellmembran, z.B. der Leberzellen, reduziert (Tab. 20-2). Dadurch wird weniger lipoproteingebundenes Cholesterin in die Zellen aufgenommen und metabolisiert. Der Cholesterinspiegel im Blut steigt auf etwa 300–500 mg/dl (normal 120 bis 240 mg/dl). Schon bei jungen Patienten finden sich eine sehr schwere Atherosklerose sowie Cholesterinablagerungen in den Venen und Weichgeweben (siehe auch Kap. 5.3.1). Im Gegensatz zur Erhöhung der LDL hat die Erhöhung der High-densityLipoproteine (HDL) einen protektiven Effekt. über den sog. reversen Cholesterintransport gelangt Cholesterin, an HDL gebunden, aus dem Gewebe in das Plasma zurück und wird anschließend in den Leberzellen metabolisiert. Ein Mangel von HDL, wie etwa beim Tangier-Syndrom (Mutation des ATP-binding cassette transporter-1), führt so ebenfalls zur früh einsetzenden und schnell progredienten Atherosklerose (Abb. 20-2 und 20-3). ■ Nikotinabusus. Menschen mit regelmäßigem Nikotingenuss erkranken früher und zeigen eine schnellere Progression als Nichtraucher. Als Ursache werden Auswirkungen des Nikotins auf die Thrombozytenfunktion, den Lipoproteinspiegel im Plasma, Veränderungen der Hämodynamik, Makrophagenfunktion und Integrität des Endothels diskutiert. ■ Diabetes mellitus. Erhöhte Glukosespiegel führen zu einer Autoglykosylierung von Proteinen. Diese können einen Reiz für verstärkte Phagozytose und reaktive Fibrose sowie Endothelschäden darstellen. Insbesondere der Typ-I-Diabetes (insulinabhängiger/juveniler Typ) verursacht Stoffwechselveränderungen, die zu einer Hyperlipidämie führen können (siehe auch Kap. 46.3.3). ■ Alter. Erste Lipideinlagerungen in die Gefäßintima bestehen in der Aorta bereits in der ersten Lebensdekade, in den Koronarien in der zweiten und in den Hirnarterien in der dritten bis vierten Lebensdekade. Mit zunehmendem Alter zeigen sich diese Läsionen häufiger und progredient bis zur manifesten Atherosklerose (siehe Abb. 20-7). ■ Geschlecht. Männer sind häufiger und früher von atherosklerotischen Arterienveränderungen und ihren Folgeerkrankungen betroffen als Frauen. In der Altersgruppe der 35–55-Jährigen sterben viermal mehr Männer als Frauen an einem Herzinfarkt. Nach der Menopause nimmt auch bei Frauen die Atherosklerose deutlich zu, und die Mortalität gleicht sich in der Altersgruppe der 60–80-Jährigen derjenigen der Männer in diesem Alter an. Dies weist auf den protektiven Effekt der Östrogene hin. Diese Annahme wird durch die Beobachtung einer weiterhin niedrigeren atherosklerosebedingten Morbidität unter postmenopausaler Östrogensubstitution noch verstärkt.

Risikofaktoren zweiter Ordnung Hierzu zählen allgemeine Adipositas, Hyperurikämie, Stress, Bewegungsmangel und hormonelle Faktoren. Auch eine familiäre Belastung bzw. Konstitution kann prädisponierend wirken.

Tab. 20-2 Klassifikation der Hyperlipoproteinämien.

LDL = Low-density-Lipoprotein; VLDL = Very-low-density-Lipoprotein; IDL = Intermediate-density-Lipoprotein

Pathogenese

Zur Pathogenese der Atherosklerose gibt es unterschiedliche Theorien: ■ Nach der Filtrationstheorie werden Lipide aus dem Blut in die Intima filtriert und hier vermehrt angereichert. ■ Auch bei der Perfusionstheorie spielen Lipide eine Rolle. Sie werden aus der Blutbahn durch die Gefäßwand hindurch in die Lymphkapillaren der Adventitia transportiert. ■ Laut der thrombotischen Theorie verursacht aufgenommenes thrombotisches Material die Intimaveränderungen. ■ Die Endothelläsionstheorie geht davon aus, dass auf Endotheldefekten Thrombozyten aggregieren, Wachstumsfaktoren für die glatten Muskelzellen freisetzen und somit zu einer Verdickung der Arterienwand führen.

Abb. 20-2 Pathogenese der Atherosklerose (stimulierende Faktoren grün, inhibierende rot).

a Initiale Phase. Verschiedene schädigende Faktoren (1) führen zu Endothelschaden/-dysfunktion (2). Dies führt zu einer gesteigerten

Endothelpermeabilität und einer veränderten endothelialen Genexpression (NOS: NO-Synthetase; 3). Aufgrund der erhöhten Durchlässigkeit gelangen Low-density-Lipoproteine (LDL) mit ihrer Apolipoprotein-B-Komponente aus dem Blut in das intimale Bindegewebe (4); hier kann es zu einer minimalen Oxidation kommen (endotheliale 12/15-Lipoxygenase/12-LO, reaktive Sauerstoffspezies/ROS; 5) und zur Ablagerung von minimal oxidierten LDL (MO-LDL; 6). HDL vermag die Oxidation zu hemmen (7). b Inflammatorische Phase. MO-LDL inhibieren die NO-Produktion in den Endothelzellen (1); damit fällt ein wichtiger Mediator für die Vasodilatation und die Expression von endothelialen LeukozytenAdhäsionsmolekülen (ELAMs) weg. überdies stimulieren MO-LDL die Endothelzellen zur Expression von Zelladhäsionsmolekülen und chemotaktischen Proteinen (MCP-1 = monocyte chemotactic protein-1) und Wachstumsfaktoren (M-CSF = monocyte colony stimulating factor; 2). Monozyten docken über ihre Adhäsionsmoleküle (PCAM-1, VLA-4, β2Integrin) am Endothel an (3) und passieren es (4). Unter M-CSF-Wirkung proliferieren und differenzieren die Monozyten in der Intima zu Makrophagen (5), die selbst wiederum Zytokine, Wachstumsfaktoren und Matrixkomponenten sezernieren. Auch T-Lymphozyten werden rekrutiert (6). Durch advanced glykosylation endproducts (AGEs), die beim Diabetes mellitus entstehen, wird dieser inflammatorische Prozess weiter stimuliert (7). c Schaumzellbildung. Durch ROS und andere Enzyme (Sphingomyelinase/SMase, sekretorische Phospholipase/sPLA2, andere Lipasen und Myeloperoxidase/MPO) entstehen hoch oxidierte LDL (HOLDL; 1 und 2), die aggregieren (3). HO-LDL werden von den ScavengerRezeptoren (SR-A, CD36 und CD68) auf Makrophagen erkannt (4). Die Scavenger-Rezeptor-Expression wird durch Zytokine (Tumornekrosefaktor α/TNF-α und Interferon-γ/INF-γ) vermittelt (5); Schaumzellen sezernieren Apolipoprotein E (Apo E; 6), das zum Abtransport von überschüssigem Cholesterin via HDL beiträgt und der Schaumzellbildung (7) entgegenwirkt. Der Untergang von Schaumzellen führt zur Freisetzung von extrazellulären Lipiden und Debris in der Intima (8). d Bildung fibröser Plaques. Eine Reihe von Risikofaktoren (erhöhte Spiegel von Homocystein und Angiotensin II (gebildet durch angiotensin converting enzyme/ACE; 1) stimulieren die Migration und Proliferation glatter Muskelzellen (2). Östrogene üben einen günstigen Effekt auf den Lipoproteinspiegel im Plasma aus und stimulieren die Bildung von NO und Prostazyklin durch die Endothelzellen (3). Die Interaktion von CD40 und CD40-Ligand (CD40L) stimuliert T-Lymphozyten und Makrophagen zur Zytokinsynthese (z.B. INF-γ), welche die entzündliche Reaktion, die Proliferation glatter Muskelzellen und die Matrixakkumulation beeinflussen

(4). Die glatten Muskelzellen in der Intima sezernieren extrazelluläre Matrix und führen zur Bildung einer fibrösen Kappe (5). e Komplexe Läsion und Thrombose. Vulnerable Plaques mit dünner fibröser Kappe entstehen durch Matrixdegradation durch verschiedene Kollagenasen, Gelatinasen, Stromolysin und Cathepsine sowie durch Inhibition der Matrixsekretion (1). Bei der Plaquedestabilisierung und Thrombusbildung kann u.a. eine Infektion fördernd wirken (PA: Plättchenaggregation; 2). Die Kalzifizierung scheint ein aktiver, regulierter Prozess zu sein, an dem perizytenartige Zellen in der Intima beteiligt sind, die ein Matrixgerüst zur Ablagerung von Kalziumphosphat sezernieren (3). Die Thrombusbildung erfolgt üblicherweise nach Plaqueruptur (typisch an der „Schulter“) mit Freilegung von Tissue-Factor aus dem nekrotischen atheromatösen Kern. ■ Die monoklonale Theorie besagt, dass Klone glatter Muskelzellen in der Arterienwand tumorähnlich proliferieren können. Eine synoptische Erklärung der dynamischen und polyätiologischen Abläufe, die zur Entwicklung der Atherosklerose führen, lieferte in den letzten Jahren die „Response-to-Injury“-Hypothese: Zentraler Punkt dieser Hypothese ist das Auftreten von Endothelläsionen. Dadurch ist die Permeabilität des Endothels für Plasmabestandteile erhöht, und Monozyten und Thrombozyten heften sich an. Die Theorie stützte sich zunächst auf Beobachtungen, wonach durch Entfernung des Intimaendothels mit einem Ballonkatheter eine rasche Atherosklerose hervorgerufen werden kann. Es hat sich gezeigt, dass nicht nur Endothelläsionen, sondern schon eine Endotheldysfunktion den Prozess der Atherogenese auslösen kann. Im Einzelnen lassen sich bei der „Response-to-Injury“-Hypothese die in Abb. 20-2 dargestellten pathogenetischen Mechanismen unterscheiden. Initiale Phase (Abb.20-2a) Eine endotheliale Dysfunktion steht am Anfang des Prozesses. Sie kann durch Bluthochdruck, Nikotin, Immunmechanismen, hämodynamische Faktoren und eine Hyperlipidämie verursacht werden. Durch die Störung der Endothelfunktion kommt es zu einem Lipoproteineinstrom in die Intima, v.a. von LDL. Im Blut vorhandene Low-density-Lipoproteine (LDL) und andere Apoprotein B enthaltende Lipoproteine treten passiv durch interzelluläre Verbindungen („junctions“) zwischen den Endothelzellen in die Intima des Gefäßes über. Hier können High-density-Lipoproteine (HDL) den Cholesterinanteil wieder übernehmen und ins Blut zurückführen. Andernfalls kann LDL jedoch auch von metabolischen Abbauprodukten (z.B. Radikalen) von Gefäßzellen oxidiert werden. Insbesondere unter dem Einfluss von 12/15-Lipoxygenase aus den Endothelzellen entstehen aus polyenoischen Fettsäuren durch Oxidation mit Sauerstoff hydroperoxyeicosatetraenoische Fettsäuren (HPETE), d.h. minimal oxidierte LDL (mo-LDL). HDL kann durch seine Lipoxygenase hemmende Untereinheit (Paroxonase) teilweise das Entstehen von mo-LDL verhindern.

Inflammatorische Phase (Abb. 20-2b) Kommt es zur Akkumulation von mo-LDL, können die Endothelzellen zur Produktion von Chemokinen angeregt werden, welche die Adhäsion und Einwanderung von Monozyten aus dem Blut (z.B. monocyte chemotactic protein-1/MCP-1) und die Umwandlung von Monozyten in Makrophagen (M-CSF) fördern. Zusätzlich induzieren mo-LDL die vermehrte Expression von Adhäsionsmolekülen auf den Endothelzellen (ICAM-1, P-Selektin, E-Selektin, PCAM-1 und VCAM-1), die den Monozyten mit ihren Adhäsionsmolekülen (β2Integrin, VLA-4 und PCAM-1) als Ankerstellen dienen und die transendotheliale Monozyten- und T-Lymphozyten-Migration in die Proteoglykanschicht der Intima erleichtern. Durch Endotheldefekte und/oder endotheliale Expression von Adhäsionsmolekülen wird auch die weitere Einwanderung von Monozyten in die Arterienintima gefördert. Nach den grundlegenden Untersuchungen von Brown und Goldstein kommt den Makrophagen in der Intima eine zentrale Rolle bei der Atherogenese zu. Dieser lokale unspezifische inflammatorische Prozess wird auch von einer systemischen Antwort begleitet, wie z.B. einer erhöhten Plasmakonzentration des C-reaktiven Proteins/CRP, eines in der Leber gebildeten Akute-Phase-Proteins. Dabei wird derzeit diskutiert, ob das CRP nicht einen prädiktiven Biomarker für ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse bei gesunden Personen, aber auch bei Patienten mit manifester Atherosklerose darstellen könnte. Schaumzellbildung (Abb. 20-2c) LDL müssen extensiv modifiziert, d.h. „hoch oxidiert“ werden, bevor sie von Makrophagen so rasch aufgenommen werden können, dass Schaumzellen entstehen. Diese Modifikation erfolgt durch reaktive Sauerstoffspezies (ROS) aus Endothelzellen und Makrophagen. Weitere LDL oxidierende Enzyme sind Myeloperoxidase, Sphingomyelinase und sekretorische Phospholipase. Die hoch oxidierten, aggregierten LDL werden dann von Makrophagen, die in die Intima eingewandert sind, durch Bindung an den ScavengerRezeptor viel leichter und schneller aufgenommen als unveränderte LDL aus dem Blut, dabei aber weniger gut umgebaut. So entstehen aus den Makrophagen Schaumzellen (Lipid speichernde Makrophagen). Ebenso sezernieren Makrophagen jedoch aktiv Apolipoprotein E, das den Efflux von Cholesterin aus den Makrophagen zu den HDL erleichtert und der Schaumzellbildung entgegenwirkt (reverser Cholesterintransport; Abb. 20-3). Die Expression von Scavenger-Rezeptoren (SR-A und CD36) auf den Makrophagen wird durch Peroxisome-proliferator-activated-Rezeptor-γ, TNF-α und Interferon-γ (aus T-Lymphozyten) stimuliert. Dadurch akkumulieren je nach Lipidmenge in der Intima immer mehr Schaumzellen, die reich an mo-LDL und höhergradig oxidierten LDL sind. Im weiteren Verlauf gehen zahlreiche Schaumzellen zugrunde und hinterlassen eine zunehmende Menge freier, z.T. hochgradig oxidierter Lipide.

Abb. 20-3 Schematische Darstellung des Cholesterinstoffwechsels in den Makrophagen der Intima.

Die Makrophagen nehmen LDL-gebundene Cholesterinester über LDL- und VLDL-Rezeptoren (Scavenger-Rezeptor) auf. Das Cholesterin gelangt in die Lysosomen. Durch eine lysosomale saure Lipase wird der Cholesterinester in Cholesterin und freie Fettsäuren (FS) gespalten. Das Cholesterin wird entweder über das ACAT-System reesterifiziert und im Zytoplasma abgelagert, oder es wird über den APO-E-Rezeptor sezerniert (reverser Cholesterintransport) und gelangt als HDL-Cholesterin (HDLC) in die Leber. Diese Makrophagenfunktion stellt somit einen Schutzmechanismus vor überladung mit Cholesterin dar. ACAT = Acyl-Koenzym-A-Cholesterin-Acyltransferase. Bildung fibröser Plaques (Abb. 20-2d) Die Veränderungen in der Intima mit Entstehung von chemotaktischen Stoffen führen zur Einwanderung von zahlreichen Lymphozyten. Die Interaktion von CD40/CD40L (L = Ligand) auf T-Lymphozyten und Makrophagen stimuliert zusätzlich die Produktion von INF-γ und fördert damit die entzündliche Reaktion im entstandenen Lipidplaque. Die entzündliche Reaktion mit Ausschüttung von Zytokinen und Wachstumsfaktoren wie Interleukin-6 (IL-6) und basic-Fibroblast-Growth-Factor (bFGF) fördert die Einwanderung von glatten Muskelzellen und deren Proliferation, die fibröse Plaque entsteht. Angiotensin II und Homocystein (z.B. bei hereditärer Homozysteinämie) sind ebenfalls in der Lage, die Proliferation glatter Muskelzellen zu stimulieren.

Komplizierte Plaque (Abb. 20-2e) Das in der Entzündungsreaktion ausgeschüttete INF-γ hemmt jedoch die glatten Muskelzellen bei der Produktion extrazellulärer Matrix. Dieser Prozess der zunehmenden Matrixinstabilität wird durch verschiedene von den Makrophagen aus geschüttete Proteinasen (Kollagenase, Gelatinase und Stromolysin) noch verstärkt. Die Gefahr einer Ulzeration der atheromatösen Plaque steigt, insbesondere an der Plaque-„Schulter“. Zu den verschiedenen Faktoren, die zur Plaquedestabilisierung und Thrombose führen können, sind auch Infektionen zu rechnen. Sie können systemische (wie die Induktion von Akute-Phase-Proteinen, z.B. C-reaktives Protein/CRP) und lokale Effekte (wie die erhöhte Expression von TissueFactor/TF und die erniedrigte Expression von Plasminogenaktivator) auslösen. Die Verkalkung der Läsion scheint ein aktiver, regulierter Prozess zu sein, an dem perizytenartige Zellen durch Sekretion eines „Gerüstes“ für die Kalziumphosphatablagerung beteiligt sind. Die Thrombusbildung (adhärente Thrombozyten und quer vernetztes Fibrin) resultiert aus der Plaqueruptur mit Freisetzung von Tissue-Factor. Infektionen In den letzten Jahrzehnten fanden auch andere Umweltfaktoren, wie etwa Infektionen mit Bakterien und Viren, Eingang in die Diskussion zur Pathogenese der Atherosklerose (insbesondere Chlamydia pneumoniae, Helicobacter pylori und Zytomegalievirus). Die im Rahmen von Infektionen ausgeschütteten Zytokine und Chemokine können die inflammatorischen Reaktionen in der Plaque (siehe oben) und damit die Expression von Oberflächenrezeptoren und Adhäsionsmolekülen auf Endothel-, Entzündungs- und glatten Muskelzellen zusätzlich fördern, was zur weiteren Einwanderung und Proliferation von Zellen und so zu einer Plaqueprogression führt. Bereits 1988 wurde ein Einfluss einer Infektion mit Chlamydia pneumoniae auf das Entstehen und die Progression der Atherosklerose postuliert. Mehrere seroepidemiologische Studien konnten einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen Seropositivität für Chlamydia pneumoniae des Patienten und der Ausprägung der atherosklerotischen Veränderungen nachweisen. Auch das Auftreten von Bauchaortenaneurysmen war in der Gruppe der seropositiven Probanden höher; andere Studien lieferten jedoch widersprüchliche Ergebnisse. Immunhistochemisch und mit PCR konnte eine hohe Prävalenz von residuierenden Chlamydia pneumoniae in Arteriengewebe nachgewiesen werden, insbesondere in atherosklerotisch veränderter Intima und Media. So fand man den Keim in über 65% der atherosklerotisch veränderten Aorten, jedoch kaum in Leber und Milz. Dies legt einen hohen Tropismus von Chlamydia pneumoniae für atherosklerotisches Gewebe nahe. Eine Reihe von im Zusammenhang mit einer entsprechenden Infektion entstehenden Faktoren kann Auswirkungen auf das Entstehen und die Progression der atherosklerösen Plaque haben: ■ Chlamydia-Lipopolysaccharid (LPS) fördert die Aufnahme von LDL durch die Makrophagen u.a. durch Oxidation von LDL und senkt deren Cholesterinabgabe. Außerdem begünstigt LPS die Transformation von mononukleären Zellen zu Schaumzellen.

■ Auch Chlamydia-heat-shock-protein 60 (Hsp60) begünstigt die Oxidation von LDL und damit deren Phagozytose durch Makrophagen. ■ Bei Infektion von glatten Muskelzellen durch Chlamydia pneumoniae werden von diesen Zellen vermehrt IL-6 und bFGF gebildet, es kommt zur Proliferationsund Migrationsstimulation glatter Muskelzellen und zur Entstehung und Progression der fibrösen Plaque. ■ Chlamydia-Hsp60 kann wiederum TNF-α und Matrix-Metalloproteinasen (MMP) aktivieren, die ggf. zu einer Degradation des Bindegewebes führen und damit die Rupturgefahr in der Plaque erhöhen. ■ Weiterhin werden durch Chlamydien über Aktivierung von nukleären Transkriptionsfaktoren (z.B. NF-κB) die Aktivität von Tissue-Factor (TF), Plasminogenaktivator-Inhibitor-1 und so die Thrombozytenadhäsion gefördert, was zu einer erhöhten Thrombogenität der Plaque beiträgt. Der Einfluss von Zytomegalieviren auf das Entstehen und die Progression der atheromatösen Plaque ist weniger genau bekannt. CMV kann einerseits durch p53Inaktivierung in den glatten Muskelzellen deren Proliferation steigern, andererseits stimuliert das virale US28-Protein (virus-coded chemokine receptor) die Migration und Proliferation von glatten Muskelzellen. Beide Mechanismen bewirken also die Einwanderung und Proliferation glatter Muskelzellen in die Plaque und damit deren Progredienz. Wie hoch der Einfluss der Infektionen durch diese oder andere, noch nicht bekannte Erreger auf Entstehung und Progression der Atherosklerose ist, bleibt Gegenstand aktueller Studien.

Morphologie Fatty streaks Die frühesten Erscheinungen in der Gefäßwand, die einen Beginn der Atherosklerose darstellen, bezeichnet man als „fatty streaks“ (Lipidflecke). Es handelt sich dabei zunächst um kleine gelbliche, runde bis ovale, nicht erhabene Flecken in der Gefäßintima (Durchmesser ≪ 1 mm). Diese können zu schmalen Reihen und Linien konfluieren (Länge ≥ 1 cm) und ergeben dann das charakteristische streifige Bild. Histologisch findet sich in den endothelnahen oberflächlichen Schichten der Intima eine herdförmige Akkumulation von Lipid speichernden Schaumzellen, die zum einen leiomyogener, zum anderen monohistiozytärer Herkunft sind (Abb. 20-4). Daneben können oft auch extrazellulär Lipidtröpfchen gefunden werden. Je mehr extrazelluläre Lipide vorhanden sind, desto höher ist die Gefahr, dass an dieser Stelle eine Atherosklerose entsteht. Fatty streaks kommen vereinzelt bereits in Aorten von Säuglingen (≪ 1 Jahr) vor und sind praktisch bei allen über 10 Jahre alten Kindern nachweisbar – unabhängig von geographischen und ethnischen Faktoren und auch ohne Assoziation zum

Geschlecht oder zu Umweltfaktoren. Fatty streaks in Koronararterien sind seltener als in der Aorta und von der Adoleszenz an zu beobachten. Sie manifestieren sich einerseits an den gleichen anatomischen Stellen, an denen später auch die Plaques auftreten, und sind im Verlauf in gleichem Maße rückläufig, wie die Plaques zunehmen. Die Beziehungen zwischen fatty streaks und atherosklerotischen Plaques sind komplex. Einerseits korrelieren erstere mit den bekannten Risikofaktoren der Atherosklerose (siehe oben) und es bestehen experimentelle Anhaltspunkte für das Konzept einer Progression von fatty streaks zu Plaques. Andererseits kommen sie auch an Lokalisationen vor, die nicht zu den bevorzugten Orten der atherosklerotischen Plaquebildung zählen, und sind ferner in Regionen und Populationen zu finden, bei denen atherosklerotische Plaques selten sind. Fatty streaks gelten prinzipiell als spontan rückbildungsfähig. Ein übergang in die klassischen atherosklerotischen Veränderungen ist möglich, jedoch nicht obligat.

Abb. 20-4

Lipidflecken.

a Makroskopisches Bild. Lipidflecken als („fatty streaks“) frühe Veränderungen der Atherosklerose bei einem jungen Patienten. b Histologisches Bild. An der Oberfläche Endothel, darunter in der Intima Ansammlungen von Schaumzellen (Pfeile). HE; Vergr. 200fach.

Abb. 20-5

Fibröse Plaque.

a Histologisches Bild. Schulter einer frühen atherosklerotischen Plaque. Die Plaque erhebt sich über die normale Intimaoberfläche und besteht hauptsächlich aus einem Lipidkern (Cholesterin und Cholesterinester). Eine fibröse Kappe beginnt sich an der Oberfläche zu bilden, ausgehend von der Schulter (rechts). Die Lamina elastica interna ist im Bereich der Plaque zerstört – Beginn der Einwanderung von Myozyten aus der Media in die Intima. Elastica-van Gieson, Vergr. 25fach. b Makroskopisches Bild. Die Plaque ist gegenüber den Lipidflecken deutlich größer, etwas erhaben und aufgrund der vermehrten bindegewebigen Einlagerungen weißlich verfärbt (Sternchen). c Histologisches Bild. In der frischen fibrösen Plaque glatte Muskelzellen (Pfeile) und lockeres Bindegewebe. HE; Vergr. 600fach. d Fibrose. Plaque (Pfeile) mit einer ausgeprägten Fibrose. HE; Vergr. 60fach.

Atherosklerotische Plaque Bei Fortschreiten der Erkrankung kommt es zur Ausbildung der atherosklerotischen Plaque. Die Grundläsion besteht aus einer fokal erhabenen Plaque in der Intima mit zentralem Lipidkern (vorwiegend Cholesterin und Cholesterinester) und fibröser Kappe (Abb. 20-5). Atheromatöse Plaques imponieren als weiße bis weißgelbe Herde (dementsprechend auch als fibröse, fibroatheromatöse oder atheromatöse Plaques bezeichnet), die sich in das Arterienlumen vorwölben. Ihre Größe variiert von 0,3 bis 1,5 cm im Durchmesser, sie können aber auch zu größeren Herden konfluieren. Auf der Schnittfläche erscheint der oberflächliche, zum Lumen gerichtete Anteil fest und weiß (fibröse Kappe) und die tieferen Anteile erscheinen gelb oder weißgelb und weich. Im Zentrum größerer Plaques findet sich auch gelber nekrotischer Fettbrei, der entsprechend der griechischen Bezeichnung „Atherom“ namensgebend für diese Veränderung wurde (siehe Abb. 20-6). Die Lokalisation der atherosklerotischen Plaques ist relativ charakteristisch und hat unterschiedliche Prädilektionsstellen: ■ Zentraler Typ. Die Bauchaorta ist vor allem distal des Nierenarterienabgangs befallen, die Brustaorta weist meist nur geringgradige Veränderungen auf. ■ Peripherer Typ. Die Organatherosklerose betrifft v.a. Herz, Gehirn und Nieren und kann durch ischämische Hypoxidosen schwerwiegende Veränderungen hervorrufen. ■ Ausbreitungstyp. Hier unterscheidet man einen zentripetalen und einen zentrifugalen Typ. Der zentripetale Typ der Atherosklerose beginnt in der Peripherie und wird vor allem bei der diabetischen Mikroangiopathie beobachtet. Der zentrifugale Typ manifestiert sich zuerst in der Aorta und schreitet von hier aus in die Peripherie fort. Zu beachten ist jedoch, dass bei einem Patienten von dem Schweregrad der Atherosklerose in einem Gefäß nicht auf den Status in den übrigen Arterien rückgeschlossen werden kann. Atherosklerotische Läsionen sind meist exzentrisch ausgeprägt sowie herdförmig und variabel im Gefäßverlauf. Atherosklerotische Plaques setzen sich histologisch aus drei Hauptbestandteilen zusammen: ■ Zellen: glatte Muskelzellen, Monozyten/Makrophagen und andere Leukozyten ■ extrazelluläre Bindegewebematrix: Kollagen, elastische Fasern und Proteoglykane ■ intra- und extrazelluläre Lipidablagerungen. Diese drei Komponenten kommen in den verschiedenen Plaques in wechselnden Mengenverhältnissen vor und bilden so ein Spektrum graduell unterschiedlicher Plaqueformen. Typischerweise besteht die fibröse Kappe aus glatter Muskulatur mit

wenigen Leukozyten und relativ dichtem Bindegewebe. Ein zellreiches Areal im Randbereich der Plaque (so genannte Schulter) setzt sich aus einer Mischung von Makrophagen, glatten Muskelzellen und T-Lymphozyten zusammen. Der nekrotische Kern enthält Fettbrei, Cholesterinkristalle, zellulären Debris, Lipid speichernde Schaumzellen, Fibrin und andere Plasmaproteine. Das Lipid besteht überwiegend aus Cholesterin und Cholesterinestern. Die Schaumzellen entstehen vorwiegend aus eingewanderten Blutmonozyten, die sich in Makrophagen umwandeln, jedoch können auch glatte Muskelzellen Lipide aufnehmen und zu Schaumzellen transformieren. Im Randbereich der Läsion findet sich gewöhnlich eine Neovaskularisation mit proliferierenden Kapillaren. Eine diffuse lipidfreie Intimaverdickung (bis etwa der Breite der Media entsprechend) findet sich gelegentlich in der Intima von Koronararterien bei Erwachsenen und wird nicht als atherosklerotischer Prozess angesehen; sie entspricht vielmehr einer physiologischen Reaktion der Gefäßwand auf hämodynamische Reize. Variationen der Plaquehistomorphologie bestehen in der relativen Menge von glatter Muskulatur und Makrophagen sowie in der Menge und Verteilung von Kollagen und Lipiden. Typische Atherome enthalten relativ viel Fettbrei; so genannte fibröse Plaques setzen sich dagegen überwiegend aus glatter Muskulatur und Bindegewebe zusammen. Bei fortgeschrittener Atherosklerose können typische Atherombeete narbig umgebaut werden. Komplizierte atherosklerotische Läsion Die komplizierte atherosklerotische Läsion besitzt die höchste klinische Relevanz und wird durch die folgenden Kriterien definiert (Abb. 20-6): ■ Verkalkung. Nahezu alle Atherome zeigen im fortgeschrittenen Stadium eine fleckförmige oder diffuse Verkalkung. Aorta und Arterien werden zu starren Rohren. Patienten mit hochgradigen Verkalkungen der Koronararterien scheinen ein erhöhtes Myokardinfarktrisiko zu haben. Durch moderne bildgebende Techniken wie Computertomographie und intravaskulären Ultraschall, die die Verkalkungen erfassen, könnten evtl. neue, nichtinvasive Diagnoseverfahren etabliert werden. ■ Fokale Ruptur oder Ulzeration. Defekte der Plaqueoberfläche führen zur Freilegung des hoch thrombogenen Fettbreis oder zur mikroembolischen Verschleppung von Plaquematerial mit dem Blutstrom (z.B. Cholesterinembolien). ■ Hämorrhagien. Blutungen in ein Atherombeet kommen, insbesondere in den Koronararterien, durch Ruptur der dünnen fibrösen Kappe oder von neu gebildeten Kapillaren im Plaquebereich zustande. Sie können zur akuten Stenosierung des Gefäßes oder zur Plaqueruptur führen. ■ Thrombosierung. Eine Thrombusbildung auf dem Boden einer rupturierten oder ulzerierten Plaque ist die gefürchtetste Komplikation. Thromben können das

Gefäßlumen partiell oder komplett verschließen. Durch Organisation werden sie unter Umständen auch in die Plaque inkorporiert. ■ Aneurysmabildung. Obwohl die Atherosklerose initial eine Erkrankung der Intima darstellt, kommt es in schweren Fällen v.a. in den großen Arterien und in der Aorta auch zu erheblichen Störungen im Bereich der Media mit Atrophie und Verlust elastischer Fasern. Dies führt zu einer progressiven Wandschwächung mit aneurysmatischer Ausweitung (siehe Kap. 20.4).

Abb. 20-6

Komplizierte atherosklerotische Läsion.

a Die zentrale Nekrose (Sternchen) enthält reichlich Cholesterinkristalle. An der Außenseite und insbesondere lumenwärts sitzt eine kollagenreiche fibröse Kappe (Pfeil). HE; Vergr. 25fach.

b Makrophagen-Schaumzellen (Lipid speichernde Makrophagen) im Bereich der komplizierten atherosklerotischen Läsion. Elastica-van Gieson, Vergr. 400fach.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Atherosklerose verursacht zunächst keine klinischen Symptome. Erst nach vielen Jahrzehnten erreicht der Prozess ein Stadium, das zu einem langsam fortschreitenden oder aber akuten klinischen Krankheitsbild führen kann (Abb. 207). Die Klinik ist abhängig von der Lokalisation der Atherosklerose und dem Organbefall. Mit Fortschreiten der Atherosklerose verliert die Arterienwand zunehmend die Fähigkeit, Druckbelastungen auszugleichen. Vasokonstriktion und Vasodilatation sind durch die Wandverfestigung eingeschränkt oder sogar vollkommen unterbunden, was die Blutdruckregulation auf vaskulärer Ebene erschwert. In der Aorta und den großen elastischen Gefäßen weist die Atherosklerose zwei wesentliche Folgekomplexe auf: ■ Das Aufbrechen der fibrösen Kapsel der komplizierten Läsion (Plaqueruptur) führt zur Ausbildung eines Abscheidungsthrombus. Ein auslösendes Moment für die Ruptur ist dabei die umschriebene Entzündung der Atheromkappe. Die Abscheidungsthrombose der Aorta ist jedoch selten mit einer hämodynamisch wirksamen Lumeneinengung verbunden. Wesentliche Komplikationen ergeben sich dagegen aus einer Ablösung und Verschleppung von thrombotischem Material (aortoarterielle Thrombembolie) oder von Cholesterin (Cholesterinembolie) mit Ausbildung von Organinfarkten. So können z.B. ein akuter hämorrhagischer Mesenterialinfarkt, ein anämischer Nieren- oder Milzinfarkt auftreten. ■ Durch die Atherosklerose kommt es zu einer Diffusionsstörung der Media mit regressiven Mediaveränderungen, die zur Atrophie der glatten Muskulatur und zu einer Mediafibrose mit zunehmender Wandschwäche führen. Hieraus entwickelt sich das Aortenaneurysma mit seinen Komplikationen (siehe Kap. 20.4). Derartige atherosklerotisch bedingte Aneurysmen liegen insbesondere in der infrarenalen Bauchaorta zwischen Nierenarterien und Aortenbifurkation. Die Atherosklerose der mittelgroßen und kleinen muskulären Organarterien verursacht in erster Linie hämodynamische Lumeneinengungen. Hieraus ergeben sich häufig schwerwiegende, zum Tode führende klinische Komplikationen. In der Herzmuskulatur werden diese Stenosen allerdings erst funktionell wirksam, wenn 70–80% der Arterienquerschnitte verschlossen sind. Nach der Entwicklung der Stenose lassen sich zwei Krankheitsbilder unterscheiden. ■ Die Stenose kann sich langsam progredient durch Größenzunahme der Plaque entwickeln. Die Folge hiervon ist eine Organ- und Gewebehypoxie, die sich z.B.

als hypoxischer Muskelschmerz (Angina pectoris u.a.), als transitorische ischämische Attacke des Gehirns (TIA) oder bei Befall der Nierenarterien durch Entwicklung eines renalen Hypertonus bemerkbar macht. In schweren Fällen der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit kann sich in den Extremitätenarterien eine Ischämie mit einer Nekrose (Gangrän) entwickeln, die oftmals zu einer Teilamputation der unteren Extremität führt (sog. Raucherbeine). Klinisch steht die Claudicatio intermittens im Vordergrund der Atherosklerose in den Beckenund Beinarterien, ein durch ischämische Schmerzen verursachtes Hinken. Entsprechend dem Ausmaß der Stenose gibt es eine klinische Graduierung, z.B. Ruheschmerz, Schmerzen bei unterschiedlich langen Gehstrecken oder beim Treppensteigen. In einigen Fällen können sich Kollateralen entwickeln, die trotz schwerster Atherosklerose das Gewebe noch ausreichend mit Blut versorgen, sodass es nicht zur Nekrose kommt. Beispielsweise in den unteren Extremitäten wird eine solche Kollateralenbildung durch eine gezielte Belastungsbehandlung gefördert. ■ Hiervon sind die klinisch dramatischen Krankheitsbilder zu unterscheiden, die sich bei einer Plaqueruptur als Abscheidungsthrombose oder durch Einblutung in das Atherom entwickeln. Sie führen zu einer plötzlichen, mehr oder weniger weitgehenden Lumeneinengung mit konsekutiver Ischämie des betroffenen Gewebes oder Organs. Hieraus resultieren anämische oder hämorrhagische Infarkte mit entsprechender akuter Symptomatik, die für das betreffende Organ (Herz, Gehirn, Niere, Milz u.a.) typisch ist.

20.2.2

Mediasklerose Mönckeberg

Syn.: Mediakalzinose oder Mediaverkalkung Typ Mönckeberg

Definition Die Mediasklerose Mönckeberg spielt sich im Gegensatz zur Atherosklerose nicht in der Intima, sondern in der Media ab. Es handelt sich um eine Hyalinose mit Verkalkung und Verknöcherung, die bei älteren Menschen auftritt. Betroffen sind vor allem die muskulären Arterien der Extremitäten und des Genitaltrakts.

Abb. 20-7 Läsionen

Klassifikation der atherosklerotischen

nach der American Heart Association von frühesten Veränderungen (Typ I) bis hin zur komplizierten Plaque (Typ VI). Die Darstellung schließt klinische Korrelationen und Progressionsmechanismen sowie spätere Organmanifestationen ein (modifiziert nach H.C. Stary et al. 1995).

Pathogenese und Morphologie Neben Hyperkalzämiezuständen werden degenerative Prozesse in den glatten Muskelzellen diskutiert, aus denen Lipid- und Kalziumsalzablagerungen (z.B. Apatitkristalle) resultieren. Selten kann es sogar zur metaplastischen Bildung von Osteoid und Knochenlamellen (mit Knochenmark) kommen. Makroskopisch erscheinen die betroffenen Arterien geriffelt, was historisch eine Analogie zu Trachealspangen hervorrief (sog. Gänsegurgel-Arterien).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die Mediaverkalkung stellt einen häufigen Nebenbefund in der radiologischen Diagnostik dar. Darüber hinaus kommt ihr keine klinische Bedeutung zu.

20.2.3

Arteriolosklerose

Syn.: Arteriolenhyalinose

Definition Die Arteriolosklerose ist eine hyaline Verdickung zunächst der Intima, später der gesamten Arteriolenwand, die das Gefäßlumen einengt. Sie kommt im Laufe des Alterns, bei systemischer Hypertonie und beim Diabetes mellitus vor.

Pathogenese Die Pathogenese ist noch nicht vollständig geklärt. Vermutet wird eine Endotheldysfunktion mit vermehrter Insudation von Plasmabestandteilen und abnormer Syntheseleistung der Endothelzellen. Hyalines eosinophiles Material akkumuliert zunächst in der Intima, später auch in der Media. Es enthält Proteoglykane, Lipide, an Hyaluronsäure gebundene Komplementfaktoren, IgM und auch etwas Fibrinogen.

Morphologie

Histologisch findet man eine hyaline Verdickung der Intima mit zunehmender Lumeneinengung. Die Auswirkungen zeigen sich besonders in der Niere durch fleckförmige Ischämien, die zur Ausbildung einer roten Granularatrophie führen (siehe Kap. 36.9.2). Im ZNS können Mikroaneurysmen entstehen.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Arteriolosklerose der Niere verursacht eine Durchblutungsstörung mit Funktionsstörungen. Inwieweit sie zur Entwicklung und/oder Verstärkung einer durch das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System bedingten arteriellen Hypertonie beiträgt, ist ungeklärt. In der Milz und im Uterus bleibt die Arteriolosklerose ohne Folgen.

20.2.4

Arteriolonekrose

Definition Unter Arteriolonekrose versteht man Arteriolenveränderungen der Niere, die durch Wandnekrosen, Einblutungen und Thrombosen mit Lumenobliteration gekennzeichnet sind und mit einem schweren Hypertonus einhergehen (sog. maligne Hypertonie, siehe Kap. 36.9.3).

20.3

Idiopathische Medianekrose Erdheim-Gsell

Definition Bei der idiopathischen Medianekrose Erdheim-Gsell handelt es sich um eine wahrscheinlich genetisch bedingte Strukturstörung der Media, bei der die Anzahl der elastischen Lamellen verringert ist und Glykosaminoglykane ablagert werden.

Morphologie

Die Aorta ist makroskopisch meist zart. Histologisch findet man in der atrophischen Aortenmedia dünne, fragmentierte elastische Fasern, eine verminderte Myozytenzahl und zwischen ihnen abgelagerte Proteoglykane.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Klinik ist vor allem durch die Entstehung der Aortendissektion (Aneurysma dissecans) mit einem meist dramatischen letalen Ausgang im hypovolämischen Schock gekennzeichnet.

20.4

Aneurysmen

Definition Aneurysmen sind lokalisierte Lumenerweiterungen der Arterien infolge angeborener oder erworbener Wandveränderungen. Man unterscheidet ■ das echte Aneurysma (Aneurysma verum) mit Dehnung der gesamten Gefäßwand ■ das falsche Aneurysma (Aneurysma spurium), das ein Hämatom um einen Defekt in der Arterienwand darstellt ■ die Aortendissektion (Aneurysma dissecans), bei dem die Wand von der inneren und äußeren Media gebildet wird. Nach der makroskopischen Form unterscheidet man das fusiforme, das sackförmige, das kahnförmige und das serpentiforme Aneurysma (Abb. 20-8).

Ätiologie Allen Aneurysmen liegen übermäßige Kräfteeinwirkungen (z.B. Traumen, Hypertonus) und/oder angeborene oder erworbene Gefäßwandschwächen zugrunde. Am häufigsten sind atherosklerotische Aneurysmen (65%), gefolgt von kongenitalen Aneurysmen (20%) und der Aortendissektion (10%).

Abb. 20-8 Schematische Darstellung der Aneurysmaformen.

Atherosklerotisches Aneurysma Pathogenese Die Atherosklerose führt in ihrem Ablauf zu schwerwiegenden Veränderungen der Media mit ■

Reduktion der Mediamyozyten



Verlust elastischer Fasern



Mediavernarbung.

In einigen Fällen kann das Atherom eine begleitende Entzündung von Media und Adventitia hervorrufen, die ebenfalls zur Wandschwäche beiträgt. Folge der Veränderungen ist eine zunehmende, meist fusiforme Erweiterung der gesamten Gefäßwand (Aneurysma verum). In wenigen Fällen kommt es zu einem Atheromeinriss. Dadurch kann sich Blut in die Media einwühlen, und es entsteht eine atherosklerotische Aortendissektion (siehe unten).

Morphologie

Das atherosklerotische Aneurysma liegt überwiegend infrarenal in der abdominalen Aorta und in den Iliakalarterien. Die aneurysmatische Wand enthält atherosklerotische Beete, die Media ist verschmälert und vernarbt. Sie ist häufig von fokalen entzündlichen mononukleären Infiltraten durchsetzt. Darüber hinaus sind die Aneurysmen meist mit Thromben ausgefüllt (Abb. 20-9).

Klinisch-pathologische Korrelationen Das atherosklerotische Aneurysma macht sich meist erst spät durch eine Raumforderung bemerkbar. Diese kann zu einer Druckatrophie benachbarter Gewebe, im Extremfall z.B. der Wirbelsäule, führen. Bei Aneurysmen mit einem Durchmesser von über 5 cm ist die Ruptur die wichtigste lebensbedrohende Komplikation. Abhängig von der Lokalisation kommt es dabei zu einer retroperitonealen, abdominalen oder mediastinalen, selten – bei Einbruch in den Darm – auch zu einer gastrointestinalen Blutung. Die Folge ist ein hypovolämischer Schock.

Abb. 20-9

Atherosklerotisches Aneurysma.

Im infrarenalen Bereich der Bauchaorta erkennt man eine aneurysmatische Aussackung, die mit einem alten hyalinen Thrombus ausgefüllt ist.

Kongenitales Aneurysma Kongenitale Aneurysmen sind lokalisierte echte Aneurysmen von Hirnbasisgefäßen (siehe Kap. 8.2.6). Seltener sind die Nieren-, Milz- oder Lungenarterien betroffen. Ätiologie Ursache dieser Aneurysmen sind angeborene Störungen der Extrazellularmatrix der Media. Im Laufe des Lebens weiten sich die betroffenen Gefäße sackförmig aus und können rupturieren.

Aortendissektion (dissezierendes Aneurysma) Abb. 20-10 Typen der Aortendissektion.

Typ A betrifft die Aorta ascendens: Die Dissektion kann auch in das Perikard eindringen und dadurch zur Herzbeuteltamponade führen. Typ B liegt distal der Hals- und Armarterienabgänge und bezieht die Aorta ascendens nicht ein. Bei der Aortendissektion kommt es durch einen Einriss von Intima und Media zu einer Wühlblutung und Kanalisierung in der Media (Dissektion der inneren und äußeren Media; Abb. 20-8, 20-10 und 20-11). Das Blut im falschen Lumen mündet evtl. weiter distal wieder in das reguläre Lumen ein. In der Entstehung der Aortendissektion spielen folgende Faktoren eine Rolle:

■ Schädigung des kollagen-elastischen Fasergerüstes der Media. Durch die mechanische Schwächung können die tangential angreifenden Scherkräfte der Pulswelle zu Zerreißungen und Spaltbildungen der Media führen. ■ Verschiedene Bindegewebeerkrankungen (z.B. Defekt der Kollagen-ElastinSynthese beim Marfan-Syndrom) können herdförmige Elastikadefekte verursachen, die mit mukoidem Material angefüllt sind. Bei einer Reihe von Erkrankungen dürften Ischämien der mittleren Mediaschicht zu einer Schädigung mit der gleichen Wirkung führen. Ursachen derartiger Ernährungsstörungen sind z.B. eine obliterierende Entzündung der Vasa vasorum bei der Lues oder eine mangelnde Intimaversorgung bei atheromatösen Plaques durch Verlängerung der Diffusionsstrecke. ■ Intimadefekt. Durch einen Dehnungsriss kann sich das Blut in die vorgeschädigte Media einwühlen.

Morphologie

Man unterscheidet zwei Haupttypen der Aortendissektion (Abb. 20-10): ■ Typ A. Proximaler Typ mit Einbezug der Aorta ascendens. Es besteht die Gefahr einer Herzbeuteltamponade durch Einbruch in den Herzbeutel. ■ Typ B. Distaler Typ, der die Aorta ascendens nicht betrifft und distal der Abgänge von Hals- und Armarterien beginnt. Bei einer frischen Dissektion erkennt man makroskopisch meist einen in der thorakalen Aorta gelegenen, quer verlaufenden Intimaeinriss und eine Wühlblutung, die zu einer Teilung der Media in zwei Blätter führt. Sekundäre lumenseitige Einrisse sind relativ häufig. Die histologischen Befunde der Media zeigen die Dissektion und die jeweiligen Veränderungen der zugrunde liegenden Erkrankung. Je nach Ausdehnung der Aortendissektion unterscheidet man folgende Typen: ■ Bei einer umschriebenen Einblutung in die Media entsteht ein intramurales Hämatom. ■ Eine nach distal fortschreitende Wühlblutung mit Wanddissektion kann zwei Verläufe nehmen: □ Beim Wiedereinbruch nach innen in die Blutbahn (Defektheilung) bildet sich eine doppelläufige Aorta. □ Der Durchbruch nach außen führt zur lebensbedrohlichen Aneurysmablutung mit hypovolämischem Schock.

Abb. 20-11

Aortendissektion.

Im Querschnitt durch das Gefäß erkennt man das wahre (Stern) und das falsche (Doppelstern) Lumen.

Klinisch-pathologische Korrelationen Das klinische Bild der aortalen Dissektion ist meist akut und dramatisch mit schweren Schmerzen und Tod innerhalb von Stunden bis Tagen. Gefäße, die im Dissektionsbereich aus der Aorta abgehen, können komprimiert werden. Folge sind Durchblutungsstörungen z.B. der Karotiden, der Koronararterien oder der Interkostalarterien und ischämische Organschäden, wie z.B. Enzephalomalazie oder Myokardinfarkt mit entsprechender Symptomatik. Die Aneurysmablutung führt meist sehr rasch zum hypovolämischen Schock mit letalem Ausgang. In Abhängigkeit von der sekundären Rupturstelle der äußeren Media findet man eine mediastinale oder retroperitoneale Blutung, einen Hämatothorax, einen Hämaskos oder eine Herzbeuteltamponade.

Entzündliches Aneurysma Bei den entzündlichen Aneurysmen verursacht eine Entzündung der Gefäßwand die Gefäßwandschwäche. Das „mykotische“ Aneurysma wird am häufigsten durch eine bakterielle (nur sehr selten durch eine mykotische) Entzündung hervorgerufen. Weitere Beispiele sind das syphilitische Aneurysma und das Aneurysma bei der Panarteriitis nodosa (siehe Kap. 20.5.1).

Arteriovenöses Aneurysma Beim arteriovenösen Aneurysma ist ein Venenstück mit einer Arterie verbunden und aneurysmatisch ausgeweitet. Eine derartige Verbindung kann als kongenitale Fehlbildung vorliegen, aber auch traumatisch oder entzündlich verursacht sein.

20.5

Vaskulitis

Definition Unter dem Begriff Vaskulitis werden entzündliche Gefäßveränderungen zusammengefasst. Bei Befall von Arterien spricht man von einer Arteriitis, bei Venenbefall von einer Phlebitis, bei einer Manifestation im kapillaren Bereich von einer Kapillaritis und beim Befall von Lymphgefäßen von einer Lymphangitis. Werden Arterien und Venen in den entzündlichen Prozess einbezogen, spricht man von einer Angiitis. Ein primär in der Gefäßwand entstandener entzündlicher Prozess wird als primäre Vaskulitis bezeichnet, kommt es zu entzündlichen Gefäßveränderungen im Rahmen einer anderen lokalen oder systemischen Grunderkrankung, liegt eine sekundäre Vaskulitis vor.

Ätiologie Eine Vaskulitis kann durch immunpathologische Mechanismen, physikalische (z.B. Strahlentherapie) und chemische (z.B. Insektizide, Petroleumprodukte, Medikamente) Noxen sowie durch Mikroorganismen (Viren, Bakterien, Pilze) hervorgerufen werden. Bei einer Reihe von Vaskulitiden ist die Ursache derzeit noch nicht bekannt.

20.5.1

Arterien

Primäre Vaskulitiden Klassifikation Primäre Vaskulitiden repräsentieren eine sehr heterogene Gruppe von sich teilweise überlappenden Krankheitsbildern, für die in der Vergangenheit unterschiedliche Nomenklaturen etabliert wurden, die mehr zur Verwirrung als zum Verständnis dieser Erkrankungen beigetragen haben. Im Jahre 1992 wurde deshalb im

Rahmen der Chapel-Hill-Konsensus-Konferenz eine Klassifikation festgelegt, die bis heute fachübergreifend international anerkannt ist (Tab. 20-3). Wesentliche Voraussetzung für die Definition der verschiedenen Krankheitsbilder ist die bioptischhistopathologische Sicherung einer Vaskulitis mit Charakterisierung der befallenen Gefäßprovinz (Aorta, Arterien, Arteriolen, Kapillaren, Venolen, Venen), ergänzt durch immunpathologische Befunde sowie Informationen über die topographische Zuordnung befallener Blutgefäße und/oder Organe (Tab. 20-3).

Tab. 20-3 Klassifikation primärer Vaskulitiden (Chapel-Hill-KonsensusKonferenz 1992). Immunpathogenese Die meisten primären Vaskulitiden werden durch immunpathologische Mechanismen vermittelt (siehe Kap. 4.3). Abhängig von der prädominanten Immunreaktion ergibt sich für die verschiedenen Vaskulitiden folgende Einteilung: ■ Typ-I-Reaktion. Allergische Angiitis, z.B. Churg-Strauss-Syndrom mit erhöhten Serum-IgE-Spiegeln, Bluteosinophilie und einer eosinophilenreichen extravaskulären granulomatösen und nekrotisierenden Entzündung kleiner und mittelgroßer Blutgefäße. ■

Typ-II-Reaktion. Antikörpervermittelte zytotoxische Vaskulitis, □ z.B. Goodpasture-Syndrom mit Autoantikörpern gegen Kapillarmembranbestandteile (α-3-Komponente von Typ-IV-Kollagen) in Nierenglomeruli und Lungenkapillaren (siehe Kap. 36.5);

□ z.B. die Kawasaki-Erkrankung mit Autoantikörpern gegen Endothelzellen; □ z.B. antineutrophile zytoplasmatische Antikörper (ANCA). Es handelt sich hierbei um eine heterogene Gruppe von Autoantikörpern, die gegen Antigene im Zytoplasma von neutrophilen Granulozyten gerichtet sind. Aufgrund ihres topographischen Verteilungsmusters unterscheidet man zwischen zytoplasmatischen c-ANCA (Zielantigen: Proteinase 3) und perinukleären p-ANCA (Zielantigene: Myeloperoxidase, Elastase, Kathepsin G). Der Nachweis von cANCA im Serum ist diagnostisch hochspezifisch für eine Wegener-Granulomatose (siehe Kap. 36.9.5) mit einer Spezifität von über 90%, allerdings bei einer eingeschränkten Sensitivität zwischen 30 und 60%. Ein positiver p-ANCA-Befund, z.B. gegen Myeloperoxidase, weist auf eine mikroskopische Polyarteriitis hin (Spezifität 80%). p-ANCA mit anderen Zielantigenen werden allerdings auch bei einer Vielzahl von anderen Autoimmunerkrankungen gesehen (siehe sekundäre Vaskulitiden). Bei schwer kranken Patienten, deren klinische Verdachtsdiagnose einer primären Vaskulitis noch nicht bioptisch gesichert wurde, kommt einem positiven ANCA-Nachweis eine hohe diagnostische Bedeutung zu mit einer positiven Gesamtvoraussage für eine primäre Vaskulitis in 38% für c-ANCA und 20% für p-ANCA mit entsprechenden therapeutischen Konsequenzen. In vielen Fällen korreliert der serologische ANCA-Titer mit der Erkrankungsaktivität. ■ Typ-III-Reaktion. Immunkomplexvaskulitis; in der Gefäßwand werden Antigen-Antikörper-Immunkomplexe mit oder ohne Komplementkomponenten abgelagert. Am Biopsiematerial durchgeführte immunhistologische Untersuchungen können beispielsweise bei einer Reihe von Patienten mit Polyarteriitis nodosa in den Immunkomplexen Hepatitis-B-Virus-Antigene nachweisen. Bei der SchoenleinHenoch-Purpura liegen IgA-dominante Immunkomplexe vor, bei der essentiellen Kryoglobulinämie finden sich Hepatitis-C-Virus-Anteile sowie IgG/monoklonale Rheumafaktoranteile. ■ Typ-IV-Reaktion. Hierbei handelt es sich um T-Zell-vermittelte Immunreaktionen, z.B. bei der chronischen Transplantatvaskulopathie. Bei der Riesenzellarteriitis liegt ein ähnlicher Mechanismus vor, der durch T-Lymphozyten, insbesondere T-Helferzellen und aktivierte Makrophagen, vermittelt wird. Bei einem Teil der hier genannten Erkrankungen können jedoch die prädominanten immunpathologischen Reaktionen von zusätzlichen Immunmechanismen begleitet sein. So finden sich z.B. beim Churg-Strauss-Syndrom (Typ-I-Reaktion) in ungefähr 30–60% der Fälle im Serum positive c-ANCA.

Formale Pathogenese

Die immunallergischen Typ-I–III-Reaktionen münden in einen gemeinsamen pathogenetischen Mechanismus ein: Zunächst kommt es zur Aktivierung von Leukozyten und Endothelzellen, gefolgt von einer Leukozytenadhäsion an die

Endothelzellen und einer Invasion und Akkumulation von Entzündungszellen innerhalb der Gefäßwand. Daraus resultiert eine nekrotisierende Vaskulitis. Bei diesem Entzündungsprozess werden zytoplasmatische und lysosomale Enzyme aus aktivierten neutrophilen Granulozyten freigesetzt, Zytokine, Leukotriene und Prostaglandine gebildet, teilweise mit Aktivierung des Komplementsystems und Initiierung der Gerinnungskaskade, die zur Ausbildung von intravaskulären Thrombosen führen kann. Anschließend folgen reparative Vorgänge mit mesenchymaler Remodellierung der Gefäßwand, wiederum unterstützt durch Zytokine und Wachstumsfaktoren. Diese tragen entweder zur Abheilung des entzündlichen Prozesses oder aber zur Fibrose der Gefäßwand mit oder ohne Aneurysmabildung bzw. zum kompletten Gefäßverschluss bei. Bei der Typ-IV-Reaktion sind primär T-Zell-vermittelte Immunmechanismen für die Vaskulitis und die daraus resultierende Remodellierung der Gefäßwand verantwortlich, teilweise mit Ausbildung einer granulomatösen Entzündung und fortschreitender Obliteration des Gefäßlumens. Im Folgenden werden ausgewählte primäre Vaskulitiden besprochen.

Riesenzellarteriitis Syn.: Arteriitis temporalis

Definition Es handelt sich um eine granulomatöse Arteriitis der Aorta und ihrer großen Abgangsgefäße mit einer Prädilektion für die extrakranialen äste der A. carotis mit gehäufter Beteiligung der A. temporalis (Horton-Arteriitis). Die Erkrankung tritt bei älteren Patienten auf und ist häufig mit einer Polymyalgia rheumatica assoziiert.

Morphologie Initial liegen segmentförmig angeordnet kleine fibrinoide Intima- und Medianekrosen mit Fragmentation der Elastica interna vor. Im weiteren Verlauf entwickelt sich eine granulomatöse histiozytäre Entzündungsinfiltration (Abb. 20-12) mit Ausbildung zahlreicher Riesenzellen. In der Spätphase kommt es entweder zu einer zunehmenden Reparatur oder zu einer lumenverschließenden Fibrose.

Abb. 20-12

a

Riesenzellarteriitis.

Geschlängelte und pulsierende A. temporalis.

b Histologischer Ausschnitt aus dem Grenzbereich zwischen Intima und Media (M). Die Elastica interna (schwarz) ist stark aufgesplittert. Zwischen der Elastica interna und der Media erkennt man das histiozytär-entzündliche Infiltrat mit Riesenzellen. Elastica-van-Giesson; Vergr. 200fach.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Das Krankheitsbild ist durch Kopfschmerzen, eine stark beschleunigte Blutkörperchen-Senkungsgeschwindigkeit und eine Druckschmerzhaftigkeit der befallenen Gefäße (z.B. A. temporalis) gekennzeichnet. Die Symptomatik

resultiert aus einer Obliteration des betroffenen Gefäßes oder einer thrombembolischen Verschleppung. Bei Befall der A. ophthalmica kann es zu Sehstörungen bis hin zur Erblindung kommen.

Takayasu-Arteriitis Syn.: pulseless disease

Definition Es ist eine granulomatöse und progressiv obliterierende Arteriitis, die sich in aller Regel in großen, vom Aortenbogen abgehenden Arterien abspielt, seltener in ästen der Aorta abdominalis. Betroffen sind meist junge Frauen im Alter zwischen 25 und 35 Jahren.

Morphologie Es handelt sich um eine granulomatöse Arteriitis im Bereich der Media und Adventitia (Abb. 20-13). Sie ist histologisch durch ein dichtes Infiltrat aus Lymphozyten, Plasmazellen, Histiozyten und selten Riesenzellen charakterisiert, untermischt mit neu gebildeten Kapillaren. Es kommt zur Zerstörung von elastischen Fasern in den elastischen Arterien bzw. zur Zerstörung der Elastica externa im Bereich der muskulären Arterien. Im weiteren Verlauf entwickelt sich eine zunehmende Fibrosierung und Stenosierung der entsprechenden Arterien, klinisch durch eine zunehmende Pulsschwäche bzw. Pulslosigkeit charakterisiert.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Erkrankung beginnt meist mit uncharakteristischen Allgemeinsymptomen, z.B. Unwohlsein, Fieber, Nachtschweiß, Kopfschmerzen, Gewichtsverlust und Arthralgien, teilweise in Kombination mit einem Erythema nodosum. Im akuten Stadium verspüren die Patienten intensive und spontane Schmerzen im Bereich der befallenen Arterie. In der Regel verschwinden die Allgemeinsymptome, und es entwickelt sich nach Monaten eine lokalisationsabhängige Symptomatik: Bei Befall einer A. subclavia wird der Puls einseitig zunehmend schwächer, und der Blutdruck ist kaum noch messbar, bei Befall der A. carotis kommt es ggf. zu neurologischen Ausfallserscheinungen, bei Befall der Aortenwurzel kann sich eine Aortenkoarktation oder eine Aorteninsuffizienz entwickeln. Sind Nierenarterien betroffen, entwickelt sich eine schwere renovaskuläre Hypertonie.

Kawasaki-Erkrankung Syn.: mukokutanes Lymphknotensyndrom

Definition Es handelt sich um eine Erkrankung des frühen Kindesalters mit nekrotisierender Panarteriitis, bevorzugt der Herzkranzgefäße, in Kombination mit einem mukokutanen Lymphknotensyndrom.

Abb. 20-13

a

Takayasu-Arteriitis.

Angiographisch gesicherte Stenose der A. subclavia rechts (Pfeil).

b Operationspräparat mit weitgehendem Lumenverschluss der A. subclavia (dicker Pfeil) bei unauffälliger A. carotis communis (dünner Pfeil). c Destruierende granulomatöse Entzündung im Bereich der Media (M) mit Fibrose der Intima (I) und Adventitia (A). HE, Vergr. 5fach.

Morphologie

Typisch ist eine nekrotisierende Entzündung aller Gefäßwandabschnitte in Begleitung eines dichten lymphozytären Infiltrats, untermischt mit reichlich neutrophilen Granulozyten. Im weiteren Verlauf Entwicklung von Thrombosen und Gefäßwandaneurysmen, selten Gefäßwandruptur.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Erkrankung beginnt mit hohem Fieber, Hautausschlägen, konjunktivalen und oralen Läsionen und einer prominenten zervikalen Lymphadenitis. Bei ungefähr 70% der Patienten kommt es zu einer kardiovaskulären Beteiligung in Form einer Myo- und Endokarditis sowie – klinisch im Vordergrund stehend – zu einer nekrotisierenden Entzündung bevorzugt der epikardialen Koronararterien. Dies

zieht Aneurysmabildung und sekundäre Thrombosen nach sich, die in 1–2% der Fälle einen tödlichen Herzinfarkt hervorrufen können.

Polyarteriitis nodosa Syn.: Panarteriitis nodosa, klassische Polyarteriitis nodosa

Definition Die Polyarteriitis nodosa ist eine nekrotisierende Entzündung der mittelgroßen und kleinen Arterien unter Beteiligung aller Gefäßwandabschnitte (Panarteriitis) ohne begleitende Glomerulonephritis. Sie muss differentialdiagnostisch von der mikroskopischen Polyarteriitis und dem Churg-Strauss-Syndrom abgegrenzt werden (siehe unten).

Morphologie In der akuten Phase besteht eine segmentale fibrinoide Nekrose der Gefäßwandzirkumferenz, die bis in das angrenzende Stroma hineinreicht (Abb. 20-14). Das nekrotische Gewebe ist von segmentkernigen Leukozyten und mononukleären Zellen durchsetzt. Das Lumen kann durch einen Thrombus obliteriert sein, sodass Organinfarkte auftreten. Im zweiten Stadium kommt es zu einer Abräumreaktion durch Granulationsgewebe. Im dritten Stadium liegt schließlich eine Gefäßwandnarbe vor, die sich aneurysmatisch ausweiten kann. Diese Mikro- und Makroaneurysmen ergeben makroskopisch das klassische Bild von Knötchen entlang der betroffenen Arterie und bestimmen die Namensgebung (nodosa). Betroffene Organe sind die Nieren (85%), das Herz (76%), die Leber (62%) und der Gastrointestinaltrakt (51%), die Skelettmuskulatur (39%), das Pankreas (35%), die Hoden (33%), periphere Nerven (32%), das ZNS (27%) und die Haut (20%).

Klinisch-pathologische Korrelationen Die klinische Manifestation hängt wesentlich vom befallenen Organ ab und kann außerordentlich vielfältig sein. Akute Krankheitsbilder sind häufig und werden durch die beiden Hauptkomplikationen geprägt: die akute Ischämie auf dem Boden einer arteriellen Thrombose und die Aneurysmaruptur. Die klinische Manifestation kann somit vom akuten Myokardinfarkt bis zum hämorrhagischen Schock, z.B. bei massiver Darmblutung, reichen.

Churg-Strauss-Syndrom Definition Es handelt sich um eine systemische eosinophilenreiche granulomatöse Entzündung unter Beteiligung des Respirationstrakts mit einer nekrotisierenden Entzündung mittelgroßer und kleiner Blutgefäße. Assoziiert sind Asthma und Bluteosinophilie.

Abb. 20-14

Panarteriitis nodosa.

Der Gefäßquerschnitt zeigt eine ausgedehnte fibrinoide Nekrose der Gefäßwand (Pfeile), im Lumen sind Erythrozyten. HE; Vergr. 400fach.

Morphologie Radiologisch finden sich in der Lunge disseminierte sog. „wechselnde und flüchtige“, bis 1,5 cm große Infiltrate. Die betroffenen Lungenabschnitte sind histologisch durch eine eosinophilenreiche parenchymatöse Entzündung mit Ausbildung von Epitheloidzellgranulomen charakterisiert, zum Teil mit zentralen Nekrosen. In die Entzündung sind mittelgroße und kleine Arterien und Venen mit einer nekrotisierenden eosinophilenreichen Vaskulitis einbezogen. Hauptmanifestationsorgan ist die Lunge, gefolgt von Herz, Milz, Haut und ZNS. Die Niere ist kaum betroffen.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Sowohl klinisch als auch histopathologisch gibt es häufig Schwierigkeiten, diese Erkrankung von der klassischen Polyarteriitis nodosa abzugrenzen, was durch den Begriff „overlap-syndrome“ dokumentiert wird. Der bevorzugte Befall des Respirationstrakts, der bei der klassischen Polyarteriitis nodosa in der Regel ausgespart ist, die eosinophilenreiche Entzündung mit extravaskulären

Granulomen sowie der positive Nachweis von c-ANCA in 30–60% der Betroffenen sprechen für die Diagnose eines Churg-Strauss-Syndroms.

Wegener-Granulomatose Definition Granulomatöse Entzündung (siehe Kap. 36.9.5), bevorzugt im Respirationstrakt, mit begleitender nekrotisierender Vaskulitis mittelgroßer und kleiner Gefäße. Eine begleitende nekrotisierende Glomerulonephritis (Abb. 20-15) und ein positiver cANCA-Nachweis sind häufig.

Kutane leukozytoklastische Vaskulitis Definition Auf die Haut beschränkte leukozytenreiche, teilweise nekrotisierende Vaskulitis kleiner Blutgefäße ohne Beteiligung anderer Organe. Früher wurde die kutane leukozytoklastische Vaskulitis unter dem Begriff Hypersensitivitätsvaskulitis subsumiert, heute wird getrennt zwischen der kutanen leukozytoklastischen Vaskulitis und der mikroskopischen Polyarteriitis, die auch andere Organe befallen kann.

Abb. 20-15

Wegener-Granulomatose.

Nekrotisierende Glomerulonephritis (dicker Pfeil) und nekrotisierende granulomatöse Vaskulitis (dünner Pfeil) mit palisadenförmig angeordneten Riesenzellen. HE, Vergr. 80fach.

Morphologie

Die befallenen Hautabschnitte imponieren klinisch als palpable Purpura, erythematöse Papeln, Vesikel oder Bullae. Histologisch finden sich in der Subkutis im frühen Stadium fibrinoide Nekrosen in der Wand kleinerer Arteriolen und postkapillärer Venolen, begleitet von einer durch neutrophile Granulozyten und Monozyten charakterisierten zellulären Entzündungsreaktion (Abb. 20-16a). Diese wird nach ungefähr 5 Tagen von einer lymphozytenreiche Entzündung abgelöst (Abb. 20-16b). Die Erkrankung ist in der Regel selbstlimitierend.

Mikroskopische Polyarteriitis Definition Diese Arteriitis ist eine systemische nekrotisierende Vaskulitis, die sich bevorzugt im Bereich von Arteriolen, Kapillaren und Venolen abspielt und die Nierenglomeruli einbezieht.

Abb. 20-16 Vaskulitis.

Kutane leukozytoklastische

a Frühes Stadium mit granulozytenreicher Entzündung und segmental ausgeprägten Gefäßwandnekrosen einer postkapillären Venole. HE, Vergr. 40fach. b Spätes Stadium mit lymphozytenreicher Vaskulitis und Perivaskulitis. HE, Vergr. 120fach.

Morphologie Unabhängig von einer Hautbeteiligung werden zahlreiche Organe betroffen, mit einem nahezu gleichartigen Verteilungsmuster wie bei der Polyarteriitis nodosa. Die Nierenglomeruli sind unter dem Bild einer fokalen, segmentalen, proliferativen oder nekrotisierenden Glomerulonephritis beteiligt (Abb. 20-17). Eine pulmonale Kapillaritis kann ebenfalls auftreten.

Abb. 20-17

Mikroskopische Polyarteriitis.

Segmentförmig ausgeprägte nekrotisierende Arteriitis (dünner Pfeil) mit begleitender Glomerulonephritis (dicker Pfeil). HE, Vergr. 40fach.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Bei ungefähr 30% der Betroffenen finden sich Hepatitis-B-Antigen (HBsAg) und Hepatitis-B-Immunkomplexe im Serum. Kürzlich wurden ähnliche Veränderungen bei Patienten mit einer chronischen Hepatitis-C-Virus-Hepatitis und Glomerulonephritis beschrieben, basierend auf dem molekularpathologischen Nachweis der Virus-RNA. Klinisch und histologisch ist diese Erkrankung schwierig von der klassischen Polyarteriitis nodosa abzugrenzen (keine begleitende Glomerulonephritis). Der positive pMyeloperoxidase-ANCA-Nachweis erleichtert allerdings die Differentialdiagnose.

Thrombangiitis obliterans Syn.: Endangiitis obliterans, Buerger-Erkrankung

Definition Segmentale Vaskulitis kleinerer und mittlerer Arterien und Venen, v.a. der Extremitäten. Junge Männer sind besonders häufig betroffen. Die Erkrankung tritt gehäuft bei Rauchern auf.

Ätiologie Die ätiologie ist ungeklärt.

Morphologie

In der Initialphase findet sich eine entzündliche Infiltration aller Gefäßwandschichten durch Lymphozyten, Plasmazellen, vereinzelt auch Granulozyten. Durch Endothelschädigung kann es zu einer Thrombose kommen. Mit zunehmendem Krankheitsverlauf werden die Thrombosen sowie die meist umschriebenen entzündlich bedingten Medianekrosen durch Bindegewebe ersetzt. Die Folge ist eine partielle oder komplette Lumenobliteration.

Klinisch-pathologische Korrelationen Im Vordergrund der klinischen Symptomatik stehen Durchblutungsstörungen der unteren Extremitäten (Claudicatio intermittens), die zu einer Extremitätengangrän führen können. Die akuten Phasen dauern 1–4 Wochen und wiederholen sich nach Remission. Schließlich kann der Kollateralkreislauf nicht mehr kompensieren, sodass Bypass-Operationen oder eine Amputation erforderlich ist.

Sekundäre Vaskulitiden Bei einer Vielzahl von unterschiedlichen lokalen oder systemischen Grunderkrankungen (Tab. 20-4) kann es zur Entwicklung vaskulitischer Syndrome kommen, die zum Teil in verblüffendem Ausmaß primäre Vaskulitiden nachahmen können.

Tab. 20-4 Ausgewählte Ursachen für sekundäre Vaskulitiden. Infektionen

Viren: z.B. Hepatitisvirus B und C, humanes Herpesvirus 8, Zytomegalievirus, Varicella-Zoster-Virus, Parvovirus B19, HIV Bakterien: z.B. Staphylokokken, Streptokokken, Haemophilus influenzae, Salmonellen, Pseudomonas aeruginosa, Listeriose, Leptospirose, Mykobakterien (Tbc), Spirochäten (Lues) Pilze: z.B. Aspergillen, Mukormykose Parasiten: z.B. Malaria, Amöbiasis, Filarien, Bilharziose Chronisch-entzündliche Erkrankungen Systemischer Lupus erythematodes, Sjögren-Syndrom, Morbus Behçet, rheumatoide Arthritis, Dermatomyositis, Sklerodermie, Morbus Crohn, primäre biliäre Zirrhose, Colitis ulcerosa, Sarkoidose Tumoren M. Hodgkin, Non-Hodgkin-Lymphome, akute myelomonozytäre Leukämie, Haarzellenleukämie Phäochromozytom, Vorhofmyxom, malignes Melanom, Liposarkom Karzinome: Lunge, Kolon, Niere, Leber, Prostata Medikamente Penicillin, Sulfapyridine, Sulfonamide, Streptomycin Acetylsalicylsäure, Phenacetin, Phenothiazine, nichtsteroidale entzündungshemmende Mittel Hydrazalin, Carbimazol, Thiouracil Fremdproteine Serumkrankheit, Hyposensibilisierungsantigene

Morphologie Virusinfektionen (z.B. Parvovirus B19, Zytomegalievirus) führen in der Regel zu Endothelzellläsionen, gefolgt von einer lymphozytären Entzündung im Kapillar- und Venolenbereich. Bei Hepatitis-B- und -C-Virus-Infektionen kann sich immunkomplexvermittelt das Bild einer Polyarteriitis nodosa entwickeln. Bakterielle Infektionen, bevorzugt durch pyogene Erreger, führen zu einer direkten nekrotisierenden Entzündung im Bereich kleiner Arterien und Arteriolen, teilweise mit Ausbildung von Mikroaneurysmen (sog. mykotische Aneurysmen). Anderseits

kann es durch erregerbedingte immunpathologische Mechanismen, z.B. Staphylokokken-Enterotoxin B und Toxic-Shock-Syndrom-assoziiertem Toxin-1 (siehe Kap. 48.2.6) zu klinischen Krankheitsbildern kommen, die der KawasakiErkrankung und der Wegener-Granulomatose ähneln (hier allerdings mit negativem c-ANCA-Nachweis). Pilzinfektionen, speziell durch Aspergillen, führen zu einer nekrotisierenden angioinvasiven Arteriitis. Leukozytoklastische Vaskulitiden bzw. eine mikroskopische Polyarteriitis werden bei verschiedenen Autoimmunerkrankungen, chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen sowie auch bei Medikamentenüberempfindlichkeit gesehen. Paraneoplastische Vaskulitiden dokumentieren sich klinisch unter dem Bild einer leukozytoklastischen Vaskulitis, einer granulomatösen Vaskulitis, einer Riesenzellarteriitis, einer allergischen Vaskulitis bis hin zu einer WegenerGranulomatose.

Klinisch-pathologische Korrelationen Beim klinischen Verdacht auf ein vaskulitisches Syndrom wird zu häufig an die nur selten vorkommenden primären Vaskulitiden gedacht und viel weniger an die zahlenmäßig dominierenden sekundären Vaskulitiden. Eine sorgfältige Kurz- und Langzeitanamnese (z.B. vorbestehende Erkrankungen, Medikamente) ist oft hilfreich. Bei plötzlich und unvermutet auftretender leukozytoklastischer Vaskulitis bei über 50-Jährigen sollte ein bis dato unbekanntes Tumorleiden ausgeschlossen werden.

20.5.2

Venen

Phlebitis, Thrombophlebitis, Phlebothrombose Definition Die Phlebitis ist eine Entzündung der Venen, die häufig mit einer Thrombose einhergeht (Thrombophlebitis). Im Gegensatz zur oberflächlichen Thrombophlebitis zeigen sich bei der tiefen Phlebothrombose meist keine wesentlichen entzündlichen Wandveränderungen. Als Phlebitis migrans bezeichnet man eine rezidivierende Thrombophlebitis oberflächlicher Venen mit wechselnder Lokalisation. In vielen Fällen ist die Krankheit mit einem malignen Tumor z.B. des Pankreas, der Niere, der Lunge oder des Gastrointestinaltraktes assoziiert.

Ätiologie Phlebitis, Thrombophlebitis und Phlebothrombose weisen bestimmte Gemeinsamkeiten auf und beeinflussen sich gegenseitig. Einerseits wird z.B. ein in einer Vene entstandener Thrombus eine resorptive Entzündung der Venenwand hervorrufen, andererseits führt eine Entzündung der Venenwand häufig zu einem Abscheidungsthrombus. Mischbilder sind insbesondere bei chronischen Verlaufsformen die Regel. Prädisponierende Faktoren für eine Phlebothrombose (siehe Kap. 7.5.3) sind ein verlangsamter venöser Rückfluss bei Rechtsherzinsuffizienz, Schwangerschaft, maligne Tumoren, postoperative Zustände sowie Bettlägerigkeit (fehlende Muskelpumpe!). Die damit verbundenen Strömungsveränderungen sowie eine Verschiebung der Hämostase wirken thrombogen. Die Störung der Integrität des Endothels und die damit verbundene Freilegung der Basalmembran können eine Thrombozytenaggregation und -aktivierung auslösen. Von der luminalen Seite kann das Endothel z.B. durch einen Venenkatheter verletzt werden, der zusätzlich die Gefahr einer Bakteriämie in sich birgt. Die Konstellation einer Thrombose mit Bakteriämie mündet in eine Thrombophlebitis. Entzündungsprozesse in verschiedenen Organen können andererseits von der Adventitia auf die gesamte Venenwand übergreifen und so eine Thrombose verursachen.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Phlebitis, Thrombophlebitis und Phlebothrombose sind vor allem in den unteren Extremitäten lokalisiert. Die Thrombophlebitis betrifft häufig die oberflächlichen Venen der Beine, insbesondere in erweiterten Venenabschnitten (Phlebektasien). Diese Läsionen sind zwar schmerzhaft, verursachen jedoch selten eine Embolie. Die Mehrzahl der Phlebothrombosen (> 90%) befinden sich in den tiefen Beinvenen, im periprostatischen Venenplexus beim Mann und in den Beckenvenen bei der Frau. Diese Lokalisationen sind häufig Quellen von Thrombembolien, die über die V. cava inferior und das rechte Herz in die Lunge gelangen und Pulmonalarterienembolien verursachen. Bakterielle Infektionen im Mittelohrbereich können zur Thrombophlebitis der Sinus der Dura führen (siehe Kap. 8.2.4). Im Abdomen können akute bakterielle Entzündungen, z.B. eine Peritonitis oder ein Abszess, auf das Pfortadersystem übergreifen, daraus resultiert eine Thrombophlebitis der Pfortader. Bakterielle Formen der Thrombophlebitis stellen eine gefährliche Quelle der Sepsis dar, bei der der Gesamtorganismus als Folge der Aktivierung von Entzündungsmediatoren in Mitleidenschaft gezogen wird. Das Endergebnis ist eine Chaossituation der Mikrozirkulation mit einem Schockzustand, der häufig zum Tode führt (siehe Kap. 7.10).

Phlebektasien und Varizen Definition Phlebektasien und Venenvarizen stellen dilatierte, geschlängelte Venen mit häufig verdickter Wand (Phlebosklerose) dar.

Ätiologie Varizen sind auf eine dauerhafte intraluminale Druckerhöhung zurückzuführen. Die aufrechte Körperhaltung des Menschen steht im Mittelpunkt der Pathogenese, denn sie verursacht eine deutliche Drucksteigerung in den Beinvenen. Betroffen sind vorwiegend die oberflächlichen Venen der unteren Extremitäten. Die „hydrostatische“ Dilatation der Venen führt zu einer Venenklappeninsuffizienz, sodass das oberflächliche Venensystem dem höheren Druck des tiefen Venensystems ausgesetzt ist (Abb. 20-18).

Abb. 20-18 Pathogenese von Varizen.

Normalerweise wird das Blut von den oberflächlichen Venen durch muskuläre Aktivität (Muskelpumpe) in die tiefen Venen und schließlich herzwärts transportiert. Bei Erhöhung des hydrostatischen Drucks werden die Venenklappen durch die Erweiterung der Vv. communicantes insuffizient,

sodass sich das Blut in den oberflächlichen Venen staut, die sich dann zu Varizen erweitern. Varizen finden sich bei etwa einem Fünftel der Gesamtbevölkerung, vor allem beim weiblichen Geschlecht. Folgende Faktoren bedeuten ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung dieser Erkrankung: ■ Genetische Prädisposition. Eine Familienanamnese wird in ca. 40% der Fälle festgestellt und lässt auf eine genetische Ursache der Wandschwäche der betroffenen Venen schließen. ■ Stehende Berufe. ■ Mehrfache Schwangerschaften. Sowohl der mechanische Druck des graviden Uterus auf die Beckenvenen als auch die relaxierende Wirkung des hohen Östrogenspiegels auf die Venenmuskulatur tragen zum Stauungsphänomen in den Beinvenen bei. ■ Adipositas. Hier wird ein Verlust der mechanischen Stabilität der Venen im Zusammenspiel mit der Skelettmuskelpumpe durch interponiertes Fett verantwortlich gemacht. ■ Venenthrombose. Peripher dieser Thrombose entsteht eine Druckerhöhung.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Der Blutstau und die begleitende Drucksteigerung in den oberflächlichen Venen führen zu einem chronischen Ödem (Beinschwellung) und einer Hypoxie der Haut mit sekundären Veränderungen in Form von Atrophie, Pigmentierung sowie Durchblutungsstörungen. Schließlich entsteht ein Ulcus cruris, insbesondere im unteren Drittel des Unterschenkels. Wegen der schlechten Durchblutung heilen diese Ulzera nur sehr langsam. Die Gefahr der Thrombose ist ebenfalls gegeben. Neben den Beinvarizen spielen die Ösophagusvarizen eine wichtige Rolle, da sie zu tödlichen Blutungen führen können (siehe Kap. 32.9.6).

20.6 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Gefäßerkrankungen Häufig wird eine morphologische Diagnose an chirurgisch entnommenem Gewebe gestellt. Bei der Diagnostik von Vaskulitiden spielt die Morphologie eine entscheidende Rolle. Dies gilt vor allem für die im Rahmen der Chapel-Hill-Konsensus-Konferenz festgelegten diagnostischen Kriterien. Vonseiten der Klinik wird häufig nachgefragt, in welcher Form und an welchem Ort eine Biopsie zur Sicherung der Diagnose durchgeführt werden soll. Prinzipiell sollte nur dort Gewebe entnommen werden, wo die Erkrankung sich makroskopisch dokumentiert. Nach erfolgter Biopsie ist es Aufgabe der Pathologie,

entzündliche Gefäßveränderungen exakt zu beschreiben und zu charakterisieren, teilweise unter Nutzung immunhistologischer (z.B. Analyse der Immunkomplexe) und molekularpathologischer Verfahren (z.B. HCV-RNA-Nachweis). Bevor eine endgültige histologische Diagnose mit entsprechender Zuordnung zu einer Krankheitsentität gestellt wird, müssen zusätzliche Informationen vonseiten der Klinik eingeholt werden, z.B. über die befallene Gefäßprovinz, deren topographisches Verteilungsmuster und/oder einen entsprechenden Organbefall. Im Konsens mit der Klinik wird unter Kenntnis zusätzlicher immunpathologischer Parameter dann die endgültige Diagnose festgelegt, aus der sich dann prognostische und therapeutische Konsequenzen ergeben.

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FRAGEN 1 Nennen Sie die bekannten Risikofaktoren für die Entwicklung einer Atherosklerose. 2 Welches sind die Folgen einer Atherosklerose? In welchem Alter treten sie auf? 3 Wie unterscheidet sich die Mediasklerose Mönckeberg von der idiopathischen Medianekrose Erdheim-Gsell? 4 Nennen Sie die verschiedenen Aneurysmaformen. 5 Welches sind die Hauptkomplikationen der Panarteriitis nodosa? 6 Welche mikroskopischen Befunde charakterisieren die Riesenzellarteriitis? 7 Was sind Varizen, und wie entstehen sie? 8 Welches sind die Indikationen zur morphologischen Untersuchung der in diesem Kapitel beschriebenen Krankheiten? Welche Untersuchungen sind indiziert? Welchen Beitrag können diese Untersuchungen zur präzisen Diagnostik und zur Planung der Therapie leisten?

Blut, Knochenmark und lymphatisches System

Chronische lymphatische Leukämie. Die Zellen werden „soccer balls“ genannt. HEFärbung, 1000fach.

Allgemeines H. DENK Die Zellen des peripheren Blutes, aber auch der lymphatischen Organe entstammen dem Knochenmark. Es existieren gemeinsame Stammzellen für die lymphatischen (B- und TZellen) und die myeloischen Zellreihen (erythrozytäre, granulozytäre, megakaryozytäre, thrombozytäre Zellreihen). Im Rahmen weiterer Differenzierungsschritte entstehen schließlich im Knochenmark reife Granulozyten, Monozyten, Thrombozyten und Erythrozyten. Während die B-Lymphozyten im Knochenmark (bone marrow) ausreifen und dann in das Blut bzw. in periphere lymphatische Organe auswandern, finden die wesentlichen Reifungsvorgänge der T-Lymphozyten im Thymus statt. Dabei werden auch gegen körpereigene Zellen gerichtete (autoreaktive) T-Zell-Klone eliminiert. Das hämatopoetische und das lymphatische System sind somit eng miteinander verknüpft, was ihre ähnlichen pathologischen Reaktionen erklärt.

Abb. 21-A Schematische Darstellung der Entwicklung der hämatopoetischen Zellen aus der pluripotenten Stammzelle unter Einfluss verschiedener Zytokine.

IL Interleukin,

TNF Tumornekrosefaktor, IFN Interferon, CFU-GEM colony-forming unit granulocyte-erythroid-makrophage-megakaryocyte, GM-CSF Granulozyten-Makrophagen-Kolonie-stimulierender Faktor, BFU-E burst forming unit erythroid, CFU-GM colony-forming unit granulocyte-monocyte, EPO Erythropoetin, M-CSF Makrophagen-Kolonie-stimulierender Faktor, G-CSF Granulozyten-stimulierender Faktor, CFU colony forming unit.

21 Blut und Knochenmark S. KRIENER, CH. FELLBAUM, M.-L. HANSMANN 21.1

Normale Struktur und Funktion 510

21.2

Nichtneoplastische Störungen der Erythrozytopoese 511

21.2.1

Anämien 511

Anämien durch Bildungsstörung 511 Hämolytische Anämien 515 Anämien durch Blutverlust: Blutungsanämie 518 21.2.2

Polyglobulie 518

21.3 Nichtneoplastische Störungen der Granulozytopoese, Monozytopoese und Lymphozytopoese 518 21.3.1

Morphologische Störungen der Granulozytopoese 518

21.3.2

Quantitative Störungen der Granulozytopoese 518

Vermehrung von Zellen der Granulozytenreihe 518 Verminderung von Zellen der Granulozytenreihe: Neutropenie 519 21.3.3

Quantitative Störungen der Monozytopoese 519

Vermehrung der Monozyten: Monozytose 519 Verminderung der Monozyten: Monozytopenie 519 21.3.4

Quantitative Störungen der Lymphozytopoese 519

Vermehrung der Lymphozyten: Lymphozytose 519 Verminderung der Lymphozyten: Lymphozytopenie 519 21.4

Nichtneoplastische Störungen der Thrombozytopoese 519

21.4.1

Kongenitale funktionelle Defekte der Thrombozyten 519

21.4.2

Quantitative Störungen der Thrombozytopoese 519

Thrombozytosen 519 Thrombozytopenien 520 21.5

Infektionen und reaktive Veränderungen in Blut und Knochenmark 520

21.5.1

Infektionskrankheiten 520

Veränderungen im peripheren Blut 520 Veränderungen im Knochenmark 520 HIV-assoziierte Veränderungen des peripheren Blutes und des Knochenmarks 521 21.5.2

Reaktive Knochenmarkveränderungen 521

Knochenmarknekrose 521 Gallertatrophie 521 Knochenmarkfibrose 521 21.6

Myelodysplastische Syndrome (MDS) 521

21.7 Neoplastische Knochenmarkerkrankungen (myeloproliferative Erkrankungen) 524 21.7.1

Chronische myeloproliferative Erkrankungen 524

Chronische myeloische Leukämie (CML) 525 hronische Neutrophilenleukämie 527 Chronische Eosinophilenleukämie (CEL) und Hypereosinophiliesyndrom 527 Polycythaemia vera (PV) 527 Essentielle Thrombozythämie (ET) 527 Chronische idiopathische Myelofibrose (OMF) 528 Chronische myeloproliferative Erkrankung, unklassifizierbar 529 Mastozytosen 529 21.7.2

Akute myeloische Leukämie (AML) 530

21.8

Maligne Lymphome im Knochenmark 533

21.8.1

Plasmozytom 533

Paraproteinämie unbestimmter Signifikanz 533 21.8.2

Akute lymphoblastische Leukämie (ALL) 534

21.8.3

Chronische lymphozytische Leukämie des B-Zell-Typs (B-CLL) 534

21.8.4 Chronische lymphozytische Leukämie des T-Zell-Typs (TCLL)/Prolymphozytenleukämie des T-Zell-Typs 535 21.8.5

Haarzellenleukämie (HCL) 535

21.8.6

Weitere maligne Lymphome 535

21.9

Metastatische Knochenmarkinfiltration 535

21.10

Bedeutung der Pathologie in der Knochenmarkdiagnostik 536

Literatur 536 Fragen 537

Zur Orientierung Im roten (Blut bildenden) Knochenmark werden die Blutzellen gebildet. Die normale Hämatopoese (Blutbildung) umfasst drei Systeme: ■ Erythro(zyto)poese ■ Granulo(zyto)poese inkl. Monozytopoese ■ Thrombo(zyto)poese. Für Reifung und Differenzierung und damit die adäquate Funktion der Blutzellen ist ihre Interaktion mit Stromazellen wesentlich (u.a. vermittelt durch hämatopoetische Wachstumsfaktoren). Aufgaben der Blutzellen sind ■ Sauerstofftransport (Erythrozyten) ■ unspezifische Abwehr (Granulozyten) ■ Beteiligung an der Blutgerinnung (Thrombozyten). Jedes dieser Systeme kann nichtneoplastische und neoplastische pathologische Veränderungen aufweisen. Je nach Genese der Funktionsstörung führt ■ eine fehlerhafte Erythrozytopoese entweder zu einer Anämie oder zu einer Polyglobulie ■ eine fehlerhafte Granulozytopoese zu Störungen in der Infektabwehr

■ eine fehlerhafte Thrombozytopoese zu Gerinnungsstörungen, die sich entweder in einer Butungsneigung oder einer gesteigerten Thromboseneigung manifestieren. Diese Funktionsstörungen können je nach Ursache entweder eine, zwei oder alle drei hämatopoetischen Reihen betreffen.

21.1

Normale Struktur und Funktion

Bis zur 6. Schwangerschaftswoche findet die Hämatopoese im Dottersack, bis zum 7. Fetalmonat hauptsächlich in Leber und Milz statt, wo sie noch ca. 2 Wochen postpartal nachweisbar bleibt. Im Knochenmark etabliert sich die Hämatopoese ab dem 5./6. Fetalmonat. Während zu Beginn alle Knochen beteiligt sind, ersetzt ab dem vollendeten ersten Lebensjahr mit fortschreitendem Knochenwachstum gelbes Fettmark immer mehr das rote blutbildende Mark. Beim Erwachsenen beschränkt sich die Blutbildung auf die kurzen und platten Knochen. Eine Umkehr dieser Entwicklung ist im Bedarfsfall (z.B. bei chronischem O2-Mangel, Neoplasmen und Infektionen) möglich. Die embryonalen Blutbildungsstätten sind somit als extramedulläre Blutbildungsorte reaktivierbar. Das Knochenmark besteht aus hämatopoetischen Zellen und Stroma mit Gefäßen (Arterien, Venen, Sinus, Kapillaren). Zum Stroma zählen Fettzellen, Endothelzellen, Osteoblasten, Osteoklasten und Retikulumzellen. Die von den Retikulumzellen (Fibroblasten) gebildete extrazelluläre Matrix bindet hämatopoetische Wachstumsfaktoren (Interleukine und Kolonie-stimulierende Faktoren) und präsentiert sie in biologisch aktiver Form den hämatopoetischen Zellen. Mit Ausnahme des in der Niere gebildeten Hormons Erythropoetinwerden diese Wachstumsfaktoren (Glykoproteinhormone) überwiegend von T-Lymphozyten, Monozyten, Endothelzellen und Fibroblasten gebildet. Sie regulieren die Entwicklung der hämatopoetischen Zellen von der undeterminierten, pluripotenten Stammzelle zu Stammzellen mit eingeschränkter Pluripotenz, aus denen schließlich die einzelnen Zellreihen des blutbildenden Systems hervorgehen (siehe Abb. 21-A). Die selektive Freisetzung von Blutzellen aus dem Knochenmark erfolgt durch die Sinusendothelien, wobei physiologischerweise nur reife Blutzellen in die Sinus gelangen.

Erythrozytopoese Die Zellen der Erythrozytopoese liegen im Knochenmark in kleinen, relativ gut begrenzten Gruppen, sog. Erythronen. Durch Erythropoetin reguliert, entstehen aus Proerythroblasten über Teilungsschritte kleinere basophile Makroblasten, die sich zu polychromatischen Makroblasten und schließlich zu orthochromatischen Normoblasten (Abb. 21-1) differenzieren. Durch Kondensation und Ausstoßung des Zellkerns entstehen Retikulozyten. Nach Austritt in das Blut verlieren diese ihre anfangs noch reichlichen Ribosomen und werden zu reifen Erythrozyten, d.h. diskusförmigen, bikonkaven Zellen mit ca. 7,4 μm Durchmesser. Diese haben eine

Lebensdauer von ca. 120 Tagen und werden überwiegend in der Milz abgebaut. Ein geringer Prozentsatz der Erythrozyten geht auch bei Gesunden bereits im Knochenmark zugrunde (ineffektive Erythrozytopoese).

Granulozytopoese Abb. 21-1 Normale Hämatopoese.

Zellen aller drei hämatopoetischen Reihen ohne pathologische Veränderungen. Proerythroblast ( ); Normoblast ( ); Promyelozyt ( ); neutrophiler Stabkerniger ( ); neutrophiler Segmentkerniger ( ); eosinophiler Segmentkerniger ( ); Megakaryozyt ( ), Plasmazelle ( ). Pappenheim, Vergr. 600fach. Myeloblasten sind die frühesten erkennbaren Zellen der Granulozytopoese. Sie besitzen rundliche bis ovale Kerne mit feinretikulärer Kernstruktur und ein zart basophiles Zytoplasma ohne Granula (Myeloblast Typ I) oder mit wenigen azurophilen Granula (Myeloblast Typ II). Die Entwicklung zu reifen Zellen wird durch Wachstumsfaktoren reguliert: ■ GM-CSF (Granulozyten-Makrophagen-Kolonie-stimulierender Faktor): reguliert die Entwicklung von Granulozyten und Monozyten ■ G-CSF (Granulozyten-Kolonie-stimulierender Faktor): reguliert die Entwicklung von neutrophilen Granulozyten ■

Interleukin-5: reguliert die Entwicklung von eosinophilen Granulozyten

■ M-CSF (Makrophagen-Kolonie-stimulierender Faktor): reguliert die Entwicklung von Monozyten.

Aus Myeloblasten entstehen Promyelozyten, die größer als ihre Mutterzelle sind und ein breites basophiles granulareiches Zytoplasma besitzen. Aus Promyelozyten (Abb. 21-1) entstehen Myelozyten mit ovalem Kern und granuliertem Zytoplasma. Aus diesen entwickeln sich Metamyelozyten, die sich weiter zu stab- und segmentkernigen Granulozyten (Abb. 21-1) differenzieren. Je nach Granulierung werden neutrophile, basophile und eosinophile Granulozyten und deren Vorstufen unterschieden. Die unreifsten Zellen der Granulozytopoese befinden sich im Knochenmark in der Nähe der Knochentrabekel und Arteriolen. Gegen das Zentrum der Markräume hin zeigt sich eine zunehmende Ausreifung. Drei Viertel der Granulozyten werden als Knochenmarksreserve im Mark gespeichert. Ein Teil der Granulozyten zirkuliert im Blut, ein Teil wandert in das Gewebe aus, um dort Abwehrfunktionen zu erfüllen. Ein geringer Teil der Granulozyten wird in der Milz abgebaut.

Monozytopoese Aus Monoblasten entwickeln sich im Knochenmark Promonozyten und schließlich Monozyten. Diese liegen bevorzugt in der Nähe von Arteriolen. Monozyten gelangen über das Blut in das Gewebe, wo sie zu Zellen mit Phagozytoseeigenschaft (Makrophagen), Epitheloidzellen oder antigenpräsentierenden Zellen differenzieren können.

Thrombozytopoese Der Megakaryoblast wird durch Kernteilung ohne Zytoplasmateilung (Endomitose) zum Megakaryozyten (Abb. 21-1), der morphologisch variabelsten Zelle des Knochenmarks. Sie besitzt ein breites, basophiles Zytoplasma und einen stark gelappten Kern. Thrombozyten entstehen durch Abspaltung von Zytoplasmafragmenten; die übrig bleibenden nackten Megakaryozytenkerne werden phagozytiert. Im Knochenmark liegen die Megakaryozyten in der Nähe der Sinus. Thrombozyten leben ca. 8–11 Tage und werden v.a. durch Phagozytose in der Milz abgebaut.

Mastzell-Abstammung Die Mastzelle stammt von der CD34+-myeloischen Stammzelle des Knochenmarks ab. Sie differenziert sich jedoch wahrscheinlich erst nach Übertritt in das Gefäßbindegewebe endgültig unter dem Einfluss von MGF (mast cell growth factor), der auch für funktionelle Eigenschaften der Mastzellen verantwortlich ist. Die reife Mastzelle hat eine ovale bis längliche Form, einen kleinen rundlichen, zentral liegenden Kern und zahlreiche intrazytoplasmatische basophile Granula. Diese beinhalten Mediatoren, wie z.B. Histamin, Heparin, Prostaglandine, Tumornekrosefaktor, Leukotriene, chemotaktische Faktoren.

Lymphozytopoese Siehe Kap. 22.1.

21.2 Nichtneoplastische Störungen der Erythrozytopoese Störungen der Erythrozytopoese können zu einer Verminderung (Anämie) oder zu einer Vermehrung (Polyglobulie) der Erythrozytenzahl führen.

21.2.1

Anämien

Unter Anämie versteht man eine Verminderung der Erythrozytenzahl, der Hämoglobinkonzentration oder des Hämatokriten unter die Altersnorm. Anämien können nach ihrer Ursache (Erythrozytenbildungsstörung, gesteigerter Erythrozytenabbau, Erythrozytenverlust), nach der Erythrozytengröße (normozytär, mikrozytär, makrozytär) oder nach dem Hämoglobin(Hb)-Gehalt (normochrom, hypochrom, hyperchrom) eingeteilt werden. Im Folgenden erfolgt die Einteilung nach der Ursache.

Anämien durch Bildungsstörung Anämien können durch folgende Bildungsstörungen verursacht werden: ■

Hämoglobinsynthesestörungen



DNA-Synthese-Störung



Störung der pluripotenten Stammzelle



Störung der erythropoetischen Stammzelle



Erythropoetinmangel

■ unklare und durch multiple Mechanismen bedingte Störungen der Erythrozytopoese ■

Verdrängung der Erythrozytopoese.

Anämien durch Hämoglobinsynthesestörungen Hämoglobinsynthesestörungen führen zu einer hypochromen Anämie. Bei der hypochromen Anämie ist der Hb-Gehalt des einzelnen Erythrozyten vermindert. Zu den hypochromen Anämien zählen die Eisenmangelanämie und die Thalassämien.

Eisenmangelanämie Ätiologie Eisenmangel ist die häufigste Ursache von Anämien. Er kann folgende Ursachen haben: Chronische Blutungen (am häufigsten):

■ □

genitale Blutungen der Frau

□ gastrointestinale Blutungen (z.B. Ulzera, Karzinome, Ösophagusvarizen, Hakenwurmbefall, Angiodysplasie) □ ■

Blutverluste aus anderen Organen (operativ oder traumatisch) Mangelhafte Eisenzufuhr (Säuglinge, Kleinkinder, Vegetarier)

■ Malabsorption (Zustand nach Magenresektion, Erkrankungen des Dünndarms) ■

Erhöhter Eisenbedarf (Schwangerschaft, Stillperiode, Wachstum).

Morphologie Im Blutausstrich (Abb. 21-2) finden sich hypochrome, mikrozytäre und ungleich geformte Erythrozyten (Poikilozytose) sowie Anulozyten (ringförmige Erythrozyten infolge Hämogolobinmangels) und einzelne Targetzellen (schießscheibenartige Erythrozyten). In Abhängigkeit von Ausmaß, Dauer und Ursache des Eisenmangels zeigt sich im Knochenmark eine mehr oder weniger ausgeprägte kompensatorische Hyperplasie der Erythrozytopoese. Der Hämosideringehalt in den Knochenmark-Retikulumzellen (Makrophagen) und die Eisengranula der Erythroblasten sind hochgradig reduziert.

Klinisch-pathologische Korrelationen Erst bei vollständiger Erschöpfung der Eisenreserven treten klinische Symptome auf. Allgemeinsymptome sind Kopfschmerzen, Müdigkeit und Blässe. Zusätzlich kommen Haut- und Schleimhautveränderungen wie Hohlnägelbildung, Brüchigkeit von Haaren und Nägeln, trockene Haut und Mundwinkelrhagaden vor. Schleimhautatrophie der Zunge, des Pharynx und des Ösophagus führt zu Zungenbrennen und Dysphagie.

Thalassämien Das Hämoglobin des Menschen besteht aus vier Globinketten, nach deren Zusammensetzung (α-, β-, γ-, δ-Ketten) drei Hämoglobintypen unterschieden werden. Neugeborene und Erwachsene besitzen unterschiedliche Hämoglobinkonstellationen:

Neugeborene Erwachsene HbA1 (αα/ββ) 20–40% 97% HbA2 (αα/δδ) 0,5–1,5% 2,5% HbF (αα/γγ) 60–80% < 0,5% Die Thalassämien sind eine heterogene Gruppe genetischer Erkrankungen mit einer quantitativen Störung der Hämoglobinsynthese. Bei der β-Thalassämie ist die Synthese der β-Ketten, bei der seltenen α-Thalassämie die der α-Ketten gestört.

β-Thalassämie. Ihr liegt eine Verminderung oder ein Verlust der β-Ketten des HbA1 zugrunde. Die überzähligen α-Ketten werden in den Erythroblasten und den Erythrozyten abgelagert. Es resultiert eine schwere Störung der Erythrozytopoese mit intraund extramedullärer Hämolyse. Die höchste Prävalenz findet sich im Mittelmeerraum, im Mittleren Osten und in Südostasien. Ursache ist in den meisten Fällen eine Punktmutation, seltener eine Deletion von β-Globin-Genen. Sind beide Elternteile heterozygote Träger der Anlage, tritt mit 25% Wahrscheinlichkeit die homozygote Form (Thalassaemia major, CooleyAnämie) auf. In der Hämoglobinelektrophorese fehlt der HbA1-Anteil, der HbF-

Anteil ist beträchtlich erhöht und beträgt zwischen 30 und 95%, der HbA2-Anteil variiert. Die homozygote Form manifestiert sich 3–6 Monate nach der Geburt, dem Zeitpunkt der Umstellung von HbF zu HbA.

Abb. 21-2

Eisenmangelanämie.

Blutausstrich. Zahlreiche Anulozyten (Pfeile), Mikrozyten und einzelne Targetzellen (Pfeilspitzen). May-Grünwald-Giemsa, Vergr. 600fach.

Morphologie

Im Blutausstrich zeigt sich das Bild einer hypochromen, mikrozytären Anämie mit erhöhtem Retikulozytenanteil, Normoblasten, Targetzellen und basophiler Tüpfelung der Erythrozyten (Abb. 21-3). Im Knochenmark ist die Erythrozytopoese hyperplastisch. Eine erhebliche Siderose (Eisenablagerung) in den parenchymatösen Organen und im retikulohistiozytären System wird durch die verkürzte Lebensdauer der Erythrozyten und durch die wiederholten Bluttransfusionen verursacht.

Abb. 21-3

β-Thalassaemia major.

Blutausstrich. Beträchtliche Anisozytose und Poikilozytose mit Ausbildung von Fragmentozyten (Pfeile), Dakryozyten (Doppelpfeile) und Targetzellen. May-Grünwald-Giemsa, Vergr. 600fach.

Klinisch-pathologische Korrelationen Klinisch

fallen bei der homozygoten Form eine Hepatosplenomegalie, Ikterus (aufgrund der Hämolyse) und eine schwere hämolytische Anämie auf. Aufgrund der Ausdehnung des hyperplastischen Knochenmarks in den kortikalen Knochen kommt es zum radiologischen Bild des sog. Bürstenschädels: Die Schädelkalotte stellt sich mit radiären, stachelförmigen Verdichtungen der Diploe bei Rarefizierung der Kortikalis dar. Ohne Therapie sterben die Patienten im 2. bis 3. Lebensjahrzehnt an Infektionen oder durch Eisenüberladung hervorgerufenen Organschäden. Die heterozygote Form (Minor-Form) verläuft häufig asymptomatisch, zeigt jedoch ein hypochromes, mikrozytäres Blutbild. Eine geringe Anämie kann durch Stresssituationen (z.B. Schwangerschaft, Infekte) verstärkt werden.

α-Thalassämie. Sie ist meist die Folge einer Deletion eines oder mehrerer, selten aller vier αGlobin-Gene. Von der Zahl der defekten α-Globin-Gene hängt der Schweregrad der klinischen Symptomatik ab. Nur bei Deletion aller vier Gene wird die αKetten-Synthese vollständig unterdrückt und führt so zum Versagen der fetalen Hämoglobinsynthese und damit zum Tod in utero (Hydrops fetalis).

Anämien durch DNA-Synthese-Störungen: megaloblastäre Anämien Megaloblastäre Anämien sind Anämien, die auf einem Vitamin-B12- und/oder Folsäuremangel beruhen, wodurch es zu Störungen der DNA-Synthese kommt. Die häufigste Ursache ist der Vitamin-B12-Mangel. Es resultiert eine hyperchrome Anämie mit Megaloblasten im Knochenmark und Megalozyten (evtl. auch Megaloblasten) im peripheren Blut.

Abb. 21-4

Perniziöse Anämie.

Blutausstrich. Zahlreiche Makrozyten und Makroovalozyten. Ein Erythrozyt mit Howell-Jolly-Körperchen (Pfeil). Ein hypersegmentierter neutrophiler Granulozyt (Doppelpfeil). May-Grünwald-Giemsa, Vergr. 600fach.

Abb. 21-5 Anämie).

Megaloblastäre Anämie (perniziöse

Hyperzelluläres Knochenmark mit erheblich gesteigerter, megaloblastärer Erythrozytopoese, flächenhaft verschmolzene Erythrone (Pfeile). Giemsa, Vergr. 200fach.

Abb. 21-6 Anämie).

Megaloblastäre Anämie (perniziöse

Megaloblastäre Erythrozytopoese (Pfeile). Riesenstabkernige Formen in der Granulozytopoese (Doppelpfeil). Pappenheim, 600fach.

Morphologie

Es findet sich eine makrozytäre, hyperchrome Anämie. Die Retikulozytenzahl ist im Verhältnis zum Schweregrad der Anämie niedrig, die Gesamtzahl der Leukozyten und Thrombozyten kann mäßiggradig vermindert sein. Im Ausstrich des peripheren Blutes lassen sich eine deutliche Vergrößerung, Poikilozytose und Anisozytose der Erythrozyten, die z.T. Granulozytendurchmesser erreichen und z.T. Kernreste (Howell-JollyKörperchen) beinhalten können, nachweisen. Die segmentkernigen Granulozyten zeigen als Zeichen der Reifungsstörung eine Übersegmentierung (Abb. 21-4). Das Knochenmark ist gewöhnlich hyperzellulär (Abb. 21-5) und zeigt eine erhebliche Hyperplasie der Erythrozytopoese, die überwiegend aus vergrößerten Erythroblasten (Megaloblasten) besteht (Abb. 21-6). Die ausgeprägte Steigerung der Erythrozytopoese kann gelegentlich den Eindruck einer Blasteninfiltration wie bei einer akuten Leukämie erwecken. Die Erythrone sind flächenhaft verschmolzen. Auch die Normoblasten sind vergrößert und enthalten häufig ringförmige Gebilde als fragliche Reste der Kernmembran (Cabot-Ringe). Eisenhaltige Retikulumzellen und Sideroblasten sind vermehrt. Die Granulozytopoese weist häufig Reifungsstörungen mit Riesenstabkernigen und übersegmentierten Granulozyten und eine Eosinophilie auf. In der Megakaryozytopoese können vermehrt hypersegmentierte Megakaryozyten auftreten.

Vitamin-B12-Mangel Vitamin B12 ist eine kobalthaltige, porphyrinähnliche Ringverbindung. Es wird von Mikroorganismen der Darmflora synthetisiert. Da das im menschlichen Kolon synthetisierte Vitamin B12 jedoch nicht resorbiert werden kann, ist der Mensch auf die Zufuhr über tierische Nahrung (Fleisch, Milch, Eier) angewiesen. Vitamin B12 ist ein essentielles Koenzym für die DNA-Synthese und kommt im Körper in zwei aktiven Formen vor (Adenosylcobalamin, Methylcobalamin). Es wird im terminalen Ileum resorbiert, wofür der sog. Intrinsic-Faktor, ein von den Belegzellen (Parietalzellen) des Magens gebildetes Glykoprotein, notwendig ist. Im Plasma wird Vitamin B12 an Glykoproteine gebunden und zur Leber, zum Knochenmark und zu anderen schnell proliferierenden Geweben transportiert. Circa 2 mg Vitamin B12 werden in der Leber gespeichert, weitere 2 mg außerhalb der Leber; dieser Vorrat reicht ohne weitere Vitamin-B12-Zufuhr für ca. 3 Jahre.

Ätiologie Ursachen eines Vitamin-B12-Mangels sind: ■

mangelhafte Zufuhr bei streng vegetarischer Kost



Intrinsic-Faktor-Mangel bei



Zustand nach Magenresektion

□ perniziöser Anämie (Biermer-Addison-Syndrom): Durch Autoantikörper gegen Parietalzellen und Intrinsic-Faktor kommt es zu einer atrophen Autoimmungastritis (Typ A) mit Achlorhydrie und dadurch zu einem Mangel an Intrinsic-Faktor (häufiger erworben, seltener kongenital; siehe Kap. 28.6.2) ■

intestinale Erkrankungen mit Malabsorptionssyndrom



vermehrter Verbrauch im Darmlumen durch Fischbandwurmbefall

■ bakterielle Überwucherung (z.B. beim Blind-Loop-Syndrom: Folge einer chronischen Stauung des Darminhalts im blinden Ende einer Seit-zu-SeitDarmanastomose oder in einem Divertikel, wodurch es zu Verdauungsstörungen und Schleimhautreizungen kommt. Der Vitamin-B12Verbrauch durch die Darmflora ist erhöht und die Resorption gestört).

Klinisch-pathologische Korrelationen Das klinische Bild eines Vitamin-B12-Mangels ist durch die Trias von hämatologischen, neurologischen und gastrointestinalen Störungen gekennzeichnet. Symptome sind Müdigkeit, verminderte Leistungsfähigkeit, Blässe, eventuell leichter Ikterus (durch erhöhten Hämoglobinabbau bei verstärkter ineffektiver Hämatopoese), ferner eine atrophe Autoimmungastritis sowie andere Schleimhautatrophien (atrophe Glossitis mit glatter, roter Zunge und Zungenbrennen = Hunter-Glossitis). Neurologische Störungen sind Folgen der funikulären Spinalerkrankung mit Markscheidenschwund im Bereich der Hinterstränge (Folgen: Gangunsicherheit, Störungen der Tiefensensibilität) und von Schädigungen der Pyramidenbahn (Folgen: spastische Parese, Pyramidenbahnzeichen). Daneben finden sich Zeichen einer Polyneuropathie. Das klinische Krankheitsbild ist nicht immer voll ausgeprägt. Die Differentialdiagnose der Knochenmarkveränderungen zwischen einer perniziösen Anämie und einem myelodysplastischen Syndrom (siehe Kap. 21.6) oder einer HIV-Infektion kann schwierig sein. Auch die durch Alkoholkrankheit verursachte Anämie ist hyperchrom und makrozytär, selbst wenn normale Vitamin-B12- und Folsäurespiegel vorliegen.

Folsäuremangel Folsäure ist in der Nahrung (Gemüse, Pilze, Niere, Leber) enthalten und wird im Dünndarm zur Monoglutamatform dekonjugiert und resorbiert.

Ätiologie Ursachen des Folsäuremangels sind: ■

Mangelernährung (Alkoholiker, einseitige Kost)



erhöhter Bedarf (Hämolyse, Schwangerschaft)



intestinale Erkrankungen mit Malabsorptionssyndrom



Störung der Dekonjugation durch Medikamente (z.B. Phenytoin)



Behandlung mit Folsäureantagonisten (z.B. Methotrexat)

■ kongenitale Ursachen (Enzymdefekte, z.B. DehydrofolsäurereduktaseMangel)

Klinisch-pathologische Korrelationen

Das klinische Bild des Folsäuremangels ist durch die Symptome einer Anämie gekennzeichnet, eine neurologische Symptomatik fehlt. Bei Schwangeren ist bei Folsäuremangel das Risiko eines embryonalen Neuralrohrdefekts erhöht.

Anämie durch Störung der Proliferation und Differenzierung der pluripotenten Stammzelle: aplastische Anämie Abb. 21-7 Aplastisches Knochenmark (Panmyelophthise).

Hochgradig hypozelluläres Knochenmark mit völligem Schwund der paratrabekulären myeloischen Vorstufen (Doppelpfeile). Einzelne kleine Erythropoeseinseln (Pfeile). Giemsa, Vergr. 200fach. Reduktion oder Defekte der pluripotenten Stammzellen führen zu einer hochgradigen Hypoplasie oder zu einer Aplasie des Knochenmarks (Abb. 21-7). Diese verursacht eine Panzytopenie (Anämie, Leukopenie, Thrombopenie) des peripheren Blutes.

Ätiologie Aplastische Anämien werden in primäre und sekundäre Formen eingeteilt. ■ Primäre Formen: □ Fanconi-Anämie (autosomal-rezessiv vererbt) □ idiopathische Formen (wahrscheinlich verursacht durch einen Autoimmunmechanismus, bei dem die T-Lymphozyten des Patienten supprimierend auf die hämatopoetischen Stammzellen wirken).

■ Sekundäre Formen, verursacht durch: □ ionisierende Strahlen □ Chemikalien (z.B. Benzene, Lösungsmittel, Insektizide) □ Medikamente (z.B. Busulfan, Cyclophosphamid, Gold) □ Infektionen (z.B. Virushepatitis).

Morphologie In fortgeschrittenen Fällen besteht das Knochenmark fast ausschließlich aus Fettmark. Zum Teil findet sich ein fokales Marködem, Lymphozyten und Plasmazellen können vermehrt sein.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die klinischen Symptome beruhen auf der Panzytopenie und äußern sich in Blässe, Müdigkeit, Blutungen und rezidivierenden Infekten.

Anämien durch Störungen der Proliferation und Differenzierung der erythropoetischen Stammzelle Erythroblastophthise (pure red cell aplasia) Eine Störung der Proliferation und Differenzierung der erythropoetischen Stammzellen führt zu einer isolierten Bildungsstörung der erythrozytären Reihe mit isolierter Hypoplasie oder Aplasie der Erythrozytopoese: Erythroblastophthise. Man unterscheidet eine akute und eine chronische Form: ■ Akut: Im Rahmen von hämolytischen Krisen. Meist nur von kurzer Dauer. ■ Chronisch: □ Kongenital bei Säuglingen und Kleinkindern in-folge eines Rezeptordefektes der erythropoetischen Stammzellen, der sie unempfindlich gegen Erythropoetin macht. □ Erworben bei Erwachsenen meist im Rahmen von Kollagenosen, Virusinfekten, Thymomen oder Lymphomen.

Kongenitale dyserythropoetische Anämie Es handelt sich um eine autosomal-rezessiv oder autosomal-dominant vererbte Erkrankung, die durch einen genetischen Defekt des Enzyms N-

Acetylglukosaminyltransferase verursacht wird. Dieses Enzym ist für die Glykosylierung mehrerer Erthrozytenmembranproteine notwendig.

Anämie durch Erythropoetinmangel bei chronischer Niereninsuffizienz Die Ursache für die Anämie bei chronischer Niereninsuffizienz liegt zumeist in einer Verminderung der Erythropoetinbildung. Komplizierend können ein Eisenmangel durch Blutverlust während der Dialyse und ein Folsäuremangel hinzukommen. Bei Langzeitdialysepatienten kann eine iatrogene Aluminiumüberladung (durch Langzeiteinnahme von aluminiumhaltigen Phosphatbindern) die Erythrozytopoese hemmen (Wirkungsmechanismus unbekannt).

Unklare und durch multiple Mechanismen bedingte Anämien Anämien bei akuten Infekten Häufig handelt es sich hierbei um hämolytische Anämien. Bestimmte Bakterien (z.B. Clostridium perfringens, Streptococcus pyogenes) können die Erythrozytenmembran schädigen und zur Hämolyse führen. Ferner kann durch virale Infekte ein Erythro- bzw. Hämophagozytosesyndrom ausgelöst werden. Es handelt sich dabei um eine diffuse Vermehrung von aktivierten Makrophagen, die (meist) Erythrozyten phagozytieren.

Anämien bei chronischen Erkrankungen Die Ursachen dieser Anämieformen sind sehr heterogen. In Frage kommen inadäquate Erythropoetinspiegel und die Aktivierung von Makrophagen und Lymphozyten im Rahmen von z.B. Infekten, Autoimmunerkrankungen, Tumoren.

Anämien durch Verdrängung der Erythrozytopoese (z.B. bei Knochenmarkinfiltration durch ortsfremde Zellen) Siehe Kap. 21.8.

Hämolytische Anämien Hämolytische Anämien sind Anämien, die durch einen beschleunigten Erythrozytenabbau verursacht werden. Sie können sowohl hereditär als auch erworben sein. Ursachen des beschleunigten Erythrozytenabbaus können im Erythrozyten selbst

(Membrandefekte, Enzymdefekte, Hämoglobindefekte) liegen oder auf äußeren Einwirkungen (Antikörper, mechanische Traumen) beruhen. Demnach wird von korpuskulären und extrakorpuskulären Ursachen gesprochen. Klinisch fallen Patienten mit einer hämolytischen Anämie durch Blässe von Haut und Schleimhäuten, leichten, rezidivierenden Ikterus und Splenomegalie auf. Der Urin enthält Urobilinogen und verfärbt sich daher nach längerem Stehen dunkel.

Erbliche (hereditäre) hämolytische Anämien Erbliche hämolytische Anämien können Membran-, Enzym- oder Hämoglobindefekte als Ursache haben.

Membrandefekte ■ Kugelzellenanämie (hereditäre Sphärozytose). Die Ursache ist eine vorwiegend autosomal-dominant vererbte Störung der Spektrin-β-KettenSynthese, die zu einer Verminderung des Spektrinanteils (Hauptstrukturprotein der Erythrozytenmembran) führt. Die autosomal-rezessive Form beruht auf einer Synthesestörung der Spektrin-α-Kette. Die Erythrozyten besitzen anfangs ihre regelrechte bikonkave Form, im Laufe ihrer Lebensdauer verlieren sie Membranbestandteile. Es kommt zu einer Störung der Ionenpermeabilität mit Natriumionen- und Wassereinstrom in die Erythrozyten, die schließlich eine Kugelform annehmen (Abb. 21-8). Diese Sphärozyten können die Mikrozirkulation der Milz nicht mehr passieren und werden dort frühzeitig abgebaut. Der Blutausstrich zeigt Mikrosphärozyten und zahlreiche Retikulozyten. Durch die meist gesteigerte Erythrozytopoese ist das Knochenmark hyperplastisch. Die Erkrankung wird mit variabler Expressivität, deren Ausmaß mit dem Schweregrad der hämolytischen Anämie korreliert, vererbt. Das klinische Bild ist variabel. In schweren Fällen kommt es zu ausgeprägter Anämie, Ikterus und Splenomegalie. Komplizierend können lebensbedrohliche aplastische Krisen, z.B. ausgelöst durch eine Parvo-B19-Virusinfektion, auftreten. Die Patienten entwickeln gehäuft Bilirubingallensteine. Die Therapie besteht in einer Splenektomie, die auch Nebenmilzen erfassen sollte. ■ Elliptozytose. Das klinische Bild ist der Sphärozytose ähnlich, der Verlauf ist meist milder. Im Blutausstrich fallen elliptische Erythrozyten und eine deutliche Poikilozytose auf.

Enzymdefekte Es sind zahlreiche unterschiedliche Defekte bekannt. Nachfolgend sind zwei wichtige Beispiele aufgeführt.

Abb. 21-8 Kugelzellenanämie.

Blutausstrich. Stark verkleinerte Erythrozyten ohne Aufhellung (Sphärozyten). May-Grünwald-Giemsa, Vergr. 600fach. ■ Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase(G-6-PD)-Mangel (Favismus). Die Erkrankung beruht auf Mutationen des G-6-PD-Gens, das auf dem XChromosom liegt. G-6-PD reduziert NADP und oxidiert gleichzeitig Glukose-6Phosphat. Diese Reaktion ist in Erythrozyten die einzige NADPH−-Quelle. Die defizienten Erythrozyten sind nicht mehr vor Oxidationsschäden geschützt. Es kommt zu hämolytischen Krisen infolge von Infektionen, Genuss von Saubohnen und durch Medikamente (z.B. Malariamittel, Sulfonamide, Acetylsalicylsäure). Zumeist findet sich die Erkrankung bei Afrikanern, Asiaten und Bewohnern der Mittelmeerländer. Männer und homozygot betroffene Frauen erkranken immer, bei heterozygoten Frauen kann die Ausprägung der Erkrankung variabel sein. Heterozygote Anlageträger sind gegenüber Malariaplasmodien resistenter. Klinisch äußert sich die Erkrankung in einer rasch einsetzenden intravasalen Hämolyse mit Hämoglobinurie. Während einer Krise können im Blutausstrich fragmentierte und kontrahierte Erythrozyten auftreten. Typisch ist der Nachweis

von Heinz-Innenkörpern (in Erythrozyten exzentrisch gelegene denaturierte Hämoglobinprodukte). Im symptomfreien Intervall ist das Blutbild normal. ■ Pyruvatkinasemangel. Es handelt sich um einen autosomal-rezessiv vererbten Glykolysedefekt mit verminderter ATP-Bildung und resultierender verminderter Flexibilität der Erythrozyten. Nur bei homozygoten Anlageträgern kommt es zu einer hämolytischen Anämie. Im Blutausstrich sind, insbesondere nach Splenektomie, eine Poikilozytose und Erythrozytendeformierungen nachweisbar. Klinisch kann eine Splenomegalie auffallen.

Hämoglobindefekt: Sichelzellenanämie Die Sichelzellenanämie ist die häufigste Hämoglobinopathie (höchste Prävalenz in Afrika und unter der schwarzen Bevölkerung Amerikas). Sie beruht auf einer vererbten qualitativen Hämoglobinveränderung, bei der aufgrund einer Punktmutation im β-Globin-Lokus auf Chromosom 11 im Protein Glutamin durch Valin ersetzt und damit das sog. Hämoglobin S (HbS) gebildet wird. Der Erbgang bzgl. des klinischen Bildes ist autosomal-rezessiv, bzgl. des Nachweises des Sichelzellenhämogobins autosomal-kodominant. Bei herabgesetzter Sauerstoffspannung kommt es bei homozygoten Anlageträgern zur Polymerisation von HbS, wobei die Erythrozyten eine starre Sichelform (Sichelzellen) annehmen (Abb. 21-9). Im Blutausstrich zeigen sich neben einer Anisozytose und Poikilozytose typischerweise Sichelzellen und Targetzellen. Das Knochenmark weist infolge der gesteigerten Erythrozytopoese eine erhöhte Zellularität auf. Es kann durch Knochenabbau zur Zerstörung der Wirbelkörper und zum radiologischen Bild des sog. Bürstenschädels kommen. Hämolytische Anämien können bei dieser Erkrankung u.a. durch Infektionen, Azidose, Dehydrierung oder Sauerstoffmangel ausgelöst werden. Die verformten Erythrozyten werden verstärkt in der Milz abgebaut. Die Milz ist in der frühen Phase der Krankheit erheblich vergrößert (Splenomegalie). Die veränderten Erythrozyten können zu Mikroembolien und damit zu Infarkten in verschiedenen Organen führen. Rezidivierende Milzinfarkte führen später zu einer Milzverkleinerung. Die heterozygote Form hat demgegenüber einen sehr gutartigen Verlauf ohne Anämie, mit unauffälligem Ausstrich des peripheren Blutes sowie nicht pathologisch veränderter Knochenmarkhistologie. Eine hämolytische Anämie entwickelt sich hier nur bei extrem erniedrigter Sauerstoffspannung. Die Erythrozyten heterozygoter Anlageträger sind (wie beim G-6-PD-Mangel) gegenüber Malariaplasmodien resistenter.

Abb. 21-9 Sichelzellenanämie.

Blutausstrich. Ausgeprägte Poikilozytose, die Erythrozyten sind z.T. sichelförmig deformiert (Pfeile). Ein ausgeschwemmter (kernhaltiger) Normoblast (Doppelpfeil). May-Grünwald-Giemsa, Vergr. 600fach.

Erworbene hämolytische Anämien Autoimmunhämolytische Anämie Bei autoimmunhämolytischen Anämien werden die Erythrozyten durch Autoantikörper zerstört. Der Blutausstrich ist unauffällig, das Knochenmark zeigt eine Hyperplasie infolge reaktiv gesteigerter Erythrozytopoese (Abb. 21-10). Es werden eine primäre (idiopathische) und eine sekundäre Form unterschieden. Die sekundäre Form wird v.a. durch Non-Hodgkin-Lymphome, Kollagenosen (z.B. Lupus erythematodes), Medikamente (z.B. Penicillin, Cephalosporine, αMethyldopa), Infekte (bes. Virusinfekte) ausgelöst. Die Zerstörung der Erythrozyten kann extraoder intravaskulär erfolgen. Folgende Erythrozytenantikörper können die Ursache sein: ■ IgG-Antikörper. Aufgrund ihrer Molekülgröße können IgG-Antikörper den Abstand zwischen zwei Erythrozyten nicht überbrücken und werden daher inkomplette Antikörper genannt. Die Antikörper binden bei Körpertemperatur an die Antigene der Erythrozytenoberfläche. Die antikörperbeladenen Erythrozyten werden durch Phagozytose in Milz und Leber zerstört

(extravaskuläre Hämolyse). Der direkte Coombs-Test ist positiv. Zu dieser Gruppe gehören die Wärmeantikörper und die Rhesus-Isoagglutinine. □ Wärmeantikörper: Sie können idiopathisch (45%) oder sekundär bei Non-Hodgkin-Lymphomen, Kollagenosen, bestimmten Medikamenten oder Virusinfekten auftreten. Das Reaktionsoptimum liegt zwischen 20 und 40°C. □ Rhesus(Rh-)Isoagglutinine: Eine Rh-negative Frau wird durch eine frühere Schwangerschaft oder einen Abort eines Rh-positiven Kindes sensibilisiert und produziert IgG-Antikörper gegen Rh-positive Erythrozyten. Bei einer erneuten Schwangerschaft mit einem Rh-positiven Fetus wird durch den erneuten Antigenkontakt eine hämolytische Anämie des Fetus ausgelöst. In schweren Fällen kommt es zum intrauterinen Fruchttod mit Hydrops fetalis und Kernikterus. ■ IgM-Antikörper. Sie können aufgrund ihrer Molekülgröße den Abstand zwischen zwei Erythrozyten überbrücken und werden daher komplette Antikörper genannt. Es kommt zur Aktivierung der Komplementkaskade mit intravasaler Hämolyse. Der indirekte Coombs-Test ist positiv. Zu dieser Gruppe gehören die Kälteantikörper und AB0-Isoagglutinine. □ Kälteantikörper. Absinken der intravasalen Temperatur unter Körpertemperatur (maximale Bindung der Antikörper an Erythrozyten bei 0– 5°C) führt zur Agglutination und zu hämolytischen Krisen mit Akrozyanose. Idiopathisch (selten): Kälteagglutininkrankheit. Sekundär: − Kälteagglutininsyndrom: akut nach Mykoplasmenpneumonie oder Mononukleose, chronisch bei Non-Hodgkin-Lymphomen mit monoklonaler IgM-Vermehrung; −

paroxysmale Kältehämoglobinurie (IgG-vermittelt!);



postinfektiös nach viralen Infekten oder Syphilis.

□ AB0-(Blutgruppen-)Isoagglutinine. Schwere hämolytische Anämie resultiert aus einer AB0-Fehltransfusion, wobei die Anti-A- oder Anti-BAntikörper des Empfängers mit den inkompatiblen transfundierten Erythrozyten reagieren.

Abb. 21-10

Hämolytische Anämie.

Knochenmark. Vergrößerte Erythrone mit vermehrt makrozytären Reifungsformen. AS-D-Chloracetatesterase. Vergr. 600fach.

Mechanisch bedingte Anämien Diese werden durch eine traumatische Schädigung der Erythrozyten hervorgerufen und kommen z.B. bei Herzklappenprothesen oder Extremsport (Marschhämoglobinurie) vor. Auch durch Gefäßveränderungen bei Vaskulitiden unterschiedlicher Genese können die Erythrozyten mechanisch zerstört werden.

Anämien durch Blutverlust: Blutungsanämie Chronischer Blutverlust führt zu einer Eisenmangelanämie (siehe oben). Die klinische Manifestation eines akuten Blutverlustes hängt von der Menge und der Geschwindigkeit des Blutverlustes ab. Ein Blutverlust von mehr als 40% des Blutvolumens führt zum hypovolämischen Schock. Bei weniger schweren Blutverlusten kommt es zuerst über eine Blutverdünnung durch Auffüllen mit Gewebsflüssigkeit zum Absinken des Hämatokriten. Je ausgeprägter die Blutung, desto eher findet sich im Knochenmark eine Hyperplasie, die alle drei hämatopoetischen Reihen betrifft. Im peripheren Blut lassen sich vermehrt Retikulozyten nachweisen.

21.2.2

Polyglobulie

Definition

Bei der Polyglobulie (Erythrozytose) handelt es sich um eine sekundäre, reaktive Steigerung der Erythrozytopoese.

Ätiologie und Pathogenese Ursächlich ist eine kompensatorische oder eine inadäquate Erythropoetinvermehrung. Die häufigste Ursache einer kompensatorischen Erythropoetinvermehrung ist eine Hypoxie infolge einer chronisch-obstruktiven Erkrankung der Atemwege. Weitere Ursachen sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen, insbesondere wenn sie mit einer Zyanose einhergehen, Aufenthalt in großer Höhe, starkes Zigarettenrauchen, Doping bei Sportlern und Methämoglobinämie. Zu einer inadäquaten Erythropoetinzunahme kann es infolge von Nierenerkrankungen (z.B. Nierentumoren), Uterusleiomyomen, endokrinen Störungen, Leberzellkarzinomen oder zerebellären Hämangioblastomen kommen. Die durch diese Erkrankungen bedingte absolute Erythrozytose ist von einer relativen Erythrozytose bei Dehydrierung abzugrenzen.

Morphologie Es findet sich ein durch gesteigerte Erythrozytopoese hyperzelluläres Knochenmark. Granulozytopoese und Thrombozytopoese sind unverändert.

Klinisch-pathologische Korrelationen Klinisch können die Patienten eine Zyanose der Haut und der Schleimhäute aufweisen. Der Hämatokritwert ist erhöht. Infolge einer erhöhten Blutviskosität ist die Thromboseneigung erhöht.

21.3 Nichtneoplastische Störungen der Granulozytopoese, Monozytopoese und Lymphozytopoese Man unterscheidet angeborene und erworbene Störungen, die mit morphologischen, funktionellen, qualitativen und/oder quantitativen Veränderungen (Leukozytopenie, Monozytopenie, Lymphozytopenie, Leukozytose, Monozytose, Lymphozytose) einhergehen.

21.3.1 Morphologische Störungen der Granulozytopoese ■ Angeborene Erkrankungen der Granulozytopoese sind mit einer erhöhten Infektanfälligkeit verbunden. Hierzu zählen u.a.: □ Leukozytenadhäsionsdefekt. Es handelt sich um eine autosomal vererbte Störung der Granulozyten, die zu einer Störung der Chemotaxis, der Adhärenz und

der Phagozytosefunktion führt. Es finden sich bizarre Riesengranula in neutrophilen und eosinophilen Granulozyten sowie in Lymphozyten und Monozyten. □ Pelger-Huet-Anomalie. Es besteht eine autosomal-dominant vererbte Störung der Granulozytenfunktion mit erhöhter Infektanfälligkeit, bei der sich neutrophile Granulozyten mit nur zwei Kernsegmenten (Pelger-Zellen) im peripheren Blut finden (Abb. 21-11). Als erworbene morphologische Anomalien der Granulozyten gelten:

■ □

Hypersegmentierung bei megaloblastären Anämien



toxische Granulationen bei Infektionen

□ Pelger-Zellen bei Patienten mit akuter myeloischer Leukämie oder Myelodysplasie.

21.3.2

Quantitative Störungen der Granulozytopoese

Vermehrung von Zellen der Granulozytenreihe ■

Neutrophile Leukozytose. Ursachen: □ bakterielle Infekte

Abb. 21-11

Pelger-Anomalie.

Blutausstrich. Neutrophile Granulozyten mit zwei Kernsegmenten. MayGrünwald-Giemsa, Vergr. 600fach.

□ Entzündungen und Gewebenekrosen, z.B. Myositis, Myokardinfarkt □ Stoffwechselstörungen, z.B. Gicht, Urämie □ reaktiv bei Neoplasien, z.B. Karzinomen, Lymphomen, myeloproliferativen Erkrankungen □ akute Blutungen, akute Hämolyse □ Medikamente: Kortikosteroide, Lithium, myeloische Wachstumsfaktoren. ■ Leukämoide Reaktion. Es handelt sich um eine überschießende reaktive Leukozytose, die typischerweise mit dem Auftreten unreifer myeloischer Zellen im peripheren Blut einhergeht. Diese Reaktion kann bei schweren Infektionen, Hämolyse und besonders bei metastasierenden epithelialen Malignomen auftreten. Das Knochenmark zeigt meist eine geringere Zellularität als bei einer chronischen myeloischen Leukämie. Weitere Unterschiede sind toxische Granula in den Granulozyten, eine erhöhte alkalische Leukozytenphosphatase sowie das Fehlen des Philadelphia-Chromosoms. ■

Eosinophile Leukozytose. Ursachen: □ allergische Erkrankungen □ parasitäre Erkrankungen □ lymphozytär-eosinophile Heilungsphase nach bakteriellen Infekten □ chronische Hautkrankheiten, z.B. Psoriasis □ reaktiv bei Neoplasien, z.B. Morbus Hodgkin, Karzinome □ pulmonale Eosinophilie, hypereosinophile Syndrome (persistierende Eosinophilie ohne erkennbare Ursache mit Organschädigung).

■ Basophile Leukozytose. Tritt selten reaktiv auf bei Myxödem, Pocken- und Windpockeninfektionen, chronischer Polyarthritis und Colitis ulcerosa.

Verminderung von Zellen der Granulozytenreihe: Neutropenie Ursachen: ■ angeboren: Kostmann-Syndrom (autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung, die bereits im ersten Lebensjahr durch lebensbedrohliche Infektionen auffällt)

■ erworben: medikamentös induziert, Autoimmunneutropenie, bei systemischem Lupus erythematodes, bei Felty-Syndrom, bei Virusinfekten, z.B. Hepatitis, Influenza, HIV-Infektion; selten bei bakteriellen Infekten, z.B. Typhus, Miliartuberkulose.

21.3.3

Quantitative Störungen der Monozytopoese

Vermehrung der Monozyten: Monozytose Ursachen: ■

chronische bakterielle Infektionen



Protozoeninfektionen



chronische Neutropenie



Morbus Hodgkin



Myelodysplasie



Behandlung mit Wachstumsfaktoren.

Verminderung der Monozyten: Monozytopenie Ursachen: ■

schwere Verbrennungen



Kortisontherapie



Begleitsymptom bei aplastischer Anämie und Haarzellenleukämie.

21.3.4

Quantitative Störungen der Lymphozytopoese

Vermehrung der Lymphozyten: Lymphozytose Ursachen sind Infektionen (besonders Virusinfektionen, seltener bakterielle Infektionen): ■ akut: infektiöse Mononukleose, Röteln, Keuchhusten, Mumps, Hepatitis, CMV, HIV-, Herpes-simplex- oder Herpes-zoster-Infektion ■

chronisch: Tuberkulose, Toxoplasmose, Brucellose, Lues, Thyreotoxikose.

Verminderung der Lymphozyten: Lymphozytopenie Es handelt sich meist um eine Begleitreaktion bei aplastischer Anämie, Morbus Hodgkin, Tuberkulose, Sarkoidose, chronischer Niereninsuffizienz, Kortisontherapie oder HIV-Infektion.

21.4 Nichtneoplastische Störungen der Thrombozytopoese Bei den nichtneoplastischen Störungen der Thrombozyten unterscheidet man: ■ kongenitale funktionelle Defekte der Thrombozyten ■ Thrombozytosen ■ Thrombozytopenien.

21.4.1 Kongenitale funktionelle Defekte der Thrombozyten ■ Thrombasthenie (Morbus Glanzmann). Ursache ist ein Mangel der Membranglykoproteine IIb und IIIa mit Versagen der Thrombozytenaggregation. Die Folge sind Blutungen. ■ Bernard-Soulier-Syndrom. Ursache ist ein Mangel an Glykoprotein Ib; die Thrombozyten sind größer als normal, die Thrombozytenaggregation ist gestört. Bei Homozygotie kommt es zu hämorrhagischer Diathese.

21.4.2 Quantitative Störungen der Thrombozytopoese Thrombozytosen Als Thrombozytose bezeichnet man die Vermehrung der Plättchenzahl im peripheren Blut. Nach gesteigertem Thrombozytenverbrauch, v.a. nach Blutungen oder postoperativ, kommt es zu einer kompensatorischen Aktivierung der Megakaryozytopoese. Chronisch-entzündliche Erkrankungen oder bakterielle Infektionen können mit einer Thrombozytose einhergehen. Nach Splenektomie ist eine temporäre Thrombozytose obligat.

Thrombozytopenien Als Thrombozytopenie bezeichnet man die Verminderung der Plättchenzahl im peripheren Blut. Dies kann durch verminderte Produktion oder gesteigerten Verbrauch von Thrombozyten verursacht sein.

Thrombozytopenien durch verminderte Thrombozytenproduktion Eine Thrombozytopenie kann verursacht werden durch: ■ selektive Megakaryozytendepression durch Medikamente, Chemikalien oder Virusinfekte ■ generalisiertes Knochenmarkversagen, z.B. bei Zytostatika- oder Bestrahlungstherapie, aplastischer Anämie, neoplastischer Knochenmarkinfiltration oder HIV-Infektion.

Thrombozytopenien durch gesteigerten Thrombozytenverbrauch ■ Autoimmunthrombozytopenie. □ Akut meist infolge einer Virusinfektion. □ Chronisch: Morbus Werlhof (Syn.: ITP/chronische idiopathische thrombozytopenische Purpura). Betrifft meist Frauen zwischen dem 15. und 50. Lebensjahr. Die Erkrankung kann isoliert oder seltener im Rahmen anderer Erkrankungen, z.B. bei systemischem Lupus erythematodes, HIV-Infektion, Malaria oder malignen Lymphomen, auftreten. Zugrunde liegt eine Antikörperbildung gegen Thrombozytenglykoproteine. Dadurch werden die Thrombozyten vorzeitig abgebaut. Im Blutausstrich findet sich eine verminderte Thrombozytenzahl. Die Thrombozyten sind vergrößert. Das Knochenmark kann eine normale oder erhöhte Megakaryozytenzahl zeigen. Klinisch fällt eine hämorrhagische Diathese auf. Eine Splenektomie wird bei Patienten empfohlen, deren Thrombozytenwerte unter Steroidtherapie nach 3 Monaten nur ungenügend ansteigen. ■ Medikamentös induziert (z.B. Heparin). ■ Disseminierte intravasale Gerinnung (DIC). ■ Thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP) und hämolytischurämisches Syndrom (HUS). Die Pathogenese ist noch weitgehend ungeklärt. Es

werden immunvermittelte Schädigungen der Arteriolenwände mit gesteigerter Aggregation der Thrombozyten vermutet. Die Erkrankung setzt akut ein und ist durch eine thrombozytopenische Purpura, neurologische Ausfälle infolge von Blutungen und fokalen Nekrosen im Gehirn, Hämolyse mit Fragmentozyten, Fieber und Nierenfunktionsstörungen charakterisiert. In fast allen Organen entwickeln sich Thrombozytenaggregate in der Mikrozirkulation und führen zu schweren ischämischen Organschädigungen. Niereninsuffizienz sowie durch hämorrhagische Diathese ausgelöste multiple zerebrale Blutungen führen häufig zum Tode der Patienten. Das HUS gleicht weitgehend der TTP, die mikroangiopathischen Veränderungen sind jedoch auf die Glomeruluskapillaren und Nierenarteriolen beschränkt. Anamnestisch geht häufig ein bakterieller oder viraler Infekt voraus. Meist tritt die Erkrankung bei Kindern auf, findet sich jedoch auch bei Erwachsenen besonders während der Schwangerschaft, nach Entbindungen, bei oraler Kontrazeption, nach Nierentransplantation oder bei einer Infektion mit enterohämorrhagischen Bakterien (E. coli O 157). ■ Gesteigerter Thrombozytenabbau bei Splenomegalie. ■ Thrombozytopenie nach Massentransfusion von gelagertem Blut.

21.5 Infektionen und reaktive Veränderungen in Blut und Knochenmark 21.5.1

Infektionskrankheiten

Die Veränderungen im Knochenmark und im peripheren Blut bei Infektionskrankheiten sind sehr unterschiedlich und hängen ab von: ■

Verlauf: chronisch oder akut



Ursache: Bakterien, Viren, Pilze, Rickettsien



Alter des Patienten



zusätzlichen Erkrankungen.

Veränderungen im peripheren Blut Bakterielle Infektionen verursachen im peripheren Blut häufig eine Granulozytose mit Vermehrung der neutrophilen Granulozyten mit Linksverschiebung und Vermehrung von Stabkernigen. Zusätzlich weisen die Granulozyten eine toxische (verstärkte) Granulation auf. Einzelne bakterielle Infektionen (z.B. Typhus, Paratyphus, Miliartuberkulose, Diphtherie) gehen aber eher mit einer Leukopenie

einher. Die Lymphozytenanzahl ist im Allgemeinen erniedrigt. Kinder können allerdings auf bakterielle Infekte auch mit einer Lymphozytose statt mit einer Leukozytose reagieren. Bei bakteriellen Erkrankungen zeigen die Erythrozyten ausgeprägte Größenunterschiede (Anisozytose) und Formenvielfalt (Poikilozytose). Bei anhaltender Infektion kommt es zu einer Infektanämie. Manche bakterielle Infektionen können durch eine hämolytische Anämie kompliziert werden. Virale Infekte induzieren gewöhnlich eine Lymphozytose, wobei die Lymphozyten z.T. erhebliche Atypien aufweisen können. Die durch das Epstein-Barr-Virus ausgelöste infektiöse Mononukleose zeigt z.B. zahlreiche atypische blastär transformierte lymphatische Zellen. Ähnliche Veränderungen können z.B. auch bei einer Zytomegalievirus infektion oder im Frühstadium einer HIV-Infektion gesehen werden. Virale Infektionen können zudem mit einem Hämophagozytosesyndrom einhergehen und induzieren dann eine Panzytopenie. Hämolytische Anämien oder autoimmune Thrombozytopenien können durch Virusinfektionen verursacht werden. Sehr selten induzieren schwere Infektionskrankheiten eine leukämoide Reaktion mit hoher Leukozytenzahl.

Veränderungen im Knochenmark Bei immunkompetenten Patienten führen Infektionskrankheiten gewöhnlich zu einer erhöhten Zellularität des Knochenmarks. Bei bakteriellen Infektionen finden sich eine Hyperplasie und Linksverschiebung der Granulozytopoese. Möglich ist auch eine geringe Reduktion der Erythrozytopoese mit verzögerter Ausreifung und reduziertem Hämosideringehalt der Erythroblasten. Die Megakaryozytopoese kann gesteigert sein. Die Anzahl der Makrophagen ist meist erhöht, ein Hämophagozytosesyndrom ist möglich. Virale Infektionen bewirken im Knochenmark eine Lymphozytose. Besonders bei Herpesvirusinfektionen kann ein Hämophagozytosesyndrom im Vordergrund stehen. Falls eine hämolytische Anämie besteht, ist die Erythrozytopoese hyperplastisch, ebenso kann die Megakaryozytopoese gesteigert sein. Bei allen infektiösen und reaktiven Prozessen können eine Plasmozytose und/oder Lymphozytenaggregate im Knochenmark auftreten. Differentialdiagnostisch müssen beim Nachweis von Granulomen im Knochenmark nichtinfektiöse, infektiöse und neoplastische Erkrankungen in Erwägung gezogen werden: ■ infektiös: Tuberkulose, atypische Mykobakterien, Brucellose, Lues, Typhus, Leishmanien, Toxoplasmose, Kryptokokken, Histoplasmose, Rikettsien

■ nichtinfektiös: Sarkoidose; Begleitreaktion bei malignen Erkrankungen wie z.B. bei Morbus Hodgkin, Non-Hodgkin-Lymphomen, Plasmozytom, myelodysplastischem Syndrom ■ reaktivtoxisch: Medikamente: z.B. Phenytoin, Ibuprofen, Indomethacin, Allopurinol; Fremdsubstanzen.

HIV-assoziierte Veränderungen des peripheren Blutes und des Knochenmarks Im peripheren Blut manifestiert sich eine HIV-Infektion im Frühstadium mit dem Auftreten von atypischen Lymphozyten, häufig in Zusammenhang mit Fieber und einem klinischen Erscheinungsbild wie bei infektiöser Mononukleose. Gelegentlich kann auch eine vorübergehende Panzytopenie auftreten. Patienten mit fortgeschrittener Infektion haben häufig eine Lymphozytose oder eine isolierte Thrombozytopenie. Im Spätstadium der Erkrankung findet sich eine Panzytopenie, die auch eine Lymphopenie mit einschließt. Das klinische Bild wird durch zusätzlich bestehende Infektionskrankheiten und die medikamentöse Therapie beeinflusst. Durch eine HIV-Infektion werden zahlreiche unspezifische reaktive Knochenmarkveränderungen provoziert. Der Zellgehalt variiert. Alle drei hämatopoetischen Reihen zeigen mehr oder weniger stark ausgeprägte dysplastische Veränderungen sowie topographische Störungen. In 50–60% der Knochenmarkbiopsien besteht eine Plasmozytose, in einem Drittel finden sich reaktive Lymphozytenaggregate. In der Mehrzahl der Fälle ist eine deutliche Markraumfibrose nachzuweisen. Zusätzlich kann ein Stromaödem bestehen. Sorgfältig muss die Beckenkammbiopsie nach opportunistischen Infektionen abgesucht werden. Häufige Infektionen sind Tuberkulose, atypische mykobakterielle Infektionen, Pilzinfektionen und parasitäre Erkrankungen, wie z.B. Leishmaniose (Abb. 21-12) oder Toxoplasmose. Etwa 15% der Biopsien enthalten Granulome, meist aufgrund einer Infektion mit atypischen Mykobakterien. Bei Bestehen eines mit der HIV-Infektion assoziierten malignen Non-Hodgkin- oder Hodgkin-Lymphoms ist das Knochenmark häufig befallen.

Abb. 21-12

Leishmaniose.

Zahlreiche in Histiozyten gelagerte Erreger (Pfeile). Giemsa, Vergr. 400fach.

21.5.2

Reaktive Knochenmarkveränderungen

Knochenmarknekrose Die Knochenmarknekrose betrifft gewöhnlich die Stromazellen und die hämatopoetischen Zellen und kann auch mit einer Nekrose der knöchernen Strukturen einhergehen. Sie tritt im Rahmen von verschiedenen neoplastischen (z.B. bei akuter myeloischer oder lymphatischer Leukämie, metastasierenden Karzinomen) und nichtneoplastischen (z.B. Sichelzellenanämie, diverse Infektionskrankheiten) Erkrankungen auf. Als Ursachen werden eine Ischämie oder die Bildung von Tumornekrosefaktor durch neoplastische Zellen diskutiert.

Gallertatrophie Sie ist durch Verlust von Fettzellen und hämatopoetischen Zellen gekennzeichnet und zeigt eine inhomogene Verteilung. Histologisch findet sich ein zellarmes homogenes Stroma. Zugrunde liegen z.B. konsumierende Erkrankungen, Infektionen, Anorexia nervosa oder ionisierende Strahlen.

Knochenmarkfibrose Syn.: Myelofibrose Bei der Knochenmarkfibrose ist der Gehalt an Retikulinund/oder Kollagenfasern im Knochenmark erhöht. Sie kann fokal oder generalisiert auftreten und ist gehäuft im Rahmen von myeloproliferativen Erkrankungen zu beobachten. Andere Ursachen sind systemische Mastozytosen, myelodysplastische Syndrome, Lymphome oder Knochenerkrankungen bzw. Metastasen maligner epthelialer oder mesenchymaler Tumoren (siehe Kap. 21.9).

21.6

Myelodysplastische Syndrome (MDS)

Definition Unter dem Begriff der myelodysplastischen Syndrome wird eine heterogene Gruppe erworbener hämatologischer Erkrankungen zusammengefasst, die miteiner fortschreitenden Knochenmarkdysfunktion bzw. -insuffizienz und daraus resultierender peripherer Panzytopenie einhergehen. Das Knochenmark ist meist hyperplastisch. Charakteristisch ist ein fortschreitendes Versagen der Knochenmarkfunktion, das meist alle drei hämatopoetischen Zelllinien betrifft.

Ta Tab. 21-1 FAB(French-American-British)-Klassifikation der myelodysplastischen Syndrome.

Die seit 2001 gebräuchliche WHO-Klassifikation myelodysplastischer Syndrome berücksichtigt morphologische Veränderungen, den Blastenanteil, unklassifizierbare myelodysplastische Syndrome und gibt dem isolierten 5q−-Syndrom einen besonderen Stellenwert. Die refraktäre Anämie mit Blastenexzess (RAEB) wird in der WHOKlassifikation nach dem Blastenanteil in eine RAEB-1 und eine RAEB-2 eingeteilt. Dies hat therapeutische Konsequenzen. Die Untergruppe der RAEB-T entfällt, ferner wird die chronische myelomonozytäre Leukämie nicht mehr dem MDS zugerechnet (Tab. 21-3).

Epidemiologie Prinzipiell kann die Erkrankung in jedem Alter auftreten, vorwiegend sind jedoch ältere Patienten betroffen. Etwa die Hälfte der Patienten ist über 70 Jahre alt, weniger als 25% sind jünger als 50 Jahre.

Ätiologie Meistens entsteht die Erkrankung de novo durch eine klonale Proliferation einer genetisch aberranten Vorläuferzelle. Ein Teil der myelodysplastischen Syndrome tritt sekundär nach Strahlen- und/oder Chemotherapie oder nach Kontakt mit anderen auf die Hämatopoese toxisch wirkenden Substanzen auf. Zytogenetische Anomalien sind sowohl bei Denovo- als auch bei sekundären Formen des MDS häufig nachweisbar.

Tab. 21-3 WHO-Klassifikation myelodysplastischer Syndrome (MDS).

Morphologie Die morphologischen Veränderungen können eine oder zwei, meistens jedoch alle drei Zellreihen betreffen. Infolge einer Stammzellstörung zeigen sich sowohl quantitative als auch qualitative Anomalien. Das Knochenmark ist im Allgemeinen hyperplastisch (Abb. 21-13). In allen drei Zellreihen können Reifungsstörungen mit Kernanomalien nachgewiesen werden. Charakteristisch ist zusätzlich eine Verteilungsstörung. Bei einem geringeren Prozentsatz (ca. 10%) kommt es zu einer ausgeprägten Markraumfibrose. Im peripheren Blut (Abb. 21-14a und b) finden sich makrozytäre oder dysmorphe, gelegentlich hypochrome Erythrozyten. Die Retikulozytenzahl ist niedrig. Die Anzahl der Granulozyten ist häufig vermindert und es zeigen sich Granulozyten mit mangelhafter Granulation. Vermehrt kann eine Pelger-Anomalie (einzelne oder zweigeteilte Kerne; Abb. 21-14) nachgewiesen werden. Die Thrombozyten können ungewöhnlich groß oder klein sein. Ferner können Megakaryozytenfragmente nachgewiesen werden. Bei der chronischen myelomonozytären Leukämie besteht eine ausgeprägte Monozytose (>1000/μl). Je nach Stadium der Erkrankung können Myeloblasten in unterschiedlicher Anzahl im Blut vorkommen.

Abb. 21-13 Myelodysplastisches Syndrom RAEB: refraktäre Anämie mit Blastenvermehrung.

Deutliche Kernatypien in der Erythrozytopoese (Pfeile), mangelnde Ausreifung mit Blastenvermehrung in der Granulozytopoese (Doppelpfeile). Pappenheim, Vergr. 600fach.

Abb. 21-14

Myelodysplastisches Syndrom.

a Refraktäre Anämie. Knochenmarkausstrich. Hyperplasie der Erythropoese mit Ausbildung von Megaloblasten (Bildmitte). May-Grünwald-Giemsa, Vergr. 1000fach.

b Refraktäre Anämie mit Ringsideroblasten. Knochenmarkausstrich. Makroblasten und Normoblasten mit ringförmig um den Zellkern gruppierten Eisengranula. Berliner Blau, Vergr. 1000fach.

Molekularpathologie Molekularpathologisch wurden zahlreiche chromosomale Anomalien beschrieben, z.B. Trisomie 8, Monosomie 7, Monosomie 5, del(7q), del(5q), del(20q) sowie komplexe Karyotypen. Besonders wichtig sind: ■ 5q−-Syndrom: Verlust der Banden q13-q33 von Chromosom 5; meist bei älteren Frauen. Im Vergleich zu anderen Myelodysplasieformen besteht hier eine relativ gute Prognose mit langer Überlebenszeit. ■ Juveniles Monosomie-7-Syndrom: seltenes myelodysplastisches Syndrom im Kindesalter.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die meisten Patienten sind anämisch. Infektionen und Blutungen sind häufig (gestörte Granulo- und Thrombozytenfunktion!). Bei chronischer myelomonozytärer Leukämie ist eine Hepatosplenomegalie häufig. 20–40% der Patienten entwickeln eine akute myeloische Leukämie, der Zeitpunkt der Transformation ist nicht vorauszusagen. Häufig tritt der Tod aufgrund von Komplikationen durch die Zytopenie (Blutungen, Infekte) ein. Die Diagnose eines myelodysplastischen Syndroms sollte nur nach eingehender Untersuchung aller hämatologischen und klinischen Parameter gestellt werden. Diverse benigne und/oder reaktive hämatologische Störungen können einem MDS ähnliche morphologische Veränderungen in der Hämatozytopoese hervorrufen.

21.7 Neoplastische Knochenmarkerkrankungen (myeloproliferative Erkrankungen) Neoplastische Proliferationen von Knochenmarkszellen bezeichnet man als myeloproliferative Erkrankungen. Ihre Erscheinungsformen sind so variabel und vielfältig wie die physiologischen Zellen der Hämatozytopoese mit vielfachen klinischen, laborchemischen und morphologischen Überlappungen zwischen einzelnen Erkrankungstypen. Sie stellen eine Störung der hämatopoetischen Stammzellen und deren Entwicklung dar. In den meisten Fällen werden atypische Zellen in großer Zahl in das periphere Blut ausgeschleust (= Leukämie). Ihre Ätiologie ist weitgehend unbekannt, zumindest mitverantwortlich für die Entstehung sind ionisierende Strahlen, chemische Substanzen und onkogene Viren.

Entsprechend ihrem Verlauf und der Morphologie werden die myeloproliferativen Erkrankungen in chronische und akute Formen eingeteilt.

21.7.1

Chronische myeloproliferative Erkrankungen

Chronische myeloproliferative Erkrankungen sind monoklonale Erkrankungen der myeloischen Stammzelle, die mit der Proliferation einer oder mehrerer hämatopoetischer Zellreihen einhergehen. Im Krankheitsverlauf kann es zur Transformation in eine akute Leukämie kommen, vor allem bei der chronischen myeloischen Leukämie. In der chronischen Phase der Erkrankung bleibt die Ausreifung der Hämatopoese erhalten. Da es sowohl im klinischen Erscheinungsbild als auch laborchemisch und in der Morphologie Überlappungen gibt und bis auf das bcr-abl-Fusionsgen für die anderen chronischen myeloproliferativen Erkrankungen bisher keine spezifischen chomosomalen Veränderungen nachgewiesen werden konnten, ist für ihre Klassifikation die enge Zusammenarbeit zwischen Pathologie und Klinik notwendig. So können unter Berücksichtigung aller Parameter (Klinik, Labor, Morphologie) die meisten dieser Erkrankungen genau klassifiziert werden. Wenn alle Parameter keine eindeutige Klassifikation zulassen, fällt die Erkrankung unter die Gruppe der unklassifizierbaren chronischen myeloproliferativen Erkrankungen; eventuell ist eine Klassifikation dann im weiteren Krankheitsverlauf möglich. Als wichtigste chronische myeloproliferative Erkrankungen werden hier die chronische myeloische Leukämie, die Polycythaemia vera, die essentielle Thrombozythämie und die Osteomyelofibrose (Syn. chronische idiopathische Myelofibrose) ausführlich besprochen (siehe Tab. 21-4).

Tab. 21-4 WHO-Klassifikation der chronischen myeloproliferativen Erkrankungen. ■

chronische granulozytäre Leukämie



chronische Neutrophilenleukämie

■ chronische Eosinophilenleukämie (und das Hypereosinophiliesyndrom) ■

Polycythaemia vera

■ chronische idiopathische Myelofibrose (mit extramedullärer Hämatopoese) ■

essentielle Thrombozythämie



chronisches myeloproliferatives Syndrom, unklassifizierbar

Chronische myeloische Leukämie (CML) Definition und Epidemiologie Die CML ist eine monoklonale Stammzellenerkrankung, die vorwiegend im mittleren Lebensalter auftritt. Ihre Inzidenz beträgt ca. 1/100000/Jahr. Zytogenetisch findet sich bei über 95% der Patienten das so genannte Philadelphia-Chromosom, das charakteristische bcr-abl-Fusionsgen. Diese reziproke Translokation zwischen den langen Armen der Chromosomen 9 und 22 ist durch den Einbau des c-ablOnkogens von Chromosom 9 in die bcr-Region des Chromosoms 22 charakterisiert (Abb. 21-15). Hierdurch wird die Synthese spezifischer Phosphoproteine bewirkt, die ihrerseits Onkoproteinrezeptoren und Wachstumsfaktoren aktivieren und damit zur neoplastischen Proliferation führen. Diese erworbene Anomalie der hämatopoetischen Stammzelle ist in granulozytären, erythrozytären, megakaryozytären Zellen des Knochenmarks sowie in B-Lymphozyten (fraglich in T-Lymphozyten) nachweisbar.

Abb. 21-15 Chronische myeloische Leukämie (CML).

Schematische Darstellung der reziproken Translokation t(9;22) mit Bildung des bcr-abl-Hybrid-Gens.

Abb. 21-16 Chronische myeloische Leukämie.

Blutausstrich. Myelopoetische Zellen aller Reifungsstadien. Ein Myeloblast (Pfeil). May-Grünwald-Giemsa, Vergr. 1000fach.

Morphologie Im peripheren Blut zeigen sich Linksverschiebung bis zu Myeloblasten sowie Basophilie (Abb. 21-16). In der Knochenmarkshistologie findet man ein hyperzelluläres Mark mit hochgradiger Reduktion des Fettmarks (Abb. 21-17). Die Granulozytopoese ist erheblich gesteigert mit leichter Linksverschiebung. Die paratrabekulären und perivaskulären granulopoetischen Reifungszonen sind verbreitert. Die Ausreifung zu Granulozyten ist erhalten. Der Gehalt an Megakaryozyten ist variabel, meist gesteigert. Vermehrt kommen kleine hypolobulierte Megakaryozyten (Mikromegakaryozyten) vor. Häufig lassen sich meerblaue Histiozyten und Pseudo-Gaucher-Zellen nachweisen. Bis zu 40% der Patienten zeigen in diesem Stadium bereits eine Verdichtung des Retikulinfasernetzes. Der Blastenanteil in der chronischen Phase (dauert etwa 3–4 Jahre) beträgt unter 5% der kernhaltigen Zellen. Im Stadium der Akzeleration zeigen sich eine verstärkte Linksverschiebung, Basophilie und Eosinophilie der Granulozytopoese mit erhöhtem Blastenanteil, der sowohl im peripheren Blut als auch im Knochenmark definitionsgemäß 10–19% nicht überschreitet (Abb. 21-18). Andere Diagnosekriterien für eine Akzeleration sind:

■ Basophilie im peripheren Blut (≥ 20%) ■ persistierende Thrombozytopenie (< 100×109/l) oder persistierende Thrombozytose (> 1000×109/l) ■ zunehmende Milzgröße ■ im peripheren Blut eine zunehmende Leukozytose trotz adäquater Therapie. Verdächtig auf eine Akzeleration ist morphologisch auch eine gesteigerte Mikromegakaryozytopoese, die mit einer Zunahme an Retikulinfasern und daraus resultierender Markraumfibrose einhergehen kann. Dies bedingt häufig eine Punctio sicca bei der Knochenmarkaspiration.

Abb. 21-18 Akzeleration.

Chronische myeloische Leukämie in

Hyperzelluläres Knochenmark mit zunehmender Verbreiterung der granulopoetischen Reifungszonen und erhöhtem Blastenanteil (Pfeile). Giemsa, Vergr. 200fach. Der Blastenschub ist durch eine Zunahme der Blasten = 20% im peripheren Blut oder im Knochenmark definiert und entspricht dem Übergang in eine sekundäre akute Leukämie. Sie weist meist eine myeloische Differenzierung auf, kann in ca. ⅓ der Fälle aber auch lymphatisch differenziert sein. Bei einem Teil der Fälle zeigen sich schon während der chronischen Phase extramedulläre Infiltrate in der Leber (intrasinusoidal), in der Milz (perivaskulär) und in Lymphknoten (subkapsulär).

Abb. 21-17 Chronische myeloische Leukämie in chronischer Phase.

Hyperzelluläres Knochenmark mit erheblich gesteigerter, ausreifender Granulozytopoese ohne Blastenvermehrung. Atypische Mikromegakaryozyten (Pfeile). Giemsa, Vergr. 100fach.

Abb. 21-19 Chronische myeloische Leukämie.

Bauchsitus. Ausgeprägte Hepatosplenomegalie, die Milz reicht bis in das Becken. L = Leber, M = Milz.

Klinisch-pathologische Korrelationen Der Beginn der Erkrankung ist schleichend. Klinisch bestehen in der chronischen Phase Allgemeinsymptome wie Abgeschlagenheit und Nachtschweiß, in fortgeschrittenerem Stadium zeigt sich eine erhebliche Splenomegalie (Abb. 2119). Später können Blutungen oder thrombotische Komplikationen bei gestörter Thrombozytenfunktion und Anämiesymptome hinzukommen. Die Diagnose stützt sich auf die klinische Symptomatik, das Blutbild (meist mehr als 100 000 Leukozyten/μl, Linksverschiebung, Basophilie, Anämie, Thrombozytose), den Nachweis des Philadelphia-Chromosoms, die Knochenmarkspunktion und den zytochemischen Nachweis einer verminderten Aktivität der alkalischen Leukozytenphosphatase. Die Therapie erfolgt in der chronischen Phase durch Zytostatika, die jedoch zu keiner Heilung, sondern nur zu einer Beschwerdefreiheit der Patienten führen. Diese Therapie verzögert den Beginn einer Transformation in eine akute Leukämie nicht. Durch α-Interferon kann es zu einer erheblichen Verminderung oder zum völligen temporären Verschwinden der Philadelphia-Chromosom-positiven Zellen kommen (zytogenetische Remission). Bei 50–70% der Patienten unter 35 Jahren ist eine Heilungschance mit Hilfe einer allogenen Knochenmarktransplantation in der chronischen Phase gegeben. Dies ist die einzige Behandlungsmethode, mit der eine Elimination des Philadelphia-Chromosom-positiven Zellklons erreicht werden kann. Durch das gute Ansprechen auf eine Chemotherapie beträgt die mittlere Überlebenszeit in der chronischen Phase 3–4 Jahre. Die 10-Jahres-Überlebensrate liegt bei 20%. Bei Knochenmarktransplantation in der akzelerierten Phase oder im Blastenschub ist nur noch bei ca. 20% der Patienten mit einem Langzeitüberleben zu rechnen. Ein neuer Therapieansatz ist die Gabe eines Tyrosinkinase-Inhibitors, der die Funktion des bcr-abl-Fusionsproteins hemmt. Spezifisch für eine CML ist die Überaktivierung der abl-Tyrosinkinase, wodurch eine Vielzahl intrazellulärer Wachstumssignale überaktiviert wird und es zu einem autonomen Wachstum und zu maligner Entartung bcr-abl-positiver Zellen kommt. Durch den genannten Tyrosinkinase-Inhibitor wird diese Überaktivierung gehemmt. Todesursachen sind zumeist eine sekundäre akute Leukämie, Blutungen oder Infektionen. Die seltenen Philadelphia-Chromosom-negativen chronischen myeloischen Leukämien haben im Vergleich zu Philadelphia-Chromosom-positiven Erkrankungen eine schlechtere Prognose.

Chronische Neutrophilenleukämie Definition Die chronische Neutrophilenleukämie (CNL) ist eine seltene myeloproliferative Erkrankung (weniger als 100 Patienten sind beschrieben), die durch eine Leukozytose (≥ 25×109/l), ein hyperplastisches Knochenmark und eine Hepatosplenomegalie sowie das Fehlen des Philadelphia-Chromosoms charakterisiert ist. Die Diagnose ist eine Ausschlussdiagnose, d.h., sie kann nur gestellt werden, wenn reaktive Leukozytosen und alle anderen chronischen myeloproliferativen Erkrankungen sowie ein myelodysplastisches Syndrom ausgeschlossen werden können. Ca. 90% der Patienten zeigen zytogenetisch keine Veränderungen.

Chronische Eosinophilenleukämie (CEL) und Hypereosinophiliesyndrom Definition Die CEL ist durch eine autonome klonale Proliferation von Vorläuferzellen der eosinophilen Reihe gekennzeichnet. Daraus resultiert eine Eosinophilie in Knochenmark, Blut (≥ 1,5×109/l) und peripheren Organen. Die von den Eosinophilen gebildeten Proteine können zu Allgemeinsymptomen (z.B. Fieber, Müdigkeit, Husten, Juckreiz, Diarrhö) und/oder Organschäden (z.B. Endomyokardfibrose, periphere Neuropathie, pulmonale Symptome) führen. Die Diagnose kann nur gestellt werden, wenn eine Klonalität der Eosinophilen nachgewiesen ist oder in peripherem Blut oder Knochenmark ein erhöhter Blastenanteil besteht. Gleichzeitig müssen alle anderen reaktiven und neoplastischen Erkankungen ausgeschlossen sein, die mit einer Eosinophilie einhergehen können. Wenn weder eine Klonalität der Eosinophilen noch ein erhöhter Blastenanteil nachgewiesen werden kann und eine persistierende, nicht erklärbare Eosinophilie (≥ 1,5×109/l) mit Organschäden besteht, liegt ein idiopathisches Hypereosinophiliesyndrom vor. Spezifische zytogenetische Veränderungen sind bisher nicht bekannt.

Polycythaemia vera (PV) Definition Die Polycythaemia vera ist eine chronische myeloproliferative Erkrankung, die auf eine klonale Neoplasie der hämatopoetischen Stammzelle zurückzuführen ist. Sie

betrifft die Erythro-, Granulo- und Megakaryozytopoese, wobei Erythrozytopoese und Megakaryozytopoese überwiegen.

Morphologie Im Knochenmark findet sich eine erhebliche Hyperzellularität mit Vermehrung aller drei hämatopoetischen Reihen mit Prominenz der Erythro- und Megakaryozytopoese. Die Verteilung der einzelnen Reihen im Knochenmark ist weitgehend erhalten. Eindeutige Atypien in den hämatopoetischen Reihen bestehen nicht. Die Erythrozytopoese kann gering linksverschoben sein. Megakaryozyten sind ebenfalls vermehrt und zumeist erheblich pleomorph. Speichereisen fehlt, die Sinus sind häufig dilatiert.

Molekularpathologie Spezifische genetische Defekte konnten bisher nicht identifiziert werden. Etwa 10– 20% der Patienten zeigen zytogenetische Abnormalitäten, am häufigsten +8, +9, del(20q), del(13q) und del(1p). Im Verlauf der Erkrankung nehmen chromosomale Veränderungen zu. Wenn die Erkrankung in eine sekundäre akute Leukämie übergeht, sind bei nahezu 100% der Betroffenen zytogenetische Veränderungen nachweisbar.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die klinischen Symptome resultieren aus der Hyperviskosität des Blutes und der Hypervolämie (Rötung des Gesichts und der Bindehaut, Thrombosen, Blutungen, Schwindel, Kopfschmerzen). Bei ca. 70% der Patienten findet sich eine Splenomegalie. Die Diagnose ergibt sich aus der klinischen Symptomatik, dem Blutbild und der Knochenmarkuntersuchung. Im peripheren Blutbild besteht eine starke Erhöhung der Erythrozytenzahl (7–12 Mio. μl), des gesamten Erythrozytenvolumens (Männer > 36 ml/kg; Frauen >32 ml/kg), der Hämoglobinkonzentration (> 18 g/dl) und des Hämatokriten (> 0,5–0,8). Zusätzlich finden sich zumeist eine Neutrophilie (>12 000/μl), Basophilie und Thrombozytose (>400 000/μl). Die Therapie besteht in erster Linie in regelmäßigen Aderlässen, z.T. ist auch eine myelosuppressive Behandlung notwendig. Die mittlere Überlebenszeit unter Therapie beträgt 10–16 Jahre. Todesursachen sind zumeist thrombembolische Komplikationen oder hämorrhagische Diathese. In ca. 30% der Fälle geht eine Polycythaemia vera in eine sekundäre Osteomyelofibrose über, ca. 5% der Patienten entwickeln eine akute Leukämie.

Essentielle Thrombozythämie (ET) Definition und Epidemiologie Es handelt sich um eine neoplastische klonale Stammzellproliferation mit unilinearer Proliferation der Megakaryozyten und exzessiver Thrombozytose. Die Erkrankung tritt bevorzugt nach dem 50. Lebensjahr auf.

Morphologie

Im peripheren Blut findet sich eine erhöhte Thrombozytenzahl bei ausgeprägter Anisozytose der Thrombozyten und Vermehrung von Riesenthrombozyten. Einige Patienten zeigen zusätzlich eine Neutrophilie. Im normozellulären, allenfalls leicht hyperzellulären Knochenmark finden sich vermehrt Megakaryozyten. Diese sind zumeist vergrößert mit pleomorphen Kernen und häufig in dichten Gruppen (Cluster) gelagert (Abb. 21-20). Die beiden anderen hämatopoetischen Reihen sind unauffällig.

Molekularpathologie Spezifische zytogenetische Veränderungen sind nicht bekannt. Nur ca. 5–10% der Patienten haben einen abnormen Karyotyp, z.B. del(13q22), +8, +9. Andere zytogenetische Auffälligkeiten, die auch mit einer Thrombozytose einhergehen – z.B. del(5q), t(3;3)(q21; q26.2) und inv(3)(q21q26.2) –, sind charakteristisch für ein myelodysplastisches Syndrom oder eine akute myeloische Leukämie, jedoch nicht für eine essentielle Thrombozythämie.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Klinisch fallen die Patienten durch thrombembolische Komplikationen, hämorrhagische Diathese und eine geringgradige Splenomegalie auf. Die Diagnostik beruht auf der klinischen Symptomatik, dem Blutbild (Thrombozytose >600 000/μl; eventuell leichte Anämie, durch Blutungen verursacht) und der Kochenmarkuntersuchung. Therapeutisch wird in schweren Fällen α-Interferon eingesetzt. Eine niedrig dosierte Acetylsalicylsäure-Therapie zur Senkung des Thromboserisikos kommt insbesondere bei jüngeren Patienten zur Anwendung. Die häufigste Todesursache sind thrombembolische Komplikationen, die mittlere Überlebenszeit beträgt ca. 10–15 Jahre. Im Verlauf der Erkrankung kann die essentielle Thrombozythämie in eine Polycythaemia vera oder eine Osteomyelofibrose übergehen. Weniger als 5% der Patienten entwickeln eine akute Leukämie.

Abb. 21-20 Essentielle Thrombozythämie (ET).

Normozelluläres Knochenmark mit zahlreichen in Gruppen gelagerten pleomorphen Megakaryozyten (Pfeile). HE, Vergr. 200fach.

Chronische idiopathische Myelofibrose (OMF) Syn.: Osteomyelofibrose, Osteomyelosklerose

Definition und Epidemiologie Die OMF ist eine neoplastische klonale Proliferation der Knochenmarkstammzellen, begleitet von einer hochgradigen reaktiven Fibroblastenproliferation mit Kollagenfaserbildung und daraus resultierender Markraumfibrose. Typisch ist eine neoplastische extramedulläre Blutbildung, z.B. in Leber oder Milz.

Abb. 21-21 Osteomyelofibrose (OMF).

Hochgradig ausgeprägte Markraumfibrose. Gomori, Vergr. 200fach.

Morphologie Im peripheren Blut finden sich eine Leukoerythroblastose (gleichzeitiges Vorkommen kernhaltiger erythropoetischer und myeloischer Vorstufen), Anisound Poikilozytose sowie tränentropfenförmige Poikilozyten und Riesenthrombozyten. Im frühen Krankheitsstadium können eine Leukozytose und eine Thrombozytose nachgewiesen werden, später ist eine Panzytopenie charakteristisch. Im Frühstadium der Osteomyelofibrose findet sich ein hyperzelluläres Knochenmark mit hyperplastischer Megakaryozytopoese und gesteigerter, linksverschobener, ausreifender Granulozytopoese. Die Megakaryozyten sind außerordentlich polymorph und oft in Gruppen gelagert. Die Erythrozytopoese ist unauffällig. Häufig sind die Sinus dilatiert und enthalten hämatopoetische Zellen. Der Grad der Markraumfibrose variiert, im Frühstadium kann sie ganz fehlen (präfibrotisches Stadium). Im Verlauf der Erkrankung kommt es zu einer Zunahme der Retikulinfasern und schließlich zu einer Kollagenfibrose. Die faserbildenden Fibroblasten sind nicht Teil des neoplastischen Klons, sondern werden durch fibroblastenstimulierende Mediatoren aktiviert, die von den neoplastischen Megakaryozyten freigesetzt werden. Im Spätstadium ist das Knochenmark hypozellulär mit erheblicher Markraumfibrose. Die zytologische Untersuchung des Knochenmarks ist aufgrund des meist hohen Fasergehaltes im Knochenmark (Abb. 21-21) oft nicht möglich (Punctio sicca). In variabler Ausprägung kann eine Osteosklerose mit Einengung der Markräume (Osteomyelosklerose) hinzukommen. In der erheblich vergrößerten Milz finden sich Herde extramedullärer Blutbildung, die nicht kompensatorischer, sondern neoplastischer Genese sind. Allein aufgrund histomorphologischer Befunde ist die primäre Osteomyelofibrose nicht von sekundären Osteomyelofibrosen, z.B. im Rahmen einer CML, einer Polycythaemia vera oder einer essentiellen Thrombozythämie, abzugrenzen.

Molekularpathologie Spezifische zytogenetische Veränderungen sind nicht bekannt; am häufigsten finden sich del(13q), del(20q), Trisomie 1q, +8, +9.

Klinisch-pathologische Korrelationen Betroffen sind Patienten im mittleren bis hohen Lebensalter. Der Beginn der Erkrankung ist schleichend. Klinisch fallen die Patienten durch Allgemeinsymptome und regelmäßig durch eine Splenomegalie, fakultativ auch durch Hepatomegalie auf. Die Diagnostik stützt sich auf die klinische Symptomatik, das Blutbild (frühes Stadium: Leukozytose, Thrombozytose; spätes Stadium: Panzytopenie) und die Knochenmarkuntersuchung.

Die Erkrankung ist nicht heilbar, die Therapie ist symptomatisch. Die mittlere Überlebenszeit beträgt 5–10 Jahre. Die Todesursachen ergeben sich aus der Knochenmarkinsuffizienz. 10–20% der Patienten entwickeln im Verlauf der Erkrankung eine sekundäre akute Leukämie, die überwiegend myeloblastär, selten lymphoblastisch ist.

Chronische myeloproliferative Erkrankung, unklassifizierbar Eine unklassifizierbare chronische myeloproliferative Erkrankung sollte nur diagnostiziert werden, wenn klinisch, laborchemisch und morphologisch eine solche Erkrankung besteht, die Kriterien einer spezifischen chronischen myeloproliferativen Erkrankung jedoch nicht voll erfüllt sind. Häufig handelt es sich um Initialstadien einer Polycythaemia vera, einer Osteomyelofibrose oder einer essentiellen Thrombozythämie.

Mastozytosen Definition und Epidemiologie Unter dem Begriff Mastozytose wird eine heterogene Gruppe von Erkrankungen zusammengefasst, die mit einer neoplastischen Proliferation und Akkumulation von Mastzellen in verschiedenen Organen oder Geweben einhergehen. Mastozytosen können sowohl primär auftreten als auch mit anderen hämatologischen Erkrankungen (z.B. mit malignen Non-Hodgkin-Lymphomen und myelodysplastischen Syndromen) assoziiert sein. Zur Inzidenz der Erkrankung liegen keine genauen Daten vor. Die kutane Mastozytose in Form einer Urticaria pigmentosa ist die häufigste Erkrankung aus dem Formenkreis der Mastozytosen. Die Erkrankungsgipfel liegen im Kindesalter und im späten Erwachsenenalter.

Klassifikation Die neue WHO-Klassifikation unterscheidet folgende Formen der Mastozytose: ■ kutane Mastozytose (CM) ■ indolente systemische Mastozytose (ISM) ■ systemische Mastozytose mit assoziierter klonaler hämatologischer NichtMastzelllinien-Erkrankung (SMAHNMD) ■ aggressive systemische Mastozytose (ASM)

■ Mastzellenleukämie (MCL) ■ Mastzellensarkom (MCS) ■ extrakutanes Mastozytom. Kutane Mastozytose: Sie ist gekennzeichnet durch typische Hautveränderungen mit histologisch dichtem Mastzelleninfiltrat. Systemische Mastozytose: ■ Hauptkriterium: multifokale dichte Mastzelleninfiltrate im Knochenmark und/oder in anderen extrakutanen Organen ■ Nebenkriterien: mehr als 25% atypische, spindelzellige oder unreife Mastzellen im Knochenmark oder in extrakutanen Organen. Nachweis der kitPunktmutation auf Codon 816. Koexpression der Mastzellen für CD117, CD2 und/oder CD25. Persistierende Tryptaseerhöhung im Serum (>20 ng/dl). Indolente systemische Mastozytose: Umfasst die Kriterien der systemischen Mastozytose, keine „B“- oder „C“-Kriterien (siehe unten), kein Anhalt für eine assoziierte klonale hämatologische Erkrankung. Systemische Mastozytose mit assoziierter klonaler hämatologischer NichtMastzelllinien-Erkrankung: Umfasst die Kriterien der systemischen Mastozytose, ist jedoch mit einer klonalen hämatologischen Erkrankung assoziiert (z.B. malignes Lymphom, chronische myeloproliferative Erkrankung oder myelodysplastisches Syndrom). Aggressive systemische Mastozytose: Umfasst die Kriterien der systemischen Mastozytose, ein oder mehrere „C“-Kriterien. Es darf keine weitere klonale hämatologische Erkrankung, keine Mastzellenleukämie bestehen. Mastzellenleukämie: Umfasst die Kriterien der sytemischen Mastozytose, im Knochenmark finden sich mehr als 20% Mastzellen, im peripheren Blut mehr als 10%. Mastzellensarkom: Unifokaler Mastzellentumor mit destruierendem Wachstum und hochgradig atypischen Mastzellen. Kein Nachweis einer systemischen Mastozytose oder von Hautveränderungen. Extrakutanes Mastozytom: Unifokaler Mastzellentumor, der aus gering atypischen Mastzellen besteht. Kein Nachweis eines destruierenden Wachstums, keine systemische Mastozytose, keine Hautveränderungen.

B-Kriterien: ■ >30% Mastzellen im Knochenmark und/oder Serumtryptase > 200ng/dl ■ Die Kriterien einer zusätzlich bestehenden hämatologischen Erkrankung sind nicht voll erfüllt ■ Hepatomegalie und/oder Splenomegalie ohne Funktionseinschränkung von Leber oder Milz und/oder Lymphadenopathie C-Kriterien: ■ gestörte Hämatopoese mit Zytopenie einer oder mehrerer Reihen ■ Hepatomegalie mit gestörter Leberfunktion (Aszites, portale Hypertension) ■ Osteolysen, pathologische Frakturen ■ Splenomegalie mit Hypersplenismus ■ Malabsorption mit Gewichtsverlust wegen Mastzelleninfiltraten im Gastrointestinaltrakt.

Morphologie Im Blutausstrich finden sich unspezifische reaktive Veränderungen, die Sicherung einer Mastozytose ist hierdurch im Allgemeinen nicht möglich. Zur Diagnose wird die histologische Untersuchung des Knochenmarks benötigt. Die Knochenmarkszytologie ist in der Diagnostik unterlegen, da meist nur wenige Mastzellen aspiriert werden können. Die Knochenmarkinfiltration durch Mastzellen kann fokal sehr unterschiedlich sein. Ein ausgedehnter Knochenmarkbefall ist durch eine Hyperzellularität der Markräume gekennzeichnet. Es finden sich vorwiegend paratrabekulär und perivaskulär dichte Mastzelleninfiltrate, die einen unterschiedlichen Gehalt an basophilen Granula aufweisen (Abb. 21-22). Im Bereich dieser Mastzelleninfiltrate besteht zusätzlich eine deutliche Verdichtung des retikulären Fasernetzes.

Molekularpathologie Bei den meisten Patienten kann eine somatische Punktmutation von kit nachgewiesen werden. kit ist ein Protoonkogen, das für den Tyrosinkinaserezeptor kodiert, einen Rezeptor für den Mastzellenwachstumsfaktor. Die häufigste Mutation betrifft das Codon 816. Es führt zur Aktivierung des kit-Proteins.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die klinischen Symptome sowie der Verlauf der systemischen Mastozytose sind sehr variabel. Sie sind zumeist Folge einer verstärkten Histaminausschüttung, die mit einem generalisierten Pruritus, Tachykardie, Hypotonie, asthmatoiden Beschwerden, gastrointestinalen Symptomen sowie rezidivierenden Gesichtsrötungen (Flush) einhergehen können. Oft besteht eine Hepatosplenomegalie. Rein kutane Mastozytosen haben eine gute Prognose, während systemische Mastozytosen z.T. mit extrem schlechter Prognose einhergehen.

21.7.2

Akute myeloische Leukämie (AML)

Definition und Epidemiologie Akute Leukämien sind klonale Neoplasien hämatopoetischer Zellen mit autonomer Proliferation und Ausschwemmung unreifer Blasten ins Blut. Sie werden aufgrund morphologischer und zytochemischer Befunde in die akute myeloische (myeloblastische, AML) und die akute lymphatische (lymphoblastische, ALL) Leukämie unterteilt. Die akute lymphatische Leukämie wird im Detail in Kap. 21.8.2 besprochen.

Abb. 21-22

Mastozytose.

Hyperzelluläres Knochenmark mit dichter peritrabekulärer Mastzelleninfiltration. Giemsa, Vergr. 200fach. Die AML kann in jedem Lebensalter auftreten. Bis zum 4. Lebensjahrzehnt beträgt die Inzidenz 1/100 000 pro Jahr, ab dem 7. Lebensjahrzehnt steigt die Inzidenz auf 10/100 000 pro Jahr.

Ätiologie Auslösende Faktoren der AML sind ionisierende Strahlen (die Latenzzeit beträgt zwischen 3 und 20 Jahren), chemische Substanzen (Benzol, Zytostatika), genetische Disposition oder chromosomale Aberrationen (z.B. Down-Syndrom). Sekundär können akute Leukämien auch im Rahmen von myelodysplastischen und myeloproliferativen Syndromen entstehen.

Tab. 21-5 FAB-Subtypen und Häufigkeit in %.

Morphologie Allen akuten Leukämien ist eine ungehemmte Proliferation des leukämischen Klons gemeinsam, der sich im Knochenmark, peripheren Blut oder extramedullär (sog. myeloides Sarkom) ausbreitet. Im Knochenmark führt dies zu einer Verdrängung der präexistenten nichtneoplastischen Hämatopoese. Hieraus resultieren Anämie und Thrombozytopenie. Da die Blasten meist in das periphere Blut ausgeschwemmt werden, findet man in der Mehrzahl der Fälle eine erhebliche Leukozytose. Gering erhöhte, normale oder erniedrigte Leukozytenzahlen („aleukämische“ oder „subleukämische“ Form) schließen jedoch eine akute Leukämie nicht aus; allein die blastären Elemente im peripheren Blut sichern die Diagnose. In einigen Fällen besteht keine Ausschwemmung der leukämischen Blasten, sodass die Diagnose nur durch eine Knochenmarkuntersuchung gestellt werden kann. Bei einer akuten Leukämie muss der Blastenanteil im Knochenmark über 20% der kernhaltigen Zellen betragen. In der Regel findet sich eine erhebliche Zellvermehrung (Hyperzellularität) des Knochenmarks. Bis vor kurzem wurden die akuten myeloischen Leukämien unter Berücksichtigung morphologischer Kriterien nach FAB (French-American-British-Cooperative Group) in 8 Untergruppen eingeteilt. 2001 wurde die WHO-Klassifikation vorgestellt. Da zur Zeit beide Klassifikationen benutzt werden, werden nachfolgend auch beide

erläutert. (Tab. 21-5). Die Klassifikation der FAB-Subgruppen der akuten myeloischen Leukämie, aber auch die Abgrenzung der AML von der ALL bedarf sowohl zytochemischer als auch morphologischer, immunhistochemischer und molekularbiologischer Untersuchungen. Die Subtypisierung ist von therapeutischer und prognostischer Relevanz. ■ Akute myeloische Leukämie mit minimaler myeloischer Differenzierung (FAB-M0). Anteil an allen AML-Erkrankungen ca. 5–10%. Knochenmarkbefund: hyperzelluläres Mark mit Verdrängung der ortsständigen Hämatopoese und ausgedehnter Infiltration durch Blasten ohne zytoplasmatische Granulierung. Auer-Stäbchen (Myeloperoxidasehaltige, azurophile intrazytoplasmatische kristalline Lysosomenanteile) sind nicht nachweisbar. Weniger als 3% der Blasten exprimieren Myeloperoxidase. Die Abgrenzung zur ALL kann außerordentlich schwierig sein, häufig ist sie nur durch zusätzliche immunzytochemische Untersuchungen möglich. Molekularpathologie: Eine spezifische chromosomale Aberration konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Häufig kommen komplexe Karyotypen vor (Trisomie 13, Trisomie 8, Trisomie 4 und Monosomie 7). ■ Akute Myeloblastenleukämie ohne Ausreifung (FAB-M1). Anteil an allen AML-Erkrankungen ca. 10–20%. Knochenmarkbefund: hyperzelluläres Mark mit diffuser Infiltration durch Blasten, die zytologisch Myeloblasten entsprechen. In ca. 50% können Auer-Stäbchen nachgewiesen werden. Mehr als 3% der Blasten exprimieren Myeloperoxidase (Abb. 21-23). Molekularpathologie: Spezifische chromosomale Veränderungen konnten bisher nicht nachgewiesen werden. ■ Akute Myeloblastenleukämie mit Ausreifung (FAB-M2). Anteil an allen AML-Erkrankungen ca. 30–45%. Knochenmarkbefund: hyperzelluläres Mark mit relativ buntem Zellbild mit z.T. auch ausreifender Granulozytopoese. Zytologisch entsprechen die Blasten Myeloblasten vom Typ II. Stets zeigen sich in den reiferen Zellen der Granulozytopoese Atypien; zusätzlich finden sich häufig dysplastische Veränderungen in der Erythrozytopoese.

Abb. 21-23 M1).

Akute myeloische Leukämie (FAB-

Knochenmarkausstrich. Die Blasten enthalten einzelne Peroxidase-positive Granula (Doppelpfeil) und Auer-Stäbchen (Pfeil). Myeloperoxidase, Vergr. 1000fach.

Abb. 21-24 M3).

Akute Promyelozytenleukämie (FAB-

Hyperzelluläres Knochenmark mit unterschiedlich dicht granulierten Promyelozyten mit teils zahlreichen Auer-Stäbchen (Pfeile). Giemsa, Vergr. 400fach. In 60–70% sind Auer-Stäbchen nachweisbar. Zahlreiche Blasten exprimieren Myeloperoxidase. Molekularpathologie: Häufiger waren del(12)(p11-p13) oder t(6;9)(p23;q34) nachweisbar. ■ Akute Promyelozytenleukämie (FAB-M3). Anteil an allen AMLErkrankungen ca. 5–10%. Knochenmarkbefund: hyperzelluläres Mark mit Prominenz unterschiedlich dicht granulierter Promyelozyten. Der Myeloblastenanteil beträgt meist weniger als 10%. Häufig finden sich zahlreiche Auer-Stäbchen (Abb. 21-24 und 21-25). Molekularpathologie: Das PML-RARαGenfusionsprodukt ist spezifisch. Es entsteht durch die Translokation t(15;17). Das neu entstandene Fusionsprodukt interferiert mit der Funktion des normalen RARαProteins, das die Interaktion mit Retioninsäurederivaten vermittelt. Dies wird durch die Behandlung mit all-trans-Retinsäure (ATRA) therapeutisch genutzt. Diese Leukämieform hat eine sehr gute Prognose.

Abb. 21-25 M3).

Akute Promyelozytenleukämie (FAB-

Knochenmarkausstrich. Ein Myeloblast (Stern) und zahlreiche atypische Promyelozyten mit Bündeln von Auer-Stäbchen (Pfeile). May-GrünwaldGiemsa, Vergr. 1000fach. ■ Akute myelomonozytäre Leukämie (FAB-M4, AMML). Anteil an allen AML-Erkrankungen ca. 20%. Knochenmarkbefund: hyperzelluläres Mark mit Vermehrung von Myeloblasten, Monoblasten und monozytär differenzierten Zellen. In den Myeloblasten sind häufiger Auer-Stäbchen nachweisbar. Die Differenzierung der blastären Zellen ist nur im Ausstrich möglich. Molekularpathologie: Spezifische chromosomale Veränderungen konnten bisher nicht nachgewiesen werden. ■ Akute Monoblastenleukämie (FAB-M5a)/akute Monozytenleukämie (FAB-M5b). Anteil an allen AML-Erkrankungen ca. 5%. Knochenmarkbefund: hyperzelluläres Mark mit Infiltration durch sehr große Blasten, die im Ausstrich Monoblasten entsprechen (FAB-M5a). Auer-Stäbchen sind nicht nachweisbar. Die FAB-M5b ist durch eine prädominante Promonozytenproliferation gekennzeichnet, der Myelo- und Monoblastenanteil beträgt ca. 10–20%. Sehr selten können Auer-Stäbchen nachgewiesen werden. Molekularpathologie: Häufig sind Deletionen und Translokationen auf Chromosom 11 (q23) nachweisbar.

■ Akute Erythroleukämie (FAB-M6). Anteil an allen AML-Erkrankungen ca. 5%. Knochenmarkbefund: hyperzelluläres Mark mit neoplastischer Proliferation der Erythro- und Granulozytopoese, wobei definitionsgemäß die Zahl der neoplastischen Erythroblasten mehr als 50% der kernhaltigen Zellen betragen muss und gleichzeitig die Zahl der Myeloblasten mindestens 30% der nichterythropoetischen Zellen ausmacht. Die Differentialdiagnose zu einem myelodysplastischen Syndrom kann außerordentlich schwierig sein. Molekularpathologie: Spezifische chromosomale Vänderungen konnten bisher nicht nachgewiesen werden. ■ Akute Megakaryoblastenleukämie (FAB-M7). Anteil an allen AMLErkrankungen ca. 5%. Knochenmarkbefund: hyperzelluläres Mark mit Infiltration durch blastäre Zellen, Promegakaryozyten und Mikromegakaryozyten in jeweils unterschiedlicher Zusammensetzung dieser drei Komponenten. Definitionsgemäß beträgt der Blastenanteil mindestens 30%. Häufig liegen die neoplastischen Zellen in Clustern. Die Diagnose muss insbesondere bei sehr unreifzelligen Varianten durch immunphänotypische Untersuchungen gesichert werden. Häufig findet sich eine diffuse oder fokal akzentuierte Verdichtung des Retikulinfasernetzes. Molekularpathologie: Spezifische chromosomale Veränderungen konnten bisher nicht nachgewiesen werden. Einteilung nach WHO Da mittlerweile zahlreiche chromosomale Aberrationen bekannt sind, die für Klassifikation, Therapie und Prognose der akuten myeloischen Leukämien sehr wichtig sind, werden die akuten myeloischen Leukämien jetzt nach der neuen WHOKlassifikation eingeteilt. Hier werden 4 Hauptgruppen unterschieden: 1. Hauptgruppe: akute myeloische Leukämie mit definierten Chromosomenbefunden ■ akute myeloische Leukämie mit t(8;21)(q22;q22); (AML1/ETO): hierbei wird das AML1-Gen auf Chromosom 21 mit dem ETO-Gen auf Chromosom 8 fusioniert. Die Prognose dieser Leukämie ist günstig. In der FAB-Klassifikation fällt diese Leukämieform unter FAB M2 ■ akute myeloische Leukämie mit atypischen Eosinophilen des Knochenmarks inv(16)(p13q22) oder t(16;16) (p13;q22); (CBFβ/MYH11) ■ akute Promyelozytenleukämie (AML mit t(15;17) (q22;q12) (PML/RARα) und Variationen ■ akute myeloische Leukämie mit 11q23(MLL)-Abnormalitäten

2. Hauptgruppe: akute myeloische Leukämie mit multilinearer Dysplasie (zwei oder drei Zelllinien) ■ nach einem myelodysplastischen Syndrom oder einer myeloproliferativen Erkrankung ■ ohne vorausgegangenes myelodysplastisches Syndrom 3. Hauptgruppe: akute myeloische Leukämie und myelodysplastisches Syndrom, therapiebedingt ■ verursacht durch Alkylanzien ■ verursacht durch Topoisomerase-Typ-II-Inhibitoren ■ verursacht durch andere Therapie, z.B. Radiatio Sekundäre akute myeloische Leukämien nach einem myelodysplastischen Syndrom oder einer myeloproliferativen Erkrankung oder aufgrund vorausgegangener Therapien wurden bereits an anderer Stelle erwähnt. Diese Leukämieformen zeigen häufig einen komplexen Karyotypen. Es gilt: je komplexer der Karyotyp, desto schlechter die Prognose. 4. Hauptgruppe: akute myeloische Leukämie, nicht anders klassifiziert (entspricht in weiten Teilen der FAB-Klassifikation) ■ akute myeloische Leukämie mit minimaler myeloischer Differenzierung ■ akute myeloische Leukämie ohne Ausreifung ■ akute myeloische Leukämie mit Ausreifung ■ akute myelomonozytäre Leukämie ■ akute Monoblastenleukämie und akute Monozytenleukämie ■ akute Erythroleukämie ■ akute Megakaryoblastenleukämie ■ akute Basophilenleukämie ■ akute Panmyelose mit Myelofibrose ■ myeloides Sarkom. 5. Gruppe umfasst akute Leukämien ohne eindeutige Liniendifferenzierung: ■ Undifferenzierte akute Leukämie: Die Blasten können weder einer myeloischen noch der lymphatischen Reihe zugeordnet werden.

■ Bilineare akute Leukämie: Es werden sowohl eine myeloische als auch eine lymphatische Blastenpopulation nachgewiesen. ■ Biphänotypische akute Leukämie: Die Blasten sind charakterisiert durch die Koexpression myeloischer und Toder B-Linien-spezifischer Antigene (MyeloidAntigen-positive ALL oder Lymphoid-Antigen-positive AML).

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Diagnose der AML stützt sich auf die klinische Symptomatik, das Blutbild, den Ausstrich des peripheren Blutes, die Knochenmarkuntersuchung sowie zytogenetische Befunde (diverse chromosomale Anomalien). Das klinische Bild resultiert aus der Verdrängung der normalen Hämatopoese (Infekte, Anämiesymptome, Blutungen). Bei einem Teil der Patienten finden sich Lymphknotenschwellung, Splenomegalie, leukämische Haut- und/oder Organinfiltration, leukämische Gingivitis und Befall der Meningen. Nach Chemotherapie erreichen ca. 50–80% der AML-Patienten eine Remission. Je nach Subtyp und Lebensalter der Patienten liegt die 5-Jahres-Rezidivfreiheit zwischen 20 und 40%. Nach allogener Knochenmarktransplantation in der 1. Remission beträgt die 10-Jahres-Überlebensrate bis zu 60%, nach Transplantation in der 2. Remission beträgt die 10-Jahres-Überlebensrate nur noch bis zu 30%. Die Ergebnisse nach autologer Knochenmarktransplantation sind etwas schlechter. Eine sekundäre akute myeloische Leukämie hat eine deutlich schlechtere Prognose als eine primäre AML.

21.8

Maligne Lymphome im Knochenmark

Siehe auch Kap. 22.2.2.

21.8.1

Plasmozytom

Definition und Epidemiologie Beim Plasmozytom handelt es sich um eine klonale Neoplasie von Plasmazellen, die am häufigsten in Form eines generalisierten Knochentumors auftritt. Bei multizentrischem Befall spricht man von einem multiplen Myelom oder Morbus Kahler, bei herdförmigem Befall von einem solitären Myelom. Nach der WHOKlassifikation werden Plasmozytome zu den malignen Lymphomen gerechnet (siehe Kap. 22.2.2). Betroffen sind meist Patienten des mittleren und höheren Lebensalters.

Abb. 21-26

Plasmozytom.

Hyperzelluläres Knochenmark mit diffuser Infiltration durch atypische Plasmazellen. Giemsa, Vergr. 600fach.

Morphologie Im peripheren Blut fällt meist eine Anämie oder Panzytopenie auf, neoplastische Plasmazellen sind hier nur äußerst selten nachweisbar. Dagegen lassen sich in den meisten Fällen monoklonale Immunglobuline (meist IgG) nachweisen. Das Knochenmark kann nodulär (umschrieben-herdförmig) oder diffus infiltriert sein (Abb. 21-26). Meist zeigen die Tumorzellen morphologisch Ähnlichkeiten zu reifen Plasmazellen (plasmozytisches Plasmozytom) oder zu Plasmoblasten (mit helleren Kernen und prominenteren Nukleolen: plasmoblastisches Plasmozytom). Es wird eine Differenzierungsgraduierung in G1 (Plasmazellen mit geringgradiger Atypie), G2 (mit deutlicherer Atypie, jedoch ohne blastäre Zellformen) und G3 (plasmoblastisch) vorgenommen. Diese Graduierung lässt einen Rückschluss auf die Prognose zu, wobei bei G1 die beste und bei G3 die schlechteste Prognose zu erwarten ist.

Molekularpathologie Tumorzellen zeigen ein meist monoklonales, selten biklonales Umlagerungsmuster von Immunglobulingenen.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die klinische Symptomatik mit Knochenschmerzen in der Wirbelsäule oder den Extremitäten und (pathologischen) Frakturen der betroffenen durch die Neoplasie zerstörten Knochen (Abb. 21-27) ist richtungweisend für die Diagnose. Von den

Tumorzellen produzierte Immunglobulinleichtketten können über die Niere ausgeschieden werden und sind dann in ungefähr einem Viertel der Fälle als BenceJones-Proteine im Harn nachweisbar. Die Bence-Jones-Proteine können Nierentubuli verlegen und eine funktionelle Nierenschädigung („Myelomniere“, Syn. Plasmozytomniere) auslösen (siehe Kap. 36.6.5). Durch die Tumorinfiltration des Knochens kann es zu Deformationen und Spontanfrakturen kommen (z.B. sind Tumorosteolysen der Schädelkalotte im Röntgenbild als sog. „Schrotschussschädel“ sichtbar). Weitere Komplikationen im Rahmen des Plasmozytoms können die durch vermehrten Knochenabbau bedingte Hyperkalzämie oder eine durch das Paraprotein bedingte Amyloidose sein. Die Erkrankung ist derzeit nicht heilbar, unter Chemotherapie ist jedoch bei gut differenzierten Tumoren ein langes Überleben möglich.

Paraproteinämie unbestimmter Signifikanz Syn.: monoklonale Gammopathie unbestimmter Signifikanz, MGUS

Abb. 21-27

Multiples Myelom.

Innenansicht der Schädelkalotte mit multiplen, scharfrandig begrenzten, mit graurötlichem Fremdgewebe ausgefüllten Osteolysen.

Definition Darunter versteht man das Auftreten von monoklonalem Immunglobulin im Serum oder Harn ohne Nachweis eines Plasmozytoms, einer primären Amyloidose oder eines anderen Lymphoms.

Morphologie Histologisch besteht eine minimale Plasmazellvermehrung im Knochenmark mit monoklonaler Immunglobulinproduktion, wobei die histologischen Kriterien für die Diagnose eines Plasmozytoms jedoch nicht erfüllt sind.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die MGUS stellt häufig einen Zufallsbefund dar. Nach 20-jährigem Bestand sollen etwa 30% der Patienten mit MGUS ein Plasmozytom, eine Amyloidose oder ein lymphoplasmozytisches Immunozytom (Morbus Waldenström) entwickeln.

21.8.2

Akute lymphoblastische Leukämie (ALL)

Siehe auch Kap. 22.2.2.

Definition Die akute lymphoblastische Leukämie (ALL) ist eine neoplastische monoklonale Proliferation unreifer lymphatischer Zellen (Lymphoblasten). Sie kann einen T-ZellPhänotyp (oft mit Mediastinaltumor, vorwiegend im Kindesalter) oder einen B-ZellPhänotyp aufweisen. Die Unterscheidung zwischen ALL und lymphoblastischem Non-Hodgkin-Lymphom wird willkürlich getroffen: Eine ALL liegt vor, wenn mehr als 25% der kernhaltigen Knochenmarkzellen neoplastische Lymphoblasten sind.

Molekularpathologie Für die akute lymphoblastische Leukämie vom B-Zell-Typ vor allem des Kindesalters sind verschiedene prognostisch relevante und molekularpathologisch nachweisbare chromosomale Aberrationen beschrieben: am häufigsten Hyperdiploidie, Translokation t(12; 17), Translokation t(1; 19). Sie zeigt ein monoklonales Umlagerungsmuster (Rearrangement) des Immunglobulinschwerkettengens. Bei der akuten lymphoblastischen Leukämie vom T-Zell-Typ werden in einem Drittel der Fälle Translokationen beschrieben, die einen Genort der α- oder δ-Kette des TZell-Rezeptors am Chromosom 14 oder einen Genort der β-Kette des T-ZellRezeptors am Chromosom 7 betreffen.

Morphologie

Im peripheren Blut sind in den meisten Fällen Lymphoblasten bei entsprechender Erhöhung der Leukozytenzahl (= Leukämie) nachweisbar. Häufig bestehen Anämie und Thrombozytopenie. Des Weiteren finden sich meist eine Lymphknotenbeteiligung mit Durchsetzung des Lymphknotens durch Lymphoblasten, eine geringe Splenomegalie mit Infiltration der weißen Milzpulpa, eine Leberbeteiligung mit Infiltration der Portalfelder und der Sinusoide und – vor

allem beim T-Zell-Typ – ein Thymustumor. T- und B-Zell-Typ lassen sich nur mit immunhistochemischen Methoden sicher unterscheiden (Ausnahme: in zytologischen Präparaten zeigen Lymphoblasten des T-Zell-Typs eine punktförmige Positivität für saure Phosphatase). Das hochgradig hyperzelluläre Knochenmark enthält zahlreiche und dichte Zellrasen bildende Lymphoblasten, welche die präexistente Hämatopoese weitgehend verdrängen (Abb. 21-28). Nach dem morphologischen Bild der Zellen im Knochenmarkausstrich und nach der FABKlassifikation wird eine Unterscheidung in drei Typen durchgeführt: ■ ALL-L1: kleine runde Blasten ohne oder mit nur kleinen Nukleolen. ■ ALL-L2: größere, z.T. pleomorphkernige Blasten mit ungleichmäßig dichtem Chromatin und deutlichen Nukleolen. ■ ALL-L3: große Blasten mit retikulärem Chromatin und prominenten, teils solitären, teils multiplen Nukleolen sowie breiterem, stark basophilem Zytoplasma.

21.8.3 Chronische lymphozytische Leukämie des BZell-Typs (B-CLL) Siehe auch Kap. 22.2.2.

Definition und Epidemiologie Es handelt sich um eine neoplastische monoklonale Vermehrung kleiner lymphatischer Zellen, die dem Differenzierungsstadium einer unreifen kleinen lymphatischen Zelle vor Eintritt in die Keimzentrumsreaktion entsprechen oder von kleinen Lymphozyten abgeleitet werden, die aus der Keimzentrumsreaktion hervorgegangen sind. Die Erkrankung tritt im höheren Lebensalter auf (6. Dekade).

Abb. 21-28

Akute lymphoblastische Leukämie (ALL).

Hyperzelluläres Knochenmark mit ausgedehnter Lymphoblasteninfiltration. Giemsa, Vergr. 200fach.

Morphologie Im Blutbild besteht eine hochgradige Lymphozytose (Leukozytose bis zu 500000 Leukozyten/μl Blut mit bis zu 90%iger lymphatischer Zellkomponente), meist begleitet von Anämie und zunehmender Thrombozytopenie. Eine Lymphknoteninfiltration durch Tumorzellen kann einer klinisch manifesten leukämischen Tumorzellaussaat vorangehen. Im Knochenmarkausstrich besteht eine hochgradige Lymphozytose bei Reduktion der Erythro- und Thrombozytopoese. Histologisch ist das Knochenmark von diffus oder nodulär angeordneten kleinen lymphatischen Zellen mit rundem chromatindichtem Kern und z.T. mit kleinem Nukleolus durchsetzt; eingestreut sind oft einzelne größere immunoblastenähnliche Zellen (Paraimmunoblasten). Eine seltene Variante stellt die Prolymphozytenleukämie des B-Zell-Typs dar, die durch eine sehr hohe Lymphozytenzahl im peripheren Blut und eine meist höhergradige Splenomegalie sowie einen aggressiveren klinischen Verlauf gekennzeichnet ist (siehe dazu Kap. 22.2.2).

Molekularpathologie Immunglobulingene sind monotypisch rearrangiert. In 40–50% der Fälle zeigen sie noch keine Mutation der variablen Regionen, was somit unreifen B-Zellen vor der Keimzentrumsreaktion entspricht. In 50–60% der Fälle sind diese sog. „somatischen“, in der Keimzentrumsreaktion erworbenen Mutationen der variablen Genregionen

vorhanden. Die Zellen werden daher von Lymphozyten abgeleitet, die aus der Keimzentrumsreaktion hervorgegangen sind.

21.8.4 Chronische lymphozytische Leukämie des TZell-Typs (T-CLL)/Prolymphozytenleukämie des T-ZellTyps Diese Leukämieform ist weit seltener als die B-CLL und tritt ebenfalls im höheren Lebensalter auf. T-CLL und Prolymphozytenleukämie des T-Zell-Typs werden zu einer Krankheitsgruppe zusammengefasst. Sie sind nur durch immunhistochemische Charakterisierung der Oberflächenantigene auf den Tumorzellen klassifizierbar (siehe dazu Kap. 22.2.2).

Molekularpathologie Die Tumorzellen zeigen eine monoklonale Umlagerung von Genen für die γ- und βKette des T-Zell-Rezeptors.

21.8.5

Haarzellenleukämie (HCL)

Definition und Epidemiologie Es handelt sich um eine neoplastische monoklonale Proliferation mittelgroßer lymphatischer Zellen. Diese weisen ein breites, helles Zytoplasma auf, das – nur im Blutausstrich – strahlige haarartige Ausläufer erkennen lässt (sog. Haarzellen). Diese Tumorzellen enthalten zytochemisch nachweisbare tartratresistente saure Phosphatase (Abb. 21-29). Nach der Kiel-Klassifikation ist die Haarzellenleukämie ein NonHodgkin-Lymphom niedrigen Malignitätsgrades (siehe auch Kap. 22.2.2). Die Haarzellenleukämie ist selten und betrifft vorwiegend Patienten des mittleren Lebensalters (etwa 3% aller Leukämien des Erwachsenen).

Morphologie

Das Knochenmark wird meist diffus von Tumorzellen mit teils runden, teils gering pleomorphen Kernen in lockerer Anordnung durchsetzt.

Molekularpathologie Die Tumorzellen zeigen monoklonales Rearrangement der Immunglobulingene. Dabei sind auch variable Genregionen mutiert, sodass die Tumorzellen von B-Zellen abgeleitet werden, die aus der Keimzentrumsreaktion hervorgegangen sind.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Patienten zeigen eine Splenomegalie und Panzytopenie.

Abb. 21-29

Haarzellenleukämie.

Zytozentrifugat. Die Haarzellen tragen CD11c. Immuntypisierung (APAAPMethode). Vergr. 400fach.

21.8.6

Weitere maligne Lymphome

Auch die anderen im Kap. 22.2.2 ausführlich dargestellten nodalen und extranodalen Non-Hodgkin- sowie Hodgkin-Lymphome können grundsätzlich das Knochenmark infiltrieren, die präexistente Hämatopoese verdrängen und in das periphere Blut (im Sinne einer Leukämie) ausschwemmen.

21.9

Metastatische Knochenmarkinfiltration

(Siehe auch Kap. 43.6.7) Die häufigsten in das Knochenmark metastasierenden Tumoren sind im Kindesalter das Neuroblastom, das Ewing-Sarkom, das Rhabdomyosarkom, das Osteosarkom und das Medulloblastom, im Erwachsenenalter das Lungenkarzinom (insbesondere das kleinzellige Karzinom), das Mammakarzinom, das Prostatakarzinom, gastrointestinale Karzinome, Nierenzellkarzinome, das follikuläre Schilddrüsenkarzinom und das maligne Melanom. Die Tumorzellen gelangen auf hämatogenem Weg in das Knochenmark. Eine ausgedehnte Infiltration des Knochenmarks führt zu einer Verdrängung der ortsständigen Hämatopoese. In Abhängigkeit vom Tumortyp kommt es im Rahmen eines gesteigerten Knochenumbaus entweder zu Knochenneubildung (osteoblastische Metastase) oder zu Osteolysen (osteoklastische Metastase).

Klinisch-pathologische Korrelationen In der Diagnostik einer metastatischen Knochenmarkinfiltration ist die Beckenkammbiopsie (Abb. 21-30) der Knochenmarkaspiration überlegen, da eine Tumorinfiltration des Knochenmarks häufig mit einer Markraumfibrose einhergeht und somit durch die Aspiration nicht genügend Material gewonnen werden kann (Punctio sicca). Die klinische Symptomatik einer metastatischen Knochenmarkinfiltration ergibt sich aus dem Ausmaß und der Lokalisation. Häufigstes Symptom sind Knochenschmerzen. Bei erheblicher Verdrängung der Hämatopoese treten die Komplikationen einer Knochenmarkinsuffizienz auf. Im Blutbild finden sich dann eine Anämie, eine Thrombozytopenie und selten eine Leukopenie. Eine ausgedehnte Knochenmarkinfiltration kann auch eine extramedulläre Blutbildung zur Folge haben, die im Blutbild zu einer leukoerythroblastischen Reaktion führt. Aufgrund osteolytischer Metastasen kann eine Hyperkalzämie resultieren. Pathologische Knochenfrakturen sind keine Seltenheit und können bei entsprechender Lokalisation auch zu neurologischen Störungen führen.

Abb. 21-30

Knochenmarkkarzinose.

Adenokarzinom der Lunge. Vollständige Verdrängung der Hämatopoese und ausgedehnte Infiltration der Markräume durch epitheliale Tumorzellverbände (Pfeile). Gleichzeitig besteht eine osteoblastische Knochenneubildung (Doppelpfeile). HE, Vergr. 200fach.

21.10 Bedeutung der Pathologie in der Knochenmarkdiagnostik Die histopathologische Untersuchung des Knochenmarks ist zur Differenzierung reaktiver und nichtneoplastischer hämatopoetischer Erkrankungen von neoplastischen Erkrankungen von großem Stellenwert und oft therapieentscheidend. Für die Diagnostik ist eine enge Zusammenarbeit der Hämatologen mit den Pathologen nötig, da häufig eine fundierte diagnostische Aussage nur unter Kenntnis der Anamnese und klinischer Daten (z.B. Laborparameter) möglich ist. Zu einer vollständigen hämatopathologischen Untersuchung des Knochenmarks gehören sowohl Ausstriche des peripheren Blutes als auch eine Knochenmarkaspirationszytologie und das Knochenmarktrepanat. ■ Die zytologische Diagnostik bietet eine schnelle Untersuchungsmöglichkeit und erlaubt es, einzelne hämatopoetische Zellen sowie den Zellgehalt zu beurteilen. ■ Anhand des Trepanats sind der Zellgehalt, das Verteilungsmuster der einzelnen Zellreihen, das Ausmaß einer möglicherweise bestehenden Tumorinfitration, das Stroma und der Knochen beurteilbar. Zusätzlich können immunhistologische und molekularpathologische Untersuchungen durchgeführt werden. Bei einer Punctio sicca stellt das Knochenmarktrepanat die einzige Diagnosemöglichkeit dar.

Abbildungshinweis: Einige Abbildungen wurden aus dem von T. Radaskiewicz und M. Vesely bearbeiteten Kapitel der ersten Auf-lage übernommen.

Literatur Bain, B.J., D.M. Clark, I.A. Lampert: Bone Marrow Pathology. 2nd Edition. Blackwell Science 2001. Foucar, K.: Bone Marrow Pathology. ASCP Press 2001. Knowles, D.M.: Neoplastic Hematopathology. Williams & Wilkins 2001. Jaffe, E. et al. (Eds.): World Health Organization Classification of Tumors: Tumors of Haematopoietic and Lymphoid Tissues. IARC Press 2001. Bennett, J., D. Catovsky, M. Daniel: Proposals for the classification of the myelodysplastic syndromes. Br J Haematol 1982, 189–199. Greenberg, P., C. Cox, M. LeBeau: International scoring system for evaluating prognosis in myelodysplastic syndromes. Blood 1997. 89: 279–88.

FRAGEN

1 Beschreiben Sie die Formen der Anämien nach Ursachen und Pathogenese. 2 Beschreiben Sie die Pathogenese und die Auswirkungen der perniziösen Anämie. 3 Nennen Sie die Ursachen eines Vitamin-B12-Mangels und dessen Auswirkungen. 4 Welche nichtneoplastischen Störungen der Granulozytopoese, Monozytopoese und Lymphopoese kennen Sie? 5 Beschreiben Sie Formen und Konsequenzen von Störungen der Thrombozytopoese. 6 Welche reaktiven Veränderungen können in Blut und Knochenmark vorkommen? 7 Was verstehen Sie unter dem Begriff des myelodysplastischen Syndroms? Was sind die wichtigsten klinischen Symptome? 8 Definieren Sie die chronischen myeloproliferativen Erkrankungen. Beschreiben Sie die Unterschiede in Morphologie und Klinik. 9 Was verstehen Sie unter Leukämie und wie werden Leukämien klassifiziert? 10 Beschreiben Sie die charakteristischen genetischen, morphologischen und klinischen Merkmale einer chronischen myeloischen Leukämie. 11 Definieren Sie die Merkmale der akuten myeloischen Leukämien. Welche zytogenetischen Veränderungen kennen Sie? 12 Bestehen grundsätzliche Unterschiede zwischen lymphatischen Leukämien und malignen Lymphomen (siehe auch Kap. 22.2.2)? 13 Die chronische lymphatische Leukämie vom B-Zell-Typ ist eine Erkrankung des mittleren und höheren Lebensalters. Beschreiben Sie Morphologie und Klinik dieser Erkrankung. 14 Das Plasmozytom ist überwiegend ein Tumor des Knochenmarks. Beschreiben Sie Morphologie und Klinik dieses Tumors. Welche „extraskelettalen Komplikationen“ kennen Sie? 15 Welche Typen von Knochenmetastasen kennen Sie? 16 Welches sind die Indikationen zur morphologischen Untersuchung der in diesem Kapitel beschriebenen Krankheiten? Welche Untersuchungen sind indiziert? Welchen Beitrag können diese Untersuchungen zur präzisen Diagnostik und zur Planung der Therapie leisten?

22

Lymphatisches System A.C. FELLER 22.1 Organisation des lymphatischen Systems: lymphatische Organe und ihre zellulären Komponenten 539 22.1.1

Primäre lymphatische Organe 539

22.1.2

Sekundäre lymphatische Organe 540

22.2

Lymphknoten und extranodales lymphatisches System 542

22.2.1

Entzündungen (Lymphadenitis) und andere reaktive Veränderungen 542

22.2.2

Neoplasien: maligne Lymphome 549

22.3

Milz 565

22.3.1

Normale Struktur und Funktion 565

22.3.2

Fehlbildungen 565

22.3.3

Funktionsstörungen 565

22.3.4

Splenomegalie 565

22.3.5

Kreislaufstörungen 566

22.3.6

Hyperplasie, Entzündungen 567

22.3.7

Systemerkrankungen 567

22.3.8

Tumoren 568

22.4

Thymus 569

22.4.1

Normale Struktur und Funktion 569

22.4.2

Fehlbildungen 570

22.4.3

Entzündungen 571

22.4.4

Tumoren 571

22.5 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Erkrankungen des lymphatischen Systems 573 Literatur 574

Fragen 574

Zur Orientierung Lymphknoten, Thymus und Milz gehören – neben dem Knochenmark (siehe Kap. 21) – zu den wichtigsten Organen des lymphatischen Systems. Ihre Erkrankungen werden deshalb in diesem gemeinsamen Kapitel beschrieben. Im Mittelpunkt des Lymphknoten-Kapitels stehen Entzündungen und Neoplasien. Die mit der Funktion des lymphatischen Systems eng verbundenen immunologischen Erkrankungen werden in gesonderten Kapiteln abgehandelt (siehe Kap. 4 und Kap. 47). Im Rahmen der zellulären und humoralen Abwehr von Infektionserregern, Fremd- oder Selbstantigenen kommt es zu reaktiven (entzündlichen) Veränderungen in den verschiedenen Kompartimenten des Lymphknotens, zu den verschiedenen Formen der Lymphadenitis. Die klinisch wichtigsten Erkrankungen, die malignen Lymphome, stellen autonome neoplastische Proliferationen lymphatischer Zellen dar, die sich je nach betroffener Zellpopulation des lymphatischen Gewebes in Neoplasien des B- und T-ZellSystems (B- und T-Zell-Lymphome, Hodgkin-Lymphom) gliedern lassen. Im Milz-Kapitel werden zunächst die Fehlbildungen und Kreislaufstörungen beschrieben. Als ein in den Blutkreislauf eingeschaltetes Immunorgan reagiert die Milz bei jeder Auseinandersetzung des Organismus mit körperfremden Stoffen in Form einer Entzündung mit. Dabei unterscheidet man die spezifische von der unspezifischen Splenitis. Tumoren der Milz sind selten, relativ häufig ist aber eine Mitbeteiligung der Milz im Rahmen von Systemerkrankungen wie Stoffwechselstörungen und v.a. neoplastischen Blutkrankheiten. Alle aufgeführten Krankheiten können zu einer Splenomegalie führen. Schließlich sind hier funktionelle Störungen der Milz, nämlich Hypo- und Hypersplenismus, beschrieben. Im Thymus-Kapitel sind neben den Fehlbildungen die Thymitis und die Thymome aufgeführt und im Rahmen der beiden Letzteren wird die Pathogenese der Myasthenia gravis besprochen.

22.1 Organisation des lymphatischen Systems: lymphatische Organe und ihre zellulären Komponenten Aus Stammzellen im Knochenmark entwickeln sich lymphatische Vorläuferzellen. Vom Knochenmark aus findet eine Besiedlung des Thymus und der peripheren (sekundären) lymphatischen Organe statt (Abb. 22-1a, b). Die T-Zell-Differenzierung vollzieht sich im Wesentlichen im Thymus, die Differenzierung der B-Zellen im Knochenmark, in den Lymphknoten, den Tonsillen und den Peyer-Plaques des Intestinaltrakts. über das Blutund Lymphgefäßsystem zirkulieren lymphatische Zellen im Körper.

22.1.1

Primäre lymphatische Organe

Die primären lymphatischen Organe sind die Orte der primären Entwicklung lymphatischer Zellen.

Abb. 22-1a Lokalisation der primären (rot) und sekundären (blau) lymphatischen Organe.

Knochenmark Im Knochenmark erfolgen Bildung und erste Differenzierung von B-Zellen aus lymphatischen Vorläuferzellen. In geringerem Ausmaß finden hier auch erste Tzelluläre Differenzierungsschritte statt, die wesentlichen folgen jedoch im Thymus. Die lymphatischen Zellen durchwandern das Knochenmark von endostal nach zentral und werden über venöse Sinus ausgeschleust. Sie besiedeln dann die peripheren (sekundären) lymphatischen Organe.

Abb. 22-1b Besiedlungswege der primären und sekundären lymphatischen Organe durch lymphatische (Vorläufer-)Zellen.

Thymus Der Thymus besteht aus Rinde (Kortex) und Mark (Medulla). Im Mark finden sich reife CD4- und CD8-positive T-Zellen sowie einige B-Zellen. Die Rinde enthält unreife CD4-CD8-, also doppelt positive T-Lymphoblasten, die nach Durchlaufen der verschiedenen Differenzierungsschritte über die kortikomedulläre Junktionszone in die Peripherie ausgeschleust werden. An der T-Zell-Differenzierung sind unterschiedliche Typen von Thymusepithelzellen sowie Zytokine (u.a. IL-2, IL-3, IL-6, IL-7 und IL-9), die von dendritischen Zellen und Monozyten/Makrophagen gebildet werden, beteiligt. Die pathologischen Veränderungen des Thymus sind in Kap. 22.4 beschrieben.

22.1.2

Sekundäre lymphatische Organe

Lymphknoten Der Lymphknoten enthält die B-Zone mit den Primär- und Sekundärfollikeln, die TZone (= Parakortikalzone), die Interfollikulärzone und die Pulpa (Abb. 22-2). Die

lymphatischen Zellen gelangen über afferente Lymphbahnen oder über epitheloide Venolen aus dem Blut in den Lymphknoten. Die epitheloiden Venolen sind mit besonderen Adhäsionsmolekülen ausgestattet, die mit den Homing-Rezeptoren auf der Oberfläche der Lymphozyten interagieren. über derartige spezifische Moleküle finden die zielgerichtete Besiedlung der einzelnen Organe (Homing) durch Lymphozyten und die Lymphozyten-Rezirkulation statt. Nach ihrer Einschleusung treten die lymphatischen Zellen mit den Sinuswandzellen in Kontakt. Diese bilden innerhalb der Sinus ein dichtes Geflecht endothelartiger Zellen, über die auch eine Einwanderung immunakzessorischer Vorläuferzellen (follikuläre dendritische Zellen) in den Lymphknoten stattfindet. Die lymphatischen Zellen verlassen den Lymphknoten über efferente Bahnen aus der Lymphknotenpulpa und gelangen schließlich in den Ductus thoracicus und weiter in das venöse Blut.

Abb. 22-2 Schematische Darstellung der Lymphknotengrundstruktur.

B-Zone Die B-Zellen des Primärfollikels differenzieren nach Antigenkontakt zu Blasten (Zentroblasten) und weiter zu Zentrozyten, die im Keimzentrum der Sekundärfollikel zonal angeordnet sind. Die Antigenpräsentation erfolgt über ein dichtes Netzwerk von follikulären dendritischen Zellen (FDZ) an immunkompetente, d.h. Immunglobulinrezeptor-positive, B-Zellen. Die Sekundärfollikel werden von einem schmalen Saum (Follikelmantel) reifer, ruhender B-Zellen umgeben. Plasmazellen können sowohl intrafollikulär als auch in der Interfollikulärzone entstehen.

T-Zone Die T-Zone enthält überwiegend kleine reife T-Lymphozyten sowie einzelne interdigitierende dendritische Zellen (IDZ). Hier münden die epitheloiden Venolen, welche die Zirkulation der lymphatischen Zellen durch die T-Zone ermöglichen.

Pulpa Die Pulpa ist von einem Netzwerk von Blut- und Lymphgefäßen durchsetzt. Dort erfolgt der Abfluss der Lymphozyten in die efferenten Lymphbahnen.

Interfollikulärzone Diese Zone liegt zwischen den Follikeln. Hier finden sich überwiegend TLymphozyten, untermischt mit einzelnen B-zellulären Blasten und Plasmazellen.

Milz Abb. 22-3 Schematische Darstellung der lymphatischen Kompartimente der Milz und deren Gefäßversorgung.

Die Milz ist von einem weit verzweigten und funktionell hochdifferenzierten Gefäßsystem durchzogen und besteht aus der roten und der weißen Pulpa (Abb. 22-3). Die weiße Pulpa stellt das eigentliche sekundäre lymphatische Organ der Milz dar. Sie enthält die B- und T-Zonen, wobei sich (je nach Reaktionszustand) vollständige Follikel (Primäroder Sekundärfollikel) ausbilden, die von einer Marginalzone (Follikelaußenzone – außerhalb des Follikelmantels) umschlossen werden. Diese

Marginalzone stellt die Eintrittspforte für B- und T-Lymphozyten in die weiße Pulpa dar und enthält Gedächtnis-B-Zellen. Die T-Zone umschließt das periarterioläre Areal. Im Gegensatz zum Lymphknoten werden diese T-Zonen gelegentlich von B-Zonen umschlossen. Die rote Pulpa ist ein kapillarreiches Gewebe mit fenestrierten Sinus und macht mehr als drei Viertel des Milzvolumens aus. Die pathologischen Veränderungen der Milz sind in Kap. 22.3 beschrieben.

Mukosaassoziiertes lymphatisches Gewebe Syn.: MALT-System (MALT = mucosa associated lymphoid tissue) Das MALT-System ist das primär vorhandene lymphatische Gewebe der Schleimhäute. Es kann sich prinzipiell in jedem Organ finden, das mit seiner Schleimhautoberfläche Kontakt mit der Außenwelt hat. Durch diese Lokalisation und die damit verbundene besondere Funktion besitzt es eine spezielle Organisationsstruktur. Die Peyer-Plaques (Abb. 22-4) stellen den Prototyp des MALT-Systems im Intestinaltrakt dar (GALT = gut associated lymphoid tissue). An ihrer Basis finden sich B-Zell-Follikel mit Keimzentren. Oberhalb des Follikelmantels liegt eine weitere B-Zone, die kappenartig dem Follikel aufsitzt (sog. Marginalzone oder Domregion). Hier befindet sich eine besondere Population von B-Zellen, die den Zentrozyten der Keimzentren ähnlich sind, allerdings funktionell ein besonderes Kompartiment darstellen und von denen sich überwiegend die intestinalen B-Zell-Lymphome ableiten. Die Plasmazellen innerhalb der Follikel und oberhalb der Domzone sind als Ausdruck ihrer besonderen Funktion im Bereich der Schleimhäute IgA-positiv. Die TZonen befinden sich unterhalb der Follikel und umgeben diese z.T. seitlich. Das Epithel, das die Peyer-Plaques bedeckt, ist funktionell spezialisiert und enthält so genannte M-Zellen. Diese dienen dem Transport lumenaler Antigene in das immunkompetente Gewebe. In anderen Organen mit mukosaler Auskleidung, wie z.B. im Magen, findet sich primär kein lymphatisches Gewebe. Es bildet sich erst nach Antigenkontakt aus und kann bei andauernder Stimulation einen ähnlichen Aufbau wie im Intestinaltrakt annehmen. Aus diesem Grund sind B-Zell-Lymphome des MALT häufig im Magen lokalisiert. Auch im Bronchialsystem, in den Speicheldrüsen und im Urogenitaltrakt entwickelt sich nach Antigenkontakt lymphatisches Gewebe. Auch die normale Haut enthält primär kein lymphatisches Gewebe. Lediglich innerhalb der Epidermis finden sich die Langerhans-Zellen, die mit den Takzessorischen Zellen der Lymphknoten-Parakortikalzone (= IDZ) verwandt sind. Sie spielen eine wesentliche Rolle in der Antigenprozessierung. Die Epithelzellen (=

Keratinozyten) selbst sind in der Lage, eine Vielzahl von Zytokinen zu produzieren, die u.a. für die Rekrutierung von Gedächtnis-T-Zellen wesentlich sind.

Abb. 22-4 Schematische Darstellung des lymphatischen Gewebes im Intestinaltrakt (GALT = gut associated lymphoid tissue).

22.2 Lymphknoten und extranodales lymphatisches System Die in Kap. 22.1 beschriebenen Organe sind Bestandteile des lymphatischen Systems. Entzündliche Erkrankungen finden sich vor allem in den Lymphknoten als verschiedene Formen der Lymphadenitis, während die malignen Erkrankungen – die malignen Lymphome – sich sowohl primär im Lymphknoten als auch primär extranodal wie z.B. im mukosaassoziierten Gewebe (MALT) manifestieren können. Zu beachten ist, dass bestimmte definierte entzündliche wie auch maligne Erkrankungen innerhalb des lymphatischen Systems bevorzugte Manifestationen aufweisen.

22.2.1 Entzündungen (Lymphadenitis) und andere reaktive Veränderungen Die Lymphadenitis stellt eine Reaktion des Lymphknotens auf verschiedene exogene und endogene Noxen dar. Bei unterschiedlichen Formen und Ursachen der Lymphadenitis kommt es zu quantitativen Veränderungen der einzelnen Kompartimente und damit zu einer veränderten zellulären Zusammensetzung. Zusätzlich können sich besondere, im ruhenden Lymphknoten nicht ausgeprägte Komponenten entwickeln (z.B. monozytoide B-Zell-Reaktion der Sinus, speichernde Makrophagen, neutrophile Granulozyten). Die Lymphadenitis kann nach ihrem zeitlichen Verlauf und der Art der zellulären Infiltrate in eine akute und eine chronische Form unterteilt werden. Nach dem morphologischen Bild ist z.T. eine ätiologische Zuordnung oder Einordnung in klinisch definierte Krankheitsbilder möglich.

Akute Lymphadenitis Akute nichteitrige Lymphadenitiden treten im Rahmen von Yersinia-enterocolitica-, bei Salmonellenoder Listerien-Infektionen auf. Bakterielle Infektionen im Zustromgebiet des Lymphknotens, v.a. durch Streptokokken und Staphylokokken, sind Ursache einer akuten eitrigen Lymphadenitis. So können z.B. Infektionen im Bereich der Zähne oder Tonsillen zu einer zervikalen Lymphadenitis führen.

Morphologie

Die akute nichteitrige mesenteriale Lymphadenitis zeigt als Charakteristikum eine Erweiterung der Sinus, die dicht mit Lymphozyten gefüllt sind. In frühen Phasen der eitrigen Lymphadenitis finden sich neutrophile Granulozyten in den Sinus. Von hier breiten sie sich im lymphatischen Gewebe aus und können bei schweren Fällen zu Abszedierungen in der Pulpa führen.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die akute nichteitrige Lymphadenitis ist überwiegend abdominal lokalisiert und kann z.B. das Bild einer akuten Appendizitis imitieren. Die Lymphknotenschwellungen bei der eitrigen Lymphadenitis sind meist auf eine Lymphknotengruppe im Abflussgebiet eitriger Entzündungen beschränkt. Es bestehen eine deutliche Druckschmerzhaftigkeit und gelegentlich eine Rötung der darüber liegenden Haut.

Chronische Lymphadenitis Die chronische unspezifische Lymphadenitis ist die häufigste Form der reaktiven Lymphknotenvergrößerung. Grundsätzlich können Follikel, parakortikale T-Zone und Pulpa gemeinsam oder getrennt reagieren. Ein unmittelbarer Rückschluss auf die Ursache ist dabei nicht möglich. Die Art der vorherrschenden Reaktion erlaubt allenfalls einen indirekten Hinweis auf ein mögliches induzierendes Agens. Darüber hinaus existieren aber verschiedene Formen der chronischen Lymphadenitis, die aufgrund ihres morphologischen Bildes entweder einer definierten Krankheitsentität zuzuordnen sind oder deren ätiologie zumindest vermutet werden kann. Wichtige Vertreter dieser Gruppe sind die granulomatösen (Tab. 22-1), die retikulozytärabszedierenden (Tab. 22-2) und die histiozytär-nekrotisierenden Lymphadenitiden. Die granulomatösen Lymphadenitiden sind durch klein- oder großherdige Ansammlungen von Histiozyten, Epitheloidzellen und Lymphozyten mit oder ohne Nekroseherde charakterisiert. Je nach ätiologie bestehen Unterschiede in der zellulären Zusammensetzung und der Größe der Granulome. Auf diese Weise lassen sich aus der >Morphologie der Läsionen Rückschlüsse auf die Krankheit ziehen.

Tab. 22-1 Krankheiten, die zu einer granulomatösen Lymphadenitis führen. Toxoplasmose Sarkoidose Tuberkulose BCG-Impfung Lues III Morbus Crohn Wegener-Granulomatose Brucellose viszerale Leishmaniose Morbus Whipple

Tab. 22-2 Krankheiten, die zu einer retikulozytärabszedierenden Lymphadenitis führen. Yersinia-pseudotuberculosis-Infektion Katzenkratzkrankheit Lymphogranuloma inguinale Mykosen atypische Mykobakteriose

Abb. 22-5

Chronische unspezifische Lymphadenitis.

Regelhafte, nicht nennenswert stimulierte Lymphknotenstruktur. a Schematische Darstellung.

b Histologische Darstellung. Giemsa, Vergr. 30fach.

Chronische unspezifische Lymphadenitis Im Rahmen der chronischen unspezifischen Lymphadenitiden (Abb. 22-5a, b) kommt es zur Hyperplasie der einzelnen vornehmlich reagierenden lymphatischen Kompartimente, die im Folgenden beschrieben werden. Folge ist eine langsame Größenzunahme der Lymphknoten v.a. im Zervikal-, Submandibulär- und Inguinalbereich. Die Lymphknoten sind meist nicht druckschmerzhaft und auf ihrer Unterlage verschieblich.

Hyperplasie der B-Zone (follikuläre Hyperplasie) Die follikuläre Hyperplasie (Abb. 22-6a, b) stellt den Prototyp der unspezifischen Lymphadenitis dar. Die Follikel in der Kortikalzone des Lymphknotens sind vermehrt und vergrößert, wobei die Vergrößerung der Keimzentren auf eine Zentroblastenvermehrung zurückzuführen ist. Diese wiederum ist das morphologische Korrelat der B-Zell-Antwort auf eine immunologische Stimulation. Gegenüber den zahlreichen B-Zellen, die das Keimzentrum „verdunkeln“, heben sich die Makrophagen mit ihrem hellen und breiten Zytoplasmasaum wie Sterne ab (sog. Sternhimmelbild der Makrophagen).

Abb. 22-6 Follikuläre Hyperplasie.

Zahlreiche Lymphfollikel, die große Keimzentren und einen nur schmalen Follikelmantel besitzen. Eine Konfluens der Lymphfollikel findet sich bei der HIV-assoziierten Lymphadenopathie. a

Schematische Darstellung.

b

Histologische Darstellung. Giemsa, Vergr. 60fach.

Abb. 22-7

Hyperplasie der T-Zone.

Die T-Zonen breiten sich zwischen den Follikeln bis in den Subkapsulärraum aus. Bei der dermatopathischen Lymphadenitis sind diese Zellen extrem vermehrt und reichen bis unmittelbar unter die Lymphknotenkapsel. a Schematische Darstellung. b Histologische Darstellung. Giemsa, Vergr. 30fach. c Histologische Darstellung. Die hellen Herde entsprechen einer Vermehrung interdigitierender dendritischer Zellen. Giemsa, Vergr. 200fach. Follikuläre Hyperplasien treten u.a. auch bei folgenden Grunderkrankungen auf: ■ HIV-Infektion im Stadium der Lymphadenopathie ■ rheumatoider Arthritis ■ systemischem Lupus erythematodes (SLE) ■ Lues I und II ■ Toxoplasmose (Piringer-Lymphadenitis) ■ zervikaler Lymphadenitis bei Entzündung im Zustromgebiet.

Hyperplasie der T-Zone (Parakortikalzone) Die Verbreiterung der Parakortikalzone (Abb. 22-7a–c) geht mit Vermehrung ihrer Strukturbestandteile (T-Lymphozyten, epitheloide Venolen, interdigitierende Retikulumzellen, einzelne Blasten) einher. Sie stellt das morphologische Korrelat einer primären T-Zell-Antwort auf eine immunologische Stimulation dar. Neben einer Hyperplasie im Rahmen der chronischen unspezifischen Lymphadenitis findet sich eine Hyperplasie der T-Zone auch bei der nekrotisierenden Lymphadenitis (Kikuchi-Lymphadenitis) sowie bei der Toxoplasmose (= Piringer-Lymphadenitis) und als Spezialform bei der dermatopathischen Lymphadenitis (siehe unten).

Bunte Pulpahyperplasie und Plasmazellhyperplasie Die bunte Pulpahyperplasie und die Plasmazellhyperplasie haben eine Verbreiterung der Pulpa mit einem bunten Zellbild gemeinsam. Bei der bunten Pulpahyperplasie (Abb. 22-8a–d) sind Lymphozyten und zahlreiche Blasten, v.a. Immunoblasten, im Bereich der Lymphknotenpulpa und übergreifend auf die Parakortikalzone vermehrt. Der Gehalt an Plasmazellen ist unterschiedlich ausgeprägt. Bei der Plasmazellhyperplasie steht die Vermehrung reifer Plasmazellen im Bereich der Pulpa im Vordergrund. Die Pulpahyperplasie findet sich bei chronischer unspezifischer Lymphadenitis, bei Toxoplasmose sowie bei der retikulozytär-abszedierenden Lymphadenitis

(siehe unten). Auch Infektionen mit Herpes-zoster- und Herpes-simplex-Viren können ein ähnliches Bild hervorrufen. Eine Plasmazellhyperplasie entsteht im Rahmen einer rheumatoiden Arthritis, im Stadium der Lymphadenopathie bei AIDS, bei Röteln, beim Morbus Castleman und bei Sepsis.

Hyperplasie der Sinus (Sinushistiozytose) Randsinus und Intermediärsinus sind die Orte der ersten immunologischen Reaktion des Lymphknotens auf Fremdstoffe, mikrobielle Erreger und diverse andere Antigene. Im Rahmen dieser Interaktion kommt es zur Vermehrung von Sinusendothelien, Histiozyten, Lymphozyten (monozytoide B-Zellen) und damit zur Sinusverbreiterung.

Abb. 22-8 Bunte Pulpahyperplasie bei infektiöser Mononukleose.

a (schematische Darstellung) und b In der frühen Phase findet eine Zerstörung der Lymphknotenarchitektur statt. Einzelne Lymphknotenfollikel bleiben erhalten. Giemsa, Vergr. 60fach. c Ausgeprägte Pulpahyperplasie mit zahlreichen Blasten und Makrophagen. Giemsa, Vergr. 300fach.

d „Rasen“ von Blasten im fortgeschrittenen Stadium. Giemsa, Vergr. 800fach. Der Sinuskatarrh (= reife Sinushistiozytose) ist eine unspezifische Begleitreaktion in den Lymphknotensinus bei vielen Formen der chronischen Lymphadenitis und geht v.a. mit einer Histiozytenvermehrung einher. Besonders ausgeprägt ist die reife Sinushistiozytose bei Lymphknoten im Zustromgebiet von Karzinomen. Die monozytoide B-Zell-Reaktion (= unreife Sinushistiozytose) lässt sich bei der Toxoplasmose (= Piringer-Lymphadenitis), der Lymphadenopathie bei HIVInfektion, der infektiösen Mononukleose und bei der chronischen unspezifischen Lymphadenitis nachweisen. Bei der monozytoiden B-Zell-Reaktion sind die B-Lymphozyten (sog. monozytoide B-Zellen) im Bereich der subkapsulären und peritrabekulären Sinus vermehrt. Die Sinuswandungen bleiben erhalten, die monozytoiden B-Zellen treten nicht in das perisinusoidale Gewebe über. Bevor eine immunologische Charakterisierung möglich war, wurden diese Zellen in den Sinus für unreife Makrophagen gehalten, daher der Name „unreife Sinushistiozytose“.

Beispiele für Lymphadenitiden mit charakteristischem morphologischem Bild Lymphadenopathie bei HIV-Infektion Die Lymphadenopathie ist die früheste morphologisch erkennbare Lymphknotenveränderung bei einer HIV-Infektion. Es liegt eine generalisierte Lymphknotenschwellung mit einer exzessiven follikulären Hyperplasie vor. Im Vordergrund steht eine extreme Vergrößerung der Keimzentren, die auf die große Anzahl von Zentroblasten zurückzuführen ist. Die vergrößerten Keimzentren gehen teilweise ineinander über (Konfluenz). Da sie nur von einem sehr schmalen Follikelmantelsaum umgeben sind, erscheinen sie häufig „nackt“ (Abb. 22-9). Die normale Grundstruktur des Keimzentrums bleibt aber erhalten. Häufig findet sich zusätzlich eine sog. unreife Sinushistiozytose (monozytoide B-Zell-Reaktion). Mit Fortschreiten der HIV-Infektion kommt es zu einer Follikelinvolution. Die starke Gefäßproliferation und der zunehmende Verlust von Keimzentren führen zu einer Schrumpfung des Follikels, zur Zellverarmung und schließlich zu einer Lymphozytendepletion.

Abb. 22-9 Lymphadenopathie bei HIV-Infektion.

Große, teilweise konfluierende Keimzentren mit schmalem Follikelmantel, dargestellt durch dendritische Retikulumzellen. Immunhistochemie, APAAPMethode, Antikörper CD23; Vergr. 100fach.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Im Stadium der Lymphadenopathie haben die Patienten generalisierte Lymphknotenschwellungen, die häufig zur Erstdiagnose führen. Im Stadium der follikulären Involution gehen die Lymphknotenschwellungen zurück, die Zahl der CD4-positiven T-Lymphozyten nimmt ab und damit die Funktion der THelferzellen. Im Stadium der Lymphozytendepletion treten schließlich opportunistische Infektionen auf.

Lymphadenopathie bei rheumatoider Arthritis Etwa 50% der Patienten mit rheumatoider Arthritis entwickeln im Laufe ihrer Erkrankung Lymphknotenschwellungen. Die Lymphknotenbiopsie kann zur Klärung der Grunderkrankung beitragen: Es findet sich eine ausgeprägte follikuläre Hyperplasie, welche die Lymphknotenkapsel sogar überschreiten kann. Die Zahl der Plasmazellen ist deutlich vermehrt. Das Risiko der Lymphomentstehung ist bei diesen Patienten gering erhöht.

Morbus Castleman Syn.: angiofollikuläre Lymphknotenhyperplasie, benignes Lymphom Castleman Beim Morbus Castleman liegt eine lokalisierte oder generalisierte Hyperplasie regressiv veränderter, z.T. hyalinisierter Keimzentren vor. Je nachdem, ob diese mit einer Vermehrung von Gefäßen oder von Plasmazellen verbunden ist, unterscheidet man einen hyalinvaskulären und einen plasmazellreichen Typ. Die ätiologie ist unklar. Da die vaskulären Proliferationen auch bei Kaposi-Sarkomen immunsupprimierter Patienten (z.B. durch HIV-Infektion) auftreten, nimmt man eine immunologische Störung der T-Zell-Funktion an. Beim hyalinvaskulären Typ sind die Keimzentren zwiebelschalenartig hyalinisiert. Gefäße mit ebenfalls hyalinisierter Wandung wachsen aus der Umgebung in die Follikel hinein (Abb. 22-10a, b). Vor allem die ausgeprägte Pulpahyperplasie führt zur Lymphknotenvergrößerung. Der plasmazellreiche Typ zeigt ähnliche Keimzentrumsveränderungen, aber mit geringer Hyalinisierung und ausgeprägter Plasmozytose in den Interfollikulärarealen. Die Plasmazellen können monoklonal sein (siehe unten).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Ganz überwiegend handelt es sich um einen solitären Prozess, der in etwa 40% zervikal, in 14% axillär und in 12% mediastinal lokalisiert ist. Hiervon ist die multizentrische Form abzugrenzen, die im Gegensatz zum solitären Typ häufig einen rasch progredienten Verlauf nimmt und mit generalisierter Lymphadenopathie einhergeht. Ebenso wie die generalisierte Form kann auch die solitäre Form mit einer Splenomegalie assoziiert sein. Gelegentlich sind monoklonale Gammopathien nachweisbar. Die generalisierte Form kann in Assoziation mit Polyneuropathie, Organomegalie, Endokrinopathie, monoklonaler Gammopathie und Haut-(Skin)Veränderungen auftreten und wird dann als sog. POEMS-Syndrom bezeichnet, bei dem sich erhöhte Zytokinspiegel (IL-6) finden.

Abb. 22-10 Typ.

Morbus Castleman: hyalinvaskulärer

a Die Follikel weisen kleine Keimzentren auf, die Interfollikulärräume sind gefäßreich. HE, Vergr. 60fach. b Die Keimzentren zeigen einen zwiebelschalenartigen Aufbau und sind klein. Man sieht Gefäßeinsprossungen (Pfeil).

Progressiv transformierte Keimzentren (PTG) Die kleinen Lymphozyten des Follikelmantels besiedeln im Laufe der Erkrankung zunehmend die Keimzentren, die sich dabei vergrößern, bis sie schließlich völlig durch die Follikelmantelzellen eingenommen sind. Die so veränderten

Keimzentren werden von einem lockeren Netzwerk follikulärer dendritischer Retikulumzellen durchsetzt. Die Ursache der PTG ist unbekannt.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Lymphknotenschwellung geht meist spontan zurück. Vereinzelt werden rezidivierende Verläufe beobachtet. In diesen Fällen ist differentialdiagnostisch ein noduläres Paragranulom (lymphozytenreiche Form des Morbus Hodgkin) abzugrenzen (siehe Kap. 22.2.2).

Dermatopathische Lymphadenitis Bei entzündlichen Hauterkrankungen kommt es zu einer reaktiven Hyperplasie der T-Zone des entsprechenden Lymphknotens mit Vermehrung von interdigitierenden Retikulum- und Langerhans-Zellen. Die Parakortikalzone ist verbreitert und reicht bis unmittelbar unter die subkapsulären Sinus. Sie imponiert histologisch als heller knotiger Bereich mit Vermehrung von Makrophagen, interdigitierenden Retikulumzellen (IDZ) und Langerhans-Zellen. Dazwischen finden sich kleine TLymphozyten. Die Makrophagen enthalten häufig Melaninpigment. Begleitend finden sich einzelne eosinophile Granulozyten und Immunoblasten.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die beschriebenen Veränderungen lassen sich in Lymphknoten nachweisen, die im Zustromgebiet chronisch entzündeter Hautbereiche liegen (z.B. bei Neurodermitis, chronischem Ekzem). Sie sind überwiegend inguinal und axillär lokalisiert. Gleichartige Veränderungen finden sich auch bei Patienten mit kutanen T-Zell-Lymphomen (Sézary-Syndrom, Mycosis fungoides, siehe Kap. 22.2.2).

Infektiöse Mononukleose Syn.: Pfeiffer-Drüsenfieber Siehe auch Kap. 48.1.5. Es liegt eine erhebliche, z.T. rasenartige Vermehrung von Blasten und Plasmazellen primär in der Pulpa mit z.T. kleinherdigen Nekrosen vor. Die Lymphknotengrundstruktur kann dabei partiell zerstört werden (Abb. 228a, b).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Vor allem die zervikalen Lymphknoten sind betroffen und vergrößert. Daneben kommt es zu Tonsillitis und Splenomegalie. Im Blut lassen sich die typischen Pfeiffer-Zellen nachweisen, bei denen es sich um aktivierte, monozytenähnliche T-Lymphozyten handelt. Differentialdiagnostisch bedeutsam ist die Abgrenzung gegenüber einem hochmalignen Non-Hodgkin-Lymphom (siehe Kap. 22.2.2).

Ähnliche morphologische Bilder können bei Röteln (Lymphknoten im Nackenbereich) und Zytomegalievirusinfektion (Vorkommen von Viruseinschlusskörpern) beobachtet werden.

Rosai-Dorfman-Syndrom Syn.: Sinushistiozytose mit massiver Lymphadenopathie Es findet sich eine ausgeprägte bilaterale Vergrößerung der zervikalen Lymphknoten, die hauptsächlich auf die Verbreiterung der Sinus zurückzuführen ist. Die Sinus sind mit aktivierten Histiozyten gefüllt, die Erythrozyten und Lymphozyten phagozytieren (Lymphohämophagozytose). Gleichzeitig findet sich in den Sinus eine Vermehrung von Plasmazellen, Lymphozyten und neutrophilen Granulozyten. Auch extranodale Lokalisationen kommen vor. Die Ursache ist bis heute ungeklärt (Virus?).

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Erkrankung findet sich überwiegend in der schwarzen Bevölkerung. In Europa ist das Rosai-Dorfman-Syndrom selten und betrifft v.a. Jugendliche im Alter von 15–20 Jahren. Neben ausgeprägten Lymphknotenschwellungen können Allgemeinsymptome wie Fieber und Gewichtsverlust auftreten. In etwa der Hälfte der Fälle finden sich extranodale Manifestationen (Haut, oberer Respirationstrakt, Speicheldrüsen). Der Krankheitsverlauf ist überwiegend selbstlimitierend, laborchemisch finden sich allgemeine Entzündungszeichen.

Großherdige granulomatöse, epitheloidzellige Lymphadenitis mit Nekrose Tuberkulose (siehe Kap. 48.2.7). Diese Lymphadenitis entsteht nach Infektion mit Mycobacterium tuberculosis humanum oder bovinum. Typisches morphologisches Korrelat der Tuberkulose sind die Tuberkel (= tuberkulöse Granulome). Sie bestehen aus einer zentralen „käsigen“ (fibrillogranulären) Nekrose, die von einem Randwall unterschiedlich differenzierter Histiozyten/Epitheloidzellen und Lymphozyten umgeben ist. In der Frühform kann eine alleinige Epitheloidzellreaktion bestehen (DD: Toxoplasmose). Gelegentlich enthält die Nekrose vermehrt Zelldetritus und wird von einem breiten Epitheloidzellsaum umgeben (DD: Katzenkratzkrankheit). Eine ähnliche granulomatöse Lymphadenitis, jedoch meist ohne Nekrose, findet sich bei der Sarkoidose. Die Sarkoidose ist primär mit einer beidseitigen Lungenhilusverbreiterung assoziiert (siehe Kap. 47.1.7). Auch eine Epitheloidzellreaktion im Abflussgebiet von Karzinomen (sarcoid-like lesion) kann zu einer ähnlichen Form der Lymphadenitis führen. Die tuberkuloide Form der Lepra zeigt nichtverkäsende Granulome neben den typischen kutanen Läsionen und

Nerveninfiltrationen. Schließlich finden sich ähnliche Granulome auch beim Morbus Crohn sowie bei Histoplasmose und Brucellose. Die mykobakterielle histiozytäre Lymphadenitis tritt bei der atypischen Mykobakteriose auf, einer Infektionskrankheit, die durch Mycobacterium avium intracellulare hervorgerufen wird. Daran erkranken immunsupprimierte oder immundefiziente Patienten. Die Lymphknotenarchitektur ist gestört: Entsprechend dem reduzierten Immunstatus der Patienten sind die Lymphozyten vermindert. Ferner finden sich Rasen von Makrophagen/Histiozyten mit massenhaft phagozytierten Mykobakterien. Die typischen Nekrosen und Granulome fehlen, da offenbar der Organismus bei einer Depletion von CD4-positiven T-Zellen nicht mehr in der Lage ist, eine entsprechende Reaktion zur Abwehr dieser Mykobakterien zu induzieren.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Es handelt sich bei der Tuberkulose überwiegend um solitäre Lymphknotenschwellungen v.a. im zervikalen oder hilären Bereich. Wenn es im Rahmen des Entzündungsprozesses zur Einschmelzung des Lymphknotengewebes kommt, kann die Entzündung auf das angrenzende Weichgewebe übergreifen und v.a. im zervikalen Bereich zu einem sog. kalten Abszess führen. Die Erreger sind durch Anzüchtung in der Kultur oder mikroskopisch-histochemisch nachweisbar. Bei Nachweis einer fibrillogranulären („käsigen“) Nekrose ist der mikroskopische Erregernachweis (Auraminfärbung, Ziehl-Neelsen-Färbung) meist positiv.

Kleinherdige epitheloidzellige Lymphadenitis ohne Nekrose Lymphadenitis bei Toxoplasmose Syn.: Piringer-Lymphadenitis Die Lymphadenitis bei Toxoplasmose (siehe Kap. 48.4.3) ist durch eine kleinherdige, auch intrafollikulär gelegene Epitheloidzellreaktion mit monozytoider B-Zell-Reaktion (unreife Sinushistiozytose) gekennzeichnet. Die Lymphknotenkapsel ist häufig in die Entzündung mit einbezogen (Perilymphadenitis), die Lymphknotenstruktur ist erhalten (Abb. 22-11a, b). Es handelt sich in der vollen Ausprägung um ein weitgehend charakteristisches Bild. Derartige Veränderungen können allerdings auch bei der Frühform der infektiösen Mononukleose und bei der Leishmaniose beobachtet werden.

Abb. 22-11

Toxoplasmose.

a Großer Follikel mit floridem Keimzentrum, kleinen Epitheloidzellherden (Pfeil) sowie am Bildrand monozytoide B-ZellReaktion (Doppelpfeil). HE, Vergr. 100fach. b Die Kapsel ist entzündlich infiltriert (Perilymphadenitis). Unter der Kapsel monozytoide B-Zell-Reaktion sowie helle Epitheloidzellherde (Pfeile). HE, Vergr. 100fach.

Klinisch-pathologische Korrelationen Es sind v.a. zervikale oder nuchale Lymphknoten bei jüngeren Patienten betroffen. überwiegend liegt eine solitäre Lymphknotenschwellung vor, ohne dass eine klinische Allgemeinsymptomatik bestehen muss. Die übertragung

erfolgt vielfach über die Aufnahme von rohen Nahrungsmitteln, die mit Toxoplasma gondii verunreinigt sind. Schwere Verläufe einer Toxoplasmose werden bei immunsupprimierten Patienten beobachtet.

Pseudotuberkulöse Lymphadenitis Syn.: Lymphadenitis Masshoff-Knapp Die Erkrankung geht auf eine Infektion mit Yersinia pseudotuberculosis oder Yersinia enterocolitica zurück. Bei der pseudotuberkulösen Lymphadenitis finden sich retikulozytär-histiozytär begrenzte Nekroseherde und eine bunte Pulpahyperplasie. Bei der retikulozytär-abszedierenden Form finden sich zusätzlich Granulozyten neben zahlreichen Makrophagen. Bei Infektionen mit Yersinia enterocolitica entwickeln sich allerdings keine Nekrosen. Häufig ist auch die Lymphknotenkapsel in das entzündliche Geschehen einbezogen (Perilymphadenitis). Die Lymphknotengrundstruktur bleibt erhalten. Histologisch muss das Bild der unspezifischen mesenterialen Lymphadenitis abgegrenzt werden.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Es erkranken v.a. Kinder und Jugendliche. Aufgrund des Befalls ausschließlich mesenterialer Lymphknoten kann die pseudotuberkulöse Lymphadenitis eine akute Appendizitis vortäuschen.

Katzenkratzkrankheit Die Katzenkratzkrankheit zeigt ein gleichartiges morphologisches Substrat (retikulozytär-abszedierende Entzündung). Es sind überwiegend zervikale und axilläre Lymphknoten bei jugendlichen Patienten betroffen. Vergesellschaftet sind häufig Verletzungen der Haut im Zustromgebiet der Lymphknoten, v.a. Kratzverletzungen durch Katzen und Insektenstiche. In den meisten Fällen liegt eine Infektion durch Bartonella henselae vor.

Lymphogranuloma inguinale Das Lymphogranuloma inguinale wird durch Chlamydia lymphogranulomatosis hervorgerufen und sexuell übertragen. Entsprechend dem übertragungsmodus (Geschlechtskrankheit) sind primär inguinale Lymphknoten betroffen. Typisch ist die ausgeprägte Nekroseneigung der befallenen Lymphknoten. Auch hier müssen differentialdiagnostisch Lymphadenitiden durch atypische Mykobakterien oder durch Pilze in Betracht gezogen werden.

Histiozytär nekrotisierende Lymphadenitis Syn.: Kikuchi-Lymphadenitis Die Kikuchi-Lymphadenitis ist eine nekrotisierende Lymphadenitis ohne Granulozyten innerhalb der Nekrose. Sie tritt überwiegend in Asien, seltener in Europa auf. Ihre ätiologie ist ungeklärt. Unter anderem wurden erhöhte Titer gegen Yersinia enterocolitica nachgewiesen. Auch ein Zusammenhang mit einer EBVInfektion wird postuliert. Meist sind jüngere Frauen betroffen, bei denen eine Infektion im Nasen-Rachen-Raum vorausgegangen ist.

Morphologie Morphologisch findet sich eine T-Zell-Reaktion mit Verbreiterung der Parakortikalzone (T-Zone) und dem charakteristischen Nachweis von sog. plasmazytoiden Monozyten. Innerhalb derartiger Herde lassen sich vermehrt Apoptosen sowie von Histiozyten besiedelte kleine Nekrosen ohne neutrophile Granulozyten nachweisen. Das Fehlen der Granulozyten ist ein wichtiges differentialdiagnostisches Merkmal zur Abgrenzung gegenüber anderen nekrotisierenden Lymphadenitiden.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Lymphknotenschwellungen werden häufig von leichten Allgemeinsymptomen wie Fieber und Abgeschlagenheit begleitet. Eine antibiotische Therapie führt in einigen Fällen zum Abklingen der Lymphknotenschwellungen und der Allgemeinsymptome.

22.2.2

Neoplasien: maligne Lymphome

Maligne Lymphome sind autonome neoplastische Proliferationen lymphatischer Zellen, die den verschiedenen B- und T-Zell-Kompartimenten der primären, sekundären und der sekundär besiedelten lymphatischen Organe entstammen. Die Klassifikation unterscheidet grundsätzlich Hodgkin-Lymphome (HL) und Non-HodgkinLymphome (NHL). Während das Infiltrat beim Hodgkin-Lymphom nur zu einem kleinen Anteil aus Tumorzellen besteht (Hodgkin- und Sternberg-Reed-Zellen) und das nichtneoplastische Begleitinfiltrat aus Lymphozyten, Plasmazellen, Makrophagen und eosinophilen Granulozyten dominiert, überwiegen die Tumorzellen bei den Infiltraten der Non-Hodgkin-Lymphome. Diese können wiederum in B- und T-Zell-Lymphome unterteilt werden. Epidemiologie Die Prävalenz maligner Lymphome in Europa liegt bei etwa 5–7 pro 100 000 Einwohner. Es handelt sich dabei in 40% um Hodgkin-Lymphome und in 60% um Non-Hodgkin-Lymphome. In Europa machen die B-Zell-Lymphome ca. 80–85% der Non-Hodgkin-Lymphome aus. Nur ca. 15–20% sind T-zellulären Ursprungs.

Die quantitative Verteilung der beiden großen Lymphomgruppen und deren Subentitäten zeigt aber geographische Unterschiede. Follikuläre B-Zell-Lymphome des Keimzentrums (zentroblastisch-zentrozytisch) treten in den USA häufiger als in Europa auf. Die Häufigkeit des Hodgkin-Lymphoms ist dagegen in Europa bis zu dreimal höher als in den USA und Japan. In Japan wiederum kommen T-Zell-Lymphome häufiger vor. Insgesamt sind in Europa eine Zunahme der Non-Hodgkin-Lymphome, insbesondere der extranodalen Non-Hodgkin-Lymphome, und eine gleich bleibende Inzidenz der Hodgkin-Lymphome zu verzeichnen. Ätiologie Einige maligne Lymphome finden sich gehäuft in Endemiegebieten des Epstein-Barr-Virus (EBV) und des humanen T-Zell-Leukämie/Lymphom-Virus (HTLV1). So sind das gehäufte Auftreten von Burkitt-Lymphomen in Afrika mit der endemischen Ausbreitung von EBV und Malaria und die hohe Inzidenz von T-ZellLymphomen in Japan mit dem endemischen Vorkommen von HTLV-1 assoziiert. Definierte extranodale Lymphomentitäten im Nasen-Rachen-Raum mit EBVAssoziation kommen gehäuft in Asien vor (sog. NK/T-Zell-Lymphome). Außerdem steigt die Inzidenz des gastrointestinal lokalisierten Lymphoms vom MALT-Typ in Assoziation mit einer Helicobacter-pylori-Infektion der Magenschleimhaut (siehe Kap. 28.6.2 und 28.10.5). Diese Beobachtungen können als Hinweis für die Bedeutung von exogenen Einflüssen (z.B. Umwelt, Nahrung, Erreger) für eine Lymphomentstehung gewertet werden. Daneben spielen immunologischer Status und genetischer Hintergrund des Individuums eine Rolle. Klassifikation Rudolf Virchow wählte 1858 erstmals den Begriff „Lymphom“. Sir Thomas Hodgkin beschrieb 1832 Lymphknotenveränderungen, die 30 Jahre später als Morbus Hodgkin bezeichnet wurden. Diese frühen Beobachtungen legten den Grundstein für die noch heute gültige Unterteilung der malignen Lymphome in Hodgkin- und Non-Hodgkin-Lymphome. Die immer besseren und vielfältigeren Möglichkeiten der morphologischen Analyse, gestützt durch die Immunhistochemie, führten schnell zum Nachweis einer Vielfalt von Lymphomen und damit zu einer Zunahme gegeneinander abgrenzbarer Entitäten. Die Einteilung maligner Lymphome orientierte sich primär am Wachstumsmuster (USA) oder an zytologischen Gesichtspunkten (Europa) des Infiltrats. Die im Rahmen der Kiel-Klassifikation eingeführte zytologische Betrachtungsweise bezieht sich auf morphologische und z.T. auch funktionelle ähnlichkeiten und/oder Beziehungen zwischen dem normalen Zellkompartiment und der aus ihm hervorgegangenen Neoplasie. Die Kiel-Klassifikation wurde 1974/75 in Kiel von den Arbeitsgruppen um Lennert etabliert und 1988–92 erweitert. Sie basiert auf einer genauen zytologischen Beschreibung und Klassifikation der neoplastischen Zellen und unterscheidet Neoplasien des B- und T-Zell-Systems.

Die Kiel-Klassifikation wurde primär für nodale Lymphome (Primärlokalisation im Lymphknoten) etabliert. Extranodale Lymphome können zwar ein identisches morphologisches Bild zeigen, weisen jedoch vielfach auch klinisch Unterschiede zu den nodalen Lymphomen auf. Extranodale lymphatische Kompartimente verfügen über eigene ortsständige immunkompetente Zellen mit einem Homing-Mechanismus, sodass hieraus Lymphome mit einer z.T. charakteristischen Morphologie und typischen Besiedlung definierter Organe entstehen. Dadurch zeigen derartige Lymphome teilweise ein besonderes klinisches Bild (spezielle klinisch-pathologische Entität). Der Prototyp einer solchen extranodalen lymphatischen Neoplasie ist das Lymphom vom MALT-Typ. Mit der REAL-Klassifikation (Revised European American Lymphoma Classification) von 1994 wurde versucht, einen Konsens zwischen den in den USA und in Europa gebräuchlichen Klassifikationen herzustellen. Sie basierte grundsätzlich auf der KielKlassifikation. Darüber hinaus berücksichtigte sie bereits definierte extranodale Lymphomentitäten sowie einzelne seltene neue Lymphomgruppen. Ferner schloss sie den Morbus Hodgkin tabellarisch mit ein. Das Ziel war auch hier die Definition klinisch-pathologischer Krankheitsgruppen. In der Fortsetzung der REAL-Klassifikation wurde 2001 die WHO-Klassifikation publiziert, die heute als international akzeptierte Klassifikation Anwendung findet. Die Basis sind auch hier eine Unterteilung in B-und T-Zell-Lymphome und eine Unterscheidung nodaler und extranodaler Lymphome. Die Ergebnisse der diagnostischen Anwendung von Immunhistochemie und Genetik (chromosomale Aberrationen) sowie klinische Daten finden nun auch teilweise Niederschlag in der Definition klinisch-pathologischer Entitäten. Die ursprüngliche Einteilung in niedrigund hochmaligne Lymphome wurde aufgegeben. In Analogie zu dieser Einteilung in der Kiel-Klassifikation kann man heute allerdings von kleinzelligen und blastischen Lymphomen sprechen. Dies ist gelegentlich notwendig, wenn eine exakte Subtypisierung nicht möglich ist, um eine Strategie für die klinische Behandlung festzulegen. Folgende allgemeine Kriterien werden somit für die Definition klinischpathologischer Lymphomentitäten herangezogen: ■

zytologisches Bild der neoplastischen Zellen



zelluläre Herkunft (B- oder T-Zell-System)



überwiegend kleinzelliges oder blastisches Infiltrat



Lokalisation des Lymphoms (primär nodal oder extranodal)



Malignitätsgrad (Grading, entsprechend dem Gehalt an Blasten)



Wachstumsmuster (follikulär-knotig oder diffus)

■ Zusammensetzung des Mikromilieus (begleitendes entzündliches Infiltrat, akzessorische Zellen) ■

Immunphänotyp



typische genetische Aberrationen



Assoziation mit anderen Erkrankungen



klinische Präsentation.

Die Immunphänotypisierung der Lymphome ist heute ein unverzichtbares Hilfsmittel zur Ergänzung der Morphologie und zur Objektivierung der Diagnose geworden.

Pathogenese

Die Gesamtheit der Beobachtungen führt zu zwei möglichen pathogenetischen Konzepten, die die Vielfalt der malignen Lymphome erklären können: ■ In Analogie zu Neoplasien der Myelopoese können auch im lymphatischen Gewebe Neoplasien entstehen, deren transformierender Defekt auf einer frühen Ebene der zellulären Differenzierung stattfindet und die dennoch in der Lage sind, Differenzierungs- und Reifungsschritte zu vollziehen. ■ Alternativ besteht die Möglichkeit, dass transformierende Ereignisse auf den verschiedenen Stufen der zellulären Differenzierung stattfinden und damit ein Reifungs- oder Differenzierungsstopp induziert wird. Die lymphatische Neoplasie stellt somit ein neoplastisches äquivalent eines „eingefrorenen“ Differenzierungszustandes normaler lymphatischer Zellen dar. Das Verständnis der Biologie lymphatischer Neoplasien hat gezeigt, dass eine Kombination beider Postulate der Realität am nächsten kommt. Betrachtet man die lymphatischen Neoplasien auf ihrem Weg von der normalen lymphatischen Ausgangszelle zur manifesten Neoplasie, so handelt es sich um einen Mehrschrittmechanismus, d.h., mehrere auf chromosomaler (genetischer) Ebene stattfindende Ereignisse sind hintereinander geschaltet und führen zur Manifestation eines malignen Lymphoms. Solche Ereignisse können zu deregulierter Expression (z.B. überproduktion) oder aberranter Expression (neues Protein) von Faktoren führen. Hierdurch können sowohl klinische Symptome (z.B. Fieber), das Mikromilieu (Eosinophilie beim Morbus Hodgkin durch IL-5) oder das Tumorwachstum (autokrin – parakrin) selbst beeinflusst werden. Die Erkennung solcher Mechanismen ist von Bedeutung, da deren Beeinflussung oder Durchbrechung zukünftige klinische Strategien zur Behandlung maligner Lymphome mit wachstumsregulierenden Agenzien wesentlich bestimmen wird.

Klinisch-pathologische Korrelationen Zwei Drittel der Patienten mit Non-Hodgkin-Lymphomen haben schmerzlose Lymphknotenschwellungen. Ein Befall des Waldeyer-Rachenrings oder mesenterialer Lymphknoten findet sich häufiger bei Non-Hodgkin-Lymphomen als beim HodgkinLymphom. Im Gegensatz hierzu besteht beim Hodgkin-Lymphom häufiger eine sog. B-Symptomatik (Gewichtsverlust, Fieber, Nachtschweiß). Neben der morphologisch definierten Lymphomentität unter Einschluss des Malignitätsgrades sowie der B- oder T-Zell-Herkunft sind klinische Kriterien wichtig, wie Lokalisation, Ausbreitungsstadium (siehe Tab. 22-9), Vorhandensein einer BSymptomatik und einzelne Laborparameter. In der Zusammenfassung dieser Erkenntnisse wurde ein „internationaler prognostischer Index“ (IPI) entwickelt, der bei den Non-Hodgkin-Lymphomen auf der Basis von fünf prognostisch negativen Faktoren eine sehr gute Abschätzung der Prognose erlaubt. Diese fünf klinischen Risikoparameter sind: ■

Alter ≥ 60 Jahre



erhöhter Serumspiegel der Laktatdehydrogenase



Leistungsstatus (Karnofsky-Index) ≤ 70



Ann-Arbor-Stadium III oder IV



eine extranodale Struktur befallen.

Kleinzellige Lymphome (nach der Kiel-Klassifikation niedrigmaligne Lymphome) zeichnen sich durch eine geringe Proliferationsrate und damit durch einen relativ günstigen spontanen Verlauf aus, sodass z.T. auf eine Behandlung über mehrere Jahre verzichtet werden kann. Ein Teil dieser Lymphome ist potentiell heilbar, zumindest in frühen Stadien. Bei Auftreten von B-Symptomen, einer Anämie und/oder Thrombopenie sowie deutlicher Progression der Tumormasse muss dann behandelt werden. Blastische Lymphome (nach der Kiel-Klassifikation hochmaligne Lymphome) zeigen eine hohe Proliferationsrate und damit klinisch die Tendenz zur schnellen Generalisation. Daher wird nach Diagnosestellung eine intensive Therapie angestrebt. Die grundsätzliche Unterteilung in kleinzellige und blastische Lymphome erlaubt es, übergänge niedrigmaligner in hochmaligne Lymphome zu erfassen. Dies ist prognostisch und therapeutisch bedeutsam, da sekundäre blastische Lymphome eine ungünstigere Prognose als primäre haben.

Non-Hodgkin-Lymphome – Allgemeines Die Non-Hodgkin-Lymphome entwickeln sich zu etwa 80–85% aus dem B-Zell-, zu 15–20% aus dem T-Zell-System. Zwei Drittel dieser Lymphome zeigen primär eine nodale Manifestation mit teilweise sekundärer extranodaler Besiedlung, ein Drittel tritt primär extranodal auf. Extranodale Lymphome manifestieren sich überwiegend in der Haut und im Gastrointestinaltrakt. Nodale Lymphome besiedeln sekundär v.a. die Milz, die Leber, das Knochenmark und den Gastrointestinaltrakt. Insbesondere nodale Lymphome können ein leukämisches Blutbild zeigen. Maligne Lymphome manifestieren sich also ggf. bei Knochenmarkbefall und Ausschwemmung der Tumorzellen in das Blut als Leukämie (siehe Kap. 21.7.1). Epidemiologie Das mittlere Erkrankungsalter sowohl für niedrig- als auch für hochmaligne Non-Hodgkin-Lymphome liegt zwischen 60 und 70 Jahren. Im Kindesalter entwickeln sich v.a. das lymphoblastische Lymphom (akute lymphozytische Leukämie), das Burkitt-Lymphom sowie das großzellig-anaplastische Lymphom. Niedrigmaligne Lymphome kommen vor dem 15. Lebensjahr kaum vor. Durch die Ausbreitung der HIV-Infektion und den vermehrten Einsatz immunsuppressiver Therapie nach Organtransplantationen nimmt die Zahl extranodaler Lymphome zu. Eine große Zahl derartiger Lymphome manifestiert sich primär im ZNS. Weitere Assoziationen zwischen dem Auftreten von Lymphomen und viralen bzw. bakteriellen Infektionen sind für EBV, HTLV-1, Hepatitis-C-Virus, humanes Herpesvirus 8 und Helicobacter pylori beschrieben. Einteilung Die Non-Hodgkin-Lymphome entsprechen arretierten Differenzierungsstufen der jeweiligen normalen Ausgangszellpopulation. Dabei sind heute nicht alle physiologischen Differenzierungsstufen bekannt (Abb. 22-12). Grundsätzlich werden Lymphome der unreifen T- und B-Vorläufer-Zellen (Lymphoblasten) von reifzelligen oder sog. peripheren B- und T-Zell-Lymphomen unterschieden. Die Benennung folgt meist dem jeweils vorherrschenden zytologisch erkennbaren Zelltyp, wobei die kleinzelligen Lymphome überwiegend aus Lymphozyten oder ihnen verwandten Zellen bestehen, während sich die blastischen Lymphome überwiegend aus Blasten zusammensetzen. Im Folgenden werden die malignen Non-Hodgkin-Lymphome nach der WHOKlassifikation ausgeführt (Tab. 22-3).

Kleinzellige B-Zell-Lymphome (Tab. 22-3, 22-4, Abb. 22-13) Die kleinzelligen B-Zell-Lymphome bestehen aus überwiegend kleinen bis mittelgroßen Zellen mit relativ dichtem Kernchromatin und meist schmalem Zytoplasmasaum. Sie entsprechen damit hauptsächlich Lymphozyten und deren Varianten. Diese Lymphome verlaufen langsam progredient. Aufgrund der geringen

Proliferationstendenz im Vergleich zu blastischen Lymphomen besteht ein vermindertes Ansprechen auf Chemotherapie, d.h., der Verlauf dieser Lymphome kann durch eine Therapie zwar positiv beeinflusst werden, jedoch ist nur in einigen Fällen eine Heilung im Frühstadium möglich.

Abb. 22-12

Differenzierungsschritte der B-Zell-Reihe

(z.T. noch hypothetisch) und Zuordnung zu definierten B-Zell-LymphomEntitäten.

Lymphozytische Lymphome Es handelt sich um Lymphome, die aus kleinen Lymphozyten bestehen. Dazu gehören die Entitäten ■ chronische lymphozytische Leukämie (B-CLL) ■ lymphoplasmozytisches Lymphom (Immunozytom, IC) ■ Prolymphozytenleukämie (B-PLL) ■ Haarzellenleukämie (HCL).

Tab. 22-3 B-Zell-Lymphome/Leukämien – WHOKlassifikation. Vorläufer-B-Zell-Neoplasien ■

Vorläufer B-lymphoblastisches Lymphom/Leukämie

Reifzellige B-Zell-Neoplasien ■ chronische lymphozytische Leukämie/kleinzelliges lymphozytisches Lymphom ■

B-Zell-Prolymphozytenleukämie



lymphoplasmozytisches Lymphom



splenisches Marginalzonenlymphom



Haarzellenleukämie



Plasmozytom



extranodales Marginalzonenlymphom des MALT



nodales Marginalzonenlymphom



follikuläres Lymphom



Mantelzell-Lymphom



diffus großzelliges B-Zell-Lymphom



mediastinales großzelliges B-Zell-Lymphom



intravaskuläres großzelliges B-Zell-Lymphom



primäres Ergusslymphom



Burkitt-Lymphom/Leukämie

Chronische lymphozytische Leukämie, lymphoplasmozytisches Lymphom und Prolymphozytenleukämie Siehe auch Kap. 21.8.3. Es handelt sich um eine neoplastische Proliferation kleiner Lymphozyten. Eingestreut sind Prolymphozyten, Blasten und plasmozytoide oder plasmozytisch differenzierte Zellen, die kleine follikelähnliche („pseudofollikuläre“) Strukturen bilden (Abb. 22-14a, b). Beherrschen Prolymphozyten das Bild, so liegt eine Prolymphozytenleukämie vor. Die Erkrankung geht überwiegend mit Knochenmarkbefall und leukämischem Blutbild einher. Zeigen die plasmozytisch differenzierten Zellen eine monoklonale Immunglobulinexpression, so handelt es sich um ein lymphoplasmozytisches Lymphom, das klinisch gelegentlich als Morbus Waldenström imponiert. Die Lymphomzellen sind positiv für IgM, IgD, CD5 und CD23, negativ für CD10. Dieser Phänotyp entspricht dem einiger zirkulierender B-Lymphozyten, sodass hieraus die Herkunft abgeleitet werden kann. Chromosomale Veränderungen sind durch Trisomie 12, Abnormitäten von 13q u.a. gekennzeichnet.

Klinisch-pathologische Korrelationen Mehr als 50% der Patienten befinden sich bei Diagnosestellung bereits in einem fortgeschrittenen Krankheitsstadium (Grad II oder III nach Rai; Tab. 22-5). Charakteristisch sind periphere Lymphknotenschwellungen, diffuser Knochenmarkbefall (in über 90%) und ein leukämisches Blutbild. Der Knochenmarkbefall führt zu Anämie, Thrombozytopenie sowie Leukozytopenie (Grad III und IV nach Rai) mit Leistungsminderung, Blutungsneigung und Infektanfälligkeit. Etwa 5% der B-CLL gehen durch Konfluenz der Pseudofollikel in eine Tumor bildende Form über, die klinisch häufig als Prolymphozytenleukämie imponiert. Der übergang manifestiert sich durch eine massive Zunahme der Lymphknotenschwellungen. Etwa 5% gehen terminal in ein hochmalignes Non-Hodgkin-Lymphom über (siehe unten).

Abb. 22-13 Schematische Darstellung der Zytopathologie der B-Zell-Lymphome.

B-CLL = chronische lymphozytische Leukämie, IC = lymphoplasmozytisches Immunozytom, HCL = Haarzellenleukämie, FLL = follikuläres Lymphom, MZeL= Mantelzell-Lymphom, CBL = zentroblastisches Lymphom, IBL = immunoblastisches Lymphom vom B-Zell-Typ, ALCL = anaplastisch großzelliges Lymphom vom B-Zell-Typ, BL = Burkitt-Lymphom, LBL = lymphoblastisches Lymphom.

Tab. 22-4 Immunphänotyp und häufige chromosomale Veränderungen bei niedrigmalignen Non-Hodgkin-Lymphomen der BZell-Reihe. (et al., Böcker. Pathologie, 3.A.. Elsevier GmbH, Urban & Fischer Verlag).

B-CLL = chronische lymphozytische Leukämie, B-Typ; HCL = Haarzellenleukämie; IC = lymphoplasmazytisches Lymphom; FL = follikuläres Lymphom; MZeL = Mantelzell-Lymphom; MZoL = Marginalzonen-Lymphom

Abb. 22-14 Chronische lymphozytische Leukämie (B-CLL).

a Diffuses Lymphknoteninfiltrat, unterbrochen durch helle Herde, die reich an Prolymphozyten und Paraimmunoblasten (pseudofollikulär) sind. Giemsa, Vergr. 100fach. b Ausschnitt aus einem Pseudofollikel mit Prolymphozyten und Paraimmunoblasten. Giemsa, Vergr. 700fach.

Haarzellenleukämie (HCL) Siehe auch Kap. 21.8.5. Es handelt sich um eine Neoplasie, bestehend aus kleinen Lymphozyten mit konstantem Knochenmarkbefall sowie Leukopenie und Splenomegalie. Typisch für diese Lymphozyten sind kleine haarartige Zytoplasmafortsätze im Blutausstrich. Knochenmark und Milz sind konstant befallen. Dies führt zu einer Verdrängung der Myelopoese und einer charakteristischen Markfibrose. Der seltene Befall von Lymphknoten erfolgt sekundär. Die Lymphomzellen sind positiv für CD11c, CD25 und CD103. Die Ursprungspopulation ist unbekannt. Die Tumorzellen zeigen unterschiedliche und uncharakteristische nummerische und strukturelle Chromosomenanomalien.

Tab. 22-5 Rai-Klassifikation für die chronische lymphozytische Leukämie. Grad 0 keine Lymphknotenvergrößerung Grad I Lymphknotenvergrößerung Grad II Hepato- oder Splenomegalie Grad III Anämie Grad IV Thrombozytopenie

Klinisch-pathologische Korrelationen Bei mehr als zwei Drittel der Betroffenen kommt es aufgrund der Knochenmarkinfiltration und Markfibrose zu einer Leukopenie (oder Panzytopenie). Ferner besteht eine Splenomegalie. Durch eine immunmodulierende Therapie mit Interferon-γ können bei der Mehrzahl der Patienten Teil- oder Vollremissionen erzielt werden. Bei Absetzen der Therapie entwickeln sich Rezidive.

Lymphoplasmozytisches Lymphom (Immunozytom, IC) Es handelt sich um eine Neoplasie kleiner Lymphozyten sowie Zellen mit plasmozytoider oder plasmozytischer Ausreifung und monoklonaler zytoplasmatischer Immunglobulinproduktion. Die plasmozytoiden Zellen nehmen morphologisch eine Zwischenstellung zwischen Lymphozyten und Plasmazellen ein. Bei 30% der Patienten ist eine monoklonale Gammopathie nachweisbar (Morbus Waldenström). Der Immunphänotyp zeigt eine weitgehende übereinstimmung mit der B-CLL. Die Zellen sind teilweise allerdings negativ für CD5 und/oder CD23. Die Ursprungspopulation sind wahrscheinlich die Follikelmantelzellen. Chromosomale Veränderungen der Tumorzellen sind u.a. Trisomie 12 und Translokation t(9;14).

Klinisch-pathologische Korrelationen

ähnlich der B-CLL haben ca. 60% der Patienten ein leukämisches Blutbild, etwa 70% eine Knochenmarkinfiltration. Bei ca. einem Drittel sind im Serum eine monoklonale Gammopathie (Makroglobulinämie Waldenström) und/oder eine Bence-Jones-Proteinurie nachweisbar. Häufig findet sich eine mittelgradige Splenomegalie als Ausdruck der Lymphominfiltration. 10% der Patienten entwickeln eine hämolytische Anämie. Etwa 5% der Immunozytome gehen in ein hochmalignes immunoblastisches Lymphom (siehe unten) über. Das Immunozytom kann isoliert in Haut, Milz oder Gehirn auftreten, ohne dass die Lymphknoten befallen sind.

Plasmozytisches Lymphom/Plasmozytom In diese Gruppe gehören nur die „extramedullären“ Plasmozytome (siehe auch Kap. 21.8.1), die primär im lymphatischen Gewebe (Lymphknoten, Tonsillen, mukosaassoziiertes lymphatisches System, Respirationstrakt) entwickelt sind. Der Tumor besteht aus hochdifferenzierten (reifen) Plasmazellen; Immunoblasten, unreife Plasmazellen und Lymphozyten fehlen. Es besteht somit ein monotones (kleinzelliges) morphologisches Bild. Allerdings können auch Riesenformen von Plasmazellen und mehrkernige Plasmazellen eingestreut sein. Häufig kommt es zu einer Amyloidablagerung. In den Tumorzellen lassen sich IgA, seltener IgG oder IgM nachweisen (Immunglobulin-Leichtkettenrestriktion).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die Erkrankung ist selten. Betroffen sind Patienten im 4.–7. Lebensjahrzehnt, wobei Männer überwiegen. Im Allgemeinen besteht keine Paraproteinämie. Die Prognose ist besser als die des medullären Plasmozytoms (Morbus Kahler).

Follikuläres Lymphom Grad I–III Es handelt sich um eine neoplastische Proliferation der Keimzentrumszellen (Zentrozyten, Zentroblasten) mit gleichzeitigem Vorkommen von nichtneoplastischen follikulären dendritischen Zellen und T-Zellen. Die Zentrozyten sind mit einem meist kleinen Anteil von Zentroblasten untermischt. Diese Lymphome imitieren das follikuläre Wachstum von normalen Keimzentren (follikuläres Lymphom Grad I und II; Abb. 22-15). Etwa ein Drittel der Betroffenen zeigt zusätzlich ein diffuses Wachstum. Sind Blasten in dichteren Herden angeordnet oder überwiegen sie, so ist dies als Zeichen eines übergangs in ein blastisches (zentroblastisches) Lymphom zu werten (follikuläres Lymphom Grad III). Charakteristisch sind die Expression von CD10 und eine fehlende Expression von CD5 und CD23. Neoplastische Keimzentrumszellen exprimieren im Gegensatz zu reaktiven Keimzentrumszellen (siehe Kap. 22.2.1) das bcl2-Onkoprotein. In mehr als 90% der Fälle liegt eine Translokation t(14;18) vor, die eine konstante Transkription und Translation (überexpression) des bcl2-Onkoproteins zur Folge hat.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Das follikuläre Lymphom ist der häufigste Non-Hodgkin-Lymphom-Typ. Er kann primär auch in abdominalen und retroperitonealen Lymphknoten vorkommen. Bei etwa einem Drittel der Patienten ist eine Knochenmarkinfiltration nachweisbar. Ein leukämisches Blutbild ist jedoch selten, ebenso eine klinische BSymptomatik. Zwei Drittel der Patienten befinden sich bei Erstdiagnose bereits in einem fortgeschrittenen Tumorstadium. Das follikuläre Lymphom ist im frühen Stadium das einzige niedrigmaligne B-Zell-Lymphom, das durch Radiochemotherapie heilbar ist.

Abb. 22-15 Follikuläres Lymphom Grad II (FL).

Große neoplastische Follikel durchsetzen den Lymphknoten und erinnern im überblick an reaktive Follikel. Giemsa, Vergr. 60fach.

Mantelzell-Lymphom (MZeL) Es finden sich knotige oder diffuse Infiltrate durch zentrozytenähnliche Zellen ohne Nachweis von Blasten. Ursprungsort der Tumorzellen ist der Follikelmantel. Da die Lymphomzellen den Zentrozyten des Keimzentrums sehr ähnlich bzw. teilweise von ihnen nicht zu unterscheiden sind, wurde zunächst angenommen, dass es sich um Keimzentrumszellen handele. Die Zellen sind mittelgroß, ihr Kern ist unregelmäßig geformt, der Zytoplasmasaum schmal und häufig nicht erkennbar (Abb. 22-16). Neoplastische Blasten finden sich anders als beim follikulären Lymphom nicht. Die Lymphomzellen exprimieren CD5, nicht jedoch CD23 und CD10. Zwischen ihnen spannt sich ein Netzwerk von follikulären dendritischen Zellen aus. Charakteristisch ist die Translokation t(11;14). Hierdurch kommt es zur überexpression eines Fusionsproteins (bcl1-Protein Zyklin D1), das eine Rolle bei der Zellteilung spielt.

Klinisch-pathologische Korrelationen Das Lymphom wird häufig erst in einem fortgeschrittenen Tumorstadium diagnostiziert, wenn das Knochenmark bereits beteiligt ist. Etwa die Hälfte der Patienten zeigt eine B-Symptomatik. Unter den niedrigmalignen Lymphomen hat das MZL die ungünstigste Prognose. Eine Heilung durch konventionelle Radiochemotherapie ist nicht möglich.

Marginalzonenlymphom, nodal und extranodal (MZoL) Abb. 22-16 Mantelzell-Lymphom (MZeL).

Gleichförmiges Infiltrat mittelgroßer Zellen mit unregelmäßigen, zum Teil eingekerbten Kernen. Keine Blasten. Giemsa, Vergr. 800fach. Es handelt sich um eine von den Lymphknotensinus ausgehende neoplastische Proliferation der sog. monozytoiden B-Zellen. Dieser Lymphomtyp zeigt eine Beziehung zum MALT-Lymphom und zum Marginalzonenlymphom der Milz. Zellen mit kleinen bis mittelgroßen, z.T. monozytenähnlichen Kernen und relativ breitem Zytoplasma sind mit einzelnen Blasten untermischt. Diese Zellen breiten sich primär in den Sinus der Lymphknoten aus. Später zerstören sie die Sinuswände und durchsetzen den Lymphknoten teilweise diffus. In der Milz ist primär die weiße Pulpa von breiten, bandartigen Infiltraten im Bereich der Marginalzone befallen. Die Lymphomzellen besitzen kein spezifisches Antigenprofil. CD5, CD10 und CD23 werden nicht exprimiert. In etwa 50% liegt eine Trisomie 3 als sekundäre chromosomale Aberration vor.

Klinisch-pathologische Korrelationen Das monozytoide B-Zell-Lymphom ist v.a. in den zervikalen Lymphknoten lokalisiert. Bei einigen Patienten manifestieren sich gleichzeitig extranodale Lymphome vom MALT-Typ in Magen, Speicheldrüse, Schilddrüse oder im oberen Respirationstrakt. übergänge in blastische Non-Hodgkin-Lymphome werden gelegentlich beobachtet.

B-Zell-Lymphom des MALT Siehe unten (extranodale B-Zell-Lymphome).

Blastische B-Zell-Lymphome Die blastischen B-Zell-Lymphome bestehen aus Blasten, deren Kerne etwa mindestens die doppelte Größe von Lymphozytenkernen besitzen. Das Chromatin ist hell, die Nukleolen liegen einzeln oder multipel vor. Das Zytoplasma ist meist breiter als bei kleinzelligen Lymphomen. Im Gegensatz zu den niedrigmalignen weisen die hochmalignen Lymphome eine hohe Mitoserate auf.

Diffuse großzellige B-Zell-Lymphome Unter diesem Begriff werden mehrere morphologische Varianten blastischer Lymphome zusammengefasst (zentroblastisch, immunoblastisch, anaplastisch, TZell-/histiozytenreich), da die klinische Relevanz der morphologischen Unterteilung umstritten ist.

Zentroblastisches Lymphom (ZBL) Es liegt eine neoplastische Proliferation von blastischen Keimzentrumszellen (Zentroblasten) vor. Ursprungspopulation sind Zentroblasten des Keimzentrums. Der Lymphknoten ist diffus durch Zentroblasten infiltriert. Gelegentlich finden sich auch knotige oder follikelähnliche Infiltrate. Die Zentroblasten besitzen rundliche Kerne mit heller Chromatinstruktur und zwei oder drei meist randständigen Nukleolen. Eingestreut sind einzelne Immunoblasten sowie Zellen mit mehrfach eingeschnürten (multilobulierten) Kernen (Abb. 22-17). Die Tumorzellen tragen an ihrer Oberfläche B-Zell-Antigene (CD20, CD79a). Ein kleiner Teil exprimiert CD5. Etwa 25% exprimieren CD10 als Merkmal von Keimzentrumszellen. In ca. einem Drittel der Fälle liegt die charakteristische Translokation t(14;18) vor.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Bei ca. einem Drittel der Patienten ist das Tumorstadium zum Zeitpunkt der Diagnose bereits fortgeschritten (Stadium IV). Sekundäre zentroblastische Lymphome, die sich nach einem Zeitintervall von einem oder mehreren Jahren aus einem follikulären Lymphom entwickeln, haben eine ungünstigere Prognose als primäre zentroblastische Lymphome. Klinisch relevant ist die Unterscheidung zwischen den prognostisch günstigeren zentroblastischen und den prognostisch ungünstigeren immunoblastischen Lymphomen (siehe unten).

Abb. 22-17

Zentroblastisches Lymphom (ZBL).

Gleichförmiges Infiltrat aus großen Blasten mit zum Teil randständigen Kernen und heller Chromatinstruktur. Einzelne Immunoblasten mit zentralem Nukleolus (Pfeil). Giemsa, Vergr. 800fach.

Immunoblastisches Lymphom (IBL) Es finden sich homogene Infiltrate aus Immunoblasten mit nur wenigen Zentroblasten. Ursprungspopulation sind extrafollikuläre B-Blasten. Die Immunoblasten sind große Zellen mit rundlich-ovalem Kern und solitärem zentralem Nukleolus. Ihr breites Zytoplasma ist basophil. Zum Teil sind die Immunoblasten plasmoblastisch oder plasmozytisch differenziert. Eingestreut sind meist einzelne Zentroblasten (Abb. 22-18). Die Immunoblasten produzieren zytoplasmatische Immunglobuline. Sekundäre immunoblastische Lymphome, die aus einem Immunozytom oder einer chronischen lymphozytischen B-Zell-Leukämie entstanden sind, sind überwiegend CD5-positiv. Spezifische chromosomale Veränderungen existieren nicht.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Das klinische Bild ähnelt dem zentroblastischen Lymphom. Die Prognose ist etwas ungünstiger.

Abb. 22-18 Immunoblastisches Lymphom vom BZell-Typ (IBL).

Blastäres Infiltrat. Die Kerne haben zentrale Nukleolen. Breiter basophiler Zytoplasmasaum. Giemsa, Vergr. 800fach.

Anaplastisches großzelliges Lymphom vom B-ZellTyp (ALCL) Das Lymphom ist eine seltene Neoplasie, die aus anaplastischen großen B-Zellen besteht (siehe auch anaplastisches großzelliges T-Zell-Lymphom).

T-Zell-/histiozytenreiches B-Zell-Lymphom (THRBZL) Bei diesem Lymphom handelt es sich um eine seltene morphologische Variante mit neoplastischen B-Zellen, die mit einer dominierenden Menge an T-Zellen und Histiozyten untermischt ist.

Burkitt-Lymphom (BL) Der Tumor ist durch kohäsiv wachsende mittelgroße Blasten mit sehr hoher Proliferationsrate charakterisiert. Dieser Lymphomtyp wurde früher den lymphoblastischen Lymphomen zugeordnet. Nach derzeitigem Kenntnisstand ist eine Herkunft aus dem Keimzentrum (Vorläufer der Zentroblasten?) wahrscheinlich. Es finden sich dichte, kompakte, monoton erscheinende Verbände aus mittelgroßen Blasten mit schmalem basophilem Zytoplasma und rundlichen Kernen. Letztere besitzen mehrere meist zentrale Nukleolen. Im Zytoplasma finden sich kleine

Vakuolen. Das Infiltrat ist diffus von phagozytierenden Makrophagen durchsetzt (Sternhimmelbild; Abb. 22-19). Die Blasten exprimieren CD10 und produzieren Immunglobulinschwerketten. Durch die reziproke Translokation t(8;14) kommt es zur Verlagerung des Onkogens c-MYC auf das Chromosom 14 in die Nähe jener Gene, die für die schweren Immunglobulinketten kodieren. Selten findet auch eine Translokation t(2;8) oder t(8;22) statt. Dann sind die Gene der leichten Immunglobulinketten einbezogen.

Abb. 22-19 Burkitt-Lymphom (BL).

Diffuses Blasteninfiltrat mit Sternhimmelbild. Giemsa, Vergr. 100fach.

Klinisch-pathologische Korrelationen Dieses Lymphom hat, ähnlich wie andere hochmaligne Lymphome, einen Manifestationsgipfel im 6.–7. Lebensjahrzehnt und tritt außerdem vermehrt im Kindesalter auf. Häufig entsteht das Lymphom primär in abdominalen Lymphknoten. In Afrika wird das Burkitt-Lymphom endemisch bei Kindern beobachtet. Es besteht dann eine strenge Assoziation mit dem Epstein-Barr-Virus und dem Ausbreitungsgebiet der Malaria. In den USA und Europa kommt das BurkittLymphom nur sporadisch und dann bevorzugt bei immunsupprimierten Patienten, v.a. bei AIDS-Patienten vor. Eine Assoziation mit dem Epstein-Barr-Virus ist dabei nur in 10% nachweisbar.

Lymphoblastische Lymphome (LBL) Es handelt sich um eine neoplastische Proliferation unreifer B-Vorläuferzellen (ProB- und Prä-B-Zellen) aus dem Knochenmark. Die mittelgroßen Blasten haben einen schmalen Zytoplasmasaum. Die Zellkerne sind rundlich-oval mit einem solitären

Nukleolus. Die lymphoblastischen Lymphome wachsen tumorartig in Lymphknoten und/oder manifestieren sich als Leukämie. Bei der leukämischen Form findet sich eine ausgeprägte Infiltration der Lymphknotenkapsel. Die erste als B-zellulär erkennbare Reifestufe (Pro-B-Lymphoblasten) exprimiert an ihrer Oberfläche die B-Zell-Antigene CD19, CD22 und CD79a, jedoch keine Immunglobuline. Mit zunehmender – morphologisch nicht erkennbarer – Ausdifferenzierung kommt es zur Expression von zytoplasmatischen μ-Ketten (PräB-Lymphoblasten) und später zur Expression von Immunglobulinschwerketten an der Oberfläche. Zuletzt werden Leichtketten exprimiert (reife B-Lymphoblasten). Etwa 60% dieser Lymphome exprimieren zusätzlich CD10 sowie terminale Deoxynucleotidyl-Transferase (TdT) und in frühen Differenzierungsstufen CD34. Die Tumorzellen weisen diverse chromosomale Translokationen auf.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Lymphoblastische Lymphome manifestieren sich selten ausschließlich nodal. 95% der meist kindlichen oder jugendlichen Patienten haben überwiegend ein leukämisches Blutbild und einen Knochenmarkbefall. Sind mehr als 20% des Knochenmarks betroffen, spricht man definitionsgemäß von einer akuten lymphoblastischen Leukämie vom B-Typ (siehe Kap. 21.8.2). Somit sind das zytologische Bild und der Immunphänotyp beim lymphoblastischen Lymphom und bei der lymphoblastischen Leukämie identisch. Differentialdiagnostisch ist die Abgrenzung zum T-zellulären Typ (T-lymphoblastisch) sowie zur akuten myeloischen oder myelomonozytären Leukämie wichtig (siehe Kap. 21.7.2). Es besteht eine enge Korrelation zwischen bestimmten chromosomalen Veränderungen und der Prognose lymphoblastischer Lymphome.

Extranodale B-Zell-Lymphome Extranodales Marginalzonenlymphom (MALTLymphom) Dieses maligne Non-Hodgkin-Lymphom manifestiert sich in verschiedenen extranodalen Lokalisationen: am häufigsten im Gastrointestinaltrakt (über 80%), außerdem in Speicheldrüsen, Respirationstrakt, Konjunktiven oder Urogenitaltrakt. Charakteristischerweise sind überwiegend Organe betroffen, die eine Schleimhautbarriere zur Regulation und Prozessierung von Fremdantigenen besitzen. Die neoplastischen B-Zellen sind nur wenig größer als Lymphozyten und besitzen gekerbte, zentrozytenähnliche Zellkerne. Typisch ist, dass sie das Drüsenepithel herdförmig besiedeln und infiltrieren (Epitheliotropismus mit Entwicklung sog. lymphoepithelialer Läsionen). In der frühen Phase ist das neoplastische Infiltrat von einer ausgeprägten follikulären Hyperplasie begleitet (Abb. 22-20a, b). Anders als bei der B-CLL und dem Mantelzell-Lymphom ist

neben der Expression von B-Zell-Antigenen die Negativität für CD5 charakteristisch. Trisomie 3, aber auch andere chromosomale Veränderungen werden gefunden.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Es handelt sich um ein relativ häufiges extranodales Lymphom, das jahrelang auf das betroffene Organ beschränkt bleiben kann und nur eine geringe Neigung zum Befall entfernterer Lymphknoten zeigt. Daher haben diese Patienten eine relativ günstige Prognose. Die Assoziation mit Autoimmunerkrankungen (Sjögren-Syndrom, Hashimoto-Thyreoiditis) deutet darauf hin, dass eine andauernde Antigenstimulation eine wesentliche Rolle in der Pathogenese spielt. Das MALT-Lymphom des Magens korreliert eng mit einer Schleimhautbesiedlung durch Helicobacter pylori: Offenbar bewirkt dieser Erreger eine kontinuierliche Antigenstimulation, die über eine chronische Gastritis in einigen Fällen zur Lymphomentstehung führt. Beim übergang in ein hochmalignes Lymphom (ca. 20%) werden häufig Schleimhautulzerationen beobachtet.

Abb. 22-20 Lymphoms

Mageninfiltrat eines MALT-

.

Die dunklen Herde kennzeichnen Follikel.

a

Das neoplastische Infiltrat liegt interfollikulär. Giemsa, Vergr. 30fach.

b Die Infiltratzellen liegen in kleinen Gruppen im Epithel (lymphoepitheliale Läsionen; Pfeile). Giemsa, Vergr. 500fach.

Mediastinales großzelliges B-Zell-Lymphom Dieses hochmaligne blastische B-Zell-Lymphom ist primär im vorderen Mediastinum lokalisiert und geht von thymischen B-Zellen aus. Das Lymphom weist kleine bis mittelgroße Blasten auf, die z.T. Zentroblasten entsprechen, und breitet sich lokal durch kontinuierliche Infiltration angrenzender Strukturen (Lunge, Herzbeutel, Brustkorb) aus. Gleichzeitig besteht eine ausgeprägte Sklerosierung des Bindegewebes. Die Lymphomzellen exprimieren die typischen B-Zell-Antigene. Im Gegensatz zu anderen B-Zell-Lymphomen fehlt in 30–40% der Fälle die Expression von CD45 und – in den meisten Fällen – von Immunglobulinen.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Dieser Lymphomtyp zeigt ein aggressives Wachstum. Die typische, bei anderen Lymphomen eher ungewöhnliche Ausbreitung in andere Organe (Gastrointestinaltrakt, Nieren, Leber) verschlechtert die Prognose dramatisch. Der Altersgipfel der Erkrankung liegt im 3.–4. Lebensjahrzehnt, Frauen erkranken signifikant häufiger. Ein prognostisch günstiges Zeichen ist ein frühes Erkrankungsalter vor dem 25. Lebensjahr.

Lymphoproliferative Erkrankungen bei Immunsuppression In dieser Gruppe finden sich überwiegend diffuse großzellige B-Zell-Lymphome. Diese treten überwiegend extranodal auf. Es handelt sich meist um immunsupprimierte Patienten (HIV, Immunsuppression nach Organtransplantation). Auf dem Weg ihrer Entstehung zeigt sich zytologisch häufig ein buntes Bild mit kleinen Lymphozyten, Plasmazellen und zahlreichen Blasten (Immunoblasten; polymorphe B-Zell-Reaktion). Das manifeste Lymphom bietet dann meist eine immunoblastische oder Burkitt-ähnliche Morphologie. Gehäuft findet sich auch ein Befall des ZNS. Selten sind T-Zell-Lymphome oder ein Hodgkin-Lymphom.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die Lymphome wachsen schnell und sind aufgrund des Immunstatus der Patienten einer Therapie schlecht zugänglich. Bei exogen immunsupprimierten Patienten kommt es gelegentlich zu Lymphomremissionen durch das Absetzen der immunsuppressiven Therapie.

NK/T-Zell-Lymphome (Tab. 22-6 und 22-7) Die Differenzierung der T-Zellen ist heute noch weitgehend unverstanden. Es existieren präthymische und thymische T-Zellen (T-Lymphoblasten), aus denen sich die lymphoblastischen Lymphome und die akute lymphoblastische Leukämie vom T-Zell-Typ entwickeln. Aus diesen T-Lymphoblasten entwickeln sich reife T-Zellen, die entweder CD4 oder CD8 nachweisen lassen. Darüber hinaus werden zytotoxische/NK/T-Zellen gebildet sowie T-Zellen, die offenbar selektiv den Intestinaltrakt besiedeln. Bei Ursprung aus präthymischen oder thymischen T-Zellen (lymphoblastisch) wird von Vorläufer-T-Zell-Lymphomen gesprochen, während der Rest als reifzellige NK/T-Zell-Neoplasien bezeichnet wird. NK/T-Zell-Lymphome zeigen eine noch größere morphologische Vielfalt als B-ZellLymphome. Ihre Klassifikation wird zusätzlich dadurch erschwert, dass den neoplastischen Varianten nur sehr selten ein normales Zellkompartiment zugeordnet werden kann, aus dem die Neoplasie hervorgegangen ist. Die besonders bei NK/TZell-Lymphomen bestehende Möglichkeit einer zellulären Aktivierung vergrößert die Vielfalt. T-Zellen sind neben den Stromazellen wichtige Zytokinproduzenten. Diese Eigenschaft kann auch bei den neoplastisch proliferierten T-Zellen erhalten bleiben, sodass eine unterschiedliche Zusammensetzung des begleitenden Zellinfiltrats resultiert (B-Zellen, mono-/histiozytäre Zellen, immunakzessorische Zellen). Analog der klinischen Manifestation können überwiegend leukämische, überwiegend primär nodal manifestierte und primär extranodal manifestierte T-Zell-Lymphome unterschieden werden. Die Einteilung ist in Tab. 22-6 wiedergegeben.

Tab. 22-6

NK/T-Zell-Neoplasien.

Vorläufer-NK/T-Zell-Neoplasien ■ Vorläufer-T-lymphoblastisches Lymphom/Leukämie ■ blastisches NK-Zell-Lymphom Reifzellige NK/T-Zell-Neoplasien* primär leukämisch ■ T-Zell-Prolymphozyten-Leukämie ■ T-Zell-Leukämie der „large granular lymphocytes“ ■ aggressive NK-Zell-Leukämie ■ „adult“ T-Zell-Leukämie-Lymphom

primär nodal ■ peripheres T-Zell-Lymphom, unspezifiziert ■ angioimmunoblastisches T-Zell-Lymphom ■ anaplastisch großzelliges T-Zell-Lymphom primär extranodal ■ extranodales NK/T-Zell-Lymphom, nasaler Typ ■ T-Zell-Lymphom vom Enteropathie-Typ ■ hepatosplenisches T-Zell-Lymphom ■ subkutanes pannikulitisähnliches T-Zell-Lymphom ■ Mycosis fungoides ■ Sézary-Syndrom ■ primäres kutanes großzellig-anaplastisches Lymphom * Diese Einteilung weicht in der Reihenfolge von der WHO-Klassifikation ab, um durch die Darstellung der überwiegenden primären Manifestation (leukämisch, nodal, extranodal) eine bessere übersichtlichkeit und bessere klinische Zuordnung zu erlauben.

Primär leukämische NK/T-Zell-Lymphome Es handelt sich um leukämische Neoplasien, die in ihrer häufigsten Form aus unterschiedlichen Anteilen von kleinen T-Lymphozyten und Prolymphozyten bestehen. Nach der WHO-Klassifikation werden diese heute als T-ProlymphozytenLeukämie (T-PLL) zusammengefasst. Die kleinen Lymphozyten und/oder Prolymphozyten infiltrieren diffus die Lymphknoten, die deutlich vermehrte Venolen aufweisen. Die leukämischen Zellen exprimieren CD2, CD3 und CD7 sowie überwiegend CD4. Ein kleiner Teil koexprimiert CD4 und CD8. Eine weitere Variante stellt die Leukämie azurgranulierter Lymphozyten (large granular lymphocytes = LGL) dar (Abb. 22-21a, b). Die Lymphomzellen sind überwiegend CD4-positiv, die azurgranulierte Variante ist CD57-positiv. Eine extrem seltene Variante stellt die aggressive NK-Zell-Leukämie dar. Diese Zellen sind etwas größer als LGL-Zellen und exprimieren neben CD2 auch das NKZell-Antigen CD56.

Diese T-Zell-Leukämien sind selten, sie machen nur etwa 3% der lymphozytischen Leukämien aus.

Abb. 22-21 Leukämische NK/T-Zell-Lymphome.

a Chronische lymphozytische T-Prolymphozyten-Leukämie (T-CLL/TPLL). Die leukämischen Zellen zeigen prominente Nukleolen und ein mittelbreites Zytoplasma sowie geringe Kernunregelmäßigkeiten. Pappenheim, Vergr. 900fach. b Large granular lymphocytes (LGL). Die leukämischen Zellen haben einen breiten Zytoplasmasaum mit azurophilen Granula. Pappenheim, Vergr. 900fach.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Abgrenzung der T-PLL gegenüber der B-CLL ist aus prognostischen und therapeutischen Gründen wichtig. Die T-PLL geht meist mit einem ausgeprägten leukämischen Blutbild einher. Abgesehen vom LGL-Typ ist ihre Prognose wesentlich ungünstiger als die der chronischen lymphozytischen B-Zell-Leukämie. Der LGL-Typ zeigt eine diffuse, oft schwer erkennbare Knochenmarkinfiltration und wird häufig von einer Anämie, gelegentlich auch von einer Granulozytopenie begleitet. Die aggressive NK-Zell-Leukämie hat eine sehr ungünstige Prognose; die Patienten sterben meist innerhalb eines Jahres nach Diagnosestellung.

Primär nodale NK/T-Zell-Lymphome In dieser Gruppe finden sich das angioimmunoblastische T-Zell-Lymphom (AIL), das großzellige anaplastische T-Zell-Lymphom sowie die Gruppe der peripheren, nicht weiter spezifizierten T-Zell-Lymphome. Letztere umfasst die morphologischen Varianten T-Zonen-Lymphom, lymphoepitheloides Lymphom sowie die sog. pleomorphen T-Zell-Lymphome. überwiegend handelt es sich um neoplastische Proliferationen von CD4-positiven TZellen. Gleichzeitig findet man koexprimiert CD2, CD3 und CD5. Bei allen drei Entitäten ist häufig eine Trisomie 3 oder 5 nachweisbar.

Angioimmunoblastisches NK/T-Zell-Lymphom (AIL) Das AIL zeigt ein breites Spektrum neoplastischer T-Zellen (von T-Lymphozyten bis zu T-Lymphoblasten), das von einer Proliferation epitheloider Venolen sowie einer Beimengung nichtneoplastischer Lymphozyten, Plasmazellen und Histiozyten begleitet ist.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die primär nodalen Lymphome haben eine ungünstige Prognose. Der AIL-Typ überwiegt bei weitem. Er ist in etwa zwei Dritteln der Fälle mit einer deutlichen B-Symptomatik verbunden. Es kommt zu rezidivierenden Lymphknotenschwellungen, die gelegentlich spontan oder nach Kortikoidtherapie in Remission gehen. Ferner finden sich bei den Patienten z.T. Autoimmunphänomene (Autoimmunhämolyse) und Erytheme der Haut. Die Patienten sterben häufig an Komplikationen der Immundefizienz. Die 5-Jahresüberlebensrate des AIL-Typs liegt bei ca. 20–30%.

Periphere NK/T-Zell-Lymphome, unklassifiziert Etwa 50% aller peripheren NK/T-Zell-Lymphome fallen in diese Kategorie. Meist handelt es sich um diffuse Lymphknoteninfiltrate von pleomorphen T-Zellen

unterschiedlicher Größe. Das Spektrum der Lymphomzellen ist breit und reicht von kleinen Zellen (ähnlich den kleinen Blutlymphozyten) mit unregelmäßig gestalteten, z.T. vielfach gebuchteten und gelappten Zellkernen über mittelgroße bis zu großen, blastären Zellen (Abb. 22-22). Häufig finden sich zusätzlich eosinophile Granulozyten und Hodgkin-ähnliche Tumorzellen. Die Tumorzellen sind überwiegend CD4-, sehr selten CD8-positiv.

Abb. 22-22 Verschiedene Lymphomzellen bei peripheren NK/T-Zell-Lymphomen, unklassifiziert.

Das sehr seltene T-Zonen-Lymphom weist eine primäre Ausbreitung kleiner TLymphozyten in der T-Zone auf. Typisch für das lymphoepitheloide Lymphom („Lennert's lymphoma“) ist die gleichförmige kleinherdige epitheloidzellige Begleitreaktion neben meist kleinen neoplastischen T-Zellen. Das immunoblastische Lymphom ist eine sehr seltene Variante, die zytologisch große ähnlichkeiten mit dem B-immunoblastischen Lymphom (siehe oben) bietet. Chromosomale Veränderungen entsprechen v.a. 6q−, 7q+, 13q−.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Diese Gruppe von NK/T-Zell-Lymphomen hat eine ähnlich ungünstige Prognose wie die angioimmunoblastischen T-Zell-Lymphome. Eine morphologisch sehr ähnliche, z.T. nicht unterscheidbare Neoplasieform besteht in Japan in Assoziation mit HTLV-1. Solche virusassoziierten T-Zell-Lymphome wurden allerdings bisher in Europa nicht beobachtet. Während die Häufigkeit von TZell-Lymphomen in Europa bei etwa 15% liegt, erreicht sie in Japan in HTLV-1Endemiegebieten 50%.

Anaplastisches großzelliges Lymphom vom T-ZellTyp (ALCL) Es handelt sich um eine neoplastische Proliferation von großen anaplastischen Zellen. Morphologisch besteht eine Beziehung zum Morbus Hodgkin (siehe Kap. 22.2.2). Der Tumor besteht aus großen entdifferenzierten Zellen, die nicht mehr an ein normales äquivalent im Lymphknoten erinnern (= anaplastisch). Sie besitzen große, z.T. bizarre Kerne. Gelegentlich sind sie auch mehrkernig mit großen,

prominenten Nukleolen, ähnlich oder identisch mit Hodgkin- und Sternberg-ReedZellen (Abb. 22-23). Die Tumorzellen wachsen häufig kohäsiv und breiten sich wie Karzinommetastasen in den Lymphknotensinus aus. Sie exprimieren an ihrer Oberfläche T-Zell-Antigene. In einem Drittel der Fälle fehlt allerdings eine typische Expression von T-Zell-, aber auch von B-Zell-Antigenen (sog. Null-ZellTyp). Charakteristisch ist die Expression der Aktivierungsantigene CD25 und CD30 sowie in einem Drittel des epithelialen Membranantigens. In etwa 50% findet sich die Translokation t(2;5), die bisher bei anderen Non-HodgkinLymphomen nicht beschrieben wurde.

Klinisch-pathologische Korrelationen Das ALCL zeigt einen ersten Altersgipfel im Kindesalter, einen zweiten in der 7. Dekade. Die kindliche Erkrankungsform ist zu über 90% mit der Translokation t(2;5) assoziiert; im hohen Alter findet sich diese nur selten. Es hat sich gezeigt, dass Patienten mit einem anaplastischen großzelligen Lymphom, in dem die Translokation nachweisbar ist, eine wesentlich günstigere Prognose aufwiesen als diejenigen ohne Translokation. Die Prognose hängt jedoch auch von der Lokalisation ab. Das Lymphom zeigt primäre nodale sowie extranodale (kutane) Manifestationen. Die ausschließlich kutane Manifestation hat auch ohne Translokation t(2;5) eine sehr günstige Prognose. Das Lymphom kann auch sekundär nach peripheren nodalen T-ZellLymphomen, Mycosis fungoides oder Morbus Hodgkin auftreten.

Abb. 22-23 Anaplastisches großzelliges Lymphom vom T-Zell-Typ (ALCL).

Große Zellen mit bizarren Zellkernen, die teilweise an Hodgkin- oder Sternberg-Reed-Zellen erinnern. HE, Vergr. 900fach.

Lymphoblastisches Lymphom vom T-Zell-Typ (TLB) Es handelt sich um eine neoplastische Proliferation von T-Vorläuferzellen (Lymphoblasten) des Knochenmarks oder der Thymusrinde. In den Lymphknoten finden sich homogene Infiltrate von mittelgroßen blastären Zellen, ähnlich dem Bild der B-Lymphoblasten. Gelegentlich sind Makrophagen untergemischt, die zu dem sog. Sternhimmelbild führen. Entsprechend den immunphänotypisch erkennbaren Differenzierungsstufen in Knochenmark und Thymusrinde werden mit zunehmender Ausreifung T-Zell-Antigene exprimiert. CD7 wird konstant, TdT überwiegend exprimiert. Es folgen die Expression von CD3, CD2 und schließlich – als Merkmal der Zellen der Thymusrinde – eine Koexpression von CD4 und CD8. Es bestehen unterschiedliche Translokationen im Bereich der Ketten der T-ZellRezeptor-Gene α und δ (14q11 und 7q35).

Klinisch-pathologische Korrelationen Ähnlich der lymphoblastischen Leukämie oder dem lymphoblastischen Lymphom vom B-Zell-Typ kommt das lymphoblastische T-Zell-Lymphom überwiegend im Kindes- und Jugendalter vor, wobei das männliche Geschlecht deutlich überwiegt (m: w = 2,6: 1). Zwei Drittel der Neoplasien werden von einem z.T. hochleukämischen Blutbild begleitet. In 70–80% liegt ein Befall des Knochenmarks vor. Sind mehr als 20% des Knochenmarks infiltriert, spricht man definitionsgemäß von einer akuten lymphoblastischen Leukämie vom T-Typ (siehe Kap. 21.8.4). Entsprechend dem Thymus als Ausgangsort befällt das Lymphom häufig das vordere Mediastinum. Das ZNS stellt einen sekundären Ausbreitungsort dar.

Extranodale NK/T-Zell-Lymphome Die häufigsten extranodalen T-Zell-Lymphome sind die Mycosis fungoides, das Sézary-Syndrom sowie das primär kutane anaplastische großzellige Lymphom. Abgesehen von diesen Entitäten zeigen die übrigen in der Tab. 22-7 aufgeführten TZell-Lymphome eine außerordentlich ungünstige Prognose. Das histologische Bild der letztgenannten Formen ist sehr variabel. Daher sind für die Diagnosestellung das klinische Bild, insbesondere die Lokalisation der Primärmanifestation sowie der Immunphänotyp bedeutsam. Zur Definition klinisch-pathologischer Entitäten ist eine Unterscheidung zwischen nodalen und extranodalen Lymphomen wichtig.

Mycosis fungoides (MF), Sézary-Syndrom (SZS) Die Mycosis fungoides ist das häufigste T-Helferzell-Lymphom der Haut (siehe Kap. 42.7.6). Sézary-Syndrom und Mycosis fungoides weisen zytologisch

gleichartige Hautinfiltrate auf. Die Infiltratzellen entsprechen atypischen kleinen T-Helferzellen mit tief eingeschnürten und gelappten (zerebriformen) Zellkernen. Die neoplastischen T-Zellen liegen primär im Korium und zeigen eine z.T. ausgeprägte Infiltration der Epidermis (Epidermotropismus). Innerhalb der Epidermis bilden sie in höheren Schichten kleine herdförmige Infiltrate (PautrierMikroabszesse). Der Dermotropismus ist auf die dermalen Homing-Rezeptoren der neoplastischen Zellen zurückzuführen. Immunphänotypisch handelt es sich um neoplastische CD4-positive T-Zellen. Charakteristische chromosomale Veränderungen sind nicht bekannt.

Tab. 22-7 Primär extranodale NK/T-Zell-Lymphome. NK/T-Zell-Lymphome Mycosis fungoides/Sézary-Syndrom NK/T-Zell-Lymphom, nasaler Typ primär kutanes anaplastisches großzelliges Lymphom T-Zell-Lymphom vom Enteropathie-Typ hepatosplenisches T-Zell-Lymphom subkutanes pannikulitisähnliches T-Zell-Lymphom

Klinisch-pathologische Korrelationen

Das Sézary-Syndrom ist mit einem leukämischen Blutbild und einer Erythrodermie verbunden. Typisch für die Mycosis fungoides sind die plaqueartigen Hautinfiltrate und Lymphknotenschwellungen mit dem histologischen Bild einer dermatopathischen Lymphadenitis (siehe Kap. 22.2.1). Hierin sind Frühmanifestationen des Lymphoms schwer zu erkennen. Eine Erythrodermie fehlt. Die Infiltration der Haut geht bei beiden Krankheiten mit quälendem Juckreiz einher. Vor allem die Mycosis fungoides kann über viele Jahre kutan lokalisiert bleiben. Nach langen Verläufen wird ein übergang in hochmaligne T-Zell-Lymphome beobachtet, die sich als kutane Tumoren manifestieren. Eine Zweitbesiedlung anderer Organe verschlechtert die Prognose der Patienten ebenso wie der übergang in ein hochmalignes T-Zell-Lymphom.

NK/T-Zell-Lymphom, nasaler Typ Diese Lymphome sind häufig primär im Nasen-Rachen-Raum lokalisiert. Sie wachsen lokal destruierend. Das morphologische Bild ist variabel. Häufig handelt es sich um mittelgroße Zellen mit rundlichen Kernen. Gelegentlich zeigt sich eine

stärkere Kernpolymorphie. Eine Angiozentrizität mit Zerstörung der Gefäßwand und subsequenten Nekrosen ist häufig nachweisbar. Die Tumorzellen exprimieren CD56 und Granzyme-B (zytotoxische Granula). Variabel werden T-Zell-Antigene (CD3, CD5) exprimiert. Fehlen diese, spricht man von einem echten NK-ZellLymphom; sind T-Zell-Antigene vorhanden, handelt es sich um ein NK/T-ZellLymphom. Chromosomale Veränderungen betreffen u.a. eine Deletion 6q.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Diese Lymphome sind häufig primär im Nasen-Rachen-Raum lokalisiert. Männer sind wesentlich häufiger betroffen als Frauen. überwiegend finden sie sich im asiatischen Raum und zeigen dort eine hohe EBV-Assoziation. Sie wachsen primär lokal destruierend. In den meisten Fällen ist die Prognose sehr ungünstig. Ein Teil dieser Lymphome wurde früher als letales Mittelliniengranulom bezeichnet. Neben dem Nasen-Rachen-Raum findet man Lokalisationen wie Haut, Hoden, Gastrointestinaltrakt oder multiplen Organbefall.

Primäres anaplastisches großzelliges Lymphom der Haut Es handelt sich um eine primäre kutane Manifestation eines morphologisch mit dem nodalen Lymphom identischen Tumors. Die Tumorzellen zeigen eine konstante Expression von CD30 und zytotoxische Granula sowie eine variable Expression von T-Zell-Antigenen und von epithelialem Membranantigen. Typischerweise fehlt bei primärem Hautbefall die sonst typische Translokation t(2;5).

Klinisch-pathologische Korrelationen Das Lymphom kann am Stamm oder an den Extremitäten, meist solitär, seltener multipel auftreten. Es ist strahlensensibel (Strahlentherapie). Ein sekundärer Befall des Lymphknotens führt zu einer deutlichen Verschlechterung der sonst sehr günstigen Prognose.

Hepatosplenisches T-Zell-Lymphom Charakteristisch ist ein primärer Befall von Leber und Milz sowie gelegentlich des Knochenmarks bei jüngeren, überwiegend männlichen Patienten. Es handelt sich um Infiltrate insbesondere in den Sinus der Milz, in den Sinusoiden der Leber sowie in den Sinus des Knochenmarks. Sie bestehen aus mittelgroßen blastären Zellen. Als chromosomale Veränderung findet sich ein Isochromosom 7q.

Klinisch-pathologische Korrelationen Es handelt sich um 20–30-jährige männliche Patienten mit ausgeprägter Hepatosplenomegalie ohne Lymphknotenbefall oder Leukozytose. Ferner besteht eine Thrombopenie. Der klinische Verlauf ist sehr ungünstig, die Patienten sterben innerhalb eines Jahres.

T-Zell-Lymphome vom Enteropathie-Typ Die sehr seltenen intestinalen T-Zell-Lymphome können mit einer glutensensitiven Enteropathie assoziiert sein. Sie nehmen ihren Ausgang von intraepithelialen TLymphozyten und zeigen morphologisch überwiegend das Bild pleomorpher TZell-Lymphome mit deutlicher Vermehrung von intraepithelialen Lymphozyten. Die Tumorzellen exprimieren T-Zell-Antigene (CD3, CD7) und CD103, teilweise auch T-zelluläre Aktivierungsantigene (CD30).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Diese Lymphome gehen überwiegend vom Dünndarm aus. Zum Zeitpunkt der Diagnose haben sie sich meist schon ausgebreitet und verschiedene Organe befallen, was die Prognose verschlechtert. Die meisten Patienten haben eine kurze Vorgeschichte mit den Symptomen der Malabsorption oder dem Vollbild einer Sprue. Auch ohne eine solche Vorgeschichte ist eine spruetypische Zottenatrophie nachweisbar.

Subkutanes pannikulitisähnliches T-Zell-Lymphom Es handelt sich um ein T-Zell-Lymphom, das sich in der Subkutis manifestiert und histologisch durch ein buntes, teilweise entzündliches Infitrat imponiert, in dem sich neoplastische pleomorphe T-Zellen finden. Diese umringen typischerweise Fettzellen. Das inflammatorische Infiltrat ähnelt morphologisch entzündlichen reaktiven Infiltraten im subkutanen Fettgewebe.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Subkutane Knoten sind häufig mit deutlichen klinischen Zeichen wie Fieber oder Hepatosplenomegalie assoziiert. Der klinische Verlauf ist fast immer sehr aggressiv und therapeutisch selten beeinflussbar.

Hodgkin-Lymphom Syn.: Lymphogranulomatose, Morbus Hodgkin 1832 beschrieb Sir Thomas Hodgkin erstmals sieben Autopsiefälle, in deren Vordergrund eine Vergrößerung und Infiltration von Lymphknoten und Milz standen. 1898 bzw. 1902 wurden von Sternberg bzw. Reed die typischen Riesenzellen

beschrieben und später als Hodgkin- und Sternberg-Reed-Zellen bezeichnet. Es ist heute gesichert, dass die Riesenzellen monoklonaler Natur sind und damit die neoplastischen Zellen beim Morbus Hodgkin darstellen. Immunhistochemische und molekulargenetische Analysen haben gezeigt, dass es sich dabei um lymphatische Zellen handelt, die überwiegend B-zellulärer, sehr selten T-zellulärer Herkunft sind. Das Hodgkin-Lymphom ist somit durch das Vorkommen von großen Blasten (Hodgkin-Zellen) und mehrkernigen Riesenzellen (Sternberg-Reed-Riesenzellen) sowie durch ein begleitendes entzündliches Infiltrat gekennzeichnet. Die morphologischen Varianten werden auch heute noch nach einer 1966 getroffenen Vereinbarung eingeteilt (Rye-Klassifikation; Tab. 22-8). Ergänzt wurde durch die WHO-Klassifikation ein Typ des klassischen lymphozytenreichen HodgkinLymphoms, der vom nodulären lymphozytenprädominanten Hodgkin-Lymphom (noduläres Paragranulom) abzugrenzen ist. Epidemiologie Die weltweite Verteilung des Hodgkin-Lymphoms zeigt erhebliche geographische Unterschiede, was als Hinweis auf eine Assoziation mit Umgebungseinflüssen gewertet werden kann (Ernährung, Infektionen). In Europa ist das Hodgkin-Lymphom die häufigste maligne Neoplasie bei Kindern und Jugendlichen. Vor allem die lymphozytenreiche Form und die noduläre Sklerose (siehe unten) treten im jugendlichen Alter auf. Die Gesamtaltersverteilung zeigt einen bimodalen Kurvenverlauf mit einem ersten Altersgipfel zwischen 15 und 35 Jahren und einem zweiten zwischen 55 und 65 Jahren. Die Erkrankungsprävalenz liegt bei etwa 2–4 Fällen pro 100 000 Einwohner und Jahr.

Tab. 22-8 übersicht über die verschiedenen Typen des HodgkinLymphoms.

Pathogenese Die Entstehung des Hodgkin-Lymphoms ist wie die vieler anderer maligner Lymphome bis heute ungeklärt. Wichtig erscheint eine Assoziation mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV), das in etwa der Hälfte der Fälle klonal in den Tumorzellen selbst nachgewiesen werden kann. Es ist bekannt, dass die Immortalisierung einer Zelle durch EBV zu ihrer massiven Stimulierung führt, wodurch eine ausgeprägte Zytokinexpression hervorgerufen wird. Diese ist zumindest für das umgebende Mikromilieu beim Hodgkin-Lymphom verantwortlich; möglicherweise wird das Wachstum der Tumorzellen selbst auch

durch autokrine Mechanismen unterstützt. Die Tumorzellen des HodgkinLymphoms, die Hodgkin- und Sternberg-Reed-Zellen, sind monoklonaler Natur. Bei der Tumorentwicklung findet offenbar eine klonale Selektion statt, sodass sich aus einem primär polyklonalen Prozess eine monoklonale Proliferation entwickelt. Es handelt sich überwiegend um Differenzierungsstufen von Keimzentrums-B-Zellen.

Morphologie Die für das Hodgkin-Lymphom charakteristischen Zellen sind die großen einkernigen Hodgkin-(H-; Abb. 22-24) und die mehrkernigen Sternberg-Reed-(SR)Zellen. Letztere besitzen große prominente Nukleolen (Eulenaugen-Zellen) und ein breites, graublaues Zytoplasma. Zu den nichtneoplastischen Zellen des entzündlichen Begleitinfiltrats gehören Lymphozyten, Plasmazellen, Makrophagen, Epitheloidzellen, neutrophile und eosinophile Granulozyten (Tab. 22-8). Die verschiedenen Subtypen des Hodgkin-Lymphoms werden durch die Anzahl von Hodgkin- und Sternberg-Reed-Zellen, durch die Zusammensetzung der begleitenden Zellen und durch das Wachstumsmuster bestimmt. Die lymphozytenreiche Form, das sog. Paragranulom, wird heute aufgrund der unterschiedlichen Prognose und Herkunft von den anderen Hodgkin-Lymphomen – den sog. Varianten des klassischen Hodgkin-Lymphoms – unterschieden. ■ Die noduläre lymphozytenprädominante Form des Hodgkin-Lymphoms (Paragranulom) liegt vor, wenn das Infiltrat von Lymphozyten mit nur wenigen großen atypischen Zellen dominiert wird. Hier findet man besondere Riesenzellen, die kleinere Nukleolen besitzen und aufgrund ihres zytologischen Bildes als sog. L-(lymphozytäre) und H-(histiozytäre) Zellen bezeichnet werden. Ganz überwiegend findet sich ein noduläres Wachstumsmuster (sog. noduläres Paragranulom); die diffuse Wachstumsform ist selten und muss vom T-zellreichen B-Zell-Lymphom abgegrenzt werden. ■ Der nodulär-sklerosierende Typ weist eine starke Sklerosierungstendenz auf, die zur Bildung von knotenförmigen (nodulären) Infiltratherden führt (Abb. 2224). Je nach Gehalt an Hodgkin- und Sternberg-Reed-Zellen werden hierbei der Typ 1 und der Typ 2 unterschieden; beim Typ 2 ist er höher als beim Typ 1 (zelluläre Phase der nodulären Sklerose). Die Schnittfläche der Lymphknoten ist derb und häufig knotig konfiguriert. ■ Der gemischtzellige Typ besitzt eine ähnliche Zusammensetzung wie die noduläre Sklerose, jedoch ohne die oben beschriebene Sklerosierungstendenz. ■ Das lymphozytenreiche klassische Hodgkin-Lymphom zeigt ähnlich wie die noduläre lymphozytenprädominante Form ganz überwiegend ein noduläres Wachstumsmuster. Es finden sich aber klassische Hodgkin-und Sternberg-ReedZellen, die im Gegensatz zum lymphozytenprädominanten Typ CD30 exprimieren.

■ Typisch für den lymphozytenarmen Typ ist die Dominanz von Hodgkin- und Sternberg-Reed-Zellen. Es besteht morphologisch ein fließender übergang zum anaplastischen großzelligen Non-Hodgkin-Lymphom. Bei der nodulären lymphozytenprädominanten Form (Paragranulom) des HodgkinLymphoms lassen sich auf den Tumorzellen konstant B-Zell-Antigene (z.B. CD20, CD79a) nachweisen. Die für die übrigen Hodgkin-Formen typische Expression von CD15 und CD 30 fehlt. Alle anderen Formen exprimieren CD15 und CD30 konstant. B- oder T-Zell-Antigene können, müssen aber nicht vorhanden sein. Die chromosomalen Veränderungen beim Hodgkin-Lymphom zeigen komplex aberrante Klone, die Chromosomenzahlen sind häufig verdrei- bis vervierfacht.

Abb. 22-24 Nodulär-sklerosierendes HodgkinLymphom mit Zerstörung der Lymphknotenstruktur.

a Ein breites Band sklerosierter Bindegewebsfasern umgibt das Infiltrat zirkulär. HE, Vergr. 60fach. b Hodgkin-Zelle mit einem prominenten solitären Nukleolus. Giemsa, Vergr. 1000fach.

Tab. 22-9 Stadieneinteilung des Hodgkin-Lymphoms nach der Ann-Arbor-Klassifikation. Stadium I Befall einer Lymphknotenregion oder einer extralymphatischen Lokalisation Stadium II Befall von zwei benachbarten Lymphknotenregionen auf einer Seite des Zwerchfells (II2), zusätzlicher Befall einer extralymphatischen Lokalisation (IIE) Stadium III Befall von Lymphknotenstationen oder extra-lymphatische Lokalisationen ober- und unterhalb des Zwerchfells Stadium IV disseminierter extralymphatischer Befall mit oder ohne Lymphknotenbefall

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Unterschiede in morphologischem Bild, Phänotyp, Altersverteilung und klinischem Verlauf geben einen Hinweis darauf, dass die verschiedenen Subtypen des Hodgkin-Lymphoms z.T. verschiedene Krankheitsbilder darstellen. Das Hodgkin-Lymphom befällt primär den Lymphknoten und breitet sich von hier über verschiedene Lymphknotenstationen aus. Die Patienten entwickeln häufig prominente Lymphknotenschwellungen. Sekundär können die Milz und in der Folge das Knochenmark und die Leber befallen sein. Als Besonderheit kann sich insbesondere der Typ der nodulären Sklerose bei jungen Patienten primär im Bereich des Mediastinums manifestieren. Die noduläre lymphozytenprädominante Form des Hodgkin-Lymphoms (Paragranulom) stellt mit einer 5-Jahres-überlebensrate von 95% die prognostisch günstigste Form dar. Die Prognose der übrigen Formen des klassischen HodgkinLymphoms ist im Wesentlichen stadienabhängig. Der morphologische Subtyp spielt bei den heutigen Therapiemöglichkeiten eine untergeordnete Rolle. Die erkrankungsfreien 5-Jahres-überlebensraten liegen zwischen 70 und 80%.

Für Prognose und Therapie ist die Stadieneinteilung relevant. Auch hier hat man sich 1966 in Ann Arbor (Ergänzungen 1971) auf eine Einteilung geeinigt, die im Wesentlichen die Ausbreitung nach befallenen Lymphknotengruppen beschreibt. Dabei stellt das Zwerchfell eine für die Prognose wichtige Grenzstruktur dar (Tab. 22-9). Ein weiterer prognostisch relevanter Faktor ist die klinische Symptomatik. Sie wird angegeben als ■ Kategorie B: unerklärlicher Gewichtsverlust von mehr als 10% innerhalb des letzten halben Jahres, Fieber von mehr als 38 °C unklarer Ursache und Nachtschweiß (= sog. B-Symptomatik) oder ■ Kategorie A: ohne entsprechende Symptome. Die B-Symptomatik tritt v.a. in den letzten beiden Stadien auf und ist gleichbedeutend mit einer Verschlechterung der Prognose.

22.3

Milz

H. HERBST A.C. FELLER

22.3.1

Normale Struktur und Funktion

Die normale Milz wiegt etwa 150 g und misst ca. 13×7×3 cm. Ihre Blutversorgung erfolgt über die A. lienalis, der Blutabfluss über die V. lienalis. Die Milz besteht aus einem von der Kapsel ausgehenden bindegewebigen Gerüst (Milztrabekel) und dem dazwischenliegenden Milzparenchym, das aus der roten und der weißen Pulpa besteht. Die Bedeutung der Milz für den Blutkreislauf ist derjenigen der Lymphknoten für die Lymphgefäße vergleichbar. Die rote Pulpa besteht aus zwei Komponenten (Sinus, Pulpastränge), die miteinander kommunizieren. Die Sinus werden von endothelähnlichen Zellen (Sinuswandzellen) ausgekleidet. Diese unterscheiden sich von typischen Endothelien und exprimieren histiozytäre Antigene. Die Sinus sind von den Pulpasträngen umgeben. Die rote Pulpa stellt einen zentralen Ort der Phagozytose für alle belebten und unbelebten, körpereigenen und körperfremden Partikel dar. Im Zentrum steht der Abbau von gealterten oder defekten Erythrozyten. Eine wesentliche Speicherfunktion für Erythrozyten besteht nicht, hingegen erweist sich die Milz als ein Thrombozytenreservoir. Die weiße Pulpa umfasst die periarteriolären Lymphscheiden sowie die Lymphfollikel. Erstere entsprechen der T-Zone der Milz. Die Lymphfollikel entsprechen der B-Zone; teilweise sind sie als Primär-, teilweise als Sekundärfollikel entwickelt. Die perifollikuläre Zone entspricht der Marginalzone. Die Milz hat erhebliche Bedeutung für

humorale und zelluläre Immunreaktionen auf Antigene, die über den Blutstrom in das Organ gelangen, ebenso für die Bildung von sog. Gedächtnis-(„Memory“)Lymphozyten. Auch für Lymphozytenrezirkulation ist die Milz sehr wichtig. Bei Erkrankungen, die mit einem verstärkten Bedarf an Blutzellen bzw. einer Reduktion des Knochenmarks einhergehen, kann es in der Milz zur extramedullären Hämatopoese kommen.

22.3.2

Fehlbildungen

Anomalien der Milz sind äußerst selten. Hierzu gehören die Agenesie (Fehlen der Milzanlage, meist verbunden mit anderen Organanomalien), die kongenitale Hypoplasie und das Polyspleniesyndrom (Aufteilung der Milz in zahlreiche Einzelknoten). Häufig ist der Befund von Nebenmilzen, ca. 1 cm durchmessende anatomisch regelhafte Milzen, insbesondere am Milzhilus. Bei therapeutischer Splenektomie müssen auch mögliche Nebenmilzen erkannt und entfernt werden!

22.3.3

Funktionsstörungen

Hyposplenismus Hierunter versteht man eine Herabsetzung oder ein Fehlen der Milzfunktion, z.B. bei angeborener Hypo- oder Asplenie oder – häufiger – nach Splenektomie oder Zerstörung der Milz durch Tumoren oder Infarkte. Eine erheblich verminderte Milzfunktion kann man u.U. auch bei entzündlichen Gefäßerkrankungen, Autoimmunerkrankungen oder nach Bestrahlung beobachten. Der Hyposplenismus verursacht eine erhöhte Anfälligkeit gegen virale und bakterielle Infektionen bis zur Ausbildung einer Sepsis. Akute Komplikationen nach Splenektomie sind insbesondere Pneumonien, Wundinfektionen, postoperative Blutungen und Lungenembolien.

Hypersplenismus Der seltene Hypersplenismus stellt einen Symptomenkomplex dar, bestehend aus peripherer Zytopenie bei gleichzeitig zellreichem oder sogar hyperregeneratorischem Knochenmark und einer Splenomegalie. Ursachen des sekundären Hypersplenismus sind Infektionen, Systemerkrankungen, Milzblutungen, generalisierte neoplastische Erkrankungen und Speicherkrankheiten. Bei einem Teil der Fälle lässt sich keine Grunderkrankung nachweisen (idiopathischer Hypersplenismus). In der vergrößerten Milz ist die Passage der Blutzellen verlangsamt und dadurch ihr Abbau gesteigert. Die rote Pulpa ist entsprechend hyperplastisch und kann einen großen Teil des gesamten Erythrozyten- und Thrombozytenvolumens enthalten. Folgen sind Anämie, Thrombozytopenie (erhöhte Blutungsneigung) und Granulozytopenie (erhöhte Infektanfälligkeit).

22.3.4

Splenomegalie

Unter einer Splenomegalie versteht man eine Zunahme des Milzgewichts über 350 g bis weit über 1000 g. Sie ist bei einer Reihe von Erkrankungen (Tab. 22-10) ein wichtiger klinischer Befund. Ihre Bedeutung liegt in einer verkürzten Lebensdauer insbesondere der Erythrozyten, aber auch der Granulozyten und Thrombozyten. Häufige Ursachen hierfür sind hämolytische Anämien und andere hämatologische und lymphatische Systemerkrankungen, Stauungsmilz, Milzvenenthrombose sowie primär infektiöse Ursachen. Makroskopisch ist die Milz vergrößert und durch die zunehmende Fibrose des Gerüsts und der Organkapsel auch verfestigt. Die Farbe der Schnittfläche ist, abhängig von der Ursache der Splenomegalie, düsterrot bei Blutstauung, rosa bei Amyloidose oder oft gelblich bei Speichererkrankungen. In späteren Stadien treten infolge der Fibrose Grautöne hinzu. Mikroskopisch sieht man anfänglich erweiterte und durch Erythrozyten ausgefüllte Pulpastränge, später eine zunehmende Fibrose und einen erhöhten Gehalt an kernhaltigen Zellen. Durch die Ablagerung von Kollagen entlang den Sinusoiden kollabieren diese nicht, sondern bleiben erweitert.

Tab. 22-10

Ursachen der Splenomegalie.

Infektionen Bakterien: unspezifische Splenitis, Typhus, Tuberkulose, Brucellose, Borreliose, Katzenkratzkrankheit, Syphilis Viren: infektiöse Mononukleose, Zytomegalie Pilze: Histoplasmose Protozoen: Malaria, Toxoplasmose, Leishmaniasis, Trypanosomiasis Helminthen: Schistosomiasis, Echinokokkose Bluthochdruck portal: Leberzirrhose, Pfortader-, Milzvenenthrombose systemisch: chronisches Rechtsherzversagen Hämatologische Systemerkrankungen Non-Hodgkin-Lymphome myeloische und lymphozytische Leukämien Hodgkin-Lymphom Plasmozytom

myeloproliferative Erkrankungen hämolytische Anämien thrombotische thrombozytopenische Purpura (TTP) Immunologische/entzündliche (nichtinfektiöse) Erkrankungen rheumatoide Arthritis, Felty-Syndrom systemischer Lupus erythematodes (SLE) Ablagerungen, Speichererkrankungen Amyloidose, diffus und fokal Morbus Gaucher Morbus Niemann-Pick Mukopolysaccharidosen Zeroidspeicherung, „meerblaue“ Histiozytose Anderes Milzzysten Hamartien: Splenom, Zysten benigne Neoplasien: Littoralzellangiom maligne Neoplasien: Angiosarkom, Kaposi-Sarkom, Metastasen

22.3.5

Kreislaufstörungen

Das Blut durchströmt die Milz auf zwei Wegen: zum geringeren Teil über ein Kapillarbett, das Milzarterienäste und Milzvene verbindet, zum überwiegenden Teil über ein offenes System in die Pulpastränge, die Sinusoide und dann in Milzvenenäste. Im offenen System fließt das Blut vergleichsweise langsam. Einen allgemein gesteigerten Blutgehalt findet man unter dem Bild einer akuten Hyperämie als Begleitreaktion bei akuten Infektionen. Eine chronische Hyperämie wird durch venöse Drucksteigerung im großen Kreislauf bei Rechtsherzinsuffizienz (kardiale Stauung) oder im Portalvenensystem (portale Stauung) hervorgerufen.

Kardiale Stauungsmilz Die kardiale Stauung äußert sich als geringe bis mäßiggradige Splenomegalie mit einem Milzgewicht < 500 g als Folge einer Rechtsherzinsuffizienz. Die Milz ist durch die Fibrose der Kapsel und des Gerüsts verfestigt. Die Sinus der roten Pulpa sind stark ausgeweitet und massiv mit Erythrozyten gefüllt.

Portale Stauungsmilz Die portale Stauungsmilz entsteht durch eine Abflussbehinderung im Pfortaderkreislauf. Häufigste Ursache ist die Leberzirrhose. Pfortader- oder Milzvenenthrombose, Tumorkompression oder Infiltration des Pfortadersystems sind seltenere Ursachen. Die Milz ist stark vergrößert (Gewicht bis zu 1000 g) mit einer Hyperplasie der Milzsinus und der Pulpastränge. Als Folge der chronischen Druckbelastung kommt es zu einer Fibrose der roten Pulpa. Umschriebene Blutungen führen zu hämosiderinbeladenen Narbenknötchen, die regressiv verkalken können (sog. GamnaGandy-Knötchen).

Milzvenenthrombose Eine Milzvenenthrombose ist meist die Folge eines Tumors oder einer Entzündung, insbesondere des Pankreas (z.B. Pankreaskarzinom, Pankreatitis). Das Milzgewicht kann über 1000 g erreichen. Die morphologischen Veränderungen sind denen der portalen Stauungsmilz ähnlich. Folge ist häufig ein Hypersplenismus (siehe Kap. 22.3.3).

Milzinfarkt/Milzinfarzierung Der Milzinfarkt ist eine meist ischämische Nekrose nach Verschluss eines Milzarterienastes (Endarterien!). Ursachen sich meist Thrombembolien (z.B. bei Endokarditis oder ulzeröser Atherosklerose der Aorta) oder – seltener – ein Arterienverschluss durch Zellen (z.B. durch Tumorzellen bei myeloischer Leukämie, Erythrozyten bei Sichelzellenanämie). Multiple Milzinfarkte sind häufiger auch Folge von Systemerkrankungen (Vaskulitiden). Hämorrhagische Infarzierungen der Milz sind selten und gehen dann auf eine Milzvenenthrombose zurück. Typisches Symptom sind linksseitige Oberbauchschmerzen. Makroskopisch ist der anämische Milzinfarkt kegelförmig, auf der Schnittfläche keilförmig gestaltet, wobei die Basis unter der Milzkapsel liegt. Die Kapsel ist oft mit fibrinösem Exsudat überzogen. Der Milzinfarkt ist lehmgelb gefärbt und zeigt einen düsterroten Randsaum (siehe Abb. 7-12). Histologisch sieht man eine

Koagulationsnekrose mit hyperämischem Randsaum. Im Narbenstadium wird das Infarktareal weiß und zieht durch Narbenkontraktion die Kapsel ein.

Milzruptur Zwei Situationen sind zu unterscheiden: die Ruptur einer gesunden und die Ruptur einer vorgeschädigten Milz. Die Ruptur einer gesunden Milz kann bei stumpfen Bauchverletzungen, besonders während einer Schwangerschaft, oder – nicht so selten – aufgrund medizinischer Eingriffe vorkommen. Eine besondere Vulnerabilität besteht bei entzündlichen Milzschwellungen, die noch nicht von einer Kapselverdickung begleitet sind, z.B. bei infektiöser Mononukleose, insgesamt aber bei jeder Form von Splenomegalie. Zusätzlich begünstigt durch Verwachsungen der Milzkapsel mit der Umgebung, können Bagatelltraumen zu einer Spontanruptur führen. Morphologisch findet man Risse und Ablederungen der Kapsel, darunter Zerreißungen und Blutungen im Parenchym sowie Blutaustritt in das umgebende Gewebe. Hieraus kann sich eine intraabdominale Blutung (Hämaskos) mit hämorrhagischem Schock entwickeln. Als Folge einer Ruptur kann es zu einer Versprengung von Milzgewebe in das Peritoneum kommen (peritoneale Splenose).

22.3.6

Hyperplasie, Entzündungen

Die Milz reagiert als ein in den Blutkreislauf eingeschaltetes Immunorgan bei jeder Auseinandersetzung des Organismus mit körperfremden Substanzen (z.B. Erreger) mit. Dabei unterscheidet man – ähnlich den Veränderungen an Lymphknoten – Hyperplasien als Ausdruck gesteigerter normaler Milzfunktion bzw. unspezifische entzündliche Reaktionen, die mit Schädigungen am Milzgewebe einhergehen, deren morphologisches Bild aber keine Rückschlüsse auf die Ursache zulässt, von den weitaus selteneren spezifischen Entzündungen (z.B. granulomatöse Splenitis).

Perisplenitis Milzkapselentzündungen können als akute fibrinöse Entzündung entlang der Serosa auftreten: ■

flächenhaft bei schweren Entzündungen



fokal über Infarkten.

Das fibrinöse Exsudat begünstigt Verklebungen und Verwachsungen der Milz mit angrenzenden Organen, Zwerchfell und Bauchwand. Verwachsungsstränge können die Beweglichkeit der Milz behindern und damit Rupturen begünstigen. Die chronische Perisplenitis erscheint in Form weißlicher, knorpelharter, plattenförmiger Verdickungen der Milzkaspel (Perisplenitis cartilaginea, „Zuckergussmilz“) und findet

sich isoliert bei Splenomegalien unterschiedlicher Ursache, aber auch im Zuge einer peritonealen Serositis, z.B. bei chronischer Peritonealdialyse.

Unspezifische Funktionssteigerung, Splenitis Hierbei handelt es sich um eine unspezifische Reaktion auf im Blut befindliche Erreger, deren Zerfallsprodukte oder deren Toxine. Die Keime führen zur Aktivierung von neutrophilen Granulozyten und Monozyten sowie zu einer follikulären Hyperplasie der weißen Pulpa. Lysosomale Enzyme der Phagozyten können das Milzgerüst schädigen und auch zu kleinen Einschmelzungen führen. Makroskopisch ist die Milz blutgestaut, weich und vergrößert mit einem Gewicht von 200–400 g. Die rote Pulpa ist aufgelockert, mit einem „zerfließenden“ Aspekt der Schnittfläche. Die weiße Pulpa ist hyperplastisch und kann so bereits mit bloßem Auge wahrgenommen werden. Histologisch sieht man eine unterschiedlich zelldichte Infiltration aus neutrophilen Granulozyten und Plasmazellen sowie gelegentlich auch eosinophilen Granulozyten. Bei einigen Infektionen (Streptokokken) können Mikroabszesse in den Keimzentren der weißen Pulpa beobachtet werden. Bei schweren Entzündungen (Kokken, E. coli) entstehen ggf. Milzabszesse. Eine gewöhnlich geringe Hyperplasie kann auch im Rahmen des Zerfalls von Tumoren mit gesteigerter Resorption in der Milzpulpa vorkommen (sog. „entzündlicher“ oder „spodogener Milztumor“).

Granulomatöse Splenitis Es handelt sich um eine Mitbeteiligung der Milz im Rahmen einer generalisierten granulomatösen Entzündung mit Bildung von Granulomen („spezifische Entzündung“). ■ Epitheloidzellige Granulome vom Tuberkulose-Typ (mit zentraler verkäsungsartiger Nekrose) treten bei der Tuberkulose, gelegentlich aber auch bei anderen Erkrankungen auf, z.B. bei der Brucellose. ■ Kleinherdige Epitheloidzellansammlungen sowie epitheloidzellige Granulome vom Sarkoidose-Typ (ohne zentrale Nekrose) werden nicht nur bei der Sarkoidose, sondern bei verschiedenen Infektionen und als Begleitreaktion bei generalisierten Tumorerkrankungen gefunden. Auch bei malignen Lymphomen können kleinherdige Epitheloidzellansammlungen gemeinsam mit Lymphominfiltraten oder als Begleitreaktion nachweisbar sein. ■ Epitheloidzellige Granulome vom Pseudotuberkulose- Typ (mit zentralem Mikroabszess) finden sich bei Infektionen durch verschiedene Erreger, darunter Yersinia pseudotuberculosis, sowie bei der Lues und bei der Katzenkratzkrankheit (siehe Kap. 22.2.1).

Virale Entzündungen Vor allem Infektionen mit Hepatitis-B-, Masern-, Zytomegalie-, Varizellen- und Epstein-Barr-Virus (EBV) führen zu entzündlichen Reaktionen der Milz. Bei der infektiösen Mononukleose (primäre EBV-Infektion) kommt es zu einer Hyperplasie der roten Pulpa durch virusinfizierte und reaktive Lymphozyten. Daraus folgt ein Hyperspleniesyndrom (Milzgewicht bis 700 g).

Autoimmunkrankheiten Die Mitbeteiligung der Milz bei Autoimmunkrankheiten ist klinisch und morphologisch von untergeordneter Bedeutung. So kann z.B. bei der rheumatoiden Arthritis eine follikuläre Hyperplasie der weißen Pulpa beobachtet werden. Beim systemischen Lupus erythematodes und bei der Sklerodermie finden sich Gefäßveränderungen wie Intimafibrose und perivaskuläre Fibrosen, die zur Organatrophie führen können.

22.3.7

Systemerkrankungen

Die Milz kann bei unterschiedlichen Systemerkrankungen mitbetroffen sein (Stoffwechselkrankheiten, Blutkrankheiten, Neoplasien).

Stoffwechselkrankheiten Amyloidose Im Rahmen der generalisierten Amyloidose ist die Milz häufig betroffen. Man unterscheidet ■ die fokale Amyloidose der weißen Pulpa (sog. Sago Milz) mit knötchenförmigen Ablagerungen von Amyloid in den Follikeln ■ die diffuse Amyloidose mit hellroter wachsartiger Schnittfläche (sog. Schinken-Milz). Sie führt zu einer Splenomegalie (Milzgewicht > 500 g) mit Hypersplenismus (siehe Kap. 22.3.3).

Speicherkrankheiten Bei den seltenen angeborenen Speicherkrankheiten, die mit einer intrazellulären Ablagerung pathologischer Stoffwechselprodukte in Makrophagen einhergehen, ist auch die Milz beteiligt. So führen Lipoidosen wie der Morbus Gaucher und der Morbus Niemann-Pick (siehe Kap. 46.2.2) durch Speicherung von Zerebrosiden bzw. Sphingomyelin in Makrophagen der Pulpastränge zu einer Splenomegalie. Typischerweise finden sich bei diesen Krankheiten Schaumzellen mit vakuolisiertem

Zytoplasma. Mukopolysaccharidosen (siehe Kap. 46.12.1) gehen ebenfalls mit der Speicherung von Mucopolysacchariden in den retikuloendothelialen Zellen einher.

Blutkrankheiten Hämolytische Anämie Korpuskuläre und extrakorpuskuläre hämolytische Anämien (siehe Kap. 21.2.1) gehen mit einem vermehrten Erythrozytenabbau im retikulohistiozytären System der roten Pulpa mit nachfolgender Siderose einher. In Abhängigkeit von der Grundkrankheit und dem Ausmaß der Hämolyse entwickelt sich eine unterschiedlich stark ausgeprägte Splenomegalie (siehe Kap. 22.3.7).

Idiopathische thrombozytopenische Purpura Hierbei kommt es zu einer vermehrten Thrombozytenzerstörung in der Milz. Die rote Pulpa ist reich an Makrophagen, die nach Phagozytose von Thrombozyten infolge der gespeicherten lipidreichen Membranen schaumzellig umgewandelt sein können. Ein Teil der gegen Thrombozyten gerichteten Antikörper wird in der Milz produziert, was sich in einer Hyperplasie der weißen Pulpa und einer vermehrten Zahl von Plasmazellen in der roten Pulpa manifestiert (Plasmozytose).

Neoplastische Blutkrankheiten Sowohl myeloproliferative Erkrankungen als auch maligne Lymphome gehen oft mit einer Infiltration der Milz einher (siehe auch Kap. 21.7 und Kap. 21.8). Bei den myeloproliferativen Erkrankungen stehen die chronischen Formen mit chronischer myeloischer Leukämie (CML), essentieller Thrombozytämie und Polycythaemia vera sowie megakaryozytärer Myelose/Osteomyelosklerose (OMS) im Vordergrund. Hierdurch ist die Splenomegalie z.T. massiv, insbesondere bei CML und OMS (Abb. 22-25), und oft mit Milzinfarkten verbunden. Mikroskopisch findet sich eine bevorzugte Infiltration der roten Pulpa durch Hämatopoesezellen aller drei Reihen, insbesondere der Granulozytopoese. Die weiße Pulpa ist reduziert.

Abb. 22-25 Splenomegalie bei chronischer myeloischer Leukämie.

18 cm große Milz mit gleichmäßig roter Schnittfläche. Eine Beteiligung der Milz bei malignen Lymphomen ist häufig (30–50%). Zu einer Splenomegalie führen insbesondere die Haarzellenleukämie und die Prolymphozytenleukämie. Das Hodgkin-Lymphom befällt in fortgeschrittenen Stadien ebenfalls die Milz. Meist handelt es sich um herdförmig abgrenzbare, wenige Millimeter bis Zentimeter große knotenförmige Infiltrate aus einem bunten reaktiven Zellgemisch, Fibroblasten und wenigen eingestreuten Hodgkin- und Sternberg-Reed-Zellen (Abb. 22-26).

22.3.8

Tumoren

Primäre Milztumoren (Zysten, Hamartien und Neoplasien) sind selten. Die primären Neoplasien leiten sich fast ausschließlich von Endothelzellen oder von Lymphozyten der Marginalzone ab.

Benigne Tumoren Abb. 22-26 Splenomegalie beim Hodgkin-Lymphom.

Schnittfläche mit unterschiedlich großen knotenförmigen Tumorinfiltraten. Echte Milzzysten (Abb. 22-27) werden von einem kubischen und teilweise auch mehrschichtigen Epithel ausgekleidet. Bei den Pseudozysten handelt es sich dagegen um sekundär entstandene Zysten durch Verflüssigung und Resorption von Hämatomen, Abszessen (Abb. 22-28) oder Infarkten.

Abb. 22-27

Milzzysten.

Mehrere von einer glatten Membran begrenzte Milzzysten, die histologisch mit einem Zylinderepithel ausgekleidet sind.

Bei dem inflammatorischen Pseudotumor finden sich fibrotisch-derbe weißliche Knoten, z.T. mit Einblutungen, bestehend aus Spindelzellen (Myofibroblasten), lymphatischen Zellen und Makrophagen. Selten kommen Hamartome in der Milz vor (sog. Splenom). Sie können klinisch als Milztumor imponieren. Sie bestehen meist aus Sinusstrukturen der roten Pulpa. Hämangiome sind die häufigsten Milzneoplasien. Sie können solitär und multipel vorkommen und im Zusammenhang mit anderen Gefäßfehlbildungen (Morbus Osler) auftreten. Mikroskopisch handelt es sich um kavernöse oder kapilläre Hämangiome, z.T. mit extramedullärer Hämatopoese.

Maligne Tumoren Zu den malignen primären Milztumoren zählen das sehr seltene Hämangioendotheliom und das Hämangiosarkom. Selten ist die Milz vom KaposiSarkom bei erworbener Immunschwäche durch HIV-Infektion betroffen. Primäre Milzlymphome, darunter das splenische Marginalzonenlymphom, sind selten.

Abb. 22-28 Großer Milzabszess mit einer typischen pyogenen Abszessmembran.

In etwa 10% der Fälle kommt es bei malignen Neoplasien zur Metastasierung in die Milz, insbesondere bei Bronchialkarzinomen, Mammakarzinomen und malignen Melanomen.

22.4

Thymus

A. MARX Der Thymus ist ein komplexes lymphoepitheliales Organ, das aus einem epithelialen Retikulum, Lymphozyten, Makrophagen, dendritischen Zellen und Myoidzellen mit Acetylcholinrezeptoren besteht. Er spielt eine zentrale Rolle bei der Reifung und Selektion von T-Lymphozyten. Aus Struktur und Funktion lassen sich die pathologischen Veränderungen und deren Konsequenzen ableiten. Tumoren können epithelialer (Thymome) oder lymphatischer Natur sein. Organläsionen (z.B. Entzündungen, Tumoren) können die T-Zell-mediierten Immunreaktionen stören, aber auch zu Autoimmunphänomenen (z.B. gegen muskuläre Acetylcholinrezeptoren) führen.

22.4.1

Normale Struktur und Funktion

Der Thymus gehört zu den primären lymphatischen Organen und spielt die zentrale Rolle bei der Entwicklung der T-Lymphozyten. Die ursprünglich paarige epitheliale Thymusanlage entwickelt sich ab der 6. Schwangerschaftswoche (SSW) aus dem Entoderm der 3. Schlundtasche und wahrscheinlich mesenchymalen Anteilen des 2.–4. Kiemenbogens und wandert bis zum Ende der 8. SSW nach kaudal und medial bis vor den Aortenbogen ins vordere obere Mediastinum. Dort sind die zwei Lappen des Thymus fest durch Bindegewebe miteinander verbunden. Ab der 8. SSW sind in der Thymusanlage myotubenartige, nichtinnervierte Skelettmuskelzellen (Myoidzellen) nachweisbar, die fetale Acetylcholinrezeptoren exprimieren. Die Gliederung des Thymus in Rinde (Kortex) und Mark (Medulla) wird ab der 10. SSW erkennbar und ist in der 16. SSW abgeschlossen. Die kortikomedulläre Differenzierung des Thymus setzt ab der 9. SSW die Besiedlung durch unreife lymphohämatopoetische Stammzellen und deren nachfolgende Reifung voraus. Sie geht ab der 10.–12. SSW mit der Entwicklung von zwiebelschalenartig angeordneten und keratinisierten Epithelstrukturen in der entstehenden Medulla einher (Hassall-Körperchen). Ab der 12. SSW sind dendritische Zellen, ab der 16. SSW thymische BLymphozyten in der Medulla zu finden. Der bei Geburt bis 35 g schwere Thymus nimmt postnatal noch wenige Wochen an Gewicht zu (bis zu ca. 50 g). Danach beginnt bis zum Alter von 35 Jahren eine relativ kontinuierliche Atrophie (Altersinvolution) des lymphoepithelialen Parenchyms auf ca. 20% der Ausgangsmenge. Die Involution setzt sich verlangsamt bis ins hohe Alter fort. Im Rahmen von akuten oder chronischen Stresssituationen (Trauma, Sepsis, Schock, Kachexie u.a.) oder durch Kortikosteroid-, Chemo- oder Radiotherapie kann es zu einer Beschleunigung der Thymusatrophie mit bevorzugtem Verlust kortikaler Thymozyten kommen. Diese akzidentelle Involution ist im Gegensatz zur Altersinvolution lange Zeit reversibel. Aufgabe des Thymus ist die Produktion reifer T-Lymphozyten. Unreife Vorläuferzellen (postnatal aus dem Knochenmark stammend) vermehren sich zuerst stark im Bereich

des Thymuskortex und durchlaufen durch Kontakt mit kortikalen Epithelzellen und dendritischen Zellen in der Medulla einen Reifungsprozess, der schließlich in der Medulla mit reifen T-Lymphozyten endet. Außer von Zell-Zell-Kontakten sind die Expansions- und Reifungsprozesse von Zytokinen (z.B. IL-7) und möglicherweise auch von Thymushormonen abhängig (z.B. Thymosin, Thymopoetin). Die wichtigsten Schritte des Reifungsprozesses werden als positive und negative Selektion bezeichnet (siehe Kap. 22.1.1). Durch ausbleibende positive Selektion und durch negative Selektion (Deletion) sterben etwa 95% der intrathymisch erzeugten T-Zellen noch im Thymus ab, weil sie entweder funktionsunfähig oder potentiell autoreaktiv sind. Reife T-Zellen wandern dann aus und besiedeln die T-Zell-Areale der peripheren lymphatischen Organe.

22.4.2

Fehlbildungen

Aplasie Eine Störung in der Entwicklung der 3. und 4. Schlundtasche kann zur Thymusagenesie führen, die häufig mit einer Nebenschilddrüsenaplasie kombiniert ist und dann als DiGeorge-Syndrom bezeichnet wird (siehe Kap. 5.2 und 47.2.2). Der Thymusdefekt und das Fehlen der Nebenschilddrüsen verursachen einen schweren TZell-Defekt bzw. eine Hypokalzämie und Tetanie. Häufig findet sich auch eine Kombination mit Herzfehlbildungen, Gesichtsdysmorphien und Gaumenspalte. Wenn die Aplasie des Thymus nur inkomplett ist und sich hypoplastische, aber histologisch regelhafte Thymusstrukturen in ektoper Lage im Halsbereich finden, spricht man vom inkompletten DiGeorge-Syndrom.

Thymusdysplasie Thymusdysplasien sind durch Verkleinerung des Thymus, fehlende kortikomedulläre Gliederung, verringerte Zahl von lymphatischen Zellen und meist fehlende HassallKörperchen gekennzeichnet. Das Organ liegt aber regelrecht im Mediastinum. Die Thymusdysplasie ist Ausdruck – nicht Ursache – eines schweren kombinierten Immundefekts (siehe Kap. 47.2.3), eine Folge der zugrunde liegenden Störung der TZell-Entwicklung oder T-Zell-Funktion. Daher können normale Thymusfunktion und Morphologie häufig durch eine allogene Knochenmarktransplantation hergestellt werden. Auch das Wiscott-Aldrich-Syndrom geht u.U. mit einer Thymusdysplasie einher. Primäre B-Zell-Immundefekte sind nicht mit einer Entwicklungsstörung des Thymus verbunden, können aber im Rahmen rezidivierender Infekte dessen akzidentelle Involution bewirken (siehe Kap. 22.4.1).

Ektopisches und akzessorisches Thymusgewebe Die orthotope Lage des Thymus setzt die physiologische Wanderung der Thymusanlage aus dem Bereich der 3. und 4. Schlundtasche bis in das vordere obere Mediastinum voraus (siehe Aplasie). Durch behinderte oder überschießende Wanderung kann versprengtes Thymusgewebe ein- oder beidseitig im Hals- und Thoraxbereich zwischen Schädelbasis und Zwerchfell vorkommen, meist in Nachbarschaft der Schilddrüse und der Glandula submandibularis. Wird ektopes Thymusgewebe zusammen mit einem orthotopen Thymus gefunden, spricht man von akzessorischem Thymusgewebe. Am häufigsten ist ektopes Thymusgewebe (kombiniert mit schwerer Hypoplasie) mit dem inkompletten DiGeorge-Syndrom assoziiert (siehe Aplasie und Kap. 47.2.2), das mit einem ausgeprägten Immundefekt einhergeht. Andere Formen der Thymusektopie haben keine Auswirkungen auf die Immunkompetenz.

Thymushypoplasie und echte Thymushyperplasie Die Thymushypoplasie wird von manchen Autoren mit der Altersinvolution und der akzidentellen Involution gleichgesetzt. Thymushypoplasie im engeren Sinne bedeutet einen für das Alter zu kleinen Thymus mit sonst normalen histologischen Strukturen. Am häufigsten wird diese Veränderung beim inkompletten DiGeorge-Syndrom gefunden (siehe Aplasie und Kap. 47.2.2). Traditionsbedingt wird die Thymushyperplasie von vielen Autoren mit der lymphofollikulären Thymitis gleichgesetzt (siehe Kap. 22.4.3). Unter „echter Thymushyperplasie“ versteht man hingegen eine altersinadäquate, nichtneoplastische Vermehrung von histologisch normal erscheinendem Thymusgewebe. In den meisten Fällen ist deren Ursache unbekannt (idiopathisch). Bekannte Ursachen sind der Morbus Addison, die Anenzephalie, das Beckwith-Wiedemann-Syndrom (Gigantismus mit Viszeromegalie und Omphalozele) und die überschießende Thymusregeneration („rebound hyperplasia“) nach Radio- oder Chemotherapie.

Klinisch-pathologische Korrelationen Thymusaplasien und schwere Thymushypoplasien sind nur durch die Transplantation von allogenem Thymusgewebe therapierbar (nur selten durchgeführt). Leichtere Formen der Thymushypoplasie bleiben klinisch oft unbemerkt. Demgegenüber sind angeborene schwere kombinierte Immundefekte mit konsekutiver Thymusdysplasie in vielen Fällen durch eine frühzeitig durchgeführte Stammzelloder Knochenmarktransplantation behandelbar. Wenn die Transplantation erfolgreich ist, normalisiert sich auch die Thymusmorphologie. Eine Graft-versusHost-Reaktion kann jedoch in manchen Fällen das Thymusepithel zerstören und dadurch eine Rekonstitution des T-Zell-Systems verhindern.

Die physiologische Altersinvolution des Thymus mit starker Verminderung des Thymusepithels ist der Grund dafür, dass es nach dem 60.–70. Lebensjahr im Anschluss an eine Stammzellentransplantation (z.B. wegen einer Leukämie) meist nicht zur vollen Rekonstitution der T-Zell-Funktion kommt, auch wenn die Transplantation hinsichtlich der Knochenmarkrekonstitution erfolgreich war. Heterotopes Thymusgewebe kann klinisch zuweilen als „Tumor“ imponieren, dessen Harmlosigkeit sich erst nach der Resektion und histologischen Aufarbeitung erkennen lässt.

22.4.3

Entzündungen

Lymphofollikuläre Thymitis Unter den entzündlichen Thymusveränderungen ist nur die lymphofollikuläre Thymitis von wesentlicher Bedeutung (Abb. 22-29). Dabei handelt es sich um eine ätiologisch ungeklärte Entzündungsreaktion, die durch Ausbildung von Lymphfollikeln in der Medulla gekennzeichnet ist (daher auch die traditionelle Bezeichnung „lymphofollikuläre Thymushyperplasie“). Im Gegensatz zur echten Thymushyperplasie ist das Thymusepithel nicht vermehrt, und auch das T-ZellKompartiment des Thymuskortex verändert sich nicht. Die lymphofollikuläre Thymitis kommt bei Autoimmunerkrankungen wie Lupus erythematodes, rheumatoider Arthritis, Morbus Basedow, Morbus Addison oder aplastischen Anämien vor, wobei der Zusammenhang mit diesen Erkrankungen noch unklar ist. Demgegenüber wird eine pathogenetische Bedeutung für die Entstehung der Myasthenia gravis allgemein akzeptiert. Daher stellt die Thymektomie heute eine wesentliche therapeutische Maßnahme bei thymitisassoziierter Myasthenia gravis dar.

Myasthenia gravis Die Myasthenia gravis (MG) ist eine Autoimmunerkrankung, die in 95% der Fälle durch Autoantikörper gegen muskuläre Acetylcholinrezeptoren (AChR) an der postsynaptischen Membran der neuromuskulären Verbindung hervorgerufen wird (seropositive MG). In 5% der Fälle ist der AChR offenbar nicht das Autoantigen (sog. seronegative MG). In 70% der Fälle von MG liegt eine lymphofollikuläre Thymitis, in 10% ein Thymom (= paraneoplastische MG), in 20% keine fassbare Thymusveränderung vor.

Abb. 22-29

Lymphofollikuläre Thymitis.

Ausschnitt aus der Medulla mit Hassall-Körperchen (Pfeile) und Keim-zentrum (Doppelpfeil) eines vergrößerten Follikels. HE, Vergr. 100fach.

Pathogenese Die Pathogenese der MG bei der lymphofollikulären Thymitis ist heute weitgehend geklärt: Der AChR ist ein pentamerer Ionenkanal, der in der Zellmembran von Myoidzellen des Thymusmarks vorkommt. Im Rahmen der lymphofollikulären Thymitis geraten die Myoidzellen in unmittelbare Nachbarschaft zu dendritischen Zellen, die den AChR als Immunogen aufnehmen, prozessieren und T-Zellen präsentieren. Die so aktivierten T-Zellen stimulieren ihrerseits B-Zellen, die Autoantikörper gegen AChR bilden. Die aus dem Thymus ins Blut freigesetzten Autoantikörper blockieren den AChR an der Endplatte der quergestreiften Muskulatur und verursachen die für die MG typische Muskelschwäche bzw. erhöhte Muskelermüdbarkeit (siehe Kap. 4.3 und 10.3.7). Die Pathogenese der paraneoplastischen MG ist bisher nur bruchstückhaft verstanden. Da ausschließlich die „thymusähnlichen“ benignen Thymome und malignen Thymome der Kategorie I (siehe Kap. 22.4.4) zu einer MG führen, nimmt man an, dass die nur in diesen Thymomtypen ablaufende T-Zell-Reifung gestört ist und anstelle toleranter T-Zellen (wie im normalen Thymus) potentiell autoaggressive T-Zellen produziert werden. Diese verlassen den Tumor, besiedeln periphere lymphatische Organe (Lymphknoten und den tumornahen Restthymus) und führen dort zur B-Zell-Stimulation und Autoantikörperbildung. Weil ein Teil der Thymome neben der Produktion potentiell autoaggressiver T-Zellen auch eine immunsuppressive Wirkung auf das Immunsystem zeigt, kann es nach Entfernung eines Thymoms zur Exazerbation der MG bzw. zu ihrem erstmaligen Auftreten kommen. Für die Thymom-assoziierte MG ist charakteristisch, dass außer AChR-

Antikörpern auch Autoantikörper gegen Strukturproteine quergestreifter Skelettmuskulatur (Aktin, Myosin, Titin) und gegen neuronale Antigene gebildet werden. Bei der seronegativen MG sind meist keine Thymusveränderungen nachweisbar. Ihre Pathogenese ist bisher unklar.

22.4.4

Tumoren

Thymome Thymome sind Neoplasien des Thymusepithels. Die benignen Thymome und die malignen Thymome der Kategorie I (Tab. 22-11) weisen einen unterschiedlich großen Anteil von nichtneoplastischen unreifen T-Lymphozyten auf, ähnlich wie der normale Thymus. Thymome sind insgesamt sehr selten und in etwa der Hälfte der Fälle benigne. Sie treten hauptsächlich im Erwachsenenalter auf, wo sie häufig die Ursache eines vorderen Mediastinaltumors sind. Makroskopisch handelt es sich um bis zu 20 cm große, lobulierte Tumoren mit grauweißer Schnittfläche (Abb. 22-30a, b). Benigne Thymome sind in charakteristischer Weise bekapselt oder zeigen nur ein minimalinvasives Wachstum (siehe unten). Regressive Veränderungen mit Nekrosen, Blutungen und Zysten sind häufig. Histologisch lassen sich die „thymusähnlichen“ benignen Thymome und die malignen Thymome (Kategorie I) nach der vorherrschenden epithelialen Differenzierung als Thymome vom medullären Typ (benigne; WHO-Typ A), vom Mischtyp (benigne; WHO-Typ AB) und vom kortikalen Typ (niedrigmaligne; WHO-Typ B) klassifizieren. Dabei zeigen die epithelialen Tumorzellen meist nur geringe Atypien (Abb. 22-30c). Maligne Thymome der Kategorie II (WHO-Typ C) haben histologisch keine ähnlichkeit zum normalen Thymus und werden wie Karzinome anderer Lokalisationen typisiert, z.B. als Plattenepithelkarzinome, mukoepidermoide Karzinome, neuroendokrine Karzinome („Karzinoide“) u.a. (Tab. 22-11). Sie weisen mit wenigen Ausnahmen einen hohen Malignitätsgrad auf.

Abb. 22-30

Thymom.

a Makroskopie. Tumor mit glasiger, knotiger Schnittfläche. b Histologie. Epithelialer Tumor (Pfeile) mit dazwischenliegenden nichtneoplastischen Lymphozyten. HE, Vergr. 100fach. c Immunhistologie. Darstellung der Epithelzellen (rot) durch einen Keratinantikörper. Dazwischen nichtneoplastische Lympho-zyten. Vergr. 100fach.

Tab. 22-11 Klinisch-pathologische und histologische Klassifikation von Thymomen.

Klinisch-pathologische Korrelationen Thymome werden oft zufällig im Rahmen einer Thorax-Röntgenuntersuchung oder einer Operation entdeckt oder führen durch Kompression der Nachbarorgane zu oberer Einflussstauung, Dyspnoe oder Schluckbeschwerden. Darüber hinaus können Thymome durch paraneoplastische Autoimmunerkrankungen auffallen. Unter diesen sind die paraneoplastische MG, Knochenmarkschädigungen mit isoliertem Defekt der Erythropoese („pure red cell anemia“), Granulozytopenien, Panzytopenien und die thymomassoziierte Hypogammaglobulinämie (Good-Syndrom) am häufigsten. Grundsätzlich sind eindeutig infiltratives Wachstum durch die Thymomkapsel in das parathymische Fettgewebe und/oder die Nachbarorgane und die Metastasierung als Malignitätskriterien zu werten. Allerdings haben mehrere Studien gezeigt, dass medulläre und gemischte Thymome (benigne Thymome, WHO-Typen A oder AB; Tab. 22-11) nur äußerst selten Nachbarorgane infiltrieren, praktisch nie metastasieren und im Falle einer vollständigen Tumorentfernung auch dann einen gutartigen Verlauf nehmen, wenn es bereits zu einer Infiltration durch die Kapsel in das mediastinale Fettgewebe gekommen ist. Die Differentialdiagnose mediastinaler Raumforderungen ist in Abb. 22-31 skizziert.

Seltene Thymustumoren Im Thymus können außerdem neuroendokrine Karzinome und Keimzelltumoren entstehen, deren Pathogenese bisher ungeklärt ist. Typische Keimzelltumoren sind Teratome, Seminome (praktisch nur bei Männern), Dottersacktumoren, embryonale Karzinome und gemischte Keimzelltumoren. Häufiger als Keimzelltumoren sind maligne Lymphome, speziell der Morbus Hodgkin, das T-lymphoblastische Lymphom, das mediastinale B-Zell-Lymphom und das (niedrigmaligne) B-ZellLymphom vom MALT-Typ des Thymus.

Abb. 22-31 Differentialdiagnosen bei mediastinalen Raumforderungen

in Abhängigkeit von der Lokalisation im oberen, vorderen, mittleren und hinteren Mediastinum. Häufige Diagnosen sind hervorgehoben.

Thymuszysten Man unterscheidet kongenitale Thymuszysten (gewöhnlich unilokulär, dünnwandig und mit serösem Inhalt) von erworbenen Thymuszysten, die üblicherweise multilokulär sind, eine dicke Zystenwand, einen hämorrhagischen oder nekrotischen Inhalt und Verkalkungen aufweisen können. Kongenitale Zysten liegen oft ektop im Halsbereich und werden meist von kubischem Epithel, selten von Plattenepithel ausgekleidet; erworbene Zysten dagegen meist von Platten-, selten auch von kubischem, hochprismatischem oder respiratorischem Epithel. Da die Entstehung erworbener Zysten Entzündungsprozesse voraussetzt, sollte beim Nachweis multilokulärer Thymuszysten an die Möglichkeit einer auslösenden Grunderkrankung gedacht werden (zu denen auch Thymustumoren oder Lymphome zählen können). Differentialdiagnostisch müssen Thymuszysten von zystischen Keimzelltumoren und von perikardialen und bronchogenen Zysten abgegrenzt werden.

22.5 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Erkrankungen des lymphatischen Systems Die Diagnostik reaktiventzündlicher sowie neoplastischer Erkrankungen des lymphatischen Systems ist eine Domäne der Pathologie. Die zunehmende Kenntnis um das Immunsystem sowie um genetische Veränderungen bei neoplastischen Prozessen führt zu einer zunehmenden Diversifizierung von Krankheitsentitäten. Nach wie vor bildet die morphologische Analyse die Basis für die Einteilung derartiger Erkrankungen. In der Regel wird durch eine histopathologische und – mit geringerer Bedeutung – zytologische Analyse der grundlegende Diagnoseweg festgelegt. Reaktive sowie neoplastische Erkrankungen des lymphatischen Systems können zu etwa 80% morphologisch definiert werden. Bedeutsam ist, dass zusätzliche Techniken wie die Immunhistochemie und die molekulare Genetik weitere Informationen liefern, die Eingang in die detaillierte Diagnostik finden, sodass einerseits eine spezifischere Diagnostik, andererseits aber auch eine Objektivierung des histomorphologischen Befundes möglich wird. Besteht der Verdacht auf eine neoplastische lymphatische Systemerkrankung, sollte auf jeden Fall eine Biopsie erfolgen und einer Punktionszytologie vorgezogen werden. Die komplexen Bilder sowohl reaktiver als auch neoplastischer lymphatischer Systemerkrankungen sind nur durch den Zusammenhang im histopathologischen Bild zu erfassen. Mit dem Pathologen ist abzusprechen, in welcher Form das Material übersandt wird. Sofern ausreichend Gewebe gewonnen werden kann, sollte zusätzlich zu dem unmittelbar zu fixierenden Material Gewebe in frischem Zustand asserviert werden, um Zusatzuntersuchungen zu ermöglichen. Die Diagnostik von Veränderungen der mediastinalen Lymphknoten (z.B. durch Lymphome, Sarkoidose, Tuberkulose oder Metastasen) erfordert häufig eine Mediastinoskopie, um Material zu gewinnen. Die meisten epithelialen Thymustumoren, viele Lymphome und Keimzelltumoren lassen sich heute auch an CT-gesteuerten

Stanzbiopsien diagnostizieren. Bei Lymphomen und Keimzelltumoren genügt eine Stanzbiopsie gewöhnlich als Basis einer Chemo- oder Radiotherapie. Demgegenüber ist besonders bei Thymomen die histologische Beurteilung des gesamten Tumorresektates nach Thorakotomie unentbehrlich, um das Tumorstadium (z.B. die Invasionstiefe) und die Vollständigkeit der Tumorentfernung sicher zu bestimmen und so risikoadaptierte Therapien zu ermöglichen.

Literatur

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FRAGEN

Lymphatisches System 1 Welche morphologischen Grundreaktionen werden bei einer Lymphadenitis beobachtet? 2 Nennen Sie morphologisch charakteristische Lymphadenitiden. Worin bestehen die morphologischen Charakteristika? 3 Nach welchen Prinzipien werden maligne Lymphome klassifiziert? 4 Nennen und beschreiben Sie die wichtigsten Vertreter der Non-HodgkinLymphome. 5 Nennen Sie die Epidemiologie und morphologische Charakteristika des Hodgkin-Lymphoms. 6 Welches sind die Indikationen zur morphologischen Untersuchung der in diesem Kapitel beschriebenen Krankheiten? Welche Untersuchungen sind indiziert? Welchen Beitrag können diese Untersuchungen zur präzisen Diagnostik und zur Planung der Therapie leisten? Milz 1 Nennen Sie Formen und Folgen von Kreislaufstörungen der Milz. 2 Erläutern Sie Ursachen und Morphologie von Milzentzündungen. 3 Im Rahmen welcher Systemerkrankungen ist die Milz beteiligt? 4 Was wird unter den Begriffen Hypo- und Hypersplenismus verstanden? 5 Welches sind die Indikationen zur morphologischen Untersuchung der in diesem Kapitel beschriebenen Krankheiten? Welche Untersuchungen sind indiziert? Welchen Beitrag können diese Untersuchungen zur präzisen Diagnostik und zur Planung der Therapie leisten? Thymus 1 Welche Beziehungen bestehen zwischen Thymusstruktur und Thymuspathologie? 2 Nennen Sie Formen der Thymitis und deren Beziehung zur Myasthenia gravis. 3 Nennen Sie Ursachen und Folgen der Myasthenia gravis. 4 Wie werden Thymustumoren morphologisch klassifiziert und bezüglich ihrer Dignität beurteilt? 5 Welches sind die Indikationen zur morphologischen Untersuchung der in diesem Kapitel beschriebenen Krankheiten? Welche Untersuchungen sind indiziert? Welchen Beitrag können diese Untersuchungen zur präzisen Diagnostik und zur Planung der Therapie leisten?

Respirationstrakt

Röntgenbild (links oben) und Makrofoto (links unten) von partiell verkalkten hyalinen Pleuraplaques und Tafelberge aus dem Elbsandsteingebirge.

23 Obere Atemwege K.-M. MÜLLER A. BEHAM 23.1

Nase und Nebenhöhlen 578

23.1.1

Normale Struktur und Funktion 578

23.1.2

Entzündungen 578

Akute Rhinitiden 578 Chronische Rhinitiden 578 Spezifische Rhinitiden 579 Entzündungen der Nasennebenhöhlen 579 23.1.3

Tumoren 580

Epitheliale Tumoren 580 Mesenchymale Tumoren 580 Pseudotumoren 580 23.2

Larynx 580

23.2.1

Normale Struktur und Funktion 580

23.2.2

Larynxödem 580

23.2.3

Laryngitis 581

Akute Laryngitiden 581 Chronische Laryngitiden 581 23.2.4

Larynxtumoren 582

Benigne Tumoren 582 Leukoplakie 582 Maligne Tumoren: Larynxkarzinome 582 23.3

Pharynx 584

23.3.1

Entwicklung und Fehlbildungen 584

23.3.2

Normale Struktur und Funktion 584

23.3.3

Entzündungen (Pharyngitis) 586

23.3.4

Tumoren 586

Benigne Tumoren 586 Maligne Tumoren 586 23.3.5

Lymphatischer Waldeyer-Rachenring 587

Anatomie 587 Physiologische Bedeutung 587 Hyperplasien der Tonsillen 588 Tonsillitis 588 Tumoren der Tonsillen 590 23.4 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Krankheiten der oberen Luftwege 590 Literatur 590 Fragen 590

Zur Orientierung Als obere Atemwege werden die luftleitenden Wege vom Naseneingang über die Nasenhöhlen und den Pharynx bis zum Larynx zusammengefasst. Die Nase ist die „erste Frontlinie“ des Respirationstraktes. Sie wird von etwa 20 000 l Luft pro Tag durchströmt. Hauptaufgaben der oberen Luftwege sind Filterfunktionen von z.B. partikulären Fremdsubstanzen und mikrobiellen Erregern sowie Erwärmung (bis auf ca. 30°C) und Befeuchtung (relative Feuchte über 80%) der Einatmungsluft. Diese wichtigen Funktionen werden durch die starke Durchblutung und eine kontinuierliche Schleimproduktion gewährleistet. Die Flimmerzellen im Oberflächenepithel können partikuläre Substanzen bis zu einigen Millimetern pro Minute nach außen transportieren. Täglich wird durch submuköse Drüsen und das Oberflächenepithel ca. 1 l Nasensekret produziert. Es enthält unspezifische Abwehrstoffe wie Elastasen, Proteasen und Interferone, aber auch antioxidative Substanzen zur Neutralisation chemisch-toxischer Schadstoffe in der Atemluft. Weiterhin sind im

Nasensekret in wechselnder Menge auch immunkompetente Zellen und Immunglobuline zur lokalen „Infektabwehr“ vorhanden. Trotz dieser komplexen Schutzmechanismen gehören Entzündungen der Nasenschleimhaut wie der Virusschnupfen (common cold disease), die allergische Rhinopathie (Heuschnupfen/Pollinosis) und chronisch-unspezifische Entzündungen als Reaktion auf ein großes Spektrum exogener Faktoren (trockene, staubige Atemluft, Witterungsverhältnisse, Reizgase, Schnupftabak etc.) zu den häufigsten Erkrankungen des Respirationstraktes. Der Larynx (Kehlkopf) hat eine doppelte Funktion, einerseits als Eingang zu den unteren Luftwegen und andererseits als Apparat der Stimmbildung. Die für die Stimmgebung verantwortliche, von mehrschichtigem unverhorntem Plattenepithel überkleidete Plica vocalis (Stimmfalte) wird vom Ligamentum vocale (Stimmband) und vom Musculus vocalis gebildet. Kehlkopfentzündungen (Laryngitis) und maligne Tumoren (Larynxkarzinom) können in der Klinik durch die Kehlkopfspiegelung (Laryngoskopie) diagnostiziert werden. Für Einordnung und Abgrenzung entzündlich-gutartiger Kehlkopferkrankungen (z.B. sog. Sänger- oder Schreiknötchen) zu Präneoplasien oder malignen Tumoren (Kehlkopfkarzinom) ist in der Regel eine sorgfältige pathologisch-anatomische Untersuchung der unter Sicht entnommenen Gewebeproben notwendig. Eine mehrwöchige Heiserkeit sollte insbesondere bei Rauchern immer zu einer laryngoskopischen Untersuchung und ggf. histopathologischen Aufarbeitung von Gewebeproben aus auffallenden Veränderungen (z.B. Leukoplakie) führen. Die rechtzeitige Aufdeckung und Behandlung des Kehlkopfkrebses in frühen Entwicklungsphasen beugen einer operativen Entfernung des Kehlkopfes (Laryngektomie) in vorgeschrittenen Krebsstadien vor. Die meisten entzündlichen und neoplastischen Erkrankungen der oberen Luftwege sind wie in den unteren Atemwegen und den Lungen ganz wesentlich durch chronisch einwirkende exogene Noxen – besonders das inhalative chronische Zigarettenrauchen – mit verursacht. Der Pharynx (Rachen/Schlund) ist ein schlauchförmiges Organ und verbindet die Nase bzw. Mundhöhle mit dem Larynx bzw. dem Ösophagus. Er enthält die Tonsillen des Waldeyer-Rachenrings, die als Teile des lymphatischen Systems eine wichtige Funktion zur Abwehr aerogener Infektionen spielen.

23.1

Nase und Nebenhöhlen

23.1.1

Normale Struktur und Funktion

Nase und Nasennebenhöhlen gehören wie Rachen, Kehlkopf und Tracheobronchialsystem zum luftleitenden System. Der von mehrschichtigem Plattenepithel bedeckte Nasenvorhof wird von einem Kranz kurzer Haare (Vibrissae) begrenzt und enthält Talg- und Schweißdrüsen. Diese anatomischen Strukturen verhindern das Eindringen größerer Fremdkörper. Die Regio respiratoria mit Nasenhaupthöhle und Nebenhöhlen (Keilbeinhöhle, Stirnhöhle, Kieferhöhle, Siebbeinhöhle) wird von einer Schleimhaut mit mehrreihigem Flimmerepithel und zahlreichen schleimbildenden Becherzellen sowie dicht liegenden seromukösen Drüsen ausgekleidet. Die Tunica propria enthält ein reich entwickeltes Gefäßsystem. Im dorsalen Nasopharynx befindet sich gut entwickeltes lymphatisches Gewebe (Rachenmandel = Tonsilla pharyngea). Eine turbulente Luftströmung in dem stark gegliederten nasalen Höhlensystem führt zu Anfeuchtung und Erwärmung der Atemluft auf Körpertemperatur. Etwa 1 l Nasensekret pro Tag wird mit dem Flimmerstrom durch die Choanen dem Nasen-Rachen-Raum zugeführt. Durch das schleimreiche Sekret werden Staubpartikel abgefangen. Die Riechfunktion wird durch Nervenfasern des N. olfactorius im Bereich des Nasendaches vermittelt.

23.1.2

Entzündungen

Akute Rhinitiden Syn.: Rhinitis catarrhalis

Definition Die akute Rhinitis (Coryza = Schnupfen) ist eine akut verlaufende serös-schleimige Entzündung der Nasenschleimhaut. Ätiologie Man unterscheidet nach der Ätiologie ■ virale

■ bakterielle (z.B. Diphtherie) ■ allergisch-neurovaskuläre Rhinitiden. Es gibt primäre und sekundäre (begleitende) Rhinitiden. Eine Beteiligung der Nasenschleimhaut ist häufig bei Masern, Grippe, Windpocken, Scharlach und Keuchhusten.

Virale Rhinitis Etwa 90% der akuten Rhinitiden sind viraler Genese. Prädisponierend sind Feuchtigkeits- oder Kältereize, die über eine lokale Zirkulationsstörung eine Schwächung der Abwehrmechanismen bewirken (sog. Common-Cold-Disease). Häufigste Erreger sind Rhinoviren, eine Untergruppe der Picornaviren (pico = sehr klein, rna = RNA-Viren – über 60 verschiedene Typen). Die Übertragung erfolgt durch Tröpfcheninfektion.

Morphologie Mikroskopische Befunde sind Zilienverklumpung der Flimmerzellen des respiratorischen, sinunasalen Oberflächenepithels und ein Ödem des Schleimhautstromas. Bei schweren Infektionen kommt es zu Nekrosen der Epithelzellen. Hierbei besteht die Gefahr einer bakteriellen Superinfektion (z.B. durch Strepto- oder Staphylokokken).

Bakterielle Rhinitis Die bakterielle Rhinitis ist die häufigste Manifestationsform der Diphtherie bei Säuglingen. Durch das Corynebacterium diphtheriae werden Exotoxine produziert, die zur Schleimhautschädigung und zu einem fibrinreichen Exsudat mit Einschluss nekrotischer Schleimhautepithelien (pseudomembranöse Entzündung) führen.

Allergisch-neurovaskuläre Rhinitis Hierzu gehört der Heuschnupfen, eine allergische (immunologische) Reaktion vom Typ I (siehe Kap. 4.3.1). Auslösende Allergene sind inhalierte Pollen, seltener Mehlallergene, Tierhaare sowie Hausstaub- oder Nahrungsmittelallergene. Die allergische Rhinitis ist oft kombiniert mit anderen Erkrankungen des atopischen Formenkreises wie z.B. Asthma bronchiale, Urtikaria, Conjunctivitis allergica oder Neurodermitis.

Morphologie Histologisch findet man ein Schleimhautödem, ein wechselnd dichtes Entzündungsinfiltrat aus Mastzellen, Lymphozyten, Plasmazellen und eosinophilen Leukozyten sowie eine Verdickung der Basalmembran.

Chronische Rhinitiden Chronische Rhinitiden können sich sekundär aus akuten Entzündungen entwickeln oder primär chronisch verlaufen. Beim Erwachsenen spielen chronische Nasennebenhöhlenentzündungen und persistierende Inhalationen exogener Noxen eine Rolle. Hyperplasien der Rachenmandel (Adenoide) begünstigen die chronische Rhinitis.

Chronisch-hyperplastische Rhinitis Wiederkehrende, unspezifische Rhinitiden führen zu einer Fibrose und zu einer Hyperplasie der Nasenschleimhaut (Abb. 23-1). Solche Hyperplasien des Gewebes – im Gegensatz zu echten Neubildungen – nennt man Polypen. Die Nasenschleimhautpolypen sind meist weich, grau-glasig und teilweise gestielt. Histologisch finden sich oftmals ein ausgeprägtes Stromaödem und reichlich eosinophile Granulozyten (sog. inflammatorische, sinunasale Polypen). Sie entwickeln sich vorwiegend im mittleren und unteren Nasengang. Traubenförmige Polypen führen zur Beeinträchtigung der Nasenatmung.

Atrophische chronische Rhinitis Die chronische Inhalation exogener Noxen (z.B. chemische Substanzen, Chromate, Arsen, Kokain etc.) führt zur fortschreitenden Schleimhautatrophie. Durch Atrophie der seromukösen Drüsen in der Schleimhaut kann es zum Bild der chronischen Rhinitis sicca kommen.

Spezifische Rhinitiden Tuberkulose, Syphilis Die Schleimhauttuberkulose (Schleimhautlupus) ist heute selten. Sie resultiert aus einer hämatogenen Streuung der Mykobakterien (siehe Kap. 48.2.7). Durch die granulomatöse destruierende Schleimhautentzündung können ausgedehntere Defekte bis zur Perforation des Nasenseptums entstehen (Extrembefund ist das sog. Totenkopfgesicht). Die granulomatöse und die gummöse Syphilis der Nasenschleimhaut sind heute extrem selten.

Rhinosklerom Das sog. Rhinosklerom ist eine uncharakteristische granulierende Entzündung der Schleimhaut der Nase, des Mundes und der anschließenden oberen Atemwege, die durch Klebsiella rhinoscleromatis hervorgerufen wird. Die Bakterien finden sich in großen histiozytären Schaumzellen (sog. Mikulicz-Zellen).

Wegener-Granulomatose Charakteristisches morphologisches Substrat der Wegener-Granulomatose (siehe Kap. 36.9.5) unter Mitbeteiligung des oberen Respirationstrakts ist eine nekrotisierende, granulomatöse Vaskulitis. Im Serum der Patienten lassen sich häufig Autoantikörper gegen Granulozytenproteine (sog. ANCA = antineutrophile zytoplasmatische Antikörper) nachweisen.

Entzündungen der Nasennebenhöhlen Akute Sinusitis Hierunter versteht man eine akute Entzündung vorwiegend der Schleimhäute der Nasennebenhöhlen. Sie entwickelt sich meist durch die Fortleitung einer akuten Rhinitis. Das Bild entspricht dem der akuten Rhinitis.

Abb. 23-1

Nasenschleimhautpolypen.

a Operationspräparat von Nasenschleimhautpolypen mit glasiger Schnittfläche. b Mikroskopisches Übersichtsbild. Ödematös aufgelockertes Stroma mit eingedicktem Sekret in zystisch erweiterten Drüsen. Van-Gieson-Elastica, Vergr. 1fach.

Chronische Sinusitis Die chronische Sinusitis der Kiefer- und Siebbeinhöhlen entwickelt sich überwiegend aus einer akuten Form. Bei der chronisch-hypertrophischen Sinusitis können sich gestielte Polypen aus der Kieferhöhle oder den Siebbeinzellen bis zum Nasen-Rachen-Raum entwickeln (sog. Choanalpolyp).

Odontogene Kieferhöhleneiterung Diese Sonderform der Sinusitis entsteht durch Fortleitung parodontaler eitriger Entzündungen.

Mukozelen Mukozelen können im Rahmen von Sinusitiden bei Verschluss der Ausführungsgänge entstehen. Die Nasennebenhöhlen sind mit eingedickten Sekretund Schleimsubstanzen angefüllt. Die Superinfektion mit Eitererregern führt zur Pyozele.

23.1.3

Tumoren

Epitheliale Tumoren Papillome Papillome sind – im Gegensatz zu Polypen – echte Neubildungen. Sie entwickeln sich meist im mittleren Nasengang, aber auch in der Kiefer- oder Siebbeinhöhle. Der Altersgipfel liegt zwischen dem 5. und 6. Lebensjahrzehnt, das männliche Geschlecht ist bevorzugt. Das invertierte Papillom ist eine Sonderform mit endophytischer Wachstumsrichtung und Tendenz zur lokalen Knochendestruktion. Bei ausgedehnten oberflächlichen Plattenepithelmetaplasien kann die Abgrenzung zu einem Plattenepithelkarzinom schwierig sein.

Plattenepithelkarzinome Plattenepithelkarzinome sind die häufigsten malignen Tumoren im Hals-NasenOhren-Bereich. Ein Zusammenhang mit (meist beruflich bedingten) chronischen Reizungen durch chemische Substanzen wie z.B. Arsen, Chrom oder Nickel ist bekannt. Beim seltenen Adenokarzinom der inneren Nase spielt eine meist beruflich bedingte Holzstaubexposition eine Rolle. Das Adenokarzinom der Nasenhaupt- und Nasennebenhöhle wird als Berufskrebsleiden anerkannt, wenn eine Exposition an Arbeitsplätzen mit der Verarbeitung von Eichen- oder Buchenholz gegeben ist. Gefährdete Berufsgruppen sind Bau- und Möbelschreiner, Parkettleger, Küfer und Stellmacher.

Tumoren der ortsständigen Drüsen Zu Tumoren der ortsständigen Drüsen gehören pleomorphe Adenome, myoepitheliale Karzinome und andere, seltene Neoplasien.

Mesenchymale Tumoren Zu den benignen mesenchymalen Tumoren gehören in erster Linie Hämangiome, deren mit Schleimhautulzerationen einhergehende Form auch als pyogenes Granulom bezeichnet wird. Daneben gibt es Osteome, Fibrome, Myxome und Chondrome. Sie sind bevorzugt in der Stirnhöhle lokalisiert. Sarkome sind selten. Das juvenile Nasen-Rachen-Fibrom ist eine gefäßreiche fibromatöse Neubildung, die nur beim männlichen Geschlecht in der Pubertät vorkommt. Es entsteht im NasenRachen-Raum und breitet sich gegen die Nasenhöhle zu aus. Histologisch handelt es sich um zellreiches, von unterschiedlich großen Gefäßen mit teils irregulärem muskulärem Wandaufbau durchzogenes fibromatöses Gewebe. Die Neubildungen neigen zu starken rezidivierenden Blutungen. Vor der Pubertät besteht eine erhebliche Rezidivneigung, später werden spontane Rückbildungen beobachtet. Das Granuloma gangraenescens (malignes Mittelliniengranulom) ist ein peripheres T-Zell-Lymphom, das mit dem Bild einer progressiv-nekrotischen Entzündung einhergeht.

Pseudotumoren Von autonomen Tumoren im Nasenbereich sind Pseudotumoren abzugrenzen, die durch (z.B. entzündliche) Schwellung verursacht werden. Das Rhinophym (sog. Kartoffelnase) ist Folge einer knotigen Hyperplasie der Talgdrüsen im Nasenvorhofbereich mit Bindegewebevermehrung und Teleangiektasien. Chronischer Alkoholabusus, der Genuss von stark gewürzten Speisen sowie intestinale Erkrankungen spielen ursächlich eine Rolle.

23.2 23.2.1

Larynx Normale Struktur und Funktion

Der Larynx (Kehlkopf) wird in drei Etagen unterteilt (Abb. 23-2). Der supraglottische Raum wird durch den Epiglottisbereich, der glottische Raum durch den Ventriculus laryngis mit den proximalen Taschenfalten (Plicae ventriculares) und distalen Stimmbändern (Plicae vocales) und der infraglottische Raum von der Rima glottidis bis zum unteren Rand des Ringknorpels gebildet (Conus elasticus). Die Stimmbänder sind von mehrschichtigem unverhorntem Plattenepithel überkleidet. Der Larynx ist einerseits Eingang zu den unteren Luftwegen und dient andererseits als Apparat der Stimmbildung.

23.2.2 Larynxödem Abb. 23-2 Larynx (Kehlkopf).

Schematische Darstellung der drei Kehlkopfetagen am aufgeklappten Kehlkopf von dorsal. Ausschnittsvergrößerung der glottischen Region mit mehrschichtigem Plattenepithel im Stimmbandbereich (häufigste Entwicklungsregion des Kehlkopfkarzinoms). Die besondere Schwellfähigkeit der Larynxschleimhaut am Kehlkopfeingang kann bei vermehrter Flüssigkeitseinlagerung (Ödem) relativ rasch zu Luftnot mit Erstickungssymptomatik führen. Auslösende Faktoren können Allergien, mechanische Irritationen (Intubationen, Operationen), Bestrahlungen etc. sein (Abb. 23-3a).

Abb. 23-3

a Larynxödem, makroskopische Aufnahme. Massive Schwellung der Schleimhaut durch Flüssigkeitseinlagerung und konsekutive Einengung des Kehlkopfeingangs. b Stimmbandpolyp, mikroskopische Aufnahme. Neugebildete weitlumige Blutgefäße in einem ödematös aufgelockerten Stroma und extravasales Fibrin. HE, Vergr. 25fach. Eine Sonderform ist das sog. Quincke-Ödem (angioneurotisches Ödem), das anfallsartig nach leichter Schleimhautreizung auftritt. Häufigste Ursache des QuinckeÖdems ist eine histaminvermittelte Reaktion. Ferner entsteht sie im Rahmen eines angeborenen oder erworbenen (Autoantikörper, Lymphome) C1-Esterase-Mangels.

23.2.3

Laryngitis

Die Laryngitis ist eine Entzündung von Kehlkopfschleimhaut und/oder-skelett. Man unterscheidet akute und chronische Verlaufsformen.

Akute Laryngitiden Ätiologie Ätiologische Faktoren der unspezifischen akuten Laryngitis sind virale und bakterielle Infektionen, mechanische Reize und chemische Noxen (Zigarettenrauch).

Subglottische stenosierende Laryngitis Syn.: Pseudokrupp Es handelt sich um eine rezidivierende, überwiegend viral bedingte Entzündung der subglottischen Kehlkopfregion. Sie löst bei Kindern im Alter von ¾–4½ Jahren Atemwegsstenosen und Erstickungsanfälle mit jahreszeitlicher Häufung im Herbst und Winter aus. Der regional verstärkten allgemeinen Luftverschmutzung kommt offensichtlich nur ein untergeordneter kokausaler Faktor bei diesem Krankheitsbild zu. Häufig können als Erreger Parainfluenzaviren nachgewiesen werden. Ein fulminanter Krankheitsverlauf kann eine Intubation erfordern. Der Pseudokrupp muss differentialdiagnostisch von der meist akut auftretenden bakteriellen Epiglottitis (hervorgerufen z.B. durch Haemophilus influenzae) abgegrenzt werden, die ebenfalls insbesondere bei Kleinkindern auftritt und mit einem inspiratorischen Stridor einhergeht.

Akute diphtherische Laryngitis Syn.: echter Krupp Der echte Krupp wird durch das Corynebacterium diphtheriae verursacht. Er ist eine pseudomembranös-nekrotisierende Entzündung, bei der ein Fibrinexsudat Schleimhautnekrosen aufliegt.

Akute Grippelaryngitis Die Grippelaryngitis, hervorgerufen durch Influenzaviren, kann als pseudomembranöse oder hämorrhagische Entzündung verlaufen. Die Verbreitung der Viren erfolgt bevorzugt durch Tröpfcheninfektion.

Chronische Laryngitiden Ätiologie Chronische Laryngitiden entwickeln sich bei fortgesetzter Reizung der Kehlkopfschleimhaut. Hauptursache ist das chronische Rauchen. Daneben spielen gasförmige und partikuläre Schadstoffe eine Rolle. Eine spezifische chronische Entzündung ist die Kehlkopftuberkulose.

Chronische unspezifische Laryngitis Diese Form manifestiert sich häufig als Sängerknötchen oder in Form von Granulationsgewebspolypen. Als Sängerknötchen bezeichnet man eine meist polypöse Schleimhautverdickung des mittleren Stimmbanddrittels mit Stromaödem und Fibrinexsudation. Ursache ist in der Regel eine hohe stimmliche Überlastung, die zur Namensgebung geführt hat (Sänger, Redner). Die Veränderungen treten oft symmetrisch und an beiden Stimmbändern auf. Stimmbandpolypen sind meist gestielte und stark vaskularisierte, aus Granulationsgewebe bestehende knötchenförmige Verdickungen im Schleimhautbereich der Taschenbänder oder im Ventriculus Morgagni (Abb. 23-3b). Sie sind Folge einer überschießenden Reaktion auf vorausgegangene Schleimhautdefekte.

Tuberkulose Die Larynxtuberkulose entsteht fast immer sekundär. Meist handelt es sich um die kanalikuläre Ausbreitung einer kavernösen Lungentuberkulose (sog. sputogene Ausbreitung). Bevorzugte Lokalisation der zur Ulzeration neigenden spezifischen Entzündung ist die Larynxhinterwand.

23.2.4

Larynxtumoren

Benigne Tumoren Kehlkopfpapillome mit exophytischem blumenkohlartigem Wachstum bestehen aus einem bindegewebigen, gefäßführenden Stroma mit einem oberflächlichen, wechselnd breiten mehrschichtigen Plattenepithel (siehe Abb. 23-2). Der juvenilen Papillomatose liegt ätiologisch eine Infektion mit humanen PapillomaViren (HPV-Viren Typ 11 oder Typ 6) zugrunde. Makroskopisch finden sich multiple, leicht blutende, warzige Neubildungen. Histologisch zeigt das verbreiterte

mehrschichtige Plattenepithel in den luminalen Zellen perinukleäre zytoplasmatische Vakuolen. Die juvenile Papillomatose rezidiviert postoperativ häufig. Nach der Pubertät nimmt die Rezidivneigung ab. Papillome des Erwachsenenalters entwickeln sich häufiger isoliert. Sie bestehen aus einem vaskularisierten Bindegewebegerüst mit wechselnd stark zur Verhornung neigendem mehrschichtigem Plattenepithel (Abb. 23-4a). Epitheldysplasien sind als Präneoplasien zu werten, Übergänge in Plattenepithelkarzinome sind aber selten (5%).

Leukoplakie Definition Unter dem klinischen Begriff der Leukoplakie wird der deskriptive Befund einer grauweißen Verfärbung der Oberflächenstrukturen verstanden. Hinter diesem Begriff verbergen sich pathologisch-anatomisch unterschiedliche Befunde, die von einer reaktiven und entzündlichen Hyperkeratose bis zu Befunden früher Entwicklungsphasen von Karzinomen reichen. Die einfache Leukoplakie der Stimmbänder zeigt sich als weißlicher Fleck auf der Schleimhaut (Abb. 23-4b). Sie besteht morphologisch aus einer Verbreiterung der Stachelzellenschicht (Akanthose) mit Hyperkeratose des normalerweise im Stimmbandbereich unverhornten Plattenepithels. Die Veränderungen sind von einem entzündlichen Infiltrat des subepithelialen Stromas begleitet. Leukoplakien der Stimmbandregion sind bevorzugte Lokalisationen für die Entwicklung von Stimmbandkarzinomen (Larynxkarzinom = „inneres Kehlkopfkarzinom“) (Abb. 23-4c).

Abb. 23-4 Laryngoskopische Bilder pathologischer Befunde im Stimmbandbereich.

a Larynxpapillome. Laryngoskopisches Bild von Larynxpapillomen. b Leukoplakien. Laryngoskopisches Bild von Leukoplakien (hyperplastisches Plattenepithel mit Verhornung) im Bereich beider Stimmbänder. c Frühphase eines Plattenepithelkarzinoms. Laryngoskopisches Bild einer noch frühen Entwicklungsphase eines Plattenepithelkarzinoms des Stimmbands.

Maligne Tumoren: Larynxkarzinome Karzinome des Larynx sind bei Männern wesentlich häufiger als bei Frauen (6:1). In den letzten Jahren ist aber auch bei Frauen eine bemerkenswerte Zunahme zu registrieren. Dies hängt mit dem ätiologisch wesentlichen Faktor des chronischen Rauchens zusammen. Je nach topographischer Entwicklung bösartiger Larynxtumoren werden unterschieden: ■ Glottiskarzinom. Dieses sog. innere Kehlkopfkarzinom ist mit mehr als 60% der häufigste Kehlkopfkrebs. Ausgangspunkt sind die Stimmbänder. Histologisch handelt es sich in 95% um Plattenepithelkarzinome. Initial besteht eine plattenartige weiße Stimmbandverdickung. Das endophytische und meist auch exophytische Wachstum führen zu Ulzerationen und Zerstörung umgebender Kehlkopfstrukturen (Abb. 23-5a bis d). Die Metastasierung erfolgt zunächst in die lokalen Lymphknoten, Fernmetastasen treten erst in fortgeschrittenen Tumorstadien auf. ■ Supraglottische Karzinome. Sie nehmen ihren Ausgang von den Taschenbändern oder der laryngealen Epiglottisseite. Bei diesen Tumoren sind bereits bei Diagnosestellung in nahezu 50% der Fälle Lymphknotenmetastasen vorhanden. ■ Subglottische Karzinome. Sie sind relativ selten und führen bei lokaler Tumorausbreitung zu einer frühzeitigen Infiltration des Ringknorpels.

Abb. 23-5 Larynxkarzinome in verschiedenen Entwicklungsformen.

a Laryngoskopisches Bild eines auf die vordere Kommissur übergreifenden Glottiskarzinoms. b Fortgeschrittenes, zentral ulzeriertes Karzinom mit Übergang auf die dorsale Seite des Kehldeckels (T4-Tumor). c Mikroskopische Übersicht: papillär wachsendes Plattenepithelkarzinom des Larynx. Van-Gieson-Elastica, Vergr. 2fach. d Papillär gewachsenes Stimmbandkarzinom mit ausgeprägtem umgebendem Schleimhautödem. Die Festlegung des Tumorstadiums nach klinischen und pathologisch-anatomischen Befunden am Operationspräparat erfolgt nach den Kriterien des TNM-Systems der UICC (Union Internationale Contre le Cancer; Abb. 23-6). Von diesen sog. inneren Kehlkopfkarzinomen wird das „äußere Kehlkopfkarzinom“, das Hypopharynxkarzinom, in der Übergangsregion von Pharynx zu Ösophagus abgegrenzt. Die Unterscheidung von „innerem und äußerem“ Larynxkarzinom erlangt unter versicherungsmedizinischen Aspekten eine gewisse Bedeutung. Nach der gültigen Berufskrankheitenverordnung Deutschlands kann ein sog. inneres Larynxkarzinom als asbestassoziierte Berufskrankheit anerkannt werden. Dazu müssen die folgenden Brückenbefunde erfüllt sein: ■ der histologische Nachweis einer Asbestose mindestens vom Schweregrad einer Minimalasbestose, ■ typische Pleuraveränderungen nach Art hyaliner Pleuraplaques, die mit Wahrscheinlichkeit asbestassoziiert entstanden sind,

Abb. 23-6 Stadien der Tumorausbreitung von Stimmbandkarzinomen nach der TNM-Klassifikation der UICC (Union Internationale Contre le Cancer).

Kombinierte Darstellung der laryngoskopischen Befunde und der Ausbreitungsstadien nach Längsschnitten am Kehlkopfpräparat. T-Stadien = präoperative, pT-Stadien = postoperative Tumorstadien. ■ erhöhte berufliche Asbestexposition; Maßeinheit für die Asbestfaserstaubdosis ist hierbei das Faserjahr – das Produkt aus mittlerer Asbestfaserkonzentration K (Anzahl der Fasern pro cm3 Atemluft) und der Dauer der Faserexposition J (siehe auch Kap. 51.2.2).

23.3 23.3.1

Pharynx Entwicklung und Fehlbildungen

Der Pharynx entwickelt sich als Teil des Kopfdarmes aus dem Kiemendarm. Bis zur 4. Embryonalwoche sind fünf innere Kiemenfurchen als bilateral-symmetrische Ausstülpungen des Entoderms entwickelt. Eine Ausbuchtung der ersten Kiementasche wandelt sich in die Pharynxbucht um. Im Bereich der zweiten Kiementasche liegt die Tonsillarbucht. Als branchiogene Fehlbildungen werden Entwicklungsstörungen bei der Umbildung des Kiemendarms bezeichnet. Es werden Halsfisteln und Halszysten unterschieden, die sich aus Resten entwicklungsgeschichtlich zunächst angelegter Gangstrukturen entwickeln können. Pharyngealzysten liegen meist in der seitlichen Epipharynxwand und können von Flimmerepithel oder Plattenepithel ausgekleidet sein. Charakteristisch ist reichlich entwickeltes lymphoides Gewebe in der Zystenwand. Laterale äußere Halsfisteln resultieren aus Resten des Ductus cervicalis bzw. Ductus thymopharyngicus mit der Mündung am Vorderrand des M. sternocleidomastoideus. Als Pharynxdivertikel werden vorwiegend aus der Hinterwand, aber auch Seitenwand entwickelte Ausstülpungen des Hypopharynx am Übergang zum Ösophagus bezeichnet. Die seitlichen Hypopharynxdivertikel sind auf Fehlentwicklungen im Bereich des 2. bis 4. Kiemenbogens zurückzuführen (siehe Lehrbücher der Entwicklungsgeschichte).

23.3.2

Normale Struktur und Funktion

Der Pharynx (griech.: Rachen, Schlund) ist der gemeinsame Teil des Luft- und Speiseweges im Anschluss an Nasen- und Mundhöhle bis zum Eingang in den Ösophagus bzw. den Larynx. Das „schlauchförmige“, seitlich und dorsal durch muskulöse Weichteilstrukturen abgeschlossene Organ ist an der Schädelbasis befestigt und dorsal vor der Wirbelsäule abgeplattet. Der Pharynx ist ca. 12 cm lang und reicht von der Schädelbasis bis zur Höhe des 6. Halswirbels (Abb. 23-7). Topographisch werden in kraniokaudaler Richtung drei Abschnitte unterschieden (Abb. 23-8):



Epipharynx = Nasopharynx = Pars nasalis pharyngis



Mesopharynx = Oropharynx = Pars oralis pharyngis



Hypopharynx = Pars laryngea pharyngis.

Die Unterteilung in drei Etagen wird auf die im Bereich der Vorderwand vorhandenen Öffnungen bezogen. Der Epipharynx ist der größte Abschnitt. Verbindungen zur Nasenhöhle bestehen über die paarigen Choanen. Über die Ostia pharyngia tubae bestehen Verbindungen zum Mittelohr. Die Tubenverbindungen werden dorsal und kranial vom Tubenwulst und vom dorsal angrenzenden taschenförmigen Recessus pharyngeus (Rosenmüller-Grube) begrenzt.

Abb. 23-7 Schema des Pharynx im Sagittalschnitt mit Darstellung der Überkreuzung von Luft- und Speiseweg.

Der Mesopharynx steht über den Isthmus faucium (lat.: fauces = Schlund) in Verbindung mit der Mundhöhle. Beim Schlucken und bei der Phonation erfolgt der

Abschluss der Pars oralis von der Pars nasalis durch die Hebung des Gaumensegels, das an die Rachenhinterwand gedrückt wird. Die Vorderwand (glossoepiglottisches Areal) wird von der Zunge distal der Papillae circumvallatae gebildet. Die Seitenwände bestehen aus den Tonsillen, Gaumenbögen und Tonsillarfurchen, die obere Wand aus der Vorderfläche des weichen Gaumens mit der Uvula. Der Hypopharynx gehört überwiegend zum Speiseweg. Dieser Abschnitt reicht vom Kehlkopfeingang bis zum unteren Rand des Ringknorpels. Nach distal und seitlich vom Aditus laryngis schließt sich der Sinus piriformis an. Er wird seitlich vom Schildknorpel und medial von der aryepiglottischen Falte sowie Ary- und Ringknorpeln begrenzt. Die Hypopharynxhinterwand reicht vom Boden der Vallecula bis zur Höhe des unteren Randes des Ringknorpels.

Mikroskopischer Aufbau Das schlauchförmige Schlundorgan wird vorwiegend von den Muskeln der Schlundschnürer und Schlundheber gebildet. Die Schleimhaut trägt im oberen Teil als Fortsetzung der Nasenschleimhaut Flimmerepithel. Im Bereich des Schlingweges – Pars oralis und Pars laryngea – findet sich als Fortsetzung der Mundhöhlenschleimhaut mehrschichtiges nichtverhorntes Plattenepithel. In die Wand sind zahlreiche seromuköse Drüsen zur Produktion von Gleitspeichel eingebaut.

Abb. 23-8

a Schema der Topographie von Epipharynx (orange), Mesopharnyx (grün) und Hypopharynx (rot) im Sagittalschnitt. b Schematische Darstellung des eröffneten Pharynx von dorsal.

Eine Muscularis mucosae fehlt. Die Submukosa stellt im obersten, muskelfreien Abschnitt der Pharynxwand eine derbe Membran, die Fascia pharyngobasilaris, durch die der Schlauch des Schlundes an der Schädelbasis aufgehängt ist. Die Tunica muscularis des Pharynx besteht aus quergestreifter Muskulatur, wobei außen die Ring- und innen die Längsmuskulatur angeordnet sind.

23.3.3

Entzündungen (Pharyngitis)

Die akute Pharyngitis ist eine in der Regel nur oberflächliche Entzündung der Rachenschleimhaut, meist im Rahmen von Infekten der Schleimhäute, der oberen und unteren Luftwege. Ursachen sind bakterielle oder virale Infektionen (siehe Kap. 24.3 und 24.6), bei Kindern u.a. besonders bei Keuchhusten (Pertussis-Bakterium) und Röteln (Rubella-Virus). Die chronisch-rezidivierende Pharyngitis ist bevorzugt durch exogene Noxen (Tabakrauch, Alkohol, physikalisch-chemische Reize, chronische Mundatmung), allergisch-hyperergische/immunologische Faktoren und Stoffwechselstörungen bedingt. Rezidivierende Entzündungen können zu Um- und Abbauvorgängen der Schleimhaut führen. Bei der Pharyngitis hyperplastica ist die entzündlich-hyperämische Schleimhaut polypoid aufgefaltet, bei der Pharyngitis atrophicans et sicca stehen Fibrosierungen mit Abbau der Drüsen und des lymphatischen Gewebes sowie Verhornungen des mehrschichtigen oberflächlichen Plattenepithels im Vordergrund. Als Bursitis pharyngealis wird eine Sonderform der Pharyngitis im Bereich eines okzipitalen Grübchens des Epipharynx bezeichnet (Bursa = Schleimbeutel/Tasche). In der bereits im Embryonalalter vorhandenen, bis 1,5 cm tiefen Einsenkung des Os occipitale haftet die Schleimhaut des Epipharynx fest an. Entzündliche Veränderungen mit vermehrter Schleimproduktion durch Becherzellen können zur zystenartigen Umbildung führen.

Klinisch-pathologische Korrelationen Bei der akuten Pharyngitis sind die Schleimhäute ödematös geschwollen und als Folge der kapillären Hyperämie gerötet. Klinische Symptome sind Hustenreiz, Schluckbeschwerden, Brennen, Trockenheits- und Fremdkörpergefühl sowie Räusperzwang. Die chronisch-entzündliche Reizung der zahlreich in der Schleimhaut vorhandenen seromukösen Drüsen ist Ursache einer vermehrten Schleimproduktion (katarrhalische Entzündung). Bei der chronisch-atrophisierenden Pharyngitis resultiert ein trockenes, grauweißes, mit zähem Schleim bedecktes Oberflächenbild. Schluckbeschwerden als Folge einer Schleimhautatrophie auch im Bereich des Rachens sind häufig beim Plummer-Vinson-Syndrom (sog. sideropenische Dysphagie bei Eisen- und Vitaminmangel).

23.3.4

Tumoren

Benigne Tumoren Benigne Tumoren wie Papillome, Hämangiome, Lymphangiome, Fibrome, Myome und Adenome (siehe Kap. 6.7.1 und 6.7.2) sind selten. Vorwiegend im Epipharynxbereich sind Kraniopharyngeome und Chordome durch Einwachsen aus der Umgebung lokalisiert. Kraniopharyngeome entwickeln sich im Bereich des Rachendaches aus Resten des Ductus craniopharyngicus. Histologisch bestehen sie aus unterschiedlich differenzierten epithelialen Strukturen, Cholesterinkristallen, Verkalkungen und Verknöcherungen. Es handelt sich um grundsätzlich gutartige, langsam progredient wachsende Neubildungen. Hauptlokalisation ist die Sella (Tumor der Rathke-Tasche). Das Erkrankungsalter liegt zwischen dem 10. und 25. Lebensjahr. Klinische Zeichen imponieren durch Rückwirkungen auf den Hypophysenvorderlappen und ein sog. Chiasmasyndrom bei Druck der Neubildungen auf das Chiasma opticum. Die Prognose nach Operation bzw. Strahlentherapie ist gut. Nasen-Rachen-Fibrome (sog. juvenile Angiofibrome) entwickeln sich als breitbasige, meist von der hinteren Rachenwand ausgehende gefäßreiche Tumoren. Die Gefäße sind entweder kleinkalibrig (kapillär oder sinusoidal) und daher dünnwandig oder großkalibriger und von irregulärem muskulärem Wandaufbau. Die Läsion entspricht morphologisch einer vaskulären Malformation. Es wird ein Zusammenhang zwischen der Entwicklung von Nasen-Rachen-Fibromen aus nicht vollständig zurückgebildeten Resten der ersten Kiemenbogenarterie diskutiert. Hauptlokalisation ist der Epipharynx. Klinische Zeichen sind behinderte Nasenatmung, Nasenbluten, rezidivierende Mittelohrentzündungen oder auch Trigeminusneuralgien. Sie werden nur beim männlichen Geschlecht bis zur Pubertät beobachtet und können sich nach dem 20. Lebensjahr auch spontan zurückbilden. Die Prognose ist nach operativer Entfernung gut. Chordome im retro- und parapharyngealen Bereich entstehen in Grenzregionen des Klivus und der Halswirbelsäule aus Resten der Chorda dorsalis. Chordome im Schädelbasis-/Nasopharynxbereich sind selten (1% aller Knochentumoren, 37% im Kopfbereich). Das Prädilektionsalter liegt zwischen der 5. und 6. Lebensdekade. Die Prognose ist abhängig von Lage und Ausdehnung und damit von der möglichen Operabilität (siehe Kap. 43.6.5).

Maligne Tumoren Die Inzidenz von bösartigen Tumoren des Pharynx (2:100 000) – überwiegend Karzinome – ist wie bei bösartigen Larynx- und Lungentumoren in den vergangenen 30 Jahren nahezu kontinuierlich angestiegen (1997: ca. 1300 Todesfälle in der BRD). Karzinome treten häufig im Oropharynx (Tonsilla palatina, Zungengrund) und Hypopharynx (Sinus piriformis) auf, während der Nasopharynx selten betroffen ist. Besonders häufig ist diese Krebserkrankung bei Chinesen. Das hier erhöhte Risiko, an bösartigen Nasopharynxtumoren zu erkranken, wird, neben den Rauchgewohnheiten und Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus, mit einem hohen Konsum gewürzter und sehr heißer Speisen – kantonesisch gesalzener Fisch – und Mate-Tee in Beziehung gesetzt.

Ursachenspektrum Hauptursachen für Pharynxkarzinome sind fast immer kombiniert vorliegende exogene Noxen durch hohen Tabak- und Alkoholkonsum. Begünstigend wirkt eine Schleimhautatrophie im Rahmen einer sideropenischen Dysphagie (PlummerVinson-Syndrom). Histologisch handelt es sich überwiegend um Plattenepithelkarzinome. Bei Nasopharynxkarzinomen werden histologisch undifferenzierte, nichtverhornende Karzinome und Plattenepithelkarzinome unterschieden. Das Epstein-Barr-Virus ist in allen nichtkeratinisierenden Nasopharynxkarzinomen nachweisbar. Weiterhin charakteristisch ist ein oft kräftig entwickeltes lymphatisches Stroma, wodurch die Abgrenzung zu malignen Lymphomen problematisch sein kann (siehe Kap. 23.3.5).

Abb. 23-9 Schematische Darstellung von unterschiedlichen Tumorstadien (T-Stadien nach der TNM-Klassifikation der UICC) für Tumoren (rot) in den drei Etagen des Pharynx. Abbildungen aus dem TNM-Atlas der UICC.

a T2-Tumor im Epipharynx. b T2-Tumor im Mesopharynx am Zungengrund. c T3-Tumor im Hypopharynx mit Ausdehnung entlang dem Sinus piriformis.

TNM-Klassifikation Lokalisation, Ausdehnung und Lymphknotenstatus bestimmen – wie bei anderen Organtumoren – die prä- und postoperative Festlegung des Tumorstadiums (z.B. T1 = Tumoren bis 2 cm Durchmesser, T2 = 2–4 cm, T3 = >4 cm Durchmesser, T4Tumoren: Infiltration von Nachbarstrukturen). Beispiele für die Festlegung von TNM-Stadien für die drei verschiedenen Pharynxetagen sind exemplarisch in Abb. 23-9 nach dem TNM-Atlas der Union Internationale Contre le Cancer (UICC) zusammengestellt.

Klinisch-pathologische Korrelationen Pharynxkarzinome werden meist erst in fortgeschrittenen Tumorstadien aufgrund von Schluckbeschwerden und Tumorstenosen, aber auch Blutungen oder lokalen Lymphknotenmetastasen diagnostiziert. Deshalb ist die Prognose mit einer 5Jahres-Überlebensrate von 95%. Selbst bei Operabilität ist bei ihnen nur mit einer 5-Jahres-Überlebensrate von 10–20% zu rechnen. Die Ösophagusresektion mit Magenhochzug dient oft nur der Verbesserung der Lebensqualität. Hochsitzende pT4-Tumoren bilden als Komplikation oft eine Ösophagotrachealfistel aus. Die lymphogenen Metastasen werden in der neuen pTNM-Klassifikation (2002) für Tumoren des zervikalen und intrathorakalen Ösophagus getrennt neu definiert. Für Karzinome des unteren Ösophagus zählen die perigastrischen Lymphknoten mit Ausnahme der zöliakalen Lymphknoten noch zu den regionären Lymphknoten sowie die zervikalen für die Karzinome des oberen Ösophagus (pN1). Als Fernmetastasen werden nun weit entfernt gelegene oder prognostisch ungünstige Lymphknotenmetastasen eingestuft (pM1a), so generell die zöliakalen Lymphknoten, ferner bei Tumorsitz im oberen thorakalen Ösophagus der prognostisch ungünstige Befall der zervikalen Lymphknoten. Hämatogene Fernmetastasen (pM1b) können über den Ductus thoracicus via oberes Hohlvenensystem oder über direkte Invasion thorakaler Venen in der Lunge entstehen. Tiefsitzende Tumoren können via portale Venen primär in die Leber metastasieren. Die Dysphagie ist ein Spätsymptom, wenn die Lichtung auf unter 5 mm eingeengt ist. In diesem Stadium ist nur noch die Hälfte der Patienten operabel. Die Operation wird dann vielfach nur unter palliativen Gesichtspunkten durchgeführt, damit die Patienten wieder Nahrung aufnehmen können.

27.8.5

Mesenchymale Tumoren

Bei den mesenchymalen Tumoren handelt es sich fast immer um polypöse Leiomyome, die nur mit einer tiefen Biopsie zu diagnostizieren sind. Bei genauer histologischer Untersuchung findet man gelegentlich multiple, wegen ihrer Kleinheit aber klinisch bedeutungslose Leiomyome. Vereinzelt wird der Granularzelltumor diagnostiziert, der als kleiner Polyp aus granulierten Zellen besteht und von hyperplastischem Plattenepithel bedeckt wird (in der Biopsie Verwechslung mit einem Plattenepithelkarzinom möglich). Maligne mesenchymale Tumoren (sog. gastrointestinale Stromatumoren = GIST, Sarkome) bzw. primäre maligne Melanome des Ösophagus stellen Raritäten dar.

27.9 27.9.1

Zwerchfellhernien Fehlbildungen

Bei angeborenem Zwerchfelldefekt können Magen und Darm in den Thorax verlagert sein (Enterothorax).

27.9.2

Hiatushernie

Es kommt zu einer Verlagerung des Magens (oder anderer Abdominalorgane) über den erweiterten Hiatus oesophageus des Zwerchfells in den Thorax. Die Hiatushernie tritt klinisch erst im höheren Lebensalter in Erscheinung und begünstigt den gastroösophagealen Reflux. Eine wesentliche Teilursache der Hiatushernie ist eine abdominelle Drucksteigerung (z.B. Adipositas). Die Entwicklung der Hernie wird durch eine diaphragmale Muskelerschlaffung und selten durch ein Trauma begünstigt. Zwei Grundformen der Hiatushernien werden unterschieden (Abb. 27-9): ■ Ösophagogastrale (axiale) Gleithernie. Als axiale Gleithernie bezeichnet man die abnorme Beweglichkeit des gastroösophagealen Muskelschlauchs im Hiatus oesophageus. Dabei können die begleitenden pleuroperitonealen Umschlagfalten als Bruchsack in den Bauch- oder Thoraxraum verlagert sein. Die Magenschleimhaut in solchen axialen Gleithernien zeigt eine Atrophie des tieferen Drüsenlagers („Mukosa vom atrophischen Kardia- und Korpustyp“). Im Gegensatz zur Barrett-Mukosa besteht kein Entartungsrisiko. ■ Paraösophagealhernie. Bei normaler Lage und Fixation der Organe des ösophagogastralen Übergangs dehnen sich Magenabschnitte neben dem Ösophagus über den verbreiterten Hiatus in den Thorax aus bis hin zur Extremform eines „Upside-down-Magens“.

Abb. 27-9 Verschiedene Formen der Zwerchfellhernien (siehe Kap. 27.9.2)

Abgesehen von Zirkulationsstörungen bei der Paraösophagealhernie liegt die Hauptkomplikation beider Hernienformen in der Refluxösophagitis.

27.10 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Krankheiten des Ösophagus Die wichtigste Rolle der Pathologie liegt in der Erkennung und Klassifikation von Präneoplasien und malignen Tumoren. Dies reicht über die bioptische Diagnose der Barrett-Dysplasien (intraepitheliale Neoplasien) bis hin zum Barrett-Karzinom. Aber auch die bioptische Diagnose des Plattenepithelkarzinoms ist eine wichtige Aufgabe. Als direkte Konsequenz der genannten Diagnostik werden in der Klinik je nach Tumorstadium lokale oder umfangreichere therapeutische Maßnahmen, z.T. mit operativer Resektion, durchgeführt. Die sorgfältige Untersuchung von Resektionspräparaten führt zur pTNM-Klassifikation, die nicht nur eine prognostische Aussage für den betroffenen Patienten enthält, sondern dem behandelnden Arzt auch Auskunft über die Effektivität von vorgeschalteten multimodalen Therapien gibt bzw. dem Chirurgen zur Überprüfung der Effektivität seiner operativen Maßnahmen dient. Aber auch die Entzündungen des Ösophagus können morphologisch effektiv diagnostiziert werden, z.B. die Refluxösophagitis mit ihren Folgen (Barrett-Mukosa), die Soorösophagitis oder virale Ösophagitiden. Außerdem wird durch die bioptische Diagnostik die Dignität von endoskopisch auffälligen Befunden (Stenosen, Ulzera, Polypen u.a.) abgeklärt.

Literatur Siehe Literaturverzeichnis in Kap. 28.

FRAGEN 1 Nennen Sie unterschiedliche Formen der Ösophagus-fehlbildungen und deren Konsequenzen. 2 Wie ist die Achalasie definiert? Welche histologischen Veränderungen liegen ihr zugrunde? Welche Komplikationen sind zu erwarten? 3 Nennen Sie Ursachen und Folgen von Veränderungen der Ösophaguslichtung. 4 Nennen Sie Ursachen, Formen und Folgen der Ösophagitis. 5 Welche Faktoren begünstigen den gastroösophagealen Reflux, und welche Konsequenzen hat er? 6 Was versteht man unter Barrett-Syndrom? Welchen Risiken sind die Patienten ausgesetzt? 7 Welche histologischen Befunde können „Polypen“ des Ösophagus zugrunde liegen? 8 Welche ätiologischen und pathogenetischen Faktoren spielen beim Ösophaguskarzinom eine Rolle? 9 Welche morphologischen Typen des Ösophaguskarzinoms kennen Sie, und in welcher Beziehung steht die Morphologie (Makroskopie, Histologie) zur Prognose? 10 Welches sind die Indikatoren zur morphologischen Untersuchung der in diesem Kapitel beschriebenen Krankheiten? Welche Untersuchungen sind indiziert? Welchen Beitrag können diese Untersuchungen zur präzisen Diagnostik und zur Planung der Therapie leisten?

28 Magen und Duodenum F. BORCHARD Magen 676 28.1

Anatomie und Physiologie des Magens 676

28.2

Fehlbildungen, Formvarianten und Motilitätsstörungen des Magens 676

28.2.1

Konnatale Pylorusstenose 677

28.2.2

Gastroptose und Gastroparese 677

28.2.3

Volvulus 677

28.2.4

Gastroduodenaler Prolaps 677

28.2.5

Mallory-Weiss-Syndrom 677

28.2.6

Verlagerungen in den Thorax 677

28.3

Lichtungsveränderungen des Magens und abnormer Mageninhalt 677

28.3.1

Lichtungsveränderungen 677

28.3.2

Bezoar 677

28.3.3

Fremdkörper 677

28.4

Stoffwechselstörungen des Magens 677

28.4.1

Siderose der Magenschleimhaut 677

28.4.2

Lipidinsel 677

28.5

Kreislaufstörungen des Magens 678

28.5.1

Blutstauung 678

28.5.2

Magenblutungen 678

Petechiale Blutungen 678 Angiodysplasien 678 Blutungen aus größeren Gefäßen 678 28.6

Gastritis 678

28.6.1

Deskriptive Klassifikation 678

28.6.2

Ätiologische Klassifikation 679

Typ-A-Gastritis 679 Typ-B-Gastritis 679 Typ-C/R-Gastritis 681 Diverse seltene Gastritiden 682 28.7

Erosion und Ulzeration des Magens 682

28.7.1

Erosion 682

Akute hämorrhagische Erosion 682 Akute nichthämorrhagische Erosion 682 Chronische Erosion 682 Folgen der Erosionen 682 28.7.2

Ulkus 683

28.8

Hyperplasien des Magens 685

28.8.1 685

Umschriebene Hyperplasien der Magen-mukosa (benigne epitheliale Polypen)

Fokale foveoläre Hyperplasie 685 Hyperplastischer Polyp 685 Drüsenkörperzysten 686 28.8.2

Diffuse Hyperplasien der Magenmukosa 686

Diffuse foveoläre Hyperplasie 686 Diffuse Belegzellenhyperplasie 686 Diffuse Hyperplasie der gastralen endokrinen Zellen 687 28.9

Metaplasien des Magens 687

28.9.1

Intestinale Metaplasie 687

28.9.2

Gastrale Metaplasie 688

28.10

Neoplasien des Magens 688

28.10.1

Benigne epitheliale Neoplasien 688

Adenome 688 28.10.2

Maligne epitheliale Neoplasien 688

Magenkarzinom 688 Präkanzerosen 689 Magenfrühkarzinome 689 Fortgeschrittene Magenkarzinome 689 28.10.3

Neuroendokrine Tumoren 692

28.10.4

Benigne und maligne mesenchymale Neoplasien 692

28.10.5

Maligne Lymphome 693

Duodenum 693 28.11

Anatomie und Physiologie des Duodenums 693

28.12

Fehlbildungen des Duodenums 694

28.13

Duodenitis 694

28.14

Ulcus duodeni 694

28.15

Hyperplasien des Duodenums 695

28.16

Neoplasien des Duodenums 695

28.16.1

Adenome 695

28.16.2

Karzinome 696

28.16.3

Neuroendokrine Tumoren 696

28.16.4

Mesenchymale Tumoren 696

28.17 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Erkrankungen des Magens und Duodenums 696 Literatur 696 Fragen 697

Magen Zur Orientierung Der Magen ist nicht nur Transportorgan und Reservoir für die Nahrung, sondern auch ein wichtiges Verdauungsorgan, dessen Funktion in komplexer Weise einer lokalen und zentralen Steuerung unterliegt. Im Magen wird die Nahrung für die weitere Verdauung und Resorption im Dünndarm vorbereitet. Die sekretorischen Leistungen der Magenmukosa spielen dabei eine wesentliche Rolle. Die Magenmukosa ist aggressiven exogenen (Nahrung) und potentiell schädlichen lokalen Einflüssen (Magensaft) ausgesetzt, denen sie widerstehen muss. Dazu dienen eine Reihe von Schutzmechanismen (Sekretionsprodukte, Durchblutung, Regenerationsfähigkeit des Epithels, Immunsystem). Magenkrankheiten resultieren aus einem Mißverhältnis von aggressiven und protektiven Faktoren. Sie führen zu Störungen der mechanischen (Transport, Reservoir) und sekretorischen Leistungen des Magens. Entzündliche, degenerative und neoplastische Prozesse liegen ihnen zugrunde. Die Endoskopie und die histologische Untersuchung des Biopsiematerials sind die wichtigsten Methoden der Diagnostik. Dies hat die Früherkennung (Frühbehandlung) krankhafter Veränderungen entscheidend gefördert. Die Entdeckung der Beziehung zwischen Helicobacter pylori zu entzündlichen und neoplastischen Magenerkrankungen hat die Gastroenterologie revolutioniert.

28.1

Anatomie und Physiologie des Magens

Der Magen ist ein dehnbares Hohlorgan mit Transport-und Verdauungsfunktion. Er ist ausgekleidet von einer knapp 1 mm dicken Mukosa. Histologisch unterscheidet man zwei Grundtypen der Schleimhaut, die Korpus- bzw. Fundusmukosa und die Antrum- bzw. Kardiamukosa. An der Oberfläche zeigt die Mukosa in allen Magenregionen eingesenkte Grübchen (Foveolen). Sie sind im Korpusbereich kurz, im Antrum- bzw. Kardiabereich machen sie etwa die Hälfte der Mukosadicke aus. Die Foveolarepithelien produzieren Bikarbonat, Kathepsine und neutrale Muzine mit Muc 5 AC als Apomuzin, das als oberflächlicher Film die Schleimhaut vor der Einwirkung der Säure schützt. In der Tiefe schließt sich an die Grübchen der etwas engere kurze Drüsenhals an. Er stellt die Regenerationszone dar. Die hier gelegenen Stammzellen vermehren sich je nach Bedarf und führen zu einer vorwiegend lumenwärts gerichteten Wanderung der neu gebildeten Zellen. Das darunter liegende sog. Drüsenlager erfährt dagegen nur einen geringen Zellersatz. Die Antrum- bzw. Kardiadrüsen bestehen an der Basis aus mukösen (mukopeptischen) Zellen, in deren komplexen Sekretgranula neutraler Schleim mit Muc 6 als Apomuzin und

die Protease Pepsinogen II koexprimiert werden. Im Zellverband befinden sich endokrine Zellen, im Antrum vorwiegend Gastrinzellen (G-Zellen) und Somatostatinzellen. Im Korpus- und Fundusbereich kommen in den tiefen Drüsen wesentlich weniger mukopeptische Zellen („Nebenzellen“) vor. Die Hauptmasse der Drüsenepithelien besteht hier aus den großen eosinophilen Belegzellen (Parietalzellen). Die Parietalzellen setzen aus ihren intrazellulären Kanälchen Salzsäure und Intrinsic-Faktor frei. Die an der Basis der tiefen Drüsen gelegenen Hauptzellen sezernieren Pepsinogen I und II. Im Korpusbereich finden sich darüber hinaus histaminhaltige Mastzellen und endokrine Zellen, darunter die Histamin bildenden ECL(enterochromaffin-like)-Zellen und Somatostatinzellen.

Funktionelle Aspekte Für die „zephale Phase“ der Verdauung spielen zentralnervös ausgelöste cholinerge Mechanismen, Gastrin und wahrscheinlich Neuropeptide eine Rolle. Bei der „gastralen Phase“ werden die zerkleinerten Speisen in der Magenlichtung durch die freigesetzte Salzsäure und die Proteasen (Pepsine, Kathepsine) angedaut. Die Säuresekretion wird dabei zunächst durch eine Vagusstimulation, später auch durch die lokale Freisetzung von Gastrin aus den G-Zellen gesteuert. Die Kontrolle der Gastrinausschüttung aus den G-Zellen erfolgt über den intraluminalen pH-Wert und den Füllungszustand des Magens. Abfall des intraluminalen pH-Werts und Entleerung des Magens führen zu einer verminderten Gastrinsekretion. Eine weitere Hemmung wird nach Übertritt der Speisen in das Duodenum durch Aktivierung endokriner Zellen erreicht, die z.B. Sekretin und GIP (gastric inhibitory peptide) bilden. Die Gastrinwirkung stimuliert über Gastrinrezeptoren zunächst die ECL-Zellen im Magenkorpus zur Histaminausschüttung. Histamin lagert sich dann an die Histaminrezeptoren der Belegzellen an und regt diese zur Salzsäureproduktion an. über diesen Mechanismus kann auch Histamin aus anderen Quellen (z.B. Mastzellen) die Belegzellen stimulieren und damit eine Übersäuerung induzieren. Außerdem können Belegzellen unmittelbar über cholinerge Rezeptoren sowie Rezeptoren für Gastrin und CCK aktiviert werden. Die Funktion des Magens besteht darüber hinaus in einer weiteren Zerkleinerung und Aufschließung der Nahrung sowie in einem zeitlich abgestimmten Transport über den Pylorus in das Duodenum.

28.2 Fehlbildungen, Formvarianten und Motilitätsstörungen des Magens Fehlbildungen des Magens sind selten. Mikrogastrie, Divertikelbildung und Doppelmagen gehören dazu. Eine Septenbildung im Bereich des Pylorus (sog. Doppelpylorus) ist in der Regel keine Fehlbildung, sondern eine Defektheilung nach einer Ulzeration. Die vorwiegend submukös im Antrumbereich gelegenen Pankreasheterotopien imponieren als kleine Polypen, wobei eine zentrale Einsenkung der Polypenkuppe die Mündung des Ausführungsgangs anzeigt. Bestehen rudimentäre

Pankreasheterotopien nur aus größeren pankreatischen Ausführungsgängen mit glatten Muskelfasern, so spricht man von Adenomyomen.

28.2.1

Konnatale Pylorusstenose

Dieser Veränderung liegen eine Tonussteigerung und Hypertrophie der Pylorusmuskulatur zugrunde mit der Folge einer Magenausgangsstenose. Sie manifestiert sich vor allem bei männlichen Säuglingen in den ersten Wochen nach der Geburt und führt zu schwallartigem Erbrechen. In schweren Fällen ist eine chirurgische Durchtrennung der Pylorusmuskulatur notwendig.

28.2.2

Gastroptose und Gastroparese

Gastroptose (Angelhakenmagen) ist eine Magenformvariante. Die Gastroparese ist eine schlaffe Lähmung der Magenmuskulatur, z.B. im Rahmen einer diabetischen Neuropathie. Der Magen kann dabei stark erweitert sein. Es liegen Motilitätsstörungen mit Dyspepsie vor.

28.2.3

Volvulus

Sehr selten kommt es zur Drehung des Magens um die Längs- oder Querachse. Wegen der Abknickung vor allem der Magenvenen kann sich eine hämorrhagische Infarzierung des Magens entwickeln, wenn nicht frühzeitig ein chirurgischer Eingriff erfolgt.

28.2.4

Gastroduodenaler Prolaps

Bei weitem Pyloruskanal kann die Antrumschleimhaut infolge der Magenmotorik durch den Pyloruskanal in das Duodenum prolabieren. Dabei tritt eine Rötung der radiär zum Pylorus konvergierenden Faltenkämme auf (sog. Wassermelonenmagen). Infolge der Gefäßabknickung und der konsekutiven Blutstauung dilatieren die kleinen Venolen. Man spricht deshalb von einer gastralen antralen vaskulären Ektasie (GAVE). Diese Läsion neigt zu rezidivierenden Blutungen und ist von der gastralen Angiodysplasie abzugrenzen (siehe unten).

28.2.5

Mallory-Weiss-Syndrom

Nach Alkoholabusus kann es durch Würgen, krampfartiges Erbrechen und über lokale Muskelspasmen zu mechanisch bedingten längs gestellten Einrissen der Mukosa im Bereich der Kardia, des Magenfundus und des Ösophagus kommen, oft gefolgt von schweren Blutungen.

28.2.6

Verlagerungen in den Thorax

Siehe Kap. 27.9.

28.3 Lichtungsveränderungen des Magens und abnormer Mageninhalt 28.3.1

Lichtungsveränderungen

Nach Ulzerationen kommt es gelegentlich zu narbigen Deformationen der Magenlichtung (Sanduhrmagen, Doppelpylorus etc.). Ebenso treten tumorbedingte Deformationen bei Magenkarzinomen (Feldflaschenmagen etc.) auf. Meist ist in solchen Fällen auch die Motilität gestört. Starke Erweiterungen des Magens (Gastrektasien) können auch auf Abflußhindernissen im Bereich des Magenausgangs und des Duodenums beruhen.

28.3.2

Bezoar

Als Bezoar bezeichnet man einen meist kugeligen, festen Körper in der Magenlichtung, der unverdaubar ist und schließlich die Nahrungsaufnahme behindert. Er besteht entweder aus Haaren (Trichobezoar), die bei psychopathologisch bedingtem Haarkauen verschluckt werden und sich im Magen verfilzen, oder es handelt sich um pflanzliches Material (Phytobezoar).

28.3.3

Fremdkörper

Kleinere Fremdkörper, wie Münzen, Nadeln und Perlen, werden oft von Kindern verschluckt und können ebenso wie größere Fremdkörper fast immer endoskopisch geborgen werden.

28.4 28.4.1

Stoffwechselstörungen des Magens Siderose der Magenschleimhaut

Bei der idiopathischen Hämochromatose ist in den Haupt-und Belegzellen des Magenkorpus Siderinpigment eingelagert. Differentialdiagnostisch kommen in Betracht die sehr seltenen fokalen Siderosen nach umschriebenen Blutungen oder nach Verschlucken von eisenhaltigen Fremdkörpern.

28.4.2

Lipidinsel

Besonders nach Magenteilresektion treten im Magenstumpf gelbliche, bis maximal linsengroße, flache Nester von lipidreichen Schaumzellen (Lipidinseln) in der Lamina propria der Schleimhaut auf. Sie entstehen durch Lipidspeicherung in Histiozyten. Mit Hilfe einer negativen PAS-Färbung können diese histiozytären Schaumzellen mit Lipidvakuolen differentialdiagnostisch abgegrenzt werden von den PAS-positiven Karzinomzellen vom Siegelringzell-Typ (siehe unten). Wahrscheinlich spielen unterschiedliche Reize, insbesondere der Gallereflux, eine ätiopathogenetische Rolle (vermehrtes Auftreten nach Billroth-Resektionen).

28.5 28.5.1

Kreislaufstörungen des Magens Blutstauung

Eine Blutstauung gastraler Venen findet sich vor allem bei portaler Hypertonie (Leberzirrhose) und ausgeprägter Rechtsherzinsuffizienz. Die makroskopisch erkennbare Rötung und die Zyanose der Schleimhaut beruhen auf einer passiven venösen Hyperämie. Die Fehlbezeichnung „Stauungsgastritis“ sollte daher vermieden werden. Bei schwerer chronischer Blutstauung kommt es zur reaktiven Neubildung kleiner Kapillaren in der Schleimhaut. Man spricht dann von einer „kongestiven Gastropathie“ oder auch „portalen Gastropathie“. Zusätzlich sind bei portaler Hypertonie größere submuköse und auch tiefer liegende Venen varikös erweitert.

28.5.2

Magenblutungen

Kleine, petechiale (kapilläre) Blutungen im Schleimhautniveau unterscheidet man von größeren Blutungen. Letztere stammen teils aus peptischen Arrosionen von normalen Gefäßen in Geschwüren oder Tumoren, teils aus primär pathologisch veränderten Gefäßen. Nur bei Kontakt mit der Salzsäure des Magens wird das Hämoglobin zersetzt, wobei das schwärzliche, teerähnliche Hämatin entsteht. Bluterbrechen (Hämatemesis) und Teerstuhl (Meläna) sind mögliche Symptome einer Magenblutung.

Petechiale Blutungen Kleine flohstichartige Kapillarblutungen im Schleimhautniveau finden sich ganz überwiegend im Korpus- und Fundusbereich. Sie sind meist Folge von medikamentösen und toxischen Schleimhautschäden durch Acetylsalicylsäure (ASS), nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) oder durch Alkoholexzesse. Mikrozirkulationsstörungen im Rahmeneines Schocks und hämorrhagische Diathesen,

z.B. Gerinnungsstörungen oder Systemerkrankungen, sind weitere Ursachen solcher Blutungen. Tierexperimentelle Untersuchungen haben gezeigt, dass bereits wenige Sekunden nach Aufnahme von hochkonzentriertem Alkohol im Korpusbereich starke Spasmen von oberflächlichen Venolen mit konsekutiven Blutungen aus vorgeschalteten Kapillaren auftreten. Im weiteren Verlauf können sich akute hämorrhagische Erosionen entwickeln (siehe unten).

Angiodysplasien Angiodysplasien sind sternförmig angeordnete, dilatierte kleine Mukosavenen. Sie treten bevorzugt im ileokolischen übergangsbereich, aber auch im Magen auf und können zu dramatischen, aber selbstlimitierenden Blutungen führen. Die Pathogenese ist noch nicht geklärt. Chronische Obstruktionen von drainierenden Venen (z.B. durch die Muscularis propria) sollen u.a. eine Rolle spielen.

Blutungen aus größeren Gefäßen Blutungen aus größeren Gefäßen treten meist infolge von Gefäßarrosionen in einem Magenulkus, in einem Tumor oder im Verlauf einer Varizenruptur auf. Eine Sonderstellung nimmt das bereits erwähnte Mallory-Weiss-Syndrom ein.

28.6

Gastritis

Da in der Magenmukosa normalerweise fast keine ortsständigen Immunzellen vorkommen, wird zunächst jegliche Infiltration der Schleimhaut mit Entzündungszellen als Gastritis bezeichnet. Daneben gibt es eine Gastritisform fast ohne entzündliche Infiltrate, bei der eine Exsudation aus den Kapillaren (Permeabilitätsstörung) dominiert. Die Diagnose der Gastritis kann prinzipiell nur histologisch gestellt werden. Nur die endoskopischen Befunde einer lymphfollikulären Hyperplasie (sog. Gänsehautgastritis) und des Durchscheinens der Blutgefäße im Magenkorpus bei Schleimhautatrophie erlauben eine endoskopische Verdachtsdiagnose einer Gastritis. Eine streifige Rötung im Magenantrum ist typisch für die sog. chemisch-reaktive Gastritis.

28.6.1 Deskriptive Klassifikation Morphologie Besteht das entzündliche Infiltrat ausschließlich aus Granulozyten, spricht man von einer akuten Gastritis, bei ausschließlich lymphoplasmazellulären Infiltraten von einer chronischen Gastritis. Eine Sonderform der chronischen Gastritis mit zahlreichen TLymphozyten im Foveolarepithel wird als lymphozytäre Gastritis (siehe unten) bezeichnet. Die häufigste Gastritisform, die chronisch-aktive Gastritis, ist eine

lymphoplasmazellulär geprägte (chronische) Entzündung mit einer gleichzeitigen granulozytären (aktiven) Komponente. Die chemisch-reaktive Gastritis ist charakterisiert durch eine verstärkte Kapillarpermeabilität mit Stromaödem, eine Proliferation glatter Muskelzellen sowie durch eine reaktive Hyperplasie der Foveolarzellen bei Fehlen von Entzündungszellen. Seltenere, histologisch definierte Sonderformen werden weiter unten besprochen. Die aufgeführten deskriptiven Befunde werden entsprechend ihrer Ausprägung in verschiedene Schweregrade eingeteilt. Zusätzlich werden das Auftreten von intestinalen Metaplasien (siehe unten), Erosionen (siehe unten) und Lymphfollikeln sowie das Vorkommen des Bakteriums Helicobacter pylori (H.p.) „additiv“ vermerkt. Diese Klassifikation hat als weiterentwickelte „Sydney-Klassifikation“ internationale Anerkennung gefunden (Tab. 28-1).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Alle Gastritiden führen zu einer Schädigung der Schleimhaut und zu einer reaktiv verstärkten Epithelregeneration. Das Vorliegen einer schweren chronisch-aktiven Gastritis ist entscheidend für die Entwicklung von Erosionen und von Magen- oder Duodenalgeschwüren verantwortlich (siehe unten). Chronische Gastritiden stellen nach langer Dauer ein statistisch erhöhtes Risiko für Karzinome und maligne Lymphome des Magens dar.

Tab. 28-1 Ätiopathogenetische Klassifikation der Gastritis (ABC der Gastritis). ■

Typ-A-Gastritis: autoimmunbedingt



Typ-B-Gastritis: bakteriell bedingt (Helicobacter pylori)



Typ-C/R-Gastritis: chemisch-toxisch bzw. refluxbedingt



Typ D: diverse Sonderformen □ lymphozytäre Gastritis □ Gastritis durch seltene Erreger □ granulomatöse Gastritis, Crohn-Gastritis □ eosinophile Gastritis □ kollagene Gastritis



Kombinationsformen: z.B. Typ B + A, Typ B + C (Mischgastritiden)

28.6.2

Ätiologische Klassifikation

Gastritiden haben verschiedene Ursachen, die man sich als „ABC der Gastritisätiologie“ gut merken kann (Abb. 28-1): ■

Autoimmunentzündung (Typ-A-Gastritis)



Bakteriell (H.p.) bedingte Entzündung (Typ-B-Gastritis)

■ Chemisch-toxische Schädigung, z.B. durch verstärkten Reflux (chemischtoxische/reaktive Gastritis, Typ-C/R-Gastritis). ■

Diverse, seltene Gastritiden.

Auch Kombinationsformen von verschiedenen Gastritisformen kommen nicht selten vor.

Typ-A-Gastritis Definition Die seltene Typ-A-Gastritis ist eine chronische, autoimmunologisch bedingte Entzündung, die durch eine durch T-Lymphozyten induzierte Zerstörung der tiefen Drüsen im Korpusbereich zu einer Atrophie führt.

Abb. 28-1

Lokalisationstypen der Gastritis.

Erklärungen siehe Text. Sie kommt vorwiegend bei älteren Frauen vor und macht insgesamt nur etwa 2–4% aller Gastritiden aus.

Pathogenese

Bei der Autoimmungastritis richtet sich der immunologische Angriff vor allem gegen die Belegzellen im Korpusbereich, die allmählich zerstört werden (Abb. 282). Im Serum sind meist sekundäre (indikative) Autoantikörper gegen Belegzellantigene und gegen den Intrinsic-Faktor nachweisbar, der auch von den Bele-gzellen gebildet wird. Ein wichtiges Zielantigen der Auto-immunreaktion ist dabei die Protonenpumpe der Belegzellen. Infolge der Zerstörung der Belegzellen kommt es zu einer Anazidität und somit zu einer reaktiv gesteigerten Gastrinfreisetzung aus den antralen G-Zellen und schließlich auch zu einer antralen G-Zell-Hyperplasie. Die Hypergastrinämie bewirkt im weiteren Verlauf eine sekundäre Hyperplasie der histaminhaltigen ECL-Zellen in der Korpusregion. Hieraus können sich später mikroskopisch kleine, multizentrische Proliferationen der endokrinen Zellen entwickeln. Die Gefahr der Entstehung von metastasierenden neuroendokrinen Tumoren (Karzino-iden) ist jedoch extrem gering (siehe unten). In jüngster Zeit wurden auch frühere Stadien der Typ-A-Gastritis (präatrophische Autoimmungastritis, noch ohne völlige Atrophie des Drüsenlagers, sog. Prä-AGastritis) beschrieben. Sie kann offensichtlich auch bei Typ-B-Gastritis durch Autoimmunphänomene sekundär getriggert werden. Eine H.p.-Eradikation kann in diesem Fall bei den meisten Patienten eine Progredienz der Prä-A-Gastritis verhindern.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die fortschreitende Zerstörung der Belegzellen im Magenkorpus führt allmählich zur Atrophie der Mukosa und zum Ersatz durch antrumartige, seltener pankreasartige Drüsen bzw. intestinales Epithel (pseudopylorische, pankreatische bzw. intestinale Metaplasie). Infolge der entzündlich bedingten Atrophie des Drüsenkörpers werden endoskopisch die durchscheinenden Blutgefäße der Korpusmukosa als Charakteristikum der Typ-A-Gastritis sichtbar. Anazidität und Fehlen von Intrinsic-Faktor sind die Folge der Belegzellzerstörung. Letztlich führt diese zu Vitamin-B12-Resorptionsstörungen im terminalen Ileum und – nach Verbrauch der Vitamin-B12-Speicher – schließlich zur perniziösen Anämie. Bei Verdacht auf perniziöse Anämie müssen deshalb die Mukosabiopsien zum Nachweis einer Typ-A-Gastritis aus dem Korpusbereich des Magens gewonnen werden. Schließlich ist die Typ-A-Gastritis auch eine fakultative Präkanzerose mit einem Karzinomrisiko von etwa 10%. Deswegen empfiehlt sich bei diesen meist älteren

Patienten eine endoskopisch-bioptische Kontrolle in größeren zeitlichen Intervallen (z.B. alle 2–3 Jahre). Allerdings ist die Hyperplasie der ECL-Zellen (siehe oben), sog. Mikrokarzinoidose, nicht als obligate Präneoplasie zu bewerten.

Typ-B-Gastritis Syn.: Helicobacter-pylori-Gastritis

Definition Die Typ-B-Gastritis ist eine bakteriell verursachte Entzündung, hervorgerufen durch Helicobacter pylori(H.p.), und macht 60–70% der Gastritiden aus. Sie betrifft die lumennahe Schleimhaut und findet sich immer in der Antrumzone, dehnt sich aber meist oberflächlich auf den Korpusbereich aus (siehe Abb. 28-1). Die H.p.Besiedlung kann auch in das postpylorische Duodenum reichen (siehe Kap. 28.13) und als H.p.-Bulbitis Vorläufer für das Duodenalulkus sein.

Abb. 28-2 a Normal hoch aufgebaute Korpusmukosa mit

kurzen Foveolen (Sternchen) und breitem Drüsenkörper. Die gestrichelte Linie markiert die Grenze zwischen Foveolen und Drüsenkörper. HE, Vergr. 100fach b Typ-A-Gastritis mit weitgehender Atrophie des tieferen Drüsenlagers (Pfeile) (höhere Vergrößerung als in a). Korpusschleimhaut mit verlängerten Foveolen

(Sternchen) bei fast völliger Zerstörung der Belegzellen. Lymphozytäres Infiltrat im Drüsenkörper. HE, Vergr. 35fach

Epidemiologie Die zumeist lebenslang persistierende Infektion mit H.p. beginnt fast immer als orale Infektion im Kindesalter. Schlechte hygienische Verhältnisse (z.B. unterentwickelte Länder, beengtes Wohnen, Nachkriegsbedingungen etc.) begünstigen eine frühe und hohe Durchseuchung. In Europa nimmt derzeit die Infektion wegen der verbesserten Hygiene in jüngeren Alterskohorten ständig ab, wobei der Durchseuchungsgrad (%) annähernd dem Lebensalter in Jahren entspricht. Der kontinuierliche Rückgang des Magenkarzinoms in den letzten Jahrzehnten beruht wahrscheinlich auch auf einer abnehmenden H.p.-Durchseuchung. Umgekehrt finden sich in einigen Entwicklungsländern mit hoher Magenkarzinominzidenz (z.B. Kolumbien) häufig schon bei jungen Menschen eine hohe H.p.-Durchseuchung.

Ätiologie Helicobacter pylori ist ein etwa 0,3–0,5 μm langes, spiralig gewundenes, unipolar begeißeltes, gramnegatives Bakterium (Abb. 28-3a). Es ist nichtinvasiv; vielmehr liegt der Lebensraum dieses nicht säurefesten Bakteriums in einer ökologischen Nische zwischen dem schützenden gastralen Schleimfilm und der Mukosaoberfläche. Inzwischen wurden andere, etwa 3-mal größere spiralige Magenbakterien (Gastrospirillium hominis, früher Helicobacter Heilmanii) beobachtet. Da diese Helicobacter-Spezies auch bei Katzen und Hunden vorkommt, vermutet man eine Zoonose, welche die Tierhalter bei kompetitiver Verdrängung von H.p. vor dessen Folgen schützt. Gastrospirillen verursachen beim Menschen eine milde chronischaktive Gastritis, führen aber nur selten zum Ulkus. Ein erhöhtes Risiko für Magenkarzinome besteht nicht, möglicherweise aber für MALT-Lymphome.

Abb. 28-3

Typ-B-Gastritis.

a Darstellung von Helicobacter pylori als schwarze, gewundene Bakterien an der Mukosaoberfläche, einzelne Granulozyten im Epithel. Versilberung nach Whartin-Starry. b Chronisch-aktive Gastritis mit Ausbildung von Lymphfollikeln („Gänsehautgastritis“).

Pathogenese Helicobacter pylori zeigt eine spezifische, rezeptorvermittelte Adhärenz nur für magentypische Oberflächenzellen (Foveolarepithelzellen). Eine Besiedelung des Dünn- oder Dickdarms sowie der intestinalen Metaplasie im Magen ist nicht möglich. H.p. ist nicht invasiv, sondern entfaltet seine schädigende Wirkung von der Lichtung aus. Die Keime haben einen zytopathogenen Effekt auf die Foveolarepithelien. Es kommt zu einer Schädigung des apikalen Zellpols mit Zerstörung der Mikrovilli und Zerfall der oberflächlichen Schleimgranula. Die Ursachen der Mukosaschädigung liegen in einer lokalen Freisetzung von bakteriellen Zytotoxinen, Proteasen, Katalasen, Oxidasen und von Urease. Toxische Radikale aus eingewanderten Granulozyten schädigen aber vermutlich die Mukosa stärker als H.p. selbst.

Morphologie

Durch Helicobacter pylori werden sowohl eine akut-entzündliche als auch eine chronische immunologische Reaktion ausgelöst, bei denen die Mukosa geschädigt wird. Beim ersten Kontakt mit H.p. entsteht eine granulozytäre Reaktion (akute Gastritis), die aber klinisch meist nicht diagnostiziert wird und nur selten zum völligen Verschwinden des Keims (Eradikation) führt. Vielmehr schwelt die granulozytär geprägte Entzündung ohne Unterbrechung über viele Monate und Jahre weiter. Man bezeichnet sie daher als eine aktive Gastritis. Sie ist in ihrer Intensität abhängig von der Dichte und Virulenz der H.p.-Keime. Gleichzeitig entwickelt sich unter Vermittlung von T-Lymphozyten eine chronische Immunreaktion der B-Lymphozyten auf die bakteriellen Antigene. In den basalen Anteilen der Mukosa bilden sich Lymphfollikel aus (Abb. 28-3b), die endoskopisch als kleine Polypen erkennbar sein können (sog. Gänsehautgastritis). Als Folge der Immunreaktion sind Antikörper gegen H.p. auch im Serum nachweisbar. Da sich die chronische lymphoplasmazelluläre und die aktive granulozytäre Reaktion meist überlagern, liegt in der Regel eine chronisch-aktive Gastritis vor. Der Schweregrad der beiden Komponenten ist in der Biopsiediagnostik getrennt anzugeben. Beim Vergleich des Schweregrades der H.p.-Gastritis im Antrum- und Korpusbereich ist beim Ulcus duodeni das Antrum stärker entzündet als das Korpus (Ulcus-duodeni-Typ der H.p.-Gastritis). Beim Ulcus ventriculi und beim Magenkarzinom ist hingegen das Korpus stärker entzündet als das Antrum (sog. Risiko-Typ der Gastritis).

Bei der schweren H.p.-Gastritis können im Korpusbereich Immunprozesse getriggert werden, die über eine Prä-A-Gastritis in eine Gastritis Typ A übergehen. Eine H.p.-Eradikation kann dies verhindern und die Atrophie bildet sich oft zurück. Die seltene lymphozytäre Gastritis ist eine Sonderform der H.p.-Gastritis, bei der zahlreiche zytotoxische T-Lymphozyten das foveoläre Deckepithel durchsetzen und zerstören. Die lymphozytäre Gastritis führt vermehrt zu Erosionen und Ulzerationen, aber auch zu einer übersteigerten Regeneration, die sogar endoskopisch als Riesenfalten-Magen imponieren kann. Nach H.p.-Eradikation verschwinden alle diese Veränderungen. Selten findet sich eine Lymphozytose des Deckepithels bei der Sprue sowie bei Magenlymphomen oder -karzinomen. Eine Autoimmunreaktion wird vermutet. Nach Eradikation des Keimes verschwinden die Granulozyten in wenigen Tagen. Es liegt dann nur noch eine chronische Gastritis vor. Auch diese restlichen lymphoplasmazellulären Infiltrate bilden sich allmählich binnen 1–2 Jahren vollständig zurück (sog. abklingende Post-H.p.-Gastritis).

Klinisch-pathologische Korrelationen Es entsteht eine Epithelschädigung mit Muzinreduktion. Die Folge ist eine gesteigerte Epithelregeneration, gelegentlich eine reaktive foveoläre Hyperplasie. Die klinische Bedeutung von H.p. wird durch die folgenden epidemiologischen Daten unterstrichen: Der Keim findet sich ursächlich in ca. 95% der Duodenalulzera, in ca. 70% der Magenulzera, in 50% bei der nichtulzerösen Dyspepsie und in der normalen Mukosa faktisch nie. Durch eine Therapie mit Wismutsalzen lässt sich das Keimwachstum nur vorübergehend unterdrücken (Elimination). Eine völlige Keimausrottung (Eradikation) ist nur durch eine Kombinationstherapie mit Protonenpumpenblockern (Omeprazol) zur Anhebung des pH-Wertes und Gabe der im neutralen Bereich wirksamen Antibiotika (Clarithromycin und/oder Amoxicillin) oder durch eine Mehrfachtherapie mit Antibiotika, Metronidazol und Wismutsalzen möglich. Die Wiederbesiedlungsrate beträgt weit weniger als 1% pro Jahr. Nach Eradikation von H.p. sinkt die Rezidivrate der gastroduodenalen Geschwüre von etwa 80 auf fast 0% ab. Nach alleiniger Säureblockade kommt es durch den pH-Anstieg zum Untergang vieler H.p.-Keime, in 3–4% der Fälle sogar zur H.p.-Eradikation. Bei Nachweis weniger, regressiv veränderter H.p.-Keime ähnelt der übrige Befund einer PostH.p.-Gastritis.

Typ-C/R-Gastritis Definition Es handelt sich um eine Schleimhautschädigung durch chemisch-toxische Reize. Sie wird daher international vereinfacht auch als chemisch-reaktive Gastritis bezeichnet. Sie macht etwa 30–40% aller Gastritiden aus.

Pathogenese

Ein duodenogastraler Reflux von Galle und Pankreassaft in den Magen kann besonders die Antrummukosa endogen schädigen, aber auch ein enterogastraler Reflux den Anastomosenbereich nach einer Magenteilresektion. Außerdem vermag eine erhöhte endogene Salzsäureproduktion die Magenmukosa zu schädigen. Zu den exogenen Ursachen der reaktiven Gastritis im Antrum- und Korpusbereich gehören Medikamente, insbesondere nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR), Acetylsalicylsäure (ASS) und Alkohol.

Morphologie

Makroskopisch finden sich bei refluxbedingter Schädigung im Antrum- bzw. im Anastomosenbereich der Korpusmukosa eine ausgeprägte, z.T. polypöse Vergröberung des Faltenreliefs und eine streifige Rötung der Faltenkämme. Mikroskopisch sieht man meist eine ödematöse Auflockerung der Lamina propria mit reaktiver Proliferation von glatten Muskelzellen sowie eine regeneratorische Verlängerung der Grübchen, oft ohne neutrophile Granulozyten oder chronische Entzündungszellen.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Bei langfristiger Einnahme von NSAR können sich Erosionen entwickeln und zu einer chronischen Blutungsanämie führen. Auch Ulzera können durch NSAR induziert werden. Etwa 15–20 Jahre nach Magenresektion (besonders nach Billroth II) steigt infolge der chronischen refluxbedingten Reizung und verstärkten Regeneration der Anastomosenmukosa das Karzinomrisiko signifikant an. Daher sollten bei diesen Risikopatienten langfristige Untersuchungen zur Früherkennung der sog. Magenstumpfkarzinome vorgenommen werden.

Diverse seltene Gastritiden Beim Morbus Crohn ist in mehr als 50% der Fälle die Antrumschleimhaut mikrofokal, gelegentlich sogar granulomatös entzündlich verändert. Die extrem seltene eosinophile Gastritis beruht möglicherweise auf einer Nahrungsmittelallergie. Bei der ebenfalls sehr seltenen kollagenen Gastritis werden analog der kollagenen Kolitis vermehrt kollagene Fasern unter der Schleimhautoberfläche beobachtet. Bei

Immuninsuffizienz können vielfach Zytomegalieeinschlüsse gefunden werden, die mit einer nur geringen Entzündung einhergehen (CMV-Gastritis). Soorinfektionen stellen fast ausschließlich sekundäre saprophytische Besiedlungen von vorbestehenden (gutartigen) Magengeschwüren und besonders von ulzerierten Karzinomen dar. Nicht selten finden sich Kombinationsformen besonders der Typ-B-Gastritis mit den übrigen Grundtypen der Gastritis (sog. Mischgastritis, z.B. Typ CR + B oder Typ A + B).

28.7

Erosion und Ulzeration des Magens

Definition Schleimhautdefekte, die nicht die Muscularis mucosae überschreiten, werden Erosionen genannt. Schleimhautdefekte, die sie durchsetzen, bezeichnet man als Ulzera (Geschwüre). Endoskopisch gelten Schleimhautdefekte mit einem Durchmesser unter 3 mm als Erosionen und über 3(−5) mm als Ulzerationen.

Pathogenese

Grundsätzlich ist bei der Entstehung von Mukosadefekten das Gleichgewicht zwischen defensiven und aggressiven Pathomechanismen zugunsten der aggressiven Faktoren verschoben (Tab. 28-2).

28.7.1

Erosion

Erosionen können nach der Tiefenausdehnung des Defekts und nach einer Kombination von zeitlichem Verlauf und makroskopischem Aspekt unterteilt werden. ■ Tiefenausdehnung. Die Erosion der oberflächlichen Mukosa heißt Leistenspitzenerosion und ist endoskopisch oft gar nicht zu erkennen. Ist der Foveolarbereich zerstört, aber die Regenerationszone im Drüsenhalsbereich erhalten, so spricht man von einer foveolären Erosion. Ist die Regenerationszone zerstört und dehnt sich die Läsion in das tiefe Drüsenlager aus, so liegt eine tiefe Erosion vor. Tiefe Erosionen verlaufen wegen der Zerstörung der Regenerationszone meist chronisch (siehe unten). ■ Zeitlicher Verlauf und Makromorphologie. Hier werden heute drei Grundtypen unterschieden: □

akute hämorrhagische Erosion (früher hämorrhagische „Gastritis“)



akute nichthämorrhagische Erosion (früher inkomplette Erosion)



chronische Erosion (früher komplette Erosion).

Akute hämorrhagische Erosion Sie entsteht häufig multipel im Korpusbereich, zumeist wenige Stunden nach toxisch (ASS, NSAR, Alkohol) und/oder zirkulatorisch bedingten subepithelialen petechialen Leistenspitzenblutungen (Abb. 28-4a). Nach Erosion des Foveolarepithels und Kontakt mit der Magensäure kommt es zur Hämatinisierung der Erythrozyten, die durch eine schwarze Farbe auffällt. Die völlige Abheilung erfolgt meist nach wenigen Stunden oder Tagen.

Akute nichthämorrhagische Erosion Sie macht mehr als zwei Drittel der Erosionen aus und tritt eher im Antrumbereich auf. Soweit bekannt, kommt die Schädigung unmittelbar, d.h. ohne vorherige Blutung, z.B. durch eine Typ-B-Gastritis, durch toxische Substanzen (Abb. 28-4b) und gelegentlich durch duodenogastralen Reflux zustande. Wie alle akuten Erosionen heilt auch diese Form nach Stunden oder wenigen Tagen vollständig aus.

Chronische Erosion Da der Schleimhautdefekt hier in das tiefere Drüsenlager reicht und die Regenerationszone zerstört ist, heilt diese Form der Erosion nur verzögert ab. Die an den Defekt angrenzenden Schleimhautränder zeigen bald eine foveoläre Hyperplasie, die auch nach Abheilung des Defekts über Monate und Jahre als ringförmiger Polyp mit eingedelltem Zentrum persistiert („Dellenpolyp“). Chronische Erosionen sind vermehrt auf den Faltenkämmen der präpylorischen Mukosa lokalisiert. Sie entstehen bevorzugt bei Typ-B-Gastritis und vor allem bei lymphozytärer Gastritis.

Folgen der Erosionen Nur oberflächliche Erosionen (Leistenspitzenerosion und foveoläre Erosion) heilen folgenlos ab. Tiefe Erosionen führen zu bleibenden Veränderungen der Mukosa. Das sind fibröse oder glattmuskuläre Narben, deformierte Drüsenschläuche und kleine Retentionszysten, intestinale Metaplasien, eine randständige foveoläre Hyperplasie und evtl. sogar hyperplastische Polypen. Erosionen können schwerwiegende Sickerblutungen verursachen.

Abb. 28-4

Typen der Magenerosionen.

a Multiple akute hämorrhagische Erosionen im Korpusbereich. K = Korpus, A = Antrum. b Akute nichthämorrhagische Erosion im Antrumbereich mit Fibrinexsudation.

28.7.2

Ulkus

Definition Das Magenulkus (Magengeschwür) ist ein Schleimhautdefekt, der die Muscularis mucosae überschreitet.

Epidemiologie Das Magengeschwür tritt vorwiegend jenseits des 40. Lebensjahres auf. Männer sind davon etwa doppelt so häufig betroffen wie Frauen. Die meisten Ulzera entstehen durch H.p.-Infektion. Aber auch eine genetische Disposition („Ulkusfamilien“) und eine Häufung der Blutgruppe 0 bei Ulkuspatienten wurden nachgewiesen.

Tab. 28-2 Protektive und aggressive Faktoren bei der Ulkuspathogenese.

Pathogenese Die Pathogenese des Magenulkus ist multifaktoriell. Grundsätzlich ist von einem Missverhältnis zwischen protektiven und aggressiven Faktoren auszugehen (Tab. 28-2). ■ Protektive Faktoren. Zu den protektiven Faktoren gehören in erster Linie ein intakter oberflächlicher Schleimfilm und eine ausreichende lokale Bikarbonatproduktion, die bei schwerer Gastritis oder Gallereflux reduziert sein können. Dagegen wird die Schleimsekretion durch Prostaglandine der E-Reihe positiv beeinflusst (sog. Zytoprotektion). Ein intaktes Oberflächenepithel wirkt ebenfalls protektiv. Schäden des Deckepithels begünstigen eine Diffusion der Magensäure in das Schleimhautstroma mit der Folge einer Schleimhautschädigung. Ist es zu Epithelschäden gekommen, so spielt eine ungestörte Regeneration über die Stammzellen im Drüsenhalsbereich eine wichtige Rolle. Ferner ist eine normale Durchblutung ein wichtiger protektiver Faktor. Lokale und generalisierte Durchblutungsstörungen sind wesentlich an der Entstehung von Schock- und Stressulzera beteiligt. Auch die Häufung von Magengeschwüren bei portaler Hypertonie (sog. hepatogene Ulzera bei Leberzirrhose) wird venösen Durchblutungsstörungen mit Minderung der Protektion zugeschrieben. ■ Aggressive Faktoren. Zu den wichtigsten aggressiven Faktoren gehören die Salzsäure und die gastralen Proteasen (Pepsin I und II sowie Kathepsin E). Dies führte zum Konzept der Selbstandauung des Magens („peptische Geschwüre“). Solche peptischen Geschwüre entstehen außerdem durch übertritt dieser aggressiven Substanzen in den Ösophagus (Refluxulkus, siehe Kap. 27.6.1) und in den Dünndarm nach Billroth-II-Resektion (Ulcus pepticum jejuni) sowie

schließlich auch im Bereich einer ektopen Korpusmukosa (z.B. im oberen Ösophagus oder in einem Meckel-Divertikel). Als wichtigster aggressiver Faktor ist Helicobacter pylori zu nennen (siehe oben). Neurale Einflüsse, insbesondere ein verstärkter Vagotonus, aber auch Stress (Operationen, Traumen etc.) können über eine gesteigerte Salzsäureproduktion zum Ulkus führen. Auch vermehrte Produktion bzw. Freisetzung bestimmter Hormone hat eine ulzerogene Wirkung. Beispiele sind das Zollinger-EllisonSyndrom bei Gastrin-bildenden Tumoren und die vermehrte Freisetzung von Histamin bei Verbrennungen. Kortikosteroide wirken wahrscheinlich durch ihre Beeinträchtigung der Prostaglandinsynthese ulzerogen. Als wichtigste ulzerogene Medikamente vermindern ASS und NSAR über eine Hemmung der Zyklooxygenase die lokale Prostaglandinproduktion. Schließlich kann der duodenogastrale Reflux des aggressiven Duodenalsafts mit lysolecithinhaltiger Galle und mit aktivierten Pankreasenzymen die anderen aggressiven Faktoren und damit die Schleimhautschädigung potenzieren.

Abb. 28-5

Magenulkus.

a Chronisches kallöses Magenulkus im präpylorischen Antrum (Pfeile). Pylorusring (Sternchen). b Mikroskopische Schichten des Ulkusgrundes. 1 = granulozytenreicher Schorf, 2 = fibrinoide Nekrose, 3 = Granulationsgewebe, 4 = Narbengewebe. c Schematischer Aufbau des Ulkusgrundgewebes.

Morphologie Am häufigsten sind Magengeschwüre im Antrum an der sog. Magenstraße (kleine Kurvatur), an der Grenze zwischen Antrum- und Korpusmukosa, lokalisiert. Es folgen die präpylorische und intrapylorische Lokalisation (Ulcus ad pylorum). Magengeschwüre sind dynamische Läsionen, die zwar regelhaft in 3–6 Wochen abheilen, jedoch auch in etwa 70–90% der Fälle rezidivieren. Makroskopisch sind akute Magengeschwüre runde Defekte (Ulcus rotundum) mit flachen Rändern. Chronische Ulzera haben einen oft durch Narbengewebe aufgewulsteten Rand (kallöses Ulkus, Abb. 28-5a), wobei der oralwärtige Rand in

der Regel flacher verläuft und der duodenalwärtige Rand stärker unterminiert ist. In solchen Ulzera ist die Abheilung behindert. Differentialdiagnostisch müssen ulzerierte Karzinome mittels Biopsie abgegrenzt werden, die insgesamt eine unregelmäßigere Form zeigen. Histologisch besteht der Grund des akuten Ulkus aus dem oberflächlichen Detritus und einer darunter gelegenen fibrinoiden Nekrose (Schorf). In der frühen Heilungsphase zeigt der Ulkusgrund eine typische Vierschichtung. Unter Detritus und fibrinoider Nekrosezone folgen kapillarreiches Granulationsgewebe und in der Tiefe Narbengewebe (Abb. 28-5b, c). Bei der weiteren Heilung kommt es zu einer Reinigung des Ulkusgrundes mit Verschwinden des Schorfs. Dann wächst vom Ulkusrand her ein einreihiges, vulnerables Regenerationsepithel über den Ulkusgrund hinweg. Dieses bildet in der Folge villöse Strukturen und basale Drüsenknospen aus, die erst nach Monaten oder Jahren – wenn überhaupt – die Differenzierungshöhe der ursprünglichen Schleimhaut erreichen. Häufig tritt eine Umdifferenzierung in ein intestinales Epithel auf (intestinale Metaplasie). Häufig wird im Bereich des Ulkusgrundes die Submukosa als Verschiebeschicht nicht mehr aufgebaut. Bei der Regeneration verschmelzen die M. mucosae und die M. propria, sodass die unabhängige Beweglichkeit der Schleimhautschicht verloren geht (Motilitätsstörungen). Hier findet man eine obliterative „Endangitis“ mit Lumeneinengung und Sklerose der Blutgefäße sowie sekundäre neuromartige Veränderungen gastraler Nerven. An der Oberfläche erscheint eine gefäßreiche und hyperämische „rote Narbe“. Durch Kontraktion der Myofibroblasten nimmt das Narbengewebe bald eine sternförmige Gestalt an und nach Rückbildung der Kapillaren entwickelt sich daraus die sternförmige „weiße Narbe“.

Komplikationen ■ Blutung. Eine wichtige, weil mitunter lebensbedrohliche Komplikation ist die Blutung aus einer arrodierten Arterie. Meist liegt ein „Wettlauf“ zwischen der Gefäßzerstörung durch das Ulkus und der reaktiven obliterativen Thrombose oder Intimawucherung der Arterie vor. Eine seltene Sonderform der Ulkusblutung ist die Exulceratio simplex Dieulafoy. Hier handelt es sich um ein meist kardianahes akutes Magenulkus mit Arrosion einer abnorm großen submukösen Arterie mit zumeist lebensbedrohlicher Blutung. ■ Perforation. Vor allem beim akuten Geschwür ist die Gefahr der Perforation der gesamten Magenwand gegeben, weil hier die „schützende“ basale Vernarbung des chronischen Ulkus fehlt. Es kann sich eine „freie“ Perforation mit nachfolgender Peritonitis entwickeln. Bei der „gedeckten“ Perforation entstehen zuvor Verklebungen mit Netzanteilen oder Nachbarorganen, die eine Ausbreitung des Mageninhalts in das gesamte Abdomen verhindern. Kommt es zu einer langsamen reaktiven Verwachsung mit der Serosa von Nachbarorganen, so kann

sich das Ulkus auch ohne peritoneale Perforation in diese Organe ausdehnen. Man spricht dann von einer Penetration, z.B. in die Leber oder in das Pankreas. ■ Soorbesiedlung. Ein weiterer häufiger Befund ist eine sekundäre Soorbesiedlung von bestehenden Magengeschwüren. Ob dadurch die Heilung verzögert wird und weitere Komplikationen begünstigt werden, ist umstritten. Eine Soorbesiedlung scheint übrigens etwas häufiger bei ulzerierten Karzinomen als bei benignen Geschwüren aufzutreten. ■ Motilitätsstörungen. Eine häufige Komplikation nach Abheilung der Magengeschwüre sind örtliche Motilitäts- und Transportstörungen aufgrund von narbigen Deformierungen des Magens, z.B. Entleerungsstörungen bei Magenausgangsstenose sowie verstärkter gastroduodenaler Reflux bei Pylorusinsuffizienz. ■ Maligne Entartung. Die maligne Entartung eines chronischen Ulkus dürfte extrem selten (deutlich unter 1%) vorkommen, weil die meisten der vermeintlichen sog. Ulkuskarzinome in Wirklichkeit sekundär ulzerierte Magenkarzinome sind (siehe unten). Schlecht oder gar nicht heilende Magengeschwüre sind verdächtig auf ulzerierte Karzinome oder maligne Lymphome. Diese Tumoren können gelegentlich ein benignes Ulkus imitieren. Deswegen müssen grundsätzlich alle Magengeschwüre zum Ausschluss maligner Prozesse in ihrem Heilungsverlauf im Bereich sowohl des Randes als auch des Grundes endoskopisch-bioptisch kontrolliert werden.

28.8

Hyperplasien des Magens

28.8.1 Umschriebene Hyperplasien der Magenmukosa (benigne epitheliale Polypen) Defintion Als Polypen werden alle klinischerseits umschriebenen Erhebungen der Schleimhautoberfläche über das übliche Niveau, unabhängig vom histologischen Befund, bezeichnet. Das histologische Substrat der Polypen ist vielfältig und reicht von entzündlichreaktiven Schleimhautverdickungen über tumorähnliche Veränderungen bis hin zu epithelialen Neoplasien und Bindegewebetumoren.

Fokale foveoläre Hyperplasie Dies ist die häufigste flach-polypöse Veränderung des Magens. Es handelt sich um einen umschriebenen, 2–3 mm breiten, entzündlich-reaktiven Polypen, der aus einer

überschießenden Regeneration des Grübchenepithels mit Verlängerung der Grübchen resultiert. Diese Veränderungen finden sich oft bei den verschiedenen Gastritisformen oder am Rande von chronischen Erosionen oder Ulzera. Die Grübchen sind elongiert und werden von einem reaktiv veränderten Epithel ausgekleidet, das zwar einen erhöhten Zellumsatz und eine etwas verminderte Ausreifung (z.B. verminderte Schleimbildung), aber keine Atypien aufweist. Es besteht kein Malignitätsrisiko.

Hyperplastischer Polyp Syn.: hyperplasiogener Polyp Dieser wesentlich größere Polyp kann bis walnussgroß werden und tritt gelegentlich multipel auf (Abb. 28-6a). Histologisch zeigt er deutlich verlängerte Foveolen mit charakteristischer Veränderung der Foveolarepithelien. Diese enthalten im Vergleich mit der foveolären Hyperplasie vergrößerte Schleimtropfen, größtenteils mit saurer (intestinaler) Schleimqualität (intestinale Metaplasie, siehe unten). Typisch sind oberflächliche Erosionen mit Kapillarproliferationen, ein Stromaödem und zystisch erweiterte Drüsen in tieferen Anteilen (Abb. 28-6b). Neue Befunde deuten darauf hin, dass die H.p.-Besiedelung ätiopathogenetisch von Bedeutung ist.

Abb. 28-6

Magenpolypen.

a Multiple hyperplastische Polypen im Antrum-Bereich.

b Hyperplastischer Polyp mit Verlängerung und Erweiterung der Grübchen und Hyperplasie des PAS-positiven Foveolarepithels (Pfeile; PAS, Vergr. 15fach). c Drüsenkörperzysten im Korpusbereich mit feinhöckriger Polypose der Schleimhautoberfläche (Pfeile). d Drüsenkörperzysten im Korpusbereich mit zystischer Erweiterung (Sternchen) tieferer Korpusdrüsen. Lumen (L), Foveolen (F). Hyperplastische Polypen haben selbst ein extrem geringes Entartungsrisiko (1–2%). Dennoch sind multiple hyperplastische Polypen Indikatoren für ein gesteigertes Magenkarzinomrisiko im gesamten übrigen Magen.

Drüsenkörperzysten Syn.: Fundusdrüsenpolyp Es handelt sich um eine zystische Erweiterung tiefer Drüsen (des sog. Drüsenkörpers) im Korpusbereich (Abb. 28-6c, d). Die Veränderung ist die zweithäufigste polypöse Veränderung im Magen, es dürfte sich um eine invertierte Hyperplasie der Stammzellen mit Ausdifferenzierung von ortstypischen Zellen handeln. Bei der Hälfte der Patienten mit Drüsenkörperzysten kommen gleichzeitig Kolonadenome vor. Deshalb sollte beim Nachweis dieser Läsionen zusätzlich der untere Verdauungstrakt endoskopisch kontrolliert werden. Drüsenkörperzysten des Magens finden sich auch bei Patienten mit familiärer adenomatöser Polypose (FAP).

28.8.2

Diffuse Hyperplasien der Magenmukosa

Man kennt Zellvermehrungen in drei Kompartimenten der Magenmukosa.

Diffuse foveoläre Hyperplasie Syn.: Morbus Ménétrier

Definition Es handelt sich um eine sehr seltene, diffuse Vermehrung der Foveolarepithelien mit Verlängerung der Grübchen und Ausbildung eines sog. Riesenfaltenmagens. Klinisch kombiniert ist ein Eiweißverlustsyndrom, das für die sichere Diagnose stets zu fordern ist.

Morphologie

Neben der diffusen foveolären Hyperpasie bestehen oft Erosionen der Schleimhaut sowie eine Atrophie der basalen Drüsen.

Pathogenese Die Pathogenese der foveolären Hyperplasie ist ungeklärt. In einigen Fällen wurde ein durch gastrointestinale neuroendokrine Tumoren bedingtes Syndrom (sog. Karzinoidsyndrom) gefunden, sodass gastrointestinale Hormone und Wachstumsfaktoren eine Rolle spielen dürften. Das Eiweißverlustsyndrom wird teils auf eine verstärkte Exsudation aus den Erosionen, teils auf kapilläre Permeabilitätsstörungen und teils auf eine verstärkte Sekretion zurückgeführt. Beim Morbus Ménétrier scheint ein erhöhtes Karzinomrisiko vorzuliegen (ca. 10%).

Differentialdiagnose Nach neuesten Befunden tritt eine diffuse foveoläre Hyperplasie auch bei der H.p.Gastritis, speziell bei der lymphozytären Gastritis, auf. Sie bildet sich nach Behandlung zurück. Besonders wichtig ist der Ausschluss der diffusen foveolären Hyperplasie bei unterminierend wachsenden Magenkarzinomen vom diffusen Typ. Diese beruht wahrscheinlich auf tumorbedingter Freisetzung von Wachstumsfaktoren.

Diffuse Belegzellenhyperplasie Syn.: glanduläre Hyperplasie

Definition Die Schleimhaut zeigt bei der Belegzellenhyperplasie verdickte Schleimhautfalten im Korpusbereich (Abb. 28-7), wobei die normale Höhe des Drüsenlagers von knapp 1 mm deutlich überschritten wird. Mikroskopisch sind die Belegzellen nicht nur vermehrt (hyperplastisch), sondern auch in ihrem Volumen vergrößert und aktiviert (hypertrophiert).

Ätiologie und Pathogenese

Die diffuse Belegzellenhyperplasie ist Folge einer Hypergastrinämie, die auf gastrinproduzierenden neuroendokrinen Tumoren (sog. Gastrinomen) bei einem Zollinger-Ellison-Syndrom (ZES) beruht. Sie wird auch bei Verabreichung von Protonenpumpenhemmern beobachtet.

Abb. 28-7 Diffuse Magenschleimhauthyperplasie im Korpusbereich.

Mit Verdickung und Schlängelung der Falten bei Zollinger-Ellison-Syndrom.

Klinisch-pathologische Korrelationen Wegen der verstärkten Säuresekretion treten teils solitäre, teils multiple Geschwüre im Magen oder im Duodenum auf. Vor allem Rezidivgeschwüre nach operativer Antrumresektion sind hochgradig verdächtig auf ein ZES. Die Mehrzahl der Gastrinome ist maligne und hat bei klinischer Manifestation bereits metastasiert. Das Tumorleiden ist chirurgisch wegen der Metastasierung und/oder des okkulten Primärtumors oft nicht kurativ zu beeinflussen. Es kann eine zwar nur palliative, aber funktionell wirksame medikamentöse Therapie mit der Gabe von Protonenpumpenhemmern (Omeprazol) oder eine chirurgische Entfernung des Zielorgans (vollständige Magenresektion) erfolgen. Mitunter gelingt es auch, die Gastrinfreisetzung durch Somatostatinanaloga zu supprimieren.

Diffuse Hyperplasie der gastralen endokrinen Zellen ■ Gastrinzellen im Antrum. Eine reaktive, diffuse Hyperplasie der antralen GZellen mit Hypergastrinämie tritt bei zunehmender Anazidität infolge fortgeschrittener Typ-A-Gastritis auf (siehe Kap. 28.6.2). ■ Endokrine ECL(enterochromaffin-like)-Zellen im Korpus. Die Hypergastrinämie bei Typ-A-Gastritis kann Belegzellen wegen ihrer vorherigen

autoimmunologischen Zerstörung nicht mehr erreichen. Sie führt aber zu einer Hyperplasie der histaminhaltigen ECL-Zellen, aus denen sich über Dysplasien multiple neuroendokrine Tumoren der Korpusregion entwickeln können. Bei den meist alten Patienten haben die multizentrischen polypösen neuroendokrinen Tumoren bei Typ-A-Gastritis (sog. ECL-Karzinoide) eine sehr günstige Prognose und können bis zu 1 cm groß werden. Eine Antrektomie lässt die reaktive G-ZellHyperplasie mit Hypergastrinämie verschwinden und führt zur Rückbildung der meisten sog. ECL-Karzinoide.

28.9

Metaplasien des Magens

Definition Als Metaplasie bezeichnet man im Magen den Ersatz der ortstypischen gastralen Epithelien vorwiegend durch Zellen mit intestinaler, seltener heterotoper gastraler oder auch pankreatischer Differenzierung. Die Metaplasie tritt fast immer im Verlauf einer Regeneration von Epitheldefekten auf und ist offensichtlich nicht reversibel.

28.9.1

Intestinale Metaplasie

Definition Bei der intestinalen Metaplasie (IM) werden Epithelzellen der Magenmukosa durch darmspezifische Epithelien ersetzt, wobei teils eine dünndarm-, teils eine dickdarmähnliche Differenzierung und teils eine Mischung aus magen- und darmspezifischen Zellen vorliegen. Somit können mindestens drei Formen der intestinalen Metaplasie unterschieden werden (Abb. 28-8). ■ Typ I der IM (Dünndarmtyp bzw. enterale Form oder komplette intestinale Metaplasie). Meist entsteht eine hochdifferenzierte Dünndarmschleimhaut mit Zotten-und Kryptenarchitektur, basaler Regenerationszone und sämtlichen differenzierten Dünndarmzellen („komplette“ Ausstattung mit Absorptivzellen = Saumzellen, Becherzellen, Paneth-Zellen und endokrinen Zellen). Dies ist mit ca. 70–80% der häufigste Typ der IM. Es handelt sich um ein harmloses, stabiles Ersatzgewebe ohne erkennbares Karzinomrisiko, das mit zunehmendem Lebensalter im Magen häufiger auftritt. Infolge einer Atrophie und des metaplastischen Ersatzes der säurebildenden Mukosa im Korpusbereich (Typ-A-Gastritis) kommt es zur Erhöhung des pH-Werts des Magensaftes und damit zur Möglichkeit einer Besiedlung durch eine fäkogene Bakterienflora. Bei ausgedehnter IM ist mit einer gleichzeitigen Atrophie der Mukosa und mit Folgen für die Verdauung zu rechnen (Maldigestion, perniziöse Anämie etc.). ■ Typ II der IM (inkomplette intestinale Metaplasie vom gastroenteralen Typ). Bei diesen Läsionen (Häufigkeit ca. 20–30% der IM) ist nicht mehr der vollständige

intestinale Zellbesatz entwickelt („inkomplett“). Stattdessen sind einzelne intestinale Becherzellen zwischen die gastralen Foveolarepithelzellen eingelassen. Bei dieser Läsion ist theoretisch eine Rückbildung in normale gastrale Mukosa oder aber ein übergang in die IM Typ I bzw. Typ III vorstellbar. Ein erhöhtes Karzinomrisiko ist derzeit nicht gesichert. ■ Typ III der IM (inkomplette intestinale Metaplasie vom Dickdarmtyp bzw. vom kolischen Typ). Diese relativ seltene Metaplasieform (3% der IM) ähnelt mit kryptenartigen Drüsen, voluminösen Becherzellen und saurem Schleim der Dickdarmmukosa. Sie ist meist in sehr kleinen Herden entwickelt. Die kolische Form der IM ist gelegentlich mit Magenkarzinomen vom sog. Intestinaltyp assoziiert. Verlaufsbeobachtungen haben ergeben, dass die IM Typ III jedoch keine unmittelbare präkanzeröse Läsion ist. Vielmehr muss man davon ausgehen, dass kanzerogene Reize nicht nur die Karzinome vom Intestinaltyp, sondern auf einem Nebenweg auch die IM Typ III induzieren. Nach dem derzeitigen Stand des Wissens weist diese Form der IM allenfalls indirekt auf eine leicht erhöhte Karzinomgefährdung hin.

Abb. 28-8

Typen der intestinalen Metaplasie

(modifiziert nach Borchard, 1989). Einzelheiten siehe Text Die verschiedenen Formen der IM kommen oft nebeneinander vor. Da die kolische Form (Typ III) praktisch niemals isoliert, sondern meistens in Kombination mit der enteralen Form (Typ I) auftritt, hat man den Typ III auch als enterokolischen Typ der IM bezeichnet.

28.9.2

Gastrale Metaplasie

Definition Hier handelt es sich um einen Ersatz der ortsständigen Zellen durch ortsfremde gastrale Epithelzellen. Die häufigste Form ist die sog. pseudopylorische Metaplasie, der Ersatz spezifischer Korpusdrüsen durch muköse (mukopeptische) Antrumdrüsen. Sie findet sich häufig bei Typ-A-Gastritis und im Magenstumpf nach langem postoperativem Intervall. Eine präkanzeröse Bedeutung ist nicht gesichert. Mitunter treten gastrale Epithelzellen vom foveolären Typ in tief gelegenen Drüsen auf, z.B. in Zysten nach Erosionen und auch in Drüsenkörperzysten, sog. foveoläre Metaplasie. Diese Form der Metaplasie spielt im Duodenum beim Ersatz der oberflächlichen Absorptivzellen besonders bei der H.p.-Bulbitis (siehe unten) eine große Rolle und wird hier vielfach als gastral-foveoläre Metaplasie bezeichnet (siehe unten).

28.10 Neoplasien des Magens 28.10.1

Benigne epitheliale Neoplasien

Adenome Die Adenome des Magens sind seltene benigne epitheliale Neoplasien, die fast ausschließlich im hohen Lebensalter auftreten. Sie sind aus tubulären, villösen oder tubulovillösen Strukturen aufgebaut und häufig intestinal differenziert. Daher erinnern sie an Adenome des Dickdarms (siehe Kap. 31.8.1). Ein übergang in Karzinome findet sich bei solchen tubulären Adenomen nur in 2–5% der Fälle, sodass diese als präkanzeröse Läsionen keine Rolle spielen. Die sehr seltenen villösen Adenome sind meist große Polypen und zeigen in etwa der Hälfte der Fälle eine maligne Entartung. Die sehr seltenen gastral differenzierten Adenome haben ein höheres Karzinomrisiko.

28.10.2

Maligne epitheliale Neoplasien

Magenkarzinom Definition Es handelt sich um einen malignen epithelialen Tumor, der primär von den Stammzellen im Drüsenhalsbereich oder sekundär von metaplastischen Stammzellen ausgeht. Er macht mehr als 90% aller malignen Magentumoren aus.

Epidemiologie Die Magenkarzinome nehmen besonders in den USA und in Europa seit Jahrzehnten an Häufigkeit ab. In anderen Ländern sind Magenkarzinome jedoch sehr häufig: Japan, Chile, Finnland und einige osteuropäische Länder weisen im Vergleich zu Deutschland eine bis zu dreimal höhere Inzidenz auf. Die deswegen in Japan durchgeführten Früherkennungsmaßnahmen decken vermehrt Frühkarzinome (bis 50%) auf und führen damit zu einer höheren kurativen Operabilität und einer reduzierten Letalität. Trotz rückläufiger Inzidenz des Magenkarzinoms in Deutschland sind Letalitätsrate und Krankheitsdauer wegen der meist fortgeschrittenen Tumorstadien immer noch unverändert hoch. Betroffen sind Patienten mit einem Durchschnittsalter zwischen 55 und 65 Jahren, in seltenen Fällen allerdings auch sehr junge Patienten. Männer erkranken 1,7mal häufiger als Frauen. Gut differenzierte tubuläre Adenokarzinome kommen etwas häufiger bei Männern im höheren Alter vor und scheinen eher von der Einwirkung von Umweltkanzerogenen abzuhängen. Besonders diese Tumoren sind rückläufig. Adenokarzinome mit verstreut wachsenden, inkohärenten Zellen (sog. diffuse Karzinome, siehe unten) weisen ein ausgeglichenes Geschlechtsverhältnis auf und scheinen bevorzugt auf primär genetischen Faktoren zu beruhen. Ihre Zahl bleibt konstant bzw. nimmt sogar relativ zu.

Pathogenese Magenkarzinome haben eine multifaktorielle Ursache. Der wichtigste Faktor bei der Karzinogenese des menschlichen Magens ist nach heutiger Kenntnis die H.p.Gastritis. Seit kurzem wird H. p. sogar von der WHO als Karzinogen erster Ordnung bezeichnet. Auch andere Formen der Gastritis müssen aufgrund der verstärkten Epithelregeneration als wichtige pathogenetische Faktoren angesehen werden (siehe Kap. 6.3). Die gleichzeitige Bedeutung von Umwelteinflüssen wird durch Migrationsstudien deutlich. So konnte gezeigt werden, dass die Nachkommen japanischer Auswanderer in den USA wegen der Ernährungsumstellung eine reduzierte Rate an Magenkarzinomen hatten. Die veränderten Methoden der Nahrungsmittelkonservierung (z.B. Reduktion der

Pökelsalze, Einführung von Kühlschränken etc.) schienen früher wesentlich für den Rückgang der Magenkarzinome in den zivilisierten Ländern verantwortlich gewesen zu sein, da die für die Pökelung verwandten Nitrite sowie die Nitrate im Trinkwasser durch Magenbakterien in Nitrosamine umgewandelt werden können. Nitrosaminderivate zählen im Tierversuch zu den wirksamsten Kanzerogenen zur Induktion von Magenkarzinomen. Für die Bedeutung erblicher Faktoren spricht ein familiäres Vorkommen des Magenkarzinoms, ebenso die überdurchschnittlich häufige Inzidenz bei Trägern der Blutgruppe A.

Präkanzerosen Bei der Typ-B-Gastritis ist das relative Karzinomrisiko zwei- bis sechsfach erhöht. In Ländern mit starker H.p.-Durchseuchung schon in frühem Lebensalter (z.B. Kolumbien) findet sich eine hohe Magenkarzinominzidenz. Aber auch die Typ-AGastritis mit perniziöser Anämie trägt ein auf ca. 10% gesteigertes Entartungsrisiko. Schließlich ist auch die Typ-C/R-Gastritis im Anastomosenbereich (Stumpfgastritis) bei einer mehr als 15 Jahre zurückliegenden Magenresektion eine wichtige Präkanzerose für die Entwicklung eines Magenstumpfkarzinoms. Wahrscheinlich hat auch der Morbus Ménétrier ein erhöhtes Krebsrisiko. Das Tumorrisiko in einem benignen Ulkus ist minimal (< 1%). Dennoch ist es außerordentlich wichtig, mit endoskopisch-bioptischen Methoden bei jedem Ulkus, besonders bei atypischer Lokalisation, differentialdiagnostisch ein ulzeriertes Karzinom auszuschließen.

Morphologie In zwei Drittel der Fälle entstehen die Magenkarzinome im Bereich der kleinen Kurvatur im Antrum. In jüngster Zeit findet sich jedoch eine Zunahme der Karzinome im Korpusbereich und besonders auch im gastroösophagealen übergangsbereich. Unter Berücksichtigung endoskopisch-makroskopischer Aspekte sind zwei Karzinomformen hinsichtlich ihrer Prognose zu unterscheiden, die sog. Frühkarzinome mit begrenztem Tiefenwachstum und günstiger Prognose und die fortgeschrittenen Karzinome mit schlechter Prognose.

Magenfrühkarzinome Definition Magenfrühkarzinome sind Tumoren, deren Wachstum sich auf die Mukosa (M-Typ) beschränkt oder bis in die Submukosa (SM-Typ) reicht. Die Lamina muscularis propria wird nicht infiltriert. In Japan liegt die Rate der Frühkarzinome als Folge der

Vorsorgeuntersuchungen bei knapp 50%, während sie in Deutschland nur etwa 10– 15% beträgt.

Morphologie Endoskopisch bzw. makroskopisch unterscheidet man drei Grundtypen von Frühkarzinomen (Abb. 28-9): ■ Typ I. Polypöse Form. ■ Typ II. Flache Formen mit leicht erhabenem (IIa), im Schleimhautniveau liegendem (IIb) oder unterhalb des Schleimhautniveaus liegendem (IIc) Tumorgewebe. ■ Typ III. Ulzerierte Form. Der Ulkusgrund ist grundsätzlich tumorfrei und kann teils durch benigne, teils durch karzinomatöse Zellen reepithelisiert werden (sog. maligner Zyklus). Bioptisch sind Tumoranteile nur am Geschwürsrand nachweisbar. Auch Kombinationsformen dieser endoskopischen Typen kommen nach sekundärer Ulzeration vor, am häufigsten Typ IIc und III (Abb. 28-10). Histologisch zeigen die Magenfrühkarzinome oft eine Kombination von tubulären und diffus wachsenden, d.h. höher und niedrig differenzierten Tumoranteilen. Die Tumorverdopplungszeiten der Frühkarzinome sind lang und betragen zwischen einem Jahr und fünf Jahren. Die Metastasierungsrate liegt zwischen 5% (M-Typ) und 15% (SM-Typ).

Klinisch-pathologische Korrelation

Nach Magenresektion liegt die 5-Jahres-überlebensrate zwischen 95% (M-Typ) und 85% (SM-Typ). Kleine, gut differenzierte Frühkarzinome vom M-Typ können bis zu einer Größe von 3 cm lokal reseziert werden (endomukosale Resektion).

Fortgeschrittene Magenkarzinome Definition Fortgeschrittene Magenkarzinome sind mindestens in die Lamina muscularis propria eingedrungen.

Abb. 28-9

Klassifikation der Magenfrühkarzinome

(modifiziert nach Borchard: Classification of gastric carcinoma. HepatoGastroenterol. 37 [1990] 223–232). Einzelheiten siehe Text.

Abb. 28-10 Magenfrühkarzinom vom endoskopischen Typ IIc und III.

Im Zentrum weißliches, flaches (siegelringzellhaltiges) Frühkarzinom (Pfeile) unter Mukosaniveau mit flachen Ulzerationen (Doppelpfeile) sowie mit Abbruch und Konvergenz der angrenzenden Falten.

Morphologie

Makroskopisch werden die fortgeschrittenen Magenkarzinome nach der auch heute international gültigen Borrmann-Klassifikation (Kieler Pathologe Borrmann, 1927) in vier Formen eingeteilt (Abb. 28-11): ■ Typ I. Polypöse, gut begrenzte Tumoren, die histologisch meist aus Tubuli aufgebaut sind. ■ Typ II. Ulzerierte Tumoren mit wallartig erhabenem, scharf begrenztem Rand (sog. Ringwallkarzinome), die ebenfalls Tubuli ausbilden. Sie entstehen sekundär aus Typ-I-Karzinomen. ■ Typ III. Ulzerierte Tumoren mit unscharfen Grenzen. Sie sind vorwiegend aus diffus wachsenden Tumorzellen aufgebaut. ■ Typ IV. Flache Tumoren mit unscharfer Begrenzung und plumper Verdickung der Schleimhautfalten. Sie bestehen meist aus diffus wachsenden Tumorzellen. Durch Ulzeration gehen sie in Typ III über. Karzinome vom Typ III und IV finden sich meist im Magenkorpus und sparen das Antrum aus. Sie führen zu einer vor allem radiologisch gut erkennbaren Starre des Magens („Feldflaschenmagen“, „Stierhornmagen“) bzw. Verdickung der Schleimhautfalten (Linitis plastica). Da sich diese Tumoren oft unterminierend in der Submukosa weit unter einer normalen Schleimhaut ausdehnen, ergeben sich diagnostische Probleme. Die Gewinnung einer repräsentativen Biopsie ist schwierig und erfordert häufig eine tief greifende Schlingenbiopsie oder eine sog. Knopflochbiopsie (d.h. eine zweite tiefe Biopsie durch einen vorherigen ersten Biopsiedefekt). Die Tumorausdehnung kann intraoperativ unterschätzt werden. Daher sollte die Therapie grundsätzlich in der Resektion des gesamten Magens bestehen. Magenkarzinome vom Typ IV werden wegen der bedeckenden Riesenfalten vielfach als Morbus Ménétrier fehlgedeutet (siehe oben).

Abb. 28-11 Klassifikation der Magenkarzinome.

(Borrmann, modifiziert nach Borchard 1990).

Abb. 28-12 Mikroskopische Klassifikation der Magenkarzinome

(modifiziert nach Laurén). a Kohäsiv wachsendes Adenokarzinom vom sog. „intestinalen“ Typ mit tubulären Drüsen. HE. b Diffuses Adenokarzinom vom Siegelringzelltyp. HE.

Histologische Klassifikation ■ Klassifikation nach der WHO. Nach dem vorherrschenden Wachstumsmuster unterscheidet man: tubuläre, papilläre, muzinöse und siegelringzellige Adenokarzinome. Siegelringzellen speichern den gebildeten Schleim im abgerundeten Zytoplasma, wodurch der Kern an den Rand der Zelle gedrängt und abgeplattet wird (vgl. Abb. 28-12b). ■ Einteilung nach Adhäsionsverhalten (modifizierte Laurén-Klassifikation). Tumorzellen bei höher differenzierten Adenokarzinomen des Magens sind kohärent und bilden Tubuli. Sie werden tubuläre (sog. „intestinale“) Adenokarzinome genannt (Abb. 28-12a). Bei gering differenzierten Adenokarzinomen liegen die Tumorzellen diffus verstreut bzw. nicht kohärent vor. Man spricht dann von „diffusen“ Adenokarzinomen. Das diffuse Wachstum beruht auf Mutationen im Gen des Zelladhäsionsmoleküls E-Cadherin, sodass die Zellhaftung beim diffusen Karzinom gestört ist. Diffuse Karzinome zeigen oft eine intrazelluläre Ansammlung von Muzintröpfchen, durch die der Zellkern wie bei einem Siegelring an den Rand gedrängt wird (diffus-siegelringzelliges Karzinom, Abb. 28-12b). Sie werden anderen diffusen Karzinomformen gegenübergestellt, bei denen die Karzinomzellen schmale Zytoplasmasäume ohne jegliche Differenzierung haben (diffus-anaplastisches Karzinom). Diffuse Karzinome entstehen häufiger im Magenkorpus und zeichnen sich durch ein ausgedehntes Wachstum und unscharfe Grenzen aus, während tubuläre Adenokarzinome eher im Antrum- und Kardiabereich entstehen und makroskopisch deutlicher abgrenzbar sind. Nicht selten findet sich bei Magenkarzinomen eine Heterogenität des Adhäsionsverhaltens und damit eine Kombination von tubulären (intestinalen) und diffusen Karzinomstrukturen (sog. Mischtyp). Therapeutisch spielt das Adhäsionsverhalten der Magenkarzinome insofern für die „histologieadaptierte Resektionsbehandlung“ eine Rolle, als diffuse Karzinome bei Operabilität radikal mit Gastrektomie zu behandeln sind (siehe unten). ■ Histogenetische Differenzierung. Mikroskopisch ergibt sich bei den Magenkarzinomen ein großes Spektrum der histogenetischen Differenzierungsmöglichkeiten, das der vielfältigen zellulären Differenzierung der normalen Magenmukosa und der intestinalen Metaplasie entspricht. Als Ausdruck einer gastralen Differenzierung findet man in den Tumorzellen eine Expression magentypischer Enzyme, z.B. Pepsinogen I und II, Kathepsin E, oder magentypischer Muzin-Core-Proteine, Muc 5AC und Muc 6. Sogar Karzinome mit Belegzellendifferenzierung sind vereinzelt beschrieben worden. Insgesamt zeigt etwa ein Fünftel der Magenkarzinome eine rein gastrale

Differenzierung, die besonders bei Expression von Pepsinogen II mit einer schlechten Prognose einhergeht (meist fortgeschrittene Karzinome). Für eine intestinale Differenzierung spricht das Auftreten von intestinaltypischen Bürstensaumantigenen von Becherzellmuzinen oder von Paneth-ZellDifferenzierung. Etwa ein Drittel der Magenkarzinome ist rein intestinal differenziert und zeigt insgesamt eine günstigere Prognose. Außerdem findet man in etwa einem Drittel aller Magenkarzinome auch einen kleinen Tumoranteil mit einer allerdings prognostisch irrelevanten Differenzierung zu neuroendokrinen Zellen. Die histogenetische Differenzierung ist jedoch wegen der genetischen Instabilität der Magenkarzinome oft uneinheitlich, zeigt doch mindestens die Hälfte der Tumoren (unabhängig vom Adhäsionsverhalten) auf zellulärer Ebene eine histogenetische gastral-intestinale Mischdifferenzierung. ■ Die pTNM-Klassifikation (Tab. 28-3). Von hoher prognostischer Signifikanz ist besonders die Abgrenzung von pT1 (Frühkarzinome) gegenüber den anderen Invasionsstadien pT2–pT4 (fortgeschrittene Karzinome, siehe oben). Die lymphogene Metastasierung hängt vom Tumorsitz ab. Die Drainagerichtung verläuft im Bereich der kleinen Kurvatur entlang der A. gastrica sinistra kardiawärts, im Bereich der unteren großen Kurvatur pyloruswärts. Bei der häufigsten Karzinomlokalisation an der unteren kleinen Kurvatur erfolgt sie zunächst in die Lymphknoten entlang der kleinen Kurvatur, aber auch der unteren großen Kurvatur des Magens. Bei der hämatogenen und kavitären Metastasierung ergibt sich eine bemerkenswerte Dichotomie zwischen diffusen und tubulären („intestinalen“) Karzinomen. Diffuse Adenokarzinome gehen im fortgeschrittenen Stadium besonders häufig mit einer Peritonealkarzinose einher. Dabei findet man bei Frauen oft eine metastatische Absiedlung von diffus-siegelringzelligen Karzinomen in die Ovarien (sog. Krukenberg-Tumoren). Bei tubulären Adenokarzinomen dominiert die hämatogene Absiedlung via Pfortader in Form von Lebermetastasen, eine Peritonealkarzinose ist dagegen selten.

Tab. 28-3 pTNM-Klassifikation der Magenkarzinome.

Klinisch-pathologische Korrelationen Magenkarzinompatienten haben je nach Tumorlokalisation und -aus-breitung unterschiedliche Beschwerden. Während Karzi-nome im Bereich des Mageneinoder -ausgangs durch ihre Stenosesymptomatik auffallen können, bleiben Karzinome im Korpusbereich lange unbemerkt. Bei einigen Patienten kommt es zu einer Abneigung gegenüber bestimmten Speisen (z.B. Fleisch). Die Blutungsanämie kann Leitsymptom sein. Bisweilen zeigen eine allgemeine Schwäche und Kachexie bereits das bis dahin unbemerkte Terminalstadium an.

Therapie Die Standardtherapie der Magenkarzinome besteht in einer, wenn möglich, „histologieadaptierten“ kurativen Magenresektion mit erweiterter Lymphadenektomie. Grundsätzlich sollte beim bioptischen Nachweis einer diffusen Karzinomkomponente eine Gastrektomie durchgeführt werden, weil diffus wachsende Magenkarzinome als Typ-III- und Typ-IV-Tumoren makroskopisch unterschätzt werden (siehe oben). Bei tubulären Karzinomen (sog. „Intestinaltyp“ nach Laurén) werden von einigen Chirurgen Sicherheitsabstände von 5 cm eingehalten. Die zu tiefe Magenabsetzung birgt aber die Gefahr, dass die kardiawärts drainierende Lymphknotenkette (siehe oben) der kleinen Kurvatur unzureichend

ausgeräumt wird. Mehr und mehr hat sich eine prinzipielle Gastrektomie als Standardtherapie des operablen Magenkarzinoms durchgesetzt. Sehr kleine, gut differenzierte Magenfrühkarzinome vom Mukosa-Typ werden heute bis zu einer Ausdehnung von 3 cm nach Kontrollendosonographie oft schon als sog. endoskopische Mukosaresektion (EMR) lokal abgetragen, da bis zu dieser Größe keine Metastasen vorliegen.

28.10.3

Neuroendokrine Tumoren

Definition Neuroendokrine Tumoren (sog. Karzinoide) des Magens entstehen als reaktive Tumoren der gastralen endokrinen Zellen (siehe auch Kap. 17.3.1). Sie treten vor allem multipel als ECL-Zell-Hyperplasie bei chronischer Typ-A-Gastritis im Korpusbereich auf (siehe oben). Eine Indikation zur Resektionsbehandlung besteht wegen der geringen Gefahr der Metastasierung frühestens bei einer Größe der Tumoren von ca. 1 cm. Bei sporadischen solitären neuroendokrinen Tumoren ist die Gefahr der Metastasierung dagegen relativ hoch. Bei diesen sporadischen Tumoren tritt gelegentlich ein sog. atypisches Flush-Syndrom auf.

28.10.4 Benigne und maligne mesenchymale Neoplasien Dabei handelt es sich ganz überwiegend um sog. gastrointestinale Stromatumoren (GIST). Andere mesenchymale Tumoren, wie Leiomyome oder Neurinome, sind Raritäten.

Morphologie Gastrointestinale Stromatumoren werden von einer intakten Mukosa überzogen oder können auch fuchsbauartige bzw. fistelartige Ulzerationen aufweisen. Die meisten GIST bestehen aus charakteristischen spindeligen Zellen. Andere Varianten zeigen einen breiten epithelähnlichen Zytoplasmaleib (sog. epitheloider GIST). Wesentliches Kriterium für die Dignität ist – neben Tumornekrosen – die Anzahl der Mitosen, die in 50 Gesichtsfeldern bei etwa 400facher Vergrößerung (50 high power fields = 50 HPF) ausgezählt wird. Ab 5 Mitosen/50 HPF muss mit Malignität gerechnet werden. Auch Tumorgrößen von mehr als 6 cm sind malignitätsverdächtig. Histogenetisch werden die GIST mesenchymalen Stammzellen der Darmwand zugeordnet und zeigen wie diese immunhistochemisch eine Positivität für CD117 und CD34. Da die sog. Cajal-Schrittmacherzellen eine identische Markerexpression haben, wird auch eine histogenetische Beziehung zu diesen Tumoren diskutiert.

28.10.5

Maligne Lymphome

Syn.: MALTome, Marginalzelllymphom Primäre extranodale maligne Non-Hodgkin-Lymphome (NHL) kommen am häufigsten im Magen vor (siehe auch Kap. 22.2.2). Sie machen etwa 5% der Malignome des Magens aus. Obwohl die Magenmukosa primär keine lymphatischen Zellen im Stroma enthält, entwickelt sich bei der H.p.-Gastritis eine chronische Immunantwort mit Dominanz der B-Lymphozyten und mit follikulärer lymphatischer Hyperplasie. Dieses neu entstandene mukosaassoziierte lymphatische Gewebe nennt man sekundäres MALT (mucosa-associated lymphatic tissue) und die auf diesem Terrain entstandenen Lymphome analog MALT-NHL oder MALT-Lymphome (MALTome, Marginalzelllymphome). Die MALTome zeigen biologische Besonderheiten. Im Initialstadium bleiben neoplastische Lymphozyten aufgrund von sog. HomingRezeptoren und aufgrund einer Stimulation durch H.p.-Antigene lange an die Magenschleimhaut gebunden. Eine Absiedlung in die regionären Lymphknoten oder gar eine Generalisierung erfolgen nach zusätzlichen Mutationen und steigender klonaler Autonomie.

Morphologie

Makroskopisch ergibt sich eine „bunte“ Morphologie: Das Mukosafaltenrelief ist bei MALT-NHL oft verplumpt, verwaschen oder verstrichen. Ulzerierte Tumoren zeigen einen „speckigen“ Grund und oft einen girlandenartig aufgewulsteten, geröteten Tumorrand. Histologisch und immunphänotypisch ähneln die proliferierten Zellen den Lymphozyten der Marginalzone und zeigen mit ihren kleinen gekerbten Kernen einen zentrozytenähnlichen Aspekt. Oft bleiben die reaktiven Lymphfollikel der Typ-BGastritis zwischen den perifollikulär wachsenden Lymphomzellen erhalten. Die neoplastischen Lymphozyten wandern von der Schleimhautbasis her aggressiv in die Mukosa ein und zerstören sie unter dem Bild von „lymphoepithelialen Läsionen“. Sie können darüber hinaus die reaktiven Follikel der H.p.-Gastritis zerstören („follikuläre Kolonisation“). Bei übergang in den höheren Malignitätsgrad treten großkernige, zentroblastenartige Tumorzellen auf. Findet man einen hochmalignen Anteil neben vorbestehendem niedrigmalignem Anteil, so spricht man von einem sekundärsimultanen, hochmalignen NHL des Magens. Kleine Blastennester in niedrigmalignen MALT-Lymphomen stellen ein übergangsstadium zur höheren Malignität dar. Differentialdiagnostisch sollte grundsätzlich die (seltene) Mitbeteiligung des Magens bei einem generalisierten NHL durch Staging-Untersuchungen abgeklärt werden.

Therapie Bei niedrigmalignen Magenlymphomen ist nach jüngsten revolutionären Therapieerfolgen zunächst nur eine H.p.-Eradikation angezeigt, da diese Lymphome

in ihrem Wachstum von H.p.-Antigenen abhängig sind. Bei fehlendem Ansprechen werden lokalisierte Prozesse eher chirurgisch (ggf. strahlentherapeutisch) und systemische vorwiegend durch Chemotherapie behandelt.

Duodenum Zur Orientierung Da das Duodenum mit den physiologischen und pathologischen Reaktionen des Magens eng verbunden ist, ist eine gemeinsame Besprechung sinnvoll. Damit wird auch der endoskopischen Praxis entsprochen, das Duodenum bis zur Papille in Einheit mit dem oberen Verdauungskanal zu sehen.Dünndarmtypische Erkrankungen werden dagegen in Kap. 29 ausführlich abgehandelt.

28.11 Anatomie und Physiologie des Duodenums Das Duodenum ist ein ca. 25 cm langer Darmabschnitt, der von einer Mukosa mit Zotten und Krypten ausgekleidet ist. Das obere Drittel enthält eine dorsale postpylorische Aussackung, den Bulbus duodeni. Der postpylorische Abschnitt ist reichlich mit BrunnerDrüsen ausgestattet, die Muzine mit Muc 6 als Apomuzin, Pepsinogen II und Bikarbonat bilden. Im mittleren Drittel findet sich die Papilla Vateri mit gemeinsamer oder separater Einmündung von Gallen- und Pankreasgängen. Dieser Abschnitt enthält nur noch vereinzelte Brunner-Drüsen, die im unteren Duodenumdrittel weitgehend fehlen. Endokrine Zellen sind reichlich in der Schleimhaut und seltener in Brunner-Drüsen eingestreut. Die Funktion des Duodenums besteht im Weitertransport der angedauten Speisen, in einer Alkalisierung des Magensaftes durch das Bikarbonat der Brunner-Drüsen und in der Aufnahme der Verdauungssekrete aus Pankreas und Leber (Galle).

28.12 Fehlbildungen des Duodenums Fehlbildungen machen sich meist als kleine Polypen oder Divertikel bemerkbar. Besonders im postpylorischen Bereich finden sich etwa 1–2 mm große polypöse Schleimhautheterotopien der Magenmukosa vom Korpustyp. Außerdem kommen im oberen Duodenum bis zu 1 cm große, meist in die Submukosa reichende Pankreasheterotopien vor. Schließlich treten besonders in der Nachbarschaft der Papilla Vateri angeborene Divertikel auf, die bis etwa 1–2 cm große Aussackungen der Duodenalwand darstellen.

28.13 Duodenitis In der normalen Duodenalschleimhaut gibt es – im Gegensatz zur normalen Magenmukosa – ein lockeres lymphoplasmazelluläres Infiltrat, das jedoch nicht zur Diagnose einer Duodenitis berechtigt. Im Bereich des Bulbus duodeni ist Helicobacter

pylori (H.p.) eine Ursache bei der Pathogenese der sog. chronisch-aktiven Bulbitis und darüber hinaus auch bei der Entstehung des Duodenalulkus. Daneben gibt es andere Formen der Duodenitis, z.B. bei Lambliasis, Sprue, Morbus Whipple und Morbus Crohn. Obwohl die Biopsien zur Diagnostik dieser Krankheiten im Duodenum entnommen werden, werden die Krankheiten in Kap. 29 besprochen.

Chronisch-aktive Bulbitis Ätiologie und Pathogenese Die Pathogenese der chronisch-aktiven Bulbitis ist komplex (Abb. 28-13). Sie ist in 95% mit einer schweren chronisch-aktiven H.p.-Gastritis assoziiert. H.p. schädigt im Antrum die somatostatinbildenden Zellen (siehe oben). Dadurch werden die G-Zellen enthemmt, und es entsteht eine Hypergastrinämie mit konsekutiver Hypersekretion von Salzsäure aus den Belegzellen des Magenkorpus. Die nachfolgende übersäuerung des Duodenallumens hat eine gastral-foveoläre Metaplasie der oberflächlichen Schleimhaut zur Folge (Abb. 28-14). Erst dadurch ist die Voraussetzung für eine Besiedlung mit H.p. geschaffen, da die normalen Absorptivzellen der Duodenalmukosa keine Rezeptoren für H.p. aufweisen. Als Folge der duodenalen H.p.-Besiedlung tritt eine lokale entzündliche Immunantwort auf, die sog. chronischaktive Bulbitis, die ähnlich wie bei der Typ-B-Gastritis aus einer chronischen Immunreaktion und einer aktiven leukozytären Antwort besteht (siehe Abb. 28-14).

28.14 Ulcus duodeni Definition Das Ulcus duodeni (Duodenalgeschwür) ist ein Defekt der Duodenalmukosa mit Ausdehnung zumindest bis in die submukösen Brunner-Drüsen.

Abb. 28-13 Pathogenese der chronisch-aktiven Duodenitis und des Duodenalulkus.

ASS = Acetylsalicylsäure, NSAR = nichtsteroidale Antirheumatika, ZES = Zollinger-Ellison-Syndrom

Abb. 28-14

Chronisch aktive Bulbitis.

Verplumpung einer Duodenalzotte mit gastraler foveolärer Metaplasie (links) und ausgeprägtem, teils lymphoplasmazellulärem, teils granulozytärem Infiltrat. Oberflächliche Besiedelung mit H.p.-Bakterien.

Epidemiologie Das Ulcus duodeni hat eine erhebliche sozioökonomische Bedeutung. Es ist ca. fünfmal häufiger als das Magenulkus.

Pathogenese Das Ulcus duodeni beruht auf einer Störung des Gleichgewichts zwischen aggressiven und defensiven Faktoren. Die durch die H.p.-Antrumgastritis induzierte übersäuerung (siehe Kap. 28.6.2) des Duodenalinhalts ist ein wesentlicher aggressiver Faktor („ohne Säure kein Duodenalulkus“). Das spielt auch beim Zollinger-Ellison-Syndrom, bei vegetativer Stimulation (z.B. Rauchen) und bei Stress (Stressulkus) eine Rolle. Die chronisch aktive Bulbitis bei H.p.-Besiedlung bewirkt als wichtigste Teilursache des Ulcus duodeni eine Verminderung der Defensivkräfte. Die zentrale Bedeutung von H.p. bei der Pathogenese des Ulcus duodeni wird nicht nur durch die hohe Inzidenz der H.p.-Gastritis in 95% der Duodenalgeschwüre deutlich, sondern auch dadurch, dass eine medikamentöse Keimausrottung die sonst hohe Rezidivquote der Duodenalgeschwüre von ca. 80% dramatisch auf fast 0% absenkt. Bei H.p.-negativen Ulcera duodeni muss differentialdiagnostisch an eine Folge von ASS oder NSAR gedacht werden, bei jüngeren Patienten auch an die Manifestation eines M. Crohn.

Morphologie Das Ulcus duodeni liegt meist im Bulbus duodeni. Ein multiples Auftreten von Duodenalgeschwüren ist selten. Die mikroskopischen Befunde sind vergleichbar mit denen bei Ulcus ventriculi, mit der Ausnahme, dass der Ulkusgrund in die Schicht der Brunner-Drüsen reicht, die dann Sekretionsstörungen, später auch eine Hyperplasie und Vernarbung zeigen. Geschwüre im Pyloruskanal (Ulcus ad pylorum) haben eine Zwischenstellung zwischen Magen- und Duodenalgeschwüren und sind auch meistens H.p.-bedingt. Komplikationen Das Ulcus duodeni heilt meist nach vier bis sechs Wochen ab, ist jedoch beim natürlichen Verlauf durch eine hohe Rezidivquote (ca. 80%) charakterisiert. Bei Vernarbung und Verziehung des Pyloruskanals bzw. des Bulbus duodeni können Entleerungs- oder Verschlussstörungen des Magens auftreten, die entweder die Hypergastrinämie verstärken oder einen verstärkten alkalischen duodenogastralen Reflux bedingen. Eine wichtige Komplikation stellt die rezidivierende, u.U. lebensbedrohliche Arrosionsblutung aus der A. pancreaticoduodenalis dar. Wie beim Ulcus ventriculi löst eine freie Perforation des Ulcus duodeni eine akute Peritonitis

aus. Das Ulcus duodeni kann bis in die Nachbarorgane, Pankreaskopf, Leber und evtl. Gallenblase, penetrieren. Eine maligne Entartung von Duodenalgeschwüren kommt praktisch nie vor. Darum verzichten die meisten Kliniker auf eine Biopsie aus Duodenalgeschwüren.

28.15 Hyperplasien des Duodenums Besonders in der Nachbarschaft von Geschwüren finden sich nicht selten kleine polypöse Hyperplasien von mukösen Drüsen im Schleimhautniveau. Gelegentlich tritt eine knotige Hyperplasie der tieferen Brunner-Drüsen auf, wobei fließende übergänge zu benignen Tumoren, den sog. Brunneromen, bestehen. Polypöse gastrale Korpusmukosaheterotopien stellen wahrscheinlich Fehlbildungen dar (siehe Kap. 28.12).

28.16 Neoplasien des Duodenums 28.16.1

Adenome

Die seltenen duodenalen Adenome ähneln den kolorektalen Adenomen und treten meist im peripapillären Bereich auf. Besonders bei der familiären adenomatösen Polypose (FAP) finden sich häufiger multiple Adenome im peripapillären Bereich. ähnlich wie im Dickdarm können die Adenome (Adenom-Karzinom-Sequenz, Abb. 28-15) maligne entarten. Deshalb sind Adenome vollständig abzutragen.

Abb. 28-15 Adenom-Karzinom-Sequenz im Papillenbereich.

Großes tubulovillöses Adenom mit zerfallendem, glasig-verschleimendem Adenokarzinom in einem sichelförmigen Bereich des linken oberen Tumorrandes (Sternchen).

28.16.2

Karzinome

Solitäre peripapilläre Duodenalkarzinome sind selten. Sie machen sich klinisch oft durch einen Ikterus als Folge eines Papillenverschlusses bemerkbar. Ihre Prognose ist wesentlich günstiger als die der häufigeren, peripapillär in das Duodenum einwachsenden Pankreaskopfkarzinome mit ähnlicher klinischer Symptomatik.

28.16.3

Neuroendokrine Tumoren

Besonders bei der seltenen familiären multiplen endokrinen Neoplasie (MEN I) kommen Duodenalkarzinoide mit Gastrinproduktion (Gastrinome) vor, die sich klinisch als Zollinger-Ellison-Syndrom manifestieren. Sie sind vielfach infolge einer Metastasierung bei der Erstdiagnose bereits inoperabel. Daneben gibt es spontane, drüsig aufgebaute Karzinoide mit Somatostatinproduktion (Somatostatinome). Zu den neuroendokrinen Tumoren siehe auch Kap. 17.3.

28.16.4

Mesenchymale Tumoren

Mesenchymale Tumoren des Duodenums sind extrem selten. Sie entsprechen mesenchymalen Tumoren des Magens (siehe Kap. 28.10.4).

28.17 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Erkrankungen des Magens und Duodenums Die histopathologische Diagnostik der Gastritis ist ganz wesentlich, weil diese Erkrankung bei der Endoskopie nicht sicher erkannt werden kann. Zwar sprechen eine endoskopisch beobachtete sog. „Gänsehaut-Gastritis“ (lymphfollikulär betonte chronisch aktive Gastritis) für eine H.p.-Gastritis, eine streifige Rötung der Faltenkämme für eine chemisch-reaktive Gastritis und eine Gastritis mit durchscheinenden Kapillaren im Korpusbereich für eine fortgeschrittene Autoimmungastritis. Dennoch bleibt die Gastritisdiagnostik eine Domäne der Histopathologie. Ferner ist die Dignitätsklärung von Geschwürsbildungen besonders des Magens, weniger des Duodenums, eine wichtige Aufgabe der histologischen Diagnostik. Auch die histologische Diagnostik der nichttumorösen Duodenum- und Dünndarmerkrankungen (z.B. H.p.-Bulbitis, Sprue inkl. potentieller Sprue, Lambliasis und M. Whipple) ist durch die Histopathologie einfach zu klären. In ähnlicher Weise lässt die endoskopische Beurteilung zwar Tumoren vermuten. Dennoch bleibt die Histopathologie der Goldstandard der Diagnostik, ohne den ein chirurgischer Eingriff nicht durchgeführt werden sollte. Intraoperative Schnellschnittuntersuchungen können dann die Kurabilität besser abschätzen. Die darauf folgende pTNM-Klassifizierung maligner Magen- und Duodenaltumoren führt außerdem zu einer prognostische Aussage und erlaubt zudem eine spezifische klinische

Nachtherapie, z.B. bei den MALT-Lymphomen und bei den GIST. Darüber hinaus ist die histopathologische Diagnostik früher Tumorstadien die Basis einer begrenzten Therapie durch endoskopische Mukosaresektion, die von den z.T. betagten Patienten wesentlich besser vertragen wird als radikal resezierende chirurgische Verfahren.

Literatur zu Kap. 27 und 28 Emory, T.S., et al.: Atlas of gastrointestinal endoscopy & endoscopic biopsies. Armed Forces of Pathology, Washington, D.C. 2000. Fenoglio-Preiser, C.M., et al.: Gastrointestinal pathology. An atlas and text 1999. Raven Press, New York. Klöppel, G. (Hrsg.): Pathologie des Gastrointestinaltraktes. Verh. Dtsch. Ges. Path. 83. Tagung, Jena 1999. G. Fischer, Jena–Stuttgart–Lübeck–Ulm 1999. Lewin, K.J., H.D. Appelman: Tumours of the esophagus and stomach. In: Atlas of tumor pathology. 3rd series, Fascicle 18. Armed Forces Institute of Pathology, Washington, D.C. 1995. Malfertheiner, P. (Hrsg.): Helicobacter pylori – von der Grundlage zur Therapie, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart–New York 1996. Ming, S.C., H. Goldman: Pathology of the gastrointestinal tract. 2nd ed. Williams & Wilkins, Baltimore 1998. Morson, B.C., et al.: Morson & Dawson's gastrointestinal pathology, 3rd ed. Blackwell Scientific Publications, London–Edinburgh–Boston–Melbourne–Paris–Berlin–Vienna 1991. Rotterdam, H., et al.: Biopsy diagnosis of the digestive tract, 2nd ed. Raven Press, New York 1993. UICC: TNM-Klassifikation maligner Tumoren, 6. Aufl. Springer, Berlin–Heidelberg– New York 2002. Whitehead, R. (ed.): Gastrointestinal and esophageal pathology. 2nd ed. Churchill Livingstone, Edinburgh–Hong Kong–London–Madrid–Melbourne–New York 1995. World Health Organization Classification of Tumours. Pathology & Genetics. Halton, S.R., L.A. Aaltonen (eds.): Tumours of the Digestive System, IARC Press, Lyon 2000.

FRAGEN 1 Nennen Sie Ursachen und Folgen von Lichtungsveränderungen (Erweiterung, Stenosen) des Magens.

2 Auf welche Ursachen können Magenblutungen zurückgehen? 3 Was verstehen Sie unter dem Begriff „Gastritis“, und wie kann diese Diagnose verifiziert werden? 4 Wie lässt sich die Gastritis ätiopathogenetisch klassifizieren? 5 Welche morphologischen Veränderungen sind für die verschiedenen Gastritisformen charakteristisch? 6 Nennen Sie Folgen und Komplikationen der Gastritis. 7 Was wissen Sie über Helicobacter pylori (Eigenschaften, Epidemiologie, Schädigungsmechanismen, Konsequenzen der Infektion)? 8 Können Medikamente zur Magenschleimhautschädigung führen? Wenn ja, welche Medikamente kommen in Frage, und welche Läsionen können entstehen? 9 Wie sind Erosion und Ulkus des Magens definiert, und welche pathogenetischen Faktoren spielen eine Rolle? 10 Welche Komplikationen sind bei Erosionen und Ulzera des Magens zu erwarten? 11 Lassen sich aus der Morphologie eines Magenulkus klinische Symptomatik und Komplikationen ableiten? Wenn ja, welche? 12 Kommen peptische Läsionen (Erosion, Ulkus) auch außerhalb des Magens vor? Wo? Warum? 13 Welcher histologische Befund kann klinisch (endoskopisch) erkennbaren „Magenpolypen“ zugrunde liegen? 14 Was verstehen Sie unter dem Begriff „Metaplasie“, und welche Metaplasieformen im Magen kennen Sie? 15 Welche morphologischen Typen des Magenkarzinoms kennen Sie, und welche praktisch-klinische Bedeutung haben sie? 16 Erklären Sie die Epidemiologie des Magenkarzinoms auf pathogenetischer Basis. 17 Welche Klassifikationen des Magenkarzinoms haben prognostische Bedeutung? 18 Definition und Formen des Magenfrühkarzinoms.

19 Welcher histologische Befund kann einem klinisch (endoskopisch) erkennbaren Ulkus des Magens zugrunde liegen? Welche Möglichkeiten der Abklärung kennen Sie? 20 Welche Formen und Wege der Metastierung des Magenkarzinoms kennen Sie? 21 Nennen Sie andere Typen von Neoplasien des Magens, die neben dem Magenkarzinom eine Rolle spielen. 22 Beschreiben Sie Morphologie, Pathogenese und klinische Relevanz des primären malignen Lymphoms des Magens. 23 Beschreiben Sie Morphologie und Pathogenese der Duodenitis und des Ulcus duodeni. 24 Nennen Sie Neoplasien des Duodenums, und besprechen Sie deren praktischklinische Bedeutung. 25 Welches sind die Indikationen zur morphologischen Untersuchung der in diesem Kapitel beschriebenen Krankheiten? Welche Untersuchungen sind indiziert? Welchen Beitrag können diese Untersuchungen zur präzisen Diagnostik und zur Planung der Therapie leisten?

29 Jejunum und Ileum H. F. Otto U. H. E. Gabbert 29.1

Normale Struktur und Funktion 699

29.2

Kongenitale Fehlbildungen 700

29.2.1

Rotations- und Fixationsanomalien 700

29.2.2

Atresien und Stenosen 700

29.2.3

Divertikel 700

Meckel-Divertikel 701 29.2.4

Hamartien, Phakomatosen 701

29.3

Mechanisch verursachte Krankheitsbilder 702

29.3.1

Enteroptose 702

29.3.2

Invagination 702

29.3.3

Volvulus 702

29.4

Ileus 702

29.4.1

Mechanische Ileusformen 703

29.4.2

Funktionelle Ileusformen 703

29.5

Vaskulär bedingte Erkrankungen 703

29.5.1

Arterielle Verschlüsse 703

Akute Gefäßverschlüsse 704 Chronische Durchblutungsstörungen 705 29.5.2

Durchblutungsstörungen ohne arteriellen Verschluss 705

29.5.3

Venöse Hyperämie und Mesenterial-venenthrombose 705

29.5.4

Intestinale Lymphangiektasien 705

29.6

Malassimilation 706

29.6.1

Maldigestion 706

29.6.2

Malabsorption 706

Primäre Malabsorptionssyndrome 706 Sekundäre Malabsorptionssyndrome 706 29.6.3

Seltene Malassimilationssyndrome 710

29.7

Entzündliche Erkrankungen 710

29.7.1

Bakterielle Enteritiden 710

Salmonellosen 711 Cholera 712 Enteritis necroticans 713 Escherichia-coli-Enteritiden 713 Yersinia-Enteritiden 713 Campylobacter-Enteritiden 714 Morbus Whipple 714 29.7.2

Virale Enteritiden 715

29.7.3

Enteritiden durch Pilze 715

29.7.4

Enteritiden durch Protozoen 715

29.7.5

Enteritiden durch Helminthen 716

29.8

Tumoren 716

29.8.1

Epitheliale Tumoren 717

Adenome 717 Karzinome 717 29.8.2

Mesenchymale Tumoren 717

29.9 Die Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Dünndarmerkrankungen 717 Literatur 717 Fragen 718

Zur Orientierung Der Dünndarm ist das zentrale Organ für die Aufnahme von Nährstoffen. Die Erfüllung dieser Funktion beruht auf der Fähigkeit zu Verdauung, Resorption und Weiterleitung der Nahrungsbestandteile über Blut- und Lymphwege in die Leber als zentrales Stoffwechselorgan. Entzündliche und nichtentzündliche Schädigungen der Mukosa, Veränderungen des Darmlumens, abnormer Darminhalt, Einschränkung der Peristaltik und der Blutversorgung führen daher zu einer Beeinträchtigung der Organfunktion, die sich klinisch in Ernährungsstörungen äußert.

29.1

Normale Struktur und Funktion

Der Dünndarm reicht vom Pylorus des Magens bis zur Valvula ileocaecalis Bauhini. Seine Länge beträgt etwa 5–7 m. Am Dünndarm werden drei Abschnitte unterschieden: Duodenum (Pylorus bis Flexura duodenojejunalis), Jejunum und Ileum. Die beiden Letzteren gehen ohne scharfe Grenze ineinander über. Dem Jejunum werden 2/5, dem Ileum 3/5 zugerechnet. Das Duodenum wird zusammen mit den Erkrankungen des Magens (siehe Kap. 28) besprochen, da seine Physiologie und Pathologie mit denen des Magens eng zusammenhängen. Charakteristisch für Jejunum und Ileum sind die quer gestellten Plicae circulares (Kerckring-Falten). Hierdurch sowie durch die Schleimhautzotten, Lieberkühn-Krypten und durch die Mikrovilli der Enterozyten ist die innere Darmoberfläche gegenüber einem glatten Zylinder um das 600- bis 800fache vergrößert. Diese Oberflächenvergrößerung garantiert einen resorptionsphysiologisch optimalen Kontakt zwischen Nahrung und digestiv-resorbierender Oberfläche. Jejunum und Ileum werden von der A. mesenterica superior versorgt, deren äste im Mesenterium arkadenartig angeordnet sind und Kollateralen bilden. Die abführende V. mesenterica superior mündet in die Pfortader. Der Dünndarm ist hinsichtlich seiner Funktionen ein komplexes Organ. Er dient einerseits der Nahrungsaufnahme (Digestion und Resorption), andererseits durch die Strukturen des schleimhautassoziierten lymphatischen Gewebes der Aufrechterhaltung der immunologischen Homöostase. Außerdem hat er endokrine Funktionen.

29.2

Kongenitale Fehlbildungen

Bei den kongenitalen Fehlbildungen kann man zwischen Formanomalien (z.B. angeborener Kurzdarm, Divertikel, Atresien, Stenosen), Lage- (Rotations-) und Fixationsanomalien (z.B. Situs inversus, Malrotationen, Mesenterium commune), nummerischen Anomalien (z.B. Agenesie, Duplikaturen) und sonstigen Anomalien (z.B. Dystopien, Omphalozele, Gastroschisis) unterscheiden.

29.2.1

Rotations- und Fixationsanomalien

Rotations- und Fixationsanomalien sind Lageanomalien, die durch eine unvollständige oder fehlerhafte embryonale Darmdrehung (Malrotation) hervorgerufen werden (siehe Lehrbücher der Embryologie). Die Häufigkeit der Rotationsanomalien beträgt etwa 1%, bezogen auf alle Neugeborenen. Man unterscheidet Drehstörungen der fetalen Nabelschleife, inverse Drehungen der gastroduodenalen Schleife und inverse Drehungen des Magens mit normaler Drehung des Duodenums. Die auffälligste und zugleich auch ausgeprägteste Lageanomalie des Darms ist der Situs viscerum abdominalis inversus totalis.

29.2.2

Atresien und Stenosen

Unter einer Atresie eines Darmabschnittes wird eine komplette Kontinuitätsunterbrechung des Darmlumens verstanden. Eine hochgradige Lumeneinengung wird als Stenose bezeichnet. Bei den Ursachen angeborener Atresien und Stenosen muss zwischen darmwandbedingten und neuromuskulären Defekten sowie zwischen luminalen (z.B. Mekoniumileus) und extraluminalen Obstruktionen (Peritonitis, Pancreas anulare, Duplikaturen, Tumoren) unterschieden werden. Beispiele für neuromuskuläre Defekte sind das Zuelzer-Wilson-Syndrom (siehe Kap. 31.2.2), der Morbus Hirschsprung (siehe Kap. 31.2.2) sowie bestimmte Rotations- und Fixationsanomalien. 45% der Atresien werden im Ileum gefunden. In 16–25% der Fälle kommt es zu multiplen Dünndarmatresien.

Abb. 29-1 Schematische Darstellung der verschiedenen Atresieformen.

a Membranöse Atresie. Kontinuitätsunterbrechung durch eine Bindegewebsmembran. b Atresie, bei der die blindsackartigen Darmenden durch einen filiformen Bindegewebsstrang verbunden sind. c Atresie mit kompletter Trennung beider Darmenden. V-förmiger Defekt des Mesenteriums. Im Allgemeinen werden drei Atresieformen unterschieden (Abb. 29-1): ■ Membranöse Atresien (Kontinuitätsunterbrechung durch eine Bindegewebsmembran).

■ Atresien, bei denen die blindsackartigen Darmenden durch einen filiformen Bindegewebsstrang verbunden sind. ■ Atresien mit kompletter Trennung beider Darmenden und einem V-förmigen Defekt des Mesenteriums (Abb. 29-2).

29.2.3

Divertikel

Dünndarmdivertikel sind häufig Rückbildungsstörungen des Ductus omphaloentericus. Klinisch bedeutsam unter diesen Rückbildungsstörungen ist vor allem das MeckelDivertikel (siehe unten). Die seltenen Jejunumdivertikel können angeboren oder erworben sein. Sie treten häufig multipel auf (Divertikulose). Kongenitale Jejunumdivertikel können mit Duplikaturen und spinalen Defekten, erworbene Divertikel mit intestinalen Pseudoobstruktionen (z.B. familiäre viszerale Myopathien, Sklerodermie, Morbus Fabry) kombiniert sein.

Abb. 29-2

Komplette Darmatresie.

Obduktionspräparat eines 3 Tage post partum verstorbenen Säuglings.

Abb. 29-3

Meckel-Divertikel

mit heterotoper Magenschleimhaut vom Korpustyp (Ma) und mit ektopem Pankreasgewebe (Pa). Chronische Entzündung (Ent). PAS, Vergr. 35fach.

Meckel-Divertikel Die Häufigkeit von Meckel-Divertikeln wird in pädiatrischen Sektionsstudien mit 1,5%, in chirurgischen Appendektomiestudien mit 3,2–4,5% angegeben. Besonders häufig findet man ein Meckel-Divertikel bei Patienten mit Down-Syndrom (Trisomie 21). Bei Neugeborenen ist es etwa 30–50 cm, bei Erwachsenen 60–90 cm proximal der Valvula Bauhini lokalisiert.

Normalerweise sind die Divertikel mit Ileumschleimhaut ausgekleidet. In über 30% enthalten sie heterotope Magenschleimhaut (überwiegend vom Korpustyp mit Hauptund Belegzellen) und Pankreasgewebe (Abb. 29-3). Als Komplikationen können sich peptische Ulzera mit Blutungen und/oder Perforationen entwickeln. Invaginationen oder Torquierungen mit hämorrhagischer Infarzierung der Divertikel, Steineinlagerungen (zumeist Gallensteine, die einen Gallensteinileus zur Folge haben können) sind selten (Abb. 29-4), ebenso neuroendokrine Tumoren.

29.2.4

Hamartien, Phakomatosen

Hierzu gehören z.B. Peutz-Jeghers-Syndrom, Neurofibromatose, Cronkhite-CanadaSyndrom. Näheres siehe Kap. 31.8.2.

Abb. 29-4

Meckel-Divertikel

(Operationspräparat) mit ulzerophlegmonöser Entzündung und inkompletter Infarzierung, wahrscheinlich hervorgerufen durch eingelagerte (Gallen-)Steine (5 Monate vor der operativen Entfernung des Divertikels schwerste Gallensteinkolik).

29.3

Mechanisch verursachte Krankheitsbilder

29.3.1

Enteroptose

Die Enteroptose (= Eingeweidesenkung; Splanchnoptose = allgemeine Senkung der Baucheingeweide einschließlich Leber, Milz und Nieren) kann konstitutionell oder mechanisch bedingt sein. Sie ist Ausdruck einer allgemeinen Asthenie (sog. StillerHabitus). Die Enteroptose tritt auf beim Nachlassen des Muskeltonus, beim Erschlaffen der Bauchdecken nach wiederholten Schwangerschaften (materne Form), bei Kachexie, Zwerchfelltiefstand und im fortgeschrittenen Alter.

29.3.2

Invagination

Syn.: Intussuszeption

Definition und Epidemiologie Unter einer Invagination versteht man die Einstülpung eines Darmsegments (= Invaginat, Intussusceptum) in ein anderes (= Invaginans, Intussuscipiens). Invaginationen werden zu über 80% im Säuglingsalter (4.–10. Lebensmonat) beobachtet. Die Einstülpung erfolgt im Allgemeinen in Richtung der Peristaltik (isoperistaltisch). Retrograde, also antiperistaltische Invaginationen treten fast nur in der Phase der Agonie auf.

Ätiologie Ursächlich spielen unkoordinierte peristaltische Kontraktionen oder lokal begrenzte Spasmen der Darmwandmuskulatur eine Rolle, möglicherweise infolge von Ernährungsfehlern, viralen Entzündungen, Laxanzien, Fremdkörpern (Obstkerne, Bezoare, Darmparasiten), Tumorerkrankungen und lymphofollikulären Hyperplasien („Ileitis follicularis“).

Morphologie

In Abhängigkeit von der Lokalisation werden drei Typen der Invagination unterschieden. Bei der Invaginatio enterica (Abb. 29-5) stülpen sich Dünndarmabschnitte in weiter distal gelegene Dünndarmabschnitte ein, bei der Invaginatio ileocolica Dünndarmin Dickdarmabschnitte und bei der Invaginatio colica Dickdarmabschnitte in weiter distal gelegene Dickdarmabschnitte. Multiple Invaginationen sind selten.

Klinisch-pathologische Korrelationen Im Gefolge einer Invagination kommt es zu erheblichen arteriellen und venösen Zirkulationsstörungen mit fortschreitender Nekrose des Invaginates sowie zur Durchwanderungsperitonitis mit der Entwicklung eines peritonealen Schocks. Die Prognose wird wesentlich durch die Dauer der Invagination bestimmt. Wird innerhalb der ersten 12 Stunden operiert, liegt die Letalität bei 10%. Später operierte Fälle können eine Letalität von über 60% aufweisen.

29.3.3

Volvulus

Definition Unter einem Volvulus werden Drehungen (Torquierungen) des Darms um die Mesenterialachse von 180° und mehr verstanden. Sie können im Bereich ganzer Darmabschnitte oder unterschiedlich langer Segmente auftreten.

Abb. 29-5

Dünndarminvagination.

a übersicht mit 2 Invaginaten (Inv). b Ausschnitt aus a. Das einstülpende Darmsegment (Invaginans = Inv) ist kolbenartig durch das invaginierte Darmsegment aufgetrieben.

Ätiologie Die wichtigste anatomische Konstellation, die für Darmdrehungen von Bedeutung ist, liegt in einer häufig extrem kurzen Achse zwischen den Fußpunkten von zwei Darmschlingen. Derartige Anomalien sind häufig anlagebedingt. Sie können aber auch durch Entzündungen (z.B. Peritonitis, Panniculitis mesenterialis, retroperitoneale Fibrose) oder durch Tumorerkrankungen (Peritonealkarzinose, Mesotheliome) sekundär entstehen.

Klinisch-pathologische Korrelationen Hinsichtlich des Ausmaßes der Darmdrehung wird zwischen einem inkompletten und kompletten Volvulus unterschieden. Die klinischen Symptome bzw. Komplikationen (Blutung, hämorrhagischer Infarkt, Schock) hängen vom Ausmaß und von der Dauer der jeweiligen Darmdrehung ab.

29.4

Ileus

Definition Unter einem Ileus (Darmverschluss) versteht man eine Unterbrechung der Darmpassage. Bei inkompletter Unterbrechung der Darmpassage wird von einem Subileus gesprochen. Es handelt sich nicht um eine eigenständige Krankheit, sondern um einen Symptomenkomplex im Gefolge anderer Krankheiten. Hinsichtlich der Lokalisation kann man zwischen einem Dünndarmileus, eventuell unter Mitbeteiligung des Magens, und einem Dickdarmileus unterscheiden. Pathogenetisch wird der mechanische vom funktionellen Ileus abgegrenzt.

Morphologie Es kommt zur Wanddehnung (Dilatation) des proximal des Passagehindernisses gelegenen Darmabschnittes und evtl. zu sekundären Zirkulationsstörungen (Distensionsenterokolitis). Die im Röntgenbild (Abdomenübersicht) typischen Spiegelbildungen resultieren aus der Ansammlung von Flüssigkeit im Darmlumen.

29.4.1

Mechanische Ileusformen

Ätiologie Ursache des mechanischen Ileus ist eine mechanische Passagebehinderung, die von innen (von der Darmlichtung) oder von außen (extraintestinal) erfolgen kann.

Der mechanische Ileus ist eine häufige und oft lebensbedrohliche Komplikation zahlreicher Krankheiten.

Pathogenese Unter pathogenetischen Aspekten kann der mechanische Ileus im Wesentlichen auf drei verschiedene Mechanismen zurückgeführt werden: ■ Strangulationen (mit Abschnürung der Mesenterialgefäße; Strangulationsileus), z.B. inkarzerierte Hernien, Briden, Volvulus, Invaginationen. ■ Obturationen durch Verlegung der Darmlichtung (ohne Abschnürung der Mesenterialgefäße; Obturationsileus, Okklusionsileus). Ursachen sind Fremdkörper (z.B. Obstkerne, Bezoare), Enterolithen (z.B. Gallensteine), Wurmerkrankungen (z.B. Askariden), Karzinome und Sarkome. Zum Obturationsileus gehört auch der Mekoniumileus des Neugeborenen als Komplikation einer zystischen Fibrose (siehe Kap. 5.3.2). ■ Kompressionen (ohne Abschnürung der Mesenterialgefäße), z.B. durch Tumoren und/oder Entzündungen der Darmwand, extraintestinale Tumoren und Entzündungen.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Der hohe Dünndarmileus führt in der Regel zu einem protrahierten Erbrechen. Fäkulentes Erbrechen (Miserere) kommt nur beim tiefen Dünndarmileus (z.B. Zäkumkarzinom) vor. Die sich rasch steigernde Ileussymptomatik umfasst im Weiteren kolikartige Schmerzen, Stuhl- und Windverhaltung und in extremen Fällen eine durch den Zwerchfellhochstand bedingte Ateminsuffizienz. Bedingt durch die Flüssigkeits- und Elektrolytverluste infolge des Erbrechens und der Flüssigkeitsverschiebungen in den Darm entwickelt sich sehr bald eine (hypovolämische) Schocksymptomatik. Im Röntgenbild (Abdomenübersicht) findet man typische Spiegelbildungen. Der Dickdarmileus zeigt im Allgemeinen einen protrahierteren Verlauf mit relativ langer Anamnese, maximalem Meteorismus und Stuhlverhaltung. Erbrechen fehlt. Die typische Ileussymptomatik mit tympanitisch aufgetriebenem Abdomen, dem Fehlen jeglicher Peristaltik, mit z.T. fäkulentem Erbrechen, Exsikkose, Kreislaufkollaps und Atemnot (Zwerchfellhochstand, evtl. Atemnotsyndrom) stellt das finale Stadium des Ileussyndroms dar („Ileus-krankheit“). Eine gewisse Sonderstellung nehmen die mit primären Zirkulationsstörungen einhergehenden Ileusformen (z.B. Strangulationsileus) ein, bei denen Schmerzen heftigster Intensität plötzlich einsetzen und mit bedrohlichen Kollapszuständen verbunden sind. Frühzeitig entwickelt sich eine Peritonitis.

Ohne therapeutische, d.h. chirurgische Interventionen führt der Ileus zum Tode. Trotz vieler therapeutischer Fortschritte ist die Ileusletalität aber immer noch hoch (im Durchschnitt 20% beim klassischen, d.h. voll entwickelten Ileussyndrom). Säuglinge und alte Menschen sind besonders gefährdet. Die Letalität ist direkt proportional zur Dauer der Paralyse bzw. des Darmverschlusses.

29.4.2

Funktionelle Ileusformen

Die funktionellen Ileusformen werden in einen spastischen und in einen paralytischen Ileus untergliedert. Beim häufigen paralytischen Ileus ist die motorische Aktivität der Darmwandmuskulatur paralysiert. Ätiologie Ursächlich spielen beim paralytischen Ileus folgende Faktoren eine Rolle: ■ chemisch-toxische, z.B. Urämie, Azidose, Bleiintoxikation, Medikamente (Morphine), gallige Peritonitis ■

infektiös-toxische, z.B. Peritonitis, septische Allgemeininfektionen



vaskuläre (Verschlüsse der mesenterialen Gefäße)

■ nervös-reflektorische, z.B. postoperativ, bei Verletzungen/Erkrankungen des Rückenmarks, Schädel- und Bauchtraumata, Myokardinfarkten, Nieren- und Gallensteinkoliken (Gallensteinileus). Der spastische Ileus ist umstritten, zumindest sehr selten. Er soll durch unphysiologische Kontraktionen der Darmmuskulatur zustande kommen, für die Vergiftungen (z.B. Blei), Porphyrien (siehe Kap. 46.3.1) oder auch intestinale Allergien verantwortlich gemacht werden. Ein Teil bleibt ursächlich ungeklärt („idiopathisch“).

29.5

Vaskulär bedingte Erkrankungen

Für die primär vaskulär bedingten Darmerkrankungen (ischämische Darmwandläsionen) spielen pathogenetisch vor allem arterielle Verschlüsse und hypotensive Blutdruckkrisen (nichtokklusive intestinale Ischämiereaktionen) eine Rolle. Hinzu kommen Störungen des venösen Abflusses. Alle Störungsmuster können zur hämorrhagischen Darmwandnekrose führen.

29.5.1

Arterielle Verschlüsse

Etwa 50% aller intestinalen Ischämiereaktionen beruhen auf arteriellen Verschlüssen. Neben arteriosklerotischen Gefäßwandveränderungen spielen ortsständige Thrombosen, Thrombembolien und obliterative Vaskulitiden eine Rolle. Unter der Vielzahl entzündlicher Gefäßerkrankungen führen vor allem die Thrombangiitis obliterans, die Panarteriitis nodosa, das Churg-Strauss-Syndrom und die anaphylaktoide Purpura

Schoenlein-Henoch zu Ischämiereaktionen. Aber auch bei Riesenzellarteriitiden und beim Behçet-Syndrom kommen gastrointestinale Manifestationen vor.

Akute Gefäßverschlüsse Epidemiologie Die Häufigkeit akuter Mesenterialarterienverschlüsse als Ursache eines Darminfarkts wird mit 30–50% angegeben. 75% der betroffenen Patienten sind älter als 50 Jahre. Männer überwiegen im Verhältnis 3:1.

Ätiologie Thrombembolien sind die häufigste Ursache akuter Mesenterialinfarkte (z.B. A. mesenterica superior, A. ileocolica, auch distale äste; Abb. 29-6). Das embolische Material stammt überwiegend aus der linken Herzkammer (Parietalthromben nach Myokardinfarkten) und vom Klappenapparat bei ulzeropolypösen Endokarditiden. An zweiter Stelle folgt die autochthone Thrombose der Mesenterialarterien. Cholesterinembolisationen bei ausgeprägten arteriosklerotischen Wandveränderungen (Aorta) sind selten (Abb. 29-7).

Pathogenese und Morphologie Durch akute Gefäßverschlüsse wird die Blutzufuhr abrupt unterbrochen. Die Hypoxie führt zu einer Dilatation, zur Ödembildung und zu Einblutungen in die Darmwand. Es entwickeln sich Schleimhautnekrosen und granulozytäre Darmwandinfiltrate. In den Gefäßen der Darmwand findet man häufig fibrinoide Thromben. Die Serosa ist durch Fibrinexsudationen getrübt (Abb. 29-8).

Klinisch-pathologische Korrelationen Klinisch manifestieren sich akute arterielle Verschlüsse häufig durch einen abrupt einsetzenden „Gefäßschmerz“, dem eine sog. stumme Phase der Darmatonie (paralytischer Ileus) folgt. Es entwickelt sich eine Leukozytose. Die Aufnahme toxischer Substanzen aus dem Darmlumen beschleunigt den Krankheitsverlauf.

Abb. 29-6 Hämorrhagischer Dünndarminfarkt.

Schematische Darstellung des thrombembolischen Verschlusses eines arteriellen Blutgefäßes mit hämorrhagischer Infarzierung des zugehörigen Darmsegments.

Abb. 29-7 Generalisierte Cholesterinembolisation bei schwerster Arteriosklerose.

a Mesenteriale Arterie mit vorbestehender Arteriosklerose und obliterierender Cholesterin-(Pfeil) und Fettembolisation (Doppelpfeil). Kryostatschnitt. Fettfärbung, Vergr. 60fach. b Nahezu kompletter hämorrhagischer Infarkt im zugehörigen Darmsegment.

Abb. 29-8 Komplette hämorrhagische Darminfarzierung

mit ausgeprägten thrombotischen Gefäßverschlüssen (Pfeil) im Mesenterium. Der sich entwickelnde hämorrhagische Darminfarkt kann eine diffuse Peritonitis, einen paralytischen Ileus, Blutungen in die Darmlichtung, Darmwandperforationen und einen u. U. schweren Kreislaufschock auslösen. Die Letalität ist hoch.

Chronische Durchblutungsstörungen Ätiologie Chronische Durchblutungsstörungen entwickeln sich im Gefolge stenosierender Gefäßerkrankungen, bei denen es sich in über 90% um atherosklerotische Veränderungen der Mesenterialarterien handelt. Sie werden klinisch erst dann manifest, wenn in den betroffenen Gefäßregionen eine Lumeneinengung von über 70% vorliegt. In dieser Situation entwickelt sich das klinische Bild der Angina abdominalis (Orthner-Krankheit, intestinale Claudicatio intermittens).

Morphologie Auffallend ist der Gegensatz zwischen der oft heftigen Schmerzsymptomatik und den nur spärlich nachweisbaren morphologischen Befunden. Ischämische Darmstrikturen, Stenosen und Schleimhautulzera sind nur selten zu finden. Relativ konstant findet man in der Darmwand Makrophagen, die Hämosiderinpigment gespeichert haben. Eine besondere Form chronischer Minderdurchblutung stellt das sog. Arteriacoeliaca-Syndrom dar. Es beruht auf einer Kompression der A. coeliaca (ZöliakaKompressions-Syndrom) durch das Ligamentum arcuatum medianum.

Klinisch-pathologische Korrelationen Es ist für die Orthner-Krankheit typisch, dass sich die klinischen Symptome in Form krampfartiger Abdominalschmerzen häufig nach einer Nahrungsaufnahme entwickeln, weil dann der Blutbedarf deutlich gesteigert ist. Durch häufige, aber kleine Mahlzeiten (small meal syndrome) versuchen die Patienten, die Schmerzsymptomatik zu vermeiden.

29.5.2 Durchblutungsstörungen ohne arteriellen Verschluss Bei etwa 30–40% der intestinalen Durchblutungsstörungen lassen sich keine Gefäßverschlüsse der darmversorgenden Gefäße nachweisen. Man spricht von einer nichtokklusiven intestinalen Ischämie (= Perfusionsischämie, Thorek-WilsonQualheim-Syndrom). Die morphologischen Veränderungen der Darmwand entsprechen jenen bei manifesten arteriellen Durchblutungsstörungen. Sie sind jedoch häufig geringer ausgeprägt.

Ätiologie und Pathogenese Eine Minderperfusion des Splanchnikusgebietes kann verschiedene nichtokklusive Ursachen haben: ■ Herzinsuffizienz. Sie entsteht infolge von Herzrhythmusstörungen, hämodynamisch wirksamen Herzfehlern und nach überstandenem Herzinfarkt. Bei einer verminderten Auswurfleistung des Herzens um 30% wird beispielsweise im Bereich der A. mesenterica superior die Durchblutung um 45% reduziert. Dauert eine derartige Mangeldurchblutung länger an, so entwickeln sich hämorrhagische Darmwandnekrosen mit Fibrinthromben (disseminierte intravasale Gerinnung). ■

Schock.



Gefäßspasmen durch vasokonstriktive Medikamente (z.B. Ergotamin).



Störungen der Fließeigenschaften des Blutes.

■ Dem sog. mesenterialen Entzugssyndrom liegt eine Stenose im distalen Aortenbereich zugrunde. Werden die unteren Extremitäten stärker und über eine längere Zeit belastet (erhöhter O2-Bedarf), wird über Anastomosen dem mesenterialen Kreislauf Blut entzogen.

29.5.3 Venöse Hyperämie und Mesenterialvenenthrombose Venöse Stauungshyperämien beobachtet man am häufigsten bei chronischer Rechtsherzinsuffizienz (z.B. dekompensiertes Cor pulmonale) und bei Leberzirrhosen. Der Darm ist blaulivide verfärbt. Häufig entwickelt sich ein Darmwandödem (Permeabilitätsstörung). Die Funktionsausfälle und damit die klinischen Symptome sind abhängig vom Ausmaß und von der Dauer der zugrunde liegenden Erkrankung. Thrombosen der Mesenterialvenen (Hauptstämme und/oder deren äste) sind in etwa 5–15% Ursache intestinaler Durchblutungsstörungen. Ihre ätiologie ist nicht bekannt. Die Patienten klagen über kolikartige Leibschmerzen und blutige Diarrhöen. Die Folgen hängen von der Lokalisation der Thrombose und der Möglichkeit des Blutabflusses über Kollateralen ab. Eventuell entsteht eine hämorrhagische Infarzierung. Die klinischen Symptome und morphologisch fassbaren Befunde entsprechen bei fulminanten Thrombosen denjenigen bei arteriellen Verschlüssen. Sehr selten sind isolierte entzündlich-okklusive Erkrankungen der mesenterialen Venen und Venolen (lymphozytäre, teils granulomatöse, teils auch nekrotisierende Phlebitiden), die zu intestinalen Ischämiereaktionen und Blutungen führen können.

29.5.4

Intestinale Lymphangiektasien

Intestinale Lymphangiektasien sind Erweiterungen vor allem der mukosalen und submukosalen Lymphgefäße (Abb. 29-8). Sie können in primäre und sekundäre Formen untergliedert werden. Bei den primären Lymphangiektasien handelt es sich um intestinale Manifestationen einer generalisierten Fehlbildung des Lymphgefäßsystems. Sekundäre Lymphangiektasien sind weitaus häufiger als primäre. Man findet sie bei intestinalen Lymphabflussstörungen, z.B. im Rahmen von Morbus Whipple, retroperitonealen Fibrosen, Entzündungen des Darmes, des Mesenteriums, der mesenterialen Lymphknoten (z.B. Morbus Crohn), Strahlenschäden, rechtskardialer Insuffizienz, Concretio pericardii, Thrombosen der Vena cava superior, Tumoren.

Morphologie Die Schleimhautzotten sind plump und kolbig aufgetrieben. Endoskopisch imponieren sie als gelblich graue Protuberanzen. Der Befund ist häufiger segmental als diffus entwickelt. Die Diagnose „intestinale Lymphangiektasie“ wird histologisch an Dünndarmbiopsiepräparaten gestellt (Abb. 29-9).

Abb. 29-9 Intestinale Lymphangiektasie mit kolbig aufgetriebenen Schleimhautzotten und zystenartiger Ektasie der mukosalen Lymphgefäße (eL).

Biopsiepräparat aus dem übergangsbereich von Duodenum und Jejunum. 3 Jahre alter Junge mit schwerem intestinalem Eiweißverlust-Syndrom. PAS, Vergr. 60fach.

Klinisch-pathologische Korrelationen Man beobachtet ausgeprägte Ödeme (bei Makulaödemen gelegentlich reversible Erblindungen) infolge eines intestinalen Eiweißverlustes mit der Entwicklung einer Dys- und Hypoproteinämie, malabsorptive Symptome mit Diarrhö und Steatorrhö, chylösen Aszites, chylöse Pleuraergüsse, hypokalzämische Tetanien, sekundäre Immunmangelsyndrome (intestinaler Verlust an Lymphozyten und Immunglobulinen) mit polytopen Infektionen.

29.6

Malassimilation

Der Dünndarm hat digestive und resorptive (absorptive) Aufgaben. Verdauungsstörungen lassen sich dementsprechend Maldigestions- und Malabsorptionssyndromen zuordnen. Der Begriff Malassimilation fasst beide Störungen zusammen. ■ Unter Maldigestion versteht man eine Störung der intraluminalen Aufspaltung (Digestion) zugeführter Nahrungsstoffe.

■ Die Malabsorption beruht auf Störungen des enterozytären Membrantransports, die zu einer mangelhaften Resorption der zugeführten Nahrungsbestandteile und deren digestiver Endprodukte führen. Es entwickelt sich eine Verdauungsinsuffizienz mit chronischer Diarrhö, Steatorrhö und fortschreitender Kachexie. Aufgrund der physiologischen Interaktion digestiver und resorptiver Prozesse sind maldigestive und malabsorptive Störungsmuster eng miteinander verknüpft. Wesentliche Endphasen der Digestion vollziehen sich zum Teil im Bereich des Bürstensaumes (Mikrovilli, Glykokalix) der Enterozyten, der gewissermaßen die Nahtstelle von Maldigestion und Malabsorption darstellt, die sog. digestiv-resorptive Grenzfläche. Der enterozytäre Bürstensaum enthält die für den Endabbau der zugeführten Nahrungsstoffe erforderlichen Enzyme und die resorptiven Transportsysteme.

29.6.1

Maldigestion

Unter pathophysiologischen Aspekten können Maldigestionssyndrome untergliedert werden in ■ pankreatogene Maldigestion durch chronische Pankreatitis, Pankreatolithiasis, Pankreasresektion, Pankreaskarzinome, Mukoviszidose (zystische Fibrose), Zollinger-Ellison-Syndrom (ZES, Säureinaktivierung der Lipase; siehe Kap. 17.3.1), ■ hepatobiliäre Maldigestion: Verschlussikterus, intrahepatische Cholestase, primär biliäre Zirrhose, Gallensäuremangel (kongenital oder sekundär nach Ileumresektion oder durch Morbus Crohn), bakterielle überwucherung des proximalen Dünndarms (Blind-Loop-Syndrom, Afferent-Loop-Syndrom), ■ gastrogene Maldigestion: Postgastrektomie-Syndrom, chronisch-atrophe Gastritis (Perniziosa-Konstellation), Vagotomie und Drainageoperationen.

29.6.2

Malabsorption

Klassifikationen malabsorptiver Krankheitsbilder sind nach wie vor problematisch und werden vielfach den komplexen pathophysiologischen Grundmechanismen nicht gerecht. Die internistische Gastroenterologie unterscheidet häufig zwischen primären Malabsorptionssyndromen ohne histomorphologische Schleimhautveränderungen und sekundären Malabsorptionssyndromen mit histomorphologischen Schleimhautveränderungen.

Primäre Malabsorptionssyndrome Sie werden auch als kongenitale (angeborene) Störungen der Darmresorption bezeichnet. Es handelt sich im Allgemeinen um singuläre Enzymdefekte im Bereich der Bürstensaumregion (= Enzymopathien, „brush border membrane diseases“).

In Mitteleuropa werden am häufigsten die Disaccharid-Malabsorptionssyndrome beobachtet, die zu einer Kohlenhydratintoleranz führen. Das pathophysiologische Prinzip der Resorptionsstörung ist in Abb. 29-10 am Beispiel der Laktosemalabsorption dargestellt. Histologisch (Dünndarmbiopsie) zeigt sich im Allgemeinen ein normaler Schleimhautbefund mit schlanken und fingerförmig konfigurierten Schleimhautzotten. Die Disaccharid-Malabsorptionssyndrome können mittels enzymhistochemischer oder biochemischer Methoden abgeklärt werden. Zur Aβ-Lipoproteinämie siehe Kap. 5.3.2.

Sekundäre Malabsorptionssyndrome Sie sind meist erworben und stellen ein breites Spektrum differentialdiagnostisch wichtiger Krankheitsbilder dar. Krankheitsbilder mit sekundärer Malbsorption sind z.B. Zöliakie, tropische Sprue, primär intestinale Lymphome, intestinale Lymphangiektasien, Dermatitis herpetiformis Duhring, Immunmangelsyndrome, eosinophile Gastroenteritis, Mastozytose, Amyloidose, Kwashiorkor, parasitäre Darmbesiedlungen, intestinale Mangeldurchblutung (Ischämie), radiogene Schädigungen (siehe auch Kap. 29.6.3).

Abb. 29-10

Disaccharidmalabsorption.

Schematische Darstellung der pathophysiologischen Mechanismen, die beim kongenitalen Laktasemangel zu einer wässrigen Diarrhö führen. a Normale Verhältnisse. b Diarrhöentstehung.

Zöliakie Syn.: einheimische, nichttropische, idiopathische, endemische Sprue, glutensensitive Enteropathie

Definition Die „klassische“ oder auch „typische“ (manifeste) Zöliakie ist definiert als eine persistierende und permanente Unverträglichkeit der Dünndarmschleimhaut gegenüber dem Weizenkleberprotein Gluten und gegenüber Prolaminen, die in Roggen und Gerste enthalten sind. Gluten besteht aus Gluteninen und über 40 verschiedenen Gliadinfraktionen. Die (auto)immunologisch begründete Intoleranz führt zu einer häufig kompletten Zottenatrophie (siehe unten). Durch den Verlust des resorbierenden Epithels entwickelt sich ein interindividuell unterschiedlich schweres Malabsorptionssyndrom. Zahlreiche Beobachtungen der letzten Jahre machen deutlich, dass diese Definition der Zöliakie – 1969 auf einer Konsensus-Konferenz in London erarbeitet – dem Krankheitsbild nicht mehr gerecht wird. Die Zöliakie hat sich als sehr viel komplexer und variantenreicher erwiesen. Dabei zeigte sich, dass die dünndarmbioptische Morphologie nur bedingt mit den klinischen Symptomen korreliert: ■ Latente Sprue: Bei einer latenten Sprue finden sich unter normaler Kost und bei normaler Schleimhautstruktur vermehrt intraepitheliale Lymphozyten (siehe unten). Bei den betroffenen Patienten entwickelt sich zu einem beliebigen Zeitpunkt ein spruetypischer Schleimhautumbau, der sich unter einer gliadinfreien Diät wieder zurückbildet. ■ Potentielle Sprue: Auch bei dieser Form ist die Schleimhautstruktur erhalten, die intraepithelialen Lymphozyten sind vermehrt. Im Succus entericus findet man das sog. „coeliac-like intestinal antibody pattern“ (Antikörper gegen Gliadin, β-Lactoglobulin, Ovalbumin) bei gleichzeitigem Fehlen dieser Antikörper im Serum.

Epidemiologie Die Zöliakie manifestiert sich gewöhnlich nach dem Säuglingsalter mit der Einführung glutenhaltiger Nahrung. Ein erster Altersgipfel liegt zwischen 9 Monaten und 3 Jahren, ein zweiter im 3. Lebensjahrzehnt. Inzidenz- und Prävalenzzahlen zeigen außerordentlich große geographische Unterschiede (Abb. 29.11). In bestimmten Ländern (z.B. Irland, Schottland, Italien) ist die Zöliakie besonders häufig, in anderen (z.B. England, Schweden) weitaus seltener. Die epidemiologischen Daten zur Zöliakie beruhen überwiegend auf der Definition der

„klassischen“ Zöliakie von 1969. Damit wird aber der größte Teil der betroffenen Patienten ausgeklammert. Diese Untererfassung der Zöliakie-Patienten beruht in erster Linie darauf, dass die Erkrankung klinisch stumm oder oligosymptomatisch (siehe unten) verlaufen kann, wenn die klassischen histomorphologischen Veränderungen lediglich auf den proximalen Dünndarm begrenzt sind. Eindeutige Daten zur Inzidenz und Prävalenz liegen für die Bundesrepublik Deutschland nicht vor (geschätzte Prävalenz: 1: 250–500).

Pathogenese Die pathogenetischen Mechanismen, die zur Zöliakie führen, sind nicht restlos geklärt. Die Zöliakie weist zahlreiche Merkmale einer klassischen Autoimmunkrankheit auf. Innerhalb des Epithelverbandes findet man als zöliakiespezifischen Befund einen überproportionalen Anstieg der γ/δ-TLymphozyten, der bei anderen entzündlichen Darmerkrankungen (Colitis ulcerosa, Morbus Crohn) in dieser Art nicht beobachtet wird und dem deshalb eine besondere pathogenetische Bedeutung (Störung der Immunregulation, Toleranz) zugeschrieben wird. Im Blut und im Dünndarmsekret lassen sich verschiedene Antikörper gegen körpereigene Strukturen (Anti-RetikulinAntikörper, Anti-Endomysium-Antikörper) und gegen Gliadinpeptide nachweisen. Patienten mit einer Zöliakie weisen gehäuft Antikörper gegen Einfachstrang-DNA (ssDNA 14%), Doppelstrang-DNA (dsDNA 23%), Cardiolipin (14%) und Endomysium (63%) auf. 1997 konnte Transglutaminase als das Autoantigen der Endomysiumantikörper identifiziert werden. Schließlich findet man eine hohe Assoziation mit Histokompatibilitätsantigenen (z.B. DQw2), wie sie bei kaum einer anderen Autoimmunkrankheit gefunden wird. Für extraintestinale Begleiterkrankungen (Dermatitis herpetiformis Duhring, Diabetes mellitus, IgA-Nephritis) spielen möglicherweise zirkulierende Immunkomplexe eine Rolle.

Abb. 29-11 Zöliakie. Prävalenzangaben aus verschiedenen europäischen Ländern und Zeiträumen.

Kriterium für die Diagnose „Zöliakie“ waren die klassischen Schleimhautläsionen und das Ansprechen auf eine glutenfreie Diät.

Morphologie Die gluteninduzierten Schleimhautveränderungen sind für die Zöliakie nicht pathognomonisch. Auch andere alimentäre Proteine können vergleichbare Schleimhautläsionen verursachen. Dennoch ist für die Diagnose „Zöliakie“ der lupenmikroskopische und histologische Befund (Zangenbiopsien aus dem tiefen Duodenum) eine Conditio sine qua non (European Society of Pediatric Gastroenterology and Nutrition, 1990; Abb. 29-12 und 29-13).

Abb. 29-12

Zöliakie.

a Dünndarmbiopsie aus dem oberen Jejunum. Normalbefund. Lupenmikroskopische Aufnahme mit schlanken und fingerförmig konfigurierten Schleimhautzotten. b Biopsiepräparat aus dem oberen Jejunum. Lupenmikroskopische Aufsicht auf die Schleimhautoberfläche mit mosaikartiger Felderung. Keine Schleimhautzotten erkennbar. Man sieht lediglich die Öffnungen der Schleimhautkrypten. Seit den ersten dünndarmbioptischen Untersuchungen (1957) und der Konsensuskonferenz von London (1969) gilt als zöliakietypischer histologischer Befund die Kombination von Zottenatrophie, Kryptenhyperplasie mit gesteigerter Proliferationsaktivität der Enterozyten (= hyperregeneratorischer Schleimhautumbau), intraepithelialer Lymphozytose (Abb. 29-14) und einem dichten lymphoplasmazellulären Infiltrat in der Lamina propria der Mukosa.

Abb. 29-13

Zöliakie.

Biopsiepräparat aus dem oberen Jejunum. Die Dünndarmschleimhaut zeigt bei unbehandelter Zöliakie den typischen Umbau mit totaler Zottenatrophie und Kryptenhyperplasie. Die Dünndarmschleimhaut erinnert durch den totalen Verlust der Zotten an Kolonmukosa. Klinisch-pathologische und experimentelle Untersuchungen haben in den letzten Jahren deskriptiv 5 Typen von Mukosaläsionen im oberen Dünndarm herausgearbeitet, die heute nach Marsh (1992) definiert werden: ■ Typ-1-Läsion (= infiltrativer Typ): normale Zotten, normale Krypten, intraepitheliale Lymphozytose (> 40 intraepitheliale Lymphozyten pro 100 Enterozyten), kein verstärktes lymphoplasmazelluläres Stromainfiltrat ■ Typ-2-Läsion (= hyperplastischer Typ): normale Zotten, verlängerte Krypten, intraepitheliale Lymphozytose, kein verstärktes lymphoplasmazelluläres Stromainfiltrat ■ Typ-3-Läsion (= destruierender Typ, „klassische“ Zöliakie-Läsion): Zottenatrophie, Kryptenhyperplasie, intraepitheliale Lymphozytose (α/βversus γ/δ-T-Lymphozyten), lymphoplasmazelluläres Stromainfiltrat (Abb. 2914) ■ Typ-4-Läsion (= hypoplastischer Typ): Zottenatrophie, Kryptenhypoplasie, keine intraepitheliale Lymphozytose, kein (signifikantes) lymphoplasmazelluläres Stromainfiltrat ■ Typ-0-Läsion (= prä-infiltrativer Typ): normale intestinale Mukosa. Im Succus entericus aber IgA- und IgM-Antikörper gegen Gliadin nachweisbar.

Das ausgesprochen breite Befundspektrum der Zöliakie hat das „klassische“ Konzept dieser Erkrankung zum einen zu einer „glutensensitiven Enteropathie“ und hinsichtlich der extraintestinalen klinischen Vielfalt zu einem „gluten sensitivity complex“ mit kutanen (Dermatitis herpetiformis Duhring), oralen (aphthöse Schleimhautläsionen), renalen (IgA-Nephropathie) und arthrogenen Manifestationen erweitert.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die klinische Symptomatik ist variabel. Durch die Malabsorption leiden die Patienten an Durchfällen mit unterschiedlich schwerer Steatorrhö, Gewichtsverlust und Marasmus. Man findet ein aufgetriebenes tympanitisches Abdomen und eine oft deutliche Wachstumsretardierung. Mit wechselnder Häufigkeit wird über allgemeine Abgeschlagenheit, Zungenbrennen, Völlegefühl und Meteorismus geklagt. Seltener sind Parästhesien, Knochenschmerzen, Ödeme und Blutungsneigung. Störungen im Kalziumstoffwechsel führen zu einer rachitisähnlichen Knochendeformierung. In den letzten Jahren werden zunehmend häufiger oligosymptomatische Zöliakie-Manifestationen beobachtet, ohne dass es hierfür eine plausible Erklärung gibt. Zöliakie-Patienten haben zudem ein deutlich erhöhtes Risiko, an einer primär biliären Leberzirrhose zu erkranken. Außerdem treten gehäuft kollagene und lymphozytäre Gastritiden und Kolitiden auf. Die Inzidenz von autoimmunogenen Thyreoiditiden, des Morbus Addison, der perniziösen Anämie, von autoimmunologischen Thrombozytopenien und der Sarkoidose ist bei Zöliakie-Patienten erhöht. Etwa 2–4% der Patienten mit einem Diabetes mellitus Typ I leiden an einer manifesten Zöliakie. Schließlich findet man bei Zöliakie-Patienten nicht selten „neurologische Defizite“ (zerebellare Ataxie, periphere Neuropathien).

Abb. 29-14

Zöliakie.

Biopsiepräparat aus dem oberen Jejunum. Innerhalb der Lamina epithelialis mucosae zahlreiche Lymphozyten (= intraepitheliale Lymphozytose; Pfeile). Der Pfeilkopf markiert Destruktionen der Bürstensaumregion. HE, Vergr. 200fach. Diagnostisch hilfreich und in gewisser Weise als Screening-Methode einsetzbar sind verschiedene serologische Untersuchungen: Anti-Gliadin-Antikörper (IgA, IgG), Anti-Retikulin-Antikörper, Anti-Endomysium-Antikörper. Unbehandelte Zöliakiepatienten im Säuglings- und Kleinkindesalter weisen im Allgemeinen hohe Antikörpertiter auf, die allerdings in 5–10% der Fälle falsch positiv sein können. Insofern ersetzen die serologischen Befunde nicht den dünndarmbioptischen Befund. In Kenntnis der breiten Befundkonstellation der „glutensensitiven Enteropathie“ müssen nunmehr in der bioptischen Dünndarmdiagnostik auch die Typ-1- und Typ-2-Läsionen nach Marsh (siehe oben) erkannt werden. Dabei ist vor allem der Nachweis der intraepithelialen Lymphozytose (Abb. 29-14) diagnostisch bedeutsam. Der dünndarmbioptische Befund ist nach wie vor die unabdingbare Voraussetzung für eine sichere Zöliakie-Diagnose. Eine probatorische diätetische Behandlung bei Zöliakie-Verdacht ohne vorausgegangene Dünndarmbiopsie sollte unter allen Umständen vermieden werden. Hinsichtlich der zugrunde liegenden ätiologischen und pathogenetischen Mechanismen ist eine strikt glutenfreie Diät der einzig sinnvolle Therapieansatz. Unter dieser Therapie bilden sich die gluteninduzierten Schleimhautveränderungen weitgehend zurück und auch die klinischen Symptome sind rückläufig. Wird die lebenslang notwendige Diät nicht oder nur inkonstant eingehalten, können sich schwerwiegende Komplikationen, wie Osteomalazie/Osteoporose, maligne Lymphome und Karzinome, entwickeln. Osteomalazie und Osteoporose sind Folge einer enorm gesteigerten intestinalen Kalziumsekretion bzw. einer reduzierten Resorption von Kalzium und Vitamin D mit der möglichen Folge eines sekundären Hyperparathyreoidismus. Die Häufigkeit zöliakieassoziierter maligner Lymphome und Karzinome wird derzeit auf etwa 10% geschätzt. Bei den malignen Lymphomen handelt es sich um Non-Hodgkin-Lymphome. Zöliakieassoziierte Karzinome werden als Adenokarzinome im Dünndarm, im Magen und im Pankreas und als Plattenepithelkarzinome im oropharyngealen und ösophagealen Bereich gefunden. Nach neuesten Untersuchungen können diese Komplikationen durch eine strikt glutenfreie Diät weitgehend verhindert werden.

Kollagene Sprue Gelegentlich findet man bei Patienten mit schweren Malabsorptionssymptomen und einer spruetypisch umgebauten Schleimhaut zusätzlich extrem breite subepitheliale Kollagenbänder (kollagene Sprue). Unter glutenfreier Diät werden keine oder nur inkomplette Remissionen erzielt. Es ist bis heute umstritten, ob diese kollagene Sprue eine eigenständige Erkrankung oder eine nur besonders schwer verlaufende Variante oder Komplikation der Zöliakie darstellt. Infolge der progressiven und therapeutisch kaum beeinflussbaren Malabsorption („therapierefraktäre Sprue“) ist die Prognose infaust.

Tropische Sprue Ätiologie und Pathogenese Bei der tropischen Sprue sind ätiologie und Pathogenese nicht restlos geklärt. Wahrscheinlich spielen besondere bakterielle, virale und parasitäre Infektionen eine Rolle, die zu einer Veränderung der physiologischen Darmflora führen. Ernährungsschäden (z.B. Folsäuremangel) sind wahrscheinlich sekundärer Natur.

Morphologie

Die morphologischen Befunde, die dünndarmbioptisch erhoben werden können, sind variabel. Sie reichen von einer Verplumpung der Schleimhautzotten bis zur fokalen Zottenatrophie. Spruetypische Schleimhautbefunde sind aber selten. Das Schleimhautstroma ist in unterschiedlicher Intensität von mononukleären Entzündungszellen durchsetzt. Im Allgemeinen sind Jejunum und Ileum betroffen.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die Krankheit beginnt meistens mit einer akuten Diarrhö. Im Vordergrund der klinischen Befunde stehen dann aber die sich entwickelnden Folgekrankheiten wie megalozytäre Anämien, Vitaminmangelsymptome, Stomatitis u.a.

29.6.3

Seltene Malassimilationssyndrome

Zahlreiche Krankheitsbilder können mit Störungen der Digestion und Resorption der Nahrungsendprodukte einhergehen. Diese z.T. seltenen Krankheiten spielen unter differentialdiagnostischen Aspekten malabsorptiver und -digestiver Symptome eine wichtige Rolle. Das Krankheitsspektrum ist weit gespannt. Neben genetisch bedingten und sich primär intestinal manifestierenden Krankheiten (z.B. kongenitale Enzymdefekte [Disaccharid-Malabsorption; siehe Abb. 29.10], microvillous inclusion disease) können folgende Ursachen zu unterschiedlich schweren Verdauungsinsuffizienzen führen: ■

chronischer Eiweißmangel (Kwashiorkor)



Nahrungsmittelallergien



gesteigerte enterale Gallensäurenverluste (chologene Diarrhö)

■ Endokrinopathien (diabetische Enteropathie, Verner-Morrison-Syndrom, Zollinger-Ellison-Syndrom) ■ systemische Krankheiten (Sklerodermie, Urticaria pigmentosa, Psoriasis, Dermatitis herpetiformis Duhring, Akrodermatitis enteropathica) ■

Immunmangelsyndrome.

Eine Malassimilation kann aber auch postoperativ (Kurzdarmsyndrom, Syndrom der blinden Schlinge) auftreten oder medikamentös (z.B. durch Zytostatika) induziert sein.

29.7

Entzündliche Erkrankungen

Die Einteilung entzündlicher Veränderungen der Darmschleimhaut kann nach verschiedenen Kriterien erfolgen. Eine Klassifikation unter ausschließlich pathologischanatomischen Gesichtspunkten bleibt insofern unbefriedigend, als verschiedene ätiologische Faktoren oft ähnliche oder gar gleichartige Veränderungen hervorrufen. Im Hinblick auf klinisch-therapeutische Belange scheint eine Einteilung nach ätiologischen Gesichtspunkten am sinnvollsten. Indessen sind die Ursachen gerade jener Krankheitsbilder, die derzeit eine besondere klinische und sozialmedizinische Bedeutung erlangt haben (z.B. Morbus Crohn, Colitis ulcerosa), noch immer unbekannt. Morbus Crohn und Colitis ulcerosa werden vielfach als idiopathische chronisch-entzündliche Darmerkrankungen zusammengefasst; sie werden in Kap. 31.5.2 dargestellt. Die durch nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) hervorgerufenen Entzündungen des Intestinaltrakts werden im Kap. 31.5.3 kurz beschrieben.

29.7.1

Bakterielle Enteritiden

Bakterielle Enteritiden können durch invasive und nicht-invasive Erreger hervorgerufen werden (Abb. 29-15). ■ Durch invasive Erreger: Typhöse und tuberkulöse Enteritiden (siehe Kap. 48.2.6 und 48.2.7), die Escherichia-coli-Enteritiden, die Enteritis necroticans, Yersinia- und Campylobacter-Enteritiden werden durch invasive Bakterien verursacht. Hier wirken die Bakterien selbst krankheitsauslösend. Sie vermehren sich im Darmlumen, durchdringen die Darmwand und gelangen über Lymphbahnen ins Blut. Die Folgen sind Bakteriämie und Sepsis. Wegen der Defekte der Darmschleimhaut können auftretende Durchfälle blutig sein. ■ Durch nichtinvasive Erreger: Enteritiden durch nichtinvasive Keime, z.B. Cholera und verschiedene Formen der enteritischen Salmonellosen, sind auf die

Wirkung von Bakterientoxinen (Enterotoxine) zurückzuführen. Die Pathogenität der Bakterien beruht also auf der Wirkung ihrer Toxine (siehe Abb. 29-15).

Salmonellosen Die Salmonellosen des Menschen lassen sich in zwei Hauptgruppen untergliedern: ■

Typhus und Paratyphosen (= typhoide Salmonellosen)



akute, fieberhafte Gastroenteritiden (= enteritische Salmonellosen).

Typhus abdominalis Es handelt sich um eine zyklische Infektionskrankheit, hervorgerufen durch Salmonella typhi. Der Typhus abdominalis (Typhus: Rauch, Dunst, Nebel; weist auf die Benommenheit im Stadium incrementi hin) hat in der westlichen Welt an Bedeutung verloren. Im Mittleren und Fernen Osten, in Mittel- und Südamerika und in Afrika tritt er nach wie vor endemisch auf.

Pathogenese Die Infektion mit Salmonella typhi erfolgt durch kontaminierte Speisen und Getränke (fäkal-oraler Infektionsweg). Der Mensch ist das einzige Erregerreservoir. Die Bakterien werden mit dem Stuhl ausgeschieden. Es existieren Dauerausscheider, die nach durchgemachter klinisch manifester oder klinisch stummer Erkrankung Salmonella typhi weiterhin ausscheiden. Sie stellen eine wichtige Infektionsquelle dar. Ein Reservoir für die Salmonellen ist v.a. die Gallenblase. Nach oraler Aufnahme gelangen die Bakterien über die Solitärfollikel und PeyerPlaques des Dünndarms (Ileum) und über die Lymphgefäße und den Ductus thoracicus in das Blut. Es entwickelt sich ein septisches Krankheitsbild. Die Bakterien werden über die Leber mit der Galle ausgeschieden und gelangen dadurch wiederum in den Darm. Ungefähr eine Woche nach Krankheitsbeginn lassen sich spezifische agglutinierende Antikörper (Gruber-Widal-Reaktion) gegen verschiedene bakterielle Antigene nachweisen. Durch Salmonellen der Paratyphusgruppe können ähnliche, im Allgemeinen aber geringer ausgeprägte Krankheitsbilder hervorgerufen werden.

Morphologie

Die Infektion mit Salmonella typhi führt zu einer entzündlichen Vergrößerung des lymphatischen Gewebes (Solitärfollikel, Peyer-Plaques, mesenteriale Lymphknoten, Milz). Man spricht von einer markigen Schwellung der

Solitärfollikel und der Peyer-Plaques. In der zweiten Woche entwickelt sich eine Nekrose („Verschorfung“). Das nekrotische Material wird abgestoßen, und es entstehen Ulzera (Abb. 29-16). Histologisch findet man eine knötchenförmige Ansammlung von Makrophagen, die Bakterien, Erythrozyten, Lymphozyten und Kerntrümmer phagozytiert haben (Typhuszellen, sog. Rindfleischzellen, typhöse Granulome). Charakteristischerweise fehlen neutrophile Granulozyten. In der Milz kommt es zu einer Hyperplasie der roten Pulpa und zu einer Hyperämie. Später findet man fokale Nekrosen. Die typhösen Veränderungen in der Leber sind durch eine massive Ansammlung von Makrophagen, z.T. in granulomatöser Anordnung („Typhusknötchen“), charakterisiert. ähnliche Veränderungen können auch in anderen Organen nachgewiesen werden. Im Herz und in den Nieren kommt es zu einer toxischen Zellschädigung (Myokardiozyten, Tubulusepithelien). In der Skelettmuskulatur entwickelt sich eine toxische Nekrose (wachsartig-hyaline Zenker-Degeneration).

Abb. 29-15 Schematische Darstellung invasiver und nichtinvasiver Erreger entzündlicher Darmerkrankungen

am Beispiel der Cholera, der Shigellose (siehe Kap. 31.5.1) und der Salmonellosen.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die Inkubationszeit beträgt 1–3 Wochen. Nur etwa 10–20% der Infizierten erkranken klinisch manifest. Nach uncharakteristischen Prodromi folgt ein stadienhafter Ablauf im Sinne einer zyklischen Infektionskrankheit.

In der ersten Krankheitswoche (Stadium incrementi) führt die Infektion zu einem stufenförmigen Fieberanstieg auf etwa 40 °C. Die Patienten klagen über heftige Kopfschmerzen. Sie sind obstipiert. Nur selten treten Durchfälle auf. Meist findet man eine relative Bradykardie. In der zweiten Krankheitswoche (Stadium acmes) bildet sich die typische Kontinua (Fieberplateau) mit Temperaturen zwischen 39 und 40 °C aus. Die Patienten sind schwer krank. In etwa 30% entwickeln sie einen Hautausschlag (Roseolen). In der dritten Krankheitswoche treten delirante Zustände mit erbsbreiartigen Durchfällen auf. Manche Typhusfälle zeigen eine Neigung zur hämorrhagischen Diathese (Typhus haemorrhagicus). Die Kontinua bricht allmählich ab. Hohe Abendtemperaturen wechseln mit tiefer Morgenremission. Das Sensorium klart langsam auf. In der vierten Krankheitswoche (Stadium decrementi) fällt die Temperatur ab. Mit der allmählichen Besserung der allgemeinen Symptomatik beginnt schließlich die Rekonvaleszenz. Als Komplikationen beobachtet man toxisch bedingte Kreislaufdepressionen, während typhöse Myokarditiden eher selten sind. Im Gefolge der Bakteriämie kann es zur Absiedlung von Typhusbakterien in verschiedenen Organen mit einer entsprechenden Infektionssymptomatik (Meningitis, Pneumonie, Arthritis, Osteomyelitis, Cholezystitis) kommen. Darmblutungen aus typhösen Ulzera und Perforationen mit der Entwicklung einer eitrigen Peritonitis sind unter der heute üblichen Chloramphenicol-Therapie selten geworden.

Akute, fieberhafte Gastroenteritiden Es handelt sich um bakterielle Nahrungsmittelvergiftungen, die vorzugsweise während der Sommermonate auftreten (gastroenteritischer Brechdurchfall). Sie werden durch das Gros der Salmonellenspezies, vor allem durch Bacterium enteritidis und Bacterium typhimurium, ausgelöst.

Abb. 29-16 Typhus abdominalis.

Obduktionspräparat. Ende der 3. Krankheitswoche. Zahlreiche Ulzerationen (Pfeile).

Morphologie Die Darmschlingen sind dilatiert, angefüllt mit sukkulentem und blutig durchmischtem Inhalt. Man findet ein Darmwandödem, Erosionen, Ulzerationen, Schleimhautblutungen, gelegentlich Mikroabszesse und eine entzündliche Hyperplasie des lymphoretikulären Gewebes der Darmwand.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Krankheit beginnt meist 8–72 Stunden nach der Infektion. Sie klingt häufig spontan binnen weniger Tage ab. Komplikationen (z.B. Kreislaufschock infolge eines z.T. massiven Flüssigkeits- und Elektrolytverlustes, akutes Nierenversagen, toxische Kolondilatation, Blutungen, septische Krankheitsverläufe) sind selten.

Cholera Als akute Infektionskrankheit ist die Cholera seit alters in Vorderasien endemisch beheimatet. Der „klassische“ Cholera-Erreger, Vibrio cholerae (asiaticae), wurde 1883 von Robert Koch entdeckt. Vergleichbare pathogene Eigenschaften besitzt der 1906 entdeckte Vibrio El-Tor. Es handelt sich um gramnegative, 1,5–2 μm lange, kommaförmig gekrümmte und schraubenförmig gedrehte Stäbchen, die keine Sporen bilden und durch eine endständige Geißel beweglich sind. Die Infektion erfolgt oral.

Cholera-Vibrionen infizieren lediglich den Gastrointestinaltrakt. Es handelt sich um nichtinvasive Erreger, die daher nur im Stuhl nachgewiesen werden können. Das enterozytäre Epithel bleibt intakt.

Pathogenese

Cholera-Vibrionen wirken durch ihre Toxine: durch das Enzym Neuraminidase (Exotoxin), durch das Polypeptid Choleragen (Exotoxin) und durch das zellwandständige Endotoxin (Lipopolysaccharid). Choleragen ist die diarrhöauslösende Komponente. Es induziert den extremen Verlust an isotoner Flüssigkeit, indem über eine Adenylatzyklase und über zyklisches AMP ein enterozytäres Ionentransportsystem aktiviert wird. Durch die Aktivierung dieses Systems werden Chlorid- und Hydrogenkarbonationen sezerniert. Die Flüssigkeitsverluste sind osmotisch begründet („chemische Diarrhö“; Abb. 29-17).

Morphologie Die morphologisch fassbaren Befunde sind uncharakteristisch, nämlich ein Schleimhautödem und gelegentlich Fibrinexsudation im Bereich der Serosa. Die Diagnose beruht auf dem Nachweis der Cholera-Vibrionen. Neben den lokalen Veränderungen der Darmschleimhaut findet man, bedingt durch Flüssigkeitsverlust und Schock, schwere Parenchymschäden des Herzens, der Leber, des Pankreas, der Nieren und des Gehirns. Die Milz ist entspeichert und von fleckförmigen Blutungen durchsetzt. In der Muskulatur (v.a. Wadenmuskulatur) sind Blutungen und wachsartige Faserdegenerationen nachweisbar. Vergleichbare Veränderungen sind an den Stimmbändern zu beobachten.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Nach einer Inkubationszeit von 1–5 Tagen führt die enterale Infektion durch die Toxinwirkung zu akuten und massiven Brechdurchfällen („reiswasserähnliche“ Diarrhö) mit der Folge einer schweren Exsikkose, eines Kreislaufkollapses und einer Niereninsuffizienz. Die Letalität liegt bei optimalen Therapiemöglichkeiten (z.B. ausreichender Flüssigkeitsersatz) heute unter 1%.

Enteritis necroticans Syn.: Jejunitis necroticans, Enteritis gravis, akute hämorrhagisch-nekrotisierende Enteritis, Darmbrand Die Enteritis necroticans ist eine entzündliche Erkrankung v.a. des Jejunums. In seltenen Fällen sind Ileum und Kolon mit betroffen. Ursächlich handelt es sich bei dieser schweren Enteritis um eine Infektion mit Clostridium perfringens (Welchii).

Morphologie Der Darm ist steif und gummischlauchartig. In der ödematös verbreiterten Darmwand sind Blutungen und oft massive Ansammlungen von Clostridien nachweisbar. Man findet in der Darmwand zudem eine nekrotisierende Vaskulitis, wobei die Gefäßlichtungen häufig durch hyaline Thromben vollständig verschlossen sind. Schließlich entwickelt sich eine von innen nach außen fortschreitende Darmwandnekrose.

Abb. 29-17 Schematische Darstellung der pathogenetischen Mechanismen der durch CholeraVibrionen verursachten Diarrhö.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Enteritis necroticans ist eine akut einsetzende, schwere Erkrankung mit rasch fortschreitendem Verfall der Patienten. Profuse Stuhlentleerungen, teils wässrig, teils schleimig-blutig oder auch rein blutig (verursacht durch Nekrosen), führen zu Exsikkose, Adynamie und Schocksymptomatik. Die trockene Zunge ist graubraun belegt, borkig. Darmperforationen mit diffuser Peritonitis und Sepsis sind häufige Todesursachen. Die Letalität liegt bei 20–40%.

Escherichia-coli-Enteritiden Verschiedene Stämme von Escherichia coli können in allen Altersgruppen schwere Durchfallerkrankungen hervorrufen. Hinsichtlich der pathophysiologischen Mechanismen lassen sich die enteritiserzeugenden E.-coli-Stämme in verschiedene Klassen einteilen (siehe auch Kap. 48.2.6): ■ enterotoxische E. coli (ETEC), die hitzelabile und hitzestabile Enterotoxine bilden, ■ enteroinvasive E. coli (EIEC), die ein ruhrähnliches Krankheitsbild hervorrufen, ■ (sog. infantile) enteropathogene E. coli (EPEC), die vor allem im Säuglingsund frühen Kindesalter eine hämorrhagisch-nekrotisierende Enteritis hervorrufen, ■ enterohämorrhagische E. coli (EHEC); diese sind derzeit in Deutschland nach den Salmonellen und zusammen mit Campylobacter jejuni und C. coli zweithäufigste bakterielle Enteritiserreger des Menschen. 80% aller bei Kindern unter 14 Jahren auftretenden wässrigen Diarrhöen werden durch EHEC verursacht. Als extraintestinale Komplikationen treten hämolytisch-urämische Syndrome, hämolytische Anämien, selten Pankreatitiden, toxische Myokardschäden und zentralnervöse Symptome (Krämpfe, Ataxien, Paresen, komatöse Zustände) auf. Gelegentlich sind bleibende Spätschäden zu beobachten: dialysepflichtige Nephropathien mit Proteinurie, arterielle Hypertonie, chronische Pankreatitis mit Glukoseintoleranz und Diabetes mellitus, Darmstrikturen, neurologische Ausfälle.

Yersinia-Enteritiden Enterale Infektionen mit den gramnegativen Arten Yersinia enterocolitica und Yersinia pseudotuberculosis sind relativ häufig. Infektionen erfolgen wahrscheinlich per os. Als Infektionsquelle kommen nahezu alle Haustiere in Betracht.

Morphologie

Die Morphologie ist durch retikulär-abszedierende (pseudotuberkulöse) Entzündungen (siehe Kap. 48.2.6) charakterisiert. Neben unregelmäßig formierten und gelegentlich auch „aphthoiden“ Ulzerationen findet man v.a. eine floride mesenteriale Lymphadenitis mit oft extrem geschwollenen Lymphknoten.

Klinisch-pathologische Korrelationen Beide Erreger rufen Symptome einer akuten bzw. subakuten Enteritis bzw. Enterokolitis, einer Appendizitis, Ileitis und einer akuten (mesenterialen) Lymphadenitis hervor. Selten sind septisch-typhöse Verlaufsformen. Die reinen Darminfektionen sind aber am häufigsten. Extraintestinale Komplikationen bzw.

Manifestationen treten vor allem als akute Polyarthritis und als Erythema nodosum in Erscheinung. Die Prognose der Yersinia-Infektionen ist im Allgemeinen gut. Häufig sind Spontanheilungen zu beobachten.

Campylobacter-Enteritiden Die gramnegativen Bakterien Campylobacter jejuni und Campylobacter coli verursachen etwa 5–15% (bis zu 35%) der akuten Durchfallerkrankungen. Die Infektion erfolgt bei Kleinkindern überwiegend durch Schmierinfektionen, bei Schulkindern und Erwachsenen durch kontaminierte Lebensmittel.

Morphologie Von der Infektion können alle Darmabschnitte betroffen sein. Die Schleimhaut ist im Allgemeinen entzündlich-ödematös verdickt. Histologisch findet man ein entzündliches Infiltrat aus überwiegend neutrophilen Granulozyten.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die klinischen Erscheinungsbilder sind vielgestaltig: Durchfall, Erbrechen, kolikartige Leibschmerzen, Fieber, Muskel- und Gelenkschmerzen stehen im Vordergrund. Die Prognose ist gut, vielfach werden Spontanheilungen beobachtet.

Morbus Whipple Das seltene, differentialdiagnostisch aber wichtige Krankheitsbild wurde erstmals 1907 von G. H. Whipple als Lipodystrophia intestinalis beschrieben. Der Morbus Whipple ist eine bakteriell verursachte Krankheit, die sich relativ konstant im Bereich des Dünndarms manifestiert, im Prinzip jedoch auch alle anderen Organe betreffen kann. Die Diagnose wird histologisch mittels Dünndarmbiopsie durch den Nachweis besonders charakterisierbarer Makrophagen gestellt („sickle-form particles containing cells“ = SPC-Zellen, Abb. 29-18). Mit geeigneten Oligonukleotiden als Primer und der PCR-Reaktion ist es seit wenigen Jahren auch molekulargenetisch möglich, den Morbus Whipple durch den Nachweis spezifischer DNA von Tropheryma whippelii zu diagnostizieren.

Ätiologie Das zunächst empirisch ermittelte gute Ansprechen auf Antibiotika und der elektronenmikroskopische Nachweis von Bakterien haben zur Annahme einer Infektionskrankheit mit offensichtlich geringer Kontagiosität geführt. Erst 1991/92 konnte das Whipple-Bakterium genotypisch als Tropheryma whippelii, ein den Aktinomyzeten zugeordneter grampositiver Keim, identifiziert werden (Abb. 29-19).

Epidemiologie Die Krankheit manifestiert sich im mittleren Lebensalter. Männer sind fünf- bis achtmal häufiger betroffen als Frauen.

Abb. 29-18 Unbehandelter Morbus Whipple.

Biopsie aus dem oberen Jejunum. Die Schleimhautzotten sind kolbig aufgetrieben. Man findet jedoch keine Zottenatrophie. Neben Lymphangiektasien (LyA) zahlreiche und pathognomonische Makrophagen mit PAS-positiven Einschlüssen (SPC-Zellen). PAS, Vergr. 35fach

Morphologie

Die Schleimhautzotten sind aufgequollen, chylös imbibiert. Im Zottenstroma und in den tieferen Darmwandschichten findet man neben dilatierten Lymphgefäßen zahlreiche PAS-positive Makrophagen (SPC-Zellen), die nach elektronenmikroskopischen Untersuchungen Lysosomen bzw. Phagolysosomen mit unterschiedlich weit fortgeschrittenen bakteriellen Abbauprodukten enthalten. Die mesenterialen Lymphknoten sind oft deutlich geschwollen und von gleichartigen SPC-Zellen durchsetzt. Unter einer langfristigen antibiotischen

Therapie geht die Zahl der SPC-Zellen mehr und mehr zurück (Dünndarmbiopsie zur Therapiekontrolle).

Klinisch-pathologische Korrelationen Chronisch-rezidivierende Diarrhöen bzw. Steatorrhöen (Malabsorption!), allgemeine Adynamiesymptome mit starkem Gewichtsverlust, ein z.T. schuppendes Exanthem mit schmutzig-grauem Hautkolorit sowie evtl. zerebrale Symptome (organisches Psychosyndrom, Ophthalmoplegia externa, Nystagmus, Myoklonus, Ataxie, Hydrozephalus, hypodense Herdbefunde [MRT])sind wichtige klinische Hinweise auf das Vorliegen eines Morbus Whipple. Die zerebralen Manifestationen können durch den Nachweis von SPC-Zellen (Abb. 29-20) im Liquorpunktat, ggf. auch molekulargenetisch diagnostiziert werden (wichtig auch für Verlaufskontrollen). Intermittierende Polyarthralgien/Myalgien gehen der intestinalen Symptomatik, die sich in vielen Fällen erst spät manifestiert, oft um Jahre voraus. Blutchemische Untersuchungen ergeben in der Regel erhebliche Defizite im Eiweiß-, Eisen- und Mineralhaushalt.Man findet häufig hypochrome mikrozytäre Anämien und Lymphopenien.

Abb. 29-19

Morbus Whipple.

a Elektronenmikroskopische Aufnahme von Makrophagen mit phagozytierten Bakterien bzw. bakteriellen Degradationsprodukten in Lysosomen (Ly). N = Zellkern. Vergr. 9000fach. b Whipple-Bakterium: Tropheryma whippelii. Vergr. 82000fach. Kontrastierung: Uranylazetat/Bleizitrat Unbehandelt ist die Prognose des Morbus Whipple infaust. Sie führt nach Jahren infolge eines schweren Marasmus zum Tode. Unter einer antibiotischen Langzeittherapie ist die Prognose aber gut.

Abb. 29-20 Morbus Whipple.

Liquorpunktat unter Einschluss einer SPC-Zelle (Pfeil). Segmentkerniger Granulozyt (G), Lymphozyt (L), monozytoide Zellen (M). PAS, Vergr. 240fach.

29.7.2

Virale Enteritiden

Ätiologie Zahlreiche Durchfallerkrankungen, die während der Sommermonate gehäuft und oft endemieartig auftreten und im Allgemeinen als „Magen-Darm-Grippe“ diagnostiziert werden, sind häufig viral, vor allem durch Entero- (ECHO-Viren, Coxsackie-Viren) und Adenoviren, verursacht. Darüber hinaus werden zahlreiche andere Virusarten (z.B. Rota- und Norwalk-Viren, Parvoviren) u.a. für akute Durchfallerkrankungen verantwortlich gemacht. Auch die verschiedenen Hepatitisviren können eine intestinale Symptomatik verursachen. Im Rahmen von Immunschwächekrankheiten (z.B. AIDS) können durch opportunistische Viren (z.B. Zytomegalievirus) Enteritiden ausgelöst werden (siehe Kap. 48.1.5).

Morphologie

Die morphologischen Befunde viraler Enteritiden sind mit wenigen Ausnahmen diagnostisch kaum wegweisend. Die Identifikation der jeweiligen Virusart erfolgt elektronenmikroskopisch, durch Kulturuntersuchungen, immunhistochemisch und neuerdings durch molekularbiologische Techniken.

29.7.3

Enteritiden durch Pilze

Mykotische Infektionen des Gastrointestinaltrakts zeigen in letzter Zeit eine gewisse Häufung. Sie werden im Wesentlichen als Komplikation bestimmter Krankheitsbilder (z.B. AIDS) und als Folge bestimmter Therapiemaßnahmen aufgefasst. Diese sog. sekundären Mykosen entstehen vor allem bei chronischen und konsumierenden Krankheiten, bei Panmyelophthisen und im Gefolge bestimmter Therapiemaßnahmen (Zytostatika, Immunsuppressiva, Strahlen). In besonderem Maße disponiert sind Kinder und Ältere Menschen. Als Erreger dieser sekundären Mykosen kommen vor allem Pilzarten mit nur geringer Pathogenität in Frage, wie Candida albicans, Aspergillus- und Mucor-Arten sowie Histoplasma capsulatum. Man spricht von opportunistischen Infektionen.

29.7.4

Enteritiden durch Protozoen

Bei den Protozoonosen handelt es sich vor allem um Tropenkrankheiten. Unter sozialmedizinischen Aspekten spielen sie in Mitteleuropa kaum eine Rolle. Allenfalls sind latente Infektionen mit Lamblia (Giardia) intestinalis bedeutsam. Vor allem Kinder sind durch dieses fakultativ pathogene Protozoon betroffen (Abb. 29-21 und 2922). Wichtige Differentialdiagnose ist die Zöliakie. Milchintoleranz mit Gärungssymptomen, Durchfall und Steatorrhö treten sowohl bei der Zöliakie als auch bei Infektionen mit Lamblia intestinalis auf. Hinzu kommt ein Mangel an Thiamin, Vitamin B12 und Folsäure, z.T. kombiniert mit Hypoproteinämien und Hypogammaglobulinämien. Die differentialdiagnostische Bedeutung der Dünndarmbiopsie liegt im Nachweis der Trophozoiten, die gelegentlich im Duodenalsaft oder im Stuhl fehlen können. Andere durch Protozoen verursachte Erkrankungen haben in den letzten Jahren bei immunkompromittierten Patienten eine gewisse Bedeutung im Sinne opportunistischer Infektionen erlangt. Zu diesen Protozoen gehören u.a. Isospora belli und Isospora hominis, Kryptosporidien und Enterocytozoon bienusi (Mikrosporidiose). Sie können schwere Enterokolitiden hervorrufen.

Abb. 29-21

Lambliasis intestinalis.

Duodenalbiopsie mit zahlreichen Lamblien. Semidünnschnitt. Silberimprägnation nach Movat, Vergr. 500fach.

29.7.5

Enteritiden durch Helminthen

Die für den Menschen pathogenen Darmwürmer gehören zu allen drei Gruppen der Helminthen (Trematoden, Zestoden und Nematoden). Weit verbreitet sind vor allem der Spulwurm Ascaris lumbricoides, der Peitschenwurm Trichuris trichiura, die Hakenwürmer Ancylostoma und Necator, die Bandwürmer Taenia saginata und solium, Trichinen sowie der Erreger der Bilharziose.

Abb. 29-22 Elektronenmikroskopische Aufnahme einer Lamblia (Giardia) intestinalis

mit zwei Kernanschnitten (N) und Flagellen (F). Kontrastierung: Uranylazetat und Bleizitrat, Vergr. 5000fach. Die Infektionen erfolgen häufig durch rohes Fleisch (Trichinen). Andere Würmer können durch ihre Larven aktiv in die Haut eindringen (Ancylostoma duodenale, Necator americanus, Strongyloides stercoralis). Gleiches gilt für die Zerkarien der Schistosoma-Arten. Der Spulwurm Ascaris lumbricoides führt auf seinen Wanderungswegen durch den menschlichen Körper (Herz, Lungen) zu flüchtigen eosinophilen Lungeninfiltraten, die besonders bei Kindern zu anderen Lungenerkrankungen disponieren. Wurminfektionen führen in direkter Abhängigkeit von der Zahl der jeweils vorliegenden Würmer zu unterschiedlich schweren Durchfällen, zu Blutungen und Blutungsanämien, aber auch zu Resorptionsstörungen und mechanischen Komplikationen (Subileus, Ileus, Perforationen).

29.8

Tumoren

Obwohl 75–80% der Länge und nahezu 90% der inneren Oberfläche des Intestinaltrakts auf Jejunum und Ileum entfallen, sind dennoch beide, im Gegensatz zu Magen, Kolon und Rektum, nur selten Sitz primärer Tumoren. Durchschnittlich sind 3–6% aller gut- und bösartigen intestinalen und 2–3% aller gastrointestinalen Geschwülste im Jejunum und Ileum lokalisiert. Dabei ist das Ileum häufiger betroffen als das Jejunum. Der Altersgipfel aller Dünndarmtumoren liegt im 6.–7. Jahrzehnt.

Bei den Tumoren des Jejunums und des Ileums werden epitheliale, neuroendokrine (siehe Kap. 17.3) und mesenchymale Tumoren sowie maligne Lymphome (siehe Kap. 22.2.2) unterschieden. Die WHO-Klassifikation von 2000 unterscheidet im Dünndarm die folgenden Tumortypen: Epitheliale Tumoren: ■ Adenome: tubulär, villös, tubulovillös ■ Intraepitheliale Neoplasie (Dysplasie): gering- und hochgradige intraepitheliale Neoplasie ■ Karzinome □

Adenokarzinome



Muzinöse Adenokarzinome



Siegelringzellkarzinome



Kleinzellige Karzinome



Plattenepithelkarzinome



Adenosquamöse Karzinome



Medulläre Karzinome



Undifferenzierte Karzinome

■ Karzinoidtumoren (siehe Kap. 17.3) ■ Mischformen: Karzinoid/Adenokarzinom ■ Gangliozytische Paragangliome. Nichtepitheliale Tumoren: ■ Lipome, Leiomyome, gastrointestinale Stromatumoren ■ Leiomyosarkome, Angiosarkome, Kaposi-Sarkome. Maligne Lymphome (siehe Kap. 22.2.2): ■ Immunoproliferative Erkrankungen des Dünndarms ■ B-Zell-Lymphom vom MALT-Typ

■ Mantelzell-Lymphom ■ Diffuses, großzelliges Lymphom ■ Burkitt-Lymphom ■ Burkitt-like Lymphom (atypisches Burkitt-Lymphom) ■ T-Zell-Lymphome, z.T. enteropathieassoziiert (siehe Kap. 29.6). Sekundäre Tumoren (Metastasen). Polypen: ■ Hyperplastische Polypen (siehe Kap. 31.9.1) ■ Peutz-Jeghers-Polypen (siehe Kap. 31.8.2) ■ Juvenile Polypen (siehe Kap. 31.8.2).

29.8.1

Epitheliale Tumoren

Adenome Adenome, primär gutartige epitheliale Neoplasien, sind im Bereich des gesamten Dünndarms selten und bevorzugt im Duodenum lokalisiert (siehe Kap. 28.16.1). Histologisch findet man grundsätzlich gleiche Differenzierungen wie im kolorektalen Bereich (siehe Kap. 31.8.1): tubuläre, villöse und tubulovillöse Adenome.

Karzinome Auch Karzinome sind im Dünndarm selten. Kolorektale Karzinome sind 40–60-mal häufiger (siehe Kap. 31.8.1). Die Ursachen dafür sind unklar. Die schnelle Passage des Darminhalts, die geringere Konzentration von Karzinogenen im Darminhalt, eine höhere Konzentration von entgiftenden Enzymen und das aktivere Immunsystem könnten eine Rolle spielen. In manchen Statistiken dominiert das im Jejunum lokalisierte Karzinom, das überwiegend in Höhe des Treitz-Bandes gefunden wird. Die meisten Karzinome wachsen anulär-konstriktiv, selten polypoid (Abb. 29-23). Adenokarzinome sind die organtypischen Karzinome. Hinsichtlich der formalen Pathogenese dürfte auch für die Dünndarmkarzinome die sog. Adenom-Karzinom-Sequenz gelten (siehe Kap. 31.8.1).

29.8.2

Mesenchymale Tumoren

Gut- und bösartige mesenchymale Tumoren sind innerhalb des ganzen Intestinaltrakts selten, etwas häufiger im Dünndarm (Ileum) als im kolorektalen Bereich. Die meisten Geschwülste lassen sich unter histogenetischen Aspekten bestimmten geweblichen Strukturen zuordnen (z.B. Muskel- und Fettgewebe, neurales Gewebe, Gefäße). Bezüglich der gastrointestinalen Stromatumoren (Sarkome), die im Dünndarm wesentlich seltener als im Magen sind, siehe Kap. 28.10.

Abb. 29-23 Zirkulär wachsendes, ulzeriertes Adenokarzinom

(Pfeile). Dünndarmsegmentresektat.

29.9 Die Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Dünndarmerkrankungen Den Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts haben im Hinblick auf ihre Häufigkeit eine erhebliche medizinische und soziale Bedeutung. Mit der Entwicklung endoskopischbioptischer Methoden wurde der morphologische Befund fest in das methodische Repertoire der klinischen Diagnostik integriert. Funktionsanalytische und morphologische Methoden sind derzeit die wichtigsten Verfahren in der Abklärung gastroenterologischer Krankheitssymptome. Mit einer rückläufigen Tendenz ist bei den Dünndarmbiopsien deshalb nicht zu rechnen. Die Dünndarmbiopsie wird entweder in Form der gezielten gastroduodenoskopischen Zangenbiopsie oder (heute selten) der „blinden“ Saugbiopsie bei allen Formen einer chronischen Verdauungsinsuffizienz sowie bei persistierenden Abdominalbeschwerden

durchgeführt. Sie erlaubt eine organspezifische Diagnostik und liefert auch als „Ausschlussverfahren“ wichtige diagnostische Hinweise.

Literatur Hamilton, S.R., L.A. Aaltonen (eds.): Pathology & Genetics: Tumors of the digestive System. WHO Classification of Tumors. IARC Press, Lyon 2000. Jass, J.R., L.H. Sobin: Histological typing of intestinal tumours. WHO International Histological Classification of Tumours. Springer, Berlin–Heidelberg–New York 1989. Lewin, K.J., R.H. Riddell, W.M. Weinstein: Gastrointestinal pathology and its clinical implcations. Igaku-Shoin, New York–Tokyo 1992. Marsh, M.N.: Gluten, major histocompatibility complex, and the small intestine. A molecular and immunobiologic approach to the spectrum of gluten sensitivity (celiac sprue). Gastroenterology 102: 330–354 (1992). Otto, H.F., W. Remmele: Jejunum und Ileum. In: Remmele, W. (Hrsg.): Pathologie, Bd. 2, 2. Aufl., S. 417–487. Springer, Berlin–Heidelberg–New York 1996.

FRAGEN 1 Wie lautet die Definition des Ileus? Nennen Sie Ursachen und Folgen eines Ileus. 2 Welches sind Ursachen und Folgen arterieller und venöser Durchblutungsstörungen? 3 Nennen Sie Ursachen und Konsequenzen der Malassimilation. 4 Nennen Sie Ursachen, Morphologie und Folgen der Enteritis. 5 Wie häufig sind maligne Tumoren im Dünndarm und um welche Tumoren handelt es sich? 6 Welches sind die Indikationen zur morphologischen Untersuchung der in diesem Kapitel beschriebenen Krankheiten? Welche Untersuchungen sind indiziert? Welchen Beitrag können diese Untersuchungen zur präzisen Diagnostik und zur Planung der Therapie leisten?

30 Appendix H. F. OTTO H. E. GABBERT 30.1

Normale Struktur und Funktion 719

30.2

Kongenitale Fehlbildungen 719

30.3

Entzündliche Erkrankungen 719

30.3.1

Akute Appendizitis 719

30.3.2

Chronische bzw. rezidivierende Appendizitis 721

30.4

Neurogene Appendikopathie 722

30.5

Mukozele 722

30.6

Tumoren 723

30.7 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Erkrankungen der Appendix 723 Literatur 724 Fragen 724

Zur Orientierung Die Appendix (Appendix vermiformis = Wurmfortsatz, sog. Blinddarm), früher oft für entbehrlich gehalten, erfüllt wichtige Aufgaben als Teil des mukosaassoziierten lymphatischen Systems. Ihre Entzündung, die Appendizitis, stellt eines der wichtigsten und häufigsten Krankheitsbilder in der Chirurgie dar.

30.1

Normale Struktur und Funktion

Die Länge der Appendix vermiformis, die großen individuellen Schwankungen unterliegt, beträgt etwa 7–8 cm (Grenzwerte: 0,5–35 cm). Sie entspringt 2–3 cm distal der BauhinKlappe. Die Abgangsstelle ist weitgehend identisch mit dem McBurney-Punkt (Appendizitis!). Die Appendix ist durch das Mesenteriolum frei beweglich. Die Mukosa der Appendix entspricht im Prinzip der kolorektalen Schleimhaut. In der Lamina propria mucosae findet man enterochromaffine Zellkomplexe, die dem neuralen Plexus der Appendixwand zugeordnet werden. Auffallend ist der Reichtum an lymphatischem Gewebe unter Einschluss zahlreicher Lymphfollikel. Die physiologische Bedeutung der Appendix ist noch immer umstritten. Frühere Ansichten, dass die

Appendix ein phylogenetisch rudimentäres Organ sei, sind überholt. Als Teil des mukosaassoziierten lymphatischen, immunkompetenten Gewebes ist auch die Appendix in die Aufrechterhaltung der immunologischen Homöostase des Organismus eingebunden.

30.2

Kongenitale Fehlbildungen

Isolierte kongenitale Fehlbildungen (z.B. Agenesie, Duplikaturen, Gewebsheterotopien) der Appendix sind extrem selten. Klinisch wichtig (Appendizitisdiagnostik!) sind Lageund Fixationsanomalien, sog. Malpositionen (siehe Lehrbücher der Anatomie und Embryologie).

30.3

Entzündliche Erkrankungen

Die Appendizitis ist die mit Abstand häufigste Entzündung im Bereich des Abdomens. Dabei ist unter allen Appendizitisformen die unspezifische Entzündung am häufigsten. Spezifische Appendizitiden (z.B. Tuberkulose) oder histologisch besonders charakterisierbare (z.B. Yersiniosen, Morbus Crohn) bzw. ätiologisch definierte Appendizitisformen (Masernappendizitis mit Warthin-Finkeldey-Zellen, infektiöse Mononukleose) sind selten.

30.3.1

Akute Appendizitis

Epidemiologie Die akute Appendizitis ist eine überaus häufige Erkrankung. Über 50% aller akut entzündlichen Abdominalerkrankungen, so schätzt man, werden durch eine Entzündung der Appendix hervorgerufen. Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Appendizitis wird deutlich, wenn man bedenkt, dass 1973 bei Erwachsenen 8%, bei Kindern 15% aller Krankenhauseinweisungen durch eine Appendizitis verursacht worden waren. In den USA werden jährlich etwa 250000 Patienten wegen einer akuten Appendizitis behandelt. Dabei belaufen sich die Kosten allein für die Diagnostik und Therapie auf umgerechnet 1,4 Milliarden Euro. Allerdings ist in den letzten Jahren ein deutlicher Rückgang der Appendektomien zu beobachten, wahrscheinlich bedingt durch eine präzisere Indikationsstellung und durch eine verbesserte Diagnostik (Sonographie, C-reaktives Protein, Zytologie des Peritonealexsudates, Serotoninspiegel; siehe Lehrbücher der Inneren Medizin und Chirurgie).

Abb. 30-1

Appendizitis.

a Akute Appendizitis mit Primäraffekt. b Akute erosivulzeröse Appendizitis und Periappendizitis. c Akute erosiv–phlegmonöse Appendizitis und Periappendizitis. d Akute ulzerophlegmonöse Appendizitis und Periappendizitis. HE, Vergr. 25fach.

Der Häufigkeitsgipfel der akuten Appendizitis liegt zwischen dem 10. und 30. Lebensjahr. Frühkindliche Appendizitiden sind selten. Selten ist auch die sog. Altersappendizitis. Die auf alle Altersklassen bezogene Letalität der komplikationslos verlaufenden akuten Appendizitis liegt unter 1%. Komplikationen, z.B. Perforationen mit konsekutiver Peritonitis (6–12%), führen zu einer deutlichen Steigerung der Letalitätsrate (5–15%), die vor allem bei älteren Patienten zu beobachten ist.

Ätiologie Seit den grundlegenden bakteriologischen Untersuchungen durch L. Aschoff (1908) wird für die akuten Appendizitiden eine bakterielle Ursache angenommen. Ein spezifischer „Appendizitiskeim“ wurde bislang nicht isoliert. Offensichtlich handelt es sich um eine heterogene Erregergruppe, in der sowohl Aerobier als auch Anaerobier gefunden werden. Unter den Aerobiern dominiert E. coli, unter den Anaerobiern Bacteroides fragilis, unter den Streptokokken St. milleri. Im Allgemeinen dürfte es sich um enterogene, seltener um hämatogene Infektionen han-deln. Neuerdings werden auch nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) als Appendizitisursache diskutiert, da bei akuter Appendizitis statistisch signifikant häufiger eine NSAR–Einnahme nachgewiesen werden konnte.

Pathogenese Die akute Appendizitis ist offenbar ein multifaktorieller Prozess. Zum einen spielen Obstruktionen der Organlichtung (Narben, Stenosen, Fremdkörper, Koprolithen) eine Rolle, zum anderen Besonderheiten im fibromuskulären Bau der Appendix und der damit zusammenhängenden Gefäßversorgung (ischämische „Insulte“). Schließlich werden immunopathische Reaktionen (Immunkomplexe, T–Zell– vermittelte allergische Reaktionen) diskutiert.

Morphologie

Die akute Appendizitis zeigt im Allgemeinen einen stadienhaften Verlauf (Abb. 30– 1). Die einzelnen Stadien können aber fließend ineinander übergehen. Sie sind zum Teil reversibel im Sinne einer Restitutio ad integrum. Häufiger jedoch kommt es im Gefolge von Defektheilungen zur Narbenbildung oder zu partiellen oder totalen Obliterationen.

Stadieneinteilung ■ Primäraffekt mit umschriebenen granulozytären Infiltraten, Erosionen und Fibrinexsudationen. ■ Phlegmonöse Appendizitis mit ausgeprägten neutrophilen Granulozyteninfiltraten in allen Wandschichten. Im Lumen der Appendix findet man ein eitriges Exsudat. Das Organ ist entzündlich geschwollen, hyperämisch, „starr“ (Abb. 30–2). ■ Ulzerophlegmonöse Appendizitis mit phlegmonös entwickelten Entzündungsinfiltraten und tiefen Ulzera. ■ Bei der abszedierenden Appendizitis findet man multiple Wandabszesse. Die Entzündung breitet sich auf das Mesenteriolum aus (Periappendizitis). ■ Bei der gangränösen Appendizitis entwickeln sich große Nekrosezonen, die sekundär durch Fäulniserreger besiedelt werden. Perforationen mit nachfolgender Peritonitis sind vergleichsweise häufig.

Abb. 30-2 Akute phlegmonös–eitrige Appendizitis und Periappendizitis (Operationspräparat).

Kliniach-pathologische Korrelationen Die für die akute Appendizitis einigermaßen typischen klinischen Symptome lassen sich in ihrer zeitlichen Entwicklung gut mit den fließend ineinander übergehenden Stadien der morphologisch fassbaren Veränderungen korrelieren. Initial findet man uncharakteristische Symptome, wie Appetitlosigkeit, Übelkeit und Brechreiz. Es entwickelt sich ein diffuser Schmerz im rechten Unterbauch, der schließlich streng auf den McBurney–Punkt projiziert werden kann. In zunehmendem Maße findet man allgemeine Stigmata einer akuten Entzündung mit den „typischen“

Appendizitiszeichen (z.B. Psoas–, Rovsing– und Obturatorzeichen), mit Fieber und einer mehr oder weniger deutlich ausgeprägten Leukozytose. Zwischen der axillär und rektal gemessenen Temperatur liegt meistens eine Differenz von 1–2°C (rektal– axilläre Temperaturdifferenz). Nach Perforationen und Ausbildung einer eitrigen Peritonitis entwickelt sich eine Schocksymptomatik mit brettharter (Abwehr– )Spannung der Bauchdecke (akutes Abdomen). Klinisch relevante Komplikationen der akuten Appendizitis sind vor allem die organüberschreitende Ausbreitung des entzündlichen Prozesses mit der Entwicklung einer Periappendizitis, einer lokalen Peritonitis bzw. eines perityphlitischen Abszesses, und die Perforationen. Selten sind die diffuse Entzündung des Bauchfells (Peritonitis; siehe Kap. 35.2), die retrozökale Phlegmone (bei retrozökal gelegener Appendix), der subphrenische Abszess oder der pylephlebitische Leberabszess (siehe Kap. 32.4.3). Verwachsungen oder ein Strangulationsileus können als Spätkomplikationen auftreten.

30.3.2

Chronische bzw. rezidivierende Appendizitis

Die „primär“ chronische Appendizitis wird nach wie vor außerordentlich kontrovers diskutiert. Es ist fraglich, ob es eine primär–chronische Appendizitis als eigenständiges Krankheitsbild tatsächlich gibt. Dagegen sind immer wieder auftretende akut– entzündliche Schübe im Ablauf einer Appendizitis ein durchaus geläufiger Befund. Viele dieser Fälle verlaufen klinisch offenbar unter dem Bild einer chronischen Entzündung. Insofern wird seitens der Klinik die chronische Appendizitis überaus häufig diagnostiziert. Oft aber bleiben die Beschwerden auch nach einer Appendektomie bestehen. Deswegen wird bei vielen Patienten mit einer vermeintlich chronischen Appendizitis eine psychische Problematik vermutet. Die häufig zu beobachtende narbige Obliteration dürfte kaum das morphologische Korrelat der klinisch diagnostizierten chronischen Appendizitis sein.

30.4

Neurogene Appendikopathie

Dieses durchaus nicht seltene Krankheitsbild ist wenig bekannt. Bei der neurogenen Appendikopathie („Präkarzinoid“) findet man eine neuromartige Proliferation nervaler Strukturen der Appendixwand. Klinisch ist sie nicht oder nicht eindeutig von akuten und chronisch–rezidivierenden Appendizitiden zu unterscheiden.

Morphologie

Morphologisch werden drei Typen der neurogenen Appendikopathie unterschieden: ■ Intramukosale Proliferationen, die an der Grenze zur Lamina muscularis mucosae beginnen und zu einer Dissoziation der Schleimhautkrypten führen.



Zentrales (= axiales) Neurom.



Submuköse neuromuskuläre Proliferationen (Abb. 30–3).

Abb. 30-3 Neurogene Appendikopathie.

a Intramuköse und submuköse neuromuskuläre Proliferationen (= subepithelialer neuroendokriner Komplex). b Zentrales (axiales) Neurom.

30.5

Mukozele

Unter einer Mukozele wird die partielle oder auch komplette Organauftreibung durch massive Schleimansammlungen verstanden (Abb. 30–4). Nach größeren Statistiken ist sie bei Appendektomiepräparaten in 0,22–0,32% zu beobachten. Durch Sekundärinfektion

kann sich das sehr seltene Empyem, durch Perforation ein Pseudomyxoma peritonei (siehe Kap. 35.4.3) entwickeln.

Abb. 30-4 Mukozele der Appendix (Operationspräparat).

a Kolbig aufgetriebene Appendix mit massiver Schleimansammlung. b Zustand nach Entfernung der Schleimmassen.

Ätiologie und Pathogenese

Ätiologisch und pathogenetisch spielen vor allem Obstruktionen (Obstruktionsmukozele), eine vermehrte Schleimsekretion bei hyperplastischen Polypen, muzinösen Zystadenomen, muzinösen Tumoren vom UMP(uncertain malignant potential)–Typ oder muzinösen Adenokarzinomen (neoplastische Mukozele) eine Rolle.

Eine besondere Variante der obstruktiven Mukozele stellt die seltene Myxoglobulose („Kaviar–Appendix“) dar, bei der in der Lichtung der Appendix perlenartige und z.T. verkalkte Schleim–„Kugeln“ gefunden werden. Ein Sonderfall ist die Mukozele bei Mukoviszidose (siehe Kap. 5.3.2).

30.6

Tumoren

Primäre Appendixtumoren und Metastasen in der Appendix sind selten. Das gilt sowohl für benigne und maligne epitheliale (Adenome, Karzinome) als auch für nicht–epitheliale Tumoren (z.B. Ganglioneurome, Fibrome, Lipome, myogene Tumoren u.a.). Nach der WHO–Klassifikation von 2000 unterscheidet man die Appendixtumoren wie folgt: Epitheliale Tumoren: ■ Adenome: tubulär, villös, tubulovillös, serrated (siehe auch Kap. 31.8.1) ■ Karzinome: □

Adenokarzinome



Muzinöse Adenokarzinome



Siegelringzellkarzinome



Kleinzellige Karzinome



Undifferenzierte Karzinome

■ Neuroendokrine Tumoren (Karzinoide) (s. Kap. 17.3.1) ■ Tubuläre neuroendokrine Tumoren ■ Becherzellige neuroendokrine Tumoren ■ Mischformen: neuroendokrine Tumoren/Adenokarzinom Nichtepitheliale Tumoren: ■ Neurome, Lipome, Leiomyome ■ Gastrointestinale Stromatumoren, Leiomyosarkome, Kaposi–Sarkome, maligne Lymphome Sekundäre Tumoren (Metastasen) Hyperplastische Polypen (siehe auch Kap. 31.9.1).

Amerikanischen Studien zufolge findet man bei Appendektomien in 0,9–1,4% Karzinome (kolontypische Adenokarzinome, muzinöse Adenokarzinome, Siegelringzellkarzinome, „maligne“ Tumoren, becherzellige neuroendokrine Tumoren). Neuroendokrine Tumoren der Appendix (Appendixkarzinoide) sind mit 45–85% die weitaus häufigsten Tumoren der Appendix und entsprechen morphologisch den neuroendokrinen Tumoren in anderen Darmabschnitten (siehe Kap. 17.3.1). Becherzellige neuroendokrine Tumoren (Adenokarzinoid, muzinöses Karzinoid) sind seltene Appendixtumoren. Exakte Häufigkeitsangaben fehlen. Makroskopisch (bzw. klinisch) wird das Bild meist von einer „aufgepfropften“ Appendizitis geprägt. Die Tumorgröße liegt im Mittel bei 1,4 cm. Histologisch (Abb. 30–5) findet man PAS– und Alcianblau–positive Becherzellen sowie endokrine, argentaffine und argyrophile Zellen, die inkonstant Chromogranin A, Serotonin, pankreatisches Polypeptid, Enteroglukagon und Somatostatin exprimieren. Die Tumorzellkomplexe liegen vor allem in der Submukosa und in den tiefen Wandschichten. In etwa 3% findet man Metastasen in regionären Lymphknoten, im Peritoneum, in der Leber und in den Ovarien (bilateral als sog. Krukenberg–Tumoren, siehe Kap. 39.1.7). Maligne Lymphome als primäre und ausschließliche Manifestation in der Appendix sind extrem selten (Abb. 30–6). Histologisch handelt sich überwiegend um maligne Lymphome vom Burkitt–Typ (siehe Kap. 22.2.2).

Abb. 30-5 Becherzellige neuroendokrine Tumoren.

a Übersicht mit Schleimhautanteilen (oben). Im unteren Schleimhautstroma, v.a. aber in den tieferen Wandschichten Gruppen von Tumorzellkomplexen aus Becher– und endokrinen Zellen. PAS, Vergr. 35fach. b Ausschnittsvergrößerung. PAS, Vergr. 70fach. c Ausschnittsvergrößerung mit positiver CEA–Reaktion. Vergr. 70fach.

30.7 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Erkrankungen der Appendix Die mit Abstand häufigste Indikation zur Appendektomie ergibt sich aus dem Verdacht einer Appendizitis. Auch intraoperativ werden z.B. Endometrioseherde, neurogene Appendikopathien, neuroendokrine Tumoren, Karzinome oder maligne Lymphome nur selten erkannt. Aus chirurgischen Statistiken ist bekannt, dass etwa ⅔ der histologisch diagnostizierten Appendixkarzinome intraoperativ nichterkannt werden. Allein diese Situation unterstreicht die Notwendigkeit, jede operativ entfernte Appendix histologisch zu untersuchen.

Abb. 30-6 Isoliertes malignes Non–Hodgkin–Lymphom (ML) der Appendix vom Burkitt–Typ.

Appendektomiepräparat, 11–jähriges Mädchen. Das Lumen nahezu komplett verschließende Tumorinfiltration aller Wandschichten. In der tumorfreien Appendixspitze eine obstruktionsbedingte Appendizitis. Tumorfreies Mesenteriolum, tumorfreier Absetzungsbereich. In einer umfangreichen Staginguntersuchung keine weiteren Lymphommanifestationen.

Literatur

Carr, N.J., M.J. Arends, G.T. Deans, L.H. Sobin: Tumors of the appendix. Adenocarcinoma of the appendix. In: Hamilton, S.R., L.A. Aaltonen (eds.): Pathology & Genetics. Tumors of the digestive system. WHO classification of tumors, pp 93–98. IARC Press, Lyon 2000.

McCusker, M.E., T.R. Cote, L.X. Clegg, L.H. Sobin: Primary malignant neoplasms of the appendix. A population–based study from the surveillance, epidemiology and end– results program, 1973–1998. Cancer 94: 3307–3312, 2002. Remmele, W.: Appendix vermiformis. In: Remmele, W. (Hrsg.): Pathologie, Bd. 2, 2. Aufl., S. 489–532. Springer, Berlin–Heidelberg–New York 1996.

FRAGEN 1 Nennen Sie die wichtigste und häufigste Erkrankung der Appendix und deren Folgen. 2 Welches sind die Indikationen zur morphologischen Untersuchung der in diesem Kapitel beschriebenen Krankheiten? Welche Untersuchungen sind indiziert? Welchen Beitrag können diese Untersuchungen zur präzisen Diagnostik und zur Planung der Therapie leisten?

31 Kolon und Rektum H. F. OTTO H. E. GABBERT 31.1

Normale Struktur und Funktion 726

31.2

Kongenitale Fehlbildungen 726

31.2.1

Anorektale Atresien und Stenosen 726

31.2.2

Angeborene Störungen der kolorektalen Innervation 727

Aganglionose (Morbus Hirschsprung) 727 Hypoganglionose 728 Totale Aganglionose 728 Neuronale intestinale Dysplasie 728 31.3

Divertikel 729

31.4

Durchblutungsstörungen des Kolons und Rektums 729

31.4.1

Hämorrhagische Infarzierung (Infarkt) 729

31.4.2

Ischämische Kolitis 729

31.5

Entzündliche Erkrankungen 730

31.5.1

Mikrobiell verursachte Entzündungen 731

Bakterielle Ruhr 731 Venerische Erkrankungen 731 Amöbenruhr 731 Schistosomendysenterie 732 Enterokolitiden durch opportunistische Infektionen 732 31.5.2

Idiopathische chronisch-entzündliche Darmerkrankungen 732

Colitis ulcerosa 733 Morbus Crohn 735

Extraintestinale Krankheitsmanifestationen 736 Komplikationen 737 31.5.3

Sonstige Kolitiden 738

Medikamentös verursachte (Entero-) Kolitiden 738 Kollagene und lymphozytäre Kolitis 739 Diversionskolitis 739 Strahleninduzierte Enterokolitiden 740 31.5.4

Entzündliche Erkrankungen der anorektalen Grenzregion 740

Analfissuren 740 Perianalabszesse 740 Perianalfisteln 740 31.6

Solitäres Ulkus-Syndrom 740

31.7

Sonstige Dickdarmerkrankungen 741

31.7.1

Melanosis coli 741

31.7.2

Pneumatosis coli 741

31.7.3

Amyloidose 742

31.7.4

Malakoplakie 742

31.8

Kolorektale Tumoren 742

31.8.1

(Sporadisch auftretende) Epitheliale Tumoren 742

Adenome 742 Kolorektale Karzinome 744 31.8.2

Hereditäre kolorektale Tumoren 746

Familiäre Adenomatosis coli 746 Autosomal-dominant erbliches Kolonkarzinom ohne Polypose (HNPCC) 748 Peutz-Jeghers-Syndrom 749

Juvenile Polypen, familiäre juvenile Polypose 750 Cowden-Syndrom 751 Li-Fraumeni-Syndrom 751 Neurofibromatose Typ 1 751 31.8.3

Nichtepitheliale Tumoren 751

31.9

Polypoide tumorartige kolorektale Läsionen 751

31.9.1

Hyperplastische Polypen 751

31.9.2

Gutartige lymphoide Polypen 751

31.9.3

Cronkhite-Canada-Syndrom 752

31.9.4

Endometriose 752

31.10

Tumorartige Läsionen und Tumoren der anorektalen Grenzregion 752

31.10.1

Kondylome 752

31.10.2

Bowenoide Papulose 752

31.10.3

Anale Karzinome 752

31.10.4

Anale Melanome 753

31.11 753

Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik kolorektaler Erkrankungen

Literatur 753 Fragen 754

Zur Orientierung Das Kolon erfüllt als Aufbereitungs- und Ausscheidungs-organ von Nahrungsbestandteilen sowie durch Resorptions- und Sekretionsvorgänge wichtige Aufgaben im Organismus. Durch das assoziierte lymphatische Gewebe ist die Kolonmukosa auch in immunologische Abwehrfunktionen einge-schaltet. Voraussetzungen für eine normale Organfunktion sind intakte Mukosa, adäquate Durchblutung und ungestörter Abtransport des potentiell aggressiven Darminhalts. Krankhafte Veränderungen äußern sich in Diarrhöen, Blutungen und Passagestörungen und finden ihr morphologisches Substrat in Entzündungen, degenerativen Veränderungen, Nekrosen und Neoplasien. Durch die modernen endoskopischen und bioptischen Methoden hat die makroskopische

und mikroskopische Pathologie einen besonderen Stellenwert in der Diagnostik gastrointestinaler Erkrankungen gewonnen.

31.1

Normale Struktur und Funktion

Der Dickdarm beginnt an der Valvula ileocaecalis Bauhini und endet mit dem Analkanal. Zum Dickdarm gehören Kolon, Rektum und Analkanal. Am Kolon werden anatomisch fünf Abschnitte unterschieden: Zäkum, Colon ascendens, Colon transversum, Colon descendens und Colon sigmoideum. Rektum und Analkanal bilden das funktionelle Abschlusssystem des Intestinaltrakts. Dieses sog. Kontinenzorgan besteht aus dem Corpus cavernosum recti, dem glattmuskulären M. sphincter ani internus, den äußeren und willkürlich innervierten Sphinkteren und der sensiblen und dehnbaren Haut des Analkanals (Abb. 31-1). Das Kolon ist Aufbereitungs- und Ausscheidungsorgan nicht resorbierter bzw. nicht resorbierbarer Nahrungsbestandteile. Es erfüllt Resorptions- (v.a. von Wasser) und Sekretionsaufgaben. Schließlich sind Kolon und Rektum immunologische Organe (mukosaassoziiertes lymphatisches Gewebe), die mit luminalen antigenen Substanzen (Bakterien, Viren und Nahrungsbestandteile) in Kontakt treten und an der Aufrechterhaltung der immunologischen Homöostase des Organismus beteiligt sind.

Abb. 31-1 Topographische Gliederung des Kontinenzorgans.

31.2

Kongenitale Fehlbildungen

Unter den kolorektalen Fehlbildungen werden wegen der besonderen klinischen Relevanz die verschiedenen Formen der Atresien und Stenosen sowie die angeborenen Störungen der kolorektalen Innervation beschrieben.

31.2.1

Anorektale Atresien und Stenosen

Atresien und Stenosen gehören zu den häufigsten Fehlbildungen des anorektalen Bereichs. Sie sind zugleich die wichtigsten Erkrankungen im Rahmen der kindlichen Rektumchirurgie (siehe Lehrbücher der Kinderchirurgie). Hinsichtlich der Lokalisation der Rektumatresien unterscheidet man zwischen oberhalb (supralevatorisch) und unterhalb (translevatorisch) des M. levator ani gelegenen Formen (Abb. 31-2). Beiden Formen liegen eine unterschiedliche embryogenetische Entwicklung und Anatomie zugrunde. Daraus resultieren unterschiedliche chirurgische Therapieverfahren. Zudem unterscheiden sich beide Fehlbildungskomplexe durch das Ausmaß und die Häufigkeit weiterer assoziierter Fehlbildungen und damit auch in der Prognose.

Abb. 31-2 Schematische Darstellung häufiger Formen anorektaler Fehlbildungen.

a Anorektale Agenesie mit rektourethraler Fistel (= hohe supralevatorische Fehlbildung).

b Analatresie mit anokutaner Fistel bei Knaben. c Analatresie mit anovestibulärer Fistel bei Mädchen. d Analatresie mit anokutaner Fistel bei Mädchen.

31.2.2 Angeborene Störungen der kolorektalen Innervation Angeborene Innervationsstörungen sind relativ häufig und beruhen im Allgemeinen auf einer Hemmungsfehlbildung der kolorektalen Innervation. Sie manifestieren sich bereits im frühen Kindesalter als Megakolon. Nach Ausdehnung und Lokalisation des fehlerhaft innervierten Darmsegments können verschiedene Krankheitsbilder unterschieden werden.

Aganglionose (Morbus Hirschsprung) Syn.: Megacolon congenitum

Definition Beim Morbus Hirschsprung fehlen die Ganglienzellen der intramuralen Plexus (Plexus submucosus Meissner und Plexus myentericus Auerbach) in einem bestimmten Darmsegment, üblicherweise im Rektum (Aganglionose). Diese Aganglionose geht mit einer Hypertrophie cholinerger parasympathischer Nervenfasern einher. Dadurch wird die spasmogene Wirkung des extramuralen Parasympathikus nicht gedrosselt, und es kommt zu einer spastischen Dauerkontraktion der kolorektalen Muskulatur in diesem Bereich. Es entsteht eine funktionelle Obstruktion (Stenose); proximal davon erweitert sich sekundär das Darmlumen (Megakolon). In 82% sind bei der Aganglionose nur das Rektum mit oder ohne Sigma betroffen („Short segment“-Aganglionose). 4% gehören zur „Long segment“-Aganglionose, bei der der krankhaft veränderte Dickdarmabschnitt insgesamt 40 cm und mehr lang ist. In etwa 13% ist das gesamte Kolon betroffen (siehe unten). In wenigen Fällen können auch aganglionäre Segmente im Dünndarm beobachtet werden.

Epidemiologie Angaben zur Häufigkeit des Morbus Hirschsprung schwanken erheblich (3,3 bis 100 Fälle pro 100 000 Einwohner). Exakte Zahlen zur Inzidenz und Prävalenz fehlen. Knaben sind etwa viermal häufiger betroffen als Mädchen.

Ätologie und Pathogenese Ätiologie und Pathogenese sind keineswegs geklärt. Unter pathogenetischen Aspekten werden sog. „späte Defekte“ der Neuroblastenmigration, Reifungsstörungen eingewanderter Neuroblasten, temporäre Ischämien des Darms oder auch intrauterine (virale) Infektionen diskutiert. 7% aller Hirschsprung-Fälle weisen eine familiäre Häufung auf. In diesem Zusammenhang sind Befunde interessant, die auch beim Morbus Hirschsprung Mutationen im Ret-Gen, einem an der Genese von Schilddrüsenkarzinomen beteiligten Protoonkogen, belegen. Kombinationen mit anderen Fehlbildungen (z.B. Mukoviszidose, Brachydaktylie, Down-Syndrom) sind selten.

Morphologie Das aganglionäre Darmsegment ist hochgradig eingeengt (spastische Dauerkontraktion). Proximal der Stenose entwickelt sich ein sekundäres Megakolon (Abb. 31-3 und 31-4), das bei etwa 15% der Patienten unterschiedlich schwere und teilweise auch nekrotisierende Entzündungen (durch Clostridium difficile) aufweisen kann. Proximal des aganglionären Segments findet sich gelegentlich eine hypoganglionäre Übergangszone oder die Kombination mit der neuronalen intestinalen Dysplasie (siehe unten).

Abb. 31-3

Morbus Hirschsprung.

Präoperativer Röntgenbefund zum Operationspräparat der Abb. 31-4.

Klinisch-pathologische Korrelationen Der Morbus Hirschsprung wird an rektosigmoidalen bzw. an koloskopischen Biopsien (Stufenbiopsien!) mittels histochemischer und immunhistochemischer Methoden diagnostiziert. Tiefe, transmurale Biopsien zum Nachweis oder Ausschluss von Ganglienzellen sind heute nicht mehr indiziert. Durch die Darstellung der Acetylcholinesterase-Aktivität (cholinerge Nerven), der Laktatdehydrogenase und/oder Succinatdehydrogenase (Ganglienzellen) und durch den Einsatz immunhistochemischer Marker (NSE [Ganglienzellen], S-100-Protein und mikrotubulusassoziierte Proteine [Nervenfasern]) ist der Morbus Hirschsprung gut zu diagnostizieren (Abb. 31-5). Die Therapie erfolgt durch Resektion des aganglionären (engen!) Darmsegments.

Abb. 31-4 Morbus Hirschsprung(Operationspräparat).

Aganglionäres Segment mit spastischer Stenose (aganglionäres Segment, aS). Proximal der Stenose das sekundäre Megakolon (sM).

Hypoganglionose Bei der Hypoganglionose handelt es sich um eine generelle Hypoplasie aller nervalen Strukturen der Darmwand. Im Gegensatz zum Morbus Hirschsprung fehlen Acetylcholinesterase-positive Nervenfasern in der Muscularis mucosae und in der Lamina propria mucosae.

Die Hypoganglionose kann einerseits als eigenständiges Krankheitsbild (sog. „isolierte“ Hypoganglionose, selten) auftreten, andererseits wird sie beim Morbus Hirschsprung als „Übergangszone“ zwischen dem aganglionären Segment und der normalen Darmwand gefunden.

Totale Aganglionose Syn.: Zuelzer-Wilson-Syndrom

Definition Beim Zuelzer-Wilson-Syndrom handelt es sich um eine totale Aganglionose des gesamten Dickdarms. Die Ganglienzellen der intramuralen Plexus (Meissner und Auerbach) fehlen. In seltenen Fällen können Segmente des Ileums, des Duodenums und des Magens betroffen sein.

Epidemiologie Angaben zur Häufigkeit des Zuelzer-Wilson-Syndroms schwanken erheblich. In größeren Statistiken zur Häufigkeit und Verteilung der verschiedenen Aganglionosen wurden Werte zwischen 8 und 13% gefunden. Eine eindeutige Geschlechtsdisposition scheint nicht zu bestehen. Familiäre Häufungen wurden beschrieben. Die Letalität ist hoch und wird in der Literatur unterschiedlich mit Werten zwischen 45 und 80% angegeben.

Abb. 31-5

Morbus Hirschsprung (Rektumbiopsie).

Histochemische Darstellung der Acetylcholinesterase im Bereich der parasympathischen Nervenfasern im Schleimhautstroma. MM = Muscularis mucosae. Vergr. 120fach.

Morphologie

Das Zuelzer-Wilson-Syndrom präsentiert sich als Mikrokolon mit einer Kontraktion der Muscularis propria und ohne jegliche Peristaltik.

Neuronale intestinale Dysplasie Bei der neuronalen Kolondysplasie (neuronale intestinale Dysplasie = NID) handelt es sich um angeborene Entwicklungsstörungen der sympathischen Darminnervation (Hypoplasie, Aplasie des Sympathikus), die den gesamten Darmtrakt betreffen können. Je nach Ausdehnung der Dysplasie lassen sich lokale und disseminierte Formen voneinander abgrenzen. Es werden zwei Typen unterschieden: ■ NID, Typ A (10–15% aller NID-Formen). Die sympathische Innervation ist rudimentär angelegt oder fehlt. Der Parasympathikotonus ist erhöht. Neben

Darmspasmen entwickeln sich ulzeröse Kolitiden und blutige Durchfälle. Die Krankheit verläuft im Allgemeinen akut. ■ NID, Typ B (60–70% aller NID-Formen). Man findet im Bereich des Plexus submucosus Riesenganglien mit vielen, sehr kleinen Ganglienzellen („Hyperganglionose“) und heterotope Ganglienzellen in der Mukosa. In der klinischen Symptomatik imponiert eine Adynamie des Kolons mit der Entwicklung eines Megakolons. Kombinationsformen sind möglich. In etwa 20% ist die NID mit einem aganglionären Hirschsprung-Segment kombiniert.

31.3

Divertikel

Divertikel sind Ausstülpungen (Herniationen) von Darmwandschichten. Je nach Wandaufbau und hinsichtlich der zugrunde liegenden Entstehungsmechanismen kann man zwischen echten, meist angeborenen (z.B. Meckel-Divertikel, siehe Kap. 29.2.3) und falschen Divertikeln unterscheiden. Die Wand der echten Divertikel wird von allen Darmwandschichten gebildet, während die der falschen Divertikel meist nur aus Mukosa und Lamina muscularis mucosae besteht. Klinisch bedeutsam sind v.a. die falschen Divertikel. Sie sind erworben und werden auch als Pseudodivertikel oder Graser-Divertikel bezeichnet. Die Graser-Divertikel kann man in komplette (= extramurale) und inkomplette (= intramurale) untergliedern. Sie treten zumeist multipel (Divertikulose), überwiegend im Colon sigmoideum, auf und führen altersabhängig zu einer progredienten klinischen Symptomatik, die schließlich als Divertikelkrankheit imponiert. Die Sigmadivertikulose nimmt mit zunehmendem Alter an Häufigkeit zu. Jenseits des 70. Lebensjahres findet man sie bei über 30% aller Menschen. Eine Geschlechtsdisposition besteht nicht.

Ätiologie Es werden verschiedene prädisponierende und auslösende Faktoren diskutiert. Eine wichtige Rolle spielen – neben chronischer (venöser) Blutstauung, Fehlernährung und chronischer Obstipation – präformierte Gefäßlücken in der Muscularis propria. Hinzu kommen funktionelle Darmstörungen mit erhöhtem Muskeltonus und isometrischen Kontraktionen, die zu erheblichen intraluminalen Druckanstiegen führen. Möglicherweise spielen zusätzlich Kollagendefekte eine Rolle (Divertikel bei Marfanund Ehlers-Danlos-Syndrom).

Morphologie Die Divertikel sind meistens zweireihig zwischen den mesenterialen und antimesenterialen Tänien entwickelt (Abb. 31-6). Die herniösen Ausstülpungen

betreffen die Mukosa und die Muscularis mucosae. Innerhalb der Divertikel findet man häufig Skybala und Koprolithen. Die Muscularis propria ist deutlich verdickt aufgrund des permanent erhöhten Muskeltonus. In der Folge entwickeln sich Entzündungen und Ulzera (Divertikulitis), die auf die Umgebung übergreifen (Peridivertikulitis).

Abb. 31-6 Sigmasegmentresektat mit zahlreichen Graser-Divertikeln.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Divertikulose führt zu zahlreichen Komplikationen. Die häufigste und zugleich wichtigste Komplikation, die bei mehr als 50% der Patienten auftritt, ist eine durch koprostatische Drucknekrosen eingeleitete, chronisch progrediente Entzündung der Divertikel, die Divertikulitis. Da dieser Prozess synchron in zahlreichen Divertikeln abläuft, entwickelt sich ein breites peridivertikuläres Entzündungsfeld (Peridivertikulitis, Perisigmoiditis) mit der Tendenz zur Vernarbung (Divertikulitis„Tumor“). Diese chronisch proliferative Entzündung kann zu zahlreichen Sekundärkomplikationen wie Bauchwandphlegmonen, freien Perforationen (Peritonitis), Fisteln oder Ureterstrikturen führen. Darüber hinaus ruft die Divertikelkrankheit bei 5–50% aller Patienten eine unterschiedlich schwere Blutung hervor, die entweder als akute Massenblutung oder als rezidivierende Blutung (Blutbeimengung im Stuhl) auftreten kann.

31.4

Durchblutungsstörungen des Kolons und Rektums

Durchblutungsstörungen des kolorektalen Bereichs manifestieren sich in unterschiedlicher Häufigkeit und Intensität. Das außerordentlich breit gefächerte Ursachenspektrum ist in Tab. 31-1 und Tab. 31-2 zusammengefasst. Bezüglich der einzelnen Krankheitsbilder wird auf die entsprechenden Unterkapitel und auf Kap. 29.5 verwiesen.

31.4.1

Hämorrhagische Infarzierung (Infarkt)

Arterielle Minderdurchblutungen (Herzinsuffizienz, Low-Output-Syndrom) in Verbindung mit arteriosklerotischen Gefäßveränderungen sind wahrscheinlich die häufigste Ursache hämorrhagischer Infarkte. Selten sind radikuläre und trunkuläre Thrombosen der Mesenterialvenen bzw. des Pfortadersystems (Infarzierung).

Morphologie

Die betroffenen kolorektalen Darmabschnitte sind dilatiert, die Schleimhaut ist gerötet, ödematös. Die Darmwand weist unterschiedlich tief reichende Ulzerationen auf (Perforationsgefahr!) und ist brüchig. In der Darmlichtung findet man im Allgemeinen reichlich Blut, serosaseitig eine fibrinöshämorrhagische Peritonitis. Sekundäre bakterielle Besiedlungen können zu einer Gangrän der Darmwand führen (Endotoxinschock). Wird die akute Ischämiephase überlebt, können sich als Folge reparativer Bindegewebsproliferationen unterschiedlich lange Strikturen und Stenosen entwickeln.

31.4.2

Ischämische Kolitis

Definition Bei der ischämischen Kolitis handelt es sich um eine inkomplette oder komplette Ischämie der kolorektalen Darmwand (ischämische Kolopathie). Das Schädigungsmuster reicht von reinen Schleimhautläsionen (ischämischer Innenschichtschaden) bis zu transmuralen Nekrosen im Sinne des hämorrhagischen Infarkts. Die entzündlichen Infiltrate (Kolitis) sind im Allgemeinen sekundärer Natur.

T Tab. 31-1 Ursachen vaskulärer Ischämie-reaktionen des Intestinaltrakts.

Epidemiologie Exakte Angaben zur Häufigkeit ischämischer Kolitiden liegen nicht vor. Das liegt vor allem daran, dass leichte Verlaufsformen mit einer uncharakteristischen Abdominalsymptomatik unerkannt bleiben. Nach Erfahrungen anhand eines großen bioptischen Untersuchungsgutes muss davon ausgegangen werden, dass die ischämische Kolitis vor allem bei älteren Menschen ein häufiges Krankheitsbild ist.

Pathogenese Wie im Bereich des Dünndarms (siehe Kap. 29.5) kann unter pathogenetischen Aspekten zwischen okklusiv (Atherosklerose, Thrombosen, Embolien) und nichtokklusiv bedingten ischämischen Kolitiden unterschieden werden. Bei letzteren spielen Vasokonstriktionen im Splanchnikusgebiet („cardiac low output“-Syndrom), Medikamente (Tab. 31-1), Endotoxine sowie hypotone Kreislaufdepressionen eine Rolle. Die Ischämie manifestiert sich vor allem in den Grenzbereichen der arteriellen Blutversorgung (z.B. linke Kolonflexur: Grenzbereich A. mesenterica superior – inferior).

Tab. 31-2 Entzündliche und degenerative Gefäßerkrankungen als Ursache für intestinale Ischämiereaktionen. Vaskulitiden und Kollagenosen Große Gefäße ■ Pan- bzw. Polyarteriitis nodosa ■ Riesenzellarteriitis ■ M. Takayasu ■ Thrombangiitis obliterans Kleine Gefäße ■ Purpura Henoch-Schoenlein ■ M. Degos (maligne atrophische Vaskulitis) ■ Mikroskopische Polyarteriitis ■ Wegener-Granulomatose

■ Behçet-Syndrom ■ Churg-Strauss-Syndrom (allergische Granulomatose) ■ Systemischer Lupus erythematodes ■ Sklerodermie ■ Rheumatoide Arthritis ■ Dermatomyositis Erkrankungen bzw. iatrogene Schädigungsmuster mit sekundär entzündlichen Gefäßveränderungen ■ Radiogene Vaskulopathie ■ Infektionen, u.a. Syphilis, Tuberkulose, Hepatitis Weitere und vorwiegend degenerative Schädigungsarten ■ Amyloidose ■ Ehlers-Danlos-Syndrom ■ Pseudoxanthoma elasticum

Morphologie In Abhängigkeit von der Ischämiedauer (akut – chronisch) findet man oberflächliche Schleimhautnekrosen mit hämorrhagischen Pseudomembranen, Kapillarthromben, unterschiedlich alte Blutungen (Siderophagen). Die Schleimhautkrypten sind rarefiziert, atrophisch. Das Schleimhautstroma zeigt typischerweise eine hyaline Fibrose (Abb. 31-7).

31.5

Entzündliche Erkrankungen

Entzündliche Dickdarmerkrankungen umfassen ein breites Spektrum ätiologisch und pathogenetisch verschiedener Krankheitsbilder. Vor allem die idiopathischen chronischentzündlichen Darmerkrankungen (Colitis ulcerosa und Morbus Crohn) spielen wegen ihrer vielfältigen Komplikationen und ihrer sozialmedizinischen Bedeutung bei uns eine besondere Rolle. Sie sind ätiologisch und pathogenetisch noch ungeklärt.

Abb. 31-7 Ischämische Kolitis, Kolonbiopsie.

Die Schleimhautkrypten (K) sind rarefiziert, z.T. atrophisch. Das Schleimhautstroma zeigt eine hyaline Fibrose (Sterne). Fibrinbelegte und granulozytär demarkierte Erosionen (Pfeile). Im Schleimhautstroma und in der Subserosa (Sub) ein unterschiedlich dicht liegendes Entzündungsinfiltrat. MM = Muscularis mucosae. HE, Vergr, 35fach

31.5.1

Mikrobiell verursachte Entzündungen

Bakterielle Ruhr Syn.: Shigellose

Ätiologie Die bakterielle Ruhr wird durch verschiedene Shigella-Arten hervorgerufen. Es handelt sich um unbewegliche gramnegative Stäbchen. Man unterscheidet vier Gruppen: ■ Gruppe A: Shigella dysenteriae mit verschiedenen Serotypen, die Exotoxine bilden ■ Gruppe B: Shigella flexneri ■ Gruppe C: Shigella boydii mit wenigstens 15 Serotypen

■ Gruppe D: Shigella sonnei. Toxinarme Formen werden in Analogie zu den Paratyphosen als Paradysenterie(Flexner-)Gruppe bzw. als Metadysenterie-(Kruse-Sonne-)Gruppe zusammengefasst.

Epidemiologie In Mitteleuropa werden etwa 80% aller Ruhrerkrankungen durch Shigellen der Gruppe D, 11–13% durch Shigellen der Gruppe B und nur 1% durch Shigellen der Gruppe A verursacht.

Pathogenese

Die Infektion erfolgt per os durch kontaminierte Nahrungsmittel oder durch eine direkte Übertragung von Mensch zu Mensch (Kontaktinfektion). Ruhrbakterien sind invasive und destruierende Keime, die zu einer direkten Epithelschädigung führen (siehe auch Abb. 29-11). Die Bakterien breiten sich horizontal im Mukosaepithel aus. Sie bilden hitzelabile Toxine, die neuro-, entero- und zytotoxisch wirken.

Morphologie Zu Beginn der Erkrankung ist die Darmschleimhaut gerötet und entzündlich geschwollen (= katarrhalische Ruhr). Bei schweren Infektionen entwickelt sich eine pseudomembranöse und nekrotisierende Entzündung (= pseudomembranösnekrotisierende Ruhr), die schließlich zu tiefen Ulzerationen führt (= ulzeröse Ruhr).

Klinisch-pathologische Korrelationen Die bakterielle Ruhr verläuft in der Regel als akute Infektionskrankheit. Nach einer Inkubationszeit von 2–7 Tagen beginnt sie mit Inappetenz, Übelkeit und Leibschmerzen. Die zahlreichen Stuhlentleerungen sind anfänglich wässrigschleimig (weiße Ruhr), später blutig (rote Ruhr). Die Durchfälle führen zu erheblichen Störungen im Wasser- und Elektrolythaushalt. Die bakterielle Ruhr dauert Tage bis Wochen. Es folgen Wochen der Rekonvaleszenz. Rezidive sind häufig. Übergänge in chronische Verlaufsformen werden in 5–10% gefunden.

Venerische Erkrankungen Venerische Infektionen (Gonorrhö, Lues, Lymphogranuloma venereum, Herpes simplex) des Dickdarms sind – mit Ausnahme der Herpes-simplex-Proktitis – selten und manifestieren sich v.a. im Rektum. Es entwickelt sich teils eine akute bzw. subakute, teils eine chronisch vernarbende, strikturierende Entzündung. Diese Strikturen gelten als fakultative Präkanzerosen.

Rektale Infektionen mit Herpes simplex (Typ 2) sind offenbar wesentlich häufiger als bislang angenommen und verursachen vermutlich mehr als 30% aller Proktitiden bei Homosexuellen.

Amöbenruhr Ätiologie Bei der Amöbenruhr (= invasive Amöbiasis) handelt es sich um eine meldepflichtige Infektion mit Entamoeba histolytica.

Epidemiologie Die Amöbenruhr kommt praktisch in allen Ländern der Welt vor. Sie tritt besonders häufig in tropischen und subtropischen Regionen auf, wo 50–80% der dort lebenden Bevölkerung mit Entamoeba histolytica infiziert sind; weltweit waren es 1981 480 Mio. Menschen. Davon litten 36 Mio. an einer klinisch manifesten Amöbenruhr oder an extraintestinalen Manifestationen. 40000 Menschen starben an den unmittelbaren Folgen der Amöbenruhr. Der Durchseuchungsgrad der Bevölkerung ist abhängig von den jeweiligen sanitären und hygienischen Verhältnissen.

Pathogenese Die Erreger kommen in der Darmlichtung als Zysten (unbewegliche Dauerformen) und als vegetative Minutaformen (Trophozoiten) vor. Die Zysten werden mit dem Stuhl ausgeschieden. Sie besitzen eine hohe Umweltresistenz und sind u.a. magensaftresistent. Nach oraler Aufnahme der Zysten durch fäkal verunreinigtes Trinkwasser und/oder Speisen kommt es im Darm zur Freisetzung der Amöben und unter gegebenen Umständen – hohe Virulenz, reduzierte Resistenz – zur Infektion. Dabei wandeln sich die Trophozoiten in die aggressiven und invasiven Magnaformen um, die durch ihre proteolytischen Enzyme die kolorektale Schleimhaut penetrieren können. Charakteristisch für die Magnaformen sind phagozytierte Erythrozyten innerhalb der Amöben. Über Lymph- und Blutgefäße (Parasitämie) kann eine Absiedlung der Amöben in verschiedene Organe, vor allem in die Leber, erfolgen.

Diagnose Die Diagnose erfolgt durch den Nachweis der Magnaformen im Gewebe (kolorektale Biopsie) und Stuhl sowie durch serologische Untersuchungen. Bei einer invasiven Amöbiasis treten im Allgemeinen hohe Titer präzipitierender, agglutinierender und komplementbindender Antikörper auf.

Morphologie Die Amöbenruhr manifestiert sich vorwiegend kolorektal, Pankolitiden sind selten. Sie kann nahezu alle entzündlichen Darmerkrankungen imitieren, sie hat „tausend Gesichter“. Zu Beginn der Erkrankung findet man punktförmige flache Ulzerationen der Darmschleimhaut, die mehr und mehr in unregelmäßig geformte und scharf begrenzte Läsionen übergehen (Abb. 31-8). Schließlich entwickeln sich serpinginöse Ulzerationen, die gewöhnlich bis in die Submukosa hineinreichen und dort durch Fisteln miteinander in Verbindung stehen. Histologisch findet man ausgedehnte Gewebsnekrosen im Bereich von Mukosa und Submukosa. Die nekrotisierende Amöbenruhr ist das morphologische Korrelat der klinisch fulminanten Verlaufsform, die zu einem Megakolon führen kann. Etwa 5% aller Patienten mit einer Amöbenruhr entwickeln ein sog. Amöbom, einen entzündlichen Pseudotumor, der v.a. im Zäkum und Rektum gefunden wird.

Klinisch-pathologische Korrelationen Das klinische Bild der Infektion ist variabel. Es reicht von asymptomatischen Verläufen bis zu schweren Krankheitsbildern mit massiven Durchfällen, Krämpfen, Fieber und fortschreitender Dehydratation. Aufgrund der Ulzera kann es zu schweren Blutungen und zu Darmperforationen mit nachfolgender Peritonitis kommen. Die fulminanten Verlaufsformen sind auch heute noch mit einer hohen Letalität belastet.

Abb. 31-8 Amöbenkolitis (Rektumbiopsie).

Ausgeprägte entzündliche Stromainfiltrate und oberflächliche Erosionen (E). Der Oberfläche liegen zahlreiche Amöben (Pfeile) auf. PAS, Vergr. 90fach.

Amöben können vom Darm aus lymphogen und hämatogen in andere Organe „metastasieren“ und dort nekrotisierende und abszedierende Entzündungen hervorrufen (Leber- und Lungenabszesse, Pleuraempyeme, Perikarditiden).

Schistosomendysenterie Die Schistosomiasis (Bilharziose) ist eine bei uns seltene, in tropischen Regionen häufig vorkommende Wurmerkrankung. Von den verschiedenen Formen der Schistosomen befallen v.a. Schistosoma mansoni und Schistosoma japonicum Kolon und Rektum.

Enterokolitiden durch opportunistische Infektionen Bei immunkompromittierten Patienten findet man auch im Bereich des Gastrointestinaltrakts opportunistische Infektionen und maligne Tumoren (NonHodgkin-Lymphome, Kaposi-Sarkome, oropharyngeal und anorektal lokalisierte Plattenepithelkarzinome). AIDS-Patienten sind in besonderer Weise betroffen. In etwa 50% findet man lediglich unspezifische Entzündungsinfiltrate. Etwa gleich häufig sind Infektionen vor allem mit Zytomegalieviren (Abb. 31-9), atypischen Mykobakterien (Mycobacterium avium intracellulare) und mit Kryptosporidien (Abb. 31-10).

31.5.2 Idiopathische chronisch-entzündliche Darmerkrankungen Abb. 31-9 AIDS-assoziierte CMV-Kolitis.

Kolonbiopsie. Die im Schleimhautstroma gelegenen Lymphgefäße (Lym) zeigen eine erhebliche „Schwellung“ der Endothelien (Pfeil) mit CMV-typischen

Kerneinschlüssen (sog. Eulenaugen). Schleimhautkrypten mit Becherzellen sind durch Sternchen * markiert. PAS, Vergr. 140fach. Inset: Immunhistologischer Nachweis des 43 kD schweren CMV-Antigens im Zellkern einer Endothelzelle. CCH2-Antikörper, Vergr. 1150fach. Üblicherweise rechnet man zu den idiopathischen chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen die Colitis ulcerosa und den Morbus Crohn. Es handelt sich um Erkrankungen, deren Ätiologie weitgehend unbekannt ist (= idiopathisch). Obwohl die Colitis ulcerosa und der Morbus Crohn unterschiedliche Krankheiten darstellen, bestehen durchaus Gemeinsamkeiten. Der zusammenfassende Begriff der „idiopathischen chronisch-entzündlichen Darmerkrankung“ ist als Konzept zu verstehen, auch in der Abgrenzung zu ätiologisch definierten Darmentzündungen.

Abb. 31-10

AIDS-assoziierte Kryptosporidiose.

An der Oberfläche der Enterozyten zahlreiche Kryptosporidien (Pfeile). PAS, Vergr. 200fach. Für beide Erkrankungen ist eine genetische Disposition gesichert. Zahlreiche Ergebnisse sprechen für eine multifaktorielle Genese, wobei neben Umweltfaktoren in der Pathogenese vor allem auch immunologische Faktoren eine Rolle spielen. Experimentelle Daten lassen eine Störung der intestinalen Immunregulation vermuten. Wahrscheinlich sind lokale Toleranzmechanismen gegenüber Antigenen des Darminhalts beeinträchtigt (Abb. 31-11). Auf der geweblichen Ebene manifestieren sich beide Erkrankungen in Form einer lymphozytär geprägten, chronisch-destruierenden Entzündung.

Beide Erkrankungen gehen mit gleichartigen extraintestinalen Komplikationen einher, die deshalb zusammen abgehandelt werden.

Colitis ulcerosa Definition Die Colitis ulcerosa wurde als eigenständiges Krankheitsbild erstmals 1875 von Wilks und Moxon beschrieben. Sie ist definiert als eine chronisch rezidivierende Entzündung vorwiegend der Mukosa und Submukosa des Dickdarms (mukosale Kolitis).

Abb. 31-11 Schematische Darstellung wichtiger immunpathogenetischer Mechanismen bei den idiopathischen chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen.

Darstellung lokaler Zell- und Mediatorinteraktionen. IL = Interleukine, IL-2-R = IL-2-Rezeptor, TNF-α = Tumornekrosefaktor, IFN-γ = Interferon, MCP-1 = macrophage chemotactic protein.

Epidemiologie Die jährliche Inzidenz wird auf 3–9 Fälle pro 100 000 Einwohner und die Prävalenz auf 40–90 Fälle pro 100 000 Einwohner geschätzt. Die Neuerkrankungsrate hat sich seit einigen Jahren auf ein relativ stabiles Niveau eingependelt. Bei Frauen wird die

Colitis ulcerosa etwas häufiger beobachtet als bei Männern. Wie auch beim Morbus Crohn findet man bei der Colitis ulcerosa eine familiäre und ethnische Häufung (z.B. europäische und nordamerikanische Juden).

Abb. 31-12 Totale Colitis ulcerosa mit sog. BackwashIleitis (I) (Operationspräparat).

Trotz entzündlicher Infiltration bleibt anders als beim Morbus Crohn die BauhinKlappe (B) weitgehend strukturintakt. Zae = Zäkum.

Morphologie Die Colitis ulcerosa beginnt im Rektum. In dieser Lokalisation kann sie als kaum aktive Entzündung über viele Jahre klinisch inapparent verlaufen. In etwa 80% breitet sie sich kontinuierlich über den ganzen Dickdarm aus. Je nach Lokalisation spricht man von einer Proktitis, von einer Proktosigmoiditis, von einer linksseitigen Kolitis und von einer Pankolitis. In 10–20% der Pankolitiden ist auch das terminale Ileum in unterschiedlicher Länge betroffen (retrograde Ileitis, Backwash-Ileitis, Abb. 31-12). In den aktiven Entzündungsphasen ist die kolorektale Schleimhaut aufgelockert, hyperämisch und vulnerabel. Kontaktblutungen sind daher häufig. Im weiteren Verlauf der Erkrankung geht das Faltenrelief weitgehend verloren, die Schleimhaut ist granuliert. Schließlich entwickeln sich Schleimhauterosionen und unregelmäßig formierte, z.T. auch longitudinale Ulzerationen. Diese unterminieren oft buchtenartig die Schleimhaut und führen so zu entzündlichen pseudopolypösen Schleimhautauffaltungen (Abb. 31-13). Histologisch kann die Colitis ulcerosa als eine mukosale Entzündung charakterisiert werden. Das entzündliche Infiltrat, bestehend aus Lymphozyten, Plasmazellen, neutrophilen und eosinophilen Granulozyten und Mastzellen, findet

man vorwiegend in der Mukosa und Submukosa (mukosale Kolitis). Die tieferen Darmwandschichten sind im Allgemeinen entzündungsfrei. In floriden Krankheitsphasen zeigt die Entzündung einen ausgesprochen hämorrhagischen Charakter durch weit gestellte und prall mit Erythrozyten angefüllte Blutgefäße und durch Einblutungen in das Schleimhautstroma (Abb. 31-14). Im enterozytären Epithelverband sind neutrophile Granulozyteninfiltrate nachweisbar, die sich in den Schleimhautkrypten als Kryptitis und später als Kryptenabszesse darstellen (Abb. 31-15). Unregelmäßig angeordnete Ulzerationen sind blutig imbibiert. Die zwischen den Ulzerationen gelegenen Schleimhautareale sind durch das dichte Entzündungsinfiltrat häufig (pseudo)polypös aufgefaltet. Einigermaßen typisch für die Colitis ulcerosa ist eine gestörte Kryptenarchitektur mit unregelmäßig angeordneten und auch verzweigten Krypten sowie einem Verlust von Becherzellen.

Abb. 31-13

Colitis ulcerosa.

Unregelmäßig formierte, blutig imbibierte Ulzerationen und pseudopolypöse Schleimhautauffaltungen (Operationspräparat). In Phasen der Remission können sich die makromorphologisch und also auch koloskopisch fassbaren Befunde weitgehend normalisieren. Im Allgemeinen aber findet man Residuen einer abgelaufenen oder wenig aktiven Entzündung mit einem weitgehenden Verlust der Haustrierung. Die kolorektale Schleimhaut ist in diesen Phasen meist glatt und blass. Der Dickdarm ist „starr“ und nach langjährigen Verläufen auch deutlich verkürzt.

Abb. 31-14 Floride Colitis ulcerosa.

Im Schleimhautstroma ein teils mononukleäres, teils granulozytäres Entzündungsinfiltrat, zudem flache Erosionen mit Fibrinexsudation. Erhebliche Gefäßkongestion. HE, Vergr. 160fach.

Abb. 31-15 Floride Colitis ulcerosa

mit typischem Kryptenabszess (Pfeil). HE, Vergr. 180fach.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Colitis ulcerosa zeigt teils einen chronisch rezidivierenden Verlauf mit unterschiedlich langen Remissionsphasen, teils einen progredienten, mitunter auch fulminanten Verlauf (siehe unten). Im Vordergrund der klinischen Symptomatik stehen (blutige) Durchfälle, Darmblutungen (ulzeröse Entzündung!) und z.T. krampfartige Abdominalschmerzen. Die Patienten klagen über Übelkeit und Appetitlosigkeit, manchmal auch über einen deutlichen Gewichtsverlust. Patienten mit einer hämorrhagischen Proktitis leiden häufig unter der sog. rektalen Obstipation (siehe Lehrbücher der Inneren Medizin).

Morbus Crohn Definition Das Krankheitsbild wurde 1932 erstmals von Crohn, Ginsberg und Oppenheimer als Ileitis terminalis bzw. regionalis beschrieben. Obwohl der Morbus Crohn

bevorzugt das terminale Ileum betrifft und zum segmentalen Befall des Darms neigt, kann er sich in allen Abschnitten des Intestinaltrakts, von der Mundhöhle bis zum anorektalen Bereich, manifestieren. Im Gegensatz zur Colitis ulcerosa handelt es sich beim Morbus Crohn um eine transmurale Entzündung, die in den tieferen Wandschichten oft stärker ausgeprägt ist als in der Mukosa und Submukosa (disproportionale Entzündung). Charakteristisch für den Morbus Crohn ist die hohe Rezidivquote, die nach operativen Eingriffen zu beobachten ist. Wie bei der Colitis ulcerosa ist die Ätiologie unklar.

Epidemiologie Im Gegensatz zur Colitis ulcerosa werden noch immer steigende Morbiditätszahlen gefunden, die vor allem das Kindesalter betreffen. In Schottland stieg die CrohnInzidenz bei Kindern unter 16 Jahren von 6,6 im Jahre 1968 auf 22,9 im Jahre 1983, jeweils bezogen auf 1 Mio. Einwohner. Etwa 20–25% aller Neuerkrankungen werden im Kindesalter (unter 15 Jahren) beobachtet. Dabei werden initial nur relativ wenige Crohn-Fälle richtig diagnostiziert. In Deutschland werden die jährliche Inzidenz auf 2–4 Fälle pro 100 000 Einwohner und die Prävalenz auf 20–40 Fälle pro 100 000 Einwohner geschätzt. Eine Geschlechtspräferenz besteht nicht. Ebenso wie bei der Colitis ulcerosa gibt es eine familiäre und ethnische Häufung der Erkrankung.

Morphologie

Der Morbus Crohn ist makromorphologisch und histologisch vielgestaltiger als die Colitis ulcerosa (Abb. 31-16). Von den entzündlichen Veränderungen können Dünn- und Dickdarm sowohl isoliert als auch gleichzeitig betroffen sein. Typisch ist der diskontinuierliche, segmentale Befall des Darms, der alle Wandschichten betreffen kann (transmural); gesunde Darmsegmente wechseln mit entzündlich veränderten ab (Skip-Läsionen). Entzündliche Läsionen in den übrigen Teilen des Magen-Darm-Trakts (Ösophagus, Magen, Duodenum) sind dagegen selten. Auch bei dieser Lokalisation sind die entzündlichen Veränderungen herdförmig (fokal). Die makromorphologische Vielfalt des Morbus Crohn manifestiert sich in Form aphthöser Schleimhautläsionen, gartenschlauchartiger Stenosen und Strikturen und in Form des sog. Kopfsteinpflasterreliefs der Schleimhaut, hervorgerufen durch strich- und spaltförmige, fissurale Ulzerationen. Auch die Histologie (Abb. 31-17 und 31-18) ist vielgestaltig. Das lymphoplasmazelluläre, granulozytäre und histiozytäre Entzündungsinfiltrat sowie die in die Tiefe reichenden (fissuralen) Ulzera sind diskontinuierlich und disproportional entwickelt. Man findet zumeist Lymphfollikel mit deutlich aktivierten Keimzentren, entzündliche und degenerative Gefäßveränderungen und

vergleichbare Läsionen im darmeigenen Nervenplexus. Anders als bei der Colitis ulcerosa ist die Kryptenarchitektur meist erhalten. Die Zahl der Becherzellen ist nicht wesentlich reduziert. Einigermaßen typisch für den Morbus Crohn sind sog. gastrale Metaplasien im Dünndarm. Im Epithelverband findet man Granulozyteninfiltrate, gelegentlich auch Kryptitiden und Kryptenabszesse. Die Muscularis propria ist verdickt und fibrosiert (Darmwandfibrose). Die beim Morbus Crohn inkonstant und nur in etwa der Hälfte aller Fälle nachweisbaren Granulome sind keineswegs pathognomonisch. Es werden Granulome vom Sarkoidose- und Tuberkulosetyp (ohne zentrale Nekrose), sog. histiozytäre Mikrogranulome, aber auch Granulome vom Fremdkörpertyp gefunden. Gelegentlich findet man in den Granulomen eine massive Ansammlung von Oxalatkristallen als Folge einer gesteigerten Resorption von freiem Oxalat.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die klinischen Manifestationen sind variabel und vielgestaltig. Im Vordergrund stehen abdominale Schmerzen und Diarrhöen, Blutungen (verursacht durch Entzündung und Ulzera) sowie Komplikationen, die sich aufgrund von Stenosen, Fisteln und extraintestinalen Krankheitsmanifestationen ergeben. Bei einem erstaunlich hohen Prozentsatz (6–30%) der Morbus-Crohn-Patienten findet man oropharyngeale Symptome in Form ausgeprägter Schleimhautödeme (Lippen) und erythematöser Schleimhautläsionen. Außerdem klagen die Patienten über schmerzhafte Ulzera, Fissuren und persistierende bzw. rezidivierende Aphthen (aphthöse Stomatitiden).

Abb. 31-16 Morbus Crohn. Makroskopische Aspekte (Operationspräparate).

a Gartenschlauchartige Stenose mit prästenotischer Dilatation. b Crohn-typisches Kopfsteinpflasterrelief der Schleimhaut. c Morbus Crohn im Bereich des terminalen Ileums, der Bauhin-Klappe und des Zäkums mit entzündlicher Destruktion der Bauhin-Klappe. d „Miliarer“ Morbus Crohn mit zirkulären Stenosen mit hirsekorngroßen (miliaren) Knötchen (Pfeile) innerhalb der Serosa.

Abb. 31-17

Morbus Crohn.

Das entzündliche Infiltrat ist zur Tiefe hin deutlich akzentuiert (diskontinuierlich). In der Submukosa ein epitheloidzelliges, zentral nichtverkäsendes Granulom (G). HE, Vergr. 90fach.

Extraintestinale Krankheitsmanifestationen der idiopathischen chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen Zu den extraintestinalen Krankheitsmanifestationen werden heute folgende Krankheiten gerechnet: ■ Dermatopathien: Erythema nodosum, Pyoderma gangraenosum, Erythrodermien mit dermatopathischer Lymphadenopathie, endogene Ekzeme. ■ Entzündliche Augenerkrankungen: Episkleritis, Uveitis, Keratitis, Retrobulbärneuritis etc.

■ Entzündliche Gelenkerkrankungen: Arthritis, Sakroileitis, ankylosierende Spondylitis. ■

Vaskulitiden.

■ Glomerulonephritiden: hypokomplementämische, membranoproliferative Glomerulonephritis. ■

Primär sklerosierende Cholangitis.

■ Bronchopulmonale Funktionsstörungen, die weder ätiologisch noch morphologisch klar definiert sind.

Abb. 31-18

Morbus Crohn

mit sog. gastraler Metaplasie unter Einschluss sialo- und sulfomuzinpositiver Enterozyten (terminales Ileum). PAS-Alcian, Vergr. 100fach.

Komplikationen der idiopathischen chronischentzündlichen Darmerkrankungen Colitis ulcerosa und Morbus Crohn gehen mit einer Fülle von Komplikationen einher. Dabei kann zwischen intestinalen und extraintestinalen Komplikationen unterschieden werden.

Intestinale Komplikationen Unter den intestinalen Komplikationen sind einerseits das toxische Megakolon, andererseits die Colitis-ulcerosa- und Morbus-Crohn-assoziierten Karzinome bedeutungsvoll (siehe unten). Blutungen, Stenosen, freie Perforationen,

enteroenterale, enterokutane, enterovesikale oder anorektale Fisteln sind abhängig von der Grundkrankheit. Fistelkomplikationen beobachtet man überwiegend beim Morbus Crohn, Entzündungen im ileoanalen Pouch-Bereich nach Kolonresektion (Pouchitis) ausschließlich bei der Colitis ulcerosa.

Toxisches Megakolon Akute fulminante Verlaufsformen mit der Entwicklung eines toxischen Megakolons können sowohl bei der Colitis ulcerosa als auch beim Morbus Crohn auftreten. Diese Komplikation ist selten.

Morphologie Makroskopisch

liegt eine extreme Kolondilatation vor, die total oder segmental akzentuiert auftreten kann (Abb. 31-19). Besonders häufig ist das Colon transversum betroffen. Histologisch findet man flächenhaft entwickelte und tiefreichende Ulzerationen mit ausgeprägten granulozytären Infiltraten in den restlichen Wandstrukturen, entzündliche Gefäßveränderungen mit fibrinoiden Wandnekrosen und eine ausgeprägte Ganglioneuritis. Es können multiple Darmwandperforationen auftreten mit der Folge einer Peritonitis.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Symptome sind septische Temperaturen, Tachykardie, Leukozytose, Anämie, stark beschleunigte BSG, Störungen im Wasser- und Elektrolythaushalt, aufgetriebenes und druckschmerzhaftes Abdomen.

Abb. 31-19

Fulminante Colitis ulcerosa

mit toxischer Dilatation eines Kolonsegments.

Maligne Tumoren Die idiopathischen chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen gehen mit einem erhöhten Krebsrisiko einher. Bei den Colitis- und Morbus-Crohn-assoziierten malignen Tumoren handelt es sich überwiegend um Karzinome. Neuroendokrine Tumoren und maligne Lymphome sind als Komplikation beider Erkrankungen extrem selten. Die Karzinomentwicklung ist abhängig von der Ausdehnung und Intensität der Entzündung und von der Erkrankungsdauer (kumulatives Krebsrisiko). Den Karzinomen gehen häufig Dysplasien als präkanzeröse Läsionen voraus (Abb. 31-20). Da derartige Dysplasien in kolorektalen Stufenbiopsien objektiviert werden können, kann man sie als histologische Marker eines erhöhten Karzinomrisikos verwerten.

Abb. 31-20

Colitis ulcerosa

mit präkanzerösen Dysplasien nach langjährigem Krankheitsverlauf.

a Präkanzeröse Dysplasie bei weitgehend inaktiver Colitis ulcerosa. Man findet eine deutlich gestörte Kryptenarchitektur, eine fehlende funktionelle Ausreifung der Enterozyten mit Zellatypien. HE, Vergr. 90fach. b Bei noch florider Entzündung eine hochgradige Dysplasie mit ausgeprägten Zellatypien (D). HE, Vergr. 120fach. c Komplette Schleimhautatrophie (Pfeile) nach langjähriger Colitis ulcerosa mit Anteilen einer sog. DALM-Läsion (= dysplasieassoziierte Läsion oder Masse [D]). PAS-Alcian, Vergr. 100fach. Die Dysplasien sind charakterisiert durch strukturelle Veränderungen der Kryptenarchitektur und des Schleimhautgefüges sowie durch zelluläre Atypien. Die graduelle Abstufung der strukturellen und zellulären Veränderungen erlaubt es, zwischen einer sog. geringgradigen und einer hochgradigen Dysplasie zu unterscheiden. Der zweifelsfreie Nachweis dieser Dysplasien erfordert die karzinompräventive Proktokolektomie, die bei Colitis-ulcerosa-Patienten als restaurative, kontinenzerhaltende Operation mit ileoanaler Pouch-Anlage durchgeführt werden sollte. Für Morbus-Crohn-Patienten sind derzeit noch keine karzinompräventiven Operationsverfahren etabliert.

Extraintestinale Komplikationen Extraintestinale Komplikationen umfassen ein breites Spektrum unterschiedlicher Krankheiten: ■

Störungen der Hämostase und thrombembolische Komplikationen.



Gallen- und Nierensteine, Hyperoxalurie.

■ Hepatobiliäre Komplikationen. Im Einzelfall kann nicht immer eindeutig zwischen extraintestinaler Komplikation (z.B. Fettleber, Hepatitis und pyogene Leberabszesse) und extraintestinaler Colitis- bzw. CrohnManifestation unterschieden werden (z.B. primär-sklerosierende Cholangitis). ■

31.5.3

Amyloidose (selten).

Sonstige Kolitiden

Unter dieser Überschrift werden Kolitisformen zusammengefasst, die durch verschiedene Faktoren ausgelöst und im weiteren klinischen Verlauf häufig durch bakterielle oder auch virale Superinfektionen unterhalten und prolongiert werden. Es handelt sich häufig um ätiologisch und pathogenetisch komplexe Kolitisformen.

Medikamentös verursachte (Entero-)Kolitiden Zahlreiche Medikamente können entzündlich-ulzeröse Darmerkrankungen mit z.T. heftigen Diarrhöen verursachen: Antibiotika, nichtsteroidale Antiphlogistika, Ciclosporin, goldhaltige Präparate, Zytostatika, Eisenpräparate, Digitalispräparate, Diuretika, Antihypertensiva, vasospastische Substanzen u.a. Die histomorphologischen Befunde sind unterschiedlich und für das jeweils ursächliche Medikament nicht typisch. Goldhaltige Präparate können z.B. in Einzelfällen eine Kolitis verursachen, die makroskopisch und histologisch nicht von einer Colitis ulcerosa unterschieden werden kann. Die wichtigste differentialdiagnostische Methode für die nosologische Einordnung dieser entzündlichen Darmerkrankungen ist eine subtil erhobene Anamnese. Von besonderer Bedeutung sind die durch nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) hervorgerufenen Entzündungen des Intestinaltrakts. NSAR gehören zu den weltweit am häufigsten eingenommenen Medikamenten, die zum Teil schwere Nebenwirkungen auch innerhalb des Intestinaltrakts verursachen können. Man schätzt, dass etwa 8–10% aller neu diagnostizierten Enterokolitiden durch NSAR hervorgerufen werden. Endoskopische und histologische Befunde variieren von erythematösen Entzündungen bis zu schweren Colitis-ulcerosa-ähnlichen Schleimhautläsionen. Vor allem bei Retard-Präparaten können sich segelförmige Einengungen durch diaphragmaähnliche Strikturen entwickeln („diaphragma disease“). Rektal applizierte NSAR-Suppositorien führen in 10–30% zu Ulzera und Strikturen und rektoanalen Stenosen. Nach Absetzen der NSAR kommt es im Allgemeinen zur Spontanheilung.

Neutropenische Kolitis Diese schwere und nekrotisierende Entzündung wird bei Patienten mit malignen Hämoblastosen und Lymphomen, bei medikamentös-toxischen Agranulozytosen, aplastischen Anämien, Myelodysplasien, malignen Knochenmarktumoren und bei der idiopathischen zyklischen Neutropenie beobachtet. Ursächlich sind Schleimhautschäden durch Zytostatika und Immunsuppressiva, Zirkulationsstörungen und sekundär bakterielle Infektionen (z.B. Clostridien, Pseudomonas, E. coli, Klebsiellen).

Antibiotikainduzierte, pseudomembranöse (Entero-)Kolitis Ätiologie Sie kann nach oraler und parenteraler Medikation zahlreicher Antibiotika (v.a. Clindamycin, Lincomycin, Chloramphenicol u.a.) auftreten.

Pathogenese

Offenbar unterdrücken Antibiotika die normale Darmflora und verursachen auf diese Weise ein überschießendes Wachstum hochpathogener und resistenter Keime. Insofern wird verständlich, dass bei der pseudomembranösen Kolitis in weit über 90% aller Fälle Clostridium difficile und die durch diesen Keim gebildeten Enterotoxine gefunden werden.

Morphologie

Neben dichten entzündlichen Mukosainfiltraten findet man zahlreiche Erosionen, die von einer granulozytär durchsetzten Fibrin- und Detritusschicht (= Pseudomembran) bedeckt werden (Abb. 31-21).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Im Vordergrund des klinischen Bildes stehen profuse wässrig-blutige Durchfälle, begleitet von Koliken, Fieber und einer Leukozytose. Fulminante Verläufe mit der Entwicklung eines toxischen Megakolons haben eine hohe Letalität.

Kollagene und lymphozytäre Kolitis Ätologie und Pathogenese Ätiologie und Pathogenese beider Kolitisformen sind unklar. Beide Kolitisformen sind häufig assoziiert mit einer glutensensitiven Enteropathie, mit lymphozytären Gastritiden, mit enteroviralen Infekten, aber auch mit extraintestinalen Krankheiten (rheumatoide Arthritis, Uveitis, Sklerodermie, Autoimmunthyreoiditis, thrombozytopenische Purpura, Diabetes mellitus Typ 2). Zusätzlich scheint ein Zusammenhang mit nichtsteroidalen Antiphlogistika zu bestehen. Da außerdem Autoantikörper (Rheumafaktoren, antinukleäre Antikörper) relativ häufig gefunden werden, wird eine Autoimmunpathogenese beider Kolitisformen diskutiert.

Abb. 31-21 Segmental ausgeprägte pseudomembranöse Kolitis

(psC) nach längerer Antibiotikatherapie (Obduktionspräparat).

Morphologie Laborchemische, mikrobiologische und radiologische Befunde sind weitgehend unauffällig. Koloskopisch zeigt sich ein normaler Schleimhautbefund (sog. mikroskopische Kolitis). Die Diagnose wird anhand sequenzieller Stufenbiopsien aus verschiedenen Abschnitten des Kolons und Rektums gestellt. Kollagene Kolitis. Charakteristisch sind subepithelial, gelegentlich auch perikryptal gelegene und weitgehend azelluläre Kollagenbänder, die vorwiegend aus den Kollagentypen I, III, IV und VI, ferner aus Fibronektin und Tenascin aufgebaut sind (Abb. 31-22). Das Schleimhautstroma enthält vermehrt Lymphozyten, Plasmazellen, wenige eosinophile und neutrophile Granulozyten sowie Mastzellen. Innerhalb des enterozytären Deckepithels finden sich ebenfalls vermehrt CD8-positive (zytotoxische) T-Lymphozyten. Lymphozytäre Kolitis. Die Zahl intraepithelialer CD8-positiver (zytotoxischer) TLymphozyten ist deutlich erhöht, im Allgemeinen auf mehr als 20–25 Lymphozyten pro 100 enterozytäre Deckepithelien. Subepitheliale Kollagenbänder fehlen. Das Schleimhautstroma weist ein vorwiegend aus Lymphozyten und Plasmazellen bestehendes Entzündungsinfiltrat auf.

Klinisch-pathologische Korrelationen Bei beiden Kolitisformen treten wässrige und häufig therapieresistente Diarrhöen auf („Syndrom der wässrigen Diarrhö“). Gelegentlich wurden Spontanremissionen beschrieben. Im Einzelfall scheint eine Therapie mit Kortisonderivaten und Mesalazin einen positiven Effekt zu haben.

Diversionskolitis Abb. 31-22 Kollagene Kolitis (Kolonbiopsie).

Die subepitheliale und z.T. auch die perikryptale Basalmembran ist deutlich verbreitert (Pfeile). Die Breite der Kollagenbänder überschreitet deutlich den Durchmesser eines Erythrozyten. Im Schleimhautstroma ein nur mäßig entwickeltes mononukleäres Entzündungsinfiltrat. Masson Goldner, Vergr. 90fach. Es handelt sich um eine Entzündung in ausgeschalteten kolorektalen Darmsegmenten (Ileo- bzw. Kolostomie), der möglicherweise ein Mangel an kurzkettigen Fettsäuren zugrunde liegt (deutliche Besserung nach Instillation kurzkettiger Fettsäuren). Neben mononukleären und granulozytären Entzündungsinfiltraten findet man eine ausgeprägte lymphofollikuläre Hyperplasie, gelegentlich Fremdkörpergranulome, Ulzerationen und Kryptenabszesse (Differentialdiagnose: Colitis ulcerosa, Morbus Crohn). Die Entzündung bildet sich spontan zurück, wenn die Darmkontinuität wiederhergestellt ist.

Strahleninduzierte Enterokolitiden Die Darmschleimhaut ist als proliferationsintensives Gewebe (sog. Wechselgewebe) außerordentlich strahlensensibel. Im Rahmen strahlentherapeutischer Maßnahmen kann sich, abhängig von der Dosis, ein akutes oder chronisches Strahlensyndrom (radiogene Enterokolitis) entwickeln. Besonders betroffen sind Rektum und Sigma sowie das Ileum. Man kann zwischen Strahlenfrühschäden und Strahlenspätschäden unterscheiden.

Frühschäden treten schon während der Strahlentherapie auf. Die Patienten klagen über Tenesmen, Schmerzen und blutige Durchfälle. Mögliche Komplikationen sind Perforationen und massive Darmblutungen. Strahlenspätschäden treten erst 4–12 Monate nach einer Strahlentherapie auf. Sie beruhen auf Gefäßveränderungen mit fibrinoiden Wandnekrosen, obliterierender Endarteriitis und Thrombosen. Es entwickelt sich letzlich eine ausgeprägte obliterative Vaskulopathie mit schweren Ischämiereaktionen (Ausbildung von Schleimhautnekrosen).

31.5.4 Entzündliche Erkrankungen der anorektalen Grenzregion Im anorektalen Grenzbereich können sich ätiologisch und pathogenetisch sehr unterschiedliche Krankheitsbilder manifestieren. Einerseits findet man das breite Spektrum entzündlicher Dermatopathien, andererseits verschiedene Proktitisformen, die sich auf den anodermalen Bereich ausdehnen können. Unter den entzündlichen Läsionen dieser Region spielen venerische Erkrankungen (siehe Kap. 48.2.7) naturgemäß eine besondere Rolle. Im Folgenden sollen Analfissuren, Perianalabszesse und Perianalfisteln besprochen werden.

Analfissuren Unter einer Analfissur versteht man einen Einriss des sensiblen Anoderms, der über dem aboralen Rand des inneren Sphinkters liegt. Dieser Einriss imponiert häufig als „trianguläres Ulkus“. Vor allem chronische Analfissuren gehen mit einer ausgeprägten Schmerzsymptomatik einher. Die proximal der Fissur gelegenen Analpapillen sind deutlich vergrößert, distal findet man häufig chronisch-inflammatorische Protuberanzen. Chronische Analfissuren entstehen nicht selten auf dem Boden anodermaler Ekzeme.

Perianalabszesse Unspezifische und abszedierende Entzündungen des Analkanals gehen überwiegend von entzündlichen Affektionen der Proktodealdrüsen aus (eitrige Kryptitis). Die häufigsten Erreger sind verschiedene E.-coli-Stämme. Die eitrig abszedierende Entzündung breitet sich entlang den myofaszialen Sphinkterstrukturen aus. Abhängig von der Lokalisation kann man intermuskuläre, ischiorektale und -anale, perianale und perineale, pelvirektale und submuköse Abszesse unterscheiden.

Perianalfisteln Perianale bzw. anorektale Fisteln, die bei Männern vier- bis achtmal häufiger angetroffen werden als bei Frauen, stellen eine direkte Komplikation perianaler Abszesse dar. Abhängig von der Abszesslokalisation und -ausbreitung können intersphinktäre (intermuskuläre), transsphinktäre (ischiorektale), suprasphinktäre und extrasphinktäre (pelvirektale) Fisteln unterschieden werden.

31.6

Solitäres Ulkus-Syndrom

Syn.: Mukosaprolaps-Syndrom Diese im Rektum gelegene Schleimhautveränderung stellt eine ischämisch-traumatische Läsion der vorderen Rektumwand dar. Histologisch findet man eine fibromuskuläre und glanduläre Hyperplasie der rektalen Schleimhaut mit oder ohne Schleimhautulzerationen und mit einer meist nur geringen entzündlichen Stromainfiltration (Abb. 31-23). Charakteristisch ist ein Prolaps der Rektumvorderwand in den Analkanal. Das solitäre Ulkus-Syndrom zeigt einen chronischen Verlauf und ist medikamentös nur schwer zu therapieren.

Abb. 31-23 Solitäres Ulkus-Syndrom (MukosaProlaps-Syndrom).

Biopsiepräparate aus einer „polypoiden Läsion“ der Rektumschleimhaut mit einer verbreiterten und desorientierten Muscularis mucosae (MM) sowie einer sog. fibromuskulären Obliteration des Schleimhautstromas (Pfeile). a HE, Vergr. 35fach. b Desmin, Vergr. 35fach.

Abb. 31-24

Melanosis coli

nach langjährigem Laxanzienabusus mit bräunlich-schwarzer Pigmentierung der Kolonmukosa, die mit scharfer Grenze an der Bauhin-Klappe (B) endet. Bei den nichtpigmentierten Arealen handelt es sich um Adenome (Obduktionspräparat).

31.7 31.7.1

Sonstige Dickdarmerkrankungen Melanosis coli

Es handelt sich um braunschwarze Pigmenteinlagerungen in die kolorektale Schleimhaut, die besonders häufig bei langjähriger Einnahme von anthrazen- und hydrochinonhaltigen Laxanzien vorkommen (Abb. 31-24). Die Melanosis coli wird bei Frauen 3–8mal häufiger gefunden als bei Männern. Selten sind vergleichbare Pigmentanomalien auch im Ileum und Duodenum (Melanosis duodeni) zu beobachten. Das überwiegend in Makrophagen der Lamina propria abgelagerte Pigment (Abb. 3125) ist reich an Kupfer und Eisen. Es gehört wahrscheinlich weder zu den chemisch definierten Melaninpigmenten noch zu den Lipofuszinen. Die Pigmenteinlagerungen sind harmlos.

Der Melanosis coli vergleichbare, medikamentös induzierte und reversible Pigmenteinlagerungen sind auch nach Chlorpromazin und Persantin beschrieben worden.

Abb. 31-25

Melanosis coli.

Zahlreiche pigmentspeichernde Makrophagen (M) im Schleimhautstroma (Kolonbiopsie). HE, Vergr. 120fach.

31.7.2

Pneumatosis coli

Unter der Pneumatosis coli (Abb. 31-26) versteht man das Auftreten gashaltiger Zysten in Submukosa und Subserosa vor allem des Dickdarms. Das in den Zysten enthaltene Gas zeigt im Allgemeinen folgende Zusammensetzung: 5–16% O2, 80–90% N2, 0,3–4% CO2. Man unterscheidet zwischen der primären (= idiopathischen) und der häufiger vorkommenden sekundären Form. Nach dem Lebensalter kann zudem zwischen einer infantilen und einer adulten Pneumatose unterschieden werden. Ätiologie und Pathogenese sind umstritten. Neben Infektionen (Gasbildung durch Bakterien) werden mechanische Faktoren diskutiert. Häufig ist die Pneumatose assoziiert mit obstruktiven Lungenerkrankungen (z.B. Asthma bronchiale, chronischobstruktives Lungenemphysem). Der Verlauf der Pneumatose wird im Allgemeinen durch die Grundkrankheit bestimmt. In 3% aller Pneumatosefälle werden schwerwiegende Komplikationen wie Obstruktionen, Blutungen und Perforationen beobachtet.

Abb. 31-26

Pneumatosis coli.

Obduktionspräparat. Kolonsegment eines 77 Jahre alt gewordenen Patienten mit schwerstem obstruktivem Lungenemphysem. Die Schnittfläche zeigt zahlreiche unterschiedlich große, in allen Darmwandschichten vorhandene zystische Hohlraumbildungen (*). Muscularis propria (Mp), Schleimhautoberfläche (Pfeile), Serosa (Doppelpfeil).

31.7.3

Amyloidose

In etwa 90% aller Amyloidosefälle (siehe Kap. 46.3.4) findet man Amyloidablagerungen in der rektalen Schleimhaut. Vor allem bei den sekundären Amyloidosen ist das Rektum nahezu immer betroffen. Insofern ist die rektale Schleimhautbiopsie ein wichtiges Verfahren in der diagnostischen Abklärung von Amyloidosen. Die intestinale Amyloidose kann zu Motilitätsstörungen, chronischen Diarrhöen, Ulzerationen, Perforationen, Blutungen und Obstruktionen, aber auch zu Malabsorptionssymptomen und zu einem intestinalen Eiweißverlust führen.

31.7.4

Malakoplakie

Die Malakoplakie ist eine Erkrankung, die zumeist die ableitenden Harnwege und die Harnblase betrifft (chronische Urethritis bzw. Zystitis, siehe Kap. 37.3.2) und im kolorektalen Bereich sehr selten ist. Histologisch ist die Malakoplakie durch das

Vorkommen großer Makrophagen mit körnigem Zytoplasma (von-Hansemann-Zellen) und pathophysiologisch durch einen lysosomalen Funktionsdefekt gekennzeichnet (Abb. 31-27). Im Zytoplasma der von-Hansemann-Zellen, gelegentlich auch extrazellulär, können eisen- und kalkhaltige rundliche Gebilde vorkommen, die als Michaelis-Gutmann-Körperchen bezeichnet werden. Makroskopisch imponiert die Malakoplakie durch leicht erhabene, herdförmige, scharf begrenzte polypoide Läsionen. Sie werden hervorgerufen durch dichte Ansammlungen der histiozytären von-Hansemann-Zellen. Eine lokale Entzündungsreaktion ist nur spärlich entwickelt.

31.8

Kolorektale Tumoren

Gut- und bösartige Tumoren sind im Kolon und Rektum häufig und wesentlich häufiger als im deutlich längeren Dünndarm. In der Todesursachenstatistik stehen kolorektale Karzinome unter allen bösartigen Neubildungen an zweiter Stelle.

Abb. 31-27

Malakoplakie

(Biopsie aus dem Randbereich eines Kolonkarzinoms) mit von-Hansemann-Zellen und Michaelis-Gutmann-Körperchen (Pfeile). Kossa, Vergr. 80fach.

31.8.1

(Sporadisch auftretende) Epitheliale Tumoren

Im kolorektalen Bereich dominieren epitheliale Tumoren. Benigne epitheliale Tumoren (= Adenome) überwiegen gegenüber den Karzinomen. Allerdings entwickeln sich über 90% aller kolorektalen Karzinome auf dem Boden kolorektaler Adenome. Diese Situation wird unter dem Begriff der Adenom-Karzinom-Sequenz (siehe unten) zusammengefasst.

Adenome Definition Nach der Definition durch die WHO (2000) sind kolorektale Adenome „benigne Neoplasien des Drüsenepithels mit Dysplasien verschiedenen Grades“. Diese Definition weist auf die Histogenese (Ausgang vom kryptalen Epithel), die nosologische Einordnung (= Neoplasien) und die zytologische Differenzierung der Adenome hin.

Epidemiologie Angaben zur Häufigkeit kolorektaler Adenome schwanken. In unselektierten Autopsiestudien wird ihre Häufigkeit mit 50–60% angegeben. Dabei liegt das Häufigkeitsmaximum im 6.–7. Lebensjahrzehnt.

Morphologie In der WHO-Klassifikation werden histologisch vier Adenomtypen unterschieden (Abb. 31-28): ■ Tubuläre Adenome. Sie sind aus verzweigten Tubuli (Drüsen) aufgebaut und wachsen häufig gestielt, seltener breitbasig. Unter allen Adenomen wird ihre Häufigkeit mit 60–65% angegeben (Abb. 31-29 und 31-30).

Abb. 31-28 Schematische Darstellung der verschiedenen Adenomtypen

mit Angaben zur Häufigkeit im Biopsiematerial des Pathologischen Instituts der Universität Heidelberg.

Abb. 31-29 Tubuläres Adenom (Polypektomiepräparat).

P = Polypenkopf. Im Abtragungsbereich (St = Stiel) regelrechte Kolonmukosa. ■ Villöse Adenome. Sie bestehen aus finger- oder zottenartigen „Auffaltungen“ der Lamina propria, begrenzt durch ein basophiles und häufig pseudostratifiziertes Epithel (= Zottentumor). Villöse Adenome können im Einzelfall mit einer deutlichen Schleimbildung einhergehen. Sehr selten beobachtet man Wasser- und Elektrolytverluste („kaliumsezernierender Tumor“). Villöse Adenome wachsen überwiegend breitbasig. Sie sind im Allgemeinen größer als tubuläre Adenome (Abb. 31-31 und 31-32). Die Häufigkeit villöser Adenome wird mit 5–11% angegeben. ■ Tubulovillöse Adenome. Sie weisen tubuläre und villöse Strukturen auf. Die Häufigkeit tubulovillöser Adenome wird mit 20–26% angegeben. ■ Adenome mit pseudopapillären („sägezahnartigen“) Epithelknospen („serrated adenoma“). Sie gleichen strukturell den tubulären Adenomen, weisen aber die für hyperplastische Polypen typischen semizirkulären Epithelknospen auf. Diese zeigen unterschiedlich schwere Dysplasien. Eindeutige Angaben zur Häufigkeit dieser Adenomform liegen nicht vor.

Abb. 31-30 Tubuläres Adenom.

Dicht liegende, tubuläre Drüsenkomplexe. Intakte Muscularis mucosae (MM). In der Submukosa ein Lymphfollikel (L). HE, Vergr. 60fach.

Abb. 31-31 Villöses Adenom

(VA), in ganzer Zirkumferenz wachsend; sog. Zottentumor (Operationspräparat, Kolonsegment).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Adenome treten in 20–25% multipel auf. Die meisten Adenome bleiben klinisch stumm. Blutungen sind selten und meist nur gering (okkultes Blut). Noch seltener sind Invaginationen. Bei massiver sekretorischer Aktivität (extrem selten) kommt

es zu Hypokaliämie, Hyponatriämie, Hypochlorämie mit allgemeiner Muskelschwäche, Kollapsneigung, Inappetenz, Erbrechen und deliranten Zustandsbildern.

Abb. 31-32 Villöses Adenom

mit filiformen, zottenartigen Epithelproliferationen. HE, Vergr. 100fach.

Komplikationen Von besonderer Bedeutung ist das maligne Entartungspotential der kolorektalen Adenome (Adenom-Karzinom-Sequenz; Abb. 31-33). Es handelt sich also bei den kolorektalen Adenomen um präkanzeröse Läsionen der Dickdarmschleimhaut. Das Entartungsrisiko ist abhängig von der Adenomgröße, der histologischen Differenzierung, dem Grad und Ausmaß der Dysplasie (geringgradige, hochgradige intraepitheliale Neoplasie) und von der Wuchsform. Das größte Entartungsrisiko haben die villösen Adenome. Breitbasig aufsitzende Adenome haben ein höheres Entartungsrisiko als gestielte Adenome. Man geht davon aus, dass sich über 90% der kolorektalen Karzinome auf dem Boden vorbestehender Adenome entwickeln.

Abb. 31-33 Schematische Darstellung der AdenomKarzinom-Sequenz mit den jeweiligen therapeutischen Implikationen.

a Tubuläres Adenom mit fokal hochgradiger Dysplasie, ausschließlich innerhalb der Schleimhaut lokalisiert (dunkelrot). Die Muscularis mucosae (MM) ist durchgehend intakt. Die primär diagnostische Polypektomie ist in dieser Situation das adäquate Therapieverfahren. b Tubuläres Adenom mit herdförmig hochgradig atypischen Drüsenformationen, die die Muscularis mucosae durchbrechen und unterschiedlich weit in die Submukosa bzw. in den Polypenstiel vorwachsen (= Karzinom). Ob in diesen

Fällen nach der Polypektomie bei karzinomfreiem Abtragungsbereich eine chirurgische Nachresektion erforderlich ist, hängt vom histologischen Differenzierungsgrad des Karzinoms ab. c Polypoides Karzinom. Eine chirurgische Nachresektion mit einer Lymphknoten-Dissektion ist immer erforderlich. Mit Hilfe molekularbiologischer Methoden konnte gezeigt werden, dass die Entwicklung vom Adenom zum Karzinom sequentiell mit verschiedenen genetischen Veränderungen einhergeht (Tumorprogressionsmodell; siehe Kap. 6.3). Dabei dürfte weniger eine bestimmte Reihenfolge in der Ausbildung genetischer Alterationen eine Rolle spielen als vielmehr deren kritische Kumulation. Wegen des zeitlich nicht kalkulierbaren Entartungsrisikos kolorektaler Adenome sollte jeder endoskopisch nachweisbare Polyp in toto entfernt werden (endoskopische Polypektomie). Aus der dann folgenden histologischen Aufarbeitung ergeben sich Klassifikation und Dignitätsbeurteilung. Auf diese Weise stellt die diagnostische Polypektomie eine karzinompräventive Therapie dar.

Kolorektale Karzinome Epidemiologie Kolorektale Karzinome gehören in den Industrienationen zu den häufigsten Karzinomen. Jährlich erkranken in der Bundesrepublik Deutschland etwa 50 000 Menschen an einem kolorektalen Karzinom. Mit über 30 000 karzinombedingten Todesfällen stellen die kolorektalen Karzinome die zweithäufigste tumorbedingte Todesursache dar. Kolorektale Karzinome sind Tumoren des höheren Lebensalters mit einem Häufigkeitsgipfel zwischen dem 7. und 8. Lebensjahrzehnt. Eine Geschlechtspräferenz besteht nicht.

Ätiologie Eindeutige Daten zur Ätiologie kolorektaler Karzinome fehlen. Genetische, ethnische, diätetische und auch endogen-metabolische Faktoren spielen eine Rolle. Durch bakterielle Gärungs- und Fermentierungsprozesse könnten in Kolon und Rektum aus Proteinen, Gallensäuren und Cholesterin kanzerogene und/oder kokanzerogene Stoffe entstehen, die zumindest als Teilursache in Frage kommen. Eine an Ballaststoffen arme Nahrung führt zu einer längeren Verweildauer und dadurch zu hohen Konzentrationen dieser (ko)kanzerogenen Substanzen im Kolon.

Pathogenese Über 90% aller kolorektalen Karzinome entwickeln sich auf dem Boden vorbestehender Adenome (Adenom-Karzinom-Sequenz). Die Entwicklung eines kolorektalen Karzinoms ist ein Mehr- bzw. Vielstufenprozess, der zunehmend exakter molekulargenetisch definiert werden kann. Weitere präkanzeröse Läsionen sind die familiäre Adenomatosis coli (siehe Kap. 31.8.2) und die idiopathischen chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen.

Morphologie

Etwa 60% aller Karzinome finden sich im Rektum, 20–25% im Colon sigmoideum. Damit sind über 80% aller kolorektalen Karzinome im rektosigmoidalen Bereich lokalisiert. Man unterscheidet makroskopisch schüsselförmig ulzerierende, polypoide und diffus-infiltrierende Wachstumsformen (Abb. 31-34 und 31-35). Das Wachstumsverhalten korreliert mit klinischen Symptomen wie tumorbedingten Blutungen oder prästenotischen Dilatationen mit Subileus- und Ileussymptomen. Nach der WHO-Klassifikation von 2000 werden histologisch die folgenden Karzinomtypen unterschieden: ■ Adenokarzinome (Abb. 31-36 und 31-37) mit unterschiedlichen Differenzierungsgraden (Grad 1–4) ■ muzinöse Adenokarzinome (Abb. 31-38) ■ Siegelringzellkarzinome ■ adenosquamöse Karzinome

Abb. 31-34 Tief sitzendes, polypös wachsendes und teilweise ulzeriertes Rektumkarzinom (Operationspräparat).

■ Plattenepithelkarzinome ■ kleinzellige Karzinome ■ undifferenzierte Karzinome. Die Adenokarzinome sind die organtypischen Karzinome des kolorektalen Bereiches. Nach dem Differenzierungsgrad werden die Karzinome unterschieden in: ■ Niedrigmaligne Karzinome: gut differenziert (G1), mäßig differenziert (G2).

Abb. 31-35 Relativ kleines, tief penetrierendes Kolonkarzinom

mit aufgeworfenem und arrodiertem Randwall (Operationspräparat, linksseitige Hemikolektomie).

Abb. 31-36 Mittelgradig differenziertes (G2) nichtschleimbildendes Adenokarzinom des Kolons.

■ Hochmaligne Karzinome: schlecht differenziert (G3), undifferenziert (G4). Das lokale Wachstumsverhalten und die Metastasierung werden nach der TNMKlassifikation (Staging) beurteilt (Tab. 31-3). Die wichtigsten Prognosefaktoren sind die Tumorausbreitung (TNM) und das Vorhandensein eines möglichen Residualtumors (R). Letzteres wird wie folgt klassifiziert (R-Klassifikation): ■ R0 Kein Residualtumor. ■ R1 Mikroskopisch nachweisbarer Residualtumor. ■ R2 Makroskopischer Residualtumor. a Makroskopischer Residualtumor, mikroskopisch aber nicht gesichert.

Tab. 31-3 TNM-Klassifikation der kolorektalen Karzinome.

Abb. 31-37 Adenokarzinom des Kolons. MIB-1Proliferationsaktivität.

Im Gegensatz zur normalen Kolonschleimhaut (rechte Bildhälfte), zeigt das Karzinomgewebe eine deutlich gesteigerte Proliferationsaktivität, nachgewiesen durch die Darstellung des MIB-1-Proliferationsantigens innerhalb der Zellkerne. MIB-1-Immunhistochemie, Vergr. 45fach. b Makroskopischer Residualtumor, der auch mikroskopisch gesichert ist. Bei fortgeschrittenen und hochmalignen Karzinomen, bei nichtkurativer Tumorresektion und bei Metastasen ist die Prognose kolorektaler Karzinome noch immer schlecht.

Ausbreitung und Metastasierung kolorektaler Karzinome Die intramuralen Lymphgefäße sind überwiegend als zirkuläre, durch radiäre Äste verbundene Netze angelegt. Aus dieser Gefäßtopographie wird verständlich, dass sich kolorektale Karzinome überwiegend quer zur Darmachse ausbreiten und zu einem zirkulären Wachstum tendieren. Das Ausmaß der lymphogenen und hämatogenen Metastasierung korreliert mit der Invasionstiefe des Karzinoms. Bei pT1-Karzinomen (Infiltration der Submukosa) liegt das Risiko der lymphogenen Metastasierung bei etwa 4%. Bei pT2-Karzinomen (Infiltration der Muscularis propria) steigt das Metastasierungsrisiko auf 12%. Bei pT3-Karzinomen muss mit einem Metastasierungsrisiko von 60% gerechnet werden.

Die Prognose ist umso schlechter, je mehr Lymphknoten tumorinfiltriert sind. Umso größer wird dann auch das Risiko einer hämatogenen Metastasierung, etwa in die Leber als das bevorzugte Zielorgan für hämatogene Metastasen kolorektaler Karzinome (Pfortadertyp; siehe auch Kap. 6.5).

Klinisch-pathologische Korrelationen Die klinischen Symptome sind abhängig von der Lokalisation. Rektumkarzinome und Karzinome des distalen Sigmas verursachen in 75–80% anale Blutungen, teils okkult, teils manifest (Blut auf dem Stuhl!). Karzinome des proximalen Kolons gehen einher mit Änderungen der Stuhltätigkeit wie Blähungen, Obstipation im Wechsel mit Diarrhöen sowie Gewichtsverlust. Bei Karzinomen im rechten Kolon ist eine Anämie häufig das erste Zeichen der Erkrankung. Zu den schweren Tumorkomplikationen zählen Subileus- und Ileussymptome, massive Blutungen oder auch Perforationen mit fäkulenter Peritonitis (siehe Lehrbücher der Chirurgie und Inneren Medizin).

Abb. 31-38 Eher niedrigdifferenziertes (G3) muzinöses Adenokarzinom des Kolons

mit einzelnen Siegelringzellen. Inmitten großer Schleimansammlungen (S) karzinomatöse Epithelkomplexe.

31.8.2

Hereditäre kolorektale Tumoren

(siehe auch Tab. 31-4)

Familiäre Adenomatosis coli Syn.: familiäre adenomatöse Polyposis coli, FAP

Definition und Ätiologie Die familiäre adenomatöse Polyposis coli (FAP) ist eine autosomal-dominant erbliche Krankheit, die zur Entwicklung zahlreicher (> 100) kolorektaler Adenome führt. Etwa 20–30% aller FAP-Fälle treten allerdings sporadisch auf. Sie sind auf spontane Neumutationen des FAP-Gens (siehe unten) zurückzuführen. Bislang wurden verschiedene Adenomatosisformen (familiäre Adenomatosis coli, Gardner-, Turcot-, Oldfield-Syndrom) als eigenständige Krankheitsbilder interpretiert. Diese scharfe Trennung kann aufgrund aktueller molekulargenetischer Befunde nicht mehr aufrechterhalten werden. Die phänotypische Variabilität extraintestinaler Manifestationen, wie sie beim Gardner-, Turcot- und OldfieldSyndrom (z.B. Osteome, Fibrome, Desmoidtumoren, maligne Tumoren des Zentralnervensystems, Augenhintergrundveränderungen) beschrieben wurden, können auch bei der familiären Adenomatosis coli in unterschiedlicher Expressivität beobachtet werden. Es handelt sich lediglich um variable Mutationen des gleichen Gens (allelische Varianten; pleiotrope Auswirkungen von Mutationen im gleichen Gen). Auch die attenuierte FAP (AAPC, hereditary flat adenoma syndrome), bei der lediglich 5–100 Adenome gefunden werden, gehört zu den allelischen Varianten der FAP.

Epidemiologie In westlichen Industrieländern werden eine jährliche Neuerkrankungsrate (Inzidenz) von 1,3 pro 1 Mio. Einwohner und eine Prävalenz von 1 pro 10000 Einwohner geschätzt. Die Penetranz beträgt nahezu 100%. Eine Geschlechtsprädisposition scheint nicht zu bestehen. Die Adenomatosis coli manifestiert sich bei einem Drittel der Patienten vor dem 30. Lebensjahr, bei einem Drittel in der 4. Lebensdekade und bei einem weiteren Drittel erst nach dem 40. Lebensjahr.

Tab. 31-4 Autosomal-dominant erbliche Tumordispositionserkrankungen des Gastrointestinaltrakts. Die FAP wird für etwa 1% aller kolorektalen Karzinome verantwortlich gemacht.

Morphologie Im Laufe der klinisch manifesten Erkrankung entwickeln sich zahlreiche (bis zu 5000), unterschiedlich große (im Mittel 0,5–1,0 cm), meist tubuläre, seltener villöse und tubulovillöse Adenome in Kolon und Rektum (Abb. 31-39), aber auch in anderen Bereichen des Gastrointestinaltrakts (Magen, Duodenum, Dünndarm). Im Magen sind bei der FAP häufig Drüsenkörperzysten (siehe Kap. 28.8.1) nachweisbar.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die familiäre Adenomatosis coli ist eine obligate Präkanzerose (= präkanzeröse Läsion). Unbehandelt entwickeln praktisch alle FAP-Patienten nach etwa 30 Krankheitsjahren Karzinome, die nicht selten multizentrisch entstehen. Die Therapie der Wahl besteht in einer totalen Proktokolektomie bzw. in einer restaurativen und kontinenzerhaltenden Kolektomie mit rektaler Mukosektomie und pouch-analer Anastomose. An extrakolischen Manifestationen beobachtet man Osteome, die typischerweise im Bereich der Mandibula auftreten, rezidivierende Desmoidtumoren und kutane Fibrome. In etwa 80% findet man eine für die FAP charakteristische Hypertrophie des retinalen Pigmentepithels (CHRPE). Da diese Läsion bereits kongenital auftritt, kann sie als prädiktiver Marker für Anlageträger einer FAP herangezogen werden. Bereits im Kleinkindesalter wird ein erhöhtes Hepato- und Medulloblastomrisiko beobachtet, später auch ein erhöhtes Risiko für Schilddrüsenkarzinome und Astrozytome.

Abb. 31-39

Familiäre Adenomatosis coli.

a Zahlreiche, unterschiedlich große Adenome (A) der kolorektalen Schleimhaut (Operationspräparat). b FAP (familiäre adenomatöse Polyposis coli) mit zahlreichen kleinen Adenomen (A) und einem ulzerierten Karzinom (K).

Genetik Der FAP liegt eine Keimbahnmutation im APC-Gen (adenomatous polyposis coli) zugrunde. Es handelt sich um ein Tumorsuppressorgen auf Chromosom 5q21-q22, das 1987 kartiert und 1991 kloniert wurde. Bislang wurden über 800 verschiedene Keimbahnmutationen gefunden, die zu einem verkürzten APC-Protein führen. Es hat

sich gezeigt, dass die Anzahl der sich entwickelnden Adenome und der extrakolischen Krankheitsmanifestationen (CHRPE, Desmoide, Osteome) von der Position der Mutation im APC-Gen abhängig sind. Die molekulargenetische Analyse des FAP-Gens und/oder indirekte Genotypbestimmung lassen sich zur prädiktiven Diagnostik bei Anlageträgern betroffener Familien nutzen und eröffnen völlig neue Möglichkeiten der Früherkennung und Prävention maligner Neoplasien.

Autosomal-dominant erbliches Kolonkarzinom ohne Polypose (HNPCC) Syn.: Lynch-Syndrom

Definition HNPCC (hereditary non-polyposis colorectal cancer) ist eine autosomal-dominant vererbte Tumordisposition mit hoher Penetranz (80–85%). Charakteristisch sind das frühe Auftreten von kolorektalen Karzinomen (im 4. Lebensjahrzehnt), die Entwicklung von syn-und/oder metachronen kolorektalen Zweit- bzw. Mehrfachkarzinomen sowie von Karzinomen anderer Organlokalisation. Über 70% der Karzinome sind im proximalen Kolon lokalisiert. Man unterscheidet zwischen einem Lynch-I- und einem Lynch-II-Syndrom. Im Unterschied zu ersterem ist das Lynch-II-Syndrom zusätzlich durch zahlreiche extraintestinale Tumoren charakterisiert (Endometrium, Magen, Gallenwege, Harnwege, Ovarien, Mammae). Zum HNPCC-Syndrom werden heute als allelische Varianten eine Untergruppe des Turcot-Syndroms (wenige kolorektale Adenome, Glioblastome) und das MuirTorre-Syndrom (Kolonkarzinome, Talgdrüsentumoren, Endometriumkarzinome und andere HNPCC-Tumoren) gerechnet.

Epidemiologie Etwa 5–10% aller kolorektalen Karzinome basieren auf Mutationen in HNPCCGenen (siehe unten). Insofern muss in Deutschland mit einer jährlichen Neuerkrankungsrate von etwa 3300 gerechnet werden. In einer auf molekularbiologischen Daten basierenden Untersuchung wird das kumulative Risiko eines HNPPC-Patienten, bis zum 70. Lebensjahr an einem Karzinom zu erkranken, für Männer auf 91% und für Frauen auf 69% geschätzt.

Morphologie Die überwiegend im rechtsseitigen Kolon, also proximal der linken Flexur, lokalisierten Karzinome zeigen gegenüber sporadischen Kolonkarzinomen häufiger eine muzinöse und in etwa 10–30% eine solid-medulläre Differenzierung. Sie sind im Allgemeinen mit einer ausgeprägten intra- und peritumoralen lymphozytären Infiltration unter Einschluss lymphofollikulärer Strukturen assoziiert (Abb. 31-40).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Wegen fehlender pathognomonischer Merkmale ist es nicht möglich, HNPCCassoziierte Karzinome von sporadischen zu unterscheiden. Zur Erfassung von Patienten mit einem Lynch-Syndrom aufgrund von klinischen und familienanamnestischen Daten wurden 1991 die sog. Amsterdam-Kriterien festgelegt, die später durch die Amsterdam-Kriterien II und 1996 durch die Bethesda-Kriterien erweitert wurden (Tab. 31-5).

Genetik Die autosomal-dominante Tumordisposition beim HNPCC-Syndrom beruht auf einer Störung im DNA-Mismatch-Reparatursystem, an dem bislang 5 Gene beteiligt sind. In etwa 70% der Fälle liegt eine Mutation in den Genen hMSH2 (Chromosm 2p16) und/oder hMLH1 (Chromosom 3p13.3) vor. Selten finden sich Keimbahnmutationen in den Genen hMMS1, hPMS2 oder hMSH6/GTBP. Der Ausfall dieses DNA-Reparatursystems begünstigt die Akkumulation von Replikationsfehlern. Dieses sich als Mikrosatelliten-Instabilität äußernde Phänomen findet man allerdings auch in etwa 15% der sporadischen kolorektalen Karzinome.

Abb. 31-40 HNPCC.

Solide wachsendes, undifferenziertes, sog. medulläres Karzinom mit ausgeprägter lymphozytärer Assoziation. HE, Vergr. 35fach.

Tab. 31-5 Amsterdam- und Bethesda-Kriterien. Sie definieren den Personenkreis, bei dem hinsichtlich der Tumorentstehung eine genomische Instabilität vorliegen könnte und der daraufhin untersucht werden sollte.

Peutz-Jeghers-Syndrom Das Peutz-Jeghers-Syndrom ist eine seltene, autosomal-dominant vererbte Erkrankung, die charakterisiert ist durch mukokutane Pigmentanomalien („Fleckenmelanose“) und eine sich im gesamten Gastrointestinaltrakt manifestierende Polypose.

Morphologie

Die unterschiedlich großen Pigmentflecken liegen im Niveau der Haut und der Schleimhäute. Nahezu obligat sind Pigmenteinlagerungen im Lippenrot, in der Wangenschleimhaut und in der perioralen Haut (schon unmittelbar nach der Geburt). Histologisch zeigen die Peutz-Jeghers-Polypen eine astartige Verzweigung glatter Muskelfasern, die durch ein strukturell und funktionell regelrecht differenziertes Epithel (Enterozyten, Becherzellen, ggf. auch Paneth-Zellen) begrenzt werden. Den Polypen liegt also eine Überschussbildung (hamartomatöse Fehlbildung) glattmuskulären Gewebes (Muscularis mucosae) zugrunde.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Peutz-Jeghers-Polypose führt besonders häufig zu Invaginationen, die multipel auftreten und rezidivieren können. Manifeste und okkulte Blutungen sind bei vielen Patienten zu beobachten. Eine maligne Entartung der Peutz-Jeghers-Polypen mit nachgewiesener Metastasierung ist selten. Allerdings entwickeln Patienten mit einem Peutz-Jeghers-Syndrom überzufällig gehäuft intestinale und extraintestinale Tumoren (z.B. Magenkarzinome, Mammakarzinome, testikuläre Tumoren u.a.). Todesfälle vor dem 30. Lebensjahr sind im Allgemeinen durch die intestinale Polypose (Invaginationen, Blutungen), Todesfälle nach dem 30. Lebensjahr durch die syndromassoziierte Entwicklung maligner Tumoren bedingt.

Genetik Das Peutz-Jeghers-Syndrom wird autosomal-dominant mit einer Penetranz von etwa 90% vererbt. In 10% der Fälle dürfte es sich um Neumutationen handeln. 1998 wurde das für das Peutz-Jeghers-Syndrom verantwortliche STK11-Gen auf Chromosom 19p identifiziert. Dieses Gen kodiert für eine Serin-Threonin-Kinase (STK), die offensichtlich an der Regulation der Zellteilung und an Differenzierungsund Signaltransduktionsprozessen beteiligt ist. Die bislang mitgeteilten Mutationen sind über das ganze Gen verteilt.

Juvenile Polypen, familiäre juvenile Polypose Juvenile Polypen sind überwiegend im Rektum lokalisiert und finden sich dort als multiple Polypen in 14–20%. Dagegen ist die im gesamten Gastrointestinaltrakt lokalisierte juvenile Polypose extrem selten. Der Häufigkeitsgipfel juveniler Polypen

(= kongenitale Polypen, Retentionspolypen) liegt zwischen dem 4. und 5. Lebensjahr. Allerdings gibt es auch eine adulte Manifestationsphase (25 Jahre und älter). Ätiologie und Pathogenese der juvenilen Polypen sind umstritten. Teils werden sie für kongenitale Fehlbildungen bzw. Hamartome der intestinalen Mukosa, teils für entzündliche Pseudopolypen gehalten. Histologisch findet man inmitten eines entzündlich aufgelockerten Stromas dilatierte, zystisch ausgeweitete Drüsen (Retentionspolyp; Abb. 31-41 und 31-42). Das begrenzende Epithel zeigt eine ortsübliche Differenzierung. Glattmuskuläres Gewebe ist im Polypenstroma nicht nachweisbar (Differentialdiagnose: Peutz-JeghersPolypen). Die Oberfläche juveniler Polypen ist häufig entzündlich arrodiert. Juvenile Polypen führen zu schmerzlosen rektalen Blutungen. Patienten mit einer familiären juvenilen Polypose (50–200 Polypen) haben ein 20- bis 60%iges Risiko, bis zum 60. Lebensjahr an einem kolorektalen Karzinom zu erkranken. Es besteht zudem ein erhöhtes Risiko, Magen- und Duodenalkarzinome zu entwickeln. Bei etwa 10% der Patienten mit einer familiären juvenilen Polypose findet man variable Entwicklungsanomalien, wie pulmonale arteriovenöse Fisteln, Makrozephalie, Hypertelorismus, Kryptorchismus, Ventrikelseptumdefekte, Fehlbildungen der Nierenbecken, hypertrophe Osteoarthropathien und motorische Entwicklungsstörungen.

Abb. 31-41

Juveniler Polyp (= Retentionspolyp).

Polypektomiepräparat, Sigma. Schnittfläche mit zahlreichen zystischen Drüsendilatationen (Sterne).

Abb. 31-42

Juveniler Polyp

mit zystisch dilatierten Drüsen (Sterne), ausgekleidet von ausdifferenzierten Becherzellen. Das Polypenstroma ist entzündlich aufgelockert, kein glattmuskuläres Gewebe. HE, Vergr. 35fach.

Genetik Etwa 30% der Patienten mit einer familiären juvenilen Polypose weisen eine Keimbahnmutation im SMAD4/DPC4-Tumorsuppressorgen auf. Dieses Gen, das häufig auch in Pankreaskarzinomen deletiert ist (DPC4 – deleted in pancreatic carcinoma; siehe Kap. 34.6), kodiert für einen in der Entwicklungsgeschichte hoch konservierten Transkriptionsfaktor (Signaltransduktion). Kopplungsanalysen sprechen indessen dafür, dass wenigstens ein weiterer Genort für die familiäre juvenile Polypose verantwortlich sein muss. Die Mischform einer familiär gebundenen Polypose mit Adenomen und juvenilen Polypen wurde kürzlich auf Chromosom 7q16 kartiert.

Cowden-Syndrom Das Syndrom ist durch verschiedene „hamartomatöse“ Läsionen charakterisiert, die sich im Allgemeinen erst im Laufe der 2. und 3. Lebensdekade entwickeln. Man findet papilläre Hyperkeratosen der oropharyngealen Schleimhäute, der Hände und Füße, fibrozystische Mastopathien und Mammakarzinome, eu- und hypothyreote Strumen

und Schilddrüsenkarzinome, Ovarialzysten und Uterusmyome sowie gastrointestinale Polypen. Die gastrointestinalen Polypen, die zum Teil bereits im Kindesalter auftreten können, sind histologisch identisch mit juvenilen Polypen (Differentialdiagnose!).

Genetik Dem Cowden-Syndrom liegt eine Keimbahnmutation im PTEN-Gen zugrunde. Das Gen kodiert für eine regulatorische Phosphatase auf Chromosom 10 (P = Phosphatase, TEN = Chromosom 10). Klinisch definierte Syndrome, wie das Bannayan-Zonana-Syndrom (Makrozephalie, subkutane und viszerale Lipome und Hämangiome) und das Lhermitte-Duclos-Syndrom (gliale Hamartome im Kleinhirn) dürften zumindest teilweise allelische Varianten des Cowden-Syndroms sein. Da bei diesem Syndrom nicht alle familiären Fälle ausschließlich durch Mutationen im PTEN-Gen erklärt werden können, muss ein weiterer Genort postuliert werden.

Li-Fraumeni-Syndrom Das autosomal-dominant vererbte Syndrom, bei dem in etwa 70% Keimbahnmutationen im p53-Gen gefunden werden, geht bei 7% der betroffenen Patienten mit der Entwicklung gastrointestinaler Karzinome einher. Vor allem Kolon und Rektum sind betroffen.

Neurofibromatose Typ 1 Syn.: Morbus von Recklinghausen Die generalisierte Neurofibromatose Typ 1 gehört zu den neurokutanen Phakomatosen (siehe Kap. 9.13). Der außerordentlich polymorphe und variable Symptomenkomplex beruht auf der pleiotropen Wirkung eines autosomal-dominanten Gens. Gastrointestinale Manifestationen neurofibromatöser Tumoren, die in 10–15% maligne entarten können, sind im Rahmen der generalisierten Neurofibromatose Typ 1 vergleichsweise selten. Gelegentlich findet man mukokutane Pigmentanomalien (Café-au-lait-Flecken).

31.8.3

Nichtepitheliale Tumoren

Gut- und bösartige Tumoren, die primär von ortsständigen mesenchymalen Geweben der kolorektalen Darmwand ausgehen, sind im Verhältnis zu den epithelialen Geschwülsten selten. Am häufigsten findet man lipomatöse und myogene Tumoren. Vielfach werden die mesenchymalen Geschwülste als Stromatumoren zusammengefasst, da nicht immer eine eindeutige histogenetische Zuordnung möglich ist.

31.9

Polypoide tumorartige kolorektale Läsionen

In diesem Abschnitt sollen lediglich die Läsionen kurz dargestellt werden, die klinisch und differentialdiagnostisch von Bedeutung sind.

31.9.1

Hyperplastische Polypen

Hyperplastische Polypen sind wahrscheinlich die häufigste Polypenart in Kolon und Rektum. Makroskopisch handelt es sich um typischerweise breitbasig wachsende und noduläre Läsionen der kolorektalen Schleimhaut. Sie sind 3–5 mm groß und treten häufig multipel auf (hyperplastische Polypose). Histologisch findet man elongierte Schleimhautkrypten mit einer deutlich verbreiterten Proliferationszone. Das begrenzende Kryptenepithel ist ausdifferenziert (Becherzellen), zeigt aber die für den hyperplastischen Polypen typischen pseudopapillären („sägezahnähnlichen“) Epithelknospen (Abb. 31-43). Die hyperplastischen Polypen sind gutartig; allerdings werden immer häufiger Kombinationsformen von hyperplastischen Polypen und tubulären bzw. villösen Adenomen beobachtet.

31.9.2

Gutartige lymphoide Polypen

Die im Allgemeinen multipel auftretenden gutartigen lymphoiden Polypen findet man im Intestinaltrakt v.a. dort, wo schon physiologischerweise lymphatisches Gewebe reichlich entwickelt ist, besonders häufig im Rektum (Analtonsille), aber auch im terminalen Ileum (Solitärfollikel, Peyer-Plaques). Sie entstehen wahrscheinlich reaktiv im Rahmen einer Entzündung oder immunopathischer Reaktionen. In der Tiefe der Lamina propria mucosae und in der Submukosa findet man Lymphfollikel mit meist aktivierten Keimzentren. Durch diese lymphofollikuläre Hyperplasie wird die rektale Schleimhaut polypenartig vorgewölbt. Klinische Symptome werden kaum beobachtet.

Abb. 31-43

Hyperplastischer Polyp

mit deutlich vertieften Schleimhautkrypten, die von Becherzellen ausgekleidet werden. Dabei findet man semizirkuläre Epithelknospen (Kolonbiopsie). HE, Vergr. 65fach.

31.9.3

Cronkhite-Canada-Syndrom

Das Cronkhite-Canada-Syndrom ist durch eine in allen Abschnitten des Magen-DarmTrakts auftretende Polypose (histologisch den juvenilen Polypen vergleichbar), Hautpigmentierungen, Alopezien, dystrophe Nagelveränderungen (Onychodystrophie), ausgeprägte Hypo- und Dysproteinämien und schwere Elektrolytstörungen (wässrige Diarrhö) charakterisiert. Die klinischen Symptome manifestieren sich im Allgemeinen erst nach dem 40. Lebensjahr. Die Prognose wird vor allem durch den intestinalen Eiweiß- und Elektrolytverlust bestimmt.

31.9.4

Endometriose

Die Beteiligung des Dickdarms an der extragenitalen Endometriose wird im Mittel mit 15–25% aller extragenitalen Manifestationen angegeben. Besonders betroffen sind Rektum und Sigma. Nur 5–10% aller Dickdarmendometriosen erlangen eine klinisch im Vordergrund stehende Bedeutung. Weitere Einzelheiten siehe Kap. 39.3.3.

31.10 Tumorartige Läsionen und Tumoren der anorektalen Grenzregion Im anorektalen Grenzbereich lokalisierte Geschwülste sind insgesamt selten. Praktisch bedeutsam sind tumorähnliche Läsionen wie fibröse Polypen, Marisken, sog. kloakogene

Polypen und prolabierte Hämorrhoiden. Auf Schweißdrüsenadenome (papilläre Hidradenome), Keratoakanthome und auf die intraepithelialen Neoplasien (Leukoplakien, Carcinomata in situ, Morbus Paget) soll in diesem Kapitel nicht weiter eingegangen werden. Es wird auf die jeweiligen Kapitel verwiesen.

31.10.1

Kondylome

Die von humanen Papillom-Viren (HPV 6 und 11) hervorgerufenen Kondylome (Condylomata acuminata) und destruierenden Riesenkondylome (Buschke-Löwenstein) werden den tumorähnlichen Läsionen zugerechnet. Die häufigen Condylomata acuminata der anorektalen bzw. perianalen Grenzregion treten oft multipel und beetartig auf. Im histologischen Aufbau entsprechen sie den spitzen Kondylomen der Vulva (siehe Kap. 39.5.5). Bei den seltenen Riesenkondylomen handelt es sich um Läsionen mit deutlicher Hyperkeratose, Akanthose und fokaler Papillomatose. Man findet sog. Koilozyten, in denen HPV-spezifische Nukleotidsequenzen nachgewiesen werden können. Die Dignität der destruierenden Kondylome ist nach wie vor umstritten. Die polypösexophytischen Formen zeigen kein invasives Wachstum, die beetartig-verrukösen Formen (Buschke-Löwenstein) hingegen infiltrieren das perirektale und perianale Gewebe. Erst nach mehrjährigen Krankheitsverläufen soll es zur Entwicklung verruköser Plattenepithelkarzinome kommen. Das klinische Erscheinungsbild der Kondylome wird im Wesentlichen von den jeweils vorliegenden Terrainbedingungen bestimmt. Toxische Kontaktexeme führen oft zu heftigem Juckreiz.

31.10.2

Bowenoide Papulose

Bei der bowenoiden Papulose handelt es sich um multipel auftretende, braunrote Hauttumoren, die histologisch alle Merkmale des Morbus Bowen, einer intraepithelialen Neoplasie im Sinne eines Carcinoma in situ, zeigen. Die bowenoide Papulose tritt vor allem bei jüngeren Menschen auf (15–40 Jahre), sie zeigt spontane Regressionen und ist wahrscheinlich viral verursacht (Papillom-Viren Typ 16).

31.10.3

Anale Karzinome

Die analen Karzinome machen etwa 1–2% aller kolorektalen Karzinome aus. Entsprechend der Tumorlokalisation und der damit zusammenhängenden histologischen Differenzierung können die analen Karzinome eingeteilt werden in solche des proximalen Analkanals und des distalen Analbereichs (Abb. 31-44). Die Grenze wird durch die Linea dentata markiert.

Abb. 31-44 Schematische Darstellung der aus tumortopographischen und -chirurgischen Gründen wichtigen Unterscheidung zwischen einem anatomischen und einem chirurgischen Analkanal.

Proximal der Linea dentata gelegene Karzinome (= Karzinome des proximalen Analkanals) entwickeln sich v.a. im Bereich der sog. kloakogenen Transitionalzone, also im Grenzbereich von Anoderm (Plattenepithel) und rektaler Mukosa. Selten sind die Proktodealdrüsen (blaue Bereiche in Abb. 31-44) oder anorektale Fistelgänge Ausgangspunkt dieser Karzinome. Das histologische Differenzierungsmuster umfasst basaloide, mukoepidermoide, epidermoide, muzinöse und anaplastische Karzinome. Sie werden z.T. als kloakogene Karzinome zusammengefasst. Bei den Karzinomen distal der Linea dentata (= Karzinome des distalen Analkanals bzw. des Analrandes) handelt es sich überwiegend um Basalzellkarzinome (Basaliome) und um Plattenepithelkarzinome, die jenen der Haut entsprechen (siehe Kap. 42.7.1).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Anale Karzinome können einen heftigen Juckreiz, lokale oder auch brennende Schmerzen, persistierende Druckempfindungen und Blutabgänge verursachen. Erst in späteren Stadien treten Schmerzen im Bereich des gesamten Beckens auf. Es entwickelt sich eine fortschreitende Obstruktion (Tumorstenosen im Analkanal). Diarrhöen sind selten. Die Prognose ist abhängig von der Lokalisation, vom Tumorstadium (Tumorgröße), vom Differenzierungsgrad und vom Ausmaß der lymphogenen Metastasierung. Sie wird für Karzinome des proximalen Analkanals bezüglich der 5-Jahres-Überlebensrate mit 20–60%, für Karzinome des Analrandes mit 60–75% angegeben.

31.10.4

Anale Melanome

Mit einer Häufigkeit von 1,6–3% werden in dieser Lokalisation auch maligne Melanome gefunden (siehe Kap. 42.7.4).

31.11 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik kolorektaler Erkrankungen Bei der differentialdiagnostischen Abklärung kolorektaler Krankheitsbilder spielt die morphologische Diagnostik eine wichtige und vielfach therapieentscheidende Rolle. Koloskopisch verifizierbare und dann auch biopsierbare Auffälligkeiten der kolorektalen Schleimhaut können allein durch die histologische Aufarbeitung der gewonnenen Gewebepartikel klar und eindeutig diagnostiziert werden. Das gilt vor allem für polypoide Schleimhautläsionen, die möglichst komplett abgetragen werden sollten (Polypektomie). Zangenbiopsien aus polypoiden Läsionen erlauben häufig keine eindeutige, therapiebestimmende Aussage. Erst die histologische Aufarbeitung eines kompletten Polypektomiepräparates entscheidet darüber, ob es sich um eine benigne (z.B. Adenom) oder maligne (z.B. Karzinom) Läsion handelt. Damit wird der histomorphologische Befund zum einzigen Kriterium hinsichtlich der Frage, ob eine zunächst diagnostische Polypektomie auch eine optimale therapeutische und damit karzinompräventive Polypektomie ist. An Operationspräparaten kolorektaler Karzinome werden durch die diagnostischen Methoden der Pathologie die therapie- und prognoserelevanten Daten zur TNM- und R-Klassifikation und zum histologischen Grading festgelegt. Auch bei entzündlichen Darmerkrankungen ist trotz des Fehlens spezifischer bzw. pathognomonischer Befundkonstellationen eine bioptisch-histologische Differentialdiagnose grundsätzlich möglich und auch etabliert. Vor diesem Hintergrund ist die diagnostische Interpretation histomorphologischer Befunde allerdings auf klinischanamnestische, endoskopische, röntgendiagnostische Informationen sowie auf Informationen über bislang durchgeführt Therapiemaßnahmen angewiesen. Schließlich können bei bestimmten Innervationsstörungen (z.B. Aganglionose) durch sequentielle Stufenbiopsien das Ausmaß des aganglionären Darmsegmentes und damit die Resektionslinien bereits präoperativ exakt festgelegt werden.

Literatur

Gebbers, J.-O., W. Remmele: Analregion. In: Remmele, W. (Hrsg.): Pathologie. Bd. 2, 2. Aufl., S. 677–703. Springer, Berlin–Heidelberg–New York 1996. Morson, B. C., I. M. P. Dawson, D.W. Day et al.: Morson and Dawson's gastrointestinal pathology. Blackwell Scientific Publications, Oxford–London–Edinburgh a.o. 1990. Otto, H. F., W. Remmele: Kolon und Rektum. In: Remmele, W. (Hrsg.): Pathologie. Bd. 2, 2. Aufl., S. 533–676. Springer, Berlin–Heidelberg–New York 1996.

FRAGEN 1 Nennen Sie und definieren Sie kongenitale Fehlbildungen des Kolons und deren Folgen. 2 Nennen Sie Ursachen, Formen und Folgen der Divertikel. 3 Welche Formen und Erreger mikrobieller Kolitiden sind Ihnen bekannt? 4 Nennen Sie idiopathische chronisch-entzündliche Darmerkrankungen und beschreiben Sie deren Formen, Morphologie und Folgen. 5 Wie lassen sich morphologisch mikrobielle (infektiöse) Kolitiden von idiopathischen chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen unterscheiden? 6 Welche nichtinfektiösen Kolitiden kennen Sie? 7 Gutartige und bösartige Dickdarmtumoren: Epidemiologie, Risikofaktoren, Morphologie und Konsequenzen. 8 Welches ist die Kernaussage der Adenom-Karzinom-Sequenz, und welche klinische Bedeutung kann daraus abgeleitet werden? 9 Welche tumorartigen kolorektalen Läsionen kennen Sie, und welche praktischklinische Bedeutung haben sie? 10 Welches sind die Indikationen zur morphologischen Untersuchung der in diesem Kapitel beschriebenen Krankheiten? Welche Untersuchungen sind indiziert? Welchen Beitrag können diese Untersuchungen zur präzisen Diagnostik und zur Planung der Therapie leisten?

32 Leber und intrahepatische Gallenwege H. DENK H. P. DIENES M. TRAUNER 32.1

Normale Struktur und Funktion 756

32.1.1

Struktur 756

32.1.2

Funktion 756

32.2

Fehlbildungen und Entwicklungsstörungen 757

32.2.1

Normale Leber- und Gallengangsentwicklung 757

32.2.2

Fehlbildungen der Leber und der intrahepatischen Gallengänge 757

Leber 757 Gallengangssystem 757 32.2.3

Vaskuläre Anomalien 758

32.3

Bilirubinmetabolismus und Ikterus 759

32.3.1

Bilirubin und Bilirubinstoffwechsel 759

32.3.2

Hyperbilirubinämie und Ikterus (Gelbsucht) 760

Klassifikation des Ikterus 760 Cholestase 761 32.4

Entzündliche Lebererkrankungen 764

32.4.1

Akute Virushepatitis 764

Virushepatitis A 764 Virushepatitis B 765 Virushepatitis C 767 Virushepatitis D 767 Virushepatitis E 768

Weitere Hepatitisviren 768 Morphologie der akuten Virushepatitis 768 Sonderformen der akuten Virushepatitis (in Relation zum morphologischen Bild) 769 Folgezustände nach akuter Virushepatitis 770 Andere Virushepatitiden 770 32.4.2

Chronische Hepatitis 770

32.4.3

Nichtvirale Infektionen der Leber 772

Bakterielle Infektionen 772 Parasiten 773 Pilzinfektionen 774 32.4.4

Granulomatöse Entzündungen („granulomatöse Hepatitis“) 774

32.5

Toxische und medikamentöse Leberschäden 774

32.5.1

Definitionen und biochemische Grundlagen 774

32.5.2

Toxisch bedingte pathologische Veränderungen 774

32.5.3

Alkoholischer Leberschaden 776

32.6

Fettleber 778

32.6.1

Leber und Fettstoffwechsel 778

32.6.2

Mechanismen der Fettleberentwicklung 778

32.6.3

Mit Fettleber assoziierte Zustände 778

32.6.4

Morphologie der Fettleber 779

32.7

Entzündung der intrahepatischen Gallenwege (Cholangitis) 779

32.7.1

Akute eitrige Cholangitis 779

32.7.2 Primär-biliäre Zirrhose (chronische nichteitrige destruierende Cholangitis, Autoimmuncholangitis) 780 32.7.3

Sklerosierende Cholangitis 781

Primär-sklerosierende Cholangitis 781

Sekundär-sklerosierende Cholangitis 782 32.8

Folgezustände von Lebererkrankungen 782

32.8.1

Leberfibrose 782

32.8.2

Leberzirrhose 782

32.8.3

Leberversagen 784

32.9

Zirkulationsstörungen in der Leber und im Pfortadersystem 785

32.9.1

Anatomische Vorbemerkungen 785

32.9.2

Störung des Pfortaderblutflusses 785

32.9.3

Arterielle Verschlüsse (A. hepatica) 785

32.9.4

Leber bei Schock 785

32.9.5

Störung des Blutabflusses aus der Leber 785

32.9.6

Portale Hypertonie 786

32.10

Leber und Stoffwechselstörungen 788

32.10.1

Hämochromatose 788

32.10.2

Morbus Wilson 789

32.10.3

α1-Antitrypsin(AAT)-Mangel 789

32.10.4

Andere Stoffwechselstörungen 790

32.11

Neoplastische Erkrankungen 790

32.11.1

Gutartige (benigne) epitheliale Tumoren 790

Hepatozelluläres Adenom 790 Tumorähnliche Läsionen, die in Differentialdiagnose zum hepatozellulären Adenom kommen 790 Gallengangsadenome/Zystadenome 791 32.11.2

Maligne epitheliale Tumoren 791

Hepatozelluläres Karzinom 791 Cholangiozelluläres Karzinom 793

Zystadenokarzinom 793 Hepatoblastom 793 32.11.3

Mesenchymale Tumoren 794

Hämangiom 794 Angiosarkom 794 32.11.4 Lebermitbeteiligung bei Neoplasien des blutbildenden und lymphoretikulären Systems 794 32.11.5

Lebermetastasen 794

32.12

Lebererkrankungen und Ikterus im Kindesalter 794

32.12.1

Neugeborenenikterus 795

32.12.2

Pathologische Form des Neugeborenenikterus 795

32.12.3

Hepatitis 795

32.12.4

Gallengangsveränderungen (infantile obstruktive Cholangiopathie) 795

Intrahepatische Gallengangsatresie 796 Extrahepatische Gallengangsatresie 796 32.12.5

Reye-Syndrom 796

32.12.6

Diverse andere Ursachen des Ikterus in der Neugeborenenperiode 796

32.12.7

Leberzirrhose im Kindesalter 796

32.12.8

Stoffwechselstörungen 797

32.13

Schwangerschaft und Leber 797

32.13.1

Icterus e graviditate 797

Akute Schwangerschaftsfettleber 797 Schwangerschaftscholestase 797 32.13.2

Icterus in graviditate 797

32.14

Pathologie der transplantierten Leber 797

32.15

Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Lebererkrankungen 798

Literatur 798 Fragen 798

Zur Orientierung Die Leber, das größte Organ des menschlichen Organismus, spielt eine wichtige Rolle im Kohlenhydrat-, Protein- und Fettstoffwechsel, aber auch bei der Entgiftung und Ausscheidung von Stoffwechselschlacken und Fremdstoffen. Die Kupffer-Sternzellen filtern als Mitglieder des Makrophagen-systems partikuläres Material, einschließlich Erreger, aus dem Blut heraus und sind auch an Immunreaktionen und toxi-schen Leberschädigungen beteiligt. Zur optimalen Erfüllung aller dieser Funktionen ist eine enge räumliche und funktionelle Beziehung zwischen den Zellen der Leber (Hepatozyten, Kupffer-Zellen, Endothelzellen) und dem Blut Voraussetzung. Sie wird durch die spezielle Architektur der Leber gewährleistet. Jede Beeinträchtigung der einzelnen Komponenten (Hepatozyten, Kupffer-Zellen, Ito-Zellen, Blutfluss, Gallengänge) und deren Interaktion im Rahmen krankhafter Prozesse führt zu einer Funktionsstörung der Leber.

32.1 32.1.1

Normale Struktur und Funktion Struktur

Die menschliche Leber hat ein durchschnittliches Gewicht von 1500 g. Als morphologische Untereinheit gilt das Leberläppchen, das aus Leberzellplatten (balken) und dazwischenliegenden Sinusoiden besteht. Die Sinusoide konvergieren zur Zentralvene. Die Portalfelder liegen zwischen den Läppchen und enthalten Gefäße, Nerven und Gallengänge. Sie werden von Leberzellen der parenchymatösen Grenzplatte umgeben. Die Sinusoide werden von Kupffer-Sternzellen und Endothelzellen ausgekleidet. Das zuführende Blut kommt über die äste der Pfortader und der A. hepatica, die im Portalfeld liegen. Es fließt durch die Sinusoide in die Zentralvene im Läppchenzentrum. Die Zentralvenen vereinigen sich zu Sublobularvenen und schließlich zu den Vv. hepaticae, durch die das Blut aus der Leber abfließt. Der Gallefluss erfolgt in entgegengesetzter Richtung. Galle wird in die Gallekanalikuli (Gallekanälchen) sezerniert, deren Wand durch die kanalikulären Leberzellmembranen gebildet wird. Der weitere Galleabfluss erfolgt über ein Gangsystem, bestehend aus den Kanälen von Hering (Cholangiolen), den Duktuli und den interlobulären Gallengängen in den Portalfeldern, und über den rechten und linken Ductus hepaticus in den Ductus choledochus. Den funktionellen Gegebenheiten wird aber die von Rappaport definierte Azinusstruktur der Leber besser gerecht (Abb. 32-1). Das Zentrum des Azinus wird von Teilen des Portalfeldes und den kleinsten Ästen der Pfortader und der A. hepatica gebildet, die Zentralvenen liegen an der Azinusperipherie. Die um das Portalfeld liegende Zone 1 des Leberparenchyms nach Rappaport erhält sauerstoff-, hormon- und

nährstoffreicheres Blut als die um die Zentralvene liegende Rappaport-Zone 3. Die dazwischenliegende Rappaport-Zone 2 nimmt eine Zwischenstellung ein. Die Leberzellen stellen ca. 80% der Zellpopulation der Leber dar. Sie besitzen funktionell differente Membranen (sinusoidal, lateral, kanalikulär). Die kanalikulären Membranen bilden die Gallekanalikuli und tragen zahlreiche Mikrovilli. Zwischen den Leberzellplatten und den Endothelzellen liegt der Disse-Raum. Die von Endothelzellen ausgekleideten Sinusoide sind fenestriert (gefenstert). Da auch eine kontinuierliche Basalmembran fehlt, ist eine Kommunikation zwischen Sinusoid und Disse-Raum möglich. Die Kupffer-Sternzellen sind Vertreter des MonozytenMakrophagen-Systems und spielen damit eine wichtige Rolle bei Abwehrreaktionen. Im Disse-Raum liegen spezialisierte Zellen, die Lipide und Vitamin A enthalten (= Fettspeicherzellen, Lipozyten, Ito-Zellen, „stellate cells“) und sich bei Induktion zu Myofibroblasten transformieren können, ferner finden sich dort Fibronektin sowie Kollagen Typ I und andere Matrixkomponenten als Gerüststruktur der Leber.

32.1.2

Funktion

Die Leber erfüllt metabolische (Glukosestoffwechsel, Fettstoffwechsel), synthetische (Serumproteine, Gerinnungsfaktoren),

Abb. 32-1

Azinus von Rappaport.

katabole und biotransformatorische Aufgaben (Abbau von Serumproteinen, Hormonen, Transformation von Fremdstoffen) sowie Speicher- (Glykogen, Triglyzeride, Metalle, Vitamine) und Ausscheidungsfunktionen (Gallebestandteile). Eine Störung der Leberfunktion ist daher mit ausgeprägter klinischer Symptomatik verbunden.

32.2

Fehlbildungen und Entwicklungsstörungen

32.2.1

Normale Leber- und Gallengangsentwicklung

In der 4. Embryonalwoche besteht die Leber nur aus primitiven Leberzellen, zwischen denen die Sinusoide liegen. Die intrahepatischen Gallengänge entwickeln sich aus primitiven Leberzellen, wobei diese Entwicklung durch die Pfortaderäste mit ihrem umgebenden Mesenchym (= primitives Portalfeld) gesteuert ist. Die an das primitive Portalfeld unmittelbar angrenzenden Leberzellen wandeln sich zuerst in Gallengangsepithelien um. Etwas später folgt die biliäre Transformation der anschließenden Zelllage (Duktalplatte). Zwischen beiden Zelllagen entwickelt sich ein Lumen (= primitiver Gallengang). Der primitive Gallengang umgibt somit das Portalfeld zylinderartig. Durch nachfolgende Modellierung und Umstrukturierung verschwinden Teile, und es entsteht schließlich das anastomosierende System der Gallengänge in den Portalfeldern. Bei einer Störung dieses Prozesses auf genetischer, metabolischer oder infektiöser Basis kann es zu einer Persistenz der Duktalplatte (= Duktalplattenfehlbildung) und zu anderen Anomalien der Gallengänge, einschließlich Fibrose, Verschwinden oder zystischer Erweiterung, kommen.

32.2.2 Fehlbildungen der Leber und der intrahepatischen Gallengänge Anatomische Fehlbildungen der Leber und der Gallenwege werden heute in vivo durch die zur Verfügung stehenden modernen bildgebenden Verfahren (Computertomographie, Ultraschalluntersuchung) häufiger diagnostiziert als früher.

Leber Agenesie Die Leberagenesie (Fehlen der Leber) ist mit dem Leben nicht vereinbar. Eine Agenesie eines Leberlappens (üblicherweise des rechten) ist selten.

Lageanomalien Im Rahmen des Situs inversus kann die Leber im linken Hypochondrium liegen. Die Leber oder Teile davon können auch in Hernien (z.B. Nabel-, Zwerchfellhernie) verlagert sein.

Abnorme Lappung Akzessorische Leberlappen sind üblicherweise klein und ohne klinische Relevanz. Nur selten machen akzessorische Leberlappen durch ihre Größe oder durch Torsion einen chirurgischen Eingriff erforderlich.

Ektopes Lebergewebe Ektopes Lebergewebe kann im Bereich der Gallenblasenwand, der Milzkapsel, im großen Netz, im Retroperitoneum und in anderen Lokalisationen vorkommen.

Gallengangssystem Fehlbildungen der intrahepatischen Gallenwege sind überwiegend Veränderungen, die mit Zystenbildung und Fibrose unterschiedlicher Ausprägung einhergehen (= fibropolyzystische Erkrankungen). Diese Gruppe von Erkrankungen umfasst die polyzystischen Veränderungen des Kindes und des Erwachsenen, Mikrohamartome, kongenitale Leberfibrose und die kongenitale intrahepatische Gallengangsdilatation (Caroli-Erkrankung). Sie sind meist angeboren (familiär) und können auch mit polyzystischen Nierenveränderungen kombiniert sein.

Kongenitale polyzystische Erkrankung des Erwachsenen Es handelt sich um eine autosomal-dominant vererbte Erkrankung. Diese multiplen nichtkommunizierenden Zysten in der Leber sind häufig mit Nieren- und gelegentlich mit Lungen-, Milz-, Pankreas- und Ovarialzysten vergesellschaftet. Sie variieren im Durchmesser zwischen wenigen Millimetern und mehreren Zentimetern und sind entweder über die gesamte Leber verteilt oder auf einen Leberlappen konzentriert. Sie werden von isoprismatischem (kubischem) Epithel ausgekleidet und von Bindegewebe umgeben.

Kongenitale polyzystische Erkrankung des Kindes Die Erkrankung ist autosomal-rezessiv vererbt und geht mit portaler Hypertonie einher. Sie zeigt sich klinisch entweder bei der Geburt (perinataler Typ), im Alter von einem Monat (neonataler Typ) oder im Alter von drei bis sechs Monaten (infantiler Typ). Die Portalfelder sind verbreitert, fibrosiert und enthalten zahlreiche miteinander kommunizierende erweiterte Gallengänge, die im Mikroskop erkennbar sind. Daneben finden sich makroskopisch sichtbare Nierenzysten.

Kongenitale Leberfibrose Die Erkrankung wird autosomal-rezessiv vererbt (auch sporadische Fälle kommen vor) und äußert sich im Adoleszenten- oder jungen Erwachsenenalter mit portaler Hypertonie und deren Komplikationen (Aszites, Ösophagusvarizen). Die Prognose ist aber wesentlich besser als die der Leberzirrhose. Diese Leberveränderung ist der infantilen kongenitalen polyzystischen Erkrankung ähnlich. Die zystische Dilatation der Gallengänge ist aber weniger, die Fibrose stärker ausgeprägt. Histologisch finden sich Zeichen der Duktalplattenfehlbildung (Persistenz der Duktalplatte) mit zahlreichen Gallengängen in der Peripherie fibröser Bezirke. Makroskopisch erinnert die Leber durch knotige Veränderungen an eine Zirrhose.

Gallengangsmikrohamartome Abb. 32-2 Gallengangsmikrohamartom.

In den ausgeweiteten Lumina findet sich oft Galle (Pfeile; gelb). HE, Vergr. 50fach. Syn.: von-Meyenburg-Komplexe Es handelt sich um singuläre oder multiple grauweiße, bis 1 cm große Knötchen, die aus zystisch erweiterten Gallengängen, die in fibröses Stroma eingebettet sind, bestehen (Abb. 32-2). Sie sind klinisch symptomlos und Zufallsbefunde bei Biopsie oder Autopsie.

Abb. 32-3

Solitäre Leberzyste.

Beachte die prall gefüllte Zyste, die sich in der Nähe des unteren Leberrandes vorwölbt (Pfeil).

Kongenitale intrahepatische Gallengangsdilatation Syn.: Caroli-Syndrom Dabei findet sich eine segmentale sackförmige Dilatation intrahepatischer Gallengänge. Durch die Dilatation werden Entzündungen, Fibrosen und die Entwicklung von Gallensteinen begünstigt. Die Erkrankung kann mit kongenitaler Leberfibrose kombiniert vorkommen und mit Zystennieren vergesellschaftet sein. Das männliche Geschlecht dominiert (75% männlich).

Solitäre Leberzysten Diese Zysten (Abb. 32-3) werden von einem einfachen Zylinderepithel vom biliären Typ ausgekleidet und enthalten klare, gelbe, gelegentlich auch gallig tingierte Flüssigkeit. Sie können aus einem oder mehreren Hohlräumen (uni- oder multilokulär) bestehen und (trotz des Namens) auch multipel vorkommen. Ihre Genese ist unklar. Hereditäre Faktoren scheinen keine Rolle zu spielen. Die meisten Zysten sind Zufallsbefunde bei Operationen oder Obduktionen. Große Zysten können aber durch Verdrängung klinische Symptome bewirken. Sie bevorzugen den rechten Leberlappen.

32.2.3

Vaskuläre Anomalien

Vaskuläre Anomalien können die A. hepatica (aberrante Arterien, Anomalien im Ursprung etc.), die V. portae (Duplikation, Atresie, Hyperplasie, kavernöse Transformation etc.) und die Lebervenen (membranöser Verschluss) betreffen.

32.3

Bilirubinmetabolismus und Ikterus

32.3.1 Bilirubin und Bilirubinstoffwechsel Abb. 32-4 Schema des Bilirubinstoffwechsels (ER = endoplasmatisches Retikulum).

Bilirubin ist ein Abbauprodukt des Häms und stammt größtenteils vom Hämoglobin der Erythrozyten (ca. 80%), zu einem kleineren Teil von unreifen Erythrozytenvorstufen, Myoglobin und von Hämoproteinen (Cytochromen) mitochondrialen und mikrosomalen Ursprungs (Abb. 32-4). Die Bilirubinproduktion aus Häm erfolgt in phagozytierenden Zellen vor allem der Milz, der Leber (Kupffer-Zellen) und des Knochenmarks durch die mikrosomale (sauerstoff- und NADPH-abhängige) Häm-Oxygenase. Bilirubin ist bei physiologischem pH wasserunlöslich, aber lipidlöslich. Es gelangt aus den Phagozyten

in das Blut und wird dort an Albumin gebunden. Fettsäuren, organische Anionen, aber auch Medikamente, wie z.B. Sulfonamide und Salizylate, können mit Bilirubin um die Albuminbindung konkurrieren und Bilirubin aus dieser Bindung verdrängen. Freies Bilirubin ist toxisch und imstande, Zellmembranen zu durchdringen und Zellschädigungen zu bewirken (z.B. im Zentralnervensystem). Der Bilirubin-AlbuminKomplex dissoziiert an der Plasmamembran der Leberzelle, und Bilirubin wird in die Leberzelle aufgenommen. Der Mechanismus der Bilirubinaufnahme ist aber noch unklar, Transportproteine könnten beteiligt sein (organic anion transport polypeptides, OATP). In der Leberzelle wird Bilirubin an zytosolische Proteine, z.B. Ligandin, gebunden und zum endoplasmatischen Retikulum transportiert. Dort wird Bilirubin durch das mikrosomale UDP-Glukuronyltransferase-System mit Glukuronsäure konjugiert, wobei überwiegend Diglukuronide (und nur zu einem geringen Teil Monoglukuronide) entstehen. Konjugiertes Bilirubin ist wasserlöslich und über die Galle ausscheidbar. Die Ausscheidung von konjugiertem Bilirubin in den Gallekanalikulus ist ein energieerfordernder Vorgang. Der Transport durch die kanalikuläre Membran der Leberzelle in die Galle erfolgt gegen einen Konzentrationsgradienten und es ist ein aktives trägermediiertes Transportsystem beteiligt (siehe unten). In der Galle findet sich Bilirubin in Form gemischter Mizellen in Kombination mit Cholesterin, Phospholipiden und Gallensäuren. Konjugiertes Bilirubin wird im distalen Dünndarm und im Kolon durch Bakterienenzyme (β-Glukuronidase) zu freiem Bilirubin hydrolysiert und dann zu Urobilinogen reduziert. Der größte Teil des Urobilinogens wird (zum braunen Urobilin oxidiert) über den Stuhl ausgeschieden, ein kleinerer Teil wird im terminalen Ileum (und in geringem Maße im Kolon) rückresorbiert und über die Leber wieder in die Galle ausgeschieden (enterohepatische Zirkulation). Bei Leberzellschädigung findet sich eine vermehrte Ausscheidung über den Harn.

32.3.2

Hyperbilirubinämie und Ikterus (Gelbsucht)

Definition Eine Erhöhung der Bilirubinkonzentration im Blut über 1 mg/dl wird als Subikterus, über 2 mg/dl als Ikterus (= Gelbsucht) bezeichnet.

Klinisch-pathologische Korrelationen Der Ikterus zeigt sich klinisch in einer Gelbfärbung der Haut, der Skleren, der Körperflüssigkeiten sowie der Organe (daher der Begriff „Gelbsucht“). Die Intensität des Ikterus wird von der Bilirubinproduktion und der Bilirubinausscheidung (auch über die Niere) bestimmt. Wegen seiner Wasserlöslichkeit bewirkt konjugiertes Bilirubin einen ausgeprägteren Ikterus als nichtkonjugiertes.

Klassifikation des Ikterus Nach der Pathogenese lassen sich prähepatische, hepatische und posthepatische Ursachen der Hyperbilirubinämie (des Ikterus) unterscheiden (Abb. 32-4). Bei unkonjugierter Hyperbilirubinämie ist unkonjugiertes, bei konjugierter Hyperbilirubinämie konjugiertes Bilirubin vermehrt.

Prähepatischer Ikterus überproduktion von Bilirubin (Folge: unkonjugierte Hyperbilirubinämie) Ein vermehrter Anfall von unkonjugiertem Bilirubin findet sich bei Hämolyse (siehe Kap. 21.2.1, hämolytische Anämie). Bei Neugeborenen kann es dabei durch das unkonjugierte Bilirubin zu Nervenzellschädigungen im Gehirn (= Kernikterus; siehe Kap. 8.2.8) kommen. In seltenen Fällen kann durch vermehrten Abbau von unreifen Erythrozytenvorstufen im Knochenmark ein Ikterus entstehen (ShuntHyperbilirubinämie).

Hepatischer Ikterus Verminderte Bilirubinaufnahme in der Leberzelle (Folge: unkonjugierte Hyperbilirubinämie) Eine verminderte Aufnahme von unkonjugiertem Bilirubin in die Leberzelle findet sich bei Leberzellschädigung (z.B. Virushepatitis). Auch diverse Medikamente (z.B. Antibiotika, Röntgenkontrastmittel) können mit Bilirubin um die Aufnahme in die Leberzelle konkurrieren und damit die Bilirubinausscheidung behindern.

Störungen der Bilirubinkonjugation (Folge: unkonjugierte Hyperbilirubinämie) ■ Morbus Gilbert (Morbus Meulengracht, Gilbert-Syndrom). Morbus Gilbert betrifft 2–5% der Population mit Bevorzugung des männlichen Geschlechts. Es handelt sich dabei um eine autosomal-dominant vererbte milde (Serumbilirubin 1–5 mg/dl) unkonjugierte Hyperbilirubinämie bei normalen Leberfunktionstests und normaler Leberhistologie. Die Hyperbilirubinämie wird durch Infekte oder Hunger verstärkt. Die UDP-Glukuronyltransferase-Aktivität in der Leberzelle ist vermindert. Bilirubinmonoglukuronid überwiegt über das Diglukuronid als Hinweis, dass ein weiterer Enzymdefekt für eine mangelhafte Konversion des Mono- zum Diglukuronid verantwortlich sein könnte. Patienten mit Morbus Gilbert bedürfen keiner Therapie, ihre Lebenserwartung ist nicht eingeschränkt.

■ Crigler-Najjar-Syndrom. Es existieren zwei Typen dieses Syndroms. Beim Typ I dieser Erkrankung findet sich ein kompletter Defekt der UDPGlukuronyltransferase, der zu einer permanenten unkonjugierten Hyperbilirubinämie führt. Das Enzymsystem ist mit Phenobarbital nicht induzierbar (siehe Kap. 2.6.3). Dieser Typ wird autosomal-rezessiv vererbt. üblicherweise tritt der Tod mit Kernikterus im ersten Lebensjahr ein. Die Leber zeigt keine histologisch fassbaren Veränderungen (außer eventuell vereinzelten Gallenthromben). Eine Lebertransplantation führt zur Normalisierung. Der Typ II des Crigler-Najjar-Syndroms wird autosomal-dominant vererbt. Die Aktivität der UDP-Glukuronyltransferase ist sehr stark vermindert. Das Enzymsystem ist aber mit Phenobarbital induzierbar. Eine Phenobarbitalbehandlung führt zu einer Steigerung der Enzymaktivität und zu einer dramatischen Besserung. Die Patienten überleben.

Störung des Transportes von konjugiertem Bilirubin (Folge: konjugierte Hyperbilirubinämie) ■ Dubin-Johnson-Syndrom. Das autosomal-rezessiv vererbte Dubin-JohnsonSyndrom ist durch eine chronische, intermittierende, vorwiegend konjugierte Hyperbilirubinämie charakterisiert, wobei die Leberzellen als einzige morphologische Veränderung ein schwarzbraunes, eisenfreies, melaninähnliches Pigment enthalten (Abb. 32-5). Die Natur dieses Pigmentes ist unklar. Es könnte sich um Polymere von Adrenalinmetaboliten handeln. Die konjugierte Hyperbilirubinämie beruht auf einem Defekt im Transport des konjugierten Bilirubins in den Gallekanalikulus. Dieser Defekt betrifft auch die Exkretion anderer Anionen, z.B. von Bromsulfophthalein und von Röntgenkontrastmitteln. Der Ikterus wird durch Schwangerschaft und Kontrazeptiva verstärkt bzw. ausgelöst. ■ Rotor-Syndrom. Dabei handelt es sich ebenfalls um eine chronische familiäre konjugierte Hyperbilirubinämie. Dieses Syndrom unterscheidet sich vom DubinJohnson-Syndrom vor allem durch das Fehlen des Pigmentes in der Leberzelle. ■ Leberzellschäden. Im Rahmen diverser, z.B. viraler oder toxischer, Leberzellschäden kann eine komplexe Störung des Bilirubintransportes auftreten und zu einer Hyperbilirubinämie führen.

Abb. 32-5 Dubin-Johnson-Syndrom.

Beachte die Einlagerung eines schwarzbraunen melaninähnlichen Pigments in die Leberzellen. HE, Vergr. 150fach.

Störung des Galleflusses aus den Kanalikuli in die extrahepatischen Gallengänge (Folge: konjugierte Hyperbilirubinämie) Die Störung des Galleflusses mit ihren Folgen wird als Cholestase bezeichnet. Die Ursachen können in der Leberzelle selbst liegen (= intrahepatische nichtmechanische Cholestase) oder auf einer Behinderung des Galleflusses in den intrahepatischen Gallengängen beruhen (= intrahepatische mechanische Cholestase). Eine Erhöhung der Durchlässigkeit intrahepatischer Gallengänge für Gallebestandteile (einschließlich Bilirubin) kann auf eine Schädigung des Gallengangsepithels (siehe z.B. nichteitrige destruierende Cholangitis, Kap. 32.7.2) zurückgehen und durch Rückresorption von Bilirubin ebenfalls zu Ikterus führen.

Posthepatischer Ikterus Störung des Galleflusses aus der Leber über den Ductus choledochus in das Duodenum (Folge: konjugierte Hyperbilirubinämie)

Extrahepatische mechanische Cholestase.

Cholestase Definition Unter Cholestase wird die Beeinträchtigung des Galleflusses verstanden, wobei Störungen auf dem gesamten Weg von der Galleproduktion in der Leberzelle bis zum Eintritt des Ductus choledochus in das Duodenum angreifen können. „Cholestase“ kann von unterschiedlichen Standpunkten betrachtet und definiert werden. Für den Morphologen äußert sie sich in Form der Retention von Gallepigment in den Leberzellen (intrazytoplasmatisches Gallepigment) und in den galleableitenden Wegen (Gallethromben, Gallepfröpfe, Abb. 32-6). Der Physiologe sieht in „Cholestase“ eine Verminderung bis Sistieren des Galleflusses. Der Kliniker beurteilt „Cholestase“ auf Basis der Retention von normalerweise über die Galle ausgeschiedenen Substanzen (Gallenfarbstoffe, Gallensalze, Cholesterin) in Blut und Geweben.

Abb. 32-6

Cholestase.

Es finden sich im HE-gefärbten Schnitt unregelmäßig gestaltete, zum Teil braungrüne Gallethromben in ausgeweiteten Gallenkanälchen (Pfeile). Außerdem Gallethromben in Kupffer-Sternzellen (Pfeilspitze), Vergr. 200fach.

Mechanismen des Galleflusses und der Gallesekretion (M. TRAUNER) Die hepatobiliäre Sekretion einzelner Gallebestandteile wie Gallensäuren, Cholesterin, Phospholipide, Bilirubin, Bikarbonat und Glutathion wird durch spezifische Transportsysteme an der basolateralen (sinusoidalen) und apikalen (kanalikulären) Membran des Hepatozyten vermittelt. Die Sekretion in den Gallekanalikulus stellt dabei den geschwindigkeitslimitierenden Schritt der Gallesekretion dar. Die Gallensäuresekretion ist die wichtigste Triebfeder des Galleflusses („gallensäurenabhängige Fraktion“) und baut gemeinsam mit sezerniertem Glutathion und Bikarbonat („gallensäurenunabhängige Fraktion“) einen osmotischen Gradienten auf, welcher den Einstrom von Wasser über die tight junctions und spezielle Wasserkanäle (sog. „Aquaporine“) zur Folge hat. Die primär gebildete kanalikuläre Galle wird im weiteren Verlauf vom Gallengangsepithel durch Sekretion und Rückresorption einzelner Bestandteile modifiziert (duktuläre Galle) und in der Gallenblase eingedickt.

Molekulare Defekte der Gallesekretion als Ursachen der Cholestase Mutationen bestimmter Transportsysteme können zu angeborenen, autosomalrezessiv vererbten Cholestasesyndromen wie der progressiven familiären intrahepatischen Cholestase (PFIC) führen. Die verschiedenen PFIC-Subtypen werden unterschiedlichen Transportdefekten zugeordnet (Abb. 32-7). Mutationen eines Aminophospholipidtransporters (FIC1) verursachen die progressive familiäre intrahepatische Cholestase Subtyp 1 (PFIC-1), welche auch als Byler-Erkrankung bekannt ist und bereits im Kindesalter zur Leberzirrhose führt. Der exakte Pathomechanismus ist noch nicht bekannt, da die Funktion von FIC1 für die Gallesekretion bislang noch ungeklärt ist. Möglicherweise spielter für die Elimination sekundärer (von der Darmflora gebildeter) hydrophober und damit äußerst toxischer Gallensäuren (z.B. Lithocholsäure) eine wichtige Rolle. Zusätzlich zur progressiven Cholestase liegen häufig auch extrahepatische Manifestationen wie Diarrhö, Malabsorption und rezidivierende Pankreatitiden vor, da FIC1 nicht nur in der Leber, sondern auch in Darm und Pankreas exprimiert ist. Im Gegensatz zur Cholestase sind diese extrahepatischen Symptome nicht durch eine Lebertransplantation zu korrigieren. Eine mildere Variante dieses Syndroms ist die benigne rezidivierende intrahepatische Cholestase (BRIC), welche ebenfalls durch Mutationen des FIC1Gens bedingt ist und durch intermittierende Cholestaseattacken mit Ikterus und Pruritus gekennzeichnet ist. Im Intervall sind diese Patienten beschwerdefrei.

Abb. 32-7 Hereditáre Transportdefekte.

Defekte der Gallensalz-Exportpumpe (bile salt export pump, BSEP) führen zu PFIC-2. Die Ursache dieses Syndroms liegt in einem Defekt der kanalikulären Gallensäuresekretion als direkte Folge der gestörten Expression und Funktion von BSEP. Da BSEP nur an der kanalikulären Membran des Hepatozyten exprimiert wird, fehlen bei diesem Syndrom die extrahepatischen Manifestationen. Sonst ist der klinische Verlauf von PFIC-2 dem der Byler-Erkrankung (PFIC-1) sehr ähnlich. PFIC-3 wird durch Mutationen der Phospholipid-Exportpumpe (multidrug resistance protein 3, MDR3) verursacht. Hier führt die verminderte oder sogar völlig fehlende Sekretion von Phospholipiden zur Schädigung des Gallengangsepithels durch Gallensäuren; normalerweise bilden Phospholipide und Cholesterin mit Gallensäuren gemischte Mizellen in der Galle, welche die Gallensäurentoxizität verhindern. Beim Erwachsenen können MDR3-Defekte für bestimmte Formen der Schwangerschaftcholestase und für die Bildung von Cholesterin-Gallensteinen verantwortlich sein. Letztere sind durch die gestörte Löslichkeit von Cholesterin in der Galle erklärbar. Mutationen der Bilirubin-Exportpumpe (multidrug resistance-related protein, MRP2) sind für das Dubin-Johnson-Syndrom verantwortlich, welches durch eine gestörte Sekretion von konjugiertem Bilirubin und einer Vielzahl anderer organischer Konjugate gekennzeichnet ist. In diesem Fall liegt nur eine isolierte

Hyperbilirubinämie, jedoch keine vollständige Störung der Galleproduktion im Sinne einer Cholestase mit erhöhten Gallensäurespiegeln und Cholestasefermenten im Serum vor. Obwohl bisher noch keine Mutationen der Medikamenten-Exportpumpe (multidrug resistance protein 1, MDR1) beschrieben worden sind, könnten diese für medikamentös induzierte Cholestaseformen verantwortlich sein, zumal eine gestörte Elimination von Medikamenten zur intrazellulären Akkumulation im Hepatozyten und sekundären Hemmung anderer kanalikulärer Transportsysteme führen könnte. Weitere Beispiele für kanalikuläre Transportdefekte, welche zwar nicht zur Cholestase, aber zu anderen Erkrankungen führen können, sind Mutationen der kanalikulären Kupfer-Exportpumpe (ATP7B) als Ursache des Morbus Wilson sowie Mutationen eines Sitosterol-Transporters (ABCG5/G8) als Ursache der Sitosterolämie, einer autosomal-rezessiv vererbten Erkrankung, die durch die Akkumulation exogener pflanzlicher Sterole mit frühzeitiger Atheroskleose gekenzeichnet ist. Zusätzlich zu diesen hepatozellulären Defekten können auch Transportdefekte auf Ebene des Gallengangsepithels zur Cholestase führen. So führen Mutationen eines Chloridkanals (cystic fibrosis transmembrane conductance regulator, CFTR) bei zystischer Fibrose zu einer gestörten Chlorid- und Bikarbonat-Sekretion durch das Gallengangsepithel, was eine Obstruktion der intrahepatischen Gallengänge durch das visköse Sekret mit Ausbildung einer fokalen, später multilobulären biliären Zirrhose zur Folge hat. Patienten mit zystischer Fibrose entwickeln im Erwachsenenalter infolge dieser Gallesekretionstörung häufig eine sklerosierende Cholangitis. Das Alagille-Syndrom ist durch Mutationen des JAG1-Gens hervorgerufen. Dieses Gen kodiert nicht für ein Transportsystem, sondern für einen Liganden des NOTCH-Rezeptor-Signalweges, welcher eine wichtige Rolle in der Zelldifferenzierung spielt. Folge dieses Defektes ist eine angeborene Duktopenie, häufig in Kombination mit anderen Entwicklungsdefekten wie peripherer Pulmonalstenose, Wirbelkörper- und Gesichtsfehlbildungen. Neben diesen angeborenen Defekten der Gallesekretion spielen auch erworbene Veränderungen der Transporterexpression für die Entstehung der Cholestase eine wichtige Rolle. Es müssen dabei primäre, ursächliche von sekundären, adaptiven Veränderungen unterschieden werden, Letztere sollen die Leberzellen vor akkumulierenden Gallensäuren schützen. Cholestatische Noxen wie Medikamente, Sexualhormone und proinflammatorische Zytokine (z.B. im Rahmen einer Sepsis oder Hepatitis) hemmen die Expression und Funktion der kanalikulären Gallensäuren-Exportpumpe (BSEP) und Bilirubin-Konjugat-Exportpumpe (MRP2) und führen dadurch zur Cholestase. Zusätzlich können diese Noxen eine

Verlagerung kanalikulärer Transportsysteme von der kanalikulären Membran in das Zellinnere und damit eine Cholestase bewirken. Eine verstärkte Empfindlichkeit gegenüber exogenen cholestatischen Noxen ist durch heterozygote Formen oder Schwachformen eines angeborenen Transportdefektes möglich. Als Beispiel dafür entwickeln heterozygote Mütter von Kindern mit einem homozygoten MDR3-Defekt (PFIC-3) gehäuft eine Schwangerschaftscholestase. Diese molekularen Defekte der Gallensekretion haben diagnostische Relevanz, da Mutationen molekulargenetisch nachgewiesen werden können. Ihre therapeutische Relevanz liegt darin, dass die defekte Transportexpression teilweise medikamentös (z.B. durch Ursodeoxycholsäure) stimuliert werden kann. Ursachen für die Cholestase können auf Basis des oben Gesagten somit entweder in der Leberzelle (v.a. in der kanalikulären Membran) liegen und damit die für die Sekretion von Gallebestandteilen verantwortlichen Komponenten betreffen oder in den galleableitenden Wegen (Kanalikulus bis zur Mündung des Ductus choledochus an der Papilla Vateri).

Klassifikation Nach den in bzw. außerhalb der Leber gelegenen Ursachen lässt sich die Cholestase in eine extra- und eine intrahepatische Form einteilen ■ Intrahepatische Cholestase. Die Cholestaseursachen liegen innerhalb der Leber. □ Hepatozellulär. Wesentliche Ursachen sind Schädigungen der Zellmembran mit Beeinflussung der für den gallensalzabhängigen und unabhängigen Gallefluss notwendigen Enzyme und Transportsysteme. In Frage kommen dabei virale (Virushepatitiden), toxische (Alkohol, Medikamente, Steroidhormone) Ursachen, angeborene Defekte (BylerErkrankung, Zellweger-Syndrom), Defekte des Gallensäurestoffwechsels, bakterielle Infektionen (Sepsis), Störungen des Zellskeletts. □ Veränderungen der intrahepatischen Gallengänge. Im Rahmen der intrahepatischen Gallengangsatresie, von Entzündungen (destruierende Cholangitiden, sklerosierende Cholangitiden) oder Präzipitation von Gallebestandteilen in den intrahepatischen Gallengängen. Extrahepatische Cholestase. Diese Form der Cholestase entsteht infolge eines mechanischen Galleabflusshindernisses außerhalb der Leber (Gallensteine, Tumoren des Gallenganges, der Papille, des Pankreas, vergrößerte Lymphknoten an der Leberpforte, entzündliche Schwellung des Pankreaskopfes, narbige Gallengangsstrikturen, extrahepatische

Gallengangsatresie). Oberhalb der Obstruktion werden die Gallengänge erweitert. Durch den Gallestau werden bakterielle Infektionen mit Entwicklung einer Cholangitis begünstigt.

Abb. 32-8 Cholestase.

Lang dauernde mechanische

Durch die schädigende Wirkung der Galle kommt es zu Leberzellnekrosen mit Austritt von Galle in den nekrotischen Bereich (= Galleinfarkt: Sternchen). Die umgebenden, noch intakten Leberzellen zeigen eine netzartige Veränderung des Zytoplasmas (Pfeile) und Einlagerung von Gallenpigment (= Netzdegeneration). HE, Vergr. 200fach.

Morphologie

Das morphologische Bild ist bei intra- und extrahepatischer Cholestase ähnlich, bei lang dauernder extrahepatischer Cholestase sind die Veränderungen aber am stärksten ausgeprägt. Die morphologisch erfassbaren Auswirkungen der Cholestase ergeben sich aus der Retention toxischer Gallebestandteile, insbesondere von Bilirubin und Gallensäuren. Es finden sich Bilirubineinlagerungen in Leberzellen und Kupffer-Zellen sowie Gallethromben in Gallekanalikuli, wobei diese Veränderungen in den Frühphasen der Cholestase im läppchenzentralen Abschnitt (Zone 3 des Azinus) überwiegen und sich dann gegen die Läppchenperipherie (Zone 1 des Azinus) ausdehnen. Bei ausgeprägterer Leberzellschädigung kommt es zu einer netzartigen Veränderung des Zytoplasmas (= Netzdegeneration, federige Degeneration), wofür die als Detergenzien wirkenden retinierten Gallensalze verantwortlich sind („Cholatstase“). Später kann es auch zu Nekrosen (= Netznekrosen) von Leberzellen kommen. Ausgedehntere Nekrosen werden als

Galleinfarkte bezeichnet (Abb. 32-8). An der Läppchenperipherie kommt es zu einer Proliferation von Duktuli mit umgebender Infiltration durch neutrophile Granulozyten (bedingt durch bilio-lymphatischen Reflux und durch Leukotriene). Entzündliche Veränderungen finden sich überwiegend in den Portalfeldern, die abgerundet und ödematös und vor allem von neutrophilen Granulozyten und zu einem geringeren Grad von Lymphozyten und Plasmazellen infiltriert sind. Weitere Folgen des Entzündungsprozesses sind das Auftreten einer periduktalen Fibrose, Verlängerung und Schlängelung von Gallengängen (Gallengangsproliferation) sowie die Entwicklung von Bindegewebesepten, die von einem Portalfeld zum anderen reichen (portoportale Septenbildung; biliäre Fibrose). Bei längerer Dauer eines extrahepatischen Verschlusses kommt es zur Ausweitung größerer interlobulärer Gallengänge, die dann auch von Galle erfüllt sind. Durch Ruptur der gestauten Gallengänge (findet sich nur bei mechanischer Cholestase!) kann es zur Ausbildung von Galleseen (Galleextravasaten) kommen. Später kann es zur Zerstörung der Architektur und zur Entwicklung einer Leberzirrhose kommen (= sekundär-biliäre Zirrhose; siehe Kap. 32.7.1 und Tab. 32-3). Das Organ ist dann sehr derb, vergrößert, kleinknotig verändert und durch die retinierte Galle grün gefärbt. Die sekundär-biliäre Zirrhose ist auch eine klassische Komplikation der Gallengangsatresie (siehe Kap. 32.12.4).

32.4

Entzündliche Lebererkrankungen

Entzündliche Lebererkrankungen können das Leberparenchym (= Hepatitis), das intrahepatische Gallengangssystem (= Cholangitis) oder Gefäße betreffen. Die Veränderungen können diffus oder herdförmig sein. Als Ursachen kommen Erreger (Viren, Bakterien, Pilze, Parasiten), toxische Faktoren, Stoffwechselstörungen und Immunreaktionen in Frage.

32.4.1

Akute Virushepatitis

Definition und Epidemiologie Die akute Virushepatitis ist von besonderer praktischer Bedeutung (z.B. werden in den USA jährlich 200 000–700 000 Neuinfektionen beobachtet). Die Letalität der akuten Erkrankung ist niedrig. Die akute Virushepatitis ist eine durch Viren verursachte diffuse Leberentzündung, die durch Leberzelldegeneration, Leberzellnekrosen, Kupffer-Zell-Proliferation und entzündliche Infiltrate gekennzeichnet ist und nicht länger als 6 Monate andauert. Neben den klassischen Hepatitisviren (= hepatotrope Viren), nämlich Hepatitis-A-Virus (HAV), Hepatitis-B-Virus (HBV), Hepatitis-C-Virus (HCV), Hepatitis-D-Virus (HDV) und Hepatitis-E-Virus (HEV), kann eine Reihe anderer Erreger (z.B. Epstein-Barr-Virus, Gelbfiebervirus, Zytomegalievirus etc.) Hepatitiden bewirken. Die morphologischen Veränderungen der Leber sind bei A-, B-,

C-, D- und E-Hepatitiden ähnlich und werden daher gemeinsam besprochen. Interessanterweise rufen die verschiedenen Hepatitisviren ein ähnliches klinisches und morphologisches Bild hervor, obwohl sie zu unterschiedlichen Familien in der Virussystematik gehören. Neben den erwähnten Viren werden noch weitere Erreger der Virushepatitis vermutet. In jüngster Zeit wurde das Hepatitis-G-Virus (HGV), ein RNA-Virus der Flavivirusgruppe, isoliert und näher charakterisiert. Ob es sich dabei aber tatsächlich um ein hepatotropes Virus mit primärer Replikation in der Leber handelt, ist noch umstritten.

Virushepatitis A ätiologie Das Hepatitis-A-Virus (HAV) ist ein Picorna-(RNA-)Virus (Genus: Hepatovirus). Es handelt sich um ca. 27 nm durchmessende sphärische Partikel, die über die Galle im Stuhl ausgeschieden werden. Die Infektiosität des Stuhls besteht bereits vor Entwicklung der klinischen Symptomatik, z.B. des Ikterus (Gelbsucht), und nimmt nach Manifestation der Erkrankung schnell ab.

Epidemiologie Die Durchseuchung der Bevölkerung mit dem Erreger (gemessen durch Bestimmung von zirkulierenden HAV-Antikörpern) ist in Ländern mit niedrigerem Hygienestatus (Entwicklungsländer) hoch. Die Infektion erfolgt auf fäko-oralem Weg (z.B. Aufnahme der Erreger über kontaminiertes Wasser, kontaminierte Nahrungsmittel, wie Früchte, ungekochtes Gemüse, Muscheln etc.). Eine Übertragung durch Bluttransfusionen ist möglich, aber sehr selten. In westlichen Industrieländern ist die Hepatitis A heute eine typische „Reisekrankheit“, der durch entsprechende Prophylaxe vorzubeugen ist. Aktive und passive Immunisierungen sind möglich. Ein chronischer Virusträgerstatus besteht nicht.

Pathogenese

Das HAV ist höchstwahrscheinlich direkt zytopathisch (d.h., es schädigt und zerstört die Leberzellen). Dies erklärt auch das Fehlen eines chronischen Virusträgerstatus. Eine Immunreaktion des Organismus gegen virusinfizierte Leberzellen ist aber nicht sicher auszuschließen.

Tab. 32-1 Zusammenfassung virologischer, klinischer und epidemiologischer Daten der akuten Virushepatitiden.

Tab. 32-1 Zusammenfassung virologischer, klinischer und epidemiologischer Daten der akuten Virushepatitiden.

+ sehr selten in Mittel- und Nordeuropa; 50–90% der HBsAg-Träger in Süditalien, Balkan, Vorderem Orient

Klinisch-pathologische Korrelationen (Tab. 32-1) Die Virushepatitis A ist eine akute, selbstlimitierende Erkrankung. Nach einer Inkubationszeit von 15–50 Tagen kommt es zu Übelkeit, Fieber, Appetitlosigkeit, Transaminase-(Aminotransferase-)Anstieg und Ikterus (besonders bei Kindern ist die Erkrankung aber häufig anikterisch und klinisch symptomarm). Der Verlauf der Erkrankung ist üblicherweise mild. Der Erkrankung verläuft aber umso schwerer, je älter der Patient ist. Fulminante Verlaufsformen mit ausgedehnten Leberparenchymnekrosen und schlechter Prognose sind selten. Serologisch lässt sich die Erkrankung durch den Anstieg des Anti-HAV-IgM-Antikörper-Titers diagnostizieren, wobei die IgM-Antikörper schnell (innerhalb weniger Monate) wieder abfallen. In der Rekonvaleszenzphase steigen HAV-Antikörper vom IgG-Typ an, bleiben lebenslang bestehen und bewirken lebenslange Immunität.

Virushepatitis B Ätiologie Das Hepatitis-B-Virus (HBV) ist ein komplexes hepatotropes DNA-Virus, das sich im Elektronenmikroskop als 42 nm durchmessendes sphärisches Partikel (DanePartikel) mit 27 nm messendem Zentrum (Core, Nukleokapsid) und 7 nm breiter Hülle (Surface) präsentiert. Mit der nichtinfektiösen Hülle (bestehend aus Lipoproteinen und Glykoproteinen) ist das Oberflächenantigen (HBsAg; s = surface, Oberfläche) assoziiert. Das Nukleokapsid enthält das Hepatitis-B-CoreAntigen (HBcAg), eine DNA-Polymerase (reverse Transkriptase) sowie das virale Genom (= partiell doppelsträngige zirkuläre DNA) mit bekannter Sequenz und Organisation. Das Prä-S1/Prä-S2/S-Gen kodiert für verschiedene Hüllenproteine des HBsAg. Das Prä-C/C-Gen kodiert für ein Protein, das nach posttranslationaler Modifikation als Hepatitis-B-e-Antigen (HBeAg) im Serum nachweisbar ist und hohe Virusreplikation und Infektiosität anzeigt. Es bestehen Hinweise, dass das

HBeAg eine immunologische Toleranz gegen HBcAg induziert. Das P-Gen kodiert für die virale DNA-Polymerase. Das X-Gen kodiert für ein X-Protein, das die Virusreplikation reguliert. Die Replikation des Virus erfolgt über ein RNAZwischenstadium („Prägenom“) mit anschließender reverser Transkription zu einem komplementären DNA-Strang und nachfolgender Ausbildung des DNADoppelstranges durch virale DNA-Polymerase. Dabei kann es zu Mutationen mit diversen Antigendefekten kommen, die auch mit unterschiedlichen klinischen Verläufen und atypischer Serologie verbunden sein können. Die Synthese von Core- und Hüllenmaterial ist schlecht koordiniert. Komplettes HBV ist im Blut in Form von Dane-Partikeln, überschüssiges Hüllenmaterial in Form von 20 nm großen sphärischen Partikeln sowie 20 nm durchmessenden und 40–400 nm langen Filamenten elektronenmikroskopisch nachweisbar. Mittels immunhistochemischer und elektronenmikroskopischer Methoden können das HBs- und HBc-Antigen bei chronischen HBV-Infektionen in Leberzellen nachgewiesen werden (Abb. 32-9). Epidemiologie Im Gegensatz zur Virushepatitis A existiert ein chronisches Virusträgerstadium (geschätzt weltweit ca. 200 Millionen Virusträger!), wobei die Frequenz von Virusträgern („Carrier“) in Südostasien und Afrika besonders hoch ist (in Mittel- und Nordeuropa nur ca. 0,1–0,5%, in Afrika und Asien bis 15% der Bevölkerung). Der Virusträgerstatus scheint z.T. genetisch determiniert zu sein. Bei immunsupprimierten oder -defekten Patienten (z.B. Down-Syndrom, Patienten mit malignen Lymphomen, Transplantatempfänger, Dialysepatienten), bei Homosexuellen und bei Drogenabhängigen ist der Träger-(„Carrier“-)Status häufiger. Die Übertragung des Virus erfolgt durch Blut und Blutprodukte („Transfusionshepatitis“, „Serumhepatitis“), aber auch durch Speichel, Samenflüssigkeit, Vaginalsekret, Muttermilch und andere Körperflüssigkeiten (wahrscheinlich über Kontamination mit Blut; Gefahr bei Intimkontakten!). Die „vertikale“ Übertragung von der Mutter auf das Kind (üblicherweise bei der Geburt) spielt ebenfalls eine große Rolle. Die Übertragung durch Blut und Blutprodukte (Transfusionen!) ist heute durch die Testung von Spenderblut auf HBsAg drastisch zurückgegangen.

Pathogenese HBV selbst ist nicht (oder nur wenig) zytopathisch. Die Zerstörung virusinfizierter Leberzellen scheint hingegen über eine zelluläre Immunreaktion gegen virusabhängige Zelloberflächenantigene (HBcAg scheint dabei eine wichtige Rolle zu spielen) zu erfolgen (viele Details noch unklar). Bei fehlender oder inadäquater Immunreaktion kommt es nicht zur Elimination des Virus. In Abhängigkeit von der Immunkompetenz resultiert dann ein chronischer Virusträgerstatus, der mit mehr oder weniger ausgeprägten Leberzellschäden einhergeht.

Klinisch-pathologische Korrelationen (Tab. 32-1) Entsprechend der Pathogenese der HBV-assoziierten Leberzellschädigung als immunologisch bedingte Reaktion lassen sich unterschiedliche klinische Verlaufsformen der HBV-Infektion unterscheiden. ■ Akute Virushepatitis B. Diese ist die häufigste Verlaufsform. Nach Infektion mit HBV kommt es bei 20–30% der Fälle zu einem akuten und bei ca. 60% zu einem subklinischen Verlauf. In den meisten Fällen erfolgt Spontanheilung. Die akute Hepatitis führt über die Zellzerstörung zur Viruselimination (selbstlimitierende Erkrankung). Schwere Verlaufsformen (ca. 1% der akuten Hepatiden) sind durch ausgeprägte Leberzellnekrosen (konfluierende Nekrosen, brückenbildende Nekrosen, fulminante Hepatitis; Abb. 32-10) und schlechte Prognose gekennzeichnet (siehe „Morphologie der akuten Virushepatitis“). Die Inkubationszeit beträgt 30–180 Tage. Das klinische Bild ähnelt dem der Virushepatitis A, die Erkrankung neigt aber zu schwereren Verlaufsformen. Ihre Dauer sollte 3 Monate nicht überschreiten. Bei einer Erkrankungsdauer zwischen 3 und 6 Monaten wird klinisch von prolongierter Verlaufsform (prolongierte Hepatitis), bei einer Erkrankungsdauer von mehr als 6 Monaten von einer chronischen Hepatitis gesprochen. Im Rahmen einer akuten HBV-Infektion erscheint HBsAg im Blut (Serum) frühestens 14 Tage nach Infektion, spätestens 14 Tage vor Ikterusbeginn (also noch in der Inkubationszeit) und verschwindet üblicherweise bei Abklingen der klinischen Symptome. Nach Verschwinden des HBsAg steigen die Antikörper gegen HBsAg an. (Abb. 32-11). Diese Antikörper bewirken eine dauernde Immunität. Antikörper gegen HBcAg treten früh im Verlauf der Infektion auf und erreichen ihr Maximum etwa in der 3. Krankheitswoche. Hohe IgM-anti-HBc-Titer finden sich bei akuter Virushepatitis, niedrige Titer bei chronischer HBV-Infektion. IgG-anti-HBcTiter (zusammen mit Anti-HBs) zeigen eine abgelaufene HBV-Infektion an. HBeAg tritt bei akuter Hepatitis im Blut erst nach dem HBsAg auf und verschwindet früher. Dieses Antigen weist auf die Virusvermehrung hin. Nach seinem Verschwinden kommt es zum Auftreten von HBe-Antikörpern (= Serokonversion). Zirkulierende HBsAg-HBs-Antikörper-Komplexe werden für eine Reihe bei Hepatitis auftretender extrahepatischer Veränderungen (z.B. Vaskulitis, Arthritis, Glomerulonephritis) verantwortlich gemacht. Mittels gentechnologisch hergestellter HBsAg-Komponenten lässt sich heute eine aktive Immunisierung (= Vakzination) gegen Hepatitis B durchführen. Die Therapie erfolgt mit α-Interferon.

Abb. 32-9 Antigenen.

Darstellung von HBV-assoziierten

a HBs-Antigen-Darstellung im Zytoplasma von Leberzellen mit Hilfe der Immunperoxidasemethode. Das HBs-Antigen wird durch eine braune Farbreaktion nachgewiesen. b Die HBs-Antigen-haltigen Leberzellen zeigen eine „milchglasartige“ Homogenisierung des Zytoplasmas in der HE-Färbung („Milchglaszellen“; Pfeile). c Immunhistochemische Darstellung von HBc-Antigen in Leberzellkernen: Die HBc-haltigen Zellkerne sind rot angefärbt (Pfeile), die negativen Zellkerne zeigen eine hellblaue Anfärbung. Vergr. a: 400fach, b: 400fach, c: 200fach.

Abb. 32-10

Nekroseformen bei Hepatitis.

■ Chronische Hepatitis und chronischer Träger-(=Carrier-)Status. Klinisch ist diese Situation durch eine Persistenz der HBs-Antigenämie für länger als 6 Monate charakterisiert (tritt bei ca. 3% der Patienten mit Hepatitis B auf), wobei eine Serokonversion mit Ausbildung von Anti-HBs-Antikörpern ausbleibt. Morphologisch lassen sich entweder Patienten mit entzündlichen Leberveränderungen (= chronische Hepatitis; siehe Kap. 32.4.2) oder lebergesunde Träger (Carrier) nachweisen. Bei gesunden Trägern ist das HBVGenom häufig in die Zell-DNA integriert, wobei es zwar zur Produktion von HBsAg, aber nicht (oder nur gering) zur Replikation des Vollvirus kommt. Bei chronischer Hepatitis hingegen besteht eine andauernde Virusreplikation, wobei HBV im Zellkern und im Zytoplasma persistiert (Details zur Pathogenese des Zellschadens in Kap. 32.4.2). Die Integration von HBV-DNA in das Zellgenom spielt für die mögliche spätere Entstehung eines hepatozellulären Karzinoms bei HBV-Trägern eine Rolle.

Abb. 32-11

Akute Hepatitis B.

Hepatitis-B-Antikörper und -Antigene.

Virushepatitis C Ätiologie Beim Hepatitis-C-Virus (HCV) handelt es sich um einen Erreger, der durch Blut und Blutprodukte übertragen wird und für ca. 80% der früher als Non-A-Non-BHepatitis bezeichneten Leberentzündung verantwortlich ist. Das HCV ist ein lineares einzelsträngiges RNA-Virus. Es zählt zur Familie der Flaviviridae. Antikörper gegen HCV erscheinen in der Blutzirkulation 1–3 Monate nach Beginn der akuten Erkrankung. Das Virus findet sich in einer geringen Konzentration im Blut und kann mittels PCR nachgewiesen werden. Das RNA-Genom kodiert für drei Strukturproteine (Core- und Hüllenproteine) und für vier Nichtstrukturproteine (Enzyme), die für die Virusreplikation notwendig sind. Das Virus zeigt eine ausgeprägte genetische Instabilität mit hoher Mutationsrate. Es werden mindestens 6 Genotypen mit klinischer Bedeutung unterschieden, die z.B. unterschiedliche Resistenz gegenüber der Therapie mit Interferon zeigen. Daneben existiert eine Reihe von Subtypen. Auch im betroffenen Individuum kann es zu genetischen Modifikationen des Virus kommen („Quasispezies“), die der Immunabwehr des Organismus entkommen, persistieren und damit zu einer chronischen Infektion führen können.

Epidemiologie Derzeit wird allein in den USA mit fast 4 Millionen HCV-Infizierten gerechnet, wobei viele klinisch gesunde Virusträger existieren. Während früher in den meisten Fällen eine übertragung durch Blut und Blutprodukte (Transfusionen) erfolgte, hat

dieser übertragungsmodus heute durch die Möglichkeit der Testung des zu transfundierenden Blutes auf Viruskontamination an Bedeutung verloren. Im Vordergrund stehen heute als Infektionsquellen intravenöser Drogenmissbrauch und Dialysebehandlung. Das Risiko einer sexuellen übertragung ist gering. Aus epidemiologischer Sicht sind die sporadischen Fälle am wichtigsten; deren Infektionsweg ist noch immer unklar (ca. 56% der Infektionen).

Pathogenese

Die Pathogenese der HCV-bedingten Leberzellschädigung ist noch unklar. Es könnten sowohl die Zytopathogenität des Virus als auch Immunreaktionen gegen virusabhängige Antigene an der Leberzelloberfläche eine Rolle spielen (zytotoxische T-Lymphozyten).

Klinisch-pathologische Korrelationen

(Tab.32-1) Nach einer Inkubationszeit von ca. 2 Monaten kommt es üblicherweise nur in 15–20% der Fälle zu einer akuten ikterischen Erkrankung, die der Hepatitis B ähnlich ist. Die Spontanheilung liegt allerdings nur bei ca. 15–20%. Daneben gibt es aber auch chronische Verlaufsformen und einen chronischen Virusträgerstatus. Die Tendenz zur Entwicklung einer chronischen Verlaufsform nach akuter Hepatitis ist hoch und liegt bei ca. 80%. Davon gehen bei Spontanverlauf ca. 20% in eine Leberzirrhose über. Später kann sich in der zirrhotischen Leber ein hepatozelluläres Karzinom entwickeln. Extrahepatische Manifestationen der HCV-Infektion umfassen Arthritis, Kryoglobulinämie, Glomerulonephritis u.a. Die Verabreichung von Interferon-α ist derzeit die Therapie der Wahl sowohl der akuten als auch der chronischen Hepatitis C.

Virushepatitis D Ätiologie Das Hepatitis-D-Virus (HDV; ursprünglich Delta-Agens) ist ein defektes RNAVirus. Im Blut wird HDV (Durchmesser: ca. 35 nm) von einer HBs-Hülle umgeben (Abb. 32-12). Es besitzt zu wenig genetische Information, um selbständig einen Replikationszyklus in den infizierten Zellen ausführen zu können. Die HDVInfektion ist daher an eine HBV-Infektion gebunden („Helfervirus“). In der Leber ist das HDV in den Leberzellkernen lokalisiert und immunhistochemisch darstellbar.

Abb. 32-12 Schematischer Aufbau des Hepatitis-DVirus.

Epidemiologie Wegen der Abhängigkeit des HDV von der Replikation des HBV kann eine HDVErkrankung nur bei Patienten mit aktiver HBV-Infektion erfolgen. Dabei kommen Koinfektion (HDV-Infektion zugleich mit HBV-Infektion) und Superinfektion (HDV-Infektion nach vorangegangener HBV-Infektion, insbesondere bei HBVTrägerstatus) in Frage. Die Häufigkeit einer HDV-Infektion ist in verschiedenen Regionen unterschiedlich (häufig in Süditalien, Südamerika, z.B. Venezuela; Durchseuchung von 50–90% der HBsAg-Träger!). In Mittel-, West- und Nordeuropa und den USA ist die HDV-Infektion selten, häufiger allerdings bei HBVRisikogruppen (z.B. Drogensüchtige, Hämophile).

Klinisch-pathologische Korrelationen (Tab. 32-1) HDV kann für akute hepatitische (nekrotisierende) Schübe bei klinisch stabilen HBsAg-Trägern sowie für rasch progredienten Verlauf von chronischen Hepatitiden und Leberzirrhosen verantwortlich sein. Die Leberzellnekrosen gehen wahrscheinlich auf einen zytopathischen Effekt des Virus zurück.

Virushepatitis E Ätiologie Die Virushepatitis E ist eine akute, selbstlimitierende, enteral übertragene Erkrankung. Das Hepatitis-E-Virus (HEV) ist ein 27–38 nm durchmessendes,

oberflächlich unregelmäßig gestaltetes, RNA-haltiges Partikel, das im Stuhl nachweisbar ist.

Epidemiologie Virushepatitis E kommt vor allem auf dem indischen Subkontinent, in Afrika, Südost- und Zentralasien und in Mexiko vor. Die Infektion erfolgt überwiegend durch kontaminiertes Trinkwasser. Sporadische Erkrankungen werden in den USA und Italien beobachtet. Reinfektionen sind möglich.

Klinisch-pathologische Korrelationen (Tab. 32-1) Das klinische Bild der Erkrankung entspricht weitgehend demjenigen der akuten Hepatitis A. Wahrscheinlich existieren auch subklinische Formen der Erkrankung. Bei schwangeren Frauen, vor allem im letzten Drittel der Schwangerschaft, zeigt die Erkrankung eine höhere Letalität (ca. 20%). Disseminierte intravasale Gerinnung könnte dabei eine Rolle spielen. Chronische Lebererkrankungen oder ein chronischer Virusträgerstatus wurden bisher nicht beobachtet. Der protektive Effekt von HEV-Antikörpern verschwindet nach längerer Zeit, sodass Reinfektionen vorkommen können.

Weitere Hepatitisviren Immer wieder werden, auch fulminant verlaufende, Hepatitiden beobachtet, die keinem bekannten Hepatitisvirus zugeordnet werden können (Non-A-Non-B-Non-CNon E-Hepatitis). Neben Mutanten (z.B. des HBV), die mit den üblichen Tests nicht erfasst werden können, ist auch an neue hepatotrope Viren zu denken. 1995 wurde in Patienten mit chronischer Hepatitis unbekannter ätiologie ein RNA-Virus aus der Familie der Flaviviridae isoliert und als Hepatitis-G-Virus (HGV) bezeichnet. Nur 3– 6% der Patienten mit Non-A-bis-E-Hepatitis zeigen eine HGV-Virämie. Die Beziehung zwischen HGV und akuter oder chronischer Hepatitis ist derzeit noch unklar.

Morphologie der akuten Virushepatitis Die Morphologie der akuten Virushepatitis ist bei den verschiedenen Formen ähnlich und wird daher gemeinsam besprochen. Makroskopisch ist die Leber etwas vergrößert und gerötet. Das histologische Bild der akuten Virushepatitis ist durch Leberzelldegeneration und -nekrose (= Parenchymveränderungen), durch entzündliche Infiltrate in Leberläppchen und Portalfeldern sowie Kupffer-Zell-Aktivierung und -Proliferation (= Mesenchymveränderungen) gekennzeichnet (Abb. 32-13).

Abb. 32-13 Morphologische Veränderungen bei akuter Virushepatitis.

Ausschnitt aus dem Läppchenzentrum. Die Zellgrößenschwankungen der Leberzellen sind deutlich sichtbar. Läppchenzentral finden sich Leberzellausfälle infolge lytischer Nekrosen, Lymphozyten sowie Knötchen aus KupfferSternzellen, die braunes Pigment (Ceroid, Siderin) enthalten (Pfeil). HE, Vergr. 150fach. ■

Die Parenchymveränderungen (Abb. 32-14) äußern sich vor allem durch ■ läppchenzentral betonte hydropische Schwellung von Leberzellen (Ballonzellen), die bis zur lytischen Nekrose führen kann.

Abb. 32-14 Typen der Leberzelldegeneration und -nekrose bei akuter Virushepatitis.

a Vergrößerte Leberzelle (Ballonzelle), von Lymphozyten und Makrophagen umgeben (Pfeil). In der Umgebung fehlen Leberzellen, die über lytische Nekrosen ausgefallen sind. b Roter Körper (Councilman-Körper, apoptotische Leberzelle) mit Kernrest (Pfeil). HE, Vergr. a: 150fach, b: 1000fach. ■ Darüber hinaus findet man im Leberläppchen disseminierte Leberzellen mit ausgeprägt eosinophilem Zytoplasma (eosinophile Degeneration). Dieser degenerative Prozess kann schließlich zum Zelluntergang (= „eosinophile Nekrose“; „roter Körper“; Councilman-Körper) führen. Es handelt sich dabei um Apoptosen. Zum Teil enthalten die geschädigten (apoptotischen) Leberzellen noch

einen pyknotischen Kern oder Kernfragmente, zum Teil sind sie kernlos. Sie werden aus dem Leberzellverband in die Sinusoide ausgestoßen. Die beschriebenen Parenchymveränderungen führen zu einem „bunten“ (morphologisch unruhigen) Bild („lobuläre Hepatitis“). Bei Hepatitis A stehen häufig läppchenperiphere Nekrosen im Vordergrund. Die Regeneration des Parenchyms äußert sich im vermehrten Auftreten von Leberzellmitosen. Die Leberzellschädigung kann zu einer Gallesekretionsstörung mit Bildung von Gallethromben in Gallekanalikuli führen.

Abb. 32-15 Spätere Form einer akuten Virushepatitis.

Im Rahmen der Abräumreaktion nach Leberzellzerfall phagozytieren aktivierte Kupffer-Sternzellen Ceroid und Siderin. Dabei entstehen Knötchen, die unregelmäßig im Leberläppchen verteilt sind (Restknötchen oder Spätknötchen; Pfeilspitzen). In den Portalfeldern treten ceroid-und siderinhaltige Makrophagen (Phagozytennester) auf (Pfeil). Das Siderin lässt sich mit einer Eisenfärbung blau anfärben. Berliner Blau, Vergr. 150fach. ■ Die entzündliche Mesenchymreaktion (Abb. 32-15) im Läppchen und in den Portalfeldern besteht überwiegend aus Lymphozyten. Im Läppchen werden bevorzugt läppchenzentrale Areale lymphozytär infiltriert. Die Portalfelder enthalten Lymphozyten und Histiozyten. Gelegentlich lassen sich auch follikelartige Lymphozytenansammlungen in den Portalfeldern nachweisen (besonders bei Hepatitis C). Die entzündlichen Infiltrate dringen häufig von den Portalfeldern in die parenchymatöse Grenzplatte und in das Läppchen vor. Die parenchymatöse Grenzplatte zeigt aber normalerweise (mit Ausnahme der Hepatitis A) keine Nekrosen. Sind derartige Nekrosen oder Apoptosen nachweisbar, so weisen sie oft (Ausnahme: Hepatitis A!) auf einen chronischen Verlauf hin („Virushepatitis mit

Chronizitätszeichen“). Die Kupffer-Sternzellen sind diffus und herdförmig (Ausbildung von Kupffer-Zell-Knötchen) vergrößert und proliferiert und enthalten Pigmente (Ceroid, Siderin) als Abbauprodukte der Leberzellen („Abräumreaktion“; siehe Abb. 32-15). Diese „Abräumreaktion“ folgt auf die Parenchymläsion und klingt erst später ab (sog. Rest- oder Spätknötchen). In den Portalfeldern treten dann ceroid- und siderinhaltige Makrophagen (= Phagozytennester) auf. Diese Residualveränderungen können einige Monate bestehen bleiben.

Sonderformen der akuten Virushepatitis (in Relation zum morphologischen Bild) Klinische Sonderformen der akuten Virushepatitis (nämlich prolongierte, hochgradig ikterische oder schwer verlaufende Formen) finden ihr morphologisches Korrelat (1) in ausgeprägten Cholestasezeichen mit z.T. tubulärer Anordnung von Leberzellen um Gallethromben (= cholestatische Hepatitis mit ausgeprägtem Ikterus; gewisse Formen der Hepatitis E können dieses morphologische Bild bieten!) oder (2) in konfluierenden Leberzellnekrosen: Diese schwere Form der akuten Virushepatitis ist durch ausgeprägte Leberzellnekrosen charakterisiert, wobei sich Nekrosebrücken zwischen Portalfeldern und Zentralvenen, aber auch zwischen Zentralvenen entwickeln können (Abb. 32-16). Das lobuläre Entzündungsinfiltrat tritt dabei häufig in den Hintergrund. In den Portalfeldern finden sich neben Lymphozyten und Histiozyten auch häufig vermehrte neutrophile Granulozyten. Es können aber auch ganze Leberläppchen, mehrere Leberläppchen oder noch ausgedehntere Parenchymbezirke betroffen sein (fulminante Hepatitis, submassive oder massive Lebernekrose). Fulminante Hepatitisverläufe finden sich bei 0,1–1% der HBVInfektionen. Bei gleichzeitiger HDV-Infektion sind sie häufiger (2–20%). Bei HCVInfektionen sind fulminante Hepatitiden sehr selten. Durch ausgedehnte Nekrosen mit einem Kollaps des Gitterfasergerüstes wird die Entwicklung von Bindegewebesepten (sog. passive Septen) eingeleitet, oder es kommt zur Ausbildung größerer Narbenfelder (= postnekrotische Narbenleber). Konfluierende Nekrosen sind vor allem bei älteren Patienten mit schlechter Prognose (ein recht hoher Prozentsatz der Patienten stirbt im Coma hepaticum!) verbunden. Bei fulminanter Hepatitis und massiven Lebernekrosen kommt es sehr häufig zum Tod durch Leberversagen.

Folgezustände nach akuter Virushepatitis ■

Ausheilung (Restitutio ad integrum)

■ Entzündliche Residuen (Kupffer-Zell-Aktivierung, lymphohistiozytäre Portalentzündung = unspezifisch-reaktive Hepatitis) ■

Posthepatitische Hyperbilirubinämie



Fibrosen unterschiedlichen Ausmaßes bis zu Zirrhose und Narbenleber



Chronische Hepatitis



Hepatozelluläres Karzinom (siehe Kap. 32.11.2)

Andere Virushepatitiden Es handelt sich dabei um Leberentzündungen, die im Rahmen viraler Allgemeininfektionen auftreten (= Begleithepatitiden). Als Erreger kommen das Epstein-Barr-Virus (Mononukleose-Hepatitis), das Zytomegalievirus, VaricellaZoster-Virus, Gelbfiebervirus, Röteln-, Coxsackie-, Herpes- und Mumpsviren in Frage. Diese Begleithepatitiden äußern sich morphologisch durch unterschiedlich ausgeprägte Leberzellnekrosen und wechselnde lymphozytäre Infiltrate in den Läppchen und den Portalfeldern.

Abb. 32-16 Akute Virushepatitis mit ausgeprägten brückenbildenden Nekrosen.

Im Bild zeigt sich eine „Nekrosebrücke“ (brückenbildende Nekrose), die das zentrale Läppchenareal (LZ) mit dem Portalfeld (P) verbindet (die Nekrosebrücke ist mit Pfeilspitzen markiert!). HE, Vergr. 130fach.

32.4.2

Chronische Hepatitis

Definition Es handelt sich um eine chronische Leberentzündung, die länger als 6 Monate anhält und mehr oder weniger ausgeprägte klinische Symptome zeigt. Die Erkrankung ist ätiologisch uneinheitlich.

Ätiologie Als Ursachen kommen die Hepatitisviren B (eventuell kombiniert mit D) und C, Autoimmunphänomene (Autoimmunhepatitis, „lupoide“ Hepatitis), Medikamente (siehe Kap. 32.5) und Stoffwechselstörungen (z.B. α1-Antitrypsin-Mangel, Morbus Wilson) in Frage. Die Unterscheidung der einzelnen ätiologischen Formen der chronischen Hepatitis ist von prognostischer und therapeutischer Bedeutung.

Epidemiologie Ca. 5–10% der Patienten mit akuter Hepatitis B entwickeln eine chronische HBVInfektion (kann sich im Sinne eines Virusträgerstatus oder einer chronischen Hepatitis äußern). Risikogruppen für die chronische HBV-Infektion sind Personen mit Immundefekten (z.B. Dialysepatienten, Neugeborene, Immunsupprimierte), Homosexuelle, Drogenabhängige und geistig Behinderte (z.B. Down-Syndrom). Die HDV-Infektion ist an eine gleichzeitige HBV-Erkrankung gebunden, wobei HBV als „Helfervirus“ fungiert. Relativ häufig entsteht eine chronische Hepatitis D. Die HCVInfektion führt in ca. 80% zu einer chronischen Hepatitis. In der Bevölkerung ist mit 1–2% klinisch gesunder Virusträger zu rechnen. Der Verlauf der chronischen Hepatitis C wird durch Alkoholismus verschlechtert. Die Autoimmunhepatitis macht 5–20% der chronischen Hepatitiden aus. Sie tritt bevorzugt bei Frauen im jüngeren Lebensalter und nach der Menopause auf (Frauen: Männer = 8: 1). Sie ist mit Hypergammaglobulinämie, HLA-B8- und -DR3-Status und zirkulierenden Autoantikörpern (Anti-Aktin-Antikörper, antinukleäre und andere Antikörper) assoziiert.

Pathogenese Die Pathogenese ist in Abhängigkeit von der ätiologie unterschiedlich. Bei HBVinduzierter chronischer Hepatitis geht die Leberzellschädigung überwiegend auf die Einwirkung von zytotoxischen (CD8+) T-Lymphozyten, die gegen zellmembranassoziierte virale Antigene (in Assoziation mit HLA-Klasse-IMolekülen) gerichtet sind, zurück, wobei aber lediglich eine unvollständige Viruselimination erfolgt. Im Rahmen der chronischen HBV-Infektion kommt es zu einem Absinken der Virusreplikation und zu einem Einbau (Integration) von Komponenten des Virusgenoms in das Zellgenom. Dabei nimmt die Produktion von infektiösen Viruspartikeln ab, während die Synthese von viralen Antigenen (einschließlich HBsAg und XAg) bestehen bleibt. Eine chronische Infektion resultiert aus einer Insuffizienz der immunologischen Eliminationsmechanismen, wobei aber die in Frage kommenden Zielantigene noch unklar sind. Bei HCVinduzierter chronischer Hepatitis werden ähnliche Mechanismen angenommen. Bei Autoimmunhepatitis besteht eine T-Zell-Attacke gegen hepatozelluläre Membranantigene (Cytochrom P450 2D6, mitochondriale Pyruvatdehydrogenase, Asialoglykoproteinrezeptor). Dabei scheint auch ein Suppressor-T-Zell-Defekt eine Rolle zu spielen. Auch eine antikörperabhängige zelluläre Zytotoxizität ist

involviert, wobei die Autoimmunattacke durch eine Virusinfektion eingeleitet werden könnte. Bei medikamentös induzierter chronischer Hepatitis könnten ebenfalls Immunphänomene beteiligt sein.

Morphologie

Morphologisch lassen sich nach dem Ausmaß der Leberzellnekrosen und entzündlichen Infiltrate unterschiedliche Schweregrade (Aktivität) der Entzündung erkennen: ■ Bei der leichten Form sind die lymphozytären Infiltrate auf das Portalfeld beschränkt, die parenchymatöse Grenzplatte ist intakt (Abb. 32-17a und 32-18). Leberzellnekrosen und entzündliche Infiltrate im Läppchen sind nur sehr gering ausgeprägt. Bei HBV-Genese lassen sich HBsAg-haltige Leberzellen mit milchglasartig homogenisiertem Zytoplasma („Milchglaszellen“) nachweisen. Diese Zytoplasmaveränderung entspricht einem vermehrten glatten endoplasmatischen Retikulum. Immunhistochemisch lassen sich in diesen Zellen HBsAg und häufig auch HBcAg nachweisen (siehe Abb. 32-9). Eine sichere Unterscheidung zwischen B- und C-Hepatitis aufgrund des lichtmikroskopischen Bildes ist nicht möglich. Allerdings fehlen bei Hepatitis C Milchglaszellen, während sich häufiger Steatose, Gallengangsveränderungen mit unregelmäßigem, mehrreihigem Epithel und Lymphfollikel in den Portalfeldern finden. ■ Bei der schweren Form (Abb. 32-17b, 32-18 und 32-19) kommt es zusätzlich zur lymphohistiozytären Portalfeldentzündung, an der sich auch mehr oder weniger Plasmazellen beteiligen, zum übergreifen der entzündlichen Infiltrate auf das Läppchen. Dies ist mit Nekrosen und Apoptosen der Leberzellen der parenchymatösen Grenzplatte („Mottenfraßnekrosen“, Grenzzonenhepatitis, englisch: interface hepatitis) vergesellschaftet. überlebende Leberzellen zeigen oft rosettenartige Anordnung mit umgebenden und eindringenden Entzündungszellen. Im Läppchen finden sich in unregelmäßiger Verteilung Einzelzelldegenerationen und -nekrosen (Apoptosen, Ballonzellen, lytische Nekrosen), aktivierte KupfferZellen (Kupffer-Zell-Knötchen) und Lymphozyteninfiltrate. In Verbindung mit klinisch schwerem Verlauf kann es zusätzlich auch zu konfluierenden und brückenbildenden Nekrosen kommen. Nach Leberzellnekrosen kommt es häufig zu Fibrose, Septenbildung und schließlich (in ca. 20–50%) zu einer Zerstörung der Leberläppchenarchitektur, d.h. zu einer Leberzirrhose (siehe Kap. 32.8.2). Die histologische Diagnose der chronischen Hepatitis sollte, wenn möglich, die ätiologie, den Schweregrad der entzündlichen Aktivität (entzündliche Infiltration in Läppchen und im Portalfeld, Nekrosen) und das Stadium der Erkrankung (Ausmaß der Fibrose) einschließen („grading“, „staging“).

Abb. 32-17 Morphologie der leichten Form der chronischen Hepatitis (a) im Vergleich zur schweren Form (b).

Bei der leichten Form der chronischen Hepatitis (a) sind die entzündlichen Infiltrate größtenteils auf das Portalfeld beschränkt. Die um das Portalfeld angeordneten Leberzellen (parenchymatöse Grenzplatte) bleiben intakt. Im Läppchen finden sich nur geringe entzündliche Veränderungen. Bei der schweren Form der chronischen Hepatitis (b) dringen die Entzündungszellen aus dem Portalfeld in das Läppchen vor. Die parenchymatöse Grenzplatte wird partiell zerstört (Grenzzonenhepatitis). Es entstehen entzündlich infiltrierte Bindegewebesepten, die schließlich zu einer Zerstörung der Leberläppchenarchitektur im Sinne einer Leberzirrhose führen können. Einzelne

Leberzellen, kleinere Leberzellgruppen (Rosetten) und Parenchymknoten überleben. HE, Vergr. a: 200fach, b: 130fach.

Abb. 32-18 Infiltrationsmuster der Entzündungszellen bei chronischer Hepatitis.

Abb. 32-19 Morphologische Details einer hochgradig aktiven chronischen Hepatitis (Autoimmuntyp).

Rosettenartig angeordnete Leberzellen sind von Lymphozyten und Plasmazellen umgeben. Lymphozyten dringen als Ausdruck der zellularen Aggression auch in Leberzellrosetten ein (Pfeil). HE, Vergr. 400fach.

Klinisch-pathologische Korrelationen Bei klinisch asymptomatischen HBV-Trägern findet sich in 75% der Patienten eine regelrechte Leberarchitektur ohne entzündliche Veränderungen. Der Rest zeigt minimale Entzündung (Minimalhepatitis) oder eine chronische Hepatitis mit unterschiedlicher Aktivität. Die meisten Patienten mit gering aktiver (leichter) chronischer Hepatitis B sind beschwerdefrei. Laborchemisch zeigt sich meist eine geringgradige Aminotransferasenerhöhung. Die Prognose dieser Erkrankung ist gut. Ein Teil der Fälle heilt aus, ein geringer Prozentsatz kann in eine schwere chronische Hepatitis übergehen. Patienten mit höhergradig oder hochgradig aktiver chronischer Hepatitis B zeigen ein variables Beschwerdebild mit verminderter Leistungsfähigkeit, Appetitlosigkeit, konstanter Aminotransferasenerhöhung und gelegentlichem Ikterus, entsprechend der histologisch erfassbaren Aktivität des Entzündungsprozesses. Die Leberbiopsie ist zur Kontrolle des Krankheitsverlaufs und zur Therapiekontrolle notwendig. Ca. 20–50% der Patienten entwickeln innerhalb von 5–10 Jahren eine Leberzirrhose. Nur bei wenigen Patienten wird das HBV im Laufe der Jahre eliminiert. Die chronische Hepatitis D ähnelt der chronischen Hepatitis B, zeigt aber oft einen schwereren Verlauf. Durch häufigere Entwicklung einer Leberzirrhose ist die Prognose schlechter. Die chronische Hepatitis C ist eine progressive Lebererkrankung, wobei aber eine Aussage über den Verlauf der Erkrankung im Einzelfall schwierig ist. Nach jahrelangem Verlauf entwickelt sich eine Leberzirrhose. Es besteht eine Korrelation zwischen Progredienz und dem histologisch in der Leberbiopsie nachweisbaren Grad der Entzündung und der Fibrose. Alkoholkarenz ist notwendig, da Alkohol den Zirrhoseprozess beschleunigt. Die Autoimmunhepatitis geht häufig mit einer ausgeprägten klinischen Symptomatik (Müdigkeit, übelkeit, Appetitverlust, Fieber, Gelenkschmerzen) einher, wobei die Erkrankung oft wie eine akute Hepatitis beginnt. Es sind hauptsächlich Frauen (80%) vor dem 30. Lebensjahr oder in der Menopause betroffen. Häufig ist die Erkrankung mit endokrinologischen Störungen (z.B. Amenorrhö) und extrahepatischen Autoimmunphänomenen (z.B. Thyreoiditis, Vaskulitis, Kolitis, Anämien, Urtikaria) kombiniert. Die Aminotransferasespiegel sind konstant, während der entzündlichen Schü-be besonders deutlich erhöht. Das Auftreten antinukleärer Antikörper (ANA), von Antikörpern gegen F-Aktin („Glattmuskelantikörper“, da sie mit glatter Muskulatur reagieren; engl. smooth muscle antibodies, SMA) und von Antikörpern gegen mikrosomale Antigene aus Leber und Niere (LKM-1; gegen Cytochrom P450 2 D6) und zytosolische Proteine (Anti-SLA, Anti-LP) ist ebenfalls ein Charakteristikum dieser (pathogenetisch wahrscheinlich uneinheitlichen) Erkrankung. Aufgrund serologischer Befunde lassen sich drei Typen der Autoimmunhepatitis unterscheiden: Typ I (ANA/SMApositiv), Typ II (Anti-LKM-1-positiv), Typ III (Anti-SLA-, Anti-LP-positiv). Die Erkrankung hat unbehandelt eine schlechte Prognose. Frühzeitige Diagnose und immunsuppressive Behandlung sind daher von großer Bedeutung.

32.4.3

Nichtvirale Infektionen der Leber

Bakterielle Infektionen Leberabszess ätiologie Leberabszesse werden durch Streptokokken, Staphylokokken, Coli-Bakterien und eine Reihe von Anaerobiern, seltener durch Yersinien hervorgerufen.

Pathogenese

Bakterien können hämatogen über das Pfortadersystem (= pylephlebitische Leberabszesse; z.B. bei Appendizitis oder Divertikulitis), bei Sepsis über die A. hepatica (septikopyämische Leberabszesse), über das Gallenwegssystem (cholangitische Leberabszesse) oder direkt (direkte Keimeinbringung, z.B. durch Verletzungen) in die Leber gelangen. Cholangitische Leberabszesse sind die häufigsten und finden sich v.a. als Folge einer eitrigen Cholangitis (aufsteigende Cholangitis) bei Galleabflusshindernissen.

Morphologie

Es handelt sich häufig um multiple (selten singuläre), ca. 1 cm große Abszesse (gelbe Knoten; Abb. 32-20), die zentral nekrotischen, granulozytär durchsetzten Detritus enthalten und von Granulationsgewebe umgeben sind.

Klinisch-pathologische Korrelationen Leberabszesse äußern sich mit Fieber und Schmerzen im rechten Oberbauch. Die Prognose ist heute bei rechtzeitiger Diagnose und adäquater antibiotischer und chirurgischer Behandlung gut, bei multiplen cholangitischen Leberabszessen allerdings noch immer schlecht. Durch Ruptur des Abszesses kann es zur Peritonitis kommen. Leberabszesse können Quellen einer Septikopyämie werden.

Abb. 32-20

Leberabszess.

An der Leberschnittfläche lassen sich unterschiedlich große Abszesshöhlen nachweisen (Pfeile), die mit Eitermassen gefüllt sind.

Leptospirose Syn.: Morbus Weil Diese Erkrankung wird durch Leptospira icterohaemorrhagica hervorgerufen. Die Infektion erfolgt über Rattenharn (Leptospirenreservoir in den Nierentubuli der Ratte), z.B. über verseuchtes Wasser in Teichen oder Kanälen, wobei als Eintrittspforte der Gastrointestinal- und Respirationstrakt sowie die verletzte Haut in Frage kommen. Trotz des ausgeprägten klinischen Bildes mit hohem Fieber, zentralnervösen Veränderungen (Kopfschmerz, Bewusstseinsstörung), Nierenfunktionsstörungen, Blutungen und Ikterus sind die morphologischen Leberveränderungen wenig eindrucksvoll. Es finden sich vereinzelte Leberzellnekrosen, Apoptosen, Cholestase und Zeichen der Leberzellregeneration mit vermehrten Leberzellmitosen sowie Proliferation und Aktivierung von KupfferZellen. Die Letalität ist gering.

Q-Fieber Die durch Rickettsien (Coxiella burnetii) hervorgerufene Erkrankung äußert sich in der Leber durch die Ausbildung von Granulomen mit zentraler Fettvakuole und peripher anschließendem Fibrinnetz, das Lymphozyten und Histiozyten enthält

(„Fibrinringgranulome“). Dieses Granulom ist allerdings nicht spezifisch für QFieber.

Leberbeteiligung bei Lues Siehe Kap. 49.2.7.

Parasiten Obwohl in der westlichen Welt selten, spielen parasitäre Lebererkrankungen weltweit doch eine große Rolle. Die wichtigsten werden in der Folge besprochen.

Protozoen ■ Amöbiasis. Die vegetativen Formen (Trophozoiten) der Entamoeba histolytica erreichen die Leber aus dem Darm über das Pfortadersystem. In der Leber entstehen (bevorzugt im rechten Leberlappen) „Amöbenabszesse“, deren Zentrum aus nekrotischem Detritus und degenerierten Leberzellen besteht (Amöben sind darin nachweisbar). Komplikationen sind Ruptur und sekundäre bakterielle Infektion. ■ Viszerale Leishmaniose (Kala-Azar). Die Leber ist vergrößert mit Aktivierung und Proliferation der Kupffer-Sternzellen. Die Parasiten sind in Kupffer-Zellen und portalen Makrophagen nachweisbar („Leishman-DonovanKörper“). ■ Malaria. In der Leber findet sich eine deutliche Aktivierung von Makrophagen mit Einlagerung eines braunschwarzen Pigmentes („Malariapigment“, Hämofuscin).

Würmer ■ Schistosomiasis (Bilharziose). Die Leber wird üblicherweise aus dem Darm über das Pfortadersystem befallen, wobei als Erreger vor allem Schistosoma mansoni und Schistosoma japonicum in Frage kommen. Weltweit sind etwa 200 Millionen Menschen betroffen. In der Leber werden Eier in kleinen Pfortaderästen abgelegt und induzieren eine granulomatöse Reaktion mit ausgeprägter Fibrose. Eine wesentliche Komplikation ist die portale Hypertonie (intrahepatischpräsinusoidaler Typ). ■ Echinokokkose (Abb. 32-21). Der häufigste Leberbefall geht auf Echinococcus granulosus (Echinococcus cysticus) zurück, weniger häufig findet sich eine Leberbeteiligung bei Echinococcus multilocularis (Echinococcus alveolaris; siehe Kap. 48.5.2).

■ Leberegel (Clonorchiasis, Fascioliasis). Die Parasiten Clonorchis sinensis (Leberegel) und Fasciola hepatica finden sich in Gallengängen. Die Gallengänge reagieren mit Proliferation, Epithelhyperplasie und periduktaler Fibrose. Komplikationen sind Sekundärinfektionen (Cholangitis) und Entwicklung eines cholangiozellulären Karzinoms (vor allem bei Clonorchis). Die Leberbiopsie zeigt eine Infiltration der Portalfelder durch Histiozyten, eosinophile und neutrophile Granulozyten. Gelegentlich kommt es zur Ausbildung von Granulomen.

Abb. 32-21 Leberbefall bei Echinococcus cysticus.

Beachte die große mehrkammerige Zyste, die von einer Bindegewebekapsel umgeben ist (Pfeile).

Abb. 32-22 Granulomatöse Entzündung in der Leber bei Sarkoidose

(Leberbiopsie). Beachte die deutliche Verbreiterung des Portalfeldes mit Einlagerung von Granulomen ohne Konfluenz (Pfeile), die von Bindegewebe umgeben sind. HE, Vergr. 220fach.

Pilzinfektionen Pilzinfektionen finden sich bevorzugt bei Patienten mit Immundefekten (z.B. AIDS). Sie äußern sich histologisch häufig in Form granulomatöser Reaktionen oder von Mikroabszessen, in denen die Erreger mit entsprechenden Färbungen nachgewiesen werden können.

32.4.4 Granulomatöse Entzündungen („granulomatöse Hepatitis“) Granulomatöse Veränderungen in der Leber sind umschriebene Läsionen, die portal und/oder lobulär lokalisiert sein können (Abb. 32-22). Sie können sich makroskopisch als kleine grauweiße Knötchen manifestieren. Sie bestehen üblicherweise aus Epitheloidzellen und Riesenzellen sowie einem peripheren Lymphozytensaum. Eine zentrale Nekrose (fibrillogranuläre Nekrose, käsige Nekrose) kann bei einigen Typen (z.B. Tuberkulose) nachweisbar sein. Ältere Granulome zeigen häufig Fibrosen und Hyalinisierungen. Granulome können bei einer Reihe von (systemischen) Erkrankungen vorkommen (siehe Kap. 47 und 48). Tuberkulose und Sarkoidose sind die häufigsten Ursachen von Lebergranulomen. Als weitere Ursachen kommen in Frage: Brucellose, Pilzinfektionen (z.B. Histoplasmose, Kokzidioidomykose, Blastomykose), Lues, Lepra, Virusinfektionen (z.B. Zytomegalie, Mononukleose), Rickettsiosen (Q-Fieber),

Parasitosen, Berylliose, intraabdominelle Neoplasmen, Morbus Crohn, primär-biliäre Zirrhose und Medikamente (z.B. Sulfonamide).

32.5 32.5.1

Toxische und medikamentöse Leberschäden Definitionen und biochemische Grundlagen

Die Leber ist ein zentrales Organ der Biotransformation. Unter Biotransformation versteht man die Umwandlung von lipidlöslichen (aber in Wasser wenig oder nicht löslichen) Substanzen in besser wasserlösliche und damit über die Leber (= Galle) und die Niere (= Harn) ausscheidbare Verbindungen. In der 1. Phase wird die bessere Wasserlöslichkeit größtenteils durch Oxidations- oder Hydroxylierungsreaktionen erreicht (Phase 1 der Biotransformation). In einer 2. Phase (Phase 2 der Biotransformation) wird der Metabolit mit endogenen Molekülen (z.B. Glukuronsäure, Schwefelsäure) konjugiert, was seine Wasserlöslichkeit und Ausscheidungsfähigkeit noch weiter steigert. Das für die Biotransformation verantwortliche Enzymsystem findet sich im glatten endoplasmatischen Retikulum. Seine Aktivität wird durch Substrate (diverse lipidlösliche Substanzen, Medikamente) gesteigert (= Enzyminduktion). Aber auch Alter, Geschlecht, Ernährung und andere Faktoren beeinflussen die Biotransformation. Im Rahmen der Biotransformation können biologisch inaktive, aber auch aktive Metaboliten entstehen. Die Biotransformation kann somit entweder im Sinne einer Entgiftung primär giftiger Substanzen (= Toxine) wirken, andererseits aber auch Toxine produzieren. Als primäre Lebergifte (primäre Lebertoxine) werden Substanzen bezeichnet, die die Leber direkt schädigen. Sekundäre Lebergifte entfalten ihre toxische Wirkung erst nach Biotransformation in der Leber. Nach Art der Schädigung und dem klinischen Bild lassen sich obligate und fakultative Lebertoxine unterscheiden. ■ Bei obligaten Lebertoxinen ist die Leberschädigung dosisabhängig, voraussagbar, in qualitativer Hinsicht bei verschiedenen Individuen ähnlich und im Tierversuch reproduzierbar. Dazu gehören Tetrachlorkohlenstoff, gelber Phosphor, Knollenblätterpilzgifte und diverse Medikamente (z.B. Paracetamol). ■ Fakultative Lebertoxine bewirken Leberschädigungen (idiosynkratischer Typ) in nicht dosisabhängiger Weise. Diese sind häufig im Tierversuch nicht reproduzierbar, qualitativ uneinheitlich und finden sich nur bei einem relativ kleinen Prozentsatz von exponierten Personen. Allergisch-immunologische Reaktionen und/oder individuelle Unterschiede in der Biotransformationsreaktion mit der Entwicklung toxischer Stoffwechselprodukte, abhängig von genetischen Faktoren (metabolische Genese), scheinen dabei eine wichtige Rolle zu spielen. Diverse Medikamente können als fakultative Lebertoxine wirken.

32.5.2 Toxisch bedingte pathologische Veränderungen (Tab. 32-2) Formen ■ Leberzellnekrosen (siehe auch Abb. 32-10). Bei obligaten primären Lebertoxinen finden sich üblicherweise läppchenperiphere Leberzellnekrosen (entsprechend der Rappaport-Zone 1), während sekundäre Lebertoxine Nekrosen vor allem im Läppchenzentrum (Rappaport-Zone 3) bewirken. Dies hängt mit der höheren Biotransformationsaktivität in den läppchenzentralen Leberzellen zusammen, wodurch toxischere Produkte entstehen. Beispiele für primäre Lebertoxine sind gelber Phosphor, für sekundäre Lebertoxine Tetrachlorkohlenstoff und Knollenblätterpilzgifte. Die Toxinwirkung zeigt sich in meist reaktionslosen lytischen und koagulativen Nekrosen. In schweren Fällen können ausgedehnte, eventuell fulminante Leberzellnekrosen entstehen. Es findet sich keine oder eine nur geringe Entzündung.

Tab. 32-2 Morphologie chemischer und toxischer (medikamentöser) Leberschäden. ■ Leberzellverfettung (Steatose). Es handelt sich dabei um die Einlagerung von Triglyzeriden in das Zytoplasma der Leberzellen, wobei eine kleintropfige (mikrovesikuläre) und eine großtropfige (makrovesikuläre) Form der Verfettung unterschieden werden können. Bei großtropfiger Verfettung wird das gesamte Zytoplasma der Leberzellen von einer Fettvakuole erfüllt, die den Zellkern an den Rand drängt (Abb. 32-23 und 32-24). Diese Form findet sich zum Beispiel bei

alkoholischer Leberzellschädigung, Tetrachlorkohlenstoffvergiftungen, Vergiftungen durch andere halogenierte Kohlenwasserstoffe und Pilzvergiftungen. Gelegentlich finden sich entzündliche Veränderungen (Steatohepatitis, Fettleberhepatitis; siehe Kap. 32.6). In den meisten Fällen liegt eine Störung der Proteinsynthese mit konsekutiver Störung der Lipoproteinsekretion zugrunde (siehe auch Abb. 32-26). Die kleintropfige Verfettung ist häufig mit schweren Leberschädigungen verbunden. Kleine Fettvakuolen sind im Zytoplasma der Leberzellen verteilt, wobei der Zellkern seine zentrale Position beibehält. Kleintropfige Verfettung findet sich bei Schwangerschaftsfettleber, Tetrazyklinschädigung der Leber, bei Reye-Syndrom und gelegentlich bei alkoholischer Leberschädigung. Eine gestörte Mitochondrienfunktion (gestörte βOxidation von Fettsäuren) spielt dabei eine Rolle.

Abb. 32-23 Fettleber.

Das Organ ist beträchtlich vergrößert und zeigt eine ausgeprägte Gelbfärbung.

Abb. 32-24 Histologisches Bild einer Fettleber (großtropfige Verfettung).

Beachte die Einlagerung von Fettvakuolen in Leberzellen (Fett durch die Verarbeitung herausgelöst), wodurch der Zellkern an den Rand gedrängt wird. In unregelmäßiger Verteilung finden sich im Leberläppchen kleine Zellansammlungen, die aus Kupffer-Zellen, Histiozyten, vereinzelten Lymphozyten und neutrophilen Granulozyten bestehen (= Resorptionsknötchen; Pfeile). HE, Vergr. 150fach. ■ Intrahepatische Cholestase. Cholestatische Veränderungen, morphologisch charakterisiert durch das Auftreten von Gallethromben, sind häufige Folge einer toxischen Leberschädigung, bevorzugt bei fakultativen Lebertoxinen (z.B. bedingt durch Medikamente). Bei diesen cholestatischen Zuständen werden „reine“ Cholestasen (ohne assoziierte Entzündung und Leberzellnekrosen) und Cholestasen mit unspezifischer Entzündung (neben Gallethromben und Zeichen einer milden Leberzellschädigung findet sich eine Infiltration, bestehend aus Lymphozyten und eosinophilen Granulozyten, v.a. in den Portalfeldern, als Hinweis auf eine überempfindlichkeitsreaktion) unterschieden. Reine Cholestasen finden sich bei Verabreichung von 17α-alkylierten synthetischen Steroiden (Kontrazeptiva, Anabolika), Cholestase mit unspezifischer Entzündung z.B. bei Verabreichung von Chlorpromazin, aber auch von anderen Medikamenten. ■ Hepatitische Veränderungen. (Hinweis auf idiosynkratische Leberschädigung) Durch eine Reihe von Medikamenten (z.B. blutdrucksenkende

Medikamente, Halothan, Tuberkulostatika) können unvorhersehbar virushepatitisähnliche morphologische Veränderungen (bis zu massiven Leberzellnekrosen) in der Leber bewirkt werden. Häufig sind eosinophile Granulozyten in den Portalfeldern vermehrt. Bei mehrfacher Exposition sind die Veränderungen üblicherweise schwerer und treten schneller auf (Hinweis auf allergisch-immunologische Genese). Die Inzidenz ist gering. Die Prognose ist schlechter als bei Virushepatitis. Bei Absetzen des Toxins kommt es üblicherweise zu einer Restitutio ad integrum. Auch das Bild einer chronischen Hepatitis mit übergang in eine Leberzirrhose kann medikamentös, z.B. durch Laxanzien, Sulfonamide, Antihypertensiva, Tuberkulostatika, verursacht werden. Bei Absetzen der Medikamente kommt es zur Ausheilung oder zu einem Stillstand des Prozesses. ■ Granulome. Medikamentöse Leberschädigungen können sich gelegentlich in Form sarkoidoseähnlicher Granulome in der Leber äußern (auch sog. „granulomatöse Hepatitis“). Es handelt sich dabei um Granulome, die aus Epitheloid- und Riesenzellen bestehen und auch Lymphozyten und eosinophile Granulozyten enthalten. Diese Granulome finden sich in unregelmäßiger Verteilung in den Läppchen und in den Portalfeldern. Es kann auch zu Gallengangsdestruktion kommen. In diese Gruppe von Medikamenten gehören Antiphlogistika (z.B. Pyramidon, Phenylbutazon), Antibiotika und Sulfonamide. Idiosynkratische Schädigungen kommen als Ursache infrage. ■ Vaskuläre Veränderungen. Toxine (z.B. Senecioalkaloide, Crotalaria) oder gewisse Medikamente (z.B. Kontrazeptiva, Zytostatika) können toxische Endothelschäden und in der Folge Verschlüsse der Zentralvenen oder Venae hepaticae bewirken (= Budd-Chiari-Syndrom, Venenverschlusskrankheit; siehe Kap. 32.9.5). Durch Steroide (Kontrazeptiva, Anabolika) kann es auch zur Erweiterung der Sinusoide (sinusoidale Dilatation) und zur Ausbildung endothelialisierter und nichtendothelialisierter blutgefüllter Zysten in der Leber kommen (= Peliosis hepatis). ■ Hyperplastische und neoplastische Veränderungen (siehe Kap. 32.11). Die lang dauernde Einnahme von Anabolika und oralen Kontrazeptiva kann zur Entwicklung von Leberzelladenomen, eventuell auch Karzinomen führen. Angiosarkome können durch Arsenik, Thorotrast und Vinylchlorid (= Monomer des Polyvinylchlorids) induziert werden.

Klinisch-pathologische Korrelationen toxischer Leberschäden

Medikamentös-toxisch induzierte Leberschäden können fast alle Typen von Leberschäden imitieren. Ca. 2% der Gelbsuchtfälle im Krankenhaus lassen sich auf Medikamente zurückführen. Bei Zeichen eines Leberschadens sollte daher primär eine exakte Medikamentenanamnese erhoben werden, da medikamentös induzierte Lebererkrankungen bei Absetzen des Medikamentes häufig abheilen, bei

Weiterverabreichung aber an Schwere beträchtlich zunehmen können. Dabei ist die Leberbiopsie zur Feststellung der Beziehung zwischen Medikament und Leberzellschädigung sowie zur Feststellung von Schweregrad und Typ der Leberschädigung wichtig.

32.5.3

Alkoholischer Leberschaden

Definition und Epidemiologie Alkohol (Äthanol) ist ein obligates Lebertoxin, dessen Wirkung aber individuell verschieden ist. Bei ca. 25% der chronischen Alkoholiker findet sich bei der Obduktion ein schwerer irreversibler Leberschaden im Sinne einer Leberzirrhose. Aufreten und Schweregrad des alkholischen Leberschadens hängen von einer Reihe von Faktoren (Alkoholmenge, Dauer der Alkoholeinnahme, Geschlecht, genetische Faktoren, Ernährung) ab. Die kritische Alkoholmenge für Männer liegt bei ca. 60–80 g reinen Alkohols pro Tag. Für Frauen liegt sie unter diesem Wert (20–40 g/Tag). Frauen sind also gegen-über alkoholischer Leberschädigung empfindlicher. 100 g Alkohol entsprechen ungefähr 1 l Wein, 2,5 l Bier oder 0,3 l Whisky. Die durchschnittliche pro Tag aufgenommene Alkoholmenge eines männlichen Alkoholikers mit Leberzirrhose liegt bei ca. 160 g über 8–10 Jahre. Bei Alkoholabusus von weniger als 5 Jahren wird üblicherweise kein schwerer alkoholischer Leberschaden beobachtet, während bei 20-jährigem Alkoholabusus bei 50% der Patienten eine Leberzirrhose zu erwarten ist. Genetische Faktoren spielen bei der Entwicklung des alkoholischen Leberschadens ebenfalls eine Rolle. Einerseits besteht eine vererbliche (aber schlecht fassbare) Beziehung zu Trinkgewohnheiten, und andererseits ergeben sich genetisch bedingte Unterschiede in der enzymatischen Alkoholelimination (Alkoholdehydrogenase, mikrosomales äthanol-oxidierendes System; siehe unten Alkoholstoffwechsel!). Die Rolle der Ernährung für die Entwicklung und Modulation des alkoholischen Leberschadens wird kontrovers diskutiert. Zweifellos kann eine inadäquate Ernährungssituation (z.B. Protein- und Vitaminmangel) die schädigende Wirkung des Alkohols verstärken, als wesentliches schädigendes Agens ist aber doch der Alkohol selbst anzusehen. Auch Virusinfektionen (HBV, HCV) können eine zusätzliche schädigende Rolle spielen.

Pathogenese (einschließlich Alkoholstoffwechsel) Äthanol wird schnell aus dem Magen resorbiert und fast zur Gänze in der Leber zu Acetaldehyd und Acetat abgebaut (siehe Abb. 32-26), wobei beim normalen Menschen pro Stunde ungefähr 7–10 g Äthanol eliminiert werden. Dieser Wert ist beim lebergesunden Alkoholiker durch erhöhte Aktivität der abbauenden Enzyme höher (er „verträgt“ mehr Alkohol!). Der Hauptabbau erfolgt durch die NADabhängige Alkoholdehydrogenase, ein im Zytosol vorhandenes Enzym, das die Oxidation von Äthanol zu Acetaldehyd katalysiert. Acetaldehyd wird durch die NAD-abhängige Aldehyddehydrogenase (ein in Mitochondrien und im Zytosol

lokalisiertes Enzym) über Acetyl-CoA schließlich zu Acetat abgebaut. Acetat kann dann zu CO2 und Wasser oder im Rahmen des Zitronensäurezyklus zu anderen Verbindungen (z.B. Fettsäuren) umgewandelt werden. Mit geringerer Effizienz wird Äthanol auch von einem NADPH- und Cytochrom-P450-abhängigen mikrosomalen Äthanol-oxidierenden System zu Acetaldehyd metabolisiert. Durch die vermehrte Produktion von NADH und die Verschiebung des Verhältnisses NADH : NAD kommt es durch Alkohol zu einer Veränderung des Redoxstatus der Leberzelle mit einer Reihe von metabolischen Konsequenzen (z.B. Azidose, gestörte Glukoneogenese, gestörter Steroidstoffwechsel). Die damit zusammenhängende Störung des Fettstoffwechsels ist die wesentliche Manifestation der alkoholischen Leberschädigung (Fettleber siehe Kap. 32.6). Das Alkoholabbauprodukt Acetaldehyd scheint aber die wesentliche schädigende Rolle zu spielen. Acetaldehyd ist toxisch und bindet an Phospholipide, Aminosäuren (Bildung von Proteinaddukten mit eventueller Änderung der funktionellen Eigenschaften und der Antigenität), Hormone, Zellmembranen und Zellskelettkomponenten (z.B. Mikrotubuli). Ferner steigert Acetaldehyd die Kollagensynthese, aktiviert Komplement, erhöht die Lipidperoxidation und interferiert mit dem mitochondrialen Elektronentransport. Der Entstehung reaktiver Sauerstoffverbindungen wird eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des alkoholischen Leberschadens zugeschrieben. Auch diverse Zytokine sind bei der Entstehung entzündlicher Veränderungen beteiligt.

Abb. 32-25

Alkoholische Hepatitis.

a Zahlreiche vergrößerte Leberzellen mit hellem Zytoplasma enthalten alkoholisches Hyalin (Mallory-Körper). Die vergrößerten Leberzellen von perizellulärer Fibrose umgeben (blau). CAB, Vergr. 130fach. b Beachte die deutlich vergrößerte Leberzelle, die alkoholisches Hyalin (Pfeilspitzen) enthält und von zahlreichen neutrophilen Granulozyten umgeben und durchsetzt wird (Pfeile). CAB, Vergr. 400fach.

Morphologie Das morphologische (und klinische) Spektrum des alkoholischen Leberschadens umfasst die Fettleber, die alkoholische Hepatitis (Abb. 32-25) und die Leberzirrhose,

wobei die alkoholische Hepatitis oft das Bindeglied zwischen der reversiblen Fettleber und der irreversiblen Leberzirrhose darstellt. ■ Alkoholische Fettleber (Steatose der Leber). Makroskopisch zeigt sich ein vergrößertes (Gewicht bis 6000 g!), „teigig“ weiches und gelbes Organ (siehe Abb. 32-23). Histologisch äußert sich die Verfettung als Fetteinlagerungen (kleinoder großtropfig) in das Zytoplasma der Leberzellen (siehe Abb. 32-24). In unregelmäßiger Verteilung finden sich im Läppchen granulomähnliche Knötchen, die aus Kupffer-Zellen, Histiozyten, vereinzelten Lymphozyten und neutrophilen Granulozyten bestehen (= Resorptionsknötchen). Bei geringgradigerer Ausprägung ist die Verfettung meist auf läppchenzentrale Leberzellen (RappaportZonen 2 und 3) beschränkt, bei schwereren Formen ist die Verfettung diffus. Die Mitochondrien sind häufig vergrößert (gelegentlich Ausbildung von Megamitochondrien, die nahezu Zellkerngröße erreichen können!). Das glatte endoplasmatische Retikulum ist als Ausdruck der Enzyminduktion vermehrt. Die Fettleber kann mit Cholestase assoziiert sein. ■ Alkoholische Hepatitis (Steatohepatitis). Die alkoholische Hepatitis ist histologisch durch überwiegend läppchenzentrale Leberzellnekrosen, neutrophilgranulozytäre Infiltrate und das Auftreten intrazytoplasmatischer irregulärer Einschlüsse, sog. Mallory-Körper oder alkoholisches Hyalin, in vergrößerten („ballonierten“) Leberzellen charakterisiert (Abb. 32-25a). Die neutrophilen Granulozyten konzentrieren sich um Leberzellen, die Mallory-Körper enthalten. Die Mallory-Körper zeigen eine filamentöse Ultrastruktur und enthalten abnorme Keratine (Bestandteile des Intermediärfilament-Zytoskelettes der Leberzellen), aber auch Nichtkeratinkomponenten (Ubiquitin, Stressproteine). In einem recht hohen Prozentsatz finden sich auch unterschiedlich schwer ausgeprägte Cholestasezeichen. Die häufig koexistierende Fettleber steht in keiner sicheren Beziehung zum Schweregrad der alkoholischen Hepatitis. Eine Fibrose der Portalfelder, aber vor allem auch um die Zentralvenen, um läppchenzentral gelegene Leberzellen (perivenuläre und perizelluläre Fibrose) und perisinusoidal, ist häufig und kann gelegentlich sehr ausgeprägt sein (= zentrale Sklerose). Vergrößerte und auch Mallory-Körper enthaltende Leberzellen werden oft allseits von kollagenem Bindegewebe umgeben (= Maschendrahtfibrose). Die beschriebenen morphologischen Veränderungen sind aber nicht alkoholspezifisch und können partiell, aber auch zur Gänze ebenfalls bei anderen Erkrankungen (z.B. bei krankhafter Fettsucht, Typ-II-Diabetes-mellitus, M. Wilson, indischer frühkindlicher Leberzirrhose, diversen Stoffwechselerkrankungen, medikamentös induzierten Leberschädigungen) nachgewiesen werden. Bei Auftreten im Zusammenhang mit Adipositas und/oder Typ-II-Diabetes-mellitus (Insulinresistenz!) wird von nichtalkoholischer Steatohepatitis (NASH) gesprochen. Diese Erkrankung gewinnt zunehmend an Bedeutung (auch als Ursache einer Leberzirrhose).

■ Alkoholische Leberzirrhose (siehe auch Kap. 32.8.2). Für die Entwicklung der Leberzirrhose sind hauptsächlich die im Rahmen der alkoholischen Hepatitis auftretenden Leberzellnekrosen verantwortlich. Die alkoholische Leberzirrhose ist meistens kleinknotig. Gelegentlich sind Leberzellen und kleinere Leberzellgruppen durch schmale Bindegewebesepten dissoziiert, sodass ein maschendrahtähnliches Fibrosebild entsteht. Aktive Zirrhosen sind durch Fortbestehen des entzündlichen und nekrotisierenden Geschehens, d.h. der alkoholischen Hepatitis, charakterisiert. Bei inaktiven Zirrhosen (Fehlen des Entzündungsprozesses) ist die alkoholische Genese nicht mehr sicher erkennbar. Klinische und experimentelle Verlaufsuntersuchungen weisen aber darauf hin, dass eine Leberzirrhose in seltenen Fällen auch ohne erkennbare Nekrosen und Entzündung über eine perizelluläre Fibrose entstehen kann.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Patienten mit alkoholischer Fettleber sind klinisch fast immer asymptomatisch, d.h. ohne pathologische Leberfunktionstests. Die Leberbiopsie ist in diesem Stadium eine wichtige diagnostische Maßnahme. Das klinische Bild der alkoholischen Hepatitis ist ebenfalls variabel, kann aber in schweren Fällen mit Ikterus, Fieber und Leukozytose einhergehen. Alkoholische Fettleber, kombiniert mit Cholestase, Hämolyse und Hyperlipidämie, wird als Zieve-Syndrom bezeichnet. Die Prognose hängt vom Schweregrad des Leberzellschadens ab; die Letalität erreicht 30%. Bei Alkoholkarenz ist die alkoholische Hepatitis reversibel. Es bleiben aber häufig Residuen (Fibrosen) zurück. Bei kontinuierlichem Alkoholmissbrauch entwickelt ein recht hoher Prozentsatz (ca. 30%) der Patienten mit alkoholischer Hepatitis in relativ kurzer Zeit (1–2 Jahren) eine Leberzirrhose.

32.6

Fettleber

Definition Der Lipidgehalt (Triglyzeride, Fettsäuren, Phospholipide, Cholesterin, Cholesterinester) der normalen Leber beträgt ca. 5% des Lebergewichtes. Bei Fettleber kommt es zu einer überwiegenden Anhäufung von Triglyzeriden, die bis 40–50% des Lebergewichtes ausmachen können. Der erhöhte Triglyzeridgehalt lässt sich histologisch in Form intrazytoplasmatischer Fetttropfen nach-weisen.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Fettleber ist ein häufiger Befund in der Leberbiopsie, wobei die zugrunde liegende Störung des Fettstoffwechsels das klinische Bild bestimmt. Häufig verursacht eine Leberzellverfettung keine subjektiven Beschwerden oder abnorme Laborbefunde. Die Morphologie ergibt die definitive Diagnose. Die Fettleber ist bei Wegfall der verursachenden Noxe reversibel, kann aber auch Ausgangspunkt für eine progrediente

Lebererkrankung sein, z.B. für die alkoholische Hepatitis oder die nichtalkoholische Steatohepatitis (NASH).

32.6.1

Leber und Fettstoffwechsel

Fettsäuren (stammen aus Nahrung und aus Körperfettgewebe) werden von der Leberzelle aus dem Blut aufgenommen und zum Teil wieder in Triglyzeride umgewandelt, zum Teil für Cholesterin- und Phospholipidsynthese verwendet und zum Teil oxidiert (Abb. 32-26). Daneben können auch Fettsäuren über Acetat (aus Glukose) in der Leberzelle entstehen. Die von der Leber aus dem Portalblut aufgenommene Menge an freien Fettsäuren ist der Konzentration der freien Fettsäuren im Portalblut proportional. Glukose regelt über die Bildung von Glyzerin die Triglyzeridsynthese aus freien Fettsäuren. Insulin reguliert die Triglyzeridsynthese durch seinen Einfluss auf den Glukoseeinstrom in die Fettzellen. Bei Insulinmangel oder Insulinresistenz kommt es zu einer Lipolyse im Fettgewebe und zur Mobilisation von freien Fettsäuren, die dann von der Leber aus dem Blut aufgenommen und, zum Teil, zu Triglyzeriden synthetisiert werden. Eine vermehrte Fettsäuremobilisation wird auch durch Hormone (ACTH, TSH, Kortikosteroide, Thyroxin, Glukagon) und erhöhten Sympathikotonus (Adrenalin) bewirkt. Fettsäuren aus dem Fettgewebe werden im Blut an Albumin gebunden transportiert. Die Leber ist der Hauptort der Synthese von VLDL (very low density lipoproteins). Der größte Teil der Fettsäuren wird in Form von VLDL aus der Leberzelle wieder in das Blut abgegeben. VLDL-Partikel bestehen aus Apoprotein (10–13%), Triglyzeriden, Phospholipiden und Cholesterin. Der Aufbau von VLDL aus Lipiden und Apoprotein erfolgt im endoplasmatischen Retikulum und im Golgi-Apparat. Von dort werden die VLDL-Partikel in sekretorische Vesikel verpackt, zur Zellmembran transportiert und durch Exozytose in den Disse-Raum abgegeben.

32.6.2

Mechanismen der Fettleberentwicklung

Die Fettleber beruht auf einer Störung des Fettsäure- und Triglyzeridstoffwechsels in der Leberzelle und kann daher auf verschiedene Weise entstehen (Abb. 32-26): ■ erhöhtes Fettsäureangebot an die Leberzelle aus der Nahrung oder durch erhöhte Fettsäuremobilisation aus dem Fettgewebe, ■

vermehrte Fettsäuresynthese,



verminderte Fettsäureoxidation in Mitochondrien,

■ Hemmung der Apoproteinsynthese (z.B. bei toxischer Schädigung der Proteinsynthese) und damit der VLDL-Bildung, ■

Störung des intrazellulären Transportes oder der Sekretion von VLDL.

32.6.3

Mit Fettleber assoziierte Zustände

Aufgrund der Mechanismen der Fettleberentwicklung können unterschiedliche Zustände mit Fettleber einhergehen. ■ Alkoholismus (siehe Kap. 32.5.3). Alkohol ist die häufigste Ursache einer Fettleber in den westlichen Industrienationen. Für ihre Entwicklung sind erhöhte Fettsäuresynthese in der Leberzelle, verminderte Fettsäureoxidation, erhöhte Veresterung von Fettsäuren zu Triglyzeriden, evtl. auch erhöhte Fettsäuremobilisation aus dem Fettgewebe und verminderte VLDL-Abgabe verantwortlich (siehe Abb. 3226). ■

Andere Vergiftungen. Halogenierte Kohlenwasserstoffe, Pilzgifte.

■ Hunger. Bei Hunger kommt es zu einer Erhöhung der freien Fettsäuren im Serum, die wahrscheinlich auf Glukosemangel, erhöhten Sympathikotonus oder erhöhten Wachstumshormonspiegel mit Fettsäuremobilisation aus dem Fettgewebe zurückgeht. Bei verlängertem Fasten kann es dann wieder zur Abnahme der Leberverfettung kommen. ■ Proteinmangelernährung. Bei Kwashiorkor (wird hauptsächlich in Entwicklungsländern, z.B. in Afrika, beobachtet) liegt eine Proteinmangelernährung vor, wobei es neben Fettleber auch zu Ödemen und Aszites und Depigmentierung von Haut und Haaren kommt. Dabei (verminderte Synthese von Apoproteinen!) dürfte eine Störung der Lipoproteinsynthese aufgrund des Proteinmangels eine Rolle spielen. ■ Adipositas (Fettsucht) und überernährung (Mastfettsucht). Dabei überwiegt die hepatische Triglyzeridanhäufung die Triglyzeridsekretion. Als Folge der Zunahme des Fettgewebes kommt es zu einer erhöhten Freisetzung von freien Fettsäuren. ■ Diabetes mellitus. Die Fettleber findet sich vor allem bei Typ-II-Diabetes, ist hingegen selten bei (juvenilem) Typ-I-Diabetes. Adipositas und Insulinresistenz scheinen die wesentlichste Rolle für die Fettleberentwicklung bei Typ-II-DiabetesPatienten zu spielen. ■

Schwangerschaftsfettleber (siehe Kap. 32.13).

Abb. 32-26 Störungen.

32.6.4 32.5.3)

Schema des Fettstoffwechsels und dessen

Morphologie der Fettleber (siehe auch Kap.

Bei Fettleber kommt es zu einer Einlagerung von Fettvakuolen in das Zytoplasma der Leberzellen, wobei groß-und kleintropfige Verfettungen unterschieden werden können. Bei großtropfiger Verfettung wird der Zellkern an den Rand gedrängt. Bestimmte Erkrankungen (Schwan-gerschaftsfettleber, Tetrazyklinfettleber, Reye-Syndrom) sind durch eine kleintropfige (kleinvakuoläre) Verfettung charakterisiert, während andere Formen der Fettleber (z.B. die alkoholische) meist durch großtropfige Fetteinlagerung gekennzeichnet sind. Die Fettvakuolen sind von Membranen des endoplasmatischen Retikulums umgeben. Die Fettleber ist bei Entfernung der Noxe reversibel, die Fetteinlagerung per se führt nicht zur Leberzirrhose.

32.7 Entzündung der intrahepatischen Gallenwege (Cholangitis) Definition Es handelt sich um akute, chronische oder rezidivierende Entzündungen der intrahepatischen Gallengänge, die zu einer Zerstörung der Gallengänge führen können.

32.7.1

Akute eitrige Cholangitis

Ätiologie Es liegen bakteriell verursachte Entzündungen vor. Erreger sind überwiegend E. coli und Streptokokken. Die Entzündung entwickelt sich entweder kanalikuläraszendierend oder hämatogen über die Leberarterie (bei Sepsis oder Septikopyämie), die Pfortader (Pylephlebitis) oder lymphogen. Bei aszendierend-kanalikulärer Entwicklung findet sich fast immer ein tief sitzendes Galleabflusshindernis (= mechanische Cholestase) im Bereich der Papille oder des unteren Choledochus.

Morphologie Im Lumen, im Gallengangsepithel und in der Umgebung der Gallengänge finden sich zahlreiche neutrophile Granulozyten (Abb. 32-27). Nicht selten kommt es zu Ruptur oder vollständiger Zerstörung der Gallengänge. Die Portalfelder sind ödematös. Häufig sind diese Veränderungen mit Cholestasezeichen kombiniert. Als Komplikation kann es zu einer eitrigen Einschmelzung im Portalfeld und des umgebenden Lebergewebes im Sinne cholangitischer Leberabszesse kommen (siehe dort). Bei lang dauernder Galleabflussbehinderung können eine biliäre Fibrose oder eine sekundär-biliäre Leberzirrhose entstehen, deren Entwicklung durch die bakterielle eitrige Cholangitis noch begünstigt wird. Bei der sekundär-biliären Leberzirrhose ist das Organ verhärtet, knotig und gelbgrün verfärbt. Histologisch finden sich Bindegewebssepten mit erweiterten Gallengängen, die Galle enthalten, sowie eine ausgeprägte Proliferation von Galleduktuli. Das Parenchym zeigt Zeichen der galligen Leberzellschädigung (Netzdegeneration) und Gallethromben.

Klinik

Die akute Cholangitis geht mit Fieber, deutlicher Leukozytose, schmerzhafter Lebervergrößerung und häufig auch Ikterus einher.

32.7.2 Primär-biliäre Zirrhose (chronische nichteitrige destruierende Cholangitis, Autoimmuncholangitis) Definition Es handelt sich um eine chronische progrediente destruierende Cholangitis, die zur intrahepatischen Gallengangszerstörung, damit zu chronischer Cholestase (intrahepatisch-mechanisch) und schließlich zu Fibrose und (nach vielen Jahren) Zirrhose führt.

Abb. 32-27

Akute eitrige Cholangitis.

Im Portalfeld finden sich elongierte Gallengänge mit erweiterten Lumina, Detritus und neutrophilen Granulozyten (Pfeile). Auch in der Umgebung der Gallengänge lassen sich zahlreiche neutrophile Granulozyten erkennen. HE, Vergr. 250fach.

Ätiologie und Pathogenese

Obwohl Ätiologische Details noch unklar sind, ist eine autoimmunologisch bedingte Gallengangsdestruktion durch zytotoxische T-Lymphozyten anzunehmen. Dabei geben die Gallengangsepithelien durch abnorme Expression von Klasse-I-(HLA-A-, -B-, -C-) und Klasse-II-(HLA-DR-)Histokompatibilitätsantigenen (Klasse-IIAntigene finden sich an normalen Gallengangsepithelien nicht!) gute Ziele für die sensibilisierten zytotoxischen T-Lymphozyten ab (zur Erklärung siehe Kap. 4.3.4). Eine antikörperabhängige zelluläre Zytotoxizität könnte ebenfalls beteiligt sein. Die auslösende Ursache der Autoimmunität ist aber unklar (infektiöse Agenzien? Medikamente?). Die häufige Assoziation mit anderen Autoimmunphänomenen (chronische Thyreoiditis, rheumatoide Arthritis, Sjögren-Syndrom), der hohe SerumIgM-Spiegel und das Auftreten von Antikörpern gegen mitochondriale und andere Antigene weisen ebenfalls auf eine Immunpathogenese hin. Den antimitochondrialen Antikörpern könnte eine pathogenetische Bedeutung zukommen, die aber derzeit noch unklar ist. Epidemiologie 95% der Patienten sind Frauen im Alter zwischen 40 und 60 Jahren. Die Prävalenz ist hoch in Nordengland und niedrig in Afrika und Asien.

Morphologie Entwicklung des morphologischen Bildes: Bei der Entwicklung der Erkrankung lassen sich vier Stadien unterscheiden, die aber nebeneinander in der Leber bestehen können.

■ Stadium I. Die Erkrankung beginnt mit der Destruktion kleiner und mittelgroßer interlobulärer Gallengänge, die fokal ausgeprägt ist. Die Gallengänge werden von Lymphozyten, Plasmazellen und Makrophagen umgeben. Das Gallengangsepithel ist anfangs unregelmäßig mit eosinophilem Zytoplasma. Die Epithelzellen werden von Lymphozyten durchsetzt (lymphoepitheliale Läsion). In der Folge kommt es zu Zellnekrosen, Ruptur der Basalmembran und schließlich Zerstörung des Gallenganges. Häufig finden sich in Assoziation mit den geschädigten Gallengängen epitheloid- und riesenzellige Granulome (Abb. 32-28). ■ Stadium II. Als Folge der Gallengangsdestruktion kommt es zur Proliferation von Duktuli (= Versuch einer Regeneration). ■ Stadien III und IV. Es findet sich eine portale Fibrose (Stadium III = Folge der Gallengangsdestruktion und der konsekutiven Leberzellzerstörung), die dann in eine Zirrhose (Stadium IV) übergeht. In den späteren Stadien kommt es zur Ausbildung von Gallethromben in Gallekanalikuli (Ursache: Galleabflussstörung durch Gallengangsdestruktion) und von Mallory-Körpern in periportalen Hepatozyten.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Schädigung der Gallengänge führt bereits früh zu erhöhter Durchlässigkeit und Rückresorption von Gallebestandteilen (Bilirubin, Gallensäuren, Cholesterin), die sich in Form von Juckreiz (wahrscheinlich bedingt durch erhöhte Gallensäurespiegel im Blut), Ikterus (Bilirubinerhöhung) und Hypercholesterinämie (Ausbildung von Xanthomen an der Haut) äußert. Osteopathien im Sinne von Osteomalazie und/oder Osteoporose sind gelegentlich bereits früh auftretende Komplikationen infolge gestörter Vitamin-D-Resorption bzw. verminderter Osteoblastenfunktion. Ferner finden sich eine Erhöhung der alkalischen Phosphatase im Serum und des SerumIgM-Spiegels. Antimitochondriale Antikörper (AMA) finden sich in über 90% der Fälle und sind damit diagnostisch wichtig. Bei den Antigenen handelt es sich um Komponenten des Pyruvatdehydrogenase-Komplexes und andere Dehydrogenasen, die an der inneren Mitochondrienmembran lokalisiert sind. Der klinische Verlauf der AMA-positiven Fälle unterscheidet sich nicht von jenem der AMA-negativen Fälle (= AMA-negative primär-biliäre Zirrhose; dabei finden sich nicht selten antinukleäre Antikörper). Der Serumbilirubinspiegel ist der beste prognostische Indikator: Bei deutlicher Erhöhung ist die Prognose schlecht. Die Lebertransplantation ist die kausale Therapie. Ein Wiederauftreten der Erkrankung im Transplantat ist möglich. Eine Besserung des klinischen Bildes kann durch Choleretika (z.B. Ursodeoxycholsäure) erzielt werden.

Abb. 32-28 Primär-biliäre Zirrhose (chronische nichteitrige destruierende Cholangitis).

In der Umgebung eines in Destruktion befindlichen Gallengangs lässt sich ein aus Epitheloidzellen aufgebautes Granulom (Pfeile) nachweisen. Die Basalmembran ist destruiert, das Gallengangsepithel ist von Lymphozyten durchsetzt. HE, Vergr. 250fach.

32.7.3

Sklerosierende Cholangitis

Definition Es handelt sich um einen entzündlichen fibrosierenden Prozess mit Atrophie, Obliteration bis Verschwinden der intrahepatischen und/oder extrahepatischen Gallengänge. In diese Gruppe von Erkrankungen gehören die primär-sklerosierende Cholangitis mit unbekannter Ursache und die sekundär-sklerosierende Cholangitis mit bekannter Ursache.

Primär-sklerosierende Cholangitis Epidemiologie Männer sind doppelt so häufig betroffen wie Frauen. Das Manifestationsalter liegt üblicherweise zwischen dem 25. und 40. Lebensjahr.

Ätiologie Die Ursache ist unbekannt. Die gelegentliche familiäre Häufung der Erkrankung, die erhöhte Prävalenz von HLA-B8, die häufige Assoziation mit Colitis ulcerosa (über 50% der Patienten haben gleichzeitig Colitis ulcerosa!), chronischer Thyreoiditis und Immundefizienzsyndromen und damit zusammenhängender Beeinträchtigung der Infektabwehr lassen an ein infektiöses Geschehen bei genetischer Prädisposition denken. Auch toxische oder ischämische Ursachen werden diskutiert.

Abb. 32-29 Primär-sklerosierende Cholangitis.

a Im Zentrum liegt ein atropher Gallengang mit engem Lumen (Pfeil), der von Bindegewebe „zwiebelschalenartig“ umgeben wird. In der Umgebung findet sich eine schüttere Infiltration aus Lymphozyten und Plasmazellen. HE, Vergr. 150fach. b Späteres Stadium. Der Gallengang im Portalfeld ist verschwunden und durch einen fibrösen Strang (Narbe) ersetzt (Pfeil). HE, Vergr. 150fach.

Morphologie Das morphologische Bild (Abb. 32-29) resultiert aus den Gallengangsveränderungen (intrahepatisch, extrahepatisch, kombiniert) und den durch Gallengangsstenose und -verschluss (mechanische Cholestase!) bedingten Leberveränderungen. Herdförmig findet sich in der Leber eine periduktale Entzündung mit Lymphozyten, Plasmazellen und vereinzelten neutrophilen und eosinophilen Granulozyten, die mit einer progressiven periduktalen Fibrose (Bindegewebe umgibt „zwiebelschalenartig“ die Gallengänge) mit Lumeneinengung und Atrophie der Gallengänge einhergeht. Schließlich können Gallengänge völlig verschwinden und durch fibröse Stränge ersetzt werden. In der Peripherie resultiert dann eine mechanische Cholestase mit Gallengangserweiterung, Gallethromben, Fibrose und Proliferation von Duktuli, v.a. in der Grenzzone zwischen Portalfeld und Parenchym. Das Endstadium der Erkrankung ist eine biliäre Zirrhose.

Klinisch-pathologische Korrelationen Bei Cholangiographie lassen sich die beschriebenen Gallengangsveränderungen in Form von Strikturen und Erweiterungen der Gallengänge darstellen. Der klinische Verlauf der Erkrankung ist variabel. Wesentliche Komplikationen sind rezidivierende eitrige Cholangitis, Fibrose und Zirrhose vom biliären Typ, portale Hypertonie mit Ösophagusvarizenblutung und cholangiozelluläres Karzinom. Es besteht eine mittlere überlebensdauer von 6–7 Jahren vom Beginn der Symptome bis zum Tod. Lebertransplantation ist die kausale Therapie. Die symptomatische Therapie besteht in Behandlung des Pruritus, Substitution fettlöslicher Vitamine und Antibiotikagabe.

Sekundär-sklerosierende Cholangitis Die morphologischen Veränderungen der sekundär-sklerosierenden Cholangitis entsprechen weitgehend jenen der primär-sklerosierenden Cholangitis. Diese Erkrankung findet sich bei Immundefizienzsyndromen (familiär oder erworben) möglicherweise als Folge einer Abwehrschwäche gegenüber intestinalen Bakterien, Pilzen, Parasiten und Viren. Ähnliche Veränderungen können als Folge von chronischer Galleabflussbehinderung (mechanische Cholestase), Graft-versus-HostReaktion, Abstoßungsreaktion nach Transplantation, bakteriellen Infektionen des Gallenwegssystems oder mangelhafter Blutversorgung (z.B. bei Gefäßverschluss nach Gallenblasenoperation, nach Lebertransplantation, nach Infusion von zytostatischen

Medikamenten) auftreten. Die Folgen entsprechen jenen der primär-sklerosierenden Cholangitis.

32.8

Folgezustände von Lebererkrankungen

Akute und chronische Leberschädigungen unterschiedlicher ätiologie können durch Ersatz zerstörten Leberparenchmys durch Bindegewebe (Narbenbildung), aber auch durch direkte Stimulation kollagenproduzierender Zellen zu einer Störung bzw. Zerstörung der normalen Leberarchitektur im Sinne einer Fibrose oder einer Leberzirrhose führen. Fibrose und Zirrhose sind meist irreversibel.

32.8.1

Leberfibrose

Definition Unter Fibrose versteht man eine Bindegewebsvermehrung, die sich auf objektive Weise durch chemische Bestimmung des Gesamtkollagengehaltes nachweisen lässt. Die normale Leberläppchenarchitektur ist noch gewahrt. Bei der Fibrose kommt es nicht zu einer Produktion neuartiger Matrixkomponenten, wohl aber zu einer Verschiebung der Relation von Komponenten, besonders zu einer Zunahme von Kollagen Typ I (bei Abnahme von Kollagen Typ III). Morphologisch lässt sich die Fibrose mit geeigneten Färbungen den Portalfeldern (portale Fibrose), den perisinusoidalen (perisinusoidale Fibrose), läppchenzentralen (zentrale perizelluläre oder perivenuläre Fibrose) oder läppchenperipheren Bereichen (periportale Fibrose) zuordnen. Bei septaler Fibrose finden sich Bindegewebesepten, die Portalfelder (septale Fibrose vom porto-portalen Typ) oder läppchenzentrale mit portalen Arealen (portozentraler Typ) verbinden. Gelegentlich werden einzelne Leberzellen oder kleinere Leberzellgruppen von Kollagenfaserbündeln allseits umgeben, sodass das Bild der „Maschendrahtfibrose“ entsteht.

Pathogenese (siehe Kap. 3.3) Viele chronische Lebererkrankungen gehen mit Fibrose einher. Ursachen für die Fibrose können Reparationsmechanismen nach Zellschädigung (reparative Fibrose, vergleichbar einer Narbe nach Wundheilung), immunologische Mechanismen sowie eine primäre Stimulation der kollagenproduzierenden Bindegewebszellen, wie z.B. der Lipozyten im Disse-Raum (= Ito-Zellen, „stellate cells“; werden dabei zu Myofibroblasten) sein. Gewisse Substanzen (z.B. Alkohol, Acetaldehyd, Eisen) können direkt die Kollagensynthese stimulieren. Die verantwortlichen Mechanismen sind komplex. Diverse Zytokine (TNF-α, TGF) sind als Stimulatoren der Kollagensynthese beteiligt. Die Entwicklung der Fibrose steht in Beziehung zu Dauer und Schweregrad der Schädigung. Die Entwicklungsdauer der Leberfibrose (aber auch der Leberzirrhose) ist variabel. Sie kann sich innerhalb

von Monaten (v.a. bei Kindern) bis Jahren (z.B. bei Älteren Alkoholikern) entwickeln.

Klinisch-pathologische Korrelationen Matrixveränderungen im Rahmen einer Fibrose führen zu einer Störung des Stoffaustausches zwischen Blut und Leberparenchym (v.a. bei perisinusoidaler Fibrose) und damit zu einer Störung der Leberfunktion. Durch die perisinusoidale Fibrose (Kollagenablagerung im Disse-Raum) kommt es zu einem Verlust der Fenestration der sinusoidalen Endothelzellen (= Kapillarisierung der Sinusoide). Daneben führt der erhöhte Widerstand, der durch die Fibrose dem durch die Leber strömenden Blut entgegengesetzt wird, z.B. in den Pfortaderästen, den Sinusoiden und den Lebervenen und ihren ästen, zu einer Blutdruckerhöhung im Pfortadersystem (= portale Hypertonie).

32.8.2

Leberzirrhose

Definition Die Leberzirrhose ist ein Endstadium diverser schwerer entzündlicher und nekrotisierender Leberschädigungen, wobei es unter Ausbildung von Bindegewebesepten und Parenchymregeneratknoten zu einer Zerstörung der lobulären und vaskulären Architektur der Leber gekommen ist. Der Terminus „Zirrhose“ leitet sich vom griechischen Wort für „gelb-orange“ ab und wurde von Laënnec (um 1800) wegen der gelbgrünen Färbung des zirrhotisch veränderten Organs geprägt. Destruktion und ungeordnete Regeneration von Leberparenchym, Fibrosierung und Veränderungen der Durchblutungsverhältnisse sind die Basis für die schwerwiegenden klinischen Konsequenzen.

Klassifikation Die Leberzirrhose kann nach morphologischen (makroskopischen, histologischen) und ätiologischen Kriterien klassifiziert werden.

Abb. 32-30

Leberzirrhose.

a Kleinknotige Leberzirrhose. Beachte die gleichmäßige Verteilung kleiner Knoten über das gesamte Organ. b Großknotige Leberzirrhose. Das Organ ist unregelmäßig höckrig mit unregelmäßig großen Knoten sowie narbigen Einziehungen. c Histologisches Bild einer Leberzirrhose in kleiner Vergrößerung (Bindegewebefärbung). Beachte die Ausbildung von Knoten (rot) und dazwischenliegenden Bindegewebesepten (blau). CAB, Vergr. 40fach. ■ Nach dem makroskopischen Bild (Abb. 32-30). Charakteristisch für den mikronodulären (kleinknotigen) Zirrhosetyp (früher: Laënnec-Zirrhose, portale Zirrhose, septale Zirrhose) sind recht gleichmäßige Knoten mit einem Durchmesser bis zu 3 mm, die von schmalen Bindegewebssepten umgeben sind. Die Knoten zeigen histologisch keinen Läppchenbau und enthalten keine Zentralvenen. In den Septen finden sich häufig mononukleäre Zellen (Lymphozyten, Histiozyten) und proliferierte Galleduktuli in wechselnder Zahl. Bei der makronodulären (großknotigen) Zirrhose (früher: postnekrotische Zirrhose, posthepatitische Zirrhose, multilobuläre Zirrhose) finden sich unregelmäßige, bis mehrere Zentimeter große Knoten. Sie enthalten sowohl Portalfelder als auch efferente Venen und werden von breiten irregulären Bindegewebssepten und Narbenfeldern (entstanden als Folge ausgedehnter Nekrosen) umgeben. Bei wechselnder Knotengröße kann von einem Mischtyp (mikro-makronodulär) gesprochen werden. Ein übergang von mikronodulärer zu makronodulärer Zirrhose und umgekehrt ist durch kontinuierliche Regeneration und Vergrößerung von kleinen und durch Zerschichtung von großen Knoten möglich. ■ Nach dem histologischen Bild. Nach dem histologischen Bild lassen sich aktive (progrediente) und inaktive (stationäre) Zirrhosen unterscheiden. Bei progredienten Zirrhosen finden sich histologisch noch Zeichen des zu Parenchymzerstörungen führenden Prozesses (z.B. Parenchymnekrosen und entzündliche Infiltrate bei chronischer Hepatitis oder alkoholischer Hepatitis), sodass in vielen Fällen eine Klassifikation nach der ätiologie möglich ist. Bei stationären Zirrhosen ist eine ätiologische Klassifikation morphologisch meist nicht mehr möglich. ■ Nach der ätiologie (Tab. 32-3). Die Leberzirrhose ist ätiologisch uneinheitlich. Den zur Zirrhose führenden Prozessen sind aber meist ausgeprägtere und/oder rezidivierende Leberzellnekrosen gemeinsam, die schließlich zur Zerstörung der Leberarchitektur führen.

Tab. 32-3 Ätiologie, Morphologie und Häufigkeit der Leberzirrhose.

Klinisch-pathologische Korrelationen und Komplikationen Das klinische Bild und die Komplikationen der Leberzirrhose ergeben sich aus einer verminderten Leberfunktion durch Parenchymverlust (= parenchymatöse Leberinsuffizienz) und/oder Störung der Blutzirkulation mit Umgehung des Leberparenchyms (= zirkulatorische Leberinsuffizienz; das Blut aus dem Pfortadersystem und der A. hepatica fließt durch die in den Bindegewebssepten gelegenen Gefäße unter Umgehung des Leberparenchyms direkt in das Lebervenensystem), aber auch aus der Erhöhung des Blutdruckes im Pfortadersystem (portale Hypertonie; siehe Kap. 32.9.6). Die prognostische Beurteilung von Patienten mit Leberzirrhose beruht auf der Child-PughKlassifikation, in die neben klinischen Befunden (z.B. Schweregrad der Enzephalopathie, Aszites) die Syntheseleistung der Leber (Albuminkonzentration im Serum, Blutgerinnung, gemessen durch Bestimmung der Prothrombinzeit) und auch Exkretionsfunktionen (Serumbilirubinspiegel) eingehen. Die einzelnen Kriterien werden gewichtet (Klassen A, B, C; A = beste, C = schlechteste Prognose).

Tab. 32-4

Folgen des Leberversagens.

Ikterus Hepatische Enzephalopathie Hepatorenales Syndrom Blutgerinnungsstörungen Endokrine Störungen Hypalbuminämie

32.8.3

Leberversagen

Syn.: Leberinsuffizienz

Definition Die Leberfunktion wird durch die Funktion der Leberzellen in Verbindung mit der Durchblutung bestimmt. Voraussetzungen für die optimale Funktion des Organs sind nicht nur die Quantität der jeweiligen Komponenten (Leberparenchym, Durchblutung), sondern auch ihre intakte architektonische und damit funktionelle Beziehung zueinander. Leberversagen kann daher als Folge verschieden akuter und chronischer Leberschädigungen auftreten. Folgen des Leberversagens (Tab. 32-4) ■ Ikterus. Ikterus ist die Folge mangelhafter Bilirubinausscheidung durch die insuffiziente Leber, wobei sowohl konjugiertes als auch unkonjugiertes Bilirubin im Blut ansteigen (siehe Kap. 32.3). ■ Hepatische Enzephalopathie. Es handelt sich dabei um komplexe neuropsychiatrische Störungen, die als Komplikationen von Lebererkrankungen auftreten. Sie sind Folge sowohl des Leberzellschadens als auch der veränderten Blutzirkulationsverhältnisse (z.B. extra- und intrahepatische Kurzschlussverbindungen zwischen Pfortadersystem und der systemischen Zirkulation unter Umgehung der Leber bzw. des Leberparenchyms). Das klinische Bild umfasst Störungen des Bewusstseins (Schläfrigkeit bis zur Bewusstlosigkeit = Koma), Persönlichkeitsveränderungen, Intelligenzdefekte, Sprachstörungen, Tremor und hyperaktive Reflexe mit entsprechenden EKG-Veränderungen. Histologisch finden sich eine Vermehrung und Vergrößerung von Astrozyten mit Kernvergrößerung und Kerneinschlüssen (sog. Alzheimer-Typ-II-Astrozyten) in der grauen Substanz von Großhirn, Kleinhirn, Putamen und Pallidum. Zumindest in den Frühstadien sind die Veränderungen reversibel. Viele Details der Pathogenese sind aber noch unklar. Eine multifaktorielle Genese ist anzunehmen. Durch mangelhafte Leberzellfunktion (z.B. bei akuter Hepatitis), aber auch durch „Umgehung“ der Leber im Rahmen von Gefäßkurzschlüssen („Shunts“) zwischen dem Portalblut und der systemischen Zirkulation (= portosystemische Enzephalopathie, z.B. bei Leberzirrhose) werden im Portalblut vorhandene toxische Substanzen (Ammonium, Merkaptane, Fettsäuren, Phenolderivate) nicht entsprechend abgebaut und erreichen das Gehirn. Es handelt sich dabei um Produkte der bakteriellen Darmflora sowie des Eiweißstoffwechsels (Nahrungseiweiß, Blut), wie Ammoniak (Blutammoniakspiegel erhöht!) und pharmakologisch aktive Amine. Die Wirkung kann durch erhöhte Permeabilität der Blut-Hirn-Schranke verstärkt werden. Eine wichtige Rolle können die Störung der Neurotransmittersynthese aus Aminosäuren und die Bildung von Substanzen mit Neurotransmitterähnlicher Wirkung („falsche Neurotransmitter“; z.B. Oktopamin) durch Bakterien spielen. Der auf Nervenzellen hemmend wirkende Neurotransmitter γ-Aminobuttersäure (GABA) wird zum Beispiel durch Bakterien

im Darm produziert und ist in Blut und Liquor von Patienten mit Enzephalopathie in erhöhter Konzentration vorhanden. Ferner könnten auch vermehrte Rezeptoren für GABA an Nervenzellen für den gesteigerten Hemmeffekt verantwortlich sein. Mit dem GABA-Rezeptor ist auch ein Rezeptor für Barbiturate bzw. Benzodiazepine assoziiert. Benzodiazepinantagonisten können zu einer Besserung der hepatischen Enzephalopathie führen. ■ Hepatorenales Syndrom. Unter dem Begriff des hepatorenalen Syndroms versteht man eine Nierenfunktionsstörung bei normaler Nierenhistologie im Rahmen einer schweren chronischen Lebererkrankung mit Aszites (Nierenfunktionsstörungen infolge primärer Nierenerkrankungen, Infektionen oder schockbedingter Nekrosen bei gleichzeitig bestehenden chronischen Leberschädigungen gehören nicht in diese Gruppe!). Die Ursache der Nierenfunktionsstörung liegt in einer Reduktion der Nierenrindendurchblutung und damit der glomerulären Filtrationsrate bei Anstieg des Serumreninspiegels (erhöhter präglomerulärer Gefäßwiderstand durch Vasokonstriktion). Die Ursache kann in erhöhter Produktion oder mangelhaftem Abbau von vasoaktiven Substanzen in der defekten Leber liegen. Das Zustandsbild ist klinisch durch Oligurie, Anurie, Azotämie und schließlich Urämie charakterisiert. Der funktionelle Charakter der Störung wird dadurch unterstrichen, dass diese Nieren erfolgreich transplantiert werden können und dann ihre Funktion wiederaufnehmen und Patienten nach Lebertransplantation eine normale Nierenfunktion erlangen. Das Syndrom wird häufig durch Reduktion des Blut- und Flüssigkeitsvolumens (z.B. Entwässerungsbehandlung, Diarrhöen) ausgelöst und betrifft bevorzugt Patienten mit alkoholischer Leberzirrhose im Endstadium der Erkrankung. ■ Störungen der Blutgerinnung. Dabei kann es zu verminderter, aber auch erhöhter Blutgerinnung kommen. Die meisten Gerinnungsfaktoren (mit Ausnahme des von-Willebrand-Faktors und des Faktors VIII) werden in der Leber produziert. Eine Störung der synthetischen Leberzellfunktion führt somit zu einer Blutgerinnungsstörung mit verlängerter Prothrombinzeit. Eine verminderte Vitamin-K-Resorption durch verminderte Gallensäuresekretion und eine Thrombozytopenie (Thrombozytenzerfall in der gestauten Milz) erhöhen die Blutungsneigung. Zusätzlich kann es in der kranken Leber zur Synthese von abnormem Fibrinogen (= Dysfibrinogenämie) kommen. Ferner findet sich v.a. bei akuter hepatozellulärer Nekrose im Endstadium eine disseminierte intravaskuläre Gerinnung. Sie wird verursacht durch Freisetzung von Gewebethromboplastin, Aktivierung des Gerinnungsfaktors XII durch Endotoxin aus Darmbakterien und/oder mangelhafte Ausscheidung aktivierter Gerinnungsfaktoren durch die Leber. ■ Hypalbuminämie. Durch Einschränkung der Syntheseleistungen der geschädigten Leber kommt es auch zu einer Verminderung der

Serumalbuminkonzentration als wichtige Ursache für die Ödemneigung und Aszitesbildung durch verminderten onkotischen Druck. ■ Endokrine Störungen. Durch den verminderten Abbau von Steroiden mit östrogener Wirkung kommt es zur Feminisierung bei Männern mit Gynäkomastie, weiblichem Behaarungstyp, Hodenatrophie, Spider-Nävi und Palmarerythem. Auch bei Frauen können hormonelle Störungen (z.B. Amenorrhö) auftreten.

32.9 Zirkulationsstörungen in der Leber und im Pfortadersystem 32.9.1

Anatomische Vorbemerkungen

Die arterielle Versorgung der Leber erfolgt über die A. hepatica. In der Leber bilden deren Äste einen Plexus um die Gallengänge, versorgen die Strukturen des Portalfeldes und bringen dann ihr Blut in die Sinusoide ein. Beim Menschen ist die A. hepatica für ca. 35% des Leberblutflusses und 50% der Sauerstoffversorgung der Leber verantwortlich. Für den Rest ist die Pfortader (V. portae) zuständig. Der Blutfluss in der Pfortader beträgt ca. 1000–1200 ml/min. Das Lebervenenblut ist zu ca. 70% mit Sauerstoff gesättigt. Der Blutabfluss erfolgt über Zentral-, Sublobular- und Lebervenen in die V. cava inferior.

32.9.2

Störung des Pfortaderblutflusses

Störungen des Blutflusses in der Pfortader können auf intra- und extrahepatische Ursachen zurückgehen. Die wichtigste extrahepatische Ursache ist die Pfortaderthrombose. Eine wichtige intrahepatische Ursache für die Beeinträchtigung des Pfortaderblutflusses ist die Leberzirrhose. Folgen eines Pfortaderverschlusses sind portale Hypertonie, Ausbildung von Kollateralen sowie Leberverkleinerung mit eingeschränkter Regenerationsfähigkeit. Bei akutem Verschluss kann es zu einer hämorrhagischen Infarzierung im vorgeschalteten Abflussgebiet kommen. Bei intrahepatischen Verschlüssen von Pfortaderästen kommt es zu Atrophie und Verschmälerung der Leberzellbalken und zu einer konsekutiven Erweiterung der nachgeschalteten Sinusoide. Das betroffene Areal ist daher blutreich (= dunkelblaurote Farbe). Dies wird als Zahn'scher Infarkt bezeichnet (wegen des Fehlens von Nekrosen liegt aber kein echter Infarkt vor!) und ist besonders deutlich sichtbar, wenn gleichzeitig eine Blutstauung in der Leber vorliegt. Zahn'sche Infarkte finden sich als dunkelblaurote Säume häufig auch in der unmittelbaren Umgebung von Lebermetastasen, verursacht durch den Druck des Tumorgewebes auf Pfortaderäste.

32.9.3

Arterielle Verschlüsse (A. hepatica)

Die Folgen des Arterienverschlusses infolge von Embolie, Entzündungen (z.B. Panarteriitis nodosa) oder Ligatur im Rahmen chirurgischer Eingriffe hängen von der Lokalisation des Verschlusses, der Schnelligkeit seines Eintretens und dem Vorhandensein suffizienter Kollateralen ab. Bei akuten Verschlüssen der A. hepatica propria oder ihrer äste (z.B. durch Embolie) kann es zur Ausbildung eines anämischen Infarktes mit blassem, lehmgelbem Zentrum und hyperämischer Randzone kommen. Wegen der zweifachen Blutversorgung (A. hepatica, V. portae) und der intrahepatischen Verbindungen über die Sinusoide sind Leberinfarkte aber selten.

32.9.4

Leber bei Schock

Durch das Absinken des systemischen (arteriellen) Blutdruckes im Rahmen der Schocksituation kommt es zu einer Reduktion des Leberblutflusses und der Sauerstoffsättigung. Gleichzeitig kommt es zu einer Vasokonstriktion der A. hepatica. Folgen sind vor allem läppchenzentral lokalisierte Leberzellnekrosen.

32.9.5 Störung des Blutabflusses aus der Leber Ätiologie und Pathogenese Störungen des Blutabflusses aus der Leber sind die Folge von Venenverschlüssen, kardialer Stauung oder Perikarditis (Pericarditis constrictiva). ■ Budd-Chiari-Syndrom. Dieses Syndrom ist klinisch durch Lebervergrößerung, Schmerzen und Aszites charakterisiert. Der Schweregrad der klinischen Symptomatik hängt davon ab, ob sich die Blutabflussstörung schnell (= akut) oder langsam (= chronisch) entwickelt. Histologisch finden sich Erweiterungen der Zentralvenen und läppchenzentralen Sinusoide sowie hypoxische Leberzellnekrosen (Abb. 32-31). Ursache ist eine Thrombose, die in den Lebervenen oder in der V. cava inferior sitzen kann. Erhöhte Thromboseneigung findet sich bei Erythrozytose, Lupus erythematodes, Veränderungen von Blutgerinnungsfaktoren (z.B. Faktor V), Verwendung oraler Kontrazeptiva und bei malignen Tumoren. Als weitere Ursachen kommen Venenverschlüsse durch Tumoren oder Entzündungen in Frage. In ca. 30% der Fälle findet sich keine eindeutige Ursache (idiopathisch). ■ Venenverschlusskrankheit. Bei der Venenverschlusskrankheit („hepatic venoocclusive disease“, Endophlebitis obliterans hepatica) kommt es zu Verschlüssen von Zentralvenen und kleinen Lebervenen mit Endothelzellproliferation, Fibrose und Thrombose. Folgen sind Erweiterung der Sinusoide, Kompression der Leberzellplatten, läppchenzentrale Leberzellnekrosen und Fibrose. Diese Erkrankung wurde zuerst in Jamaika beobachtet und auf die toxische Wirkung von Pyrrolizidinalkaloiden aus Pflanzen der Crotalaria- und Senecio-Familie, die für Teezubereitungen („Buschtee“) verwendet werden,

zurückgeführt. In unseren Ländern werden toxische Gefäß-(Endothel-)Schäden durch Zytostatika, Kontrazeptiva, nach Bestrahlung und auch zunehmend durch „pflanzliche Teezubereitungen“ (Kombucha, Teucrium) beobachtet. Nach Knochenmarkstransplantation kann es, evtl. durch Graft-versus-Host-Reaktion, ebenfalls zu derartigen Veränderungen kommen. ■ Kardial bedingte Stauungsleber (Abb. 32-32). Die Blutabflussstörung aus der Leber geht auf eine Rechtsherzinsuffizienz zurück. Weitere Ursachen sind eine Insuffizienz der Trikuspidalklappe und eine Pericarditis constrictiva. Sie kann akut oder chronisch eintreten. Bei akuter Stauung ist die Leber vergrößert und blutreich. Läppchenzentral (Rappaport-Zone 3) sind Zentralvenen und Sinusoide erweitert, die Leberzellbalken verschmälert und (druck)atrophisch. Bei geringerer Ausprägung der Stauung sind die Veränderungen weitgehend auf die Läppchenzentren beschränkt (makroskopisch sind rote Punkte am Leberquerschnitt sichtbar = Stauung 1. Grades). Bei stärkerer Ausprägung konfluieren die blutreichen Areale zu Straßen bzw. einem roten Netzwerk durch Brückenbildung zwischen Zentralvenen (= Stauung 2. Grades). Bei länger dauernder ausgeprägter Stauung kommt es neben Erweiterung der Zentralvenen und der Sinusoide sowie Parenchymatrophie zu einer hypoxisch bedingten Verfettung des verbliebenen Leberparenchyms (scheckiges Aussehen durch verfettete gelbe Areale und blutreiche rote Areale ergibt das Bild der „Muskatnussleber“ = Stauung 3. Grades). Bei längerer Dauer entstehen eine perisinusoidale sowie eine Zentralvenenfibrose, wobei die Leber verfestigt und häufig verkleinert ist. Die Fibrose ist bei Trikuspidalinsuffizienz und Pericarditis constrictiva besonders deutlich ausgeprägt („Fibrose cardiaque“).

Abb. 32-31

Budd-Chiari-Syndrom.

Verschwinden läppchenzentraler Leberzellen bei erhaltener Architektur der Sinusoide (Pfeil zeigt auf die Zentralvene). CAB, Vergr. 50fach.

Abb. 32-32 Ausgeprägte Leberstauung bei Rechtsherzinsuffizienz.

Beachte die Ausweitung der Zentralvenen und der läppchenzentralen Sinusoide (zum Teil auch mit Brückenbildung; rot). Das dazwischenliegende Parenchym zeigt einen gelblichen Farbton (= Verfettung). Die abführenden Venen sind erweitert.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Ausgeprägte Leberstauung äußert sich klinisch in Lebervergrößerung, portaler Hypertonie, Aszites und Schmerzen im rechten Oberbauch. Kardial bedingter Ikterus kann auf läppchenzentrale Leberzellausfälle und Cholestase zurückgehen.

32.9.6

Portale Hypertonie (Tab. 32-5)

Definition Das Pfortadersystem umfasst Venen, die Blut aus Gastrointestinaltrakt, Milz, Pankreas und Gallenblase abführen. Der Blutdruck im Pfortadersystem liegt normalerweise bei 7–10 mmHg. Bei Erhöhung dieses Wertes wird von portaler Hypertonie gesprochen. Die Ursache liegt meist in einer Behinderung des Blutflusses im Pfortadersystem.

Klassifikation der portalen Hypertonie Die Behinderung des portalen Blutflusses und damit die Ursache der portalen Hypertonie kann vor der Leber (prähepatisch), in der Leber (intrahepatisch) und nach Austritt des Blutes aus der Leber (posthepatisch) lokalisiert sein.

■ Prähepatische portale Hypertonie. Das Passagehindernis für das Portalblut liegt im extrahepatischen Pfortadersystem. Am häufigsten ist dafür eine Pfortaderthrombose verantwortlich. Eine solche findet sich relativ häufig bei Leberzirrhose, bedingt durch Verlangsamung des Blutflusses (ca. 15% der Leberzirrhosen gehen mit Pfortaderthrombose einher!). Weitere Ursachen der Pfortaderthrombose sind Tumoren, Verletzungen (auch Operationen), Entzündungen der Pfortader (Pylephlebitis), Pankreatitis und Zustände gesteigerter Blutgerinnung (z.B. durch Kontrazeptiva). Bei Neugeborenen kann eine Umbilikalsepsis für die Pfortaderthrombose verantwortlich sein. Gelegentlich ist die Pfortader durch einen Bindegewebestrang ersetzt oder ihr Lumen nicht durchgehend ausgebildet, sodass von Endothel ausgekleidete Bluträume entstehen (kavernöse Transformation als Entwicklungsstörung oder Folge von Entzündungen). In seltenen Fällen wird eine prähepatische portale Hypertonie durch arteriovenöse Anastomosen bewirkt. ■ Intrahepatische portale Hypertonie. Diese Form der portalen Hypertonie kann durch alle Prozesse, die mit einer Störung des Blutflusses durch die Leber einhergehen, bewirkt werden (Leberzirrhose, perisinusoidale und Zentralvenenfibrose, Verschluss der Zentral-, Sublobular- oder Sammelvenen, noduläre Transformation der Leber, portale und periportale Fibrose mit Einbeziehung der Pfortaderäste, granulomatöse Reaktionen, z.B. bei Schistosomiasis). Die Ursachen können somit präsinusoidal, sinusoidal oder postsinusoidal lokalisiert sein. Die ätiologie der sog. idiopathischen portalen Hypertonie ist ungeklärt. Es handelt sich um eine portale Hypertonie bei nichtzirrhotischer Leber und offener extrahepatischer Pfortader. In einigen Fällen findet sich eine portale Fibrose mit Kompression und Wandverbreiterung der Pfortaderäste (hepatoportale Sklerose). ■ Posthepatische portale Hypertonie. Die Ursache liegt in einer Behinderung des Blutabflusses aus der Leber. Das Abflusshindernis kann in den Lebervenen, der V. cava inferior, im Herzbeutel (Pericarditis constrictiva) und im Herzen (Stauung, Klappenfehler) liegen.

Tab. 32-5 Klassifikation der portalen Hypertonie.

Folgen und Komplikationen der portalen Hypertonie Bei portaler Hypertonie kommt es zur Ausbildung und Erweiterung von portosystemischen venösen Kollateralen, wodurch ein Abfluss des Blutes aus dem Pfortadersystem erleichtert wird.

Abb. 32-33

Ösophagusvarizen.

Beachte die erweiterten, strotzend mit Blut gefüllten, geschlängelten Venen (Doppelpfeil). Eine Vene ist eröffnet (Pfeil). ■ Ösophagusvarizen (Abb. 32-33). Die praktisch-klinisch wichtigsten Kollateralen sind Verbindungen zwischen der V. gastrica dextra und den Ösophagusvenen, die das Blut in die V. azygos abführen. Durch den erhöhten Blutfluss kommt es zu einer diffusen oder lokalisierten Ausweitung (= Ektasie, Varizenbildung) submuköser Venen im unteren Ösophagusabschnitt (Ösophagusvarizen) und auch im Magenfundus (Fundusvarizen) mit der Gefahr der Ruptur und Blutung (Varizenblutung). Die Prognose der Ösophagusvarizenblutung ist schlecht. Folgen (und evtl. Todesursachen) sind hypovolämischer Schock (Blutungsschock mit ischämiebedingten Lebernekrosen) und Enzephalopathie

(bedingt durch toxische Abbauprodukte des in den Intestinaltrakt gelangten Blutes). Therapeutische Maßnahmen zielen darauf ab, die Blutung zu stillen (oder zu verhindern) und deren Komplikationen zu verhindern: Kompression (mit Ballonsonde) und Sklerosierung der Varizen (Sklerotherapie = Verfestigung des umgebenden Gewebes mittels Fibrosierung durch Injektion entsprechender Substanzen), medikamentöse Verminderung des Portaldruckes, Blutableitung (z.B. durch chirurgisch angelegte portosystemische Shunts, wie z.B. portokavaler Shunt, splenorenaler Shunt durch operative Anastomosierung der entsprechenden Gefäße), Behandlung der Hypovolämie und Entfernung des Blutes aus dem Intestinaltrakt. ■ Andere Kollateralen zwischen Pfortader- und Cava-inferior-System. Von geringerer praktischer Bedeutung sind Kollateralen zwischen V. mesenterica inferior und V. iliaca interna, V. haemorrhoidalis superior und den Vv. haemorrhoidales media und inferior sowie zwischen intestinalen Venen und Venen der Bauchwand im Rahmen von (entzündungsbedingten) Adhäsionen. Ferner können über die Nabelvenen (Parumbilikalvenen) Verbindungen zwischen ästen der Pfortader und den epigastrischen Venen bestehen. Bei Ausweitung dieses Gefäßsystems finden sich erweiterte Venen, die vom Nabel radiär ausstrahlen (= Caput medusae). ■ Splenomegalie. Im Rahmen der portalen Hypertonie kommt es zu einer Milzvergrößerung (= Splenomegalie, portale Stauungsmilz; siehe Kap. 22.3), obwohl die Milzgröße in keiner konstanten Relation zum Portaldruck steht. In der Milz findet sich eine Hyperplasie der Zellen des retikulohistiozytären Systems, die die Sinusoide auskleiden. Durch die verlängerte Transitzeit kommt es durch vermehrten Zellzerfall zu einer Verminderung von Erythrozyten, Leukozyten und Thrombozyten im Sinne einer Panzytopenie (= Hypersplenismus). In der vergrößerten Milz kann es auch zu Blutungen in die rote Pulpa mit Siderinablagerung in Makrophagen kommen (= Gandy-Gamma-Knötchen). ■ Aszites. Die Ausbildung eines Aszites ist eine häufige Begleiterscheinung der portalen Hypertonie.

32.10 Leber und Stoffwechselstörungen Eine Reihe von Stoffwechselstörungen führt zu Leberzellschädigung, gefolgt von Fibrose und Zirrhose. Einige Erkrankungen mit vorherrschenden Leberveränderungen sind in diesem Kapitel zusammengefasst (siehe auch Kap. 46).

32.10.1

Hämochromatose

Idiopathische Hämochromatose Definition und Epidemiologie Durch gesteigerte Eisenresorption im Dünndarm kommt es zu massiver Anhäufung von eisenhaltigem Pigment (Hämosiderin) im Körper, vor allem in Leber und Pankreas (Eisenspeicherkrankheit). Die Prävalenz der manifesten Erkrankung liegt bei 25–200 pro 100 000. Männer sind etwa 10-mal häufiger als Frauen betroffen. Bei Frauen äußert sich die Erkrankung häufig erst in der Menopause (vor der Menopause verhindert der Eisenverlust durch Menstruation und Gravidität eine erhöhte Eisenablagerung!). Der Altersgipfel liegt zwischen 40. und 60. Lebenjahr.

Pathogenese

Es handelt sich um eine genetisch determinierte Erkrankung mit autosomalrezessivem Erbgang. Das abnorme Gen ist an Chromosom 6 in der Nähe des HLAGen-Lokus lokalisiert. Dieses Gen wird als HFE-Gen bezeichnet und kodiert ein HLA-Klasse-I-ähnliches Molekül, das die Eisenresorption beeinflusst. Die häufigste Mutation bewirkt eine Substitution von Cystein durch Tyrosin an Position 282, die zu einer Inaktivierung des Proteins führt. Auch andere Mutationen sind bekannt. Bei Homozygoten kommt es zur Erkrankung, bei Heterozygoten bestehen leicht erhöhte Eisenspiegel in Serum und Geweben. Der der Erkrankung zugrunde liegende Pathomechanismus ist im Detail noch unklar, wesentlich scheint die erhöhte Eisenaufnahme aus dem Darm zu sein. Es kommt dadurch zu einer jährlichen Netto-Eisenanhäufung von 0,5–1,0 g. Das Eisen wirkt toxisch auf Zellen durch Förderung der Lipidperoxidation und direkte Interaktion mit DNA.

Morphologie Eisen wird in den Leberzellen (vor allem läppchenperipher), aber auch in Gallengangsepithelien als Hämosiderin (goldbraune Granula im HE-gefärbten Schnitt, blaue Granula bei Eisenfärbung), in geringerer Menge in Kupffer-Zellen gespeichert. In der Folge kommt es zu fortschreitendem Leberzelluntergang (Abräumreaktion durch Kupffer-Zellen!), der zu Fibrose und schließlich zur

mikro- oder makronodulären Leberzirrhose führt. Dabei besteht ein erhöhtes Risiko zur Entwicklung eines hepatozellulären Karzinoms (in ca. 14% der Fälle!). Neben der Leber sind auch andere Organe betroffen. Im Pankreas finden sich Eisenablagerungen in Azinus- und Inselzellen mit nachfolgender Fibrose und Diabetes mellitus. Eisenablagerungen finden sich auch in anderen endokrinen Organen, Milz, Herz, Magen- und Intestinalepithelzellen, weniger in der Niere. Eine verstärke Hautpigmentierung ist nachweisbar (bräunliche Verfärbung der Haut bei gleichzeitigem Diabetes mellitus = „Bronzediabetes“).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die klinischen Symptome entwickeln sich schleichend (bräunliche Hautverfärbung und Hepatomegalie stehen im Vordergrund). Die Zellschädigung durch erhöhte Eisenablagerung äußert sich klinisch in Lebervergrößerung, Diabetes, Störungen anderer endokriner Funktionen (Hypopituitarismus, Schädigung gonadotropinproduzierender Zellen) und Herzinsuffizienz. Die Prognose hängt von Frühdiagnose und rechtzeitiger Behandlung ab. Die Erkrankung wird durch den Nachweis hoher Serumeisen- und -ferritinspiegel, durch Leberbiopsie und Genanalysen diagnostiziert. Die Therapie besteht in der Entfernung des Eisens durch Aderlässe (Blutabnahme von 500 ml wöchentlich über ca. 2 Jahre). Das Risiko der Entwicklung eines Leberkarzinoms ist allerdings dadurch nicht vermindert. Durch Verabreichung von eisenspezifischen Chelatbildnern (Desferrioxamin) kann ebenfalls eine Eisenmobilisation und -ausscheidung erreicht werden.

Andere Formen der Siderose Eine Eisenüberladung kann auch auf andere Ursachen zurückgehen (= sekundäre Hämochromatose). Sie kann bedingt sein durch erhöhte Eisenaufnahme aus der Nahrung (z.B. Eisenaufnahme durch Verwendung von Eisen-Kochutensilien bei Bantus = „Bantu-Siderose“; Eisenaufnahme über eisenhaltige Getränke), alkoholische Leberzirrhose (durch erhöhte Eisenresorption, Proteinmangel), Hämodialyse, wiederholte Bluttransfusionen oder vermehrten Erythrozytenzerfall (z.B. bei chronischen hämolytischen Anämien). Im Gegensatz zur primären Hämochromatose steht bei diesen Sideroseformen die Siderinablagerung in Zellen des retikulohistiozytären Systems (Kupffer-Zellen, Makrophagen) im Vordergrund. Die Beteiligung von Pankreas, endokrinen Drüsen und Herz ist selten.

32.10.2

Morbus Wilson

Syn.: hepatolentikuläre Degeneration

Definition und Epidemiologie Es handelt sich um eine autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung, bedingt durch erhöhte Kupferablagerung in den Geweben und damit verbundene Gewebeschädigung. Vor allem sind Leber, Niere und Zentralnervensystem (Basalganglien) betroffen. Die Prävalenz der Erkrankung liegt bei 1–4/100 000.

Pathogenese

Kupfer wirkt toxisch durch Schädigung der Mitochondrien und der Mikrotubuli. Die intrazelluläre Kupfererhöhung ist die Folge einer verminderten Kupferausscheidung über die Galle, wobei der primäre Defekt in der Leberzelle liegt. Die Harnkupferausscheidung ist erhöht. Zäruloplasmin, ein kupferbindendes Glykoprotein im Plasma, und damit der Serumkupferspiegel sind in den allermeisten (aber nicht in allen) Fällen reduziert. Das für den M. Wilson verantwortliche mutierte Gen (ATP7B) sitzt auf Chromosom 13 und kodiert für eine kupfertransportierende ATPase an der kanalikulären Leberzellmembran. Zahlreiche krankheitsspezifische Mutationen und Polymorphismen dieses Gens sind bekannt.

Morphologie

In der Leber können sich alle Formen der Leberzellschädigung bis zu ausgedehnten Leberzellnekrosen und (makronodulärer und mikronodulärer) Leberzirrhose finden. Die geschädigten Leberzellen sind vergrößert (balloniert) und enthalten vermehrt lipofuszinähnliches Pigment. Die Leberzellkerne sind oft vakuolisiert mit Glykogeneinschlüssen („Lochkerne“). Daneben findet sich eine Parenchymverfettung. Gelegentlich enthalten die Leberzellen auch Mallory-Körper. In den Portalfeldern und Bindegewebssepten finden sich lymphozytäre Infiltrate (hepatitisähnliches Bild). Das morphologische Bild ist somit nicht absolut krankheitsspezifisch. Bei jüngeren Patienten mit derartiger Lebermorphologie und Leberzirrhose sollte aber stets an einen Morbus Wilson gedacht werden. Das erhöhte intrazelluläre Kupfer lässt sich mittels entsprechender histochemischer Färbereaktionen (Rubeansäure-, Rhodanin-Färbung) nachweisen (dieser Nachweis ist allerdings inkonstant und in Frühphasen der Erkrankung häufig negativ, in Regeneratknoten bei Leberzirrhose ebenfalls häufig negativ). Verfettung und hydropische Veränderungen finden sich auch in proximalen Nierentubuli. Durch die Ablagerung eines kupferhaltigen Pigments in der Descemet-Membran entsteht der Kayser-Fleischer-Kornealring (= grün-brauner Ring an der Peripherie der Hornhaut). In den Stammganglien des Gehirns kommt es zu Degeneration und Nekrose von Nervenzellen als Folge der kupferbedingten Nervenzellschädigung.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Das Manifestationsalter der Erkrankung liegt meist zwischen dem 6. und dem 25. Lebensjahr. Im jüngeren Lebensalter, v.a. bei Kindern, steht klinisch die Leberschädigung im Vordergrund, später gewinnen die neuropsychiatrischen Veränderungen an Bedeutung. Die Erkrankung äußert sich klinisch entweder als fulminante Hepatitis mit Ikterus, Hämolyse, Aszites sowie Leber- und Nierenfunktionsstörungen und schließlich Coma hepaticum oder als chronische Hepatitis oder Leberzirrhose. Die neuropsychiatrischen Symptome umfassen extrapyramidale Störungen, Tremor („Flügelschlagen“), Rigidität und Sprachstörungen. Unbehandelt verläuft die Erkrankung progressiv und schließlich tödlich. Die Behandlung beruht auf der Elimination des Kupfers, z.B. durch den Chelatbildner Penicillamin, und erhöhte Ausscheidung im Harn. Der metabolische Defekt in der Leber kann auch durch Lebertransplantation behoben werden.

32.10.3

α1-Antitrypsin(AAT)-Mangel

Definition und Epidemiologie α1-Antitrypsin (AAT) ist ein Akute-Phase-Protein und die Hauptkomponente der α1Globulin-Fraktion des Serums. Es wird von den Leberzellen produziert und sezerniert. AAT hemmt verschiedene Proteasen (Trypsin, Chymotrypsin, Thrombin). Die Hauptwirkung besteht in der Hemmung der Elastase der neutrophilen Granulozyten, die imstande ist, Strukturproteine der extrazellulären Matrix abzubauen. AAT hat daher eine Schutzfunktion gegenüber proteolytischer Gewebeschädigung. Dem AATMangel liegt die Produktion eines abnormen AAT zugrunde, das von den Leberzellen vermindert abgegeben werden kann und sich daher anhäuft. Es handelt sich um eine relativ häufige, autosomalrezessiv vererbte Stoffwechselerkrankung (1 pro 3500 Lebendgeburten). Siehe Kap. 46.4.2 und 5.3.2.

Pathogenese und Morphologie Das abnorme Gen (auf Chromosom 14) führt in der Leberzelle zur Synthese von abnormen AAT-Molekülen, die nicht sezerniert werden können und sich im Zytoplasma als eosinophile, globuläre (PAS-positive) Einschlüsse in läppchenperipheren Arealen nachweisen lassen (niedrige Serumspiegel!). Zusätzlich finden sich vergrößerte (sog. ballonierte) Leberzellen, Leberzellnekrosen unterschiedlichen Ausmaßes und evtl. eine Leberzirrhose. Die der Leberzellschädigung zugrunde liegenden pathogenetischen Mechanismen sind noch unklar, ein Defekt im Abbau des abnormen AAT scheint eine wichtige Rolle zu spielen. AAT-Mangel kann ferner mit Lungenemphysem vergesellschaftet sein (siehe Kap. 24.4.2).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Bei klinischen Zeichen einer kindlichen Leberschädigung (z.B. Ikterus, neonatale Hepatitis) sollte an AAT-Mangel gedacht werden. AAT-Mangel kann sich aber auch

bei älteren Menschen in Form einer kryptogenen Zirrhose äußern. Der Nachweis ergibt sich aus der Bestimmung der Serum-AAT-Konzentration und aus dem morphologischen Bild der Leberbiopsie. Die kausale Therapie ist die orthotope Lebertransplantation.

32.10.4

Andere Stoffwechselstörungen

Siehe Lebermitbeteiligung bei Porphyrie (Kap. 46.3.1), Amyloidose (Kap. 46.3.4), Diabetes mellitus (Kap. 46.3.2), genetischen und anderen Stoffwechselerkrankungen (Kap. 46.2).

32.11 Neoplastische Erkrankungen Wie in anderen Organen werden primäre Tumoren der Leber nach Herkunft (epitheliale Tumoren: hepatozellulär, cholangiozellulär; mesenchymale Tumoren) und Dignität (benigne, maligne) klassifiziert (Tab. 32-6). Die Leber ist auch ein bevorzugtes Ziel von Metastasen.

32.11.1

Gutartige (benigne) epitheliale Tumoren

Hepatozelluläres Adenom Definition Es handelt sich um seltene gutartige Tumoren mit hepatozellulärer Differenzierung, die vor allem bei Frauen nach längerer (jahrelanger) Einnahme von Kontrazeptiva vorkommen (gelegentlich Rückbildung nach Absetzen der Medikation!).

Morphologie

Die Tumorknoten sind unterschiedlich groß (2–20 cm Durchmesser), umschrieben und zeigen häufig Blutungen und Nekrosen (Abb. 32-34). Histologisch bestehen die Tumoren aus weitgehend normalen, üblicherweise etwas vergrößerten Leberzellen mit unterschiedlichem Glykogengehalt. Dazwischen liegen Sinusoide, die zum Teil beträchtlich erweitert sind. Portalfelder und Zentralvenen fehlen. Größere Arterien und Venen sind nachweisbar. Der Tumor ist umschrieben, häufig von einer Bindegewebskapsel umgeben und komprimiert das umgebende nichtneoplastische Lebergewebe.

Tab. 32-6 Häufigste Primärtumoren der Leber. ▪gemischt epithelial- mesenchymal Hepatoblastom

Abb. 32-34 Hepatozelluläres Adenom.

Beachte den großen, gegenüber dem umgebenden Lebergewebe scharf begrenzten Knoten.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Eine wichtige Komplikation ist die Blutung in die freie Bauchhöhle (Hämaskos), die eine chirurgische Intervention (Leberteilresektion) notwendig macht.

Tumorähnliche Läsionen, die in Differentialdiagnose zum hepatozellulären Adenom kommen ■ Fokale noduläre Hyperplasie (Abb. 32-35). Es handelt sich um eine etwas häufiger bei Frauen als bei Männern auftretende knotige (aber nicht umkapselte) Veränderung in der Leber von gelbbrauner Farbe mit zentralem bindegewebigem Bezirk (Narbe), von dem Bindegewebesepten in die Peripherie ausstrahlen. Die Knoten können singulär oder multipel auftreten und wenige Millimeter bis mehr als 15 cm groß sein. Die Leberzellen sind regelrecht mit unterschiedlichem Glykogengehalt und Verfettung. Die Bindegewebesepten sind unterschiedlich dicht lymphozytär infiltriert. Sie enthalten zahlreiche proliferierte Gallengänge sowie dickwandige, englumige Arterien und Venen. Die Veränderung ist gutartig und häufig ein Zufallsbefund bei Operationen. Sie neigt nicht zu Blutungen. Die Pathogenese ist unklar. Veränderungen des intrahepatischen Blutflusses könnten eine Rolle spielen. ■ Noduläre Transformation (noduläre regenerative Hyperplasie) der Leber. Die Leberarchitektur ist gewahrt (Portalfelder sind nachweisbar). Die Leber ist aber herdförmig oder diffus knotig umgewandelt, wobei die Knoten aus regelrechten Leberzellen bestehen, die in mehrreihigen Platten angeordnet sind (häufig Ausgangspunkt an der Läppchenperipherie) und das umgebende Leberparenchym komprimieren. Die ätiologie ist unbekannt. Steroide, Diabetes mellitus und chronische Entzündungen werden als Ursachen diskutiert. Die klinischen Folgen ergeben sich aus der häufig damit verbundenen portalen Hypertonie.

Abb. 32-35

Fokale noduläre Hyperplasie.

a Operationspräparat des wegen seiner guten Begrenzung recht gut operablen Knotens. Beachte die gute Begrenzung und die zentrale weißliche Narbe. Das umgebende braune Leberparenchym ist knotig verändert und ähnelt einer Leberzirrhose. b Histologisches Bild nach Bindegewebsfärbung: Die zentrale Narbe wird als blauer Bindegewebsbezirk gut sichtbar. Im Zentrum finden sich Gefäße mit dicker Wand. Das umgebende Leberparenchym ist knotig angeordnet (zirrhoseähnlich). CAB, Vergr. 40fach.

Gallengangsadenome/Zystadenome Es handelt sich um kleine Knoten mit Durchmessern bis zu 1 cm, die aus proliferierten, von kubischem Epithel ausgekleideten Gallengängen bestehen (Abb. 32-36). Die Zystadenome können sehr groß werden und bestehen aus zahlreichen, von kubischem oder zylindrischem Epithel ausgekleideten und mit schleimiger Flüssigkeit gefüllten Zysten. Diese letztgenannten Tumoren neigen zu maligner Entartung. Bei der biliären Papillomatose finden sich papilläre, von schleimproduzierendem Zylinderepithel überkleidete Strukturen mit fibrovaskulärem Stroma in intra- und extrahepatischen Gallengängen. Sie behindern den Galleabfluss. Eine maligne Entartung wird beobachtet.

Abb. 32-36

Gallengangsadenom.

Es finden sich zahlreiche kleine Gallengänge, die von regelrechtem kubischem Epithel ausgekleidet sind. HE, Vergr. 100fach.

32.11.2

Maligne epitheliale Tumoren

Hepatozelluläres Karzinom Definition und ätiologie Hepatozelluläre Karzinome sind maligne Tumoren mit hepatozellulärer Differenzierung. Sie machen ca. 90% aller primären Leberkarzinome aus. Während hepatozelluläre Karzinome in den westlichen Industrieländern selten sind (3,5 g Eiweiß/Tag), Hypalbuminämie, Ödeme, Hyperlipoproteinämie und Hyperlipidämie. Das nephrotische Syndrom kommt bei Glomerulonephritiden, aber auch bei nicht entzündlichen Glomerulopathien (diabetische Glomerulosklerose, Amyloidnephrose) vor.

Abb. 36-8a-d Normaler Glomerulus und Minimalveränderung.

Vergleich einer normalen Kapillarschlinge (a und c) mit einer glomerulären Minimalveränderung (b und d). In der normalen Niere zeigen die glomerulären Epithelzellen (Podozyten) regelmäßige interdigitierende Fußfortsätze, welche insbesondere im Rasterelektronenmikroskop (c) deutlich sichtbar sind. Sie umfassen, wie die Arme eines Oktopus, die Kapillarschlingen mit ihrer Lichtung (L) und die regelmäßige Porosität an den Fußfortsätzen sorgt für eine gleichmäßige Filtrationsleistung. Im Gegensatz dazu findet sich in der glomerulären Minimalveränderung (und auch in der segmental fokalen Glomerulosklerose) eine vollständige Abflachung der Fußfortsätze (Pfeile) als hervorstechendstes und manchmal einziges pathologisches Erkennungsmerkmal. L: Kapillarlumen, P: Podozyt, E: Endothel.

Klinische Notwendigkeit der Nierenbiopsie Mit den derzeit der Klinik zur Verfügung stehenden nichtinvasiven Untersuchungsmethoden lässt sich in der Regel keine exakte Klassifikation der glomerulären Erkrankung treffen. Die Patienten zeigen oft vieldeutige Harnveränderungen wie Reduktion des Harnvolumens, Albuminurie, Hämaturie sowie Veränderungen laborchemischer Werte mit Ansteigen des Serumkreatinins als

Indikator der eingeschränkten Nierenfunktion und Absinken des Albumins durch die massive Proteinurie bei nephrotischem Syndrom. Die Nierenbiopsie ist die einzige sichere Methode, die eine verlässliche Diagnose liefert, um dann eine entsprechende Therapie einzuleiten.

Primäre Glomerulonephritiden Diffuse endokapilläre Glomerulonephritis Definition Es handelt sich um eine diffuse globale proliferative GN mit plötzlich einsetzender Hämaturie, Proteinurie, gelegentlich Ödemen und Hypertonie (akutes nephritisches Syndrom) mit oder ohne eingeschränkte exkretorische Nierenfunktion.

Ätiologie und Pathogenese

Diese Glomerulonephritis ist häufig assoziiert mit einer postinfektiösen Ätiologie. Das bekannteste Beispiel ist die nach einer Infektion mit βhämolysierenden Streptokokken auftretende Poststreptokokken-GN. Neben den Streptokokken können jedoch auch Staphylokokken, Meningokokken, Pneumokokken, Viren, Leishmanien und das Toxoplasma gondii eine gleichartige Glomerulonephritis auslösen. Im Folgenden wird als Beispiel die akute Poststreptokokken-GN (βhämolysierende Streptokokken der Gruppe A) behandelt. Es handelt sich um eine GN, bei der es zur Ablagerung zirkulierender Immunkomplexe an der Außenseite der Basalmembran kommt. Es wird auch die Implantation von Streptokokken-Antigenen (z.B. Endostreptosin) in die Basalmembran diskutiert. Das Schädigungsmuster durch die Immunkomplexablagerungen im Glomerulus ist durch folgende Pathomechanismen gekennzeichnet (Abb. 36-9): ■ Ablagerungen von Immunkomplexen an der Außenseite der glomerulären Basalmembran in Form von Höckern (sog. humps) ■ Komplementaktivierung mit Bildung von chemotaktischen Substanzen sowie des C5b-9-Lysekomplexes (siehe Kap. 3.2.4) ■

Chemotaxis von neutrophilen Granulozyten

■ Proliferation glomerulärer Zellen, insbesondere von Endothel- und Mesangiumzellen.

Morphologie Histologisch sind die Glomeruli auffällig vergrößert. Sie weisen diffus eine globale Schwellung und Vermehrung der Endothel- und Mesangiumzellen auf. Die glomerulären Kapillarlichtungen sind eingeengt und enthalten neutrophile Granulozyten (Abb. 36-10), in 1–10% der Fälle kann auch eine extrakapilläre Proliferation auftreten. Als Restzustand bleiben oft mesangiale Sklerosen zurück. Immunhistologisch sind höckerartige Immunkomplexe und Komplementfaktoren an der Außenseite der glomerulären Basalmembran in granulärer Form nachweisbar.

Abb. 36-9 Diffuse endokapilläre Glomerulonephritis (Poststreptokokken-Glomerulonephritis).

a Insgesamt erscheinen die Glomeruli sehr zellreich und „verstopft“, ohne erkennbare Kapillarlichtungen. Die Pfeile zeigen neutrophile Granulozyten, die in großen Mengen den Kapillarschlingen anhaften. b In der Immunhistochemie (Immunperoxidase auf Paraffinschnitt) findet sich IgG in großen granulären Depots (sog. „Humps“, Pfeile).

Klinisch-pathologische Korrelationen Typischerweise tritt ein akutes nephritisches Syndrom 2–3 Wochen nach einem Streptokokkeninfekt (Tonsillitis, Zahnwurzelerkrankung, Furunkel) auf. Vorwiegend sind Kinder (2.–10. Lebensjahr) betroffen, die Knaben überwiegen. Es bestehen eine Hämaturie und eine Hypertonie. Über 95% dieser Glomerulonephritiden heilen in 4–6 Wochen mit einer Restitutio ad integrum aus. Allerdings kann diese Erkrankung in 1–10% bis zur Niereninsuffizienz fortschreiten. Geringe glomeruläre Abnormitäten mit pathologischen Sedimentbefunden können jedoch fortbestehen oder selten in eine chronische mesangioproliferative Glomerulonephritis übergehen.

Diffuse extrakapilläre Glomerulonephritis Syn.: rapid progressive GN

Definition Hierbei handelt es sich um das morphologische Äquivalent einer klinisch meist sehr rasch fortschreitenden GN, die innerhalb von wenigen Monaten zu einem Nierenversagen führt. Histologisch findet man glomeruläre Schlingennekrosen mit einer extrakapillären Proliferation des Kapselepithels (sog. Halbmondbildung).

Abb. 36-10 Diffuse endokapilläre (akute) Glomerulonephritis

(Ausschnitt eines Glomerulus). Erhebliche Vermehrung der Zellzahl im Glomerulus durch Endothelzellproliferation sowie Ansammlung von Segmentkernigen (Pfeile) und Monozyten. BK = Bowman-Kapsel. T = Abgang des Tubulus.

Epidemiologie Diese GN findet sich in 1–3% aller Nierenbiopsien. Das durchschnittliche Erkrankungsalter beträgt 30 Jahre. In der Regel sind Männer betroffen, Frauen erkranken selten.

Ätiologie und Pathogenese

Offensichtlich stellt diese Erkrankung ein Reaktionsmuster auf besonders aggressiv verlaufende glomeruläre Erkrankungen unterschiedlicher Ursache dar. Eine gemeinsame Voraussetzung scheinen die Nekrose von Kapillarschlingen und die Freisetzung von Fibrin oder Fibrinbruchstücken in den Kapselraum zu

sein. Dies steht im Zusammenhang mit einer Proliferation der Epithelzellen der Bowman-Kapsel (Ausbildung von sog. Halbmonden), die den Glomerulus komprimieren und sehr schnell („rapid progressive“) zu einem Verlust der glomerulären Funktion führen. Eine diffuse extrakapilläre Glomerulonephritis ist häufig mit folgenden Erkrankungen assoziiert: Anti-Basalmembran-Antikörper-Erkrankung (Goodpasture-GN) mit oder ohne Lungenbeteiligung, Wegener-Granulomatose und mikroskopische Polyangiitis, seltener mit aggressiven Formen der IgANephritis, bei systemischem Lupus erythematodes und der PoststreptokokkenGN. Der jeweiligen Grundkrankheit entsprechend findet sich immunhistochemisch entweder eine lineare Anti-Basalmembran-Fluoreszenz (Goodpasture), keine oder nur sehr spärliche uncharakteristische Immunkomplexablagerung („Pauci-Immun-GN“, z.B. bei WegenerGranulomatose) oder mesangiale Ablagerungen von IgA im Fall einer aggressiven IgA-Nephritis (Schoenlein-Henoch). Ätiologie und Pathogenese der extrakapillären GN sind keineswegs einheitlich. Diese GN tritt idiopathisch, im Rahmen des Goodpasture-Syndroms und nach Infektionen auf. Die Goodpasture-GN ist der klassische Vertreter der AntibasalmembranAntikörper-GN. Hierbei werden Antikörper gegen zwei Epitope des nichtkollagenen Proteinanteils (α3-Kette) des Kollagens IV der glomerulären und pulmonalen Basalmembran gebildet.

Morphologie Im Frühstadium bestehen frische Schlingennekrosen der Glomeruli mit Fibrinexsudation und extrakapilläre zelluläre „Halbmonde“ des Kapselepithels (Abb. 36-11). Im späteren Stadium vernarben und veröden die geschädigten Glomeruli sehr rasch, wodurch sich das fortschreitende Nierenversagen erklärt. Bei der Antibasalmembran-Antikörper-GN findet man immunhistologisch ein lineares Ablagerungsmuster von Antikörpern und Komplementfaktoren (Abb. 36-12).

Abb. 36-11 Diffuse extrakapilläre (rapid progressive) Glomerulonephritis.

Typisch sind schwere Schlingenschäden bis hin zu Schlingennekrosen mit Fibrinexsudation und einer massiven Proliferation der Bowman-Kapsel. (Modifiziert nach Classen, Diehl, Kochsiek: Innere Medizin)

Klinisch-pathologische Korrelationen Diffuse extrakapilläre Glomerulonephritiden sind klassischerweise mit einem rapid progressiven nephritischen Syndrom verknüpft. Dabei kommt es zu einer raschen Verschlechterung der Nierenfunktion bis zu einem terminalen Nierenversagen innerhalb von Monaten. Deshalb ist eine frühzeitige Nierenbiopsie zur Sicherung der Diagnose angezeigt, um durch umgehende Therapie mit Plasmapherese (Plasmaaustausch) und Immunsuppression eine Progression der Erkrankung aufzuhalten.

Die Prognose hängt wesentlich von der frühzeitigen Therapie ab. Bei histologisch bereits vernarbten und verödeten Glomeruli ist die Nierenfunktion in der Regel nicht zu erhalten. Bei zusätzlicher Lungenbeteiligung (GoodpastureSyndrom) verschlechtert sich die Prognose ohne entsprechende Therapie drastisch. Rezidive in Nierentransplantaten sind relativ häufig.

Abb. 36-12 a-c Diffuse extrakapilläre Glomerulonephritis bei Goodpasture-Syndrom.

a Die blau dargestellten Glomerulusanteile sind durch eine massive, rot angefärbte Proliferation des Bowman-Kapselepithels (sog. Halbmond) komprimiert.

b In der direkten Immunfluoreszenz findet sich im Glomerulus IgG in den komprimierten Kapillarschlingen in einem linearen Muster. c In der indirekten Immunfluoreszenz werden im Serum dieses Patienten Antikörper nachgewiesen, welche an die Basalmembran eines normalen Glomerulus in linearem Muster binden.

Diffuse membranöse Glomerulonephritis Definition Diese GN ist durch eine epi- oder perimembranöse (subepitheliale) Ablagerung von Immunkomplexen und die Ausbildung eines nephrotischen Syndroms oder einer Proteinurie charakterisiert.

Epidemiologie Im Nierenbiopsiegut macht sie 10–15% der Glomerulonephritiden aus. Das durchschnittliche Erkrankungsalter liegt bei 45 Jahren. Männer sind 3–4-mal so häufig betroffen wie Frauen.

Pathogenese

Es handelt sich um eine Immunkomplex-GN, die als primäre (idiopathische: 85%) oder sekundäre (15%) Form auftreten kann. Die sekundären Formen können folgende Ursachen haben: ■

infektiös (Hepatitis B, Syphilis, Malaria etc.)



Medikamente (Penicillamin, Gold, Quecksilber)



Drogen (Heroin)



Tumoren (Melanome, Bronchialkarzinome etc.)



Lupus erythematodes.

Die subepithelialen Ablagerungen zirkulierender oder in situ gebildeter Immunkomplexe führen durch Neusynthese von Basalmembranmaterial zu einer Basalmembranverbreiterung ohne auffällige Zellproliferation. Die primäre idiopathische GN ist einem experimentellen Tiermodell (HeymannNephritis der Ratte) sehr ähnlich. Während in diesem Tiermodell das Zielantigen als ein großes Glykoprotein, das mit einem LDL-Rezeptor verwandt ist (Megalin/Gp330), identifiziert wurde und die pathogenen Epitope in ihrer Aminosäuresequenz aufgeklärt wurden, ist dies für die humane Erkrankung noch

nicht geklärt. Dagegen scheinen die Mechanismen, die zur glomerulären Schädigung führen, bei einem Teil der Patienten mit membranöser Glomerulonephritis jenen des experimentellen Tiermodells ähnlich zu sein. Entsprechende therapeutische Konzepte zur Reduktion der Proteinurie sind derzeit in klinischer Erprobung.

Abb. 36-13 Diffuse membranöse Glomerulonephritis.

Typische Veränderungen sind die Ablagerung von Immunkomplexen an der Außenseite der Basalmembran sowie die Bildung von Basalmembranbestandteilen. Stadium I: Frühform mit granulären Ablagerungen subepithelial. Stadium II: Bildung von spikeartigen Basalmembranablagerungen zwischen den Immunkomplexen. Stadium III: komplette Umhüllung der Immunkomplexe durch Basalmembranmaterial mit erheblicher Verbreiterung der Basalmembran.

Stadium IV: Reparationsstadium mit Auflösung der Immunkomplexe. Heilungsstadium mit noch herdförmig erkennbaren Basalmembranverbreiterungen.

Abb. 36-14 a und b Die Elektronenmikroskopie eines frühen (a) und eines späten (b) Stadiums der membranösen Glomerulonephritis.

Hervorstechend sind die Immundepots (Pfeile), die im Frühstadium (a) kompakt sind und von gleichmäßig gebauter Basalmembran umgeben werden. Die Podozyten (P) sind weitgehend abgeflacht und zeigen keine Fußfortsätze. In späten Stadien (b) kommt es zu einer starken Verdickung der Basalmembran durch neu gebildetes Matrixmaterial. Zwischen den Immundepots (Pfeile) finden sich gegen die epitheliale Oberfläche gerichtete Basalmembranbildungen, die als „Spikes“ in der Lichtmikroskopie imponieren.

Morphologie

Die membranöse Glomerulonephritis verläuft in vier Stadien (Abb. 36-13). Im Frühstadium kommt es zu subepithelialen Immundepots (Abb. 36-14a). Die weiteren Stadien sind durch zunehmende Neubildung von

Basalmembransubstanzen zunächst zwischen den Immundepots (sog. Spikes), später auch an der Außenseite mit Umhüllung der Depots und deutlicher Verbreiterung der Basalmembran gekennzeichnet (Abb. 36-14b). Bei Auflösung der Immundepots entsteht schließlich eine kettenartige Gliederung der Basalmembran, in einigen Fällen kann es zur Ausheilung mit Ausbildung einer normalen Basalmembran kommen. Immunhistologisch besteht ein klassisches granuläres subepitheliales Ablagerungsmuster von IgG und C3 an der Außenseite der glomerulären Basalmembranen. Im aktiven Stadium wird auch C5b-9 in Immundepots gebildet (Abb. 36-15).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Charakteristisch ist ein nephrotisches Syndrom (mit einer Eiweißausscheidung bis zu 20 g/Tag) oder eine isolierte Proteinurie. Die Prognose hängt von der Ätiologie der Erkrankung ab und ist bei idiopathischer membranöser GN hinsichtlich einer Heilung schlecht. Bei sekundären Formen ist durch Behandlung des Grundleidens und durch Elimination der Antigene in einem Teil der Patienten eine Besserung der Nierenfunktion zu erzielen. In 75% der Fälle kommt es innerhalb von 10–15 Jahren durch zunehmende glomeruläre Sklerose, tubuläre Atrophie und interstitielle Fibrose zu einem therapeutisch kaum beeinflussbaren chronischen Nierenversagen.

Abb. 36-15 a–c Diffuse membranöse Glomerulonephritis.

a In einem mittleren Stadium der Erkrankung sieht man sog. „Spikes“ (Pfeile). Hier handelt es sich um Verbreiterungen der Basalmembran zwischen einzelnen Immundepots, die der Basalmembranaußenseite ein ausgefranstes Aussehen verleihen. In dieser Silberfärbung werden ausschließlich Basalmembrankomponenten dargestellt. b In der Immunfluoreszenz findet man granuläre Immundepots, die IgG enthalten (Pfeile). c Auch die Komplementkomponente C5b-9 wird in den Immundepots (Pfeile) lokalisiert. Es handelt sich hier um den Komplement-Lyse-Komplex, also das endgültige Produkt der Komplementkaskade, das Poren in den Zellmembranen verursacht.

Diffuse mesangioproliferative Glomerulonephritis Definition Diese GN ist charakterisiert durch eine Proliferation von Mesangiumzellen mit Verbreiterung des Mesangiums.

Epidemiologie Richtet sich nach der Grundkrankheit.

Ätiologie und Pathogenese Sie ist offensichtlich keine selbständige Erkrankung, sondern verfügt über das morphologische Erscheinungsbild oder tritt im Gefolge anderer GNs auf (z.B. IgA-Nephritis, Poststreptokokken-GN, SLE).

Morphologie Histologisch sind die Glomeruli vergrößert. Sie zeigen eine Vermehrung der Mesangiumzellen und eine Verbreiterung der mesangialen Matrix. In fortgeschrittenen Fällen liegen segmentale und/oder globale Mesangiumsklerosen vor. Immunhistologisch finden sich granuläre Ablagerungen von Immunglobulinen und Komplement im Mesangium und später in den Basalmembranen.

Klinisch-pathologische Korrelationen Je nach Grundkrankheit tritt häufig eine isolierte Proteinurie und/oder Mikrohämaturie auf, seltener besteht ein nephrotisches oder ein nephritisches Syndrom.

Die mesangioproliferative GN kann jahrelang stationär bleiben, andererseits aber auch bei anhaltender oder wiederholter immunologischer Aktivität fortschreiten. Hierdurch kommt es zu glomerulären Sklerosen sowie zu einer sekundären interstitiellen Fibrose und Tubulusatrophie. Das Endstadium ist eine glomerulonephritische Schrumpfniere mit chronischem Nierenversagen.

IgA-Nephritis Syn.: Morbus Berger

Definition Die am besten bekannte und häufigste Form der mesangioproliferativen Glomerulonephritis ist durch Ablagerungen von IgA-Komplexen im Mesangium gekennzeichnet und wird daher als IgA-Nephritis bezeichnet.

Epidemiologie Die IgA-Nephritis ist die häufigste Glomerulonephritis und wird im Biopsiematerial bei 25% der Patienten beobachtet. Das Erkrankungsalter liegt zwischen 6 und 60 Jahren (Durchschnittsalter 30 Jahre). Das männliche Geschlecht ist 2–3-mal häufiger betroffen.

Pathogenese

Ätiologie und Pathogenese sind unklar. Vermutet wird eine vermehrte Bildung von strukturell verändertem IgA in den peripheren lymphatischen Geweben der Schleimhäute im Gefolge lokaler Infekte. IgA-Immunkomplexe im Mesangium führen durch Komplementaktivierung zur Mesangiumzellproliferation und Mesangiummatrixvermehrung. Immundepots bestehen aus polymerem IgA 1 mit aberranter Glykosylierung und ihre Ablagerung korreliert mit zirkulierenden IgA-Immunkomplexen. Es ist nicht klar, ob Fc-Rezeptoren, welche Immunglobuline binden können und die an der Oberfläche von Mesangialzellen exprimiert sind, bei der Entstehung dieser Erkrankung eine Rolle spielen. In in vitro gezüchteten Mesangialzellen und in Tiermodellen zeigt sich eine entscheidende Rolle des transforming growth factor β (TGF-β) für die mesangiale Sklerose. Erste experimentelle Therapien mit Antikörpern gegen diesen Faktor konnten die Ausbildung einer mesangioproliferativen Glomerulonephritis verhindern. Es ist noch nicht geklärt, ob dieser und andere Wachstumsfaktoren sowie Entzündungsmediatoren in den offensichtlich doch recht unterschiedlichen menschlichen Erkrankungen eine Rolle spielen und inwieweit sie therapeutisch verwendbar sind.

Abb. 36-16

IgA-Nephritis.

a Die typische morphologische Veränderung ist eine diskrete Verbreiterung (Pfeile) und grenzwertige Zellvermehrung der Mesangien. Die peripheren Kapillarschlingen erscheinen normal. b Die Mesangien enthalten reichlich Immunoglobulin A, welches hier mittels Immunperoxidasemethode als violettes Reaktionsprodukt dargestellt ist (Pfeile).

Morphologie Die IgA-Nephritis wird immunhistologisch durch ein charakteristisches baumartig verzweigtes Ablagerungsmuster von IgA-Komplexen im Mesangium diagnostiziert (Abb. 36-16). Histologisch kommen unterschiedliche GN-Typen (geringe glomeruläre Abnormitäten, fokal-segmentale, mesangioproliferative und sklerosierende GN) mit den zugehörigen Einzelbefunden vor.

Klinisch-pathologische Korrelationen Häufig ist ein vorausgegangener Luftwegsinfekt. Die Symptomatik ist durch eine rezidivierte Hämaturie, seltener auch zusätzlich durch eine Proteinurie und Hypertonie gekennzeichnet. Die Prognose ist bei reiner mesangialer IgA-Ablagerung durch einen protrahierten Verlauf gekennzeichnet. Bei zusätzlichen Ablagerungen in den Glomerulusschlingen und/oder fokalen/segmentalen Läsionen, Halbmonden sowie segmentalen und globalen glomerulären Sklerosen ist sie allerdings ungünstig und etwa 50% der Patienten entwickeln ein chronisches Nierenversagen.

Diffuse membranoproliferative Glomerulonephritis (MPGN) Definition Bei der MPGN liegen sowohl mesangiale Proliferationen als auch eine Basalmembranverbreiterung vor. Es gibt unterschiedliche Typen dieser Erkrankung (Abb. 36-17). Typ 1 und Typ 2 der membranoproliferativen GN sind grundlegend unterschiedliche Erkrankungen. Während Immunkomplexe (möglicherweise auch zirkulierende Immunkomplexe) nur die Typ-1-MPGN verursachen, finden sich beim Typ 2 bisher nicht identifizierte, im Elektronenmikroskop sehr dicht erscheinende Ablagerungen (dense deposits) in den peripheren Kapillarschlingen, die möglicherweise Lipide oder Lipoproteine enthalten.

Abb. 36-17 Diffuse membranoproliferative Glomerulonephritis.

Typisch sind die subendotheliale Ablagerung von Immunkomplexen mit Doppelung der Basalmembranen bei Typ 1 sowie intramembranöse elektronendichte Ablagerungen (dense deposits) beim Typ 2. (Modifiziert nach Classen, Diehl, Kochsiek: Innere Medizin)

Epidemiologie Diese GN tritt in größeren Patientenkollektiven in 5% auf und betrifft Jugendliche und Erwachsene (Durchschnittsalter 37 Jahre). Männliches und weibliches Geschlecht sind gleich häufig betroffen.

Pathogenese

Die Typ-1-MPGN wird durch zirkulierende komplementaktivierende Immunkomplexe (bei nur teilweise bekannten Antigenen) verursacht. Typ-1-

MPGN ist fast immer mit Infektionskrankheiten assoziiert, insbesondere mit Hepatitis C und B. Des Weiteren tritt Typ-1-MPGN bei Sichelzellenanämie und Kryoglobulinämie auf. Ein Rest bleibt idiopathisch. Beim Typ 2 fehlen in der Regel zirkulierende Immunkomplexe, nachweisbar ist aber ein noch nicht weiter charakterisierter sog. C3-nephritischer Faktor (ein Autoantikörper, der Komplement auf dem alternativen Weg aktiviert; siehe Kap. 3.2.4). Im Blut besteht ein Mangel an Komplement (sog. hypokomplementämische GN).

Morphologie

Im histologischen Bild sind die Glomeruli durch eine häufig lobuläre Mesangiumzellproliferation und Mesangiumzellmatrixvermehrung vergrößert. Mesangiumzellen schieben sich zwischen Endothelzellen und Basalmembran (sog. mesangiale Interposition). Beide Zellarten bilden zusätzlich basalmembranartiges Material, sodass man im Elektronenmikroskop bzw. in versilberten Semidünnschnitten eine Doppelkontur der glomerulären Basalmembran (sog. Straßenbahnschienen-Phänomen) erkennt. Lichtmikroskopisch ist eine Kapillarwandverdickung in den Glomeruli auffallend, die teils von der mesangialen Interposition, teils von abgelagerten Immunkomplexen herrührt. Immunhistologisch sind beim Typ 1 grob-granuläre Ablagerungen von Immunglobulinen und C3 subendothelial und mesangial nachweisbar (Abb. 3618). Beim Typ 2 finden sich dichte intramembranöse Depots in der Basalmembran von Glomeruli und Tubuli (sog. Dense-deposit-Erkrankung), deren Pathogenese noch unklar ist (Abb. 36-19).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Grundsätzlich können alle klinischen Syndrome einer GN beobachtet werden. Bevorzugt liegen jedoch ein nephrotisches Syndrom bzw. eine massive Proteinurie vor, die ihre Erklärung in nachweisbaren Schäden der glomerulären Basalmembranen haben. C3 in der Zirkulation ist erniedrigt bei Typ-1-MPGN, aber normal bei Typ 2. Typ-2-MPGN rekurriert zu 100% im Transplantat. Nach mehrjährigem Verlauf kommt es durch zunehmende glomeruläre Sklerosen, Tubulusatrophie und Interstitiumfibrose zum chronischen Nierenversagen. Die 10-JahresÜberlebensrate liegt bei 40%.

Fokale/segmentale und minimale Glomerulonephritiden Hierbei handelt es sich um eine Gruppe von Erkrankungen mit lichtmikroskopisch manchmal kaum feststellbaren segmentalen, zumeist mesangialen Verbreiterungen. Dahinter können sich z.B. ein Frühstadium der membranösen GN, aber auch Restzustände nach GN verbergen. Immunhistochemie und Elektronenmikroskopie verschaffen zumeist diagnostisch Klarheit. Diese Krankheitsgruppe umfasst aber auch zwei Entitäten, welchen wahrscheinlich ein primärer Defekt in den Podozyten zugrunde liegt. Allen Erkrankungen dieser Gruppe ist eine weitgehende Abflachung der Fußfortsätze („Verschmelzung“, eigentlich eine Retraktion der Fußfortsätze in den Zellkörpern der Podozyten) gemein.

Abb. 36-18 Membranoproliferative Glomerulonephritis, Typ 1.

a Dieser Glomerulus zeigt eine ausgeprägte Lobulierung, die durch eine Verbreiterung der Mesangien durch Zellproliferation und Matrixvermehrung bewirkt wird. Periphere Basalmembranen zeigen gelegentlich Aufsplitterungen (Pfeile) (PAS-Färbung).

b In der Silberfärbung, in der nur die Basalmembranmatrix dargestellt wird, zeigt sich eine starke Aufspaltung der Basalmembran, stellenweise mit speichenartigen Querverbindungen (Pfeile). c In den Aufspaltungen der Basalmembran befinden sich große, zum Teil zusammenhängende, über weite Strecken lineare, zum Teil auch granuläre Immundepots, die IgG enthalten.

Abb. 36-19 Membranoproliferative Glomerulonephritis, Typ 2 (elektronenmikroskopische Aufnahme).

Inmitten der Basalmembran findet sich ein stark elektronendichtes, spangenartig die ganze Lichtung (L) umfassendes, lamellenartiges Depot (Pfeile), das nicht aus Immunglobulinen besteht. E: Endothelzelle Alle bereits dargestellten diffusen GN-Typen können bei einer Beteiligung von weniger als 80% der jeweils untersuchten Glomeruli als fokale GN bezeichnet werden. Sind darüber hinaus nur einzelne Glomerulusschlingen befallen, spricht man von einer fokalen und segmentalen GN (siehe Abb. 36-8). Zum anderen gibt es Glomerulonephritiden mit klinisch manifesten renalen Symptomen ohne wesentliche lichtmikroskopische Glomerulusveränderungen.

Fokal sklerosierende Glomerulonephritis (FSGN) Syn.: fokale und segmentale Hyalinose und Sklerose

Definition Es handelt sich um eine fokale GN, die mit segmentalen Hyalinosen und Sklerosen der Glomeruli einhergeht und eine ausgedehnte „Verschmelzung“ der Fußfortsätze aufweist. Neben einer primären oder „idiopathischen“ Form gibt es sekundäre FSGN, z.B. bei HIV-Infektion („kollabierende FSGN“), Morbus Hodgkin u.a.

Epidemiologie Diese GN hat einen Häufigkeitsgipfel zwischen 11 und 40 Jahren. Das männliche Geschlecht ist häufiger betroffen.

Pathogenese

Es werden noch ungeklärte Störungen der Immunregulation im T-Zell-System (zelluläre Immunität) vermutet. Immunhistologisch nachweisbare segmentale und mesangiale Ablagerungen von IgM und C3 sind unspezifisch. Da in etwa 10% der FSGN-Patienten, die eine Nierentransplantation erhalten, im Spenderorgan innerhalb von Minuten bis Stunden ein Rezidiv auftritt, wird zumindest in dieser Patientengruppe ein Faktor in der Zirkulation vermutet, welcher pathologische Reaktionen der Podozyten auch im Spenderorgan auslösen kann. An der Identifikation dieses Faktors wird derzeit intensiv gearbeitet, da seine Elimination zu einer Verbesserung der Therapie führen könnte.

Molekulare Pathologie der Podozytenerkrankungen Glomeruläre Erkrankungen mit Proteinurie zeigen sehr gleichförmig eine Abflachung der Fußfortsätze der Podozyten. Deren molekulare Aufklärung ist ein gutes Beispiel dafür, wie aus der molekulargenetischen Analyse von seltenen erblichen Erkrankungen allgemein gültige molekulare Ursachen für die häufigeren spontanen Erkrankungen gefunden werden können. Ausgangspunkt der Analysen war eine in Finnland auftretende familiäre Nephropathie, die durch eine Entwicklungsstörung der Podozyten mit massiver Proteinurie gekennzeichnet ist. Durch aufwendiges positionelles Klonieren wurden zuerst ein Gen und danach das korrespondierende Membranprotein entdeckt, dessen Mutation für die Erkrankung verantwortlich ist. Dieses Protein („Nephrin“) ist mit Adhäsionsproteinen verwandt und ausschließlich im Schlitzdiaphragma lokalisiert. Ein weiteres identifiziertes Protein, dessen Mutation bei französischen Patienten mit

familiärem nephrotischem Syndrom gefunden wurde, führte zur Entdeckung des Membranproteins „Podozin“, welches der Stabilisierung von Nephrin dient. In schneller Folge wurden neue Proteine entdeckt, die mit Nephrin und Podozin zusammenhängen und in intrazelluläre Signalkaskaden eingebunden sind. Diese zeigen den Podozyten an, welche Form sie anzunehmen haben. Dabei findet offensichtlich eine Verständigung mit den Proteinen der anderen PodozytenDomänen statt (die Basalmembran-Adhäsionsproteine Integrin und der Dystroglykan-Komplex), die an den „Sohlen“ der Fußfortsätze sitzen. Auch die Membranproteine an der abluminalen, dem Harnraum zugewandten Membrandomäne (vor allem das Glykoprotein Podocalyxin mit antiadhäsiven Eigenschaften) sind an der korrekten Podozytenstruktur und damit für die Permeabilität des glomerulären Filters verantwortlich. Schaltet man die Gene all dieser Membranproteine in „Knock-out“-Mäusen ab, führt dies zu abgeflachten Fußfortsätzen und Proteinurie. Insgesamt ergeben sich somit funktionelle Zusammenhänge zwischen Podozytenform, Kontrolle der glomerulären Permeabilität und korrekter molekularer Ausstattung der Podozytenmembranen (Abb. 36-20). Eine zentrale Rolle kommt dabei dem Schlitzdiaphragma und dem darin enthaltenen Nephrin sowie den Membranproteinen der anderen Podozyten-Domänen zu. Sie vermitteln das Anhaften der Podozyten an der Basalmembran und besitzen antiaggregative Eigenschaften. Intrazellulär hängen all diese Membranproteine über Brücken bildende Proteine (z.B. Ezrin, Utrophin, Vinculin) am Aktin-Zytoskelett, das für die Form der Podozyten verantwortlich ist. Die molekularen Regulationsmechanismen bis zur Ebene der Transkriptionsfaktoren werden in absehbarer Zeit entschlüsselt sein und damit bisher ungeahnte Möglichkeiten einer präzisen Diagnostik und individualisierten Therapie ermöglichen.

Abb. 36-20 Laterobasaler Abschnitt eines Fußfortsatzes

(schematische Darstellung).

Morphologie Histologisch findet man normale Glomeruli sowie Glomeruli, die fokal und segmental Hyalinosen und Sklerosen aufweisen. Hyalinosen sind strukturlose Ansammlungen aus Basalmembransubstanzen mit Plasmaproteinbeimengungen (vaskuläres Hyalin). Sklerosen enthalten kollagene Fasern und entsprechen mesangialen Narben. Elektronenmikroskopisch besteht eine diffuse Verschmelzung der Fußfortsätze der glomerulären Deckzellen (Podozyten) als Hinweis auf eine durchgehende glomeruläre Podozytenkrankheit.

Klinisch-pathologische Korrelationen Klinisch besteht in der Regel ein steroidresistentes nephrotisches Syndrom oder, seltener, eine isolierte Proteinurie. Die Prognose der Erkrankung ist wegen der

Steroidresistenz ungünstig. Mit Zunahme der Hyalinose und Sklerose bahnt sich ein chronisches Nierenversagen an.

Minimale Glomerulonephritis mit nephrotischem Syndrom Syn.: Minimalläsion, Minimal-change-Nephropathie, Lipoidnephrose

Definition Die minimale GN ist durch eine lichtmikroskopisch annähernd normale Morphologie gekennzeichnet, weist aber elektronenmikroskopisch typische Verschmelzungen der Fußfortsätze der Podozyten auf. Diese GN ist klinisch durch ein nephrotisches Syndrom charakterisiert. Wahrscheinlich handelt es sich um eine prognostisch günstigere steroidempfindliche Variante der fokalen und segmentalen Hyalinose und Sklerose mit nephrotischem Syndrom. Die Pathogenese auch dieser Podozytenkrankheit ist ungeklärt.

Epidemiologie Die Erkrankung ist die häufigste Ursache eines nephrotischen Syndroms bei Kindern und kommt bei ihnen fünfmal häufiger als bei Erwachsenen vor.

Morphologie Lichtmikroskopisch finden sich im Allgemeinen normale Glomeruli mit allenfalls minimaler Mesangiumzellproliferation und -verbreiterung. Tubuluszellen können eine Fettspeicherung zeigen („Lipoidnephrose“). Elektronenmikroskopisch sind in den Glomeruli diffuse Fußfortsatzverschmelzungen der Podozyten nachweisbar (Abb. 36-21). Nach wie vor ist jedoch unklar, ob die Fußfortsatzveränderungen die Ursache der glomerulären Erkrankung oder bereits die „kompensatorische“ Folge einer primären Basalmembranläsion darstellen.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Klinisch ist die Erkrankung episodenhaft, es besteht ein nephrotisches Syndrom oder eine isolierte Proteinurie, wobei beide meist recht gut auf eine Steroidbehandlung ansprechen. Bei Steroidresistenz ist ein Übergang in die fokale und segmentale Hyalinose und Sklerose mit deren ungünstigen Folgen möglich.

Glomerulonephritiden bei Systemerkrankungen (sekundäre Glomerulonephritiden) Folgende immunologische Systemerkrankungen können mit einer Glomerulonephritis einhergehen:

Abb. 36-21 Minimale Glomerulonephritis mit nephrotischem Syndrom.

a Ausschnitt aus einer normalen Glomerulusschlinge. Lumenwärts (L = Lumen) das normale gefensterte Endothel (Doppelpfeile). Angrenzend eine normale Basalmembran sowie zahlreiche außen aufliegende Podozytenfortsätze (Pfeile). Vergr. 9800fach. b Im Vergleich die Podozytenverschmelzungen (Pfeile) bei der Minimalchange-Glomerulonephritis. Basalmembran und Endothel sind unauffällig. L = Lumen. Vergr. 9800fach. ■

Goodpasture-Syndrom (siehe Kap. 36.5.1)



Lupus erythematodes visceralis (siehe Kap. 47.1.5)



leukozytoklastische Vaskulitis (siehe Kap. 20.5.1)



Panarteriitis nodosa (siehe Kap. 20.5.1)



36.5.2

Wegener-Granulomatose (siehe Kap. 36.9.5).

Glomerulopathie

Hierunter werden nichtentzündliche glomeruläre Schäden (im Gegensatz zur Glomerulonephritis) subsumiert. Derartige glomeruläre Läsionen können bei vaskulären, metabolischen und hereditären Nephropathien auftreten. Sie werden z.T. an anderer Stelle besprochen.

Diabetische Glomerulopathie Siehe auch Kap. 46.3.2.

Pathogenese Die Pathogenese der glomerulären Veränderungen ist nur in ihren Ansätzen bekannt. Einerseits kommt es durch nichtenzymatische Anlagerung von Zuckern an Proteine (Bildung von „advanced glycosylation endproducts [AGE]“) zur Glykosylierung von Matrixproteinen der Basalmembranen, deren natürlicher Umsatz dadurch verzögert wird und damit zu einer Anhäufung führt. Glukoseerhöhung führt zumindest in Kulturen von isolierten Mesangialzellen zur Neuexpression einer Reihe von Genen, unter denen jenes für den connective tissue growth factor (ein Wachstumsfaktor, der die Matrixbildung und die Proliferation von Fibroblasten im Bindegewebe stimuliert) nachgewiesen wurde. Auch hier wäre eine genaue Kenntnis der Pathogenese dieser sich chronisch entwickelnden und daher schwer analysierbaren Veränderungen wichtig, um gezielte therapeutische Strategien auszuarbeiten.

Morphologie Die diabetische Mikroangiopathie betrifft alle Kapillaren, manifestiert sich aber klinisch vor allem in den Nieren (Glomerulosklerose) und Augen (Retinopathie). Die diffuse Glomerulosklerose resultiert aus einer Verdickung der Basalmembran der Glomerulusschlingen sowie einer vermehrten Ablagerung von Basalmembranmaterial in der mesangialen Matrix. Die noduläre Glomerulosklerose, eine diabetesspezifische Läsion, erstmals beschrieben durch Kimmelstiel und Wilson, wird bei 30% der Diabetiker in Assoziation mit einer diffusen Glomerulosklerose beobachtet. Charakteristisch ist die noduläre PAS-positive Ablagerung von Basalmembran im Mesangium, auf der die Glomerulusschlingen wie Kappen liegen (Abb. 36-22). Außer der Glomerulosklerose finden sich als Ausdruck des Proteinverlustes durch die Basalmembran der Glomerulusschlingen eosinophile Niederschläge („Tropfen“) an der Innenseite und der Außenseite („Fibrinkappen“) der Glomeruluskapsel. Schließlich sind noch eine ausgeprägte Atherosklerose und eine Arteriolosklerose zu sehen.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Glomerulosklerose findet sich mehr oder weniger stark bei den meisten Diabetikern nach einem Verlauf von mehr als 10 Jahren. Bei starker Ausprägung kommt es zu einem starken glomerulären Verlust von Proteinen und damit zur Proteinurie. Bei weiterer Zunahme mit Verödung der Lumina der Glomerulusschlingen wird die Urinausscheidung zunehmend eingeschränkt, und es entwickelt sich eine Hypertension. Bei vollständiger Glomerulosklerose von mehr als 50% der Glomeruli tritt eine Niereninsuffizienz ein. Makroskopisch sind diese Nieren deutlich geschrumpft. Die diabetische Nephropathie ist die dritthäufigste Ursache des chronischen Nierenversagens.

Abb. 36-22 Noduläre diabetische Glomerulosklerose (Kimmelstiel-Wilson).

Hier kommt es zu einer knotenförmigen Matrixvermehrung der Mesangien (M), welche die peripheren Kapillarschlingen komprimieren.

Amyloidose der Niere Siehe auch Kap. 43.3.4 Die Niere ist aufgrund ihres Reichtums an Basalmembranen bevorzugt bei den unterschiedlichen Formen der Amyloidose beteiligt. In absteigender Häufigkeit

ergeben sich folgende Zahlen: AA-Amyloidose ungefähr 50%, AF-Amyloidose 20%, AL-Amyloidose 10%. Bei der AA-Amyloidose steht die Ablagerung von Amyloid in peripheren Kapillaren sowie im Mesangium und/oder an den glomerulären Basalmembranen im Vordergrund. Klinisch liegt eine meist starke Proteinurie vor. Mit zunehmender Krankheitsdauer veröden die Glomeruli, sodass schließlich ein Nierenversagen eintritt. Bei der AL-Amyloidose sind dagegen überwiegend die großen Arterien befallen.

Alport-Syndrom Definition Hierbei handelt es sich um eine autosomal-dominant vererbte Krankheit mit Kollagen-Typ-IV-Schäden der Basalmembranen in Nierenglomeruli und Innenohr sowie in anderen Organen. Meistens besteht dabei eine fortschreitende Nephropathie in Kombination mit einer Innenohrschwerhörigkeit und Augenlinsenschäden.

Pathogenese

Bisher sind 50 verschiedene Genmutationen bekannt, die Defekte der α-Ketten des Typ-IV-Kollagens der Basalmembranen (der Niere und des Innenohrs) bewirken.

Morphologie Histologisch zeigen die Nieren geringe glomeruläre Abnormitäten und eine fokal sklerosierende Glomerulopathie mit interstitieller Fibrose. Die verbindliche Diagnose wird elektronenmikroskopisch mit Nachweis einer Aufsplitterung und Lamellierung der glomerulären Basalmembranen gestellt.

Klinisch-pathologische Korrelationen Klinisch bestehen neben Schwerhörigkeit und Augenerkrankungen (Dislokation der Linse, Katarakt, Korneadystrophie) eine Hämaturie und Proteinurie sowie ein zunehmendes chronisches Nierenversagen bereits im Jugendalter. Nach einer Nierentransplantation bei Alport-Patienten tritt in etwa 10% der Fälle eine Antibasalmembran-Antikörper-GN auf, was auf die (Neo-)Antigenität der α-3Kette des Typ-IV-Kollagens zurückgeht.

36.6

Tubulopathien

Unter Tubulopathien werden unterschiedliche Erkrankungen zusammengefasst, die vordergründig den Tubulusapparat betreffen. Hierbei lassen sich reversible und irreversible Tubulusschäden und tubuläre Speicherungen unterscheiden.

36.6.1

Akutes ischämisches Nierenversagen

Syn.: akute ischämische Tubulopathie; Schocknieren; prärenales akutes Nierenversagen

Definition Das akute ischämische Nierenversagen ist eine durch unzureichende Durchblutung hervorgerufene beidseitige Parenchymschädigung mit Tubulusepithelschäden und Ausbildung eines akuten Nierenversagens. Aufgrund der Regenerationsfähigkeit des Tubulusepithels ist die akute ischämische Tubulopathie voll rückbildungsfähig. Bei adäquater Therapie (akute Hämodialyse) ist das lebensbedrohliche akute ischämische Nierenversagen reversibel.

Pathogenese

Diese Erkrankung kann durch alle Arten des Schocks (kardial, infektiös, Polytrauma, Verbrennungen etc.) ausgelöst werden. Die unzureichende peritubuläre Zirkulation führt zur schweren Ischämie der für Sauerstoffmangel empfindlichen proximalen Tubuli bis hin zu ausgedehnten Tubulusnekrosen. Pathogenetisch mehrdeutig sind die Schritte vom Tubulusschaden bis zum Abfall der glomerulären Filtration. Bisher wurde angenommen, dass über die verminderte Natriumrückresorption infolge des proximalen Tubuluszellschadens eine zu hohe Natriumkonzentration in die distalen Tubuli gelangt und dort ein Signal für den juxtaglomerulären Apparat setzt. Infolge der Aktivierung des Renin-AngiotensinSystems ist dann eine Konstriktion der Vasa afferentia mit Abfall der glomerulären Perfusion und Filtration verständlich (sog. Thurau-Mechanismus). Andererseits kommt es durch den ursächlichen ischämischen Zellschaden zu einem Flüssigkeitseinstrom aus Interstitium und Gefäßen in die proximalen Tubuluszellen mit den Folgen Plasmaverlust, Hämokonzentration und venöse Blutstauung im Nierenmark. Letztere verhindert die glomeruläre Reperfusion und bewirkt dadurch die Fortdauer des akuten Nierenversagens. Diese neuere Erklärung des akuten ischämischen Nierenversagens ist von therapeutischer Bedeutung, da eine Plasmaexpandergabe (Mannitol) die proximale Tubuluszellschwellung und venöse Blutstauung verhindert und dadurch das akute Nierenversagen schneller abklingen lässt.

Morphologie Die Nieren sind blass und geschwollen. Die Epithelzellen der Tubuli zeigen schwere ischämische Schäden bis hin zu Nekrosen. Das Interstitium kann ödematös verbreitert sein. Die distalen Tubuluslumina sind angefüllt mit abgestoßenen Tubuluszellen, Proteinen, teilweise auch Myoglobin (bei Rhabdomyolyse), die in Form von hyalinen oder granulären Zylindern (sog. Chromoproteinzylinder) vorhanden sind.

Klinisch-pathologische Korrelationen In der initialen Phase kommt es zu einer ausgeprägten Oligurie bis hin zur Anurie aufgrund der gestörten glomerulären Filtration. Anschließend folgt eine polyurische Phase mit der tubulären Unfähigkeit zur Harnkonzentration. In der oligurischen Phase ist durch verminderte Urinbildung und durch vermehrten Anfall von Kalium infolge Zelluntergang die Hyperkaliämie von besonderer Bedeutung, da sie schwere Herzrhythmusstörungen verursacht. Unter der Hämodialysetherapie erholen sich die Tubuli (gute Regenerationsfähigkeit der Tubulusepithelien), und es kommt zu einer Restitutio ad integrum mit Wiederherstellung der normalen Nierenfunktion.

36.6.2

Akutes toxisches Nierenversagen

Syn.: akute toxische Tubulopathie

Definition Das akute toxische Nierenversagen ist ein durch nephrotoxische Substanzen ausgelöster Tubulusschaden mit akutem Nierenversagen.

Ätiologie und Pathogenese Die Erkrankung wird durch ein weites Spektrum tubulotoxischer Substanzen ausgelöst: ■ Schwermetalle (Blei, Quecksilber, Arsen, Gold, Chrom, Wismut, Uran, Thallium) ■ organische Lösungsmittel (Tetrachlorkohlenstoff, Chloroform) ■ Glykole (Diäthylglykol, Propylenglykol, Dioxan etc.) ■ Medikamente (Antibiotika wie Gentamicin, Tobramycin, Meticillin, Sulfonamide, Polymyxin, Cephalosporine, Amphotericin B; nichtsteroidale Antiphlogistika: Prostaglandinsynthesehemmer; Quecksilberdiuretika; Anästhetika; Zytostatika wie Cisplatin und Methotrexat) ■ ACE-Inhibitoren ■ jodhaltige Kontrastmittel ■ Phenole, Pestizide, Paraquat.

Der toxisch ausgelöste Tubulusepithelschaden führt über die gleichen weiteren pathogenetischen Mechanismen wie das akute ischämische Nierenversagen (siehe Kap. 36.6.1) zum akuten Nierenfunktionsverlust mit Anurie.

Morphologie

In Abhängigkeit vom Schädigungsmuster sind die Nieren entweder geschwollen und rot oder blass. Die rote Farbe kommt durch eine ausgeprägte Hyperämie zustande. Bei zusätzlich auftretenden Nekrosen und interstitiellem Ödem werden die Nieren dann zunehmend blass. Die Erholung erfolgt wie bei der ischämischen Tubulopathie durch Epithelregeneration. Gelegentlich kommt es zu dystrophischen Verkalkungen.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Reversibilität eines toxischen akuten Nierenversagens hängt vom Ausmaß des Tubulusschadens ab. Gelegentlich kann sich zusätzlich über das interstitielle Ödem eine diffuse interstitielle Nierenfibrose entwickeln, die eine fortschreitende renale Funktionseinschränkung erklärt.

36.6.3

Nephrokalzinose

Definition Unter Nephrokalzinose versteht man tubuläre Kalziumablagerungen. Man unterscheidet zwischen der dystrophischen und der metabolischen Nephrokalzinose.

Pathogenese Die Pathogenese ist entsprechend unterschiedlich. ■ Nierenverkalkungen können als Folge ischämischer oder toxischer Tubulusepithelnekrosen (abgelaufenes akutes Nierenversagen, alte Nierenrindennekrosen oder -infarkte) entstehen (sog. dystrophische Form). ■ Die zweite Form stellen metabolische Tubulusverkalkungen dar, die auf einer Hyperkalzämie (hyperkalzämische Tubulopathie) beruhen. ■ Ursache der Hyperkalzämie siehe Kap. 15.3, Endokrinologie.

36.6.4

Uratnephropathie

Definition Es handelt sich um die Folge einer Ablagerung von Harnsäuresalzen in Tubuli und Interstitium.

Pathogenese Jede Harnsäureerhöhung im Blut kann zu einer Uratnephropathie führen. Die klassische Krankheit dafür ist die primäre Gicht, deren Ursache in einer renalen Harnsäureausscheidungsstörung oder in einer Harnsäureüberproduktion vermutet wird (siehe Kap. 44.2.5). Als sekundäre Gicht werden erhöhte Harnsäurespiegel im Blut infolge eines Zellverfalls (bei Leukämie, Polyzythämie oder hämolytischer Anämie) oder infolge chronischer Niereninsuffizienz mit gestörter Harnsäureausscheidung bezeichnet. Renale Uratablagerungen führen entweder zu einer chronischen interstitiellen Fremdkörperentzündung oder durch zusätzliche tubuläre Obstruktion zu einem rezidivierenden akuten Nierenversagen.

Morphologie

Makroskopisch finden sich in den Nierenpapillen grau-gelbe Streifen, bei denen es sich histologisch um kristalline Ablagerungen von Natrium- und Ammoniumurat in den Sammelrohren handelt (sog. Harnsäureinfarkte). Aus den Tubulus- und Sammelrohrlichtungen gelangen die Uratkristalle ins Interstitium und lösen dort eine chronische granulomatöse Entzündung vom Fremdkörpertyp aus. Dabei finden sich im Zentrum der Granulome sternförmige Uratkristalle, die von Lymphozyten, Fremdkörperriesenzellen und Narbengewebe umgeben werden (Gichttophus). Wenn mehrere Gichttophi miteinander verschmelzen, spricht man von einer „Gichtniere“.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die primäre Gicht geht mit anfallsartigen Gelenkbeschwerden einher, später treten Zeichen einer chronischen Niereninsuffizienz hinzu. Im Gefolge einer Zytostatikatherapie von Leukämien und malignen Tumoren kann eine sekundäre Gicht mit oder ohne akutes Nierenversagen entstehen. Gichtpatienten haben häufig auch eine (essentielle) Hypertonie, die zur renalen Atherosklerose und Glomerulosklerose („Gichtnephrosklerose“) führt. Nephrolithiasis und sekundäre Pyelonephritis sowie gelegentlich Schrumpfnieren sind möglich.

36.6.5

Tubuläre Speicherungen

Definition Hierunter versteht man eine tubuläre Speicherung unterschiedlicher Substanzen, die früher unter dem Begriff der Speicherungsnephrose zusammengefasst wurde.

■ Eiweißspeicherung. Sie tritt bei starker Proteinurie sowie beim nephrotischen Syndrom im Rahmen einer Glomerulonephritis, eines Plasmozytoms, einer Amyloidose oder einer diabetischen Glomerulosklerose auf. Dabei findet sich in den Tubulusepithelien eine lysosomale hyaline Proteinspeicherung (= hyalintropfige Eiweißspeicherung). ■ Bilirubinspeicherung. Bei starkem Ikterus unterschiedlicher Ursache (z.B. Pankreas-, Gallengangskarzinom) wird Bilirubin tropfenförmig in Tubulusepithelien gespeichert (ikterische Nephrose). Makroskopisch sind die Nieren geschwollen und gelbgrün verfärbt. In den Tubuluslichtungen liegen grüngelbe Gallepigmentzylinder. ■ Fettspeicherung. Das nephrotische Syndrom ist u.a. durch eine Hyperlipidämie und Hyperlipoproteinämie gekennzeichnet. Die Lipoproteine werden tubulär rückresorbiert und im Tubulusepithel und in interstitiellen Histiozyten gespeichert. Die vergrößerten blassen Nieren haben einen deutlichen Gelbton. Da dieser Befund früher bei der minimalen Glomerulonephritis mit nephrotischem Syndrom einziges morphologisch fassbares Substrat war, sprach man damals bei dieser Erkrankung von einer „Lipoidnephrose“. ■ Zuckerspeicherniere. Nach Gabe von Plasmaexpandern (z.B. Dextran) kommt es zu einer isometrischen feinvakuolären Schwellung der Tubulusepithelien (osmotische Nephrose), der eine Speicherung der Kohlenhydrate zugrunde liegt. ■ Glykogenspeicherung. Bei schwerer diabetischer Glukosurie wird Glykogen in den Tubulusepithelien grobvakuolär gespeichert (Armanni-Ebstein-Zellen). Dieser Befund kann bei der Autopsie auf ein Coma diabeticum hinweisen, das sonst keine charakteristischen morphologischen Veränderungen macht.

Plasmozytomniere Definition Nierenschädigung im Rahmen eines Plasmozytoms (siehe Kap. 21.8.1).

Pathogenese Im Mittelpunkt steht die Ausfällung von Paraproteinen (pathologische λ- und κLeichtkettenproteine [Bence-Jones-Proteine]) in den distalen Tubuli bei saurem pH-Wert, die die Tubulusepithelien schädigen. Dadurch kommt es zu Tubulusnekrosen mit begleitender interstitieller Nephritis. Die ausgefällten Proteine bezeichnet man als Tamm-Horsfall-Proteine. Durch vermehrte Kalziummobilisation und Hyperkalzämie wird der Tubulusschaden noch verstärkt. Darüber hinaus kann es über die Paraproteine zur Entwicklung einer AL-Nierenamyloidose kommen.

Morphologie Die meist großen, blassen Nieren zeigen große hyaline Zylinder in den distalen Tubuli mit begleitender interstitieller Nephritis und histiozytären Riesenzellen. Die Klinik ist durch eine Proteinurie, rezidivierendes akutes Nierenversagen und chronisches Nierenversagen gekennzeichnet.

36.7

Interstitielle Nephritiden

Interstitielle Nephritiden sind Entzündungen der Niere unterschiedlicher Ätiologie mit dominierender Beteiligung des Interstitiums. Wenn die Tubuli zerstört werden, spricht man von tubulointerstitieller (destruierender) Nephritis. Die ätiopathogenetische Einteilung der interstitiellen Nephritiden umfasst hauptsächlich bakterielle (destruierende) und abakterielle (nichtdestruierende) Nephritiden.

36.7.1

Bakterielle interstitielle Nephritiden

Akute Pyelonephritis Syn.: akute bakterielle destruierende interstitielle Nephritis

Definition Die akute Pyelonephritis (PN) ist eine ein- oder doppelseitige bakterielle eitrige Entzündung des Niereninterstitiums, die mit Zerstörung der Tubuli einhergeht.

Epidemiologie Die akute PN ist eine häufige, in der Regel antibiotisch heilbare Nierenentzündung. Sie ist zumeist mit einer unteren Harnwegsinfektion (Urozystitis, Urethritis) verbunden. Frauen erkranken dreimal häufiger als Männer.

Ätiologie und Pathogenese Erreger sind bei 50% der Patienten E. coli, daneben auch Enterokokken und seltener Klebsiellen und Proteus. Die Bakterien gelangen ganz überwiegend aus den unteren Harnwegen entweder aufsteigend über Ureter und Nierenbecken (kanalikulär-aszendierende Infektion) oder auf regional lymphogenem und/oder hämatogenem Weg (hämatogene Infektion) in die Nieren. Auch im Rahmen einer bakteriellen Allgemeininfektion (Septikopyämie) können Erreger hämatogen die Niere befallen. Begünstigende Faktoren sind Stoffwechselkrankheiten und -störungen mit erhöhter Infektneigung (Diabetes mellitus, Gicht, Oxalose, Hyperkalzämie) sowie

Harnabflussstörungen jeder Art (Harnsteine, Harnwegstumoren, Prostatahyperplasie und -karzinom, fortgeschrittenes Zervixkarzinom, Fehlbildungen der Harnwege, Schwangerschaft). Bei Kindern mit rezidivierender PN sollten stets angeborene Harnwegsanomalien ausgeschlossen werden. Außer durch Schwangerschaften sind Frauen aufgrund ihrer kurzen Urethra und dadurch häufigeren Keimbesiedlung für Harnwegsinfektionen und PN stärker gefährdet als Männer. Letztere erkranken erst im höheren Alter häufiger an einer PN infolge der dann auftretenden Prostataleiden mit Harnwegsobstruktionen.

Morphologie Makroskopisch sind die Nieren herdförmig oder diffus von kleinen gelben Herden (Abszessen) übersät (Abb. 36-23a). Auf der Schnittfläche finden sich streifenförmige Eiterstraßen vom Mark zur Rinde. Histologisch ist das Interstitium streifenförmig von einem eitrigen Exsudat phlegmonös durchsetzt mit Befall und Zerstörung der Tubuli (Abb. 36-23b). Durch Gewebeeinschmelzungen entsteht die häufig bereits makroskopisch erkennbare abszedierende PN. Diese führt zu Defektheilungen mit Narbenbildung.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die akute PN führt zu plötzlich einsetzendem Fieber und Flankenschmerzen mit Pyurie und Bakteriurie. Meist bestehen auch Symptome einer Zystitis und Urethritis (Dysurie). Eine unkomplizierte akute PN heilt bei entsprechender Therapie narbig aus. Die Komplikationen umfassen konfluierende pyelonephritische Abszesse (Nierenkarbunkel), beim Durchbruch durch die Nierenkapsel entstehen perinephritische, beim Übergreifen auf die Capsula adiposa paranephritische Abszesse. Wenn Erreger in den Kreislauf gelangen, kann eine septische Allgemeininfektion (Urosepsis) entstehen. Eine nicht ausreichend behandelte akute PN kann in die chronische PN übergehen.

Chronische Pyelonephritis Syn: chronische bakterielle interstitielle Nephritis

Definition Die chronische PN ist eine ein- und/oder doppelseitige, bakteriell ausgelöste, vernarbende interstitielle Entzündung, die mit Parenchymdestruktion, Schrumpfung und zunehmender Niereninsuffizienz einhergeht.

Epidemiologie 20% aller Nierenerkrankungen, die zur chronischen Niereninsuffizienz führen, sind chronische Pyelonephritiden. Frauen sind häufiger betroffen als Männer.

Abb. 36-23 Akute Pyelonephritis.

a Multiple Abszesse der linken Niere (Ansicht von dorsal). Rechts Schrumpfniere. b Histologisches Bild mit ausgeprägten Infiltraten von segmentkernigen Granulozyten mit Zerstörung der Tubuli.

Pathogenese Die chronische PN entsteht aus nicht ausreichend behandelten bzw. rezidivierenden akuten Pyelonephritiden. Immunpathologische Kreuzreaktionen

gegen Bakterien- und/oder Tubulusantigene spielen möglicherweise dabei eine zusätzliche Rolle.

Morphologie Makroskopisch zeigen die Nieren flache Narben mit rötlichem Grund, sind verkleinert bzw. im Spätstadium geschrumpft (Schrumpfniere; siehe Kap. 36.10). Histologisch finden sich schüttere bis dichte lymphoplasmazelluläre Infiltrate, eine diffuse Fibrose sowie Narben im Interstitium. Die Tubuli sind in den fibrösen und narbigen Bezirken atrophisch. In Randabschnitten kommen kompensatorisch hypertrophierte Tubuli vor. Charakteristisch für die chronische PN sind erweiterte Tubuli mit kolloidartigem, eosinophilem Inhalt (sog. Pseudostrumafelder). Die Glomeruli können sekundär veröden, die Gefäße weisen häufig eine unterschiedlich starke Intimafibrose auf.

Klinisch-pathologische Korrelationen Häufig entsteht die chronische PN schleichend. Im Frühstadium müssen deshalb pyelonephritische Symptome (Klopfschmerz im Nierenlager, Leukozyturie, Bakteriurie, subfebrile Temperaturen) richtig gedeutet und behandelt werden. Im fortgeschrittenen Stadium entsteht bei beidseitigem Befall eine chronische Niereninsuffizienz und nicht selten eine renale Hypertonie.

36.7.2

Obstruktive Nephropathie

Definition Dieser klinische Begriff umfasst funktionelle und morphologische Nierenveränderungen, die auf einen chronischen Harnstau infolge unterschiedlicher Abflussstörungen des Urins im Verlauf der ableitenden Harnwege zurückgehen.

Ätiologie und Pathogenese Die häufigsten Ursachen einer Harnstauung sind Fehlbildungen, Harnsteine, Harnwegs- und Genitaltumoren sowie Prostata- und Uretererkrankungen. Bei blandem Harnstau entstehen Ureter- und Nierenbeckenerweiterungen sowie eine Druckatrophie des Nierenparenchyms, die mit einer Papillenatrophie beginnt.

Morphologie

Die Ausweitung der Harnwege (Hydroureter und Pyelektasie) mit Druckatrophie des Parenchyms (Hydronephrose) ist die Folge der Obstruktion. Die morphologischen Veränderungen reichen von der leichten Druckatrophie der Papillen mit geringer Pyelektasie bis hin zur hydronephrotischen Sackniere (Abb. 36-24). Letztere besteht aus papierdünnem fibrosiertem und atrophischem Nierenparenchym. Bei chronischem Rückstau bis in die Sammelrohre sind diese erweitert und das Interstitium ist fibrosiert (Nephrohydrose).

Abb. 36-24

Hydronephrotische Sackniere

mit ausgeprägter Ausweitung des Nierenbeckens und starker Druckatrophie sowie erheblicher Fibrose des Nierenparenchyms. Eingeklemmter Stein im Nierenbecken (Pfeil).

Klinisch-pathologische Korrelationen Je nach Ursache der Harnstauung bestehen Miktionsbeschwerden, Koliken oder Tumorsymptome in Kombination mit einer Harnwegsinfektion (Syndrom der Harnwegsobstruktion). Harnstauungsnieren können zur renalen Hypertonie führen. Bakterielle Infektionen verursachen pyelonephritische Schübe. Bei Eiteransammlung im gestauten Nierenbecken spricht man von einer Pyonephrose. Bei fortgeschrittener doppelseitiger Hydronephrose mit oder ohne chronische Pyelonephritis kommt es zum chronischen Nierenversagen.

36.7.3

Sonderform Refluxnephropathie

Definition Es handelt sich um eine Sonderform der Pyelonephritis infolge eines Harnrückstaus aus der Blase in die Ureteren und das Nierenbecken (vesikoureteraler Reflux).

Pathogenese Der Rückfluss des Urins in die oberen Harnwege beruht auf einer kongenitalen Störung des Ureterostiumverschlusses. Dabei liegt eine Verkürzung der intramuralen Abschnitte der Ureteren vor, sodass bei jeder Miktion Harn bis in die Nierenbecken zurückgepresst wird. Die miktionsabhängigen Druckwellen schlagen auf die Nierenpapillen (sog. Wasserhammereffekt) und erweitern die dort einmündenden Sammelrohre. Bei Vorliegen eines bakteriellen Harnwegsinfekts gelangt dadurch infizierter Urin in die Nierenpapillen, sodass eine aszendierende Pyelonephritis entstehen kann.

Morphologie

Wie bei der akuten und chronischen Pyelonephritis (siehe Kap. 36.7.1).

Klinisch-pathologische Korrelationen Der alleinige Reflux ist beschwerdefrei. Bei rezidivierender Pyelonephritis treten stechende Nierenschmerzen während der Miktion auf, wobei es Minuten später zu einem erneuten Harndrang kommt (Phänomen der doppelten Miktion).

36.7.4

Abakterielle interstitielle Nephritiden

Akute abakterielle interstitielle Nephritis Definition Die akute abakterielle interstitielle Nephritis ist eine hämatogen ausgelöste, akut auftretende, doppelseitige, abakterielle und nichtdestruierende interstitielle Nierenentzündung unterschiedlicher Ursache. Die Erkrankung ist selten.

Ätiologie und Pathogenese Überwiegend handelt es sich um allergische Reaktionen auf Medikamente (Penizillin, Sulfonamide, Antikoagulanzien, Diphenylhydantoine, Antiepileptika). Darüber hinaus kommen sie infektallergisch im Rahmen von viralen (Röteln, infektiöse Mononukleose) oder bakteriellen Infektionen (Scharlach, Typhus, Leptospirose) sowie gelegentlich auch nach Impfungen vor, wobei hier ungeklärte

humorale und/oder zelluläre Immunreaktionen im Niereninterstitium ablaufen. Mikrobielle Erreger sind nicht nachweisbar. Die akute interstitielle Entzündung führt über ein interstitielles Ödem zu einer Störung der Nierenperfusion mit ischämischer Schädigung der proximalen Tubulusepithelien, wodurch ein renal bedingtes akutes Nierenversagen zustande kommt.

Morphologie

Histologisch ist das Niereninterstitium ödematös verbreitert und von einem häufig perivaskulär betonten lymphoplasmazellulären Infiltrat durchsetzt. Eosinophile Granulozyten können vorkommen.

Klinisch-pathologische Korrelationen Nach einer Antibiotikabehandlung oder nach Infektionskrankheiten setzt plötzlich eine akute Niereninsuffizienz mit unterschiedlich ausgeprägter exkretorischer Insuffizienz ein. Teilweise wird eine Bluteosinophilie beobachtet. Klinisch treten Fieber und/oder Anurie auf. Es besteht eine Leukozyturie, in zwei Dritteln der Fälle eine Hämaturie, gelegentlich auch eine Proteinurie. Die Prognose dieser Erkrankung ist günstig.

Chronische abakterielle interstitielle Nephritiden Die chronischen abakteriellen Nephritiden sind doppelseitige, hämatogene, chronische Entzündungen des Niereninterstitiums mit zunehmender Fibrose. Das klassische Beispiel ist die Analgetikanephropathie, die im Folgenden beschrieben wird. Darüber hinaus kommt es zu analogen chronischen interstitiellen Nephritiden bei obstruktiver Nephropathie sowie auch bei Stoffwechselkrankheiten (Uratnephropathie) und beim Plasmozytom (siehe Kap. 21.8.1).

Analgetikanephropathie Syn.: Phenazetin-Nieren, Analgetika-assoziierte Nephropathie

Definition Hierunter versteht man eine doppelseitige chronische abakterielle interstitielle Nephritis mit Papillennekrosen nach lang dauernder exzessiver Einnahme analgetisch wirkender Mischpräparate.

Epidemiologie Das Durchschnittsalter liegt zwischen dem 45. und 55. Lebensjahr. Weltweit besteht eine sehr unterschiedliche Morbidität.

Pathogenese Der Phenazetinmetabolit Acetaminophen (Paracetamol) bindet an zelluläre Proteine und führt damit zu einem toxisch wirkenden Glutathionmangel. Acetylsalicylsäure (Aspirin®) soll die Bildung vasodilatatorischer Prostaglandine inhibieren und so eine Ischämie begünstigen. Die Kombination von Phenazetin und Acetylsalicylsäure wirkt besonders schädigend. Das Resultat ist eine obliterierende Kapillarsklerose in Nierenmark und Nierenbecken. Diese bewirkt ihrerseits ischämisch bedingte Papillennekrosen mit nachfolgender chronischer interstitieller Entzündung.

Abb. 36-25

Phenazetin-Niere

mit zahlreichen schmutzig braunen Papillennekrosen (Pfeile).

Morphologie Im Stadium der chronischen Niereninsuffizienz liegen doppelseitige Schrumpfnieren vor, die eine unterschiedlich gehöckerte Oberfläche haben. Auf der Schnittfläche erkennt man zahlreiche braun verfärbte Papillennekrosen (Abb. 36-25), die auch in das Nierenbecken abgestoßen werden können. Histologisch ist der diagnostisch beweisende Befund für eine Analgetikanephropathie die homogene Basalmembranverbreiterung der Kapillaren in Nierenmark und Submukosa der ableitenden Harnwege (sog. Kapillarosklerose). Die Papillen zeigen eine Koagulationsnekrose mit

Ablagerungen von Lipofuszinpigment, das ein Abbauprodukt des Phenazetins ist und auch das graue Hautkolorit sowie die Verfärbungen von Leber, Rippenknorpel und Harnwegsschleimhäuten bei Phenazetinabusus hervorruft. Im Niereninterstitium findet man unterschiedlich ausgeprägte lymphoplasmazelluläre und histiozytäre Infiltrate sowie eine sklerosierende interstitielle Entzündung.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Patienten mit Analgetikanephropathie erscheinen vorgealtert. Sie haben ein milchkaffeefarbenes Hautkolorit. An den Fingernägeln fehlen die weißen Halbmonde (Lunulae). Es kommt zu einer schleichend einsetzenden chronischen Niereninsuffizienz. Komplikationen bestehen in bakteriellen Superinfektionen und in der Entwicklung eines Urothelkarzinoms in Nierenbecken, Ureter oder Harnblase mit 9- bis 10fach erhöhtem Risiko (siehe Kap. 37.6).

36.7.5

Nierentuberkulose

Epidemiologie Die Urogenitaltuberkulose ist die häufigste extrapulmonale Form einer isolierten Organtuberkulose und kommt bei 5% aller Patienten mit primärer Lungentuberkulose vor.

Pathogenese

Eine Tuberkulose der Nieren ist als isolierte Organtuberkulose oder im Rahmen einer allgemeinen Miliartuberkulose möglich. Im Primärstadium einer Tuberkulose gelangen durch eine frühe hämatogene Streuung Mykobakterien in die Nieren, aus der im Postprimärstadium eine isolierte, häufig einseitige Nierentuberkulose entsteht. Eine allgemeine Miliartuberkulose, an der die Nieren mitunter beteiligt sein können, entsteht durch eine hämatogene Generalisation im tuberkulösen Primär-, meist jedoch im Postprimärstadium.

Morphologie Charakteristisch für die renale Form der isolierten Organtuberkulose ist die käsige kavernöse Nierentuberkulose. Dabei bestehen käsige kavernöse tuberkulöse Herde in der Markregion, die gegen die Umgebung fibrös abgekapselt sind (geschlossene Nierentuberkulose). Beim Übergreifen auf das Nierenbeckenkelchsystem kommt es zu einer ulzerös-kavernösen Nierentuberkulose, bei der infektiöse käsige Massen über das Nierenbeckenkelchsystem entleert werden (offene Nierentuberkulose). Als Endstadium einer ulzerös-kavernösen Tuberkulose entsteht die sog. Kittniere, bei

der das nekrotische Material abgekapselt und eingedickt ist. Bei anschließender Verkalkung liegt eine sog. tuberkulöse Mörtelniere vor. Bei Beteiligung an einer Miliartuberkulose finden sich in beiden Nieren disseminierte miliare tuberkulöse Granulome.

Klinisch-pathologische Korrelationen Eine geschlossene Nierentuberkulose macht zunächst nur uncharakteristische Beschwerden im Sinne eines beeinträchtigten Allgemeinbefindens. Bei offener Nierentuberkulose kommen Symptome einer spezifischen Harnwegsinfektion dazu (Nierenschmerzen, Leukozyturie, Hämaturie, Mykobakteriurie). Häufigste Komplikationen einer offenen Nierentuberkulose sind die absteigende Mitbeteiligung der ableitenden Harnwege und auch der Geschlechtsorgane (Urogenitaltuberkulose).

36.8

Zirkulationsstörungen

Kreislaufstörungen der Niere kommen durch Störungen der Blutzu- oder -abfuhr zustande. Sie führen in Abhängigkeit von der Ursache zu unterschiedlichen Krankheitsbildern.

36.8.1

Arterielle Störungen

Ätiologie Lokale Kreislaufstörungen können durch stenosierende Atherosklerose und Thrombose sowie durch Arteriitis oder Thrombembolien verursacht werden.

Pathogenese

Bei den lokalen arteriellen Erkrankungen ist entscheidend, ob der Verschluss der Gefäße teilweise oder vollständig ist: Vollständiger Verschluss führt zur absoluten Ischämie mit nachfolgendem anämischem Niereninfarkt (siehe Abb. 36-18). Chronische Minderdurchblutung mit relativer chronischer Ischämie führt dagegen zu einer Atrophie der Tubuli mit erhaltenen Glomeruli (Subinfarkt). Bei zentralarteriellem Lichtungsverschluss kommt es zu einer sog. glatten Atrophie der Niere mit einer renalen Hypertonie (sog. Goldblatt-Mechanismus, Renin-AngiotensinAldosteron-Mechanismus).

Morphologie Akute lokale Kreislaufstörungen führen zu einem akuten anämischen Niereninfarkt. Chronische lokale Kreislaufstörungen haben eine ausgeprägte Atrophie (Nierensubinfarkt) zur Folge. Größe und Form eines anämischen Niereninfarkts entsprechen dem Versorgungsgebiet des verschlossenen Nierenarterienastes. Der

Infarkt besteht aus einem lehmgelben nekrotischen Zentrum mit hämorrhagischem Randsaum (Abb. 36-26) und histologisch granulozytärem Randwall. Der Infarkt wird über eine resorbierende Entzündung innerhalb von wenigen Wochen durch einsprossendes Granulationsgewebe in eine Narbe umgewandelt, die durch ihre grau-weiße Farbe und trichterförmige Einziehung an der Oberfläche charakterisiert ist. Bei mehreren großen Infarktnarben entsteht eine Infarktschrumpfniere mit grobbuckeliger Oberfläche. Bei zentralarterieller glatter Atrophie der Niere werden die sauerstoffmangelempfindlichen Tubuli atrophisch, die Glomeruli rücken enger zusammen, und das Interstitium fibrosiert. Die Niere zeigt dabei makroskopisch eine allgemeine Verkleinerung mit glatter Oberfläche (sog. zentralarterielle Kümmeratrophie). Morphologie der Schocknieren siehe Kap. 7.10.3 und 36.6.1.

Abb. 36-26 Akuter Niereninfarkt mit einem hämorrhagischen Randsaum.

Der anämische Niereninfarkt zeigt eine gelbliche Farbe.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Der Niereninfarkt bewirkt einen akuten Flankenschmerz sowie eine Hämaturie. Bei embolischer Ursache ergeben sich eventuell Zeichen auf das Grundleiden (Mitral-, Aortenklappen- und andere Herzerkrankungen), und/oder es treten weitere Embolien im großen Kreislauf auf. Die zentralarterielle „Kümmeratrophie“ hat eine renale Hypertonie zur Folge.

36.8.2

Venöse Störungen

Stauungsnieren Die Stauungsnieren werden durch eine venöse Einflussstauung vor dem rechten Herzen, meist infolge Rechtsherzversagens, hervorgerufen. Die Nieren erscheinen dabei vergrößert, blutreich mit einer dunkelblauroten Verfärbung des Marks.

Hämorrhagische Niereninfarzierung Die dabei auftretenden Veränderungen werden durch eine Thrombose in Nierenvenen ausgelöst. Je nach Lokalisation der Thrombose kommt es zu einer unterschiedlich ausgeprägten hämorrhagischen Niereninfarzierung.

36.8.3

Systemisch bedingte Zirkulations störungen

Systemisch bedingte Kreislaufstörungen (Kreislaufschock) führen zu sog. Schocknieren mit akutem ischämischem Nierenversagen (siehe Kap. 7.10.3 und 36.6.1).

36.9

Gefäßerkrankungen

Folgende Gefäßerkrankungen können sich in der Niere manifestieren: ■ Atherosklerose ■ Arteriolosklerose ■ Arteriolonekrose ■ thrombotische Mikroangiopathie ■ Wegener-Granulomatose ■ Sklerodermie (siehe Kap. 47.1.5) ■ Panarteriitis nodosa (siehe Kap. 20.2.1).

36.9.1

Atherosklerose (Arteriosklerose)

Im Rahmen einer allgemeinen Atherosklerose können vorwiegend bei älteren Patienten der Hauptstamm der A. renalis (zentrale Nierenatherosklerose) und/oder intrarenale Arterienäste (periphere Nierenatherosklerose) betroffen sein.

Pathogenese Die zentrale und/oder periphere Nierenarteriensklerose hat die gleichen Risikofaktoren und Entstehungsmechanismen wie die allgemeine Atherosklerose (siehe Kap. 20.2.1).

Morphologie Eine stenosierende zentrale Nierenatherosklerose führt zur sog. zentralarteriellen Schrumpfniere (siehe Kap. 36.8.1). Dabei sind die Glomeruli histologisch weitgehend normal, während die Tubuli hochgradig atrophisch sind und das Interstitium eine diffuse Fibrose aufweist. Die juxtaglomerulären Apparate sind hyperplastisch. Eine periphere Atherosklerose führt zu Niereninfarkten und zu unregelmäßigen trichterförmigen Narben (Abb. 36-27). Histologisch sieht man eine stenosierende intimale Fibroelastose in den peripheren Nierenarterien. Bei simultanem Befall von Arterien und Arteriolen treten die geschilderten Befunde nebeneinander auf (Athero-Arteriolosklerose).

Abb. 36-27

Athero-Arteriolosklerose der Niere

mit unterschiedlich großen Infarktnarben (Pfeile) sowie rötlicher granulärer Oberfläche.

Klinisch-pathologische Korrelationen Durch eine chronische zentrale und/oder periphere renale Minderdurchblutung bei den unterschiedlichen Formen der Athero-Arteriolosklerose der Nieren kommt es über den sog. Goldblatt-Mechanismus zu einer renalen Hypertonie, die ihrerseits die bereits vorliegenden Gefäßveränderungen weiter verstärkt.

36.9.2

Arteriolosklerose

Definition Eine Hyalinose der Nierenarteriolen wird als Arteriolosklerose (benigne Nephrosklerose) bezeichnet. Sind nur die Arteriolen befallen, spricht man von der kompensierten Form der benignen Nephrosklerose; liegen daneben auch sekundäre glomeruläre Sklerosen vor, handelt es sich um die dekompensierte Form der benignen Nephrosklerose.

Pathogenese

Die Arteriolosklerose ist im Wesentlichen Folge einer arteriellen Hypertonie.

Morphologie

Eine Arteriolosklerose ist durch hyaline stenosierende Verdickungen der Arteriolenwand gekennzeichnet, die durch eine nachfolgende chronische Ischämie zur Atrophie der zugehörigen Nephrone führen. Die entstehenden winzigen Narben verleihen den Nieren eine fein granulierte rote Oberfläche, sodass bei vaskulärer Schrumpfnierenbildung von einer sog. roten Granularatrophie gesprochen wird.

Klinisch-pathologische Korrelationen In der Regel bestehen eine primäre und/oder sekundäre Hypertonie. Bei fortgeschrittenen Gefäßveränderungen mit sekundären glomerulären Sklerosen, Tubulusatrophie und interstitieller Fibrose ist eine chronische Niereninsuffizienz mit Urämie möglich (dekompensierte benigne Nephrosklerose).

36.9.3

Arteriolonekrose

Die seltene Nekrose der Nierenarteriolen tritt vorwiegend bei Patienten vor dem 50. Lebensjahr im Gefolge einer malignen Hypertonie mit diastolischen Blutdruckwerten über 125 mmHg auf.

Pathogenese Bei einer malignen Hypertonie kommt es durch die lokale Blutdruckeinwirkung auf die Arteriolenwände akut zu einer Nekrose der Arteriolen, die auf die Glomeruli übergreifen kann.

Morphologie Die Nieren sind meist normal groß und zeigen Blutpunkte auf der Oberfläche. Die eigentliche Arteriolonekrose ist kenntlich an fibrinoiden arteriolären Nekrosen, die sich bis in die hilären Abschnitte der Glomeruli erstrecken. Im Gefolge der Gefäßwandläsionen treten in der Frühphase fibrinreiche Thromben sowie fibrinoide Wandnekrosen der Interlobulararterien und afferenten Arteriolen auf. In der Spätphase kommt es zu einer obliterierenden arteriolären Fibrose und Sklerose sowie zu einer zwiebelschalenartigen stenosierenden intimalen Fibroelastose in den Interlobulararterien.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die Klinik ist durch eine maligne Hypertonie mit systolischen Blutdruckwerten weit über 200 und diastolischen über 125 mmHg sowie durch Zeichen eines Nierenversagens gekennzeichnet.

36.9.4

Thrombotische Mikroangiopathie

Definition Thrombosen und/oder Nekrosen der Nierenarteriolen und Glomeruli in Kombination mit akutem Nierenversagen, hämolytischer Anämie und Thrombozytopenie kennzeichnen die unterschiedlichen Formen der seltenen renalen thrombotischen Mikroangiopathie: ■

hämolytisch-urämisches Syndrom des Kindesalters (HUS-K)



hämolytisch-urämisches Syndrom des Erwachsenen (HUS-E)



thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP).

Ätiologie und Pathogenese

Das HUS-K entsteht bei Kindern vor dem 4. Lebensjahr im Gefolge unterschiedlicher Infekte über eine Endothelschädigung mit disseminierter intravasaler Gerinnung in den Nierenarteriolen. Damit einher gehen eine mikroangiopathische hämolytische Anämie mit Auftreten sog. Fragmentozyten (fragmentierte Erythrozyten) im Blut, eine Thrombozytopenie und ein (renal ausgelöstes) akutes Nierenversagen mit Urämie. Obwohl die Ätiologie

unterschiedlich sein kann, ist der gemeinsame Pathomechanismus ein Endothelschaden mit intravasaler Gerinnung. Bei 75% dieser Patienten ließ sich eine Infektion mit Verozytotoxin-produzierenden E. coli nachweisen, sodass Verozytotoxin über einen Endothelschaden mit intravasaler Gerinnung ein HUS-K auslösen kann. Das HUS-E kommt häufiger bei Frauen vor. Ätiologisch werden wiederum unterschiedliche Infekte, aber auch Schwangerschaftskomplikationen sowie Ovulationshemmereinnahme mit Endothelschaden und Mikrothrombosen vermutet. Die Erkrankung kann auch gelegentlich bei einer komplikationslosen Schwangerschaft auftreten. Pathogenetisch bestehen keine Unterschiede zum HUSK. Die TTP ist ebenfalls selten und betrifft bevorzugt das weibliche Geschlecht zwischen dem 10. und 40. Lebensjahr. Die Ätiologie ist unklar. Pathogenetisch liegen ähnliche Gegebenheiten vor wie beim HUS, nur ist die Erkrankung nicht auf die Nieren beschränkt, sondern geht mit Hautblutungen und ZNS-Beteiligung auf gleichfalls mikroangiopathischer Grundlage einher.

Morphologie Bei allen drei Formen stehen histologisch im Frühstadium Mikrothromben im Vordergrund. Bei HUS-E können darüber hinaus fibrinoide Arteriolonekrosen auftreten, ohne dass eine maligne Hypertonie vorbesteht. Im fortgeschrittenen Stadium der thrombotischen Mikroangiopathie finden sich arterioläre und glomeruläre Sklerosen, eine stenosierende Fibroelastose in Interlobulararterien sowie eine Tubulusatrophie und interstitielle Fibrose.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Akutes Nierenversagen, hämolytische Anämie und Thrombozytopenie stehen beim HUS-K und HUS-E im Vordergrund. Bei TTP imponieren daneben Hautblutungen und unterschiedliche neurologische Syndrome. Die Klinik ist durch einen plötzlichen Beginn mit Hämaturie, schwerer Oligurie, hämolytischer Anämie und in 50% durch eine maligne Hypertonie gekennzeichnet. Die Letalität liegt heute bei etwa 20%. Die chronischen Veränderungen beim HUS führen zur terminalen Niereninsuffizienz mit Dialysepflicht. 75% der Patienten mit TTP sterben innerhalb von 3 Monaten vorwiegend an der ZNS-Beteiligung.

36.9.5

Wegener-Granulomatose

Definition Diese seltene Erkrankung besteht in einer fortschreitenden nekrotisierenden granulomatösen Gefäßerkrankung des oberen Respirationstraktes und weiterer Organe. Sie befällt vorwiegend Männer im mittleren und höheren Lebensalter.

Pathogenese

Es handelt sich um eine generalisierte Vaskulitis durch zirkulierende Immunkomplexe bei teilweise unbekanntem auslösendem Antigen. Diagnostisch und pathogenetisch spielen antineutrophile zytoplasmatische Antikörper (ANCA) eine Rolle (siehe auch Kap. 20.2.1). Bei der Nierenbeteiligung liegt die Kombination einer Immunkomplexvaskulitis und -glomerulonephritis vor.

Morphologie

Makroskopisch sind die Nieren nicht charakteristisch verändert. Histologisch zeigen die Arterien eine nekrotisierende und proliferierende Entzündung, die auch in anderen Organen gefunden wird. Weiterhin besteht eine sekundäre fokale und segmentale nekrotisierende Pauci-Immunkomplex-Glomerulonephritis mit extrakapillären Halbmonden und lymphozytärer Periglomerulitis.

Differentialdiagnose Die klinisch-pathologisch zuweilen schwierige differentialdiagnostische Abgrenzung von einem Goodpasture-Syndrom ist durch den immunhistologischen Nierenbefund möglich. Dabei weist die Goodpasture-GN ein lineares Ablagerungsmuster der zytotoxischen Antikörper, die Wegener-GN eine geringgradige („pauci“) granuläre Ablagerung der Immunkomplexe an den glomerulären Basalmembranen auf (siehe auch Kap. 36.5.1).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Im Mittelpunkt stehen aufgrund des Befalls des oberen Respirationstraktes chronisches bzw. rezidivierendes Nasenbluten; herdförmige und diffuse Lungenveränderungen, kombiniert mit einem rapid progressiven nephritischen Syndrom, sind Hinweiszeichen auf eine Wegener-Granulomatose mit Nierenbeteiligung, die durch immunologische und bioptische Zusatzuntersuchungen gesichert werden muss. Dabei kommt dem Nachweis antineutrophiler zytoplasmatischer Antikörper (ANCA) eine besondere diagnostische Bedeutung zu. Die Erkrankung schreitet trotz immunsuppressiver Behandlung häufig fort, sodass die Prognose auch heute noch meist infaust ist.

36.10 Schrumpfnieren Definition Ein fortschreitender Gewebeverlust der Niere führt zur Schrumpfniere. Von einer Schrumpfniere spricht man, wenn das Gewicht einer Erwachsenenniere unter 80 g liegt.

Ätiologie und Pathogenese Schrumpfnieren entstehen durch einen zunehmenden Verlust von Nephronen und/oder durch eine diffuse interstitielle Fibrose mit Tubulusatrophie. Nach ihrer Ursache unterscheidet man entzündliche und vaskuläre von sonstigen Schrumpfnieren. Bei Endstadium-Schrumpfnieren von Patienten mit chronischer Hämodialysebehandlung oder erfolgreicher Nierentransplantation ist häufig die Ursache morphologisch nicht mehr bestimmbar.

Morphologie

Für die pathomorphologische Diagnostik entscheidend ist der histologische Befund. Die folgenden makroskopischen Befunde sind dagegen nur eingeschränkt verwertbar: ■ Gleichmäßig granulierte Schrumpfnieren von blasser, graugelber Farbe („blasse Granularatrophie“) sprechen für eine chronische Glomerulonephritis; ■ gleichmäßig granulierte Schrumpfnieren von roter Farbe („rote Granularatrophie“) sprechen für eine arteriolosklerotische Schrumpfniere; ■ unregelmäßig vernarbte Schrumpfnieren können ebenfalls sowohl entzündlich (chronische Pyelonephritis) als auch vaskulär (Arteriosklerose, Infarkte) bedingt sein. Endstadium-Schrumpfnieren weisen häufig eine Masse von weniger als 50 g auf. Sie zeigen sekundär entstandene Zysten und gelegentlich auch Nierenadenome und papilläre Nierenkarzinome. Histologisch muss in Schrumpfnieren nach Zeichen der renalen Grunderkrankung gesucht werden. In ausgeprägten Schrumpfnieren liegen stets eine Verödung von Glomeruli, Tubulusatrophie, interstitielle Fibrose mit Rundzellinfiltration sowie primäre und/oder sekundäre Gefäßveränderungen vor.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die Folge von Schrumpfnieren sind renale Hypertonie und chronische Niereninsuffizienz bis zur Urämie (siehe Kap. 36.2.2). Bei bereits bestehendem dialysepflichtigem chronischem Nierenversagen ist eine histologische Klärung der Schrumpfnierenursache für die klinische Behandlung häufig nicht bzw. nicht mehr unbedingt erforderlich.

36.11 Nierentumoren In der Niere treten benigne und maligne Neoplasien auf. Sie leiten sich von unterschiedlichen Gewebekomponenten ab, wobei epitheliale Tumoren des Nierenparenchyms häufiger als mesenchymale sind. Der häufigste maligne Nierentumor ist im Erwachsenenalter das Nierenzellkarzinom, während das Urothelkarzinom des Nierenbeckens vergleichsweise selten auftritt. Im Kindesalter ist das Nephroblastom (= Wilms-Tumor) der häufigste maligne Nierentumor.

36.11.1

Benigne epitheliale Tumoren

Nierenadenome sind 5–10 mm große, graue oder gelbliche subkapsuläre Tumoren, die multipel auftreten können und häufig Zufallsbefunde bei Autopsien darstellen. Histologisch bestehen sie meist aus papillär oder tubulär angeordneten Epithelzellen. Die Tumorzellen sind monomorph und ohne Zellatypien. Papilläre Nierenadenome sind klinisch bedeutungslos, jedoch lassen sie sich histologisch schwer von kleinen, hochdifferenzierten papillären Nierenkarzinomen unterscheiden. Ein Tumordurchmesser von 1 cm kann als empirische Grenze zwischen Adenomen und papillären Karzinomen mit möglicher metastatischer Potenz angenommen werden. Wegen der relativen Häufigkeit von Nierenadenomen bei Autopsien geht man davon aus, dass nur aus einem kleinen Teil im Rahmen einer Adenom-Karzinom-Sequenz papilläre Nierenkarzinome entstehen. In kleinen papillären Nierenadenomen konnten ähnliche molekulargenetische Veränderungen festgestellt werden wie in papillären Nierenzellkarzinomen. Onkozytome sind benigne epitheliale Tumoren, die über 10 cm Durchmesser erreichen können. Makroskopisch zeigen Onkozytome häufig eine rotbraune Schnittfläche mit zentraler sternförmiger Narbe (Abb. 36-28a). Histologisch bestehen sie aus großen Zellen (Abb. 36-28b) mit einem granulären eosinophilen Zytoplasma (Onkozyt = geschwollene Zelle; von „onkousthai“, griechisch: anschwellen). Elektronenmikroskopisch ist das Zytoplasma mit zahlreichen Mitochondrien ausgefüllt. Obwohl Onkozytome sehr groß werden können, verhalten sie sich benigne und müssen von histologisch ähnlichen chromophoben Nierenzellkarzinomen abgegrenzt werden (siehe Kap. 36.11.2).

36.11.2

Nierenzellkarzinom

Syn.: Nierenkarzinom; Adenokarzinom der Niere

Definition Maligner epithelialer Tumor, der sich von unterschiedlichen Abschnitten des Nierentubulussystems oder den Sammelrohren ableitet. Nierenzellkarzinome durchwachsen infiltrierend das Nierenparenchym und können in Nachbarstrukturen einbrechen (siehe unten). Wegen der Ähnlichkeit der Tumorzellen mit den Zellen der

Nebennierenrinde wurde das Nierenzellkarzinom früher in Unkenntnis seiner Histogenese als „Hypernephrom“ bezeichnet (der Begriff ist heute obsolet). Epidemiologie Nierenkarzinome sind mit einem Anteil von 1–3% aller malignen Tumoren relativ selten. In der Niere des Erwachsenen ist das Nierenkarzinom aber der häufigste maligne Tumor. Die jährliche Neuerkrankungsrate wird in Europa mit 4–5 pro 100000 Einwohner angegeben. In den USA beobachtet man eine steigende Inzidenz. Männer sind 2–3-mal häufiger betroffen als Frauen. 80% aller Nierenzellkarzinome treten zwischen dem 50. und 69. Lebensjahr auf, wobei der Häufigkeitsgipfel um das 60. Lebensjahr liegt. Während die meisten Nierenkarzinome sporadisch (d.h. nicht familiär) vorkommen, gibt es auch familiäre Formen. Letztere sind selten und werden bei jüngeren Patienten diagnostiziert (oft vor dem 40. Lebensjahr). Beim von HippelLindau(VHL)-Syndrom (Nierenkarzinome, Nierenzysten, Phäochromozytome, Hämangioblastome in Kleinhirn und Rückenmark, Angiome der Retina, Pankreaszysten) kommen die Nierenkarzinome oft bilateral und multipel vor und gehören typischerweise zum klarzelligen Tumortyp. Familiäre Nierenkarzinome werden jedoch auch ohne Assoziation zu einem VHL-Syndrom beschrieben.

Ätiologie und Pathogenese

Epidemiologische Untersuchungen haben gezeigt, dass Nikotinabusus, Bluthochdruck und Adipositas Risikofaktoren für die Entstehung von Nierenzellkarzinomen sind. Im Tierexperiment können sie durch aromatische Kohlenwasserstoffe und Amine sowie durch Nitrosamine, Lösungsmittel, Aflatoxine, Östrogene und Bestrahlung ausgelöst werden. Für die Nierenzellkarzinome des Menschen konnten „renale Karzinogene“ bisher jedoch nicht schlüssig bewiesen werden. Bei der Entstehung familiärer Nierenkarzinome spielt die Inaktivierung einzelner Tumorsuppressorgene bzw. die Aktivierung bestimmter Onkogene eine Rolle (siehe unten), wohingegen für Entstehung und Verlauf sporadischer Nierenkarzinome offenbar komplexe genomische Veränderungen verantwortlich sind. Nierenkarzinome metastasieren meist hämatogen nach dem Kava-Typ; oft schon, bevor der Primärtumor bemerkt wird. Bei Autopsien finden sich Metastasen häufig in Lungen (über 75%), Knochen (etwa 40%), Leber (30%), Gehirn (15%) und Nebennieren (20%). Eine lymphogene Metastasierung in die regionären Lymphknoten am Nierenhilus sowie paraaortal und parakaval wird in 20% der Fälle beobachtet. Metastasen eines Nierenkarzinoms können auch noch viele Jahre nach der Tumornephrektomie auftreten.

Morphologie

Makroskopisch liegt das Nierenzellkarzinom üblicherweise als ein einzelner unilateraler Tumor vor, der häufig an den Nierenpolen lokalisiert ist. Zum Zeitpunkt

der Diagnose messen die Tumoren meist 3–15 cm im Durchmesser. Die Schnittfläche ist hellgelb bis grauweiß und zeigt oftmals Nekrosen, Blutungen und Zysten. Dadurch entsteht das charakteristische „bunte“ Bild dieser Tumoren (Abb. 36-28c). Nierenzellkarzinome bilden zum angrenzenden Parenchym teilweise eine Pseudokapsel. Große Tumoren können in das perirenale Fettgewebe, das Nierenbecken oder die Nierenvene einbrechen. In Einzelfällen entstehen Tumorthromben in der V. cava, die bis in den rechten Herzvorhof reichen können. Histologisch unterteilt man die Nierenzellkarzinome in klarzellige, papilläre, chromophobe und Sammelrohrkarzinome (Tab. 36-2).

Klarzelliger Typ Klarzellige Nierenkarzinome sind mit einem Anteil von über 80% der häufigste Nierenkarzinomtyp. Die Tumorzellen haben aufgrund ihres hohen Glykogen- und Lipidgehalts ein helles Zytoplasma und einen pflanzenzellartigen Aspekt (Abb. 3628d). Das klarzellige Nierenkarzinom wächst überwiegend solide, kann jedoch auch ein zystisches Wachstumsmuster aufweisen. Es zeigt immunhistochemisch Differenzierungsmerkmale des proximalen Tubulus, sodass man davon ausgeht, dass sich dieser Tumortyp vom proximalen Tubulussystem ableitet. Die Nierenkarzinome beim VHL-Syndrom sind klarzellige Karzinome.

Tab. 36-2 Histologische Typen und Häufigkeitsraten des Nierenzellkarzinoms. (et al., Böcker. Pathologie, 3.A.. Elsevier GmbH, Urban & Fischer Verlag). Tab.

36-2 Histologische Typen und Häufigkeitsraten des Nierenzellkarzinoms.

Abb. 36-28

Nierentumoren.

a Onkozytom. Charakteristische „rehbraune“ Schnittfläche mit zentraler Narbe. b Onkozytom. Die Tumorzellen zeigen histologisch ein eosinophiles, granuläres Zytoplasma, das dicht mit Mitochondrien angefüllt ist (HE, Vergr. 150fach). c Klarzelliges Karzinom. Gelbe Tumorareale, rote Hämorrhagien, Nekrosen und Zysten. Der Tumor ist teilweise von einer Pseudokapsel begrenzt, wächst jedoch in das perirenale Fettgewebe ein (pT3-Stadium). d Klarzelliges Karzinom. Bestehend aus „pflanzenzellartigen“, in der HEFärbung hellen Zellen, mit dunklen pyknotischen Kernen. Das helle Zytoplasma kommt dadurch zustande, dass Glykogen während der Einbettung aus den Zellkörpern herausgelöst wird. e Papilläres Karzinom. Dieses Karzinom zeigt eine papilläre Struktur mit ein- bis mehrreihigen, eosinophil (rot) anfärbbaren Tumorzellen, die zum Teil reichlich hellbraunes Eisenpigment speichern. Im Stroma dieser Papillen finden sich massenhaft Schaumzellen (Pfeile). f Chromophobes Karzinom. Dieser Tumor zeigt ein feinretikuläres, eosinophiles Zytoplasma mit relativ großen Kernen (typisch sind perinukleäre Aufhellungen). g Klarzelliges Karzinom. Deletion des VHL-Gens auf Chromosom 3p25-26. Der Nachweis wurde mit einer für das Zentromer des Chromosoms 3 spezifischen Probe mit roter Markierung und einer VHL-Gen-spezifischen Probe mit grüner Markierung durch Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) geführt. Die Tumorzellen zeigen zwei Signale für das Zentromer von Chromosom 3 (Normalbefund), aber nur ein Signal für das VHL-Gen. h PapillŠres Karzinom. Trisomie des Chromosoms 17. Fluoreszenz-in-situHybridisierung (FISH) mit einer für Chromosom 17 spezifischen Zentromer-Probe (rot).

Papillärer Typ Die papillären Nierenkarzinome stellen den zweithäufigsten Tumortyp (ca. 10%). Sie können multipel und in Kombination mit papillären Nierenadenomen auftreten. Man findet diesen Tumortyp gehäuft in Endstadium-Schrumpfnieren von HämodialysePatienten. Makroskopisch zeigen papilläre Karzinome oft ausgedehnte zentrale Nekrosen. Histologisch wachsen sie mit tubulären oder papillären Strukturen (Abb. 36-28e). Nach der Beschaffenheit des Zytoplasmas werden sie in basophile und eosinophile Varianten unterteilt. Die Tumorzellen weisen wie die klarzelligen Nierenkarzinome Differenzierungsmerkmale des proximalen Tubulus auf.

Chromophober Typ Das chromophobe Nierenkarzinom ist selten (5%) und zeigt im Gegensatz zum klarzelligen Karzinom ein feingranuläres, nichttransparentes Zytoplasma. Chromophobe Nierenkarzinome bevorzugen ein solides Wachstumsmuster (Abb. 3628f). Die histopathologische Abgrenzung des chromophoben Nierenkarzinoms vom klarzelligen Typ ist klinisch wichtig, da ersteres eine deutlich bessere Prognose hat. Die mikroskopische Differentialdiagnose zum Onkozytom ist gelegentlich schwierig. Onkozytom und chromophobes Nierenkarzinom zeigen Differenzierungsmerkmale des distalen Tubulussystems, sodass sie sich histogenetisch von papillären und klarzelligen Nierenkarzinomen unterscheiden.

Sammelrohrkarzinom Sammelrohrkarzinome (Ductus-Bellini-Karzinome) sind selten (1%). Es handelt sich um sehr aggressiv wachsende Tumoren, die sich vornehmlich in der Markzone aus dem Sammelrohrepithel entwickeln. Die Tumoren zeigen tubuläre Strukturen und eine ausgeprägte Desmoplasie des Tumorstromas. Oftmals werden sarkomartige Areale mit Spindelzellen beobachtet. Eine sarkomatöse Differenzierung kann jedoch auch bei den anderen Tumortypen vorkommen.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die klassische Symptomentrias Makrohämaturie, Flankenschmerz und tastbarer Nierentumor tritt nur bei etwa 10% der Tumoren auf. In den meisten Fällen ist die Hämaturie das klinisch führende Symptom, begleitet von paraneoplastischen Syndromen wie Erythrozytose (aufgrund von Erythropoetinbildung der Tumorzellen), Hyperkalzämie, Hypertonie, Cushing-Syndrom, Eosinophilie und leukämische Reaktionen. Gewichtsverlust, Fieber und Hyperkalzämie weisen auf ein bereits fortgeschrittenes Tumorleiden hin. Die initiale Therapie ist die Nephrektomie. Bei kleinen Tumoren kann eine organerhaltende Tumorenukleation erwogen werden. Die 5-Jahres-Überlebensrate beträgt bei Patienten ohne Metastasen 60–80%, während sie bei Vorliegen von Fernmetastasen auf etwa 10% sinkt. Bei metastasiertem Nierenzellkarzinom ist die palliative Behandlung schwierig, weil der Tumor strahlenunempfindlich ist und kaum auf eine Chemotherapie anspricht. Bei Entfernung des Primärtumors ist teilweise eine Regression von Metastasen beobachtet worden. Die Prognose von Nierenzellkarzinomen wird vor allem vom Tumorstadium zum Diagnosezeitpunkt bestimmt. Die pTNM-Klassifikation der Nierenzellkarzinome ist Tab. 36-3 zu entnehmen. Weitere Prognoseparameter sind der Differenzierungsgrad sowie der histologische Typ. Chromophobe und papilläre Nierenzellkarzinome vom basophilen Typ haben eine günstigere Prognose als klarzellige Karzinome. Eine

sarkomatoide Differenzierung innerhalb der verschiedenen Tumortypen geht mit einem erhöhten Progressionsrisiko einher. Molekularbiologie Bei Nierentumoren besteht eine relativ gute Genotyp-Phänotyp-Korrelation, d.h. es können in den verschiedenen Tumortypen charakteristische molekulare Veränderungen nachgewiesen werden. Wichtige Erkenntnisse zur Molekularbiologie der Nierenkarzinome wurden aus der Untersuchung genetischer Veränderungen bei Patienten mit VHL-Syndrom abgeleitet. Das für die Entstehung des VHL-Syndroms verantwortliche Tumorsuppressorgen befindet sich auf dem kurzen Arm von Chromosom 3 (3p25-26). Nierenkarzinome bei VHL-Syndrom weisen Mutationen und Deletionen dieses Tumorsuppressorgens auf. Interessanterweise gibt es auch bei 50– 70% der sporadischen klarzelligen Nierenkarzinome Mutationen des VHL-Gens und/oder Allelverluste auf Chromosom 3p (Abb. 36-28g). Man vermutet, dass neben dem VHL-Gen auch andere Gene auf Chromosom 3p für die Entstehung sporadischer klarzelliger Nierenkarzinome von Bedeutung sein können.

Tab. 36-3 pTNM-Klassifikation der Nierenzellkarzinome. ■ T-Primärtumor T1 Tumor auf die Niere begrenzt, ≤7,0 cm in größter Ausdehnung T1a Tumor 4,0 cm oder weniger in größter Ausdehnung T1b Tumor mehr als 4,0 cm, aber nicht mehr als 7,0 cm in größter Ausdehnung T2 Tumor auf die Niere begrenzt, > 7,0 cm in größter Ausdehnung T3 Tumor breitet sich in größere Venen aus und/oder infiltriert Nebenniere oder perirenales Gewebe, jedoch nicht über die Gerota-Faszie (Fascia renis) hinaus T3a Tumor infiltriert direkt Nebenniere oder perirenales Gewebe, aber nicht über die Gerota-Faszie hinaus

T3b Tumor mit makroskopischer Ausbreitung in Nieren-vene(n) oder V. cava (einschließlich Wandbefall) unterhalb des Zwerchfells T3c Tumor mit makroskopischer Ausbreitung in V. cava (einschließlich Wandbefall) oberhalb des Zwerchfells T4 Tumor wächst über die Gerota-Faszie hinaus ■ N-Regionäre Lymphknoten N0 Keine regionären Lymphknotenmetastasen N1 Metastasen in einem regionären Lymphknoten N2 Metastasen in mehr als einem regionären Lymphknoten ■ M-Fernmetastasen MX Fernmetastasen nicht beurteilbar M0 Keine Fernmetastasen M1 Fernmetastasen In papillären Nierenkarzinomen können zytogenetisch Polysomien (Trisomien, Tetrasomien) der Chromosomen 7 und 17 (Abb. 36-28h) sowie Verluste des YChromosoms nachgewiesen werden. Im Rahmen der Tumorprogression treten zu diesen Veränderungen andere chromosomale Veränderungen hinzu. Mutationen des MET-Protoonkogens auf Chromosom 7q sind für die Entstehung von familiären papillären Nierenkarzinomen verantwortlich, werden jedoch nicht bei sporadischen papillären Nierenkarzinomen gefunden. Bei Onkozytomen und chromophoben Nierenkarzinomen bestehen Veränderungen der mitochondrialen DNA. Während nur ein Teil der Onkozytome Aberrationen einzelner Chromosomen aufweist, finden sich bei chromophoben Nierenkarzinomen Verluste

(Monosomien) zahlreicher Chromosomen. Die molekularen Veränderungen in den seltenen Sammelrohrkarzinomen sind noch unzureichend charakterisiert.

36.11.3

Nierenbeckenkarzinom

Syn.: Urothelkarzinom des Nierenbeckens

Definition Karzinom des Nierenbeckenepithels, das meist langsam papillär in das Nierenbecken hineinwächst, aber auch solide das Nierenparenchym infiltrieren kann.

Ätiologie und Pathogenese

Karzinome des Nierenbeckens entstehen bei Patienten mit Nephrolithiasis und Pyonephrose im Gefolge einer chronischen fortdauernden Pyelitis mit Hyperregeneration, Plattenepithelmetaplasien und Dysplasien des Urothels. Weiterhin besteht bei Phenazetinabusus mit manifester Analgetikanephropathie ein mehrfach erhöhtes Risiko für Karzinome der ableitenden Harnwege. Dabei ist besonders das Nierenbecken betroffen, was auf eine zunehmende Inaktivierung der karzinogenen Analgetikaabbausubstanzen mit dem Harnfluss hinweist. Chemische Kanzerogene (β-Naphthylamin, Benzidin u.a.) spielen eine Rolle bei der Entstehung der Urothelkarzinome, dabei aber eher für das Harnblasenkarzinom (siehe Kap. 37.6.3) als für das Nierenbeckenkarzinom.

Morphologie Makroskopisch liegen in der Regel papilläre, exophytisch wachsende Tumoren im Nierenbeckenkelchsystem vor, die schmal oder breitbasig aus dem Urothel hervorgehen. Mit zunehmender Entdifferenzierung wachsen sie schleimhautüberschreitend in das Nierengewebe ein, brechen in Gefäße ein und können metastasieren. Mikroskopisch handelt es sich meistens um papilläre Urothelkarzinome aller Differenzierungsgrade. Plattenepithelkarzinome entstehen metaplastisch aus dem Urothel, besonders im Gefolge chronischer Entzündungen des Nierenbeckens.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Männer erkranken doppelt so häufig wie Frauen. Ausgenommen ist die Analgetikanephropathie, die bei beiden Geschlechtern gleich häufig durch ein Nierenbeckenkarzinom kompliziert wird. Das Leitsymptom papillärer Urothelkarzinome ist die Hämaturie. Nekrosepartikel können zu Ureterkoliken und zu einseitiger Harnstauung führen. Einbrüche in Nierenvenenäste verursachen hämatogene Karzinommetastasen in der Lunge. Da Nierenbeckenkarzinome langsam wachsen und dadurch häufig spät entdeckt werden, ist bei fortgeschrittenen

Fällen mit hohem Malignitätsgrad (Grad 3) die Prognose hinsichtlich Rezidiven, Metastasen und Patientenüberleben ungünstig.

36.11.4

Nephroblastom

Syn.: Wilms-Tumor Dieser maligne embryonale Mischtumor der Niere kommt am häufigsten bei Kindern vor und wird deshalb in Kap. 40.7.2 beschrieben.

36.11.5

Mesenchymale Tumoren

Angioleiomyolipome sind von unterschiedlicher Größe und bestehen aus Fettgewebe, Blutgefäßen und glatter Muskulatur. Sie verhalten sich gutartig, können aber in bis zu 50% der Fälle mit einer tuberösen Hirnsklerose (Morbus Bourneville-Pringle) einhergehen (siehe Kap. 9.13.3). Im Nierenparenchym kommen Leiomyome als gutartige und unterschiedliche Sarkome als seltene bösartige mesenchymale Tumoren vor. Im Nierenbecken sind Leiomyome, Neurofibrome und Neurinome genauso selten wie Leiomyosarkome, maligne fibröse Histiozytome und Plasmozytome.

36.11.6

Metastasen

Nierenmetastasen werden autoptisch 2–3-mal so häufig wie primäre Nierenkarzinome gefunden. Sie verursachen aber meistens keine klinischen Symptome und stellen einen Zufallsbefund bei der Obduktion dar. Bronchial- und Mammakarzinome sind dabei die häufigsten Primärtumoren.

36.12 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Nierenkrankheiten Die Beschreibung der Nierenkrankheiten geht auf den englischen Arzt Richard Bright (1789–1858) zurück. Seine Erkenntnisse waren in klassischer Weise nur durch den Vergleich der von ihm beobachteten klinischen Symptome und Syndrome mit den gleichfalls von ihm erhobenen pathomorphologischen Sektionsbefunden der Niere möglich (sog. Bright-Krankheit). Die heute übliche perkutane Nierenbiopsie hat zu einer Revolution der intravitalen Diagnostik von Nierenerkrankungen geführt. Dazu gewinnt der Arzt mittels Punktionsbiopsie vom Patienten einen etwa 2 cm langen, stricknadeldicken Nierengewebezylinder, der je nach diagnostischer Fragestellung histologisch, immunhistochemisch und elektronenmikroskopisch untersucht wird. Auf diese Weise sind alle Glomerulonephritiden und Glomerulopathien für eine angepasste Behandlung gut zu diagnostizieren und hinsichtlich ihres Verlaufs zu beurteilen. Gleiches gilt für die Erkennung der Ursache und Prognose von Funktionsstörungen auf dem Boden tubulärer,

interstitieller und vaskulärer Nierenerkrankungen. Das Vorliegen und das Ausmaß eines Tubulusschadens mit akutem Nierenversagen werden mikroskopisch gesichert, um andere differentialdiagnostisch mögliche Nierenkrankheiten auszuschließen. Eine medikamentös ausgelöste akute interstitielle Nephritis mit akutem Nierenversagen lässt sich durch die Nierenbiopsie klären. Spezielle Gefäßerkrankungen (thrombotische Mikroangiopathie, Wegener-Granulomatose u.a.) werden bei Nierenbeteiligung ebenfalls durch die Biopsie erkannt. Bei klinisch unklaren Raumforderungen in der Niere beeinflusst die histopathologische Diagnose das operative Vorgehen und veranlasst bei malignen Tumoren die teilweise oder vollständige Nierenentfernung (Nephrektomie). Die histologische Typisierung der Nierenzellkarzinome ist hinsichtlich möglicher Rezidive und Metastasen sowie des Patientenüberlebens von prognostischer Bedeutung. Neben der für die unmittelbare weitere Behandlung notwendigen Diagnostik an Nierenbiopsien (auch an Transplantatnierenbiopsien; siehe Kap. 50.5.1) obliegt dem Pathologen naturgemäß auch die morphologische Untersuchung von allen bei Operationen und Sektionen entfernten Nieren und Nierengeweben mit entsprechendem klinischem Erkenntnisgewinn.

Literatur

Churg, J., J. Bernstein, R.J. Glassock (eds.): Renal Disease. Classification and Atlas of Glomerular Diseases. 2nd ed. Igaku-Shoin, Tokyo–New York 1995. Helmchen, U., G.E. Schubert: Niere. In: Remmele, W. (Hrsg.): Pathologie. 2. Aufl., Band 5. Springer, Berlin–Heidelberg–New York 1997. Jennette, J.C., J.L. Olson, M.M. Schwartz, F.G. Silvia (eds.): Heptinstall's Pathology of the Kidney. 5th ed. Vol. I–II. Lippincott-Raven, Philadelphia–New York 1998. Störkel, S.: Tumoren der Niere. In: Remmele, W. (Hrsg.): Pathologie. 2. Aufl., Band 5. Springer, Berlin–Heidelberg–New York 1997. Tisher, C.C., B.M. Brenner: Renal Pathology with Clinical and Functional Correlations. 2nd ed. Vol. I–II. J.B. Lippincott, Philadelphia 1994. Internet Renal Pathology Index: http://www.medlib.med.utah.edu/WebPath/RENAHTML/RENALIDX.html

FRAGEN 1 Welches sind die Hauptfunktionen der normalen Niere? 2 An welchen vier morphologischen Grundstrukturen der Niere treten die histopathologischen Veränderungen bei den einzelnen Nierenerkrankungen auf? 3 Welches sind die vier häufigsten Erkrankungen, die zur chronischen Niereninsuffizienz und damit zu einer Nierenersatztherapie (Dialyse, Nierentransplantation) führen? 4 Welche schweren Auswirkungen hat eine Urämie auf den Gesamtorganismus? 5 Welches sind die beiden Hauptformen von Zystennieren und welchen Erbgang haben sie? 6 Welches sind die beiden immunpathogenetischen Hauptformen der Glomerulonephiritis? Welche Antigene sind dabei beteiligt? 7 Welches sind die fünf von der WHO definierten klinischen Syndrome der Glomerulonephritis? 8 Nennen Sie die histologischen Typen der primären Glomerulonephritiden und ihre wesentlichen mikroskopischen Befunde. 9 Welche Nierenerkrankungen verursachen ein nephrotisches Syndrom? 10 Nennen Sie die beiden Hauptformen des akuten Nierenversagens und ihre Ursachen. 11 Wie wird die Pathogenese des akuten Nierenversagens erklärt? 12 Welche Ursache und welche Pathogenese haben die akute und die chronische Pyelonephritis? 13 Welche Ursachen, Befunde und Folgen hat die Analgetikanephropathie? 14 Welche Gefäßerkrankungen kommen in der Niere vor, und welche renalen morphologischen Veränderungen treten dabei auf? 15 Welches sind die drei häufigsten malignen Tumoren der Niere? 16 Welche sind die Indikationen zur morphologischen Untersuchung der in diesem Kapitel beschriebenen Krankheiten? Welche Untersuchungen sind

indiziert? Welchen Beitrag können diese Untersuchungen zur präzisen Diagnostik und zur Planung der Therapie leisten?

38 Männliche Geschlechtsorgane G. MIKUZ 38.1

Hoden 876

38.1.1

Anatomischer Aufbau, embryonale Entwicklung und Funktion 876

38.1.2

Entwicklungsstörungen 876

Hermaphroditismus (Intersexualität) und Gonadendysgenesie 876 Lageanomalien: Kryptorchismus und Ektopie 877 38.1.3

Kreislaufstörungen 878

Torsion 878 Varikozele 878 Atherosklerose und Arteriitis 879 38.1.4

Hodenentzündung (Orchitis) 879

Infektiöse Orchitis 879 Allergische Orchitis 880 38.1.5

Hypogonadismus (männliche Infertilität) 881

Prätestikulärer Hypogonadismus 881 Testikulärer Hypogonadismus 882 Posttestikulärer Hypogonadismus 883 38.1.6

Hodentumoren 884

Keimzelltumoren 885 Tumoren des Gonadenstromas 889 Keimzellen-Stroma-Mischtumoren 890 Sonstige Tumoren 890 38.2

Nebenhoden, Samenleiter, Samenstrang, Hodenhüllen 890

38.2.1

Anatomie und Embryologie 891

38.2.2

Fehlbildungen 891

38.2.3

Spermatozele, Hydrozele 891

38.2.4

Entzündungen 891

Epididymitis, Deferentitis, Funikulitis 891 Spermagranulom 892 38.2.5

Paratestikuläre Tumoren 892

Adenomatoid-Tumor 892 Rhabdomyosarkom 892 38.3

Samenblase 892

38.3.1

Anatomie und Embryologie 893

38.3.2

Nichtneoplastische Erkrankungen 893

38.3.3

Tumoren 893

38.4

Prostata 893

38.4.1

Anatomie und Embryologie 893

38.4.2

Prostatitis 893

38.4.3

Prostatahyperplasie (PH) 894

38.4.4

Tumoren 895

Prostatische intraepitheliale Neoplasie (PIN) 895 Prostatakarzinom 895 38.5

Penis und Skrotum 898

38.5.1

Anatomie und Embryologie 898

38.5.2

Entwicklungsstörungen 898

38.5.3

Zirkulationsstörungen 898

38.5.4

Unspezifische Entzündungen und venerische Infektionen 899

38.5.5

Tumoren 899

Condyloma acuminatum 899 Intraepitheliale Neoplasie und Peniskarzinom 899 Sonstige Neoplasien 899 38.6 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Krankheiten der männlichen Geschlechtsorgane 900 Literatur 900 Fragen 901

Zur Orientierung Die männlichen Geschlechtsorgane dienen der Fortpflanzung und somit der Arterhaltung. Ein normaler anatomischer Auf-bau und intakte übergeordnete Regulations- und Kontrollmechanismen sind dafür eine unabdingbare Voraussetzung. In diesem Kapitel werden die verschiedensten Krankheiten dargestellt, die diese Funktion stören können. Im Kindesalter sind es vor allem Fehlbildungen und Entwicklungsstörungen, welche die Fruchtbarkeit im Erwachsenenalter beeinträchtigen. Das Spektrum reicht von leicht behandelbaren Lageanomalien des Hodens bis zu komplexen Störungen der Geschlechtsdifferenzierung, die – wenn überhaupt – nur durch wiederholte chirurgische Eingriffe und Hormonsubstitution korrigiert werden können. Beim jungen Mann ist, von venerischen Infektionen des Penis abgesehen, der Hoden am häufigsten von Krankheiten betroffen. Samenbildungsstörungen sind Ursache für fast die Hälfte der ungewollt kinderlosen Ehen. Die Keimzelltumoren des Hodens, die eine morphologische Vielfalt und eigenartige Histogenese aufweisen, verliefen noch vor wenigen Jahren tödlich, zählen heute jedoch zu den potentiell heilbaren Tumoren. Im reifen Alter des Mannes tritt häufig eine gutartige Vergrößerung der Prostata auf. Die Behandlung dieser ein-fachen Hyperplasie, deren Ätiopathogenese unklar ist, kostet z.B. in den Vereinigten Staaten mehr als 2 Milliarden US-$ pro Jahr und wird immer mehr zu einem Problem der Gesundheitsökonomie. Wegen des gestiegenen Durchschnittsalters steigt auch die Häufigkeit von Prostatakarzinomen. Trotz gewaltiger wissenschaftlicher Anstrengungen bleibt die Ätiopathogenese des Prostatakarzinoms unklar. Mit der serologischen Bestimmung des prostataspezifischen Antigens (PSA) wurde ein einfaches Durchmusterungsverfahren (Screening) entwickelt, mit dem Prostatakarzinome in einem früheren Stadium entdeckt und behandelt werden können. Die Behandlung beruht auf der bioptischen bzw. pathohistologischen Bestätigung und prognostischen Bewertung des Karzinoms.

38.1

Hoden

Der reife postpubertale Hoden besteht aus zwei Funktionskomponenten: aus den Tubuli seminiferi, in denen die Samenproduktion (Spermatogenese) stattfindet, und aus den zwischen den Tubuli gelegenen, perivaskulär in Gruppen angeordneten LeydigZwischenzellen, die männliche Sexualhormone synthetisieren (Androgenese). Hoden und Hypophyse bilden ein gegenseitiges Steuerungssystem, die Hypophysen-Gonaden-Achse. Erkrankt eines der Organe, hat dies morphologische und/oder funktionelle Veränderungen des anderen zur Folge. Exo- und endogene Noxen schädigen zuerst die Spermatogenese und beeinträchtigen in der Folge die Fertilität (Impotentia generandi, Zeugungsunfähigkeit). Werden die Leydig-Zellen in beiden Hoden zerstört, kommt es auch zu einer androgenmangelbedingten Impotentia coeundi (Unfähigkeit, den Beischlaf zu vollziehen). Bei Hypophysenerkrankungen sind meist beide Funktionen gestört.

38.1.1 Anatomischer Aufbau, embryonale Entwicklung und Funktion Die primitiven Gonaden entstehen aus dem Zölomepithel und erscheinen beim etwa 30– 32 Tage alten Embryo als paarig angelegte Genitalleisten, die beiderseits zwischen der Urniere und dem Mesenterium liegen (Abb. 38-1). Die Urkeimzellen liegen zuerst in der Wand des Dottersacks nahe der Allantois, und die meisten wandern von dort in die Genitalleiste. Ab der achten Schwangerschaftswoche beginnt die Differenzierung von Keimzellen, die gut abgegrenzte Zellstränge (Anlagen der späteren Tubuli seminiferi) bilden. Die Stränge werden von der neu gebildeten Tunica albuginea von der Oberfläche der Hodenanlage getrennt. Durch Vermehrung von primitiven Keimzellen (Gonozyten) und Stützzellen (Sertoli-Zellen) entstehen die primitiven Hodenkanälchen. Die SertoliZellen und die Leydig-Zellen entwickeln sich wahrscheinlich aus einem spezialisierten gonadalen Stroma. Die fetalen Leydig-Zellen beginnen ab der zwölften Schwangerschaftswoche Testosteron und die Sertoli-Zellen das „Anti-Müller-GangHormon“ (AMH) zu produzieren. Testosteron sorgt für die Weiterentwicklung des Wolff-Ganges, aus dem sich sowohl der Nebenhoden (Ductus epididymidis) als auch der Ductus deferens entwickeln. AMH hingegen induziert die Rückbildung der MüllerGänge, aus denen bei der Frau beide Tuben und der Uterus entstehen.

Abb. 38-1 Schematische Darstellung der Hodenentwicklung.

Aus der Urniere entwickelt sich zunächst eine indifferente, nicht geschlechtsdeterminierte Gonade (links: 5.–6. Entwicklungswoche), die nur weiter zum Hoden differenziert, wenn das Y-Chromosom (SRY-Gen) vorhanden ist. Durch Einwachsen des Urnierenganges (Wolff-Gang) in den Hodenhilus entsteht die Verbindung zum Nebenhoden, der ebenfalls aus dem Urnierengang entsteht (rechts: 8. Entwicklungswoche). Der nicht dargestellte Müller-Gang verläuft parallel zum Wolff-Gang und mündet ebenfalls in der Kloake. Im siebten Entwicklungsmonat beginnt der Hoden mit dem Deszensus durch den Inguinalkanal und erreicht zum Zeitpunkt der Geburt das Skrotum. Dieser Deszensus wird durch einen mesenchymalen Strang (Gubernaculum) begünstigt, der den kaudalen Pol des Hodens mit dem Skrotum verbindet. Der Hoden gleitet entlang der Aussackung des Peritoneums (Processus vaginalis) in das Skrotum. Die Verbindung zwischen Abdomen und Skrotum obliteriert kurz vor der Geburt. Aus dem im Skrotum verbliebenen Peritoneumrest entsteht die Tunica vaginalis testis. Im postpubertalen Hoden entstehen aus einem Spermatogonium jeweils 16 Spermatozoen mit haploidem Chromosomensatz. Die Ausreifung erfolgt in 72–74 Tagen. Die Sertoli-Zellen, die zwischen den Spermatogonien liegen, bilden gemeinsam

mit der Tubuluswand die sog. Blut-Testis-Schranke (BTS), die nur für Flüssigkeit und Ionen durchgängig ist. Diese Schranke ist für immunkompetente Zellen und Immunglobuline unpassierbar. Sertoli-Zellen produzieren das androgenbindende Protein sowie die Hormone Östradiol und Inhibin. Die Leydig-Zellen synthetisieren Testosteron, in geringeren Mengen aber auch Östrogen. Über Rückkopplungsmechanismen wird die Sekretion von LH und FSH durch die Hypophyse angeregt. LH stimuliert die Testosteronproduktion in den LeydigZellen, FSH stimuliert präpubertal das Tubuluswachstum, postpubertal die Spermatogenese. Über den Testosteronspiegel im Blut wird die LH-Sekretion geregelt. Die Steuerung der FSH-Sekretion erfolgt über das Polypeptidhormon Inhibin.

38.1.2

Entwicklungsstörungen

Hermaphroditismus (Intersexualität) und Gonadendysgenesie Definition und Epidemiologie Als (Pseudo-) Hermaphroditismus bezeichnet man jene Störungen der Geschlechtsdifferenzierung, bei denen die genotypisch ausdifferenzierte Gonade mit phänotypisch gegengeschlechtlichen oder undeutlich entwickelten äußeren Geschlechtsorganen kombiniert ist. Man unterscheidet den Hermaphroditismus verus, bei dem sowohl Ovarien als auch Hoden vorliegen, vom PseudoHermaphroditismus masculinus oder femininus, bei denen jeweils Hoden bzw. Ovarien als einzige Gonaden vorliegen. Die wichtigsten Erscheinungsformen sind in Tab. 38-1 zusammengefasst.

Tab. 38-1 Klinische und pathologische Daten des Hermaphroditismus verus, des männlichen Pseudohermaphroditismus und der Gonadendysgenesie. Unter dem Begriff Gonadendysgenesie werden vorwiegend genetisch bedingte Erkrankungen zusammengefasst, bei denen keine Gonaden, sondern Gonadenstränge (Streaks) kombiniert mit undeutlich ausgebildeten Geschlechtsorganen vorkommen. Diese Erkrankungen werden bei 1% aller Neugeborenen beobachtet.

Ätiologie und Pathogenese

Für die Entwicklung ist das SRY-Gen (geschlechtsdeterminierende Region) am kurzen Arm des Y-Chromosoms zuständig. Genmutationen und/oder das Fehlen des Gens verursachen schwere Geschlechtsentwicklungsstörungen (siehe Tab. 381). Für die Entwicklung der äußeren Geschlechtsorgane sind zusätzlich die von den Sertoli-Zellen bzw. Leydig-Zwischenzellen des Fetus produzierten Hormone AMH und Testosteron sowie das Enzym 5-α-Reduktase notwendig, das in den Zellen des Zielorgans Testosteron zu dessen aktivem Metaboliten Dihydrotestosteron (DHT) umwandelt. Die meisten Intersexualitätsformen haben zwei Hauptursachen: Entweder werden diese Hormone fehlerhaft produziert, oder es fehlen die entsprechenden Rezeptoren an den Zellen der Zielorgane (siehe Tab. 38-1).

Klinisch-pathologische Korrelationen Die klinische Diagnose ist ohne genetische und endokrinologische Untersuchungen schwierig, da die phänotypischen Veränderungen oft erst während der Pubertät manifest werden. Da die Hoden bei Hermaphroditismus und Gonadendysgenesie meist kryptorch (siehe unten) und bereits genetisch geschädigt sind, besteht bei den meisten Typen die Gefahr der Entwicklung eines Hodentumors. Aus diesem Grund müssen die Gonaden entfernt werden.

Lageanomalien: Kryptorchismus und Ektopie Definition und Epidemiologie Deszendiert am Ende der Schwangerschaft der Hoden des männlichen Fetus nicht in das Skrotum, sondern bleibt im Abdomen oder im Inguinalkanal stecken, spricht man von Kryptorchismus (Maldescensus testis, fehlender Testis im Skrotum). Als Ektopie bezeichnet man hingegen die Lagerung des Hodens außerhalb des normalen Deszensusweges (z.B. Femoralkanal). Unmittelbar nach der Geburt wird der Kryptorchismus bei 10% der Knaben beobachtet. Der Prozentsatz sinkt bis zum Ende des ersten Lebensmonats auf 3%, und weiter bis zum Schuleintritt auf 1%. In 0,4% der Fälle ist der Maldeszensus beidseitig.

Pathogenese Die Ursache des Kryptorchismus ist meist unbekannt. Mangelnde hypophysäre und testikuläre Hormonstimulation (Dysfunktion der Hypophysen-GonadenAchse), anatomische Hindernisse (Enge des Inguinalkanals) sowie Gonadendysgenesien können für einen Teil der Fälle verantwortlich gemacht werden. Ein Tumorprädispositionsgen, das bei familiärem Auftreten von Keimzelltumoren beobachtet wird, könnte für die familiäre Häufung (14% der Fälle) des Kryptorchismus prädisponieren. Für die seltene Ektopie (Verhältnis Kryptorchismus/Ektopie = 20:1) ist das Fehlen des Gubernakulums verantwortlich.

Morphologie Zunächst zeigen die retinierten Hoden die normale Histologie eines kindlichen Organs. Im Vergleich mit dem Skrotum herrscht im Inguinalkanal bzw. im Abdomen eine höhere Temperatur, die ab dem zweiten Lebensjahr die primitiven Spermatogonien zu schädigen beginnt. Je länger ihr Einfluss dauert, desto größer ist das Ausmaß der Zerstörung. Während der Pubertät wachsen zwar die Tubuli, das Keimepithel kann aber nicht regenerieren, da die Stammzellen zerstört sind.

Letztlich findet man in solchen Organen vorwiegend atrophierte und verkleinerte, nur von Sertoli-Zellen ausgekleidete oder hyalinisierte Tubuli.

Klinisch-pathologische Korrelationen Kryptorchismus stellt ein Risiko für Infertilität und für eine Keimzelltumorentwicklung dar. Neue Studien zeigen, dass eine chirurgisch möglichst frühzeitige Orchidopexie mit einer besseren Spermienkonzentration im Erwachsenenalter korreliert. Eine Hodenbiopsie während Orchidopexie sollte auch durchgeführt werden, um PLAP-positive Keimzellen zu dokumentieren (PLAP = placental-like alkaline phosphatase). PLAP-positive Keimzellen im Erwachsenenalter werden als „intratubuläre Keimzellneoplasie, unbestimmt“ (ITKZNU) bezeichnet und sind als Vorläuferläsion der seminomatösen und nichtseminomatösen Keimzelltumoren anerkannt. Demgegenüber sind PLAPpositive Keimzellen im Kindesalter nicht unbedingt präneoplastisch, können aber aufgrund gegenwärtig gültiger Kriterien leider (noch) nicht mit Sicherheit als nichtneoplastisch bzw. neoplastisch definiert werden. Um einen Keimzelltumor mit Sicherheit auszuschließen, muss man daher bei kryptorchen Patienten eine postpuberale Hodenbiopsie durchführen. Bei etwa 3% der Patienten, die wegen Kryptorchismus chirurgisch exploriert werden, findet man entweder keinen (Anorchie) oder nur einen Hoden (Monorchie). Weil die Androgenquelle fehlt, führt die Anorchie postpubertal zur eunuchoidalen Körperentwicklung. Da das äußere Genitale unauffällig erscheint, muss der normal angelegte Hoden erst im Verlauf der intrauterinen Zeit (z.B. durch intrauterine Torsion!) zerstört worden sein.

38.1.3

Kreislaufstörungen

Torsion Definition und Epidemiologie Als Torsion bezeichnet man die Drehung des Hodens um die eigene bzw. um die Samenstrang-Achse. 80% der Betroffenen sind Kinder oder Jugendliche bis zum 20. Lebensjahr. Man rechnet mit 4–10 Patienten pro Jahr und Krankenhaus.

Pathogenese Die Voraussetzung für die Torsion ist eine abnorme Beweglichkeit des Hodens im Skrotum. Es fehlt die Fixierung der Tunica vaginalis an der Skrotalwand. Dadurch kann ein starker Kremasterreflex zur Drehung um die Längsachse führen. Die Strangulation der Samenstrangvenen verursacht eine akute venöse Stauung im ganzen Abflussgebiet.

Morphologie

Die morphologischen Folgen sind von der Dauer und in geringerem Ausmaß auch vom Torsionsgrad abhängig (Drehung um 90–720°). Sie beginnen mit einer stärkeren Blutfülle der Venolen. In weiterer Folge wird das Zwischengewebe von Erythrozyten überschwemmt, die Tubuli sind zwar noch erhalten, zeigen aber beginnende Zellnekrosen. Schließlich entwickelt sich das Vollbild der hämorrhagischen Infarzierung mit der kompletten Zerstörung des Organs.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die Krankheit manifestiert sich dramatisch: plötzliche Hodenschwellung, Schmerzen, Nausea und Brechreiz wegen peritonealer Reizung. In den ersten Stunden ist der chirurgische Eingriff der Detorsion und Fixierung an die Skrotalwand meist erfolgreich. Der Anteil der geretteten Organe sinkt linear mit der Dauer der Torsion von 75% nach vier Stunden auf 0% nach zwölf Stunden. Aber auch wenn die Gonade gerettet werden kann, haben die Patienten später nur selten normale Samenwerte. Es wird vermutet, dass durch die venöse Stauung die BTS zerstört und dass dadurch auch der gesunde Hoden immunologisch geschädigt wird.

Varikozele Definition und Epidemiologie Varikozele ist die abnorme Ausweitung und Schlängelung (Varicositas) der Venen des Plexus pampiniformis. 15–20% aller Männer nach dem zehnten Lebensjahr sind von diesem Leiden betroffen, Raucher mehr als Nichtraucher.

Ätiologie und Pathogenese

Ähnlich wie die Beinkrampfadern entsteht die Varikozele als Folge einer Insuffizienz der V.-spermatica-Klappen. Die linksseitige Entstehung (70–100% der Patienten) der sog. primären Varikozele wird mit der größeren Länge der V. spermatica und deren Mündungswinkel von 90° in die linke V. renalis erklärt. (Anm.: Die rechte V. spermatica mündet in die V. cava.) Die symptomatische oder sekundäre Varikozele entsteht, wenn Nierentumoren oder andere raumfordernde Prozesse den venösen Abfluss beeinträchtigen.

Morphologie

Die dicken, ausgeweiteten Venen sind im Samenstrang deutlich sichtbar (Abb. 382). Bei extremer Ausprägung reichen sie bis In den Hoden und in die Tunica albuginea. Bei langer Persistenz kommt es zu einer Phlebosklerose der großen Äste und der Venolen.

Klinisch-pathologische Korrelationen Fast wichtiger als die Grundkrankheit selbst ist die von ihr verursachte Schädigung der Spermatogenese in beiden Hoden (Orchidopathia e varicocele). Es wird angenommen, dass die höhere Temperatur (0,6–0,8 °C) im Stauungsgebiet die Spermatogenese schädigt. Einige Autoren meinen, dass Metaboliten der Nebennierenrindenhormone und der Niere, die retrograd in den Hoden fließen, für den Schaden verantwortlich seien.

Abb. 38-2 Schematische Darstellung der Varikozele, der Spermatozele und der Hydrozele.

Atherosklerose und Arteriitis Auch bei sehr schweren arteriosklerotischen Veränderungen der Aorta und der Kranzgefäße findet man im Hoden oft eine normale Spermatogenese. Arteriolosklerotische Veränderungen der testikulären Gefäße führen in ihrem Versorgungsgebiet zur umschriebenen Atrophie und Fibrose des Parenchyms und äußerst selten zu anämischen Infarkten. Ganz anders verhält sich hingegen die Panarteriitis nodosa, die keilförmige Infarkte verursacht. Der Befall bei einem generalisierten Leiden ist so häufig (bis 85%), dass in unklaren Fällen die Hodenbiopsie zur Sicherung der Diagnose herangezogen wird. Hoden und Skrotum sind auch in etwa 15% der Fälle von systemischer leukozytoklastischer Vaskulitis betroffen (siehe Kap. 20.5.1).

38.1.4

Hodenentzündung (Orchitis)

Ätiologisch unterscheidet man zwei Grundtypen, die infektiöse und die allergische Orchitis.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Leitsymptome der akuten Orchitis sind ein- oder beidseitige schmerzhafte Schwellung des Hodens und Fieber. In vielen Fällen verläuft die Entzündung asymptomatisch oder wird durch die Symptomatik einer infektiösen Systemerkrankung verdeckt. Klinisch asymptomatisch oder schleichend verlaufende Entzündungen können sich auch nur mit einer schmerzlosen Organverhärtung manifestieren. In solchen Situationen ist eine differentialdiagnostische Abgrenzung gegenüber dem Hodentumor schwierig.

Folgen Je nach Intensität hinterlässt jede Orchitis eine mehr oder weniger starke Zerstörung des Gewebes, die auch klinisch-makroskopisch durch die Atrophie des Organs deutlich wird. Da die Regeneration samenbildender Zellen in den fibrosierten Tubuli nicht mehr möglich ist, hat die Orchitis auch funktionelle Folgen. Bei 1/3 der Fälle ist die männliche Infertilität auf eine vorausgegangene Orchitis zurückzuführen. Ausgedehnte nekrotisierende Entzündungen beider Hoden können sogar die Testosteronproduktionsstätte völlig zerstören.

Infektiöse Orchitis Erreger und Infektionsweg Als Erreger wurden Bakterien, Viren, Rickettsien, Chlamydien, Pilze, Protozoen und Würmer (Schistosoma haematobium) beschrieben. Mögliche Infektionswege sind ■ der hämatogen-metastatische Weg durch Verschleppung der Erreger von meist weit entfernten Entzündungsherden (Mykobakterien, Spirochäten, Pilze) oder im Rahmen von allgemeinen Infektionskrankheiten (virale Infekte, Rickettsiosen, Protozoenkrankheiten). Hämatogen verschleppte Keime können eine isolierte Hodenentzündung verursachen. ■ der lymphogene und kanalikuläre Weg durch Übergreifen von entzündlichen Prozessen aus der Nachbarschaft (Blase, Prostata, Samenblase), wobei in diesem Fall zunächst der Nebenhoden betroffen ist (Epididymoorchitis). Die kanalikuläre Ausbreitung wird durch einen Reflux (Bauchpresse!) über den Ductus deferens ermöglicht.

Bakterielle Orchitis Erreger Bei Männern höheren Alters sind es überwiegend die Erreger, die auch die meisten Harnwegsinfekte verursachen, nämlich gramnegative Keime (z.B. E. coli). Bei jüngeren Männern dominieren durch Geschlechtsverkehr übertragene Keime (Neisseria gonorrhoeae, Chlamydia trachomatis, Ureaplasma urealyticum).

Morphologie

Der entzündete Hoden ist vergrößert, geschwollen und zunächst von erhöhter Konsistenz. Die Hodenhüllen sind hyperämisch, eventuell auch mit Exsudat bedeckt. Histologisch findet man im Anfangsstadium eine granulozytäre und monozytäre Infiltration des Zwischengewebes und degenerative Veränderungen der samenbildenden Zellen. Mit dem Fortschreiten der Erkrankung infiltrieren die Entzündungszellen auch die Tubuli seminiferi und bewirken dort die endgültige Zerstörung der Keimzellen. Sertoli-Zellen überleben sehr lange und können selbst Bakterien phagozytieren und abtöten. Gelegentlich auftretende Abszesse können sich durch Fisteln in das Periorchium und an die Oberfläche der Skrotalhaut entleeren. Häufig lassen sich auch ausgedehnte Nekrosen nachweisen, die auf lokale Zirkulationsstörungen zurückgehen. In den nichtnekrotischen Abschnitten des Parenchyms überleben die Leydig-Zellen auch ausgeprägte Entzündungen. In der chronischen Phase wird das histologische Bild von Fibrose und Verödung der Tubuli beherrscht. Die tuberkulöse Entzündung beginnt gewöhnlich im Nebenhoden und greift erst später auf das Hodenparenchym über (Abb. 38-3). Die hämatogene Infektion im Rahmen einer miliaren Streuung ist heutzutage selten. Die Tuberkel neigen im Hoden stets zu ausgedehnten fibrillogranulären Nekrosen (Verkäsungen) (siehe Kap. 48.2.7). Die syphilitische Orchitis ist im Zeitalter der antibiotischen Therapie eine Seltenheit geworden. Die noch sporadisch vorkommende interstitielle Form zeichnet sich durch perivaskuläre Entzündungsinfiltrate und starke peritubuläre Fibrose und Kanälchenatrophie aus („Spermatoangiitis obliterans“). Der Nebenhoden ist von der Infektion nicht betroffen (siehe Kap. 48.2.7). Der Befall beider Hoden mit Fibrose und Leydig-Zell-Hyperplasie ist vor allem im Spätstadium der lepromatösen Lepra bekannt (siehe Kap. 48.2.7).

Abb. 38-3 Tuberkulöse Epididymitis (Pfeil) und Orchitis (Doppelpfeil).

Virale Orchitis Erreger Es gibt praktisch keine Virusinfektion, bei der nicht gelegentlich eine Begleitorchitis beobachtet wird. Die seit Jahrhunderten bekannte Mumpsorchitis wird als Komplikation bei etwa 20–30% der erkrankten Erwachsenen, aber nur bei 1% der Knaben vor der Pubertät beobachtet. In 1/3 der Fälle sind beide Hoden betroffen.

Morphologie In der Frühphase besteht eine granulozytär-monozytäre Orchitis mit Nekrosen der samenbildenden Zellen. Charakteristischerweise hinterlässt die Entzündung keine komplette Fibrose und Atrophie. Es bleiben kleine Inseln von intakten Kanälchen mit vollständiger Spermatogenese erhalten.

Folgen Über die Häufigkeit der Hodenatrophie nach Mumpsorchitis gibt es keine zuverlässigen Angaben. Die Zahlen schwanken zwischen 8 und 60%, wobei jene im Bereich der unteren Grenze realistisch sein dürften.

Granulomatöse Orchitis und Malakoplakie Definition und Epidemiologie Bei der granulomatösen Orchitis werden durch die intratubuläre Lage der Entzündungszellen histologisch Granulome vorgetäuscht. Die vorwiegend einseitige Entzündung tritt bei Patienten nach dem 50. Lebensjahr auf.

Pathogenese Man vermutet, dass entweder schwer abbaubare Keime (E. coli) eine ungewöhnliche histiozytäre Reaktion hervorrufen oder dass die Abbaufähigkeit der Makrophagen gestört ist. Ein Hinweis für die bakterielle Genese sind häufige Harnwegsinfekte in der Anamnese der Patienten.

Morphologie Der erkrankte Hoden zeigt eine homogene, derbe und weißliche Schnittfläche, die an einen Keimzelltumor (Seminom) erinnert. Histologisch findet man vor allem intratubulär gelagerte Makrophagen mit einigen Lymphozyten und Plasmazellen. Die Wand der Tubuli ist aufgesplittert, sodass ein granulomähnliches Bild entsteht. Im Zwischengewebe findet man neben Entzündungszellen auch gewucherte Fibroblasten. Zur granulomatösen Orchitis (sog. megalozytäre Form) wird auch die Malakoplakie des Hodens gezählt, bei der Makrophagen mit PAS-positiven und/oder zielscheibenähnlichen verkalkten Granula (Michaelis-GutmannKörperchen) im Zytoplasma vorherrschen (siehe Kap. 37.3.2).

Allergische Orchitis Definition und Epidemiologie Die allergische (Autoimmun-) Orchitis wird nur sporadisch beim Menschen beobachtet. Bei etwa 10% der infertilen Männer lassen sich Spermienantikörper im Blut nachweisen. Viele dieser Patienten haben in der Anamnese eine Epididymitis, ein Trauma (häufig beim Kampfsport!) oder chirurgische Eingriffe am Hoden vorzuweisen.

Pathogenese

Spermien zählen zu den sog. sequestrierten Antigenen, für die der Körper anfänglich keine Immuntoleranz entwickelt, da sie erst nach der Pubertät entstehen und bei funktionierender BTS den Körper wieder verlassen, ohne mit dem Immunsystem in Kontakt zu kommen. Eine geringe lokale und quantitativ begrenzte Immuntoleranz ist insofern gegeben, als T-Suppressor-Lymphozyten die Immunreaktion hemmen können und die Tubulusflüssigkeit imstande ist, das Komplementsystem zu inaktivieren. Die Zerstörung der anatomischen Schranken im Hoden, oder noch häufiger im Neben-hoden, ermöglicht die Begegnung der Spermien mit den körpereigenen immunkompetenten Zellen, die in der Folge Spermienantikörper produzieren. Zur Entzündung kommt es infolge einer Immunkomplexreaktion, wobei auch zelluläre Mechanismen vom Spättyp daran beteiligt sein dürften.

Morphologie

Die entzündliche Reaktion beginnt in der Umgebung des Rete testis, wo wahrscheinlich auch die Immunglobuline wegen der wesentlich schwächeren BTS in die Tubuli diffundieren können. Charakteristisch für die Autoimmunorchitis sind lymphoplasmazelluläre und monozytäre Infiltrate und der Schwund der Spermatozoen in den Tubuli. Weiterhin lassen sich mittels Immunfluoreszenz lineare IgG-, IgM-, C3- und C1q-Ablagerungen entlang der Basalmembran und granuläre IgG- und C3-Ablagerungen in der Wand kleiner Gefäße nachweisen.

Folgen Die Erkrankung spielt eine wichtige Rolle bei der Pathogenese der männlichen Infertilität.

38.1.5

Hypogonadismus (männliche Infertilität)

Als Hypogonadismus bezeichnet man jede Unterfunktion des Hodens ohne Rücksicht auf ihre Ätiopathogenese. Das Leitsymptom aller Erkrankungen, die unter diesem Begriff zusammengefasst sind, ist die männliche Infertilität (Sterilität). Infertilität kann

bei allen Lebewesen vorkommen und ist in der Natur weit verbreitet. 15% der Ehen sind ungewollt kinderlos. Die Ursache dafür liegt in etwa 50% der Fälle beim Mann. Aufgrund des Gonadotropinspiegels kann man einen normo-, hyper- oder hypogonadotropen Hypogonadismus unterscheiden. Einfacher ist die Klassifikation, die auf der anatomischen Lokalisation der Ursache beruht. Demnach sind drei Arten zu unterscheiden: der prätestikuläre, der testikuläre und der posttestikuläre Hypogonadismus (Tab. 38-2).

Prätestikulärer Hypogonadismus Definition und Epidemiologie Die Hypofunktion der an sich gesunden Gonade ist die Folge einer funktionellen Störung im Bereich der Hyphophysen-Gonaden-Achse. Sie ist mit 8% seltene Ursache der männlichen Infertilität.

Tab. 38-2 Klassifikation und Ursachen des Hypogonadismus.

Pathogenese Der prätestikuläre (sekundäre) Hypogonadismus entsteht vorwiegend durch Zerstörungen der Hypophyse (Tumoren, Entzündungen, Traumen) mit nachfolgendem Hypogonadotropismus. Eine andere Ursache ist der Hormonüberschuss, der sowohl endogen (endokrine Tumoren) als auch exogen (Hormontherapie) bedingt sein kann. Besonders schwerwiegend sind die Folgen bei einem Östrogenüberschuss. Dieser kann durch Nebennierenrindenadenome,

durch eine Östrogentherapie (z.B. bei Prostatakarzinom) sowie durch mangelhaften Hormonabbau bei Leberzirrhose zustande kommen. Östrogen ist beim Mann der stärkste Hemmer der Gonadotropinsekretion.

Morphologie

Die Morphologie des Hodens hängt bei allen erworbenen Fällen vom Zeitpunkt des Beginns der Störung ab. Bei präpubertal einsetzendem Hypogonadotropismus kommt es nicht zur Ausreifung der Tubuli, der Spermatogenese und der LeydigZellen. Postpubertal hingegen kommt es zur Atrophie der Tubuli mit einer hyalinen Verdickung der Wand. Die Ausreifung der Samenzellen wird gestoppt, sodass letztlich nur mehr Spermatogonien, meist sogar nur Sertoli-Zellen, übrigbleiben.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Bei präpubertal einsetzendem Hypogonadotropismus bleibt nach der Pubertät auch die Entwicklung der äußeren Geschlechtsorgane und der sekundären Geschlechtsmerkmale aus, während beim postpubertalen Beginn die Folgen des Androgenmangels im Vordergrund stehen.

Testikulärer Hypogonadismus Definition und Epidemiologie Bei dieser häufigsten Art des Hypogonadismus (60–80% der Fälle) liegt die primäre Störung im Hodenparenchym selbst.

Ätiologie Die Ursachen sind sehr heterogen: chromosomale Störungen, Kryptorchismus, abgelaufene Entzündungen, Varikozele (bis zu einem Drittel der Fälle!). Die chromosomalen Störungen lassen sich in drei Gruppen unterteilen: ■ Translokationen (Translokation zwischen den Chromosomen 13, 15, 21 und 22; Fusionen zwischen den Chromosomen 14 und 21, 13 und 14; reziprokale Translokationen zwischen den Chromosomen 11 und 22) ■ Inversionen ■ Trisomien. Weiterhin können Strahlen- und Medikamentenschäden (Zytostatika, Antiandrogene) sowie Druck und erhöhte Temperatur zugrunde liegen. Die wahre Ursache ist anamnestisch oft nicht mehr eruierbar.

Pathogenese Die Pathogenese des testikulären Hypogonadismus verläuft mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit. Die samenbildenden Zellen werden in der umgekehrten Reihenfolge der Differenzierung geschädigt. In Abhängigkeit von der Noxenstärke verschwinden zuerst die Spermatozoen und zuletzt die Spermatogonien und Sertoli-Zellen. Starke Schädigungen, bei denen nur Spermatogonien und SertoliZellen oder überhaupt keine Zellen erhalten bleiben, führen auch zu einer Hyalinisierung der Tubuluswand. Letztlich können nur mehr kollabierte bzw. obliterierte „Tubulusschatten“ übrig bleiben. Die Zahl der Leydig-Zellen kann vermindert, normal oder stark erhöht sein. Schwere Parenchymschäden mit Hyalinose der Tubuli werden regelmäßig von einer Leydig-Zell-Hyperplasie begleitet. Die Hypophyse reagiert (negative Rückkoppelung) auf schwere Zellverluste mit verstärkter FSH- und LH-Sekretion (hypergonadotroper Hypogonadismus).

Abb. 38-4 Hodenbiopsie mit dem Bild der Spermiogenesehemmung.

Mit Hilfe der Immunperoxidasemethode ist der Tumormarker plazentare alkalische Phosphatase (PLAP; placental-like alkaline phosphatase) in zahlreichen atypischen Spermatogonien (intratubuläre Neoplasie) braun dargestellt, Vergr. 150fach.

Morphologie und klinisch-pathologische Korrelationen Folgende morphologisch-klinische Bilder sind bekannt: ■ Die Hypospermatogenese ist die in der Hodenbiopsie am häufigsten beobachtete Veränderung. Sie geht klinisch mit einer Oligospermie und normalen Hormonwerten einher. Die Samenzellen zeigen alle Ausreifungsformen im normalen Verhältnis, lediglich die Gesamtzahl der Zellen ist mehr oder weniger stark vermindert (Abb. 38-4). Die Ursache kann nur selten ausfindig gemacht werden. Eine der häufigsten ist z.B. eine bestehende Varikozele. ■ Der Reifungsstopp äußert sich dadurch, dass die Spermatogenese auf einer bestimmten Ausreifungsstufe zum Stillstand kommt. Die meist unbekannten Noxen dürften vor allem die meiotische Teilung stören. Klinisch liegt eine Azoospermie vor, seltener eine Oligospermie, wenn nicht alle Tubuli betroffen sind (siehe Diagnostik). LH- und Testosteronwerte sind normal, das FSH ist erhöht, wenn die Ausreifung bei den Spermatogonien oder Spermatozyten endet. Zu den wenigen bekannten Ursachen zählen: Antiandrogentherapie, Varikozele sowie überzählige Chromosomen (XYY oder Trisomie 21). ■ Bei der idiopathischen Tubulusfibrose besteht eine Tubulushyalinose, kombiniert mit beträchtlichem Schwund der Samenzellen (Reifungsstopp) und Vermehrung der Leydig-Zellen. Die Hyperplasie der Zwischenzellen kann derartige Ausmaße erreichen, dass bioptisch ein Leydig-Zell-Tumor vorgetäuscht wird. ■ Die klassische Krankheit mit derartiger Morphologie ist das KlinefelterSyndrom (Abb. 38-5). Die Patienten haben einen XXY-Karyotyp (oder XXYY, XXXY, XXXXY), Gynäkomastie, eunuchoidalen Riesenwuchs, kleine, wegen der Fibrose derbe Hoden (erkennbar erst nach der Pubertät) und mangelhaft entwickeltes äußeres Genitale. Einige zeigen auch verminderte Intelligenz. Neben einer Azoospermie findet man hohe FSH-Werte; die Höhe der LH-Werte hängt vom Testosteronspiegel ab, der normal oder erniedrigt sein kann. Das histologische Bild des Hodens und die entsprechenden hormonellen Abweichungen sind aber keineswegs nur für dieses Syndrom spezifisch, sondern kommen aus selten bekannten Gründen auch bei Patienten mit normaler Chromosomenzahl vor (sog. Pseudo-Klinefelter-Syndrom). ■ Beim Sertoli-cell-only-Syndrom sind die Tubuli nur mehr mit Sertoli-Zellen ausgekleidet. Das Fehlen der Keimzellen beruht entweder auf einer vollständigen Zerstörung, wie sie bei Bestrahlung oder anderen schweren Noxen beobachtet wird, oder es kommt kongenital nicht zur Einwanderung der Urkeimzellen in die Hodenanlage (Keimzellenaplasie bzw. Del-Castillo-Syndrom).

Abb. 38-5

Klinefelter-Syndrom, Hoden.

Im Vordergrund steht die diffuse Hyperplasie der Leydig-Zellen (*). Die Wand der Tubuli ist sklerosiert (Pfeilspitzen), die Spermatogenese in den noch erhaltenen Tubuli (Pfeile) ist unterschiedlich stark gestört. Van Gieson, Vergr. 100fach.

Diagnostik Die Infertilitätsdiagnostik umfasst die Untersuchung des Samens, der Hormone und fallweise auch der Chromosomen. Neben der Zahl der reifen Spermien im Ejakulat ist in erster Linie ihre Motilität wichtig (Tab. 38-3). Eine verminderte Spermienzahl im Ejakulat wird als Oligospermie, ein Fehlen der Spermien als Azoospermie bezeichnet. Aspermie bedeutet, dass im Ejakulat überhaupt keine Zellen vorkommen.

Tab. 38-3 Normale und pathologische Werte der Ejakulatsuntersuchung. * kann sowohl normal als auch pathologisch sein

Tab. 38-4

Indikationen für eine Hodenbiopsie.

absolute Indikation Azoospermie Oligozoospermie Teratozoospermie atypische Zellen im Ejakulat Kryptorchismus bei kontralateralem Keimzelltumor relative Indikation Varikozele chronischer Infekt Torsion Für die Hodenbiopsie bestehen heute strenge Indikationen (Tab. 38-4). Sie sollte dann nicht mehr durchgeführt werden, wenn eine Therapie bei stark verkleinerten Gonaden (0–5 cm) in Verbindung mit Chromosomenanomalien oder kombiniert mit pathologischen FSH-Werten (>2facher Normwert) aussichtslos ist.

Posttestikulärer Hypogonadismus Definition und Epidemiologie Bei dieser Art des Hypogonadismus (etwa 10–20% der Fälle) sind Hoden und Hypophysen-Gonaden-Achse sowohl anatomisch als auch funktionell intakt. Die Infertilität beruht entweder auf einem Verschluss der ableitenden Samenwege oder auf der gestörten Motilität der Spermatozoen.

Ätiologie und Pathogenese Der Verschluss der ableitenden Samenwege kann angeboren oder erworben sein und muss beidseits vorliegen, damit eine Aspermie (sog. Verschlussaspermie) verursacht wird. Angeboren sind Aplasien oder Atresien des Vas deferens oder des Nebenhodens. Erworbene Verschlüsse können von Entzündungen oder von Ligaturen (Sterilisation, Hernienoperation) des Samenleiters herrühren. Verschlüsse durch Sekreteindickung werden bei der Mukoviszidose und beim Young-Syndrom, einem Defekt der Reinigungsfähigkeit des Flimmerepithels bei normaler Zilienmotilität, beobachtet. Motilitätsstörungen, die Asthenospermie, entstehen durch Veränderungen der makromolekularen Spermienstruktur, durch die abnorme biochemische Zusammensetzung des Samenplasmas (Nebenhoden- und Prostatainfekte) oder durch Spermienantikörper. Die Motilitätsstörung beim angeborenen immotile cilia syndrome (Kartagener-Syndrom) beruht auf Schäden der in den Spermienschwänzen befindlichen Mikrotubuli. Ihnen fehlen die Dynein-Arme, die durch ihre ATPase-Aktivität ATP abbauen und so die für die Bewegung notwendige Energie produzieren.

Klinisch-pathologische Korrelationen Beim Verschluss der Samenwege findet man im Ejakulat weder Spermatozoen noch andere Samenzellen. Weil der Nebenhoden den gestauten Samen in großen Mengen speichern und notfalls auch abbauen kann, zeigt der Hoden keine pathologischen Veränderungen.

38.1.6

Hodentumoren

Hodentumoren machen nur etwa 1% der Gesamtzahl maligner Neoplasien erwachsener Männer aus. Dennoch sind sie die häufigsten malignen Tumoren in der Altersgruppe von 15 bis 35 Jahren. Dank der Kombination von modernen chirurgischen Techniken mit zytostatischer Therapie sind sie trotz hoher Malignität potentiell heilbar.

Klassifikation Die histogenetische Einteilung unterscheidet Keimzelltumoren von den Tumoren des spezialisierten gonadalen Stromas (Leydig- und Sertoli-Zellen) sowie Kombinationen von beiden. Die Einteilung der Keimzelltumoren hat lange Jahre die wissenschaftlichen Gemüter erhitzt. Heute wird allgemein die WHO-Klassifikation verwendet (Tab. 38-5). Sie beruht auf der Hypothese, dass sich – mit Ausnahme des spermatozytischen Seminoms – alle Keimzelltumoren aus atypischen Keimzellen entwickeln (intratubuläre Keimzellneoplasie = IKZN). Aus diesen atypischen Zellen entstehen zunächst Seminome, aus denen sich embryonale Karzinome entwickeln können; Letztere können weiter in extraembryonales (Dottersacktumor, Choriokarzinom) oder embryonales Gewebe (Teratom) differenzieren. Wahrscheinlich entstehen embryonale Karzinome aber auch direkt aus der IKZN, also ohne SeminomZwischenstufe (Abb. 38-6).

Tab. 38-5 Modifizierte WHO-Klassifikation (1997) Und prozentuale Verteilung der Hodentumoren. Keimzelltumoren (85–90%) Vorläuferläsion: intratubuläre maligne Keimzellen Seminom (45–50%) ■ Variante: Seminom mit synzytiotrophoblastären Zellen spermatozytisches Seminom (1–25%) ■ Variante: spermatozytisches Seminom mit Sarkom nichtseminomatöse Keimzelltumoren einheitlicher Bauart (15–18%) ■ embryonales Karzinom ■ Dottersacktumor ■ Polyembryom ■ Choriokarzinom

■ Teratom ■ reifes Teratom ■ Dermoidzyste ■ unreifes Teratom ■ Teratom mit malignen Arealen kombinierte Keimzelltumoren (Mischformen) (10–15%) Tumoren des Gonadenstromas (3–5%) Leydig-Zell-Tumoren Sertoli-Zell-Tumoren ■ Großzelliger verkalkender Sertoli-Zell-Tumor Leydig-Sertoli-Zell–Mischtumoren Keimzellen-Stroma-Mischtumoren (Gonadoblastom) (1%) maligne Lymphome (6–8%) andere und paratestikuläre Tumoren (6–8%)

Abb. 38-6

Histogenese der Keimzelltumoren.

Alle Keimzelltumoren entwickeln sich aus einer gemeinsamen Stammzelle, aus der zunächst Seminome (totipotente Zellen) hervorgehen. Durch weitere Differenzierung entstehen embryonale Karzinome, die sich dann entweder embryonal in Teratome oder extraembryonal in Dottersacktumoren oder Choriokarzinome weiterentwickeln können. Der direkte Übergang von der Stammzelle zum embryonalen Karzinom ist ebenfalls möglich.

Epidemiologie Die Inzidenz der Hodentumoren divergiert geographisch und rassisch beträchtlich. In den westlichen Industrieländern ist die Inzidenz der Keimzellgeschwülste in den letzten 50 Jahren um das Zehnfache gestiegen (6–12/100 000). Mittlerweile erkranken 2 von 1000 Männern im Alter zwischen 15 und 40 Jahren an diesem Tumor. Die schwarze Bevölkerung dieser Länder erkrankt signifikant seltener (0,9–1,4 Fälle), in Afrika sogar noch seltener. Auch in Asien ist die Inzidenz kleiner als 1.

Ätiologie und Pathogenese Die einzigen gesicherten Risikofaktoren sind der Kryptorchismus und dysgenetische Gonaden. Das höchste Risiko trägt der erstgeborene Sohn weißer Eltern mit spät behandeltem Kryptorchismus, früher Pubertät, regem Sexualleben, sitzendem Beruf und Zugehörigkeit zur sozialen (gehobenen) Mittelklasse. Es ist bekannt, dass Wärme über das p53 die Apoptose von Keimzellen induziert, bei niedriger skrotaler Temperatur hingegen ein „Heat-Shock“-Protein p53 stabilisiert und somit die Apoptose verhindert. Störungen in diesem Regelkreis könnten den Zusammenhang zwischen Kryptorchismus bzw. sitzendem Beruf und Häufung von Keimzelltumoren erklären.

Die genetische Prädisposition spielt in einigen wenigen Familien eine Rolle, deren Mitglieder Träger von „Prädispositionsgenen“ sind, die am Chromosom Xq27 identifiziert wurden. Diese Gene scheinen auch in der Pathogenese des Kryptorchismus eine Rolle zu spielen. Grundsätzlich scheinen sich alle Keimzelltumoren der Erwachsenen aus einer gonadalen Stammzelle zu entwickeln, die bereits während der Embryogenese geschädigt und in eine sog. „aktivierte Zelle“ transformiert wurde. Aus dieser Zelle entwickeln sich nach der Pubertät – möglicherweise wegen der Androgeneinwirkung – die atypischen Keimzellen, aus denen später ein Keimzelltumor entstehen kann. Es gibt viele Hinweise darauf, dass sich aus den atypischen Keimzellen zunächst Seminome und aus diesen alle weiteren nichtseminomatösen Keimzelltumoren entwickeln. Auch die direkte Differenzierung der atypischen Keimzellen in nichtseminomatöse Keimzelltumoren ist möglich. Für diese Theorie sprechen die phänotypischen Merkmale (PlAP, c-Kit), die sowohl den primitiven Gonozyten als auch den Zellen der ITKZN gemeinsam sind. Weiterhin zeigen alle Keimzelltumoren Anomalien des Chromosoms 12. 50% der Seminome und 80% der nichtseminomatösen Keimzelltumoren tragen ein Isochromosom i (12p). Dieses wird in den Zellen der ITKZ kaum beobachtet und wird daher für die Invasion verantwortlich gemacht. Als Alternative wird auch postuliert, dass sich Keimzelltumoren erst aus Spermatozyten entwickeln, da diese Zellen unter p53-Kontrolle stehen und bei DNA-Schädigungen durch Apoptose entfernt werden. Durch „crossing over“ kommt es zur Vermehrung von 12p-Paaren und zur Überexpression von Zyklin D2, das die genetisch geschädigten Zellen wieder in den Zellzyklus führt. Die Rolle von p53 bei der Entstehung dieser Tumoren ist unklar. In der normalen Spermiogenese sorgt es für die Stabilität des Genoms insbesondere in der empfindlichen Phase der Meiose. Bei den Keimzelltumoren wird es in den atypischen Zellen der ITKZ stark exprimiert. Neue Untersuchungen zeigen, dass die Inaktivierung von p53 durch mdm-2 auch die Induktion von p21 blockiert und dadurch die Zyklin-CDK aktiviert wird. Infolgedessen wird die Proliferation der Tumorzellen beschleunigt – was möglicherweise das invasive Wachstum verursacht. Im Gegensatz zu anderen Tumoren findet man in Keimzelltumoren jedoch keine p53-Mutationen. Keimzelltumoren des Kindesalters und das spermatozytische Seminom dürften sich auf einem anderen Wege entwickeln. Möglicherweise kommt es zu einer parthenogeneseähnlichen Transformation von „aktivierten Keimzellen“, die die Embryogenese nachahmen und sich zu Teratomen oder Dottersacktumoren weiterentwickeln. Findet präpubertal diese Entwicklung nicht statt, dann proliferieren diese Zellen weiter und bilden später im Leben spermatozytische Seminome.

Keimzelltumoren Fast alle Hodentumoren sind Keimzelltumoren (85 bis 90%!). Der rechte Hoden erkrankt etwas häufiger (Rechts-links-Verhältnis = 1,25: 1), was mit seinem späteren Deszensus erklärt wird. Bilaterales Auftreten wird in 1,5–3% der Fälle beobachtet.

Intratubuläre Keimzellneoplasie Definition und Epidemiologie Als unbestimmte intratubuläre Keimzellneoplasie (meist ITKZNU genannt) wird das Auftreten atypischer, spermatogonienähnlicher Keimzellen in den ansonsten unveränderten Tubuli seminiferi bezeichnet. Solche atypischen Keimzellen in der Umgebung von Keimzelltumoren (nicht bei spermatozytischen Seminomen!) sind bereits seit langer Zeit bekannt und wurden zunächst als eine tumorassoziierte und -induzierte Veränderung angesehen. Tatsächlich sind sie aber echte Tumorvorläufer, die auch in Hodenbiopsien beobachtet werden, und zwar in 0,5– 1% der Fälle bei Patienten mit Oligospermie und in 2–8% bei solchen mit Kryptorchismus. Etwa die Hälfte dieser Patienten entwickelt meist innerhalb von fünf Jahren einen Keimzelltumor. Auch wenn die atypischen Keimzellen nur einseitig beobachtet werden, besteht für die kontralaterale Gonade dasselbe Tumorrisiko. Die Bedeutung für die Entstehung eines Tumors aus diesen atypischen Keimzellen beim Kind ist derzeit nicht geklärt.

Abb. 38-7 Intratubuläre Keimzellneoplasie.

a Hodenkanälchen, die nur von atypischen Keimzellen ausgekleidet sind. Neben der Kernpolymorphie (Pfeile) ist auch das wasserklare Zytoplasma (Pfeilspitzen) auffallend. HE, Vergr. 200fach. b Mit Hilfe der Immunoperoxidasemethode ist der Tumormarker c-KIT (CD117) an der Oberfläche der atypischen Keimzellen braun dargestellt. Vergr. 400fach.

Morphologie Atypische Keimzellen sind größer als normale Spermatogonien und besitzen ein klares Zytoplasma sowie entrundete, hyperchromatische Kerne. Sie liegen an der Basalmembran, umgeben von normalen Spermatogonien oder Sertoli-Zellen (Abb. 38-7). In mehr als 90% der Fälle lässt sich in den atypischen Keimzellen immunhistochemisch das Isoenzym alkalische Phosphatase vom Plazentatyp nachweisen (PLAP, siehe Abb. 38-4).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die Behandlung der intratubulären Keimzellneoplasie ist sehr problematisch. Konsequenterweise müsste man die Spermatogenese durch Bestrahlung beenden (Radiokastration). Dem Patienten bliebe dann zumindest seine Testosteronquelle erhalten. Meist begnügt man sich aber mit engmaschigen Organkontrollen und Tumormarkerbestimmungen.

Seminome Reine Seminome sind mit etwa 45% die häufigsten Keimzelltumoren. Sie treten vorwiegend zwischen dem 30. und dem 50. Lebensjahr (Durchschnittsalter 40 Jahre) und nur selten vor der Pubertät (< 0,5%) auf. Etwa 5% der Fälle werden nach dem 60. Lebensjahr beobachtet.

Morphologie Makroskopisch zeigen die Seminome eine homogene Struktur von markiger Konsistenz und grauweißer Farbe (Abb. 38-8a). Durch Blutungen und landkartenartige Nekrosen wird das sonst gleichförmige Erscheinungsbild etwas bunter. Histologisch unterscheidet man derzeit drei Typen: ■ Das klassische Seminom ist aus großen, rundlichen Zellen mit hellem, glykogenreichem Zytoplasma (PAS-positiv) aufgebaut. Die Kerne zeichnen sich durch ein besonders grobscholliges Chromatin und deutliche Nukleolen aus (Abb. 38-8b). Gruppen von Tumorzellen werden meist von zarten Bindegewebssepten umgeben. Typisch für den Tumor ist auch die entzündliche Reaktion, die sich durch eingestreute Lymphozyten und Plasmazellen, manchmal sogar mit tuberkelähnlichen Granulomen in den Septen, manifestiert. Die sog. anaplastischen (mitosereichen) Seminome wurden in der WHO-Klassifikation 1997 ersatzlos gestrichen, da sich ihr klinisches Verhalten von klassischen Seminomen nicht unterscheidet. ■ Das Seminom mit synzytiotrophoblastischen Riesenzellen (etwa 10–15% aller Seminome) ist ein weiterer Hinweis auf die einheitliche Abstammung aller Keimzelltumoren. Diese Riesenzellen produzieren β-HCG, das im

Patientenserum stark erhöht ist. Sie treten einzeln oder in Gruppen auf und sind meist in der Umgebung von Gefäßen lokalisiert. ■ Das spermatozytische Seminom (3–7% aller Seminome) ist aus großen, oft recht polymorphen Zellen und Tumorriesenzellen aufgebaut. Die Chromatinverteilung im Kern erinnert an das Spirem der meiotischen Prophase der Spermatozyten. Der Tumor hat weder morphologische noch histogenetische Gemeinsamkeiten mit dem klassischen Seminom. Man kann seine Entstehung aus atypischen Keimzellen sogar mit Sicherheit ausschließen. Der Tumor kommt nie vor dem 40. Lebensjahr vor (Durchschnittsalter 65 Jahre!) und metastasiert auch nie. Bemerkenswert ist auch, dass er der einzige Keimzelltumor ist, der im Ovar nicht vorkommt.

Prognose Seminome sind strahlensensibel und haben eine gute Prognose. Vermutungen, wonach mitosenreiche oder β-HCG-positive Seminome einen schlechteren Verlauf hätten als alle anderen, wurden bisher nicht bestätigt. Prognostisch besonders günstig sind Seminome mit vielen Lymphozyten oder epitheloidzelligen Granulomen. Die entzündliche Tumorimmunreaktion kann sogar den Tumor vollständig zerstören und im Hoden nur eine Narbe hinterlassen („ausgebranntes Seminom“).

Abb. 38-8 Seminom.

a Makroskopisches Bild. Tumor mit homogener weißer Schnittfläche (Pfeilspitzen). b Histologisches Bild. Mit den typischen hellen, glykogenreichen Tumorzellen (Pfeile) und eingestreuten Lymphozyten (Doppelpfeile). HE, Vergr. 240fach.

Nichtseminomatöse Keimzelltumoren (NSKT) NSKT sind mit etwa 30–35% die zweithäufigsten Keimzelltumoren. Sie werden meist zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr (Durchschnittsalter 28 Jahre) beobachtet und kommen bereits im Säuglingsalter vor (4% vor der Pubertät). Nach dem 60. Lebensjahr treten sie selten auf ( als 5 Lymphknoten pN3 > 5 cm pM Fernmetastasen

Tab. 38-7 Wichtige Tumormarker und ihre Häufigkeit bei verschiedenen Keimzelltumoren.

β-Untereinheit des Choriongonadotropins * Einzelbeobachtungen von α-Fetoprotein-produzierenden Seminomen sind bekannt ** approximative Werte, die aus Studien mit geringer Fallzahl stammen 1

streuen primär hämatogen, die ersten Metastasen erscheinen oft in der Lunge. Hodentumoren produzieren eine Reihe spezifischer Proteine, die als Tumormarker eingesetzt werden, weil sie ins Blut gelangen, dort biochemisch bestimmt werden und für die klinische Diagnostik bzw. Therapieüberwachung wichtig sind (Tab. 387). Ist der Marker nach einer Tumorentfernung erhöht, bedeutet dies grundsätzlich, dass Metastasen aufgetreten sind. Negative Markerbefunde schließen Metastasen jedoch nicht aus. Die kombinierten Therapieformen aus radikaler Chirurgie (Orchiektomie plus retroperitoneale Lymphadenektomie) und Chemotherapie haben die Prognose wesentlich verbessert. Dies gilt sogar für NSKT, die bereits metastasiert haben. Heute überleben 95–98% der Patienten mit retroperitonealen Lymphknotenmetastasen und fast 50% der Patienten mit mediastinalen und Lungenmetastasen. Zytostatika zerstören die unreifen Tumoranteile, während Teratommetastasen auf diese Therapie nicht ansprechen und chirurgisch entfernt werden müssen.

Tumoren des Gonadenstromas Tumoren des Gonadenstromas machen nur 2–5% aller Hodentumoren aus und kommen in jedem Alter vor, allerdings bei Kindern seltener.

Leydig-Zell-Tumoren Leydig-Zell-Tumoren (1–4% aller Hodentumoren) sind aus großen Zellen mit eosinophilem Zytoplasma und rundem bis ovalem Kern aufgebaut (Abb. 38-14a). Die Tumorzellen unterscheiden sich meist kaum von den normalen Leydig-Zellen. Makroskopisch zeigen die Tumoren eine sehr charakteristische braune bis braungelbe Farbe. Sie kommen in jedem Alter vor und können Testosteron, aber auch Östradiol und Progesteron produzieren. Während sie bei Kindern eine Pubertas praecox induzieren können, beobachtet man bei Erwachsenen recht häufig eine Gynäkomastie. Maligne Leydig-Zell-Tumoren (10%) weisen vor allem Gefäßeinbrüche auf. Sie metastasieren in die inneren Organe und haben eine recht schlechte Prognose. Die durchschnittliche Überlebenszeit beträgt weniger als zwei Jahre.

Abb. 38-14 Tumoren des Gonadenstromas.

a Leydig-Zell-Tumor. Die Tumorzellen unterscheiden sich kaum von den normalen Leydig-Zellen. HE, Vergr. 400fach. b Sertoli-Zell-Tumor. Hochdifferenzierter Tumor, der die Form der Hodenkanälchen nachahmt (Pfeile). HE, Vergr. 200fach.

Sertoli-Zell-Tumoren Sertoli-Zell-Tumoren sind selten (0,5–2% aller Hodentumoren) und werden vorwiegend vor dem 40. Lebensjahr beobachtet. Sie zeigen unterschiedlich gut ausdifferenzierte tubuläre Strukturen, die von mehr oder weniger differenzierten Sertoli-Zellen ausgekleidet sind (Abb. 38-14b). Klinisch manifestieren sie sich meist mit einer Gynäkomastie, die auf einer Östrogenproduktion beruht. Die maligne Variante (12%) metastasiert vorwiegend lymphogen. Es gibt zahlreiche morphologische Varianten (sklerosierend, lipidreich), die aber keine klinische Bedeutung haben. Wichtig ist nur der großzellige verkalkende Sertoli-ZellTumor, der in etwa 40% der Fälle familiär auftritt und einen autosomal-dominanten Erbgang zeigt. In solchen Fällen ist er Teil eines Syndroms (Swiss-Syndrom oder Carney's complex), bei dem zusätzlich noch Vorhofmyxome, eine knotige Hyperplasie der Nebennierenrinde, Hautflecken und Weichteilmyxome beobachtet werden. Neben den gemischten Tumoren (Leydig-Sertoli-Zell-Tumoren) werden auch unvollständig differenzierte spindelzellige Stromatumoren beobachtet.

Keimzellen-Stroma-Mischtumoren Diese seltenen Tumoren zeigen eine Mischung aus neoplastischen Keimzellen (Seminom oder embryonales Karzinom) und neoplastisch gewucherten Leydig- oder Sertoli-Zellen. Der häufigste Tumor dieser Gruppe ist das Gonadoblastom, das ausnahmslos in dysgenetischen, kryptorchen Gonaden (oft bilateral) bei Pseudohermaphroditen entsteht. Histologisch typisch für diesen Tumor sind Zellnester mit zentral gelegenen, runden, hyalinen Massen (Call-Exner-Körperchen). Wenn die Keimzellen die Stromazellen überwuchern, verhält sich der Tumor biologisch wie der entsprechende Keimzelltumor.

Sonstige Tumoren Maligne Lymphome, die sich als primärer Hodentumor manifestieren oder im Rahmen einer disseminierten Erkrankung auftreten, machen 7% aller Hodentumoren aus. Es dominieren die Non-Hodgkin-Lymphome mit hohem Malignitätsgrad, während der Morbus Hodgkin im Hoden extrem selten vorkommt. Bei Kindern ist der Hoden im Rahmen einer akuten lymphatischen Leukämie fast regelmäßig befallen. Auch nach Vollremissionen wird das Leukämierezidiv oft zuerst im Hoden beobachtet. Von den sonstigen primären Tumoren sind die seltenen, prognostisch ungünstigen Adenokarzinome des Rete testis erwähnenswert. Die auffallend seltenen ( 4,7 ng/ml. Die PIN verursacht keinen PSA-Anstieg.

Abb. 38-18 Prostatakarzinom: histologisches Grading nach Gleason.

Tumorausbreitung und Metastasierung Das Prostatakarzinom breitet sich zunächst im Organ selbst aus und infiltriert später die umliegenden Organe (Samenblasen, Harnblase, Rektum). Die Ausbreitung erfolgt oft entlang der Nerven in der Prostatakapsel. Die Metastasierung erfolgt lymphogen in die retroperitonealen Lymphknoten und hämatogen vor allem retrograd über den klappenlosen prävertebralen Venenplexus in Wirbelsäule, Femur und Beckenknochen. 90% der Knochenmetastasen sind vom osteoblastischen Typ. Die Tumorzellen produzieren eine Substanz (prostatic osteoblastic factor), die Osteoblasten direkt zum Wachstum stimuliert.

Abb. 38-19 Prostatakarzinom.

a Hochdifferenziertes Karzinom mit dem Gleason-2-Grundmuster. Die Drüsen sind denen der normalen Prostata sehr ähnlich, aber wesentlich dichter gelagert. HE, Vergr. 100fach. b Hochmalignes, niedrigdifferenziertes Karzinom mit dem Gleason-4Grundmuster. Typisch ist die Verschmelzung der Drüsen mit schlecht erkennbaren Konturen. HE, Vergr. 200fach.

Klinisch-pathologische Korrelationen Das Prostatakarzinom wächst langsam und bleibt lange klinisch stumm. Erst ab einer gewissen Größe (T2) beginnt die klinische Symptomatik, die anfänglich der der PH ähnelt. Im Spätstadium bestimmen vor allem die Metastasen die Symptome. Oft wird das Karzinom erst aufgrund von Metastasen diagnostiziert (okkultes Karzinom). In 10–15% – je nach Genauigkeit der histologischen Untersuchung – der klinisch wegen einer PH resezierten Prostatae findet man zufällig ein Karzinom. Man bezeichnet sie als inzidentelle Karzinome, während jene, die klinisch unerkannt bleiben und sich erst bei der Autopsie verifizieren lassen, latente Karzinome genannt werden. Die Letalitätsrate bei an Prostatakarzinom erkrankten Patienten ist hoch und hängt vom histologischen Typ bzw. Malignitätsgrad und von der Größe des Tumors ab (Klassifikation, Tab. 38-8). Patienten mit kleinen, nicht kapselüberschreitenden, hochdifferenzierten Karzinomen haben ausgezeichnete Überlebenschancen. An allen anderen Karzinomtypen versterben aber trotz Therapie die meisten Patienten. Der Unterschied in der 5-Jahres-Überlebensrate zwischen den Patienten mit kleinen, hochdifferenzierten Karzinomen und solchen mit großen und/oder niedrigdifferenzierten ist beträchtlich. Nach zehn oder sogar fünfzehn Jahren wird dieser Unterschied aber zunehmend geringer. In den Frühstadien wird die radikale Operation angestrebt. Im Spätstadium werden die palliative TUR und die Bestrahlung eingesetzt. Die moderne Hormontherapie (Androgenablation) hat die Kastration ersetzt. Sie beruht auf der Kombination von Androgenrezeptorenblockade und Inhibition von GnRH und führt zur

Tumorregression und Wachstumsverlangsamung. Charakteristisch, aber nicht spezifisch für die Östrogentherapie ist die Plattenepithelmetaplasie des Drüsenepithels. Die konsequent jährlich durchgeführte klinische Untersuchung ist für den alternden Mann die wirkungsvollste Vorsorge. Die Bestimmung von PSA (Tumormarker) wird derzeit als Screening-Verfahren („Durchleuchtungsmethode“) für die Entdeckung symptomloser Karzinome verwendet. Der Nachteil dieser Methode ist, dass kleine Karzinome PSA-negativ sind (falsch-negativer Befund) und dass auch die Prostatitis eine Markererhöhung verursachen kann (falsch-positiver Befund). Eine fundierte Therapie ist erst nach einer bioptischen oder zytologischen Abklärung des suspekten Tast- und/oder Markerbefundes möglich.

Tab. 38-8 pTNM-Klassifikation (1997) der Prostatakarzinome. Primärtumor pT1 weder tastbar noch sichtbar pT1a ≤5% pT1b > 5% pT1c Nadelbiopsie pT2 begrenzt auf Prostata T2a ≤Hälfte eines Lappens T2b > Hälfte eines Lappens T2c

beide Lappen pT3 Kapseldurchbruch T3a unilateral, bilateral T3b Samenblase(n) pT4 fixiert/andere Nachbarstrukturen als Samenblasen (Blasenhals/Sphincter externus/Rektum/Levator-muskel/fixiert an Beckenwand) Lymphknotenmetastasen pN1 regionär Fernmetastasen pM1a nichtregionäre(r) Lymphknoten pM1b Knochen pM1c andere Lokalisation(en)

38.5

Penis und Skrotum

In der Pathologie der äußeren Geschlechtsorgane stehen Entzündungen bakterieller und viraler Genese sowie Hauterkrankungen im Vordergrund. Maligne Tumoren sind hingegen in Europa selten.

38.5.1

Anatomie und Embryologie

Der Penis entwickelt sich aus dem primitiven Phallus, in den sich die endodermale Urethralplatte einsenkt und den proximalen Teil der Harnröhre bildet. Der distale Urethrateil entsteht durch ektodermale Zellen, die von der Penisspitze einwandern. Das Skrotum entwickelt sich aus den paarig angelegten Genitalwülsten. Das komplizierte Gefäßsystem des Penis dient der Erektion.

38.5.2

Entwicklungsstörungen

Das Fehlen des Penis (Apenie) ist eine der seltensten Fehlbildungen überhaupt (1/30 Mio. Geburten). Die Urethra mündet in solchen Fällen perineal in der Anusgegend. Häufiger sind vor allem die Hypo-, aber auch die Epispadie und die Phimose, wobei letztere auch erworben sein kann. Als Epispadie bezeichnet man die dorsale Spaltung der Urethra, die oft auch mit einer Blasenekstrophie kombiniert ist. Diese seltene, schwere Fehlbildung beruht auf einer abnormen Lage des Genitalhöckers, wodurch der Sinus urogenitalis an der kranialen statt an der kaudalen Seite der Penisanlage mündet. Wenn die Verschmelzung beider Teile des Genitalhöckers ausbleibt, ist die Epispadie mit einem geteilten Penis kombiniert (Phallus bifidus oder Diphallus). Bei der wesentlich häufigeren Hypospadie (1/1000 Geburten) mündet die Urethra an der Unterfläche der Glans oder des Penisschaftes, manchmal aber auch perineal oder am Skrotum. Eine angeborene oder als Folge von Entzündungen erworbene Stenose der Vorhaut bezeichnet man als Phimose. Bei diesem Zustand kann man die Vorhaut nicht über die Glans zurückziehen. Wird die Vorhaut mit Gewalt hinter die Glans gezogen (Paraphimose), dann können Zirkulationsstörungen eine Gangrän der Glans verursachen.

38.5.3

Zirkulationsstörungen

Besonders bei Diabetikern und starken Rauchern ist die Atherosklerose oder Mikroangiopathie der Penisgefäße häufig. Sie verursacht vor allem eine erektile Impotenz. Als Priapismus bezeichnet man eine schmerzhafte persistente Erektion, die auf der mangelhaften Blutentleerung aus den Corpora cavernosa beruht. Als Ursache kommen Bluterkrankungen, Tumoren im kleinen Becken, aber auch Medikamente (Antihypertensiva) und Drogen in Frage.

Die Fournier-Gangrän ist eine subfasziale nekrotisierende Entzündung mit Gefäßthrombosen von Penis und Skrotum. Sie entsteht wahrscheinlich in Folge einer Infektion mit E. coli und/oder den anaeroben Bacteroides fragilis und Clostridien.

38.5.4 Unspezifische Entzündungen und venerische Infektionen Entzündungen der Vorhaut werden Posthitis und die der Glans Balanitis genannt. Neben den gewöhnlichen bakteriellen Entzündungen gibt es auch einige für diese Lokalisation sehr charakteristische nichtinfektiöse entzündliche Erkrankungen: ■ Die Balanoposthitis xerotica obliterans entspricht histologisch einem Lichen sclerosus et atrophicus und führt regelmäßig zu einer Phimose. ■ Die plasmazelluläre Balanitis Zoon kann makroskopisch sowohl ein syphilitisches Ulkus als auch ein Karzinom vortäuschen. Für das histologische Bild dieser harmlosen Entzündung sind lympho-plasmazelluläre Infiltrate des Epithels charakteristisch. Die klassische venerische Entzündung ist der syphilitische Primäraffekt (Erreger: Treponema pallidum), der wegen der auffallenden harten Konsistenz Ulcus durum (harter Schanker) genannt wird. Das schmerzlose Geschwür zeigt histologisch zahlreiche proliferierte Kapillaren mit prominenten Endothelien und dichten plasmazellulären Infiltraten. Mit Hilfe der Versilberung nach Warthin-Starry (siehe Kap. 1.3.4) lassen sich die Erreger im Ulkusgrund nachweisen. Das Ulkus kann auch ohne Therapie ausheilen und eine kleine Narbe hinterlassen. Weitere, selten gewordene venerische Infektionen sind: das Ulcus molle (Erreger: Haemophilus ducreyi), das Lymphogranuloma venereum (Erreger: Chlamydia trachomatis) und das Granuloma inguinale (Erreger: Calymmatobacterium granulomatis). Die Herpes-simplex-Virus-Balanitis (Erreger: meist HSV 2) ist derzeit in den USA die häufigste Geschlechtskrankheit. Die schmerzhaften Bläschen, die später exulzerieren, entstehen in der Penishaut.

38.5.5

Tumoren

Condyloma acuminatum Das Condyloma acuminatum ist eine gutartige papillomatöse Epithelwucherung (Virusakanthose), die oft multipel am Präputium, an der Glans und am Skrotum entstehen kann. Die Krankheit wird durch sexuellen Kontakt übertragen. Das Papillomavirus (HPV) ist die Ursache der Wucherung. HPV Typ 6 und 11 wurden am

häufigsten nachgewiesen. Oft treten Condylomata acuminata bei beiden Geschlechtspartnern auf.

Intraepitheliale Neoplasie und Peniskarzinom Epidemiologie Das Karzinom der Glans oder des Präputiums ist bei uns ein seltenes Malignom des alten Mannes (0,3% aller Neoplasien). In Lateinamerika und in den nichtmoslemischen Ländern Afrikas ist es einer der häufigsten Tumoren.

Ätiologie und Pathogenese

Als Ursache steht an erster Stelle die chronische Infektion, die auf mangelnder Hygiene beruht. Bei den zirkumzidierten Männern kommt dieses Karzinom praktisch nicht vor. Auch im Karzinomgewebe wurden HPV Typ 16 und 18 nachgewiesen. Wie alle Plattenepithelkarzinome entsteht auch das Peniskarzinom aus präkanzerösen Veränderungen (intraepitheliale Neoplasie), die als Erythroplasie Queyrat (wegen der rötlichen Farbe der Veränderung) oder Morbus Bowen bezeichnet werden. Zwischen den beiden bestehen keine wesentlichen histologischen Unterschiede. Bei der bowenoiden Papulose ist das histologische Bild ähnlich. Sie wird von HPV Typ 16 und 18 verursacht und kann spontan ausheilen. Ob sie ebenfalls eine Präkanzerose darstellt, ist umstritten.

Morphologie Das Karzinom kann sowohl exophytisch als auch endophytisch wachsen und ist meist an der Oberfläche exulzeriert. Histologisch ist es ein verhornendes, mehr oder weniger differenziertes Plattenepithelkarzinom, das sehr bald den Schwellkörper infiltriert. Eine prognostisch günstigere Variante ist das rein verruköse Karzinom, das sehr langsam wächst (Riesenkondylom BuschkeLoewenstein). Peniskarzinome metastasieren zunächst in die inguinalen und später in die iliakalen Lymphknoten. Obwohl das Organ stark vaskularisiert ist, erfolgt die hämatogene Aussaat nur sehr spät.

Folgen Der Tumor wird mit partieller oder totaler Penektomie behandelt. Die Patienten mit lokalisiertem Tumor leben nach der Operation durchschnittlich fünf bis sieben Jahre, jene mit Lymphknotenmetastasen nur zwei bis drei.

Sonstige Neoplasien Seltene Tumoren, die in dieser Lokalisation vorkommen, sind das Basalzellkarzinom, das Melanom und der Morbus Paget des Penis, der manchmal mit anderen Neoplasien (z.B. Prostatakarzinom) kombiniert ist. Das heute seltene Plattenepithelkarzinom des Skrotums ist unter dem Namen „Schornsteinfegerkrebs“ in die Medizingeschichte eingegangen. Die extreme Rußbelastung erkannte bereits 1775 der englische Arzt Percival Pott als Ursache für diesen Tumor. Die Peyronie-Krankheit ist eine umschriebene gutartige Fibromatose der Tunica albuginea des Penisschafts, die gewöhnlich mit einer palmaren und/oder plantaren Fibromatose vergesellschaftet ist. Das gewucherte Bindegewebe infiltriert den Schwellkörper und verursacht Schmerzen sowie eine Deviation des Penis auf die erkrankte Seite (Induratio penis plastica).

38.6 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Krankheiten der männlichen Geschlechtsorgane Mengenmäßig steht die Diagnostik von Tumoren der männlichen Geschlechtsorgane im Vordergrund. Die Pathohistologie ist zur Diagnosesicherung und für die Therapieplanung unumgänglich. Die Hodenbiopsie zur Abklärung männlicher Infertilität oder sonstiger hormoneller Störungen (Pseudopubertas praecox) bzw. des Pseudohermaphroditismus wird nur mehr selten durchgeführt (siehe Abschn. 38.1.5). Gemeinsam mit dem Spermiogramm kann das histologische Bild der Spermiogenese und der Leydig-Zellen Auskunft über die Ursache der Störung geben (z.B. Aspermie, Hypopituitarismus). Auch die testikuläre Feminisierung zeigt ein ganz charakteristisches histologisches Bild. Zur Feststellung von ITKZN werden sowohl kryptorche Hoden nach der Pubertät als auch der kontralaterale „gesunde“ Hoden bei Tumororchidektomien biopsiert. Sind atypische Keimzellen vorhanden, werden sie mittels Strahlentherapie zerstört. Allerdings wird diese Vorgangsweise nicht überall akzeptiert. Die postoperative Therapie der Hodentumoren beruht auf der exakten pathologischen Untersuchung des Operationspräparates. Seminome und NSKT (bzw. Kombinationen von beiden) werden unterschiedlich behandelt. Besonders NSKT, die aus mehreren verschiedenen Tumortypen aufgebaut sind, müssen auf morphologische Risikofaktoren (Gefäßeinbrüche, prozentualer Anteil von embryonalem Karzinom u.a.) untersucht werden. Wenn keine Risikofaktoren vorhanden sind, wird der Patient nur beobachtet („wait and see“) und braucht keine sofortige Chemotherapie.

Seit die PSA-Bestimmung im Blut als Screening-Verfahren für die Frühdiagnose des Prostatakarzinoms eingeführt wurde, werden Pathologen mit einer enormen Zahl von Prostatabiopsien konfrontiert (1 Mio/Jahr in den USA). Darüber hinaus werden Prostatae meist blind biopsiert, wenn auch mit bildgebenden Verfahren keine verdächtigen Veränderungen festgestellt werden können. Letztlich hängt es vom Pathologen ab, ob ein Krebs diagnostiziert wird, dessen einziges Symptom ein erhöhter Serum-PSA-Wert ist. Als Folge des PSA-Screenings werden die Krebsherde in den Biopsien immer kleiner und die Diagnostik immer schwieriger. Die Schätzung des Gleason-Scores (genaue Bestimmung kann nur am Operationspräparat erfolgen) ist für die Therapieplanung notwendig; bei hohem Score-Wert (> 8) werden der radikalen Prostatektomie konservative Verfahren (Bestrahlung, Androgenablation) vorgezogen. Beim Prostatektomie-Präparat sind die genaue histologische Bestimmung des Stadiums und die Untersuchung der Resektionsfläche wichtig, da dies klinisch nicht möglich ist. Karzinome, die die Prostatakapsel überschreiten (pT3) und/oder bis zur Resektionsfläche reichen (R1), müssen nachbehandelt werden. Tumorverdächtige Penisläsionen werden sowohl aus diagnostischen als auch aus therapeutischen Gründen exzidiert. Auch in diesem Fall hängt die weitere Therapie von der pathohistologischen Diagnose ab. Bei allen Tumoren der männlichen Geschlechtsorgane werden aus Radikalitätsgründen die inguinalen (Penis) und retroperitonealen (Hoden, Penis, Prostata) Lymphknoten entfernt. Der Nachweis von Lymphknotenmetastasen ist meist Anlass für eine aggressivere Therapie.

Literatur Bostwick, D.G., J.N. Eble: Urologic surgical pathology. Mosby, St. Louis et al. 1997. Damjanov, I.: Pathology of infertility. Mosby, St. Louis et al. 1993. Gondos, B., D.H. Riddick (eds.): Pathology of infertility. Clinical correlations in the male and female. Thieme, Stuttgart–New York 1987. Hedinger, C.E., G. Dhom: Pathologie des männlichen Genitale. In: Doerr, SeifertUehlinger (Hrsg.): Spezielle pathologische Anatomie, Bd. 21. Springer, Berlin et al. 1991. Mikuz, G., I. Damjanov: Inflammation of the testis, epididymis, paratesticular membranes and scrotum. Pathology Annual 17 (1982) 101–128.

FRAGEN 1 Welches Hormon verhindert beim Knaben die Entstehung von Uterus und Tuben?

2 Welches Risiko besteht beim Kryptorchismus und bei genetisch geschädigten Gonaden? 3 Welches ist die akuteste Kreislaufstörung des Hodens? 4 Welche Folgen hat die Varikozele? 5 Für welche Form des testikulären Hypogonadismus sind die Tubulusatrophie/hyalinose und die Hyperplasie der Leydig-Zellen charakteristisch? 6 Welche ist die häufigste Form des posttestikulären Hypogonadismus und was ist ihre Ursache? 7 In welchen Fällen ist die Durchführung einer Hodenbiopsie für die Abklärung der männlichen Infertilität sinnlos bzw. nicht indiziert? 8 Die Inzidenz der Keimzelltumoren des Hodens zeigt beträchtliche geographische und rassische Unterschiede. Welche Männer erkranken am häufigsten? 9 Was sind Tumormarker und welche werden von Keimzelltumoren produziert? 10 Nennen Sie Formen und Morphologie der Keimzellentumoren des Hodens. 11 Welche Anhaltspunkte gibt es für die Hypothese, dass sich mit einer Ausnahme alle Keimzelltumoren aus einer gemeinsamen Stammzelle entwickeln? Welcher Tumor ist die Ausnahme? 12 Bei welchen Patienten beobachtet man die „intratubuläre Keimzellneoplasie“ (Carcinoma in situ des Hodens)? 13 Welche Tumoren zählen zu den Tumoren des Gonadenstromas? 14 Welche Folgen hat die Prostatahyperplasie? 15 Was ist die PIN (prostatische intraepitheliale Neoplasie) und welche klinische Bedeutung hat sie? 16 Was ist ein latentes Karzinom? 17 Welche morphologischen Formen des Prostatakarzinoms kennen Sie? 18 Nennen Sie den wichtigsten Tumormarker beim Prostatakarzinom. 19 Welche Tumoren von Penis und Skrotum kennen Sie und wie lassen sich die regionalen Unterschiede bei der Inzidenz erklären?

20 Welches sind die Indikationen zur morphologischen Untersuchung der in diesem Kapitel beschriebenen Krankheiten? Welche Untersuchungen sind indiziert? Welchen Beitrag können diese Untersuchungen zur präzisen Diagnostik und zur Planung der Therapie leisten?

39 Weibliche Geschlechtsorgane S. LAX, M. DIETEL, Th. LÖNING, W. BÖCKER 39.1

Ovar 904

39.1.1

Normale Struktur und Funktion 904

39.1.2

Fehlbildungen 905

Gonadendysgenesie 906 Intersexualität 906 39.1.3

Erworbene Funktionsstörungen (sog. Endokrinopathien) 907

39.1.4

Zirkulationsstörungen 907

Oophoritis/Adnexitis 907 39.1.5

Nichtneoplastische und funktionelle Ovarialzysten 907

Epitheliale Zysten (Zysten des Müller-Epithels) 908 39.1.6

Tumorartige Läsionen des Ovars 909

39.1.7

Tumoren 909

Epitheliale Tumoren 909 Keimstrang-Stroma-Tumoren 915 Steroidzelltumoren 917 Keimzelltumoren 917 Metastasen 918 39.2

Tube 918

39.2.1

Normale Struktur und Funktion 918

39.2.2

Fehlbildungen 919

39.2.3

Adnexitis (Salpingitis/Oophoritis) 919

Weitere Formen der Salpingitis 919 39.2.4

Tumorartige Läsionen und Tumoren 919

Hydatiden 919 Tumoren 919 Metastasen 919 Tubargravidität 920 39.3

Uterus 920

39.3.1

Normale Struktur und Funktion 920

39.3.2

Fehlbildungen des Uterus 920

39.3.3

Erkrankungen des Endometriums 921

Endometriose 921 Adenomyose 923 Funktionelle Störungen des menstruellen Zyklus 923 Endometritis 924 Endometriumhyperplasie 924 Tumorartige Läsionen 925 Endometriumkarzinom 925 Stromatumoren 926 Karzinosarkom, maligner Müller-Mischtumor 927 39.3.4

Erkrankungen des Myometriums 928

Myometritis 928 Tumoren 928 39.3.5

Erkrankungen der Cervix uteri 929

Reaktive Veränderungen im Bereich der Transformationszone 929

Zervizitis 930 Tumorartige Läsionen 931 HPV-assoziierte plattenepitheliale Läsionen der Cervix uteri 932 Zervixkarzinom 935 39.4

Vagina 939

39.4.1

Normale Struktur und Funktion 939

39.4.2

Fehlbildungen 939

39.4.3

Kolpitis 939

39.4.4

Tumoren und tumorartige Läsionen 939

Plattenepithelkarzinome 939 Adenokarzinome 939 Embryonales Rhabdomyosarkom 940 Metastasen 940 39.5

Vulva 940

39.5.1

Normale Struktur und Funktion 940

39.5.2

Fehlbildungen 940

39.5.3

Vulvitis 940

Nichtinfektiöse Vulvitis 940 Infektiöse Vulvitis 941 39.5.4

Chronische Vulvaerkrankungen 941

Lichen sclerosus 942 Vulväre Stachelzellhyperplasie 942 39.5.5

Tumorartige Läsionen 942

39.5.6

Tumoren 942

Benigne Tumoren 942

Präkanzerosen und Karzinome 942 39.6 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Erkrankungen des weiblichen Genitales 943 Literatur 944 Fragen 945

Zur Orientierung Beim weiblichen Genitale unterscheidet man das äußere Genitale, die Vulva, und das innere Genitale, bestehend aus den Ovarien und dem Hohlorgansystem aus Tube, Uterus und Vagina. Das Hohlorgansystem steht über die Vulva mit der Außenwelt und über die abdominalen Tubenostien mit der Bauchhöhle in Verbindung. Dieses Hohlsystem hat bis auf das distale Drittel der Vagina einen gemeinsamen embryonalen Ursprung, die MüllerGänge, die paarig angelegt sind und teilweise miteinander verschmelzen. Aus den MüllerGängen geht auch eine Vielzahl unterschiedlicher Gewebearten hervor. Im Ovar reifen die weiblichen Geschlechtszellen heran und es werden die weiblichen Geschlechtshormone (Östrogene und Gestagene) produziert. Östrogene und Gestagene regulieren den zyklischen Auf- und Abbau des Endometriums. Demzufolge sind Ovarien und Endometrium eng miteinander verbunden: Funktionelle Störungen der Ovarien (Über, Unter- oder Fehlproduktion von Sexualhormonen) führen zu funktionellen Störungen des Endometriums und damit zu Blutungsanomalien. Dem komplexen Aufbau und den vielfältigen Interaktionen entsprechend ist das Krankheitsspektrum der weiblichen Geschlechtsorgane sehr breit. Von großer Bedeutung sind die Tumoren. Die wichtigste Rolle nehmen dabei die epithelialen Tumoren ein, die sich zum Großteil aus Abkömmlingen des Zölomepithels, vor allem den Müller-Gängen, entwickeln (Abb. 39-1). Zu den verschiedenen Epitheltypen im Bereich des MüllerSystems werden das Drüsenepithel der Tube, des Endometriums und der Endozervix sowie das Plattenepithel von Ektozervix und Vagina gezählt. Demzufolge zeigen viele epitheliale Tumoren des weiblichen Genitales und des Peritoneums eine ähnliche histopathologische Differenzierung. Die malignen epithelialen Tumoren der einzelnen Organe unterscheiden sich durch ihre Symptomatik, ihre Prognose und die Möglichkeiten zur Früherkennung: ■ Ovarialkarzinome werden häufig erst im Spätstadium entdeckt, da sie keine Frühsymptome verursachen. Dementsprechend ist die Prognose ungünstig. ■ Endometriumkarzinome führen häufig bereits in frühen Stadien, mitunter auch bereits in ihren Vorstufen zu abnormen Blutungen und haben daher eine gute Prognose. ■ Das Zervixkarzinom konnte in vielen Ländern durch die regelmäßige zytologische Untersuchung der Portio entscheidend reduziert werden.

Mesenchymale Gewebestrukturen des Müller-Systems (endometriales Stroma, andere Stromaarten, Myometrium) sind Ausgangspunkt mesenchymaler Tumoren. Im Bereich der Ovarien gibt es darüber hinaus noch zwei besondere Tumortypen, die auch im Hodenbereich vorkommen können: Keimzelltumoren und Tumoren, die sich aus dem Ovarialstroma (z.B. Granulosazellen, Thekazellen) entwickeln. Letztere produzieren häufig Sexualhormone (Östrogene, Androgene) und können zu endokrinen Symptomen führen. Das weibliche Genitale ist häufig von Infektionen betroffen. Dabei spielen die Verbindung des Hohlraumsystems mit der Außenwelt und die Aszension von Keimen in der Pathogenese eine besondere Rolle. Fehlbildungen des Hohlraumsystems sowie Störungen der Gonadenausreifung und -differenzierung können generative und hormonelle Dysfunktionen verursachen.

39.1 39.1.1

Ovar Normale Struktur und Funktion

Die Ovarien (Eierstöcke) der geschlechtsreifen Frau sind ungefähr 3×2×1 cm groß und flach-ovoid geformt. Sie liegen in der Fossa ovalis, nahe der lateralen Beckenwand. An der Oberfläche wird das Ovar von einer dünnen Schicht flacher bis isoprismatischer Zellen modifizierten Mesothels, dem so genannten Müller-Epithel, bedeckt (früher fälschlicherweise als Keimepithel bezeichnet). Die Ovarrinde (Kortex) ist aus geflechtartig angeordneten Stromazellen aufgebaut, in welche die Follikel mit den Oozyten eingebettet sind. Die zentrale Markschicht besteht aus lockerem Bindegewebe mit Arterien, Venen und Lymphgefäßen, die am Hilus ein- bzw. austreten. Das Ovar besitzt reproduktive und endokrine Funktionen (Abb. 39-2 und 39-3), letztere im Sinne der östrogen-und Gestagenproduktion. Follikelreifung und Ovulation dienen der Bereitstellung von befruchtungsfähigen Eizellen. Die Follikel bestehen aus der Eizelle und einer sie umgebenden Granulosazellschicht, die bei Primordial- und Primärfollikeln einreihig ist. Durch Proliferation der Granulosazellen entsteht der Sekundärfollikel und schließlich durch Ausbildung eines mit mucopolysaccharidreicher Flüssigkeit gefüllten Hohlraums sowie des Cumulus oophorus (Eizelle mit umgebenden Granulosazellen) der Graaf-Tertiärfollikel. Im umgebenden Rindenstroma differenzieren Stromazellen zur Thekazellschicht. Diese besteht aus der gut umschriebenen Theca interna und der gegenüber dem angrenzenden Ovarialstroma unscharf abgegrenzten faserreichen Theca externa. Die Zellen der Theca interna sind groß und reich an eosinophilem Zytoplasma („luteinisiert“). Die endokrine Funktion des Follikels ist ein komplexes Geschehen, das zum Teil unter der Kontrolle von Hypothalamus und Hypophyse steht. Trotz der hohen Plasmaspiegel an Follikel stimulierendem Hormon (FSH) in der Anfangsphase des Zyklus ist die östrogensekretion im heranreifenden Follikel durch die Granulosazellen und die

Thekazellen unabhängig von den hypophysären Hormonen. Die Follikelreifung und die Sekretion von Gestagenen stehen hingegen unter der Kontrolle der Gonadotropine. Ein hoher Plasmaöstradiolspiegel gegen Zyklusmitte hin bewirkt über eine positive Rückkopplung die Sekretion des luteotropen Hormons (LH) aus der Hypophyse. Dieses löst die Ovulation aus und führt durch Akkumulation von Lipiden in den Granulosa- und Theca-interna-Zellen zur Umwandlung des Follikels in den Gelbkörper (Corpus luteum menstruationis). Die Granulosazellen werden in Progesteron produzierende Granulosa-Luteinzellen umgewandelt, die östrogen produzierenden Thekazellen in (weiterhin östrogen produzierende) Theka-Luteinzellen. Wenn das Ei nicht befruchtet wird, bildet sich das Corpus luteum menstruationis zurück und fibrosiert (Corpus albicans). Dieser Vorgang wird unter anderem durch den Abfall der FSH- und LH-Spiegel gesteuert und lässt als Folge die östrogen- und Progesteronspiegel im Serum abfallen. Nicht gesprungene Follikel, die sich zurückbilden, gehen in ein Corpus atreticum über. Im Falle einer Befruchtung entsteht dagegen ein Corpus luteum graviditatis mit einem Durchmesser von bis zu 3 cm. Es produziert bis zum dritten Monat der Schwangerschaft weiter Progesteron und östrogen und ist damit für die Aufrechterhaltung der Schwangerschaft verantwortlich. Diese Funktion wird dann zunehmend von der Plazenta durch Produktion humanen Choriongonadotropins (HCG) übernommen.

Abb. 39-1 Genitales.

Embryonalentwicklung des weiblichen

a Schematische Darstellung. b 6 Wochen alter Embryo im Querschnitt. Ausbildung der Müller-Gänge durch Einstülpungen des Zölomepithels. In diesem Stadium der Embryogenese entstehen die Gonaden, indem sich die Keimstränge differenzieren und die Urgeschlechtszellen aus der Wand des Dottersackes einwandern. Gleichzeitig beginnt die Differenzierung der Urnierenkanälchen. c 6 Wochen alter Embryo (etwas später als a). Die Ausbildung der Müller-Gänge durch Einstülpungen des Zölomepithels ist vollzogen.(a aus Goerke/Valet: Kurzlehrbuch Gynäkologie und Geburtshilfe, 5. Aufl. 2003, Urban & Fischer, b und c modifiziert nach Moore/Persard: Embryologie. 4. Aufl. 1996, Schattauer).

Abb. 39-2 Reifung des Follikels im Ovar, Bildung des Gelbkörpers.

Die Ovarfollikel produzieren auch nichtsteroidale Hormone, von denen das bekannteste α-Inhibin ist, ein Glykoprotein. α-Inhibin wird von den Granulosazellen synthetisiert und unter Kontrolle von LH sezerniert. Es hemmt die FSH-Sekretion. Auch Granulosaund Thekazelltumoren produzieren α-Inhibin, was man sich im Rahmen der Diagnostik histologisch schwieriger Fälle zunutze macht (immunhistochemischer Nachweis, siehe Abb. 39-10b). Granulosazellen sezernieren außerdem die Müller-Hemmsubstanz und Prorenin.

39.1.2

Fehlbildungen

Fehlbildungen der Ovarien sind hereditär und seltene Ursache einer ovariellen Funktionsstörung. Deren Kardinalsymptom ist die primäre Amenorrhö. Fehlbildungen

der Ovarien können isoliert auftreten oder Bestandteil umfassender, chromosomal bedingter Störungen der sexuellen Differenzierung sein. Letztere umfassen sowohl Störungen des weiblichen Genotyps als auch Formen der Intersexualität.

Abb. 39-3 Regelkreis zwischen Hypothalamus, Hypophyse und Ovar.

In morphologischer Hinsicht unterscheidet man die Agenesie (völliges Fehlen der Keimdrüsenanlage) von der Dysgenesie, bei der funktionsuntüchtige bindegewebige Stränge anstelle der Gonaden angelegt sind. Die Intersexualität kann mit gemischten und rein männlichen Gonaden einhergehen.

Gonadendysgenesie Definition Die Gonadendysgenesie ist eine Entwicklungsstörung der Ovarien mit Ausbildung strangförmiger Gonadenrudimente. Sie kann mit normalem und gestörtem Chromosomensatz einhergehen. In ca. 50% der Fälle liegt eine nummerische Aberration der Geschlechtschromosomen mit X0-Monosomie (Ullrich-TurnerSyndrom) vor, daneben kann auch ein X0/XX-Mosaik vorkommen.

Morphologie

Das Ovar ist nur als fibröser Strang (Streak-Gonaden) vorhanden. Follikel mit Eizellen fehlen.

Klinisch-pathologische Korrelationen Gonadendysgenesien sind generell durch primäre Amenorrhö und fehlende Sexualentwicklung gekennzeichnet. Daneben kann ein breites Spektrum innerer und äußerer Fehlbildungen vorkommen. Frauen mit Ullrich-Turner-Syndrom haben zwar einen weiblichen Phänotyp, jedoch bleibt die Geschlechtsentwicklung in der Pubertät aus. Typisch sind die primäre Amenorrhö, meist auch ein reduziertes Körperwachstum sowie eine vorzeitige Alterung. Außerdem können multiple Fehlbildungen innerer Organe auftreten, wie z.B. kongenitale Herzvitien (Koarktation der Aorta, Aortenisthmusstenose), die idiopathische Medianekrose, eine mäßige Minderung der Intelligenz und vermehrt Autoimmunerkrankungen. Häufig assoziiert sind ferner Diabetes mellitus und Achlorhydrie. Aufgrund des durch die sehr niedrige östrogensekretion hohen FSH-Wertes im Serum spricht man vom hypergonadotropen Hypogonadismus.

Intersexualität Definition Unter Intersexualität (Zwittertum) versteht man das gleichzeitige Vorkommen männlicher und weiblicher Geschlechtsmerkmale bei einem Individuum. Es besteht eine Diskrepanz zwischen chromosomalem Geschlecht, Gonadenmorphologie und äußeren Geschlechtsmerkmalen. Die Gonaden sind bei allen Formen fehlangelegt. Der Phänotyp im Bereich des Genitales kann von einem rein weiblichen bis zu einem rein männlichen reichen.

Man unterscheidet drei wesentliche Formen der Intersexualität: Hermaphroditismus verus, Pseudohermaphroditismus masculinus und Pseudohermaphroditismus femininus. Der Begriff Hermaphrodit stammt aus der griechischen Mythologie.

Hermaphroditismus verus Definition Seltenes Krankheitsbild, bei dem Ovar- und Hodengewebe bei einem Individuum vorkommen. Der Genotyp ist meist weiblich, selten männlich oder ein XX/XYMosaik. Es finden sich sowohl Testes als auch Ovarien, entweder in einem Organ vereint (Ovotestis) oder getrennt. Ein weiblicher Phänotyp überwiegt.

Pseudohermaphroditismus masculinus Definition Darunter versteht man Individuen mit männlichem Genotyp bzw. Gonaden, aber weiblichem Phänotyp (männlicher Scheinzwitter). Die Ursache liegt in einer fehlenden oder verminderten Androgenproduktion oder einer fehlenden Wirkung der Androgene am Zielort. Häufigste Form ist die testikuläre Feminisierung, bei der ein Androgenrezeptordefekt mit vollständiger oder unvollständiger Androgenresistenz besteht (totale bzw. partielle testikuläre Feminisierung). Das äußere Genitale ist weiblich; Uterus, Tuben und Ovarien fehlen aber. Die Vagina endet blind. Bei der totalen Form fehlt die Sekundärbehaarung, es besteht ein knabenhafter, schlanker Hochwuchs.

Pseudohermaphroditismus femininus Definition Darunter versteht man Individuen mit weiblichem Genotyp bzw. weiblichen Gonaden, aber männlichem Phänotyp (weiblicher Scheinzwitter). Die Ursache liegt in der Einwirkung von Androgenen auf ein normal angelegtes weibliches Genitale als Folge von Enzymstörungen der Steroidbiosynthese (beim adrenogenitalen Syndrom, siehe Kap.16.1.10), exogener Zufuhr (Anabolika, Gestagene mit androgener Restwirkung) oder Produktion durch Tumoren. Der Fetus ist im 3. und 4. Monat der Schwangerschaft besonders empfindlich auf exogene Einflüsse.

39.1.3 Erworbene Funktionsstörungen (sog. Endokrinopathien) Hormonbedingte Dysregulationen der Ovarialfunktion können entsprechend dem komplexen Regulationssystem verschiedenste Ursachen haben, die auf hypothalamischer, hypophysärer oder ovarieller Ebene liegen. Dabei sind rein funktionelle sowie organische Störungen möglich. ■ Die funktionellen Störungen betreffen häufig die übergeordneten Zentren (Hypophyse und Hypothalamus), können aber auch durch Erkrankungen und Funktionsstörungen anderer endokriner Organe (v.a. der Schilddrüse) verursacht sein. ■ Organische Veränderungen im Bereich der Ovarien können durch Tumoren, Entzündungen und Zirkulationsstörungen auftreten, aber auch durch operative Eingriffe, Bestrahlung und Medikamente (z.B. Chemotherapie) verursacht sein. Die Störungen führen entweder zu einer über- oder zu einer Unterproduktion von Sexualhormonen. Die Auswirkungen und Symptome hängen davon ab, ob die Störung vor oder nach der Pubertät auftritt. ■ Vor der Pubertät kommt es bei östrogenproduktion zur Pubertas praecox (verfrühtes Einsetzen der Pubertät, d.h. Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale vor dem 8. Lebensjahr), bei fehlender Follikelreifung und Ovulation zur primären Amenorrhö, bei übermäßiger Androgenproduktion zur Androgenisierung mit primärer Amenorrhö und Virilisierung (Vermännlichung). ■ Nach der Pubertät führt eine verstärkte östrogenproduktion zur übermäßigen Proliferation des Endometriums und Entwicklung einer Endometriumhyperplasie. Dies äußert sich in einem Ausbleiben der Regelblutung aufgrund verlängerter Zyklen mit anschließender Schmierblutung. Eine übermäßige Androgenproduktion führt zur Virilisierung, eine verzögerte Follikelreifung zu einer sekundären Amenorrhö. Bleibt die Hormonproduktion durch die Ovarien infolge Zerstörung aus, kommt es zur vorzeitigen Menopause. Unter primärer Amenorrhö versteht man das Ausbleiben der Menarche, unter sekundärer Amenorrhö das Ausbleiben bereits normal vorhandener Regelblutungen. Die Androgenisierung infolge vermehrter Androgenwirkung kann sich als unterschiedlich ausgeprägte Virilisierung (Vermännlichung) äußern. Beim Vollbild finden sich männliche sekundäre Geschlechtsmerkmale (männlicher Behaarungstyp, Klitorishypertrophie, tiefe Stimme), beim Hirsutismus nur ein männlicher Behaarungstyp.

39.1.4

Zirkulationsstörungen

Zu den wesentlichen Zirkulationsstörungen gehören hämorrhagische Infarzierung und Blutung. Die hämorrhagische Infarzierung entsteht als Folge einer Torsion des Ovars mit dem Ligamentum suspensorium ovarii um die eigene Achse. Sie führt zu einer venösen Abflussbehinderung bei intaktem arteriellem Zufluss und in der Folge zur Einblutung in das Ovar mit nachfolgender Nekrose. Das Ovar ist deutlich vergrößert und hämorrhagisch durchsetzt. Klinisch äußert sich die Infarzierung als akuter abdominaler Schmerz. Eine hämorrhagische Infarzierung kann als Komplikation zystischer Veränderungen des Ovars auftreten. Ovarielle Blutungen treten z.B. nach Ruptur von Follikeln (z.B. Graaf-Follikel) oder Zysten auf, z.B. nach Therapie mit Antikoagulanzien. Klinische Symptome sind die Kreislaufstörung bis hin zum Schock.

Oophoritis/Adnexitis Siehe Kap. 39.2.3.

39.1.5 Nichtneoplastische und funktionelle Ovarialzysten Definition Ovarialzysten können grundsätzlich nichtneoplastischer oder neoplastischer Natur sein. Nichtneoplastische Zysten (Tab. 39-1) leiten sich vom Follikelepithel oder vom Müller-Epithel ab, wobei erstere Hormone produzieren können und daher als funktionelle Zysten bezeichnet werden. Epitheliale Zysten (Zysten des MüllerEpithels) entstehen meist durch Einstülpungen des ovariellen Oberflächenepithels und sind überwiegend von serösem Epithel ausgekleidet. Zu Zysten mit Abstammung vom Müller-Epithel zählt man auch die Endometriosezysten.

Klinisch-pathologische Korrelationen Funktionelle Zysten können Zyklusstörungen verursachen, sind aber oft asymptomatisch und werden zufällig entdeckt. Daher ist ihre genaue Inzidenz nicht bekannt. Kleine Epithelzysten sind asymptomatisch, größere führen infolge der Raumforderung zu einer abdominalen Drucksymptomatik, die mit intestinalen Beschwerden oder Miktionsstörungen verbunden sein kann. Seltener treten als Komplikationen Einblutungen, eine Torsion mit hämorrhagischer Infarzierung oder Rupturen auf.

Tab. 39-1 Einteilung der nichtneoplastischen Ovarialzysten. Zysten des Follikels Zysten des präovulatorischen Follikels ■ Follikelzysten ■ luteinisierte Follikelzysten (Granulosa-Luteinzysten) Zysten des postovulatorischen Follikels ■ Corpus-luteum-Zyste ■ Corpus-albicans-Zyste Zysten des Müller-Epithels Inklusionszysten (Serosaeinschlusszysten) Endometriosezysten

Follikelzyste Die häufigsten Ovarialzysten sind die von Follikelzellen ausgekleideten präovulatorischen Zysten. Sie entstehen durch eine Follikelpersistenz und sind mit seröser Flüssigkeit gefüIlt. Am häufigsten treten sie unmittelbar nach der Menarche oder in der Prämenopause auf, u.U. jedoch auch in der Postmenopause. Bei Vorliegen von Follikelzysten findet in aller Regel kein Eisprung statt, die Zyklen verlaufen anovulatorisch. Bei der solitären Form spricht man erst ab einem Durchmesser von 3 cm von einer Follikelzyste, da ein normaler Graaf-Follikel bis zu 3 cm groß sein kann.

Morphologie Ab einem Durchmesser von 3 cm werden zystische Follikel als pathologisch gewertet. Follikelzysten haben meist einen Durchmesser bis zu 8 cm (selten mehr) und bestehen aus einer Granulosazellschicht (ca. vier Zelllagen) und einer umgebenden Theca interna (Abb. 39-4), die in unterschiedlichem Maße luteinisiert sein können (luteinisierte Follikelzysten).

Klinisch-pathologische Korrelationen Die meisten Follikelzysten bilden sich spontan zurück und bleiben klinisch stumm. Sie können aber auch Steroidhormone bilden, insbesondere östrogene, seltener Androstendion. Die kontinuierliche östrogenbildung ohne alternierende

Gestagenproduktion führt zu einer Endometriumhyperplasie mit anovulatorischen Zyklen und in der Folge zu Dauerschmierblutungen (siehe Kap. 39.3.3). In 50% der Fölle ist das Ovar palpatorisch vergrößert.

Syndrom der polyzystischen Ovarien (PCO) Syn.: Stein-Leventhal-Syndrom

Definition Polyzystische Ovarien sind wahrscheinlich eine Sonderform der Follikelzysten und durch eine Vergrößerung beider Ovarien mit zahlreichen kleinen Follikelzysten sowie einer Fibrose der Ovarialrinde gekennzeichnet.

Abb. 39-4

Follikelzyste.

Zystischer Hohlraum, der von mehreren Schichten von Follikelzellen (Pfeile) begrenzt wird. An der Außenseite Rindenstroma des Ovars. HE, Vergr. 20fach.

Pathogenese Initial liegt eine erhöhte Produktion von Androgenen in der Nebennierenrinde vor, die im Fettge-webe (Adipositas!) durch Aromatisierung in östrogene umgewandelt werden. Der Hyperöstrogenismus führt zu einer verstärkten hypophysären LHSekretion, die über einen noch unbekannten Mechanismus eine Fibrose der Ovarialrinde induziert. Der FSH-Serumspiegel ist normal oder erniedrigt.

Morphologie Die Ovarien sind vergrößert, grauweiß und von multiplen, bis 1,5 cm großen Zysten durchsetzt. Histologisch finden sich in einer verbreiterten fibrosierten

Rinde perlschnurartig aufgereihte Zysten. Daneben sind zahlreiche Follikel in unterschiedlichen Reifungsstadien entwickelt. Zeichen der Ovulation fehlen.

Klinisch-pathologische Korrelationen Klinische Symptome sind Oligo- bzw. Amenorrhö, Sterilität und Infertilität sowie häufig Hirsutismus und Adipositas. Das Vollbild dieser Erkrankung wird als Stein-Leventhal-Syndrom bezeichnet. Die östrogenproduktion induziert eine Endometriumhyperplasie mit gesteigertem Risiko für ein Endometriumkarzinom (in 5%). Im Serum sind erhöhte Werte für LH, Androgene und östrogene nachweisbar. Die Diagnose wird durch Laparoskopie und Biopsie histologisch gesichert.

Corpus-luteum-Zysten Die Corpus-luteum-Zyste entsteht durch die verlangsamte Rückbildung des Corpus luteum (Corpus-luteum-Persistenz). Sie besteht aus GranulosaLuteinzellen, die durch eine fibröse Bindegewebeschicht gegen das Zystenlumen abgegrenzt werden.

Klinisch-pathologische Korrelationen Durch die Persistenz von Granulosa-Luteinzellen ist die Progesteronproduktion gesteigert. Als Folge kommt es zur verzögerten Abstoßung des Endometriums, was sich als Menstruationsstörungen mit verlängertem Zyklus äußert.

Corpus-albicans-Zysten Die Corpus-albicans-Zyste entwickelt sich aus einer Corpus-luteum-Zyste. Die Wand ist hyalinisiert, das Lumen häufig mit klarer Flüssigkeit gefüllt. Die Zyste ist endokrin inaktiv.

Epitheliale Zysten (Zysten des Müller-Epithels) Inklusionszysten Im Rahmen von Ovulationen kann Oberflächenepithel (Müller-Epithel) ins Rindenstroma verlagert werden und sich in der Folge zystisch verändern. Diese Inklusionszysten werden meist von serösem Epithel ausgekleidet (Abb. 39-5). Ihr Durchmesser beträgt bis zu 1 cm (willkürliche Abgrenzung zum serösen Zystadenom). Sie sind Zufallsbefunde und treten klinisch nicht in Erscheinung.

Abb. 39-5 Entstehung epithelialer Tumoren aus dem Müller-Oberflächenepithel (Schema).

a Normales Müller-Oberflächenepithel. Kleine Inklusionszysten des Ovars stellen die Ausgangszellen der epithelialen Ovarialtumoren dar. b Zystadenom. Mit einem einschichtigen Epithel im Bereich der zystischen Drüse. c Borderline-Tumor. Mit mehrschichtigem, atypischem Epithel und Ablösen von Epithelknospen. d Adenokarzinom. Mit infiltrativem Wachstum sowie Einbruch in die Serosa.

Endometriosezysten Eine typische Lokalisation der Endometriose ist das Ovar. Es kommt häufig zur zystischen Ausweitung der Endometriosedrüsen, verbunden mit regressiven Veränderungen (Blutungen, Vernarbung). Zysten mit Blutungsresten in Form eines braunschwarzen schmierigen Inhalts werden im klinischen Jargon als Schokoladenzysten bezeichnet. Nähere Details siehe Kap. 39.3.3.

Parovarialzyste (Paratubalzyste) Diese Zysten in der unmittelbaren Umgebung des Ovars entstehen im Mesovarium oder in der Mesosalpinx meist aus Einstülpungen des Mesothels oder aus Resten des Müller-Gangs (sog. paramesonephrische Zysten), selten aus Resten des Wolff-Gangs (sog. mesonephrische Zysten). Bei entsprechendem Durchmesser (bis zu 10 cm) können Parovarialzysten zu einer Atrophie des Ovars führen. Die Unterscheidung nach der Herkunft kann mitunter schwierig sein. Paramesonephrische und mesonephrische Zysten besitzen typischerweise eine muskuläre Wand und enthalten seröse Flüssigkeit, erstere sind von einem serösen Epithel ausgekleidet. Die

Morgagni-Hydatide wird auch zu den paramesonephrischen Zysten gezählt (siehe Kap. 39.2.4).

Tuboovarialzyste Siehe Kap. 39.2.3.

39.1.6

Tumorartige Läsionen des Ovars

Ovarialstromahyperplasie, Hyperthekose Es handelt sich um eine Hyperplasie von spezifischen Stromazellen des Ovars, die sich von der Bindegewebehülle der Sekundärfollikel ableiten. Wenn die Zellen luteinisieren, spricht man von Hyperthekose.

Morphologie

Makroskopisch sind beide Ovarien vergrößert, die Rinde ist verbreitert. Mikroskopisch sieht man eine noduläre Proliferation von Stromazellen.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die hyperplastischen Stromazellen können vermehrt Steroide bilden. Das klinische Bild ist von den hormonellen Auswirkungen auf das Endometrium geprägt und hängt von der Art des gebildeten Steroids ab (siehe Kap. 39.3.3). Gestagene hemmen die Proliferation des Endometriums und verhindern die Ovulation. Es entwickelt sich eine Endometriumatrophie.

39.1.7

Tumoren

Definition Das Ovar wird von drei histogenetisch unterschiedlichen Gewebekomponenten gebildet: ■

dem Oberflächenepithel



dem Stroma einschließlich der Keimstrangabkömmlinge



den Keimzellen.

Dementsprechend ergeben sich nach der WHO-Klassifikation drei Hauptgruppen von Tumoren: epitheliale, Keimstrang-Stroma- und Keimzelltumoren (Tab. 39-2). Ergänzt werden diese Hauptgruppen durch einige seltene Tumortypen und durch Metastasen extraovarieller Tumoren. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Gewebedifferenzierungen ist die Tumorklassifikation außerordentlich komplex.

Epitheliale Tumoren Epitheliale Tumoren des Ovars leiten sich vom Müller-Oberflächenepithel ab. Meist treten sie als zystische, auf dem Boden einfacher Inklusionszysten entstandene Tumoren in Erscheinung (Abb. 39-5). Seltener sitzen sie dem Ovar als papilläre Läsionen auf. Bezüglich der Dignität unterscheidet man folgende Tumorgruppen:

Tab. 39-2 Primäre Ovarialtumoren. ■

benigne Tumoren (Zystadenome, Zystadenofibrome, Oberflächenpapillome)



Tumoren mit unsicherer Dignität (Borderline-Tumoren)



maligne Tumoren (Adenokarzinome).

Borderline-Tumoren Die Borderline-Tumor-Kategorie ist eine Besonderheit der epithelialen Ovarialtumoren. Borderline-Tumoren können bei allen histologischen Typen vorkommen. Sie liegen biologisch zwischen benignen und malignen Tumoren, wobei sie sich von beiden durch bestimmte Eigenschaften unterscheiden. Im Gegensatz zu gutartigen Tumoren sind sie histologisch durch eine verstärkte Epithelproliferation sowie zelluläre Atypien gekennzeichnet (Syn.: atypisch proliferierende Tumoren). Anders als bei Karzinomen fehlt aber eine Stromainfiltration. Ihre klinische Besonderheit liegt darin, dass in ca. 10–15% der Fälle oft erst nach vielen Jahren Rezidive, zum Teil in Form eines Karzinoms, auftreten. Bis dato gibt es keine verlässlichen allgemein gültigen Kriterien, die den Verlauf eines Borderline-Tumors voraussagen können.

Epidemiologie Die epithelialen Tumoren stellen mit 50–60% die größte Gruppe der Ovarialgeschwülste (Tab. 39-3). In der westlichen Welt sind sie mittlerweile die häufigsten tödlich verlaufenden gynäkologischen Tumoren (ausgenommen das Mammakarzinom). Es besteht eine Häufung bei Patientinnen mit vorausgegangenem Endometrium- oder Zervixkarzinom. Benigne und Borderline-Tumoren kommen überwiegend bei Frauen zwischen dem 20. und 45. Lebensjahr vor. Ovarialkarzinome dagegen sind bei älteren Frauen häufiger (zwischen dem 40. und 65. Lebensjahr). Als Risikofaktor gilt eine hohe Anzahl an Ovulationen während des Lebens, wohingegen das Risiko durch die Einnahme von Ovulationshemmern gesenkt wird. Frauen mit Mammakarzinom haben auch ein erhöhtes Risiko, an einem Ovarialkarzinom zu erkranken. Auch einzelne Umweltfaktoren (wie Asbest) sollen zu einer höheren Rate von Ovarialkarzinomen führen.

Genetik des Ovarialkarzinoms Bei familiärer Belastung ist die Wahrscheinlichkeit, ein Ovarialkarzinom zu entwickeln, bis zu 20-mal höher. Man muss davon ausgehen, dass etwa 5–10% aller Ovarialkarzinome hereditär, also erblich bedingt sind. In Familien mit gehäuftem Vorkommen von Mamma- und Ovarialkarzinomen finden sich häufig Keimbahnmutationen des BRCA-1-Gens. Hinsichtlich ihrer molekulargenetischen Veränderungen sind die Ovarialkarzinome eine heterogene Gruppe. Zwischen Zystadenomen, Borderline-Tumoren und Karzinomen nimmt die Häufigkeit genetischer Alterationen zu. Dies weist darauf hin, dass zumindest für einen Teil der Ovarialkarzinome eine Adenom-KarzinomSequenz zutrifft. Es konnte aber gezeigt werden, dass sich die einzelnen histologischen Typen des Ovarialkarzinoms hinsichtlich ihrer genetischen Veränderung und ihres Entstehungsmechanismus deutlich unterscheiden. Der Großteil der serösen Ovarialkarzinome, der niedrigdifferenziert ist, entsteht mit hoher Wahrscheinlichkeit de novo, d.h. ohne eine definierte Vorstufe. Es finden sich häufig p53-Mutationen. Im Gegensatz dazu nimmt man bei einem kleinen Teil der serösen Ovarialkarzinome, der überwiegend hochdifferenziert ist, an, dass sie über die Zwischenstufe eines Borderline-Tumors entstehen (entsprechend einer AdenomKarzinom-Sequenz). Bei Borderline-Tumoren und hochdifferenzierten serösen Karzinomen findet sich anders als bei den niedrigdifferenzierten serösen Karzinomen häufig eine Mikrosatelliteninstabilität, jedoch selten p53-Mutationen; auch K-ras-Mutationen sind nachweisbar. Bei muzinösen Karzinomen wird überwiegend eine AdenomKarzinom-Sequenz über eine Borderline-Zwischenstufe angenommen, wobei K-rasMutationen die häufigste genetische Alteration darstellen.

Tab. 39-3 Häufigkeitsverteilung der epithelialen Ovarialtumoren (modifiziert nach Kurman, 2002).

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Symptome epithelialer Ovarialtumoren sind unspezifisch und unabhängig vom histologischen Typ. Grundsätzlich kann man zwei Formen der klinischen Präsentation unterscheiden: ■ Gutartige Tumoren, Borderline-Tumoren und Karzinome im Stadium I äußern sich durch geringe Symptome, evtl. durch Schmerzen und Druckgefühl im kleinen Becken bzw. unteren Abdomen. Häufig werden sie zufällig im Rahmen gynäkologischer Untersuchungen entdeckt. ■ Größere Tumoren können gastrointestinale Symptome (Dyspepsie, übelkeit, Krämpfe und Durchfall) sowie Störungen des Harnlassens (Dysurie und Polyurie) erzeugen. Bei Torsion oder Ruptur treten plötzlich heftige Schmerzen auf. Leider werden diese Karzinome häufig erst im fortgeschrittenen Stadium durch eine akute abdominale Symptomatik, verbunden mit einem aufgetrieben Abdomen (Aszites), diagnostiziert. Paraneoplastische Syndrome (Akanthosis nigricans, kortikozerebellare Degeneration, Cushing-Syndrom, endokrine Dysbalance, Hyperkalzämie u.a.) können in seltenen Fällen auf einen Ovarialtumor hinweisen.

Stadieneinteilung Die Metastasierung erfolgt zunächst intraperitoneal (kleines Becken, Darmschlingen, Omentum majus, Leberoberfläche, Peritoneum parietale) sowie lymphogen (pelvine und paraaortale Lymphknoten), später auch hämatogen. Die Stadieneinteilungen nach den Richtlinien des TNM-Systems der UICC (Union Internationale Contre le Cancer) und der FIGO (Fédération Internationale de

Gynécologie et d'Obstétrique) sind in Tab. 39-4 dargestellt. Dabei ist unter klinischprognostischen Gesichtspunkten die Unterscheidung zwischen Stadium I/II (Begrenzung auf Ovarien bzw. kleines Becken) gegenüber III/IV (intraabdominale Dissemination bzw. Fernmetastasen) besonders wichtig, da die 5-Jahresüberlebensrate in den Stadien I und II 90 bzw. 60% beträgt, während sie ab Stadium III nur noch bei 10% liegt.

Tab. 39-4 pTNM-Klassifikation und FIGO-Stadien des Ovarialkarzinoms. Anmerkung: Metastasen an der Leberkapsel entsprechen pT3/Stadium III, Leberparenchymmetastasen pM1/Stadium IV. Um einen Pleuraerguss als pM1/Stadium IV zu klassifizieren, muss ein positiver zytologischer Befund vorliegen

Seröse Tumoren Definition Seröse Tumoren sind durch zystische Hohlräume gekennzeichnet, die meist mit klarer gelblicher Flüssigkeit gefüllt sind. Sie werden von serösem Epithel, einer flachen bis hochprismatischen Zellschicht mit mittelständigen Kernen, ausgekleidet. Das seröse Ovarialkarzinom ist die häufigste maligne Geschwulst des Ovars.

Benigne seröse Tumoren (seröse Zystadenome, Zystadenofibrome und Oberflächenpapillome) Seröse Zystadenome stellen 25% aller benignen und 60% der serösen Ovarialtumoren. Der Altersgipfel liegt in der 4. und 5. Dekade. Etwa 20% treten bilateral auf (Tab. 395).

Morphologie Seröse Zystadenome

sind ein- oder mehrkammerige, dünnwandige Zysten, die mit klarer gelblicher Flüssigkeit gefüllt sind. Sie gehen aus Inklusionszysten des Oberflächenepithels hervor (siehe Kap. 39.1.6). Von diesen unterscheiden sich kleine Zystadenome durch ihren Durchmesser, der mehr als 1 cm beträgt und im Extremfall bis über 50 cm ausmachen kann. Die Innenfläche der Zysten ist meist glatt (Abb. 39-6a), kann aber auch papilläre Proliferationen aufweisen (papilläres seröses Zystadenom). Sind die Neubildungen reich an kollagenem Bindegewebe, werden sie als Zystadenofibrome bezeichnet. Manifestieren sich papilläre Veränderungen an der äußeren Oberfläche des Ovars, wird die Läsion als seröses Oberflächenpapillom bezeichnet. Benigne seröse Ovarialtumoren sind typischerweise von einreihigem serösem Epithel ausgekleidet (Abb. 39-6b), können aber ein breites Spektrum epithelialer Proliferation aufweisen. Das Epithel darf keine Atypien aufweisen.

Abb. 39-6

Seröses Zystadenom. a Makroskopie.

a Makroskopie.Schnittfläche eines 15 cm großen Tumors aus unterschiedlich großen glattwandigen Zysten. b Histologie.Die Zystenwand wird von ovariellem Rindenstroma eingenommen und von isoprismatischem Epithel ausgekleidet. Ausdruck der serösen Differenzierung ist das Vorhandensein von Flimmerhärchen an der apikalen Seite der Epithelzellen. HE, Vergr. 150fach.

Tab. 39-5 Bilateral auftretende epitheliale Ovarialtumoren.

Seröse Borderline-Tumoren 10–20% der serösen Ovarialtumoren sind Borderline-Tumoren. 50–60% aller Borderline-Tumoren zeigen eine seröse Differenzierung. Der Häufigkeitsgipfel liegt zwischen 35 und 45 Jahren. Etwa 25–40% treten bilateral auf.

Abb. 39-7

Seröser Borderline-Tumor (Histologie).

Neoplastische Papillen, die von einem mehrreihigen, teils büschelförmigmikropapillären Epithel (Pfeile) begrenzt werden. HE, Vergr. 100fach.

Morphologie Makroskopisch besteht ein zystischer Tumor mit papillären Proliferationen. Histologisch kommt die Epithelproliferation durch ein mehrreihiges, z.T. Knospen bildendes bis pseudopapillär gebautes Epithel und durch das Ablösen von Epithelknospen zum Ausdruck (Abb. 39-7). In ca. 60% der Fälle besteht eine meist fokale intra- und/oder extrazelluläre Schleimbildung (gemischte serös-muzinöse Tumoren). Seröse Borderline-Tumoren mit Mikroinvasion (invasive Tumorkomponente mit maximal 3 mm Durchmesser) unterscheiden sich bezüglich ihrer Prognose nicht von Borderline-Tumoren ohne Invasion. Trotz fehlender Invasion können Borderline-Tumoren, vor allem bei exophytischem Wachstum im Bereich der Ovaroberfläche, Absiedelungen im Peritoneum aufweisen. Diese werden als Implantate bezeichnet. Ihre Entstehung erklärt man sich entweder durch Ablösen und kavitäre Verschleppung von Tumoranteilen oder eine gleichzeitige (multifokale) Proliferation im Bereich des Peritoneums bei entsprechender Disposition (sog. Feldeffekt im Müller-System). Die meisten Implantate sind mit einer reaktiven Bindegewebeproliferation verbunden, zeigen aber keine Invasion (nichtinvasive Implantate). Die seltenen invasiven Implantate sind als extraovarielle Karzinome zu werten.

Prognose Borderline-Tumoren haben eine ausgezeichnete Prognose mit mehr als 90%iger überlebenswahrscheinlichkeit 10 Jahre nach Diagnosestellung. Nur ein Teil jener Tumoren mit ungünstiger Prognose geht nach vielen Jahren in ein Karzinom über. Bei Vorhandensein von Implantaten zum Zeitpunkt der Diagnosestellung (Stadien II und III) ist die Prognose ungünstiger, da Rezidive in ca. einem Drittel der Fälle auftreten.

Seröse Adenokarzinome Das seröse Adenokarzinom ist mit ca. 50% das häufigste Ovarialkarzinom. In ca. 65% der Fälle tritt es bilateral auf. Der Altersgipfel liegt zwischen 45 und 65 Jahren.

Morphologie

Makroskopisch liegen meist relativ große Tumoren vor, die sowohl zystische als auch solide Anteile aufweisen (Abb. 39-8a). Die Histologie ist durch ein papilläres, drüsiges oder solides Tumorzellwachstum mit eindeutiger Stromainvasion gekennzeichnet (Abb. 39-8b). Die meisten Fälle sind niedrigdifferenziert, mit ausgeprägten Zellatypien und reichlich Mitosen.

Muzinöse Tumoren Muzinöse Tumoren sind durch ein hochprismatisches, Schleim bildendes Epithel charakterisiert, das dem der Endozervix ähnelt. Sie stellen mit etwa 30% die zweitgrößte Gruppe der epithelialen Ovarialtumoren dar. In ca. 75% der Fälle sind die Tumoren benigne, der Rest entfällt zu etwa gleichen Teilen auf BorderlineTumoren und Karzinome. Bilateralität ist im Gegensatz zu serösen Tumoren selten (< 10%, bezogen auf alle muzinösen Tumoren; siehe Tab. 39-4).

Morphologie Benigne muzinöse Tumoren

sind typischerweise mehrkammerige, dünnwandige Zysten mit glatter innerer Oberfläche und schleimig-gallertigem Inhalt. Ihre Größe kann bis zu 25 cm betragen. Sie treten in ca. 5% der Fälle bilateral auf. Die Zysten werden von einem einschichtigen, hochprismatischen, muzinösen Epithel mit basalständigen Zellkernen ausgekleidet. Die Zellen haben ein schleimhaltiges Zytoplasma und ähneln entweder dem Epithel der Endozervix oder jenem des Dickdarms (Becherzellen). Muzinöse Borderline-Tumoren bestehen makroskopisch ebenfalls meist aus multiplen schleimgefüllten Zysten. Solide Abschnitte können ebenfalls vorkommen. Histologisch werden die Zysten von einem mehrreihigen muzinösen Epithel ausgekleidet, das sowohl Zeichen der Proliferation als auch unterschiedlich ausgeprägte zelluläre Atypien aufweist. Ein invasives Wachstum fehlt. Muzinöse (Zyst-)Adenokarzinome sind makroskopisch durch solide Areale und meist auch unterschiedlich große Zysten charakterisiert. Letztere sind mit schmutzig-gallertartigem Inhalt gefüllt. Histologisch charakteristisch ist das invasive Wachstum atypischer muzinöser Drüsenformationen mit unterschiedlich ausgeprägten Zellatypien (Abb. 39-9a).

Abb. 39-8

Seröses Adenokarzinom.

a Makroskopie. Schnittfläche des Karzinoms mit einer glattwandigen Zyste im Zentrum (x). Rundliche Zysten mit papillären Proliferationen (Pfeile). Das übrige Ovar ist von soliden Tumormassen durchsetzt. b Histologie. Ausschnitt aus dem soliden Anteil mit infiltrativ wachsenden papillären Tumorverbänden (Pfeile). HE, Vergr. 50fach.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Muzinöse Borderline-Tumoren können zusammen mit muzinösen zystischen Läsionen der Appendix vorkommen. In derartigen Fällen sollte immer die Herkunft der Ovarialläsion mittels der Immunhistochemie geklärt werden

(Nachweis durch Verwendung organspezifischer Zytokeratinsubtypen), da diese dann meist Metastasen der Appendixläsionen sind. In der Folge kann sich ein Pseudomyxoma peritonei ausbilden. Muzinöse Adenokarzinome werden meist im Stadium I diagnostiziert. Ihre Metastasierungspotenz ist relativ gering, daher ist die Prognose sehr gut (ca. 90% rezidivfreies überleben). In höheren Stadien (III, IV) ist die Prognose ungünstig (< 10% Langzeitüberleben). Von klinischer Bedeutung ist die Unterscheidung zwischen primären muzinösen Adenokarzinomen des Ovars und Metastasen extraovarieller muzinöser Karzinome, vor allem aus dem Gastrointestinaltrakt (Kolon, Appendix, Pankreas, Magen). Letztere sind häufiger bilateral lokalisiert, kleiner und zeigen makroskopisch eine knotige Umwandlung der Ovarien. Die Serosa ist meist mit befallen. Die Metastasen sind häufiger als primäre muzinöse Adenokarzinome der Ovarien und haben in älteren Studien entscheidend zur schlechten Prognose muzinöser Ovarialkarzinome beigetragen, was durch neuere Untersuchungen widerlegt werden konnte.

Abb. 39-9

Differenzierungen epithelialer Tumoren.

a Muzinöses Ovarialkarzinom. Drüsen werden von Schleim bildenden Zylinderzellen ausgekleidet. HE, Vergr. 400fach. b Endometrioides Ovarialkarzinom. Aus konfluenten atypischen endometrioiden Drüsen aufgebaut. HE, Vergr. 400fach. c Brenner-Tumor. Mit urothelial differenzierten Zellverbänden. HE, Vergr. 300fach.

Pseudomyxoma peritonei Diese seltene Erkrankung ist charakterisiert durch Ansammlungen von Schleim innerhalb des Cavum peritonei. Innerhalb der Schleimseen finden sich histologisch mehr oder weniger ausgeprägte Ansammlungen muzinösen Epithels, das den Schleim produziert. Die Herkunft des Pseudomyxoma peritonei liegt meist in einer muzinösen zystischen Läsion der Appendix und nur in seltenen Fällen in einem muzinösen Ovarialtumor. Die Schleimmassen einschließlich der Epithelien müssen immer wieder operativ entfernt werden, es besteht aber eine große Neigung zu Rezidiven. Obwohl keine generalisierte Metastasierung erfolgt, kann sich als Folge der Rezidive und der wiederholten Operationen eine Kachexie entwickeln.

Endometrioide Tumoren Die endometrioiden Tumoren machen weniger als 10% der epithelialen Ovarialtumoren aus. Etwa 90% sind Karzinome, der Rest überwiegend BorderlineTumoren; benigne Tumoren sind selten. In bis zu 20% der Fälle besteht gleichzeitig eine Endometriose im Bereich der Ovarien. Der Altersgipfel liegt um das 50. Lebensjahr. Eine Kombination mit Karzinomen oder atypischen Hyperplasien des Endometriums besteht in ca. 10–20%, wobei zumindest in einem Teil der Fälle eine multifokale, voneinander unabhängige Entstehung eher wahrscheinlich ist als ein metastatisches Geschehen.

Morphologie

Endometrioide Borderline-Tumoren sind meist einseitig. Der Tumordurchmesser beträgt i.d.R. weniger als 10 cm, kann aber auch deutlich darüber liegen. Makroskopisch sind endometrioide Borderline-Tumoren teils zystisch, teils solide, wobei der Zysteninhalt bräunlich oder grünlich sein kann (abgebaute Blutreste). Histologisch sind diese Tumoren vergleichbar mit einer atypischen Endometriumhyperplasie ohne Zeichen der Invasion. Ein Teil der Tumoren weist eine ausgeprägte bindegewebige Komponente auf (Adenofibrom). Absiedelungen außerhalb der Ovarien sind selten. Endometrioide Adenokarzinome sind meist über 10 cm groß. Die Stadienverteilung unterscheidet sich deutlich von jener seröser Karzinome, denn etwa 50% der Tumoren werden in den Stadien I und II diagnostiziert; davon finden

sich nur etwa 15% bilateral. Makroskopisch sind die Tumoren überwiegend solide, z.T. zystisch. Histologisch entsprechen sie weitgehend den endometrioiden Karzinomen des Endometriums (Abb. 39-9b).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die Prognose der endometrioiden Borderline-Tumoren und der Adenokarzinome in Stadium I ist günstig. Aufgrund des höheren Anteils von Tumoren in niedrigen Tumorstadien ist die Prognose generell besser als bei serösen Karzinomen. Die gute Prognose wird außerdem durch den hohen Anteil an hochdifferenzierten Karzinomen verursacht.

Maligner Müller-Mischtumor Morphologie und Prognose dieses seltenen Tumors sind den entsprechenden Tumoren des Endometriums vergleichbar (siehe Kap. 39.3.3).

Klarzellige Tumoren Klarzellige Ovarialtumoren machen etwa 3% der epithelialen Ovarialtumoren aus und sind meist Karzinome, sehr selten Borderline-Tumoren. Histologisch zeigen die Tumorzellen meist wasserhelles Zytoplasma, ähnlich wie bei den klarzelligen Nierenzellkarzinomen. Typisch ist auch die Schuhnagelform (Tapeziernagelform) der Tumorzellen. Ebenso wie endometrioide Tumoren können klarzellige Karzinome in ca. einem Drittel bis der Hälfte der Fälle in Verbindung mit einer Endometriose auftreten. Vor allem aufgrund eines hohen Anteils von Patientinnen in fortgeschrittenen Tumorstadien (III, IV) ist die Prognose ungünstig.

übergangszelltumoren Die urothelial differenzierten übergangszelltumoren (auch Brenner-Tumoren genannt) sind zu 99% gutartig und machen etwa 3% aller epithelialen Ovarialtumoren aus (Abb. 39-9c). In 10–20% der Fälle kommen sie bilateral vor. Ihre Größe schwankt von < 1 cm bis > 20 cm. Histologisch sind sie aus einem fibrösen Stroma mit urothelialen Epitheleinschlüssen, gelegentlich auch muzinösen Zysten aufgebaut. Die sehr seltenen malignen Tumoren entsprechen histologisch Urothelkarzinomen.

Keimstrang-Stroma-Tumoren Definition Die Keimstrang-Stroma-Tumoren machen ca. 5–10% der Ovarialtumoren aus. Sie sind zu 85% benigne; der Rest ist als Tumoren niedrigmaligner Potenz einzustufen. Sie lassen sich Granulosa-, Theka-, Sertoli- oder Leydig-Zellen zuordnen.

Klinisch-pathologische Korrelationen

In den meisten Fällen sind die Symptome durch die Biosynthese von Steroidhormonen (Progesteron, Hydroxyprogesteron, Androstendion, Testosteron, östrogen u.a.) geprägt, wobei die östrogenproduktion überwiegt. Etwa ein Drittel der Tumoren ist endokrin inaktiv. In Abhängigkeit von dem am stärksten produzierten Hormon werden unterschiedliche Störungen der endokrinen Regulationsmechanismen manifest (siehe Kap. 39.1.3). Zusätzlich beeinflussen das Alter der Patientin und die endokrine Ausgangssituation das klinische Erscheinungsbild. Bei vermehrter östrogenproduktion in der Postmenopause entsteht eine Endometriumhyperplasie mit Schmierblutungen. Bei prämenopausalen Frauen äußert sich die gesteigerte östrogenproduktion in Form von Zyklusstörungen bzw. Zwischenblutungen. Bei Gestagen- oder Androgensekretion kann es zu einer sekundären Amenorrhö kommen. Bei dem seltenen Auftreten im Kindesalter lösen Keimstrang-Stroma-Tumoren mit östrogenproduktion eine Pubertas praecox aus. Androgen sezernierende Tumoren führen zur Androgenisierung. Die meisten Keimstrang-Stroma-Tumoren produzieren α-Inhibin, das für die Diagnostik (Immunhistochemie) und die klinische Verlaufskontrolle (Serumwerte) herangezogen werden kann (Abb. 39-10b).

Granulosazelltumor Definition Der Granulosazelltumor ist der häufigste Keimstrang-Stroma-Tumor. Er geht von den Granulosazellen aus. Etwa 75% der Tumoren treten in der Postmenopause auf. Es gibt zwei Haupttypen: den häufigeren adulten und den selteneren juvenilen Typ. Sie unterscheiden sich sowohl im histologischen Bild als auch im klinischen Verlauf. Mehr als 95% der Tumoren entfallen auf den adulten Typ (Abb. 39-10a,b).

Morphologie Das makroskopische Erscheinungsbild beider Typen ist ähnlich und durch solide, oft gelbliche sowie zystische Areale gekennzeichnet. Einblutungen und Nekrosen kommen vor. Etwa 95% aller Granulosazelltumoren finden sich unilateral.

Mikroskopisch unterscheidet man beim adulten Typ mehrere Wachstumsmuster, die innerhalb eines Tumors vorkommen können. ■ Gut differenzierte Tumoren sind durch ein mikrofollikuläres, makrofollikuläres oder trabekuläres Muster gekennzeichnet. Charakteristisch ist das mikrofollikuläre Muster, wobei die mikrofollikulären Strukturen (Call-ExnerKörperchen) Lumensekret und pyknotische Zellkerne enthalten (Abb. 39-10a). ■ Schlechter differenzierte Tumoren weisen überwiegend diffuse (sarkomatoide) Areale auf. Diese Wachstumsmuster haben allerdings keine wesentliche prognostische Bedeutung. Typisch für den adulten Granulosazelltumor, unabhängig von seinem histologischen Bau, sind helle, kaffeebohnenartig geformte Zellkerne (Abb. 3910a). Auch der juvenile Typ kann teils solide, teils follikuläre Areale enthalten. Im Gegensatz zum adulten Typ sind die Zellkerne hyperchromatisch. Es finden sich vermehrt Mitosen, ohne dass dies ein Zeichen für Malignität ist.

Klinisch-pathologische Korrelationen Beide Typen des Granulosazelltumors produzieren östrogene und α-Inhibin. Etwa 20% des adulten Typs zeigen langfristig einen malignen klinischen Verlauf, der durch späte Rezidive und Metastasen, oft erst 10 Jahre nach Entfernung des Tumors, gekennzeichnet ist. Das wichtigste prognostische Kriterium ist das Tumorstadium zum Zeitpunkt der Operation. Weitere prognostische Faktoren sind ausgeprägte Kernatypien und ein hoher Mitosegehalt. Beim juvenilen Typ verläuft die Erkrankung in weniger als 5% der Fälle klinisch maligne, dann aber relativ rasch: Tumorrezidive treten innerhalb von 3 Jahren nach der Operation auf. Wie beim adulten Typ ist das Tumorstadium der wesentliche prognostische Parameter.

Abb. 39-10 Granulosazelltumor und Ovarialfibrom.

a Granulosazelltumor vom adulten Typ mit seinen typischen mikrofollikulären Strukturen (Call-Exner-Körperchen). Die Zellkerne sind charakteristisch gekerbt und weisen helles Chromatin auf. HE, Vergr. 300fach. b Die Zellen desselben Granulosazelltumors produzieren α-Inhibin, das immunhistochemisch nachgewiesen wurde. Peroxidase-Antiperoxidase, Vergr. 300fach. c Ovarialfibrom. Die Schnittfläche weist sowohl bindegewebsfaserreiche, grauweiße als auch ödematöse gelbliche Areale auf. Durch den Reichtum an ödemflüssigkeit glänzt sie. Herdförmig finden sich frische Blutungen. d Ausschnitt aus einem ödematösen Areal desselben Ovarialfibroms. Zwischen den meist sternförmigen fibrozytären Zellen liegen nur herdförmig kollagene Fasern. HE, Vergr. 300fach.

Tumoren der Thekom-Fibrom-Gruppe Aufgrund von überschneidungen sowie Mischformen werden diese Tumoren in einer Gruppe zusammengefasst.

Thekazelltumoren Definition Thekazelltumoren sind benigne, aus Theka-und Theka-Luteinzellen aufgebaute, z.T. endokrin aktive Tumoren (östrogenproduktion) und treten bevorzugt in der Peri- und Postmenopause auf.

Morphologie

Makroskopisch finden sich solide, derbe Tumoren mit gelbbrauner Schnittfläche. Histologisch finden sich polygonale Zellen mit vakuolisiertem Zytoplasma und Lipidtropfen.

Ovarialfibrome Im Vergleich zu Thekazelltumoren sind sie wesentlich häufiger.

Morphologie

Makroskopisch findet sich ein solider Tumor mit faseriger, grauweißer Schnittfläche. Er ist aus fibroblastenähnlichen spindeligen Zellen aufgebaut, die in Bündeln zusammengefasst sind (Abb. 39-10c, d).

Klinisch-pathologische Korrelationen Selten können Ovarialfibrome mit Aszites und Pleuraergüssen assoziiert sein (Meigs-Syndrom). Sehr selten sind Fibrosarkome des Ovars mit malignem Verlauf.

Sertoli-Leydig-Zell-Tumoren Syn.: Androblastome

Definition Die Tumoren sind selten (ca. 0,3% aller Ovarialtumoren). Sie ahmen die Hodenentwicklung nach und bestehen daher aus einer Mischung von Sertoli-Zellen, Leydig-Zellen und Fibroblasten. Man unterscheidet mehrere Subtypen, wobei die meisten Tumoren gutartig sind. Ein maligner klinischer Verlauf mit Metastasierung ist aber abhängig vom einzelnen Tumortyp in bis zu 25% der Fälle möglich. Sertoli-

Leydig-Zell-Tumoren können in allen Altersgruppen auftreten, finden sich aber typischerweise bei jungen Frauen in der 3. Lebensdekade.

Morphologie Diese entspricht den Tumoren im Bereich des Hodens (siehe Kap. 38.1.6). SertoliLeydig-Zell-Tumoren sind meist klein, d.h. < 5 cm.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Mehr als 50% der Fälle haben keine endokrine Manifestation. Eine Androgenproduktion findet sich in ca. einem Drittel der Fälle, eine östrogenproduktion ist selten. Die meisten Tumoren sind einseitig und auf das Ovar beschränkt. Tumorrezidive treten meist innerhalb des 1. Jahres nach der Operation bzw. innerhalb weniger Jahre auf.

Steroidzelltumoren Diese Tumoren sind sehr selten (0,1% der Ovarialtumoren) und aus Zellen aufgebaut, die Steroidhormone produzieren können. Zu den Steroidzelltumoren zählen u.a. die Leydig-Zell-Tumoren sowie eine Gruppe nicht näher spezifizierter Steroidzelltumoren (not otherwise specified = NOS). Die meisten dieser Tumoren sind gutartig, etwa 10% können maligne verlaufen. Durch den Gehalt an Steroiden ist die Schnittfläche gelb. Die meisten der Steroidzelltumoren produzieren Androgene und führen zur Virilisierung. Außerdem kann durch Kortisolsekretion ein Cushing-Syndrom entstehen.

Keimzelltumoren Definition 10–20% aller Ovarialtumoren sind den Keimzelltumoren zuzuordnen. Sie können grundsätzlich in jeder Altersstufe vorkommen, finden sich aber überwiegend im Kindes- und Adoleszenten- sowie im jungen Erwachsenenalter. Sie entwickeln sich aus der omnipotenten Keimzelle. Entsprechend findet man eine große morphologische Vielfalt mit Gewebeanteilen aller drei Keimblätter. Die Histologie ist identisch mit der von Keimzelltumoren des Hodens (siehe Kap. 38.1.6). über 95% der Keimzelltumoren des Ovars sind gutartige Teratome, maligne Varianten sind mit 5% relativ selten (deutlich seltener als im Hoden). Ihr biologisches Verhalten ist aber durch einen aggressiven Verlauf mit ungünstiger Prognose gekennzeichnet. Durch den Einsatz der Chemotherapie konnte die Prognose der meisten Keimzelltumoren entscheidend verbessert werden.

Dysgerminom Definition Dieser im Ovar sehr seltene maligne Tumor entspricht dem Seminom des Hodens. Die Tumorzellen entsprechen unreifen primordialen Keimzellen, die meist einen XXY-Chromosomen-Typ enthalten. Ca. 80% der Tumoren manifestieren sich im Alter von 20–30 Jahren. Sie stellen die häufigste maligne Ovarialgeschwulst im jüngeren Lebensalter dar und sind oft mit verschiedenen Formen sexueller Fehlentwicklung assoziiert.

Morphologie Siehe Seminom.

Klinisch-pathologische Korrelationen Dysgerminome sind fast immer einseitig lokalisiert. Sie stellen oft Zufallsbefunde bei Operationen dar, die aus anderer Ursache durchgeführt wurden. Ihre Ausbreitung erfolgt lymphogen und hämatogen. Durch die hohe Strahlensensibilität liegt die Heilungsrate im Stadium I bei über 95%.

Dottersacktumor (entodermaler Sinustumor) Definition Der Dottersacktumor ist der häufigste maligne Keimzelltumor des Ovars im Kindes- und Jugendalter. Er ähnelt in seinem histologischen Aufbau Dottersackstrukturen. Das Dottersackepithel ist Bildungsort fetaler Proteine: α1Fetoprotein, α1-Antitrypsin, Präalbumin und Transferrin, die auch in der Immunhistochemie sowie als Marker für den postoperativen Verlauf verwendet werden können.

Morphologie Die Tumoren sind meist relativ groß und von flächenhaften Nekrosen, Einblutungen und kleinen Zysten durchsetzt. Die Histologie entspricht jener des Dottersacktumors des Hodens.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die Tumoren sind meist unilateral lokalisiert und werden oft erst im fortgeschrittenen Stadium manifest. Zum Zeitpunkt der Diagnose haben sie häufig schon kavitär und/oder lymphogen bzw. hämatogen metastasiert. Die Prognose ist schlecht, hat sich allerdings mithilfe der Chemotherapie auf eine 5-Jahres-überlebensrate von etwa 50% verbessert. α1-Fetoprotein wird als Serumparameter für eine Verlaufskontrolle und Rezidiverkennung verwendet.

Embryonales Karzinom Dies ist ein im Ovar sehr seltener, hochmaligner und rasch metastasierender Tumor, der dem embryonalen Karzinom des Hodens entspricht. Der Tumor produziert α1-Fetoprotein und β-HCG.

Chorionkarzinom Diese seltenen Tumoren weisen eine trophoblastische Differenzierung auf und produzieren β-HCG.

Teratome Definition Teratome sind definiert als Keimzelltumoren mit Differenzierung von Geweben des Ento-, Ekto- und Mesoderms. Das Teratom ist der weitaus häufigste Keimzelltumor des Ovars und zu 99% benigne. Die gutartigen Teratome sind durch reife Gewebestrukturen gekennzeichnet und werden daher als reife Teratome bezeichnet. Unreife Teratome enthalten embryonale bzw. fetale Gewebestrukturen. Ihre Dignität ist unsicher.

Abb. 39-11

Dermoidzyste.

a Makroskopie. Typischer Aspekt der mit Talg und Haaren gefüllten Zyste. b Histologie. Auskleidung der Zyste durch ein mehrschichtiges Plattenepithel mit einem einzelnen Haarfollikel (Pfeil). HE, Vergr. 50fach.

Morphologie Makroskopisch sind reife Teratome typischerweise zystisch, teilweise solide aufgebaut, unreife Teratome überwiegend solide. Histologisch lassen sich zwei Teratomtypen unterscheiden: ■ Reife Teratome enthalten ekto-, ento- und mesodermale Differenzierungsprodukte, die histologisch nicht von Normalgewebe zu unterscheiden sind. Sehr häufig findet man auch reifes Nervengewebe. Sonderformen reifer Teratome sind überwiegend monodermal differenzierte Teratome, in denen ento- oder ektodermales Gewebe überwiegt. Das typische Beispiel eines überwiegend ektodermal differenzierten Tumors ist die Dermoidzyste, die in ca. 10% der Fälle doppelseitig auftritt. Die Zyste enthält reichlich Talg, Haare und abgeschilferte Plattenepithelien (Abb. 39-11). In der Wand erkennt man Haut mit Hautanhangsgebilden. Häufig lässt sich an einer Seite ein sog. Kopfhöcker erkennen, in dem teilweise ausdifferenzierte Zähne nachweisbar sind. Ein weiteres, seltenes Beispiel eines Teratoms mit einer entodermalen Differenzierung ist die sog. Struma ovarii, die aus Schilddrüsengewebe besteht. ■ Unreife Teratome enthalten in wechselndem Ausmaß unreife Gewebestrukturen, deren Morphologie Geweben der Embryonal- und Fetalperiode entspricht. Für Diagnosestellung und Graduierung (in niedrigoder hochmaligne) ist der Anteil unreifer neurogener Strukturen entscheidend (neuralrohrartige Formationen, zum Teil dem Neuroblastom ähnlich). Mischformen mit anderen Tumoren, wie z.B. dem embryonalen Karzinom oder dem Dysgerminom, kommen vor.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Reife Teratome sind gutartig, unreife Teratome als potentiell maligne einzustufen. Die Prognose wird vom Ausmaß unreifer neurogener Strukturen und vom Stadium bestimmt. Im Stadium I ist die Prognose generell ausgezeichnet. Für höhere Stadien hat sich die Prognose durch den Einsatz der modernen Chemotherapie deutlich verbessert.

Metastasen Für 10% aller tumorösen Vergrößerungen des Ovars sind Metastasen anderer Primärtumoren verantwortlich. Grundsätzlich können sie aus allen Organen stammen. Metastasen genitaler Tumoren stammen in erster Linie vom Endometrium und von der Tube ab. Karzinome der Zervix, der Vagina und der Vulva metastasieren dagegen sehr selten in die Ovarien. Metastasen extragenitaler Tumoren stammen häufig aus dem Gastrointestinaltrakt

(Dickdarm, Appendix, Magen, Pankreas, seltener Gallenblase und Gallenwege). Ovarialmetastasen eines Magenkarzinoms vom diffusen Typ (speziell des siegelringzelligen Karzinoms) werden nach dem Erstbeschreiber als sog. Krukenberg-Tumoren bezeichnet. Mammakarzinome metastasieren im Spätstadium in ca. 10% der Fälle in die Ovarien, wobei dann meist beide befallen sind. Metastasen hochdifferenzierter, Schleim bildender Karzinome können histologisch muzinöse Borderline-Tumoren imitieren, Metastasen kolorektaler Adenokarzinome histologisch endometrioiden Adenokarzinomen ähneln.

39.2 39.2.1

Tube Normale Struktur und Funktion

Die Tuben (Eileiter) entwickeln sich aus dem Müller-Gang. Sie stellen einen dünnen doppelseitigen Muskelschlauch dar, der beidseits an den Fundusecken (Tubenwinkel) mit dem Cavum uteri verbunden ist und im oberen Rand des Ligamentum latum verläuft. Der ampulläre Teil hat eine offene Verbindung zum Bauchraum und umfasst mit seinen Fimbrien das Ovar. Die Tuben sind von einem Flimmerepithel ausgekleidet. Nach der Ovulation wird das Ei von der Tube aufgefangen und mithilfe der Tubenperistaltik und der Flimmerbewegung des Epithels in den Uterus transportiert.

39.2.2

Fehlbildungen

Fehlbildungen sind extrem selten und meist auch mit Fehlbildungen des Uterus kombiniert. Sie umfassen die Aplasie, die Hypoplasie und die Atresie (Verschluss) einer oder beider Tuben.

39.2.3

Adnexitis (Salpingitis/Oophoritis)

Definition Es handelt sich um eine Entzündung der Adnexe, bei der die Entzündung der Tube (Salpingitis) meist im Vordergrund steht und das Ovar häufig einbezogen ist. Daher wird klinischerseits in den meisten Fällen generell von einer Adnexitis gesprochen.

Pathogenese Am häufigsten ist die akute unspezifische Adnexitis, die durch Bakterien (meist gramnegative Keime wie Enterokokken, E. coli, daneben auch Streptokokken und Staphylokokken sowie Gonokokken) sowie Chlamydien verursacht wird. Die Adnexitis entsteht meist infolge einer Keimaszension vom Uterus her, seltener von außen im Rahmen einer Divertikulitis oder Appendizitis sowie hämatogen im Rahmen einer Sepsis.

Morphologie Die akute Adnexitis ist in der Regel eine unspezifische eitrige Entzündung, in deren Rahmen auch Abszesse auftreten können. Makroskopisch sind Tubenschleimhaut und Serosa sowie das Ovar gerötet und geschwollen. Die Serosa ist oft matt und zeigt Eiterbeläge als Ausdruck einer Periadnexitis (Perisalpingitis und Perioophoritis).

Klinisch-pathologische Korrelationen Im akuten Stadium haben die Betroffenen typische Symptome einer bakteriellen Entzündung mit Fieber, Leukozytose und oft appendizitis-/divertikulitisartigen Unterbauchschmerzen. Im Extremfall kann ein septisches Krankheitsbild entstehen. Auswirkungen auf die Fertilität resultieren insbesondere aus Vernarbungen der Tubenschleimhaut bzw. Obliteration des Fimbrienendes. Die Entzündung kann sich auf die Nachbarorgane des kleinen Beckens ausbreiten (pelvic inflammatory disease = PID). In schweren Fällen bildet sich ein Tuboovarialabszess. Durch Verschluss des Ostiums und Aufstau des Eiters entsteht eine Pyosalpinx (Abb. 39-12). Eiterherde im Bereich der Adnexe können als Streuherd den übrigen Organismus mit einbeziehen. Im Zuge der Abheilung kann das Fimbrienende verkleben und zu einer Saktosalpinx führen. Wenn diese mit seröser Flüssigkeit ausgefüllt ist, spricht man von Hydrosalpinx. Infolge Verwachsungen zwischen Fimbrienende und Ovar kann sich eine Zyste ausbilden, die als Tuboovarialzyste bezeichnet wird. Durch Verwachsungen zwischen Ovar, Tube und Nachbarorganen kann sich auch ein Konglomerattumor bilden. Seltener entwickelt sich ein chronischer Ovarialabszess. Die entscheidende Konsequenz ist eine Infertilität, die in ca. 20– 30% der schweren Adnexitiden als Spätfolge resultiert. Eine Tube mit entzündungsbedingten Veränderungen begünstigt außerdem das Auftreten einer Tubargravidität (siehe Kap. 40.2.1).

Abb. 39-12

Pyosalpinx.

Deutlich ausgeweitete Tube, mit Eiter im Lumen. An der Außenseite eine fibrinöseitrige Perisalpingitis (Pfeile).

Weitere Formen der Salpingitis Tuberkulöse Salpingitis Diese Form der Salpingitis ist in den Industrieländern heutzutage selten. Sie stellt jedoch die häufigste Manifestation einer Tuberkulose des weiblichen Genitaltrakts dar. Sie entsteht überwiegend hämatogen durch Mycobacterium tuberculosis. Meist sind von dieser Entzündung beide Tuben betroffen. Sie sind aufgetrieben, mit stark verdickten Wänden. Histologisch sieht man eine granulomatöse, verkäsende Entzündung mit unterschiedlicher Vernarbung. Die klinischen Symptome entsprechen denen einer chronischen Salpingitis.

Salpingitis isthmica nodosa Hier handelt es sich um eine ätiologisch nicht geklärte knotige Verdickung des Tubenisthmus. In der Tubenwand finden sich zahlreiche kleine Drüsenknoten, die von glatter Muskulatur umgeben sind. Komplikationen sind Sterilität und Tubargravidität (siehe Kap. 40.2.1).

39.2.4

Tumorartige Läsionen und Tumoren

Hydatiden Sie stellen kleine, gestielte Zysten an der Eileiteroberfläche dar. Sie leiten sich vom Keimepithel ab (Keimepithel- oder Serosazysten).

Tumoren Benigne Tumoren sind sehr selten. Zu ihnen gehören der vom Mesothel stammende Adenomatoidtumor (siehe Kap. 39.3.4) sowie benigne mesenchymale Tumoren. Maligne Tumoren sind fast immer seröse Adenokarzinome. Zum Zeitpunkt der Diagnose sind sie meist weit fortgeschritten, sodass die 5-Jahres-überlebensrate nur bei etwa 15% liegt. Mitunter kann die Abgrenzung von einem Ovarialkarzinom schwierig sein.

Metastasen Tubenmetastasen von Ovarial- oder Uteruskarzinomen sind weitaus häufiger als primäre Karzinome der Tube.

Tubargravidität Siehe Kap. 40.2.1 (Extrauteringravidität).

39.3 39.3.1

Uterus Normale Struktur und Funktion

Der Uterus (Gebärmutter) einer nichtschwangeren Frau hat die Größe und Form einer Birne. Er ist ein muskelstarkes Organ und besteht aus dem Uteruskörper (Corpus uteri) mit dem Grund (Fundus uteri) und dem Uterushals (Cervix uteri) mit der in die Vagina ragenden Portio (Abb. 39-13). Die Portio besteht aus der vorderen und hinteren Muttermundlippe sowie dem äußeren Muttermund. Der von der Vagina aus sichtbare Anteil der Portio wird als Ektozervix bezeichnet und von einem nichtverhornten, glykogenreichen Plattenepithel bedeckt. Dieses geht im Bereich des Scheidengewölbes (Fornix vaginae) in das Vaginalepithel über. Der Zervikalkanal wird von der Endozervix umgeben, die von einem muzinösen, hochprismatischen Epithel bedeckt wird. Dieses Epithel sezerniert einen zähen Schleim, der einen Infektionsschutz darstellt. Der Zervikalkanal bildet unterschiedlich zahlreiche Krypten aus, die fälschlicherweise auch als Drüsen bezeichnet werden. Der Zervikalkanal geht im Bereich des inneren Muttermundes in die Gebärmutterhöhle (Cavum uteri) über. Dieser übergangsbereich ist eine Engstelle und wird als Isthmus bezeichnet. Das Cavum uteri nimmt beidseits am Tubenwinkel die Mündungen der Eileiter auf. Im Bereich des Corpus uteri unterscheidet man drei Wandschichten: das Endometrium (Gebärmutterschleimhaut), das Myometrium (Muskelschicht) und das Perimetrium (Bauchfellüberzug).

Klinisch-pathologische Einführung Das Kardinalsymptom von Uteruserkrankungen, speziell von Erkrankungen des Corpus uteri, sind Blutungsanomalien. Die meisten Uteruserkrankungen treten nach dem 40. Lebensjahr auf und sind durch Zwischenblutungen (Metrorrhagien) bzw. verlängerte Regelblutungen (Menorrhagien) gekennzeichnet. Verstärkte Regelblutungen werden als Hypermenorrhö bezeichnet. Metro- und Menorrhagien sind unspezifische Symptome und können sowohl mit benignen Endometriumerkrankungen, malignen Endometriumtumoren und ihren Vorstufen sowie Erkrankungen des Myometriums verbunden sein. Erkrankungen der Zervix wie Entzündungen und Tumoren sind u.U. mit Kontaktblutungen assoziiert. Schmerzhafte Blutungen werden als Dysmenorrhö bezeichnet und finden sich u.a. bei der Endometriose. Das Ausbleiben der Regelblutung, die Amenorrhö, kann außer durch eine Schwangerschaft auch durch Störungen im Bereich der endokrinen Achse (Hypothalamus–Hypophyse–Ovar), aber auch durch Fehlbildungen des Uterus verursacht sein.

Abb. 39-13

Aufbau des Uterus (Schema).

Jede abnorme Genitalblutung muss klinisch abgeklärt werden, wobei das Hauptziel der Ausschluss eines zugrunde liegenden malignen Prozesses ist. Am Ende des Abklärungsprozesses steht meist eine Gewebeentnahme mit nachfolgender histologischer Untersuchung. Eine bewährte Methode ist die getrennte (fraktionierte) Kürettage von Zervikalkanal und Cavum uteri. Eine gezielte Gewebeentnahme ist durch Biopsie im Rahmen einer Hysteroskopie (Spiegelung des Cavum uteri) möglich. Als Basisverfahren dient im Rahmen der gynäkologischen Untersuchung der Ultraschall. Das typische Erkrankungsalter v.a. für Neoplasien, aber auch für funktionelle Störungen liegt nach dem 40. Lebensjahr. Die seltenen Fehlbildungen manifestieren sich oft im Rahmen von (geplanten) Schwangerschaften.

39.3.2

Fehlbildungen des Uterus

Fehlbildungen des Uterus sind selten (1 auf 1000–5000 Geburten) und beruhen auf Anlageanomalien oder Fusionsstörungen der Müller-Gänge. ■ Anlageanomalien zeigen sich in Form von Agenesie (vollständiges Fehlen der Anlage) oder Aplasie (Nichtausbilden einer vorhandenen Anlage) des Uterus und sind mit Mutationen des (Wilms-Tumor)WT-1-Suppressor-Gens assoziiert. Bei homozygoter WT-1-Mutation bleibt die Entwicklung des Müller-Systems und der Urnieren völlig aus. ■ Fusionsstörungen der Müller-Gänge bzw. Resorptionsstörungen führen zu verschiedenen Formen eines septierten Uterus bis zur Doppelanlage (Uterus duplex, subseptus, septus u.a.) oder zu einem einhornigen Uterus (Uterus unicornis; Abb. 3914). Gleichzeitig können auch Fehlbildungen der Vagina auftreten. Fusions- und Resorptionsstörungen des Uterus finden sich gehäuft bei Trisomien.

■ Das Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom ist eine komplexe Fehlbildung und besteht aus einer partiellen Vaginalaplasie, einer rudimentären Uterusleiste und hochstehenden Ovarien. Die Determinationsphasen der beschriebenen Entwicklungsstörungen liegen in unterschiedlichen Wochen des 1. Trimesters.

Klinisch-pathologische Korrelationen Agenesie und Aplasie sind mit einer primären Amenorrhö verbunden. Fusions- bzw. Resorptionsstörungen sind weitgehend asymptomatisch und werden daher erst nach der Pubertät, z.B. im Rahmen von Routineuntersuchungen, entdeckt. Probleme treten nur im Rahmen von Schwangerschaften auf.

39.3.3

Erkrankungen des Endometriums

Das Endometrium besteht aus unverzweigten Drüsen und einem zellreichen, stark vaskularisierten Stroma. Man unterscheidet die lumennahe Endometriumschicht, Funktionalis, von der basalen Endometriumschicht, Basalis. Die Funktionalis unterliegt als Zielgewebe der östrogene und Gestagene zyklischen Veränderungen (Abb. 39-15), wobei ihre Dicke je nach Zyklusphase zwischen 0 und 3 mm beträgt. Die Basalis dient als Regenerationsschicht und misst 1 mm Dicke. Der Zyklus lässt sich in zwei Phasen von je 14 Tagen Dauer unterteilen. In der Proliferationsphase entwickelt sich unter dem Einfluss von östradiol (Follikelphase) die Funktionalis durch Proliferation von Drüsen und Stroma zu einem inkl. Basalis etwa 4 mm breiten Endometrium. Klinisch werden in der Ultraschalldiagnostik auf einem Querschnitt durch den Uterus beide Endometriumhälften zusammengezählt; daher werden hier 8 mm als Grenze genommen (Abb. 39-15a). In der Sekretionsphase kommt es unter dem Einfluss von Progesteron (Corpus–luteum–Phase) zur sekretorischen Umwandlung der Drüsen (Abb. 39-15b) sowie zur Ausreifung und Dezidualisierung des Stromas mit Ausbildung sog. endometrialer Körnchenzellen. Aus diesen werden bei Abfall des Progesteronspiegels Hormone freigesetzt, die zur Auflösung des Stromas und zur Abstoßung (Menstruationsblutung) führen. Drüsen und Stroma unterliegen auch im Zuge einer Hormoneinnahme (orale Kontrazeption, Hormonersatztherapie) sowie infolge der Applikation hormonhaltiger Spiralen entsprechenden Veränderungen. Infolge des Absinkens der Sexualhormone in der Postmenopause kommt es zur Endometriumatrophie. Davon sind Drüsen und Stroma betroffen.

Abb. 39-14

Fehlbildungen des Uterus.

Endometriose Definition Unter Endometriose versteht man das ektope Auftreten endometrialen Gewebes (Drüsen und Stroma). Früher wurden je nach Lokalisation eine Endometriosis genitalis interna (Adenomyose auf den Uterus beschränkt, siehe unten), eine Endometriosis genitalis externa und eine Endometriosis extragenitalis unterschieden. Die Endometriose kommt mit abnehmender Häufigkeit in folgenden Lokalisationen vor: Ovar, Uterusligamente, rektovaginales Septum, Beckenperitoneum, Laparotomienarben und selten im Bereich von Nabel, Vagina, Vulva oder Appendix. Das Vorkommen in extraabdominaler Lokalisation (z.B. Lunge) ist eine ausgesprochene Rarität.

Pathogenese

Es gibt drei mögliche Erklärungen für den Ursprung von Endometrioseherden: ■ Metaplastische Theorie (Induktionstheorie). Nach dieser heutzutage bevorzugten Hypothese kann das Endometrium direkt aus dem Zölomepithel

mittels Induktion durch verschiedenste Mechanismen entstehen (Abb. 39-16). Damit ist auch erklärbar, dass sich die Endometriose im Wesentlichen im Bereich von Abkömmlingen des Zölomepithels ausbildet. ■ Regurgitationstheorie. Darunter versteht man die Entstehung der Endometriose aus versprengten Endometriumanteilen im Zuge menstrueller Blutungen durch die Tuben. Eine derartige retrograde Menstruation ereignet sich regelmäßig auch bei gesunden Frauen. ■ Vaskuläre oder lymphatische Versprengungstheorie. Diese Theorie könnte die Anwesenheit von Endometriumläsionen in der Lunge oder im Lymphknoten erklären, da dieses Phänomen durch die beiden anderen Theorien nicht erklärbar ist. Es ist möglich, dass bestimmte genetische, hormonelle und immunologische Faktoren eine Endometrioseneigung fördern. So scheint es, dass sich das Endometriosegewebe von normalem Endometrium wesentlich unterscheidet, u.a. durch die Fähigkeit, mithilfe der Aromatase selbst östrogene zu produzieren.

Abb. 39-15 Proliferation/frühe Sekretion des Endometriums.

a Proliferation.Anschnitt des Endometriums mit gestreckt verlaufender Drüse, die von einem zweireihigen Epithel ausgekleidet ist. Im Drüsenepithel Zellteilungen (Pfeil). HE, Vergr. 400fach.

b Sekretion. Geschlängelt verlaufende Drüse mit retronukleären Vakuolen, die typisch am ersten bis zweiten postovulatorischen Tag auftreten. HE, Vergr. 40fach.

Abb. 39-16 Induktionstheorie der Endometriose.

Morphologie Endometrioseherde sind zwischen wenigen Millimetern und einigen Zentimetern groß. Oft erscheinen sie als blaurote bis gelbbraune Knoten. Histologisch zeigt sich endometriumartiges Gewebe (endometrioide Drüsen, umgeben von endometriumtypischem Stroma), das im Falle eines langen Bestehens durch Vernarbung und Blutungsresiduen regressiv verändert sein kann. Im Bereich des Ovars enthalten Endometriosebezirke meist zystische Drüsen, die als Endometriosezysten bezeichnet werden und von unterschiedlich reichlichem endometranem Stroma umgeben sind. Gerade im Ovar sammeln sich durch zyklische Blutungen häufig dunkelbraune, oft schmierige Blutreste an (daher die Bezeichnung „Schokoladenzyste“).

Klinisch-pathologische Korrelationen Die klinischen Symptome der Endometriose sind üblicherweise Dysmenorrhö, Dyspareunie und Beckenschmerzen. Sie werden durch Blutungen und Verwachsungen im Beckenbereich verursacht: Im Zuge der Blutungen und ihrer Organisation entstehen Verwachsungen zwischen Tube, Ovarien und anderen Strukturen sowie Verwachsungen des Douglas-Raums. Schmerzen beim Stuhlgang bzw. Dysurie sind Hinweise auf eine Beteiligung von Rektumwand und Harnblase; bei Beteiligung des Dünndarms können Verdauungsbeschwerden auftreten. Häufig finden sich Irregularitäten der Menstruation und Infertilität. Selten können sich innerhalb eines Endometriosebezirks auch Malignome ausbilden, speziell endometrioide Karzinome. Die seltenen endometrioiden Karzinome des Ovars sind häufig mit einer Endometriose assoziiert.

Adenomyose Definition Unter Adenomyose versteht man das Auftreten von Endometriuminseln innerhalb des Myometriums. Eine Adenomyose findet sich bei ca. 15–20% aller Frauen.

Morphologie Wenn die Adenomyose ausgeprägt ist, verdickt sich die Uteruswand, wobei man makroskopisch Zysten erkennen kann. Mikroskopisch finden sich unregelmäßige Endometriumnester mit oder ohne Drüsen innerhalb des Myometriums. Der Abstand von der endomyometranen Junktionszone sollte mindestens 2 mm betragen.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die Mehrzahl der Adenomyosen ist symptomlos. Bei einem Teil der Betroffenen kommt es zu prä- und perimenstruellen Beschwerden, u.a. in Form von Menorrhagie, Dysmenorrhö, Dyspareunie und Beckenschmerzen.

Funktionelle Störungen des menstruellen Zyklus Definition Hierbei handelt es sich um Veränderungen der Zyklusdauer, der Zyklusrhythmik sowie der Stärke und Dauer der Menstruationsblutung. Je nach betroffener Zyklusphase unterscheidet man Störungen der Proliferations- und der Sekretionsphase. Diesen funktionellen Veränderungen liegen hormonell bedingte morphologische Endometriumveränderungen zugrunde.

ätiologie Es besteht meist ein Missverhältnis zwischen östrogenen und Gestagenen bzw. ein genereller Mangel oder überschuss der entsprechenden Hormone. Dies kann endogen oder exogen bedingt sein. Endogene Ursachen sind vor allem Störungen im hypothalamisch-hypophysären Bereich sowie Ovarial- oder Nebennierenerkrankungen. Exogene Ursachen liegen in der Einnahme von Medikamenten, z.B. Steroidhormonen.

Störungen der Proliferationsphase Diese sind ausgelöst durch einen Mangel oder überschuss an östrogenen.

östrogenmangel Ein östrogenmangel führt zu einem ruhenden oder atrophischen Endometrium. Nach Gestagentherapie (relativer östrogenmangel) kommt es zur Endometriumatrophie sowie zu einer dezidualen Stromaumwandlung.

östrogenüberschuss Bei östrogenüberschuss verstärkt sich die Endometriumproliferation und geht in eine unregelmäßige Proliferation sowie – bei Fortbestehen des übermäßigen östrogeneinflusses – in eine Endometriumhyperplasie über. Ein relativer östrogenüberschuss kann durch eine Follikelpersistenz bedingt sein. Dabei ist der östrogenspiegel annähernd normal, das kompensatorische Gestagen fehlt jedoch. Ein absoluter überschuss von östrogen liegt bei einer östrogenmonotherapie vor, bei polyzystischen Ovarien (PCO) sowie bei östrogen produzierenden Ovarialtumoren (v.a. Granulosazelltumor).

Störungen der Sekretionsphase Diese können durch einen Mangel und einen überschuss an Progesteron bedingt sein. Sie treten sporadisch bei vielen gesunden Frauen auf.

Progesteronmangel Ein Progesteronmangel besteht aufgrund mangelhafter Entwicklung bzw. vorzeitiger Regression des Corpus luteum und hat eine vorzeitige Abstoßung des Endometriums zur Folge.

Abb. 39-17

Endometriumhyperpasie.

a Einfache Endometriumhyperplasie ohne Atypie. „Harmonisches“ Drüsen-Stroma-Verhältnis mit zystisch erweiterten Drüsen. HE, Vergr. 100fach. b Atypische Endometriumhyperplasie mit dichter Lagerung der Drüsen und deutlicher Reduktion des Stromas (Pfeile). HE, Vergr. 100fach.

Progesteronüberschuss Ein Progesteronüberschuss entsteht infolge fehlenden Abbaus des Corpus luteum (Corpus-luteum-Persistenz) mit Sekretion von Progesteron über den 28. Zyklustag hinaus. Die Folge ist eine verzögerte Abstoßung des Endometriums.

Tamoxifen und Endometrium Tamoxifen ist ein antiöstrogen wirkendes Medikament, das häufig in der Therapie Hormonrezeptor-positiver Mammakarzinome verwendet wird. Es blockiert den östrogenrezeptor. Paradoxerweise hat es auch einen östrogenartigen Effekt, u.a. auf das Endometrium, und führt vor allem zur Ausbildung spezieller Endometriumpolypen. Das Risiko, im Rahmen einer Tamoxifentherapie ein Endometriumkarzinom zu entwickeln, ist jedoch nur gering erhöht.

Endometritis Definition Hierbei handelt es sich um eine Entzündung des Endometriums. Endometritiden sind während der reproduktiven Phase selten, wobei hier die sog. Zervixbarriere eine große Rolle spielen dürfte. In schweren akuten Fällen kann es auch zu einer Beteiligung des Myometriums kommen (Endomyometritis).

Ätiologie und Pathogenese Für die Entwicklung der akuten Endometritis sind vor allem pathogene Keime wie Staphylokokken, Streptokokken, E. coli sowie Chlamydien und Mykoplasmen von Bedeutung. Die Entzündung entsteht meist durch Aszension, seltener durch Deszension der Keime. Es gibt eine Reihe begünstigender Faktoren, z.B. eine defekte Zervixbarriere, Reifungsstörung und Endometriumatrophie, intrauterine Nekrosen sowie eine Abflussstörung aus dem Cavum uteri. Diese sind in Tab. 396 näher ausgeführt.

Morphologie Meist handelt es sich um eine unspezifische akute oder chronische Entzündung. Die akute Endometritis ist eine phlegmonöse oder abszedierende eitrige Entzündung. Für die Diagnose einer chronischen Endometritis ist das Vorhandensein von Plasmazellen entscheidend, da Lymphozyten auch im normalen Endometrium vorkommen können. Granulomatöse Endometritiden sind selten und finden sich vor allem im Rahmen einer Genitaltuberkulose, einer Sarkoidose oder einer Fremdkörperreaktion (z.B. nach Hysteroskopie).

Klinisch-pathologische Korrelationen Hauptsymptome der unspezifischen Endometritis sind Blutungsanomalien und Fieber. Bei übergreifen der Entzündung auf Peritoneum und Adnexe klagen die Patientinnen über Unterbauchschmerzen. Myometritis und Perimetritis entstehen durch die Ausbreitung der Entzündung auf Myometrium und Perimetrium. Eine Pyometra (Eiteransammlung im Cavum uteri) entwickelt sich überwiegend in der Postmenopause als Folge eines Sekretrückstaus bei narbiger Stenose oder Obliteration des Gebärmutterhalses.

Tab. 39-6 Begünstigende Faktoren einer akuten oder chronischen unspezifischen Endometritis. Defekte Zervixbarriere ■ offener Muttermund (z.B. nach Geburt oder Abort, Intrauterinpessar) ■ vorausgegangener ärztlicher Eingriff (z.B. Abrasio, Konisation) ■ Zervixinfektion Reifungsstörung und Endometriumatrophie ■ Peri-/Postmenopause ■ exogen induzierte Gestagendominanz (z.B. chemische Kontrazeption) ■ Intrauterinpessar ■ submuköses Leiomyom Intrauterine Nekrosen ■ dysfunktionelle Blutung ■ nach Geburt oder Abort ■ Intrauterinpessar ■ Polyp, submuköses Leiomyom ■ Karzinom Abflussstörung ■ Zervixstenose (z.B. nach Infektion, Operation, siehe oben) ■ Zervixdeviation (z.B. Dysgenesie, Deszensus, extragenitaler Tumor)

Endometriumhyperplasie Definition Es handelt sich hierbei um eine diffuse oder fokale Proliferation des Endometriums infolge anhaltender östrogener Stimulation. Die Endometriumhyperplasie ist eine Erkrankung der Peri- und Postmenopause. Vor dem 40. Lebensjahr ist sie selten, vor dem 30. Lebensjahr eine absolute Rarität.

Pathogenese Die Hyperplasie entsteht durch eine persistierende östrogenstimulation ohne Kompensation durch Gestagene. Die meisten Patientinnen weisen in der Vorgeschichte anovulatorische Zyklen, Follikelpersistenz oder eine Langzeitöstrogentherapie ohne entsprechende kompensatorische Gestagengabe auf. Auch bei polyzystischen Ovarien kommt es typischerweise zur Endometriumhyperplasie, ebenso bei östrogen produzierenden Ovarialtumoren (Granulosazelltumor, Thekazelltumoren). Eine weitere wesentliche Ursache für eine endogene östrogenproduktion ist die Aromataseaktivität im Fettgewebe, wodurch es bei Adipositas zu einem Hyperöstrogenismus kommen kann.

Morphologie Die histopathologische Einteilung (Klassifikation) basiert auf dem Verhältnis zwischen Drüsen und Stroma und unterscheidet drei Formen: einfache, komplexe und atypische Hyperplasie. Bei der einfachen Hyperplasie zeigt sich eine gleichmäßige Vermehrung von Drüsen und Stroma, oder die Drüsen sind gegenüber dem Stroma nur geringgradig vermehrt. Typisch sind die zystisch dilatierten Drüsen (Schweizer-Käse-Muster). Die komplexe Hyperplasie ist durch eine stärkere Vermehrung der Drüsen gegenüber dem Stroma charakterisiert. Die Drüsen sind verzweigt und liegen annähernd Rücken an Rücken, von nur wenig Stroma getrennt. Die atypische Hyperplasie zeigt meist die Veränderungen einer komplexen Hyperplasie, jedoch zusätzlich mit zellulären Atypien (abgerundete, blasse Zellkerne mit deutlichen Nukleolen und vergröbertem Chromatin, meist auch vermehrtes und stärker eosinophiles Zytoplasma).

Folgen und Komplikationen Die Hyperplasieformen verhalten sich hinsichtlich eines Übergangs in ein endometrioides Adenokarzinom unterschiedlich: Ohne Behandlung gehen ca. 30% der atypischen Hyperplasien im Laufe mehrerer Jahre in ein invasives Karzinom über, jedoch nur 1% der einfachen und 3% der komplexen Hyperplasien. Bei Diagnose einer atypischen Hyperplasie in der Kürettage muss in ca. 10–20% der Fälle mit dem Vorliegen eines endometrioiden Endometriumkarzinoms gerechnet werden, wenn unmittelbar darauf eine Hysterektomie durchgeführt wird.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Patientinnen leiden meist an abnormen Blutungen. In der sonographischen Untersuchung ist das hyperplastische Endometrium verbreitert. Jüngere Frauen suchen manchmal den Arzt wegen unerfüllten Kinderwunsches auf.

Endometriumhyperplasien ohne Atypien können mit hoch dosierter Gestagenmedikation behandelt werden. Bei atypischen Hyperplasien besteht die Therapie der Wahl in einer Hysterektomie, in der Prämenopause mit noch bestehendem Kinderwunsch auch in einer hoch dosierten Gestagenmedikation.

Tumorartige Läsionen Endometriumpolypen Definition Es handelt sich um gutartige polypöse Endometriumproliferationen, bei denen vor allem das Stroma vermehrt ist. Polypen sind häufig und in jedem Lebensalter zu finden. Besonders typisch ist ihr Auftreten aber in der Postmenopause.

Morphologie Sie können breitbasig oder gestielt sein und bestehen aus fibrösem Gewebe sowie unterschiedlich dicht liegenden, zum Teil zystischen Drüsen.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Symptome treten u.a. im Rahmen von Komplikationen auf. Dies sind vor allem Blutungen infolge oberflächlicher Nekrosen und hämorrhagischer Infarzierung. Seltener können Infektionen zu einer Endometritis führen. Ein Prolaps in den Zervikalkanal (bezeichnet als „Polyp in statu nascendi“) ist ggf. mit krampfartigen Schmerzen verbunden. In Polypen können auch eine Endometriumhyperplasie sowie ein Endometriumkarzinom entstehen.

Endometriumkarzinom Das Endometriumkarzinom ist neben dem Ovarialkarzinom der häufigste maligne Tumor des weiblichen Genitales und tritt fast ausschließlich in der Peri- und Postmenopause auf. In Europa und Nordamerika wird von einer Inzidenz von ca. 15 Erkrankungen pro 100000 Einwohner und Jahr ausgegangen. Vor dem 40. Lebensjahr ist das Endometriumkarzinom eine Rarität.

Pathogenese Der Großteil der Endometriumkarzinome entwickelt sich auf dem Boden einer Endometriumhyperplasie über die atypische Hyperplasie als Vorstufe. Östrogener Stimulus ist dabei entweder eine Hormonersatztherapie oder eine vermehrte endogene östrogenproduktion im Rahmen einer Adipositas (Umwandlung von Dihydroepiandrosteron durch Aromatase). Endometriumkarzinome, die auf dem Boden einer Hyperplasie entstehen, werden als Typ-I-Endometriumkarzinome bezeichnet. Sie sind histologisch meist hochdifferenziert und vom endometrioiden

Subtyp. Ihren Altersgipfel haben sie um das 60.–65. Lebensjahr. Im Gegensatz dazu entstehen die sog. Typ-II-Endometriumkarzinome auf dem Boden eines atrophischen Endometriums und zeigen histologisch großteils eine seröse Differenzierung. Typ-II-Karzinome machen etwa 10–15% aller Endometriumkarzinome aus. Die Frauen sind um 5–10 Jahre älter als beim Typ I. Die Tumoren sind oft in einem fortgeschrittenen Stadium und haben eine schlechte Prognose. Im Gegensatz zu Typ-I-Karzinomen, die häufig mit einem erhöhten östrogenspiegel einhergehen, findet sich beim Typ-II-Karzinom kein erhöhter östrogenspiegel. Die genaue ätiologie und Pathogenese der Typ-II-Karzinome ist noch ungeklärt. Risikofaktoren für ein Endometriumkarzinom sind frühe Menarche, späte Menopause und Nulliparität.

Morphologie

Makroskopisch wachsen die Tumoren überwiegend exophytisch und ragen in das Cavum uteri vor. Ein kleinerer Teil infiltriert diffus das Myometrium. Histologisch sind Endometriumkarzinome praktisch ausschließlich Adenokarzinome, deren zelluläre Differenzierung jener anderer Genitalkarzinome stark ähnelt. Der wichtigste Subtyp ist mit ca. 80–90% das endometrioide Adenokarzinom. Sein Differenzierungsgrad wird durch das Ausmaß der drüsigen Strukturen bestimmt, die proliferativem Endometrium bzw. Drüsen bei atypischer Hyperplasie stark ähneln. Hochdifferenzierte Karzinome sind dabei ausschließlich aus Drüsen aufgebaut, niedrigdifferenzierte enthalten mehr als 50% solide, nichtplattenepitheliale Anteile. Nicht selten findet man auch eine plattenepitheliale Komponente innerhalb der endometrioiden Karzinome. Wenn diese in niedrigdifferenzierten Karzinomen vorkommt, werden diese Tumoren auch als adenosquamöse Karzinome bezeichnet. Die plattenepitheliale Differenzierung ist als spezielle Form der zellulären Differenzierung anzusehen und hat keine prognostische Bedeutung; die Prognose wird im Wesentlichen durch die Differenzierung der drüsigen Komponente bestimmt. Seröse Adenokarzinome machen ca. 5% aus und ähneln in ihrem Aufbau den serösen Ovarialkarzinomen. Sie sind i.d.R. niedrigdifferenziert. Klarzellige Endometriumkarzinome (ca. 1%) ähneln den klarzelligen Ovarialkarzinomen. Sie kommen typischerweise im höheren Alter vor. Muzinöse Adenokarzinome (1%) sind als rein muzinöse Tumoren selten. Häufiger findet sich eine muzinöse Differenzierung in endometrioiden Adenokarzinomen.

Abb. 39-18

Endometriumkarzinom.

Makroskopischer Aspekt eines fortgeschrittenen Karzinoms mit Tumorinfiltraten des Myometriums (Pfeile) und der Cervix uteri (Doppelpfeile).

Differentialdiagnose Differentialdiagnostisch kommen Endometriumhyperplasien und Adenokarzinome der Zervix mit Ausbreitung ins Corpus uteri in Betracht.

Abb. 39-19 Endometriumkarzinom (endometrioides Adenokarzinom).

a übersicht. Dicht gelagerte, atypische Drüsenschläuche. Einzelne Drüsenschläuche sind markiert (Punkte). HE, Vergr. 200fach. b Stärkere Vergrößerung. Drüsenschläuche mit vergrößerten atypischen Kernen und kleinen Nukleolen (Pfeile). HE, Vergr. 200fach.

Tumorausbreitung Die Tumorausbreitung wird durch die TNM-Klassifikation kategorisiert (Tab. 39-7). Die meisten Endometriumkarzinome infiltrieren primär per continuitatem das

Myometrium. Dies ist prognostisch wichtig, da in den tiefen Myometriumschichten eine größere Anzahl von Gefäßen (Lymphgefäßen) verläuft und daher die Wahrscheinlichkeit von Lymphknotenmetastasen mit der Infiltrationstiefe steigt. Bei einer intraoperativen Gefrierschnittuntersuchung wird deshalb die Tumorausbreitung im Sinne der myometranen Infiltration bestimmt und davon die Entscheidung über eine pelvine Lymphadenektomie abhängig gemacht. Endometriumkarzinome breiten sich außerdem auf Zervix und Adnexe aus bzw. zeigen einen Serosadurchbruch. Karzinome mit Ausbreitung auf Serosa und Adnexe können kavitär in das große Netz und die Dünndarmserosa metastasieren. Seltener ist eine Ausbreitung in Harnblase und Rektum. Im Rahmen einer lymphogenen Metastasierung werden in der Regel zuerst die pelvinen und anschließend die paraaortalen Lymphknoten einbezogen; selten werden die pelvinen Stationen jedoch auch übersprungen (sog. Skip-Metastasen). Ein Befall der inguinalen Lymphknoten ist selten. Hämatogene Metastasen finden sich zuerst in der Lunge.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die meisten Endometriumkarzinome äußern sich in Form einer Genitalblutung. Die Prognose hängt vom Tumorstadium und vom Tumortyp ab. Im Stadium I beträgt die 5-Jahres-überlebensrate bei endometrioidem Karzinom ca. 90%, in den Stadien III und IV sinkt sie bis auf 10%. Der stärkste Prognosefaktor ist das histopathologische Tumorstadium. Ebenfalls von Bedeutung sind das Alter, der histopathologische Typ sowie beim endometrioiden Karzinom der histopathologische Differenzierungsgrad. Seröse und klarzellige Karzinome sind durch aggressiven Verlauf und ungünstige Prognose gekennzeichnet. Meist besteht bei der Diagnosestellung ein fortgeschrittenes Stadium.

Stromatumoren Definition Stromatumoren sind selten und durch eine neoplastische Proliferation von stromaartigen Zellen gekennzeichnet. Grundsätzlich wird zwischen den gutartigen Stromaknoten und den niedrigmalignen Stromasarkomen unterschieden, die eine ähnliche, vor allem zelluläre Morphologie aufweisen, sich aber durch die Infiltration des Myometriums unterscheiden. Die Dignität wird somit in erster Linie durch die Myometriuminfiltration bestimmt. Daneben gibt es hochmaligne, undifferenzierte Sarkome, die eine ausgeprägte Zellatypie und Polymorphie aufweisen.

Stromaknoten Sie sind gutartig und unterscheiden sich von niedrigmalignen Stromasarkomen durch das Fehlen einer myometranen Infiltration.

Morphologie Diese ähnelt dem rundzelligen Endometriumstroma der Proliferationsphase. Die Zellen sind meist klein und relativ monomorph mit nur geringen Atypien und meist nur wenigen Mitosen.

Tab. 39-7 pTNM-Klassifikation und FIGO-Stadien des Endometriumkarzinoms.* Fernmetastasen (ausgenommen Metastasen in Vagina, Beckenserosa oder Adnexen, einschließlich Metastasen in anderen intraabdominalen Lymphknoten als paraaortalen und/oder Beckenlymphknoten) * Diese Klassifikation kann auch für maligne Müller'sche Mischtumoren verwendet werden.

Stromasarkome niedrigen Malignitätsgrades Sie ähneln morphologisch Stromaknoten, unterscheiden sich aber durch das Vorhandensein einer myometranen Infiltration. Sehr häufig zeigt sich eine Tumorausbreitung in Lymphgefäßen des Myometriums. Typisch sind Rezidive im Bereich des Beckens und der Bauchhöhle, vor allem bei nichtradikaler Therapie. Hämatogene Metastasen sind selten. Die Prognose ist mit einem 5-Jahresüberleben von ca. 80% im Stadium I günstig.

Undifferenzierte Sarkome des Endometriums Undifferenzierte Sarkome des Endometriums zeigen eine ausgeprägte Zellatypie und einen oft sehr hohen Mitosegehalt. Sie werden neuerdings nicht mehr zu den Stromasarkomen gezählt, da eine Endometriumstromadifferenzierung nicht mehr erkennbar ist. Heterologe Gewebeelemente wie Knorpel, Knochen, Fettgewebe und quergestreifte Muskulatur sind möglich. Das typische fingerartige infiltrative Wachstum in das Myometrium mit ausgeprägten Lymphgefäßeinbrüchen fehlt. Die Prognose ist sehr ungünstig (hoher Malignitätsgrad).

Karzinosarkom, maligner Müller-Mischtumor Definition Es handelt sich um einen hochmalignen gemischten Tumor des Endometriums mit maligner epithelialer und maligner mesenchymaler Komponente (Abb. 39-20 a, b). Er macht ca. 2–3% aller Uterusmalignome aus und tritt typischerweise zwischen dem 60. und 70. Lebensjahr auf.

Morphologie Biologisch handelt es sich wahrscheinlich um entdifferenzierte Karzinome, da die sarkomatöse Komponente genetische ähnlichkeiten mit der karzinomatösen Komponente aufweist. Unterschiedliche Differenzierungen sind in beiden Komponenten möglich, d.h., in der karzinomatösen Komponente können alle bekannten Arten einer Karzinomdifferenzierung (siehe Endometriumkarzinom), in

der Sarkomkomponente unterschiedliche mesenchymale Differenzierungen vorkommen. Wenn die Sarkomkomponente einem Gewebe entspricht, das im Uterus vorkommt (dies trifft für eine endometrane Stromadifferenzierung sowie eine leiomyogene Differenzierung zu), bezeichnet man diesen Tumor als homolog. Wenn uterusfremde Differenzierungen wie Knorpel, Knochen, Fettgewebe oder quergestreifte Muskulatur vorkommen, wird dies als heterolog bezeichnet. Diese Differenzierungen haben allerdings keine prognostische und daher auch keine klinische Bedeutung.

Abb. 39-20 Karzinosarkom.

a Makroskopie. Das erweiterte Uteruskavum ist mit traubenförmigen Tumormassen ausgefüllt, die Nekrosen und Einblutungen aufweisen. b Histologie. Ausschnitt mit karzinomatösen (Pfeile) und sarkomatösen Anteilen. HE, Vergr. 200fach.

Prognose Die Prognose ist mit einem 5-Jahres-überleben unter 20% sehr schlecht. Maligne Müller-Mischtumoren können auch an anderen Lokalisationen im Bereich des weiblichen Genitales vorkommen.

39.3.4

Erkrankungen des Myometriums

Das Myometrium ist eine kräftige Schicht aus glatten Muskelzellen. Diese stehen untereinander und mit den umgebenden Bindegewebezellen in Verbindung, sodass ein funktionelles „Synzytium“ entsteht. Zwischen den Muskelfasern liegt eine bindegewebige Matrix mit Fibroblasten, Kollagen, Elastin, Proteoglykanen sowie Blut-, Lymphgefäßen und Nerven.

Myometritis Die Myometritis stellt eine meist fortgeleitete akute oder chronische Entzündung des Myometriums dar. Ausgangspunkt der Entzündung ist in aller Regel das Endometrium.

Tumoren Leiomyome Das Leiomyom ist gutartig, aus glatten Muskelzellen aufgebaut und der häufigste Tumor des Uterus. Ca. 95% aller Leiomyome finden sich im Corpus uteri. Nach Autopsiestudien haben, abhängig vom Alter, 10–40% aller Frauen uterine Leiomyome. Manifestationsalter ist meist das 4. oder 5. Lebensjahrzehnt. Ein Uterus mit mehreren Myomen wird als Uterus myomatosus bezeichnet.

Abb. 39-21 Leiomyom.

a Makroskopie. Ein intramurales (Pfeil), ein submuköses (Doppelpfeil) und ein in den Zervixkanal prolabiertes Leiomyom (x; Leiomyoma in statu nascendi). b Histologie. Ausschnitt mit spindeligen glatten Muskelzellen. HE, Vergr. 300fach.

Morphologie Makroskopisch sind Leiomyome grauweiß und zeigen eine homogene, oft büschelige Schnittfläche (Abb. 39-21a). Histologisch bestehen sie aus sich

durchflechtenden Bündeln glatter Muskelzellen (Abb. 39-21b). Mitosen sind selten, können aber, abhängig von der Zyklusphase, auch recht zahlreich werden. Derartige Fälle werden als mitosereiche Leiomyome bezeichnet. Die Mitosenzahl ist hier jedoch kein Dignitätskriterium. Regressive Veränderungen in Form von Vernarbung, Verkalkung sowie Zystenbildung sind möglich. Je nach Lokalisation unterscheidet man submuköse, intramurale und subseröse Leiomyome. Submuköse Leiomyome werden von Endometrium bedeckt und ragen als Polypen in das Cavum uteri vor. Sie müssen differentialdiagnostisch von Endometriumpolypen abgegrenzt werden. Wie diese können sie in den Zervikalkanal vorragen (Myoma in statu nascendi). Subseröse Myome sind meist gestielt. Myome, die in das Ligamentum latum hineinragen, werden als intraligamentäre Myome bezeichnet. Differentialdiagnostisch ist das Leiomyom vom Leiomyosarkom abzugrenzen.

Klinisch-pathologische Korrelationen Submuköse Leiomyome führen häufig zu Blutungen. In einer Schwangerschaft kann es zur gestörten Haftung der Plazenta und zum Spontanabort kommen. Leiomyome in der Zervix stellen ein Geburtshindernis dar. Myome in statu nascendi begünstigen aufsteigende Infektionen. Bei subserösen Leiomyomen kann es zur Stieldrehung und hämorrhagischen Infarzierung kommen. Sie werden u.U. auch als Ovarialtumoren fehlinterpretiert. Bei Frauen ohne Kinderwunsch ist die einfache Hysterektomie die Methode der Wahl. Besteht Kinderwunsch, kann ein solitäres Leiomyom enukleiert werden.

Sonderformen ■ Bizarres (symplastisches, atypisches) Leiomyom. Dieses ist durch ein fokales Auftreten polymorpher, hyperchromatischer Zellkerne und mehrkerniger Riesenzellen charakterisiert. Mitosen sind selten, Nekrosen fehlen. ■ Bei den Adenomyomen bzw. Adenofibromen handelt es sich um gutartige glattmuskuläre bzw. fibröse Tumoren, die endometrioide Drüsen enthalten. Diese Tumoren können als Polypen ins Cavum uteri vorragen (atypische polypoide Adenomyome). ■ Intravenöse Leiomyome sind innerhalb von Uterusvenen lokalisiert. Sie weisen keine Malignitätskriterien auf. Man nimmt an, dass sie von den Gefäßwänden ausgehen.

Leiomyosarkom Definition Das Leiomyosarkom ist ein maligner leiomyomatöser Tumor. Er kommt überwiegend in der Postmenopause vor und ist im Gegensatz zu Leiomyomen sehr selten.

Morphologie

Makroskopisch zeigen sich anders als bei Myomen eine bunte Schnittfläche mit gelblichen Nekrosearealen und eine weiche Konsistenz. Histologische Malignitätskriterien sind zelluläre Atypien, Tumorzellnekrosen, Invasion und ein hoher Mitosegehalt. Leiomyogene Tumoren mit hohem Mitosegehalt, aber ohne Atypien und ohne Tumorzellnekrosen werden heute nicht mehr als maligne gewertet und als mitosereiche Leiomyome bezeichnet.

Klinisch-pathologische Korrelationen Klinisch imponiert das Leiomyosarkom als schnell wachsender Tumor. Die Prognose ist mit einer 5-Jahres-überlebensrate von etwa 20% schlecht. Die Metastasierung erfolgt überwiegend hämatogen.

Adenomatoidtumor Der Adenomatoidtumor ist ein seltener, wahrscheinlich vom Mesothel ausgehender benigner Tumor, der meist nur 1–2 cm misst. Am häufigsten ist er im Bereich des Tubenostiums oder innerhalb des Myometriums lokalisiert. Histologisch besteht er aus mesothelial-tubulären Proliferationen mit spaltförmigen Hohlräumen und dazwischenliegendem fibrösem Stroma.

Metastasen Metastasen im Myometrium sind Raritäten und machen etwa 1% der uterinen Karzinome aus. Meist handelt es sich um Metastasen von primären Adenokarzinomen der Mamma, des Magens, des Ovars sowie des Kolons bzw. Rektums. Manifestationen im Rahmen einer hämatopoetischen Systemerkrankung (Lymphome, Leukämien) sind selten.

39.3.5

Erkrankungen der Cervix uteri

Reaktive Veränderungen im Bereich der Transformationszone Die Transformationszone ist jener Bereich zwischen dem Plattenepithel der Ektozervix und dem Zylinderepithel der Endozervix, in dem während der Geschlechtsreife Umbauvorgänge stattfinden und in dem sich Tumoren und ihre Vorstufen bilden. Nach der Pubertät kommt es unter dem Einfluss der weiblichen Geschlechtshormone zur Ektopie der endozervikalen Schleimhaut. Dieser Bereich ist gegenüber verschiedenen Reizen (bakteriell, mechanisch u.a.) empfindlicher, sodass Entzündungen häufig sind. Weiterhin kommt es oft zu einer Plattenepithelmetaplasie. Durch Verlegung endozervikaler Drüsenmündungen können sich dabei sekundär Retentionszysten bilden (Ovula Nabothi). Diese Veränderungen werden auch als glandulär-zystische Ektopie bezeichnet.

Ektopie Syn.: Ektropion, Pseudoerosion, Eversion Unter Ektopie versteht man die Verlagerung endozervikaler Schleimhaut auf die vaginale Portiooberfläche (Abb. 39-22). Sie entwickelt sich in der Pubertät unter dem Einfluss der weiblichen Geschlechtshormone. Nach der Menopause kommt es zur Rückverlagerung in den Zervixkanal.

Morphologie Die ektropionierte Endozervikalmukosa ist rötlich, das Plattenepithel der Ektozervix grauweiß (Abb. 39-23a). Im Zuge der Plattenepithelmetaplasie kann es auch zur Verhornung kommen. Diese verhornten Areale imponieren oft als betont grauweiße Auflagerung (Leukoplakie).

Plattenepithelmetaplasie Definition Bei der Plattenepithelmetaplasie ist die ektope Zervixschleimhaut durch Plattenepithel ersetzt. An der vorderen Muttermundlippe ist die Metaplasiezone doppelt so häufig entwickelt wie an der hinteren. Plattenepithelmetaplasien kommen bei allen erwachsenen Frauen vor.

Abb. 39-22

Portioektopie.

Entwicklung der glandulären Portioektopie (Schema).

Ätiologie und Pathogenese Ausgangspunkt des metaplastischen Epithels sind die Reservezellen (Basalzellen) des endozervikalen Drüsenepithels. Proliferation und Differenzierung werden durch die Steroidhormone angeregt. Zusätzliche Faktoren sind chronische mechanische und/oder chemische Reizungen und rezidivierende Entzündungen. Dadurch kommt es zu einer vermehrten Regeneration, die sich zunächst als Basalzellhyperplasie darstellt. In der Folge entsteht ein mehrschichtiges Epithel, das dann zunehmend zu Plattenepithel ausreift.

Morphologie

Den Entwicklungsschritten der Plattenepithelmetaplasie entsprechend lassen sich morphologisch drei Stadien unterscheiden: ■

Reservezellhyperplasie



unreife Plattenepithelmetaplasie (Abb. 39-23b)



reife Plattenepithelmetaplasie (Abb. 39-23c)

Im Stadium der Reservezellhyperplasie entstehen zwischen Basalmembran und endozervikalen Zylinderzellen 2–5 Lagen polygonaler bis isoprismatischer

Zellen. Im Folgestadium der unreifen Plattenepithelmetaplasie ist eine undifferenzierte Basalzellschicht abgrenzbar, die aus 8–12 darüber liegenden, der tiefen Stachelzellschicht entsprechenden Zellschichten besteht (spärliche Glykogenproduktion). Oft liegt darüber noch eine einreihige Schicht endozervikaler Zylinderzellen (Abb. 39-23b). Am Ende des epithelialen Umwandlungsprozesses, d.h. im Stadium der reifen Plattenepithelmetaplasie, ist an der Oberfläche ein reguläres, nichtverhornendes Plattenepithel ausgebildet (meist reich an Glykogen; Abb. 3923c). Da es bei diesem Prozess häufig zu einer Verlegung der endozervikalen Drüsenmündungen kommt, bilden sich unterschiedlich große Retentionszysten (Ovula Nabothi).

Klinisch-pathologische Korrelation Die Cervix uteri ist der Untersuchung leicht zugänglich. Untersuchungsmethoden sind vor allem die Kolposkopie und die Portiozytologie (Exfoliativzytologie von Ekto- und Endozervix). Makroskopisch suspekte Areale können biopsiert werden. Bei Fehlen eines pathologischen Befundes an der Zervixoberfläche und gleichzeitigem pathologischem Abstrich kann der Zervikalkanal kürettiert werden. Daneben gibt es einfache klinische Untersuchungen, wie die Schiller-Jodprobe und die Essigsäureprobe, die wesentliche Informationen über die Beschaffenheit der Ektozervix geben. Bei der Schiller-Jodprobe macht man sich die Tatsache zunutze, dass das Plattenepithel der Ektozervix während der Geschlechtsreife mehr oder weniger glykogenreich ist. Durch den Kontakt zwischen Glykogen und Jod entsteht eine braune Farbe. Bei Verhornung, aber auch bei präkanzerös verändertem Plattenepithel fehlt die Braunfärbung (jodnegative Bezirke). Verhornte Areale färben sich außerdem bei Betupfen mit Essigsäure weißlich an (essigsäureweiße Bezirke).

Zervizitis Definition Entzündungen der Zervix sind häufig. Nach ihren Ursachen unterscheidet man infektiöse (E. coli, Chlamydien, Streptokokken, Staphylokokken, Gonokokken, Mykoplasmen, Treponemen) akute oder chronische Zervizitis und nichtinfektiöse Zervizitiden, die häufig durch chemische und traumatische Reize ausgelöst werden. Bei den meisten Fällen chronischer Zervizitis gelingt kein Erregernachweis. Äußerst selten sind Manifestationen im Rahmen spezifischer Entzündungen bzw. systemischer Erkrankungen (z.B. Tuberkulose, Morbus Crohn, Morbus Behçet u.a.).

Morphologie Bei schweren Entzündungen (vor allem durch Trichomonaden und Chlamydien) sind ausgeprägte Epithelveränderungen möglich, wobei die Abgrenzung gegenüber einer Dysplasie (CIN) schwierig sein kann. Makroskopisch kann die Zervixschleimhaut fibrinös-eitrige Beläge aufweisen; flache oder tiefere Exulzerationen sind ebenfalls möglich. Als histologisches Substrat der akuten Zervizitis werden eine neutrophile Entzündungsinfiltration des Stromas und unterschiedliche Schweregrade der Epitheldegeneration bis hin zu Nekrosen beobachtet. Bei der chronischen Zervizitis liegt meist eine lymphoplasmazelluläre Infiltration vor.

Abb. 39-23

Plattenepithelmetaplasie.

a Makroskopie. Kolposkopische Darstellung der Portio bei einer jungen Frau. Im Zentrum das scheibenförmig angeordnete, rötliche Zervixdrüsenfeld (Ektopie des Klinikers). b Mikroskopie. Unreife Plattenepithelmetaplasie im Bereich der Transformationszone. Ausdruck der unvollständigen Ausreifung des

Plattenepithels sind die an der Oberfläche noch reichlich vorhandenen Schleim bildenden Zylinderzellen (schwarze Pfeile) neben eindeutigen Zeichen plattenepithelialer Differenzierung (weiße Pfeile). HE, Vergr. 300fach. c Reife Plattenepithelmetaplasie. Ausdifferenziertes Deckepithel mit darunter liegenden Retentionszysten (Ovula Nabothi). HE, Vergr. 200fach.

Komplikationen Die wichtigsten Komplikationen einer Zervizitis ergeben sich aus der Aszension der Entzündung mit nachfolgender Endometritis, Salpingitis und Oophoritis.

Tumorartige Läsionen Drüsenhyperplasie Es handelt sich hierbei um eine meist herdförmige Vermehrung von Drüsen, die zystisch ausgeweitet sein können (zystische Hyperplasie; engl.: tunnel-cluster) oder englumig erscheinen (mikroglanduläre Hyperplasie). Die Ursache liegt wahrscheinlich in einer Gestagenstimulation. Diese Veränderungen können auch im Rahmen der Schwangerschaft auftreten. Wichtig ist die Abgrenzung von Adenokarzinomen.

Polypen Definition Es handelt sich hierbei um exophytisch wachsende, z.T. gestielte fibroepitheliale Proliferationen, meist der Endozervix. Diese entsprechen wahrscheinlich einer umschriebenen Hyperplasie der Zervikalschleimhaut.

Morphologie Die Polypen bestehen aus gefäßreichem Stroma und unterschiedlich zahlreichen Drüsen. Meist finden sich auch entzündliche Veränderungen sowie eine Plattenepithelmetaplasie. Seltener sind die Polypen aus endometriumartigem Gewebe aufgebaut (so genannte endometrioide Polypen). Diese entstehen oft durch einen Prolaps polypösen Endometriums, vor allem aus dem Bereich des unteren Uterinsegments.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Polypen sind oft asymptomatisch. Sie können exulzerieren und infarzieren und dadurch zu einer vaginalen Blutung führen.

Kondylome Definition Kondylome sind durch HPV verursachte plattenepitheliale Proliferationen mit meist papillärem Aufbau (spitze Kondylome oder Condylomata acuminata, Abb. 39-24). Im Vergleich zur Vulva sind Condylomata acuminata an der Zervix aber sehr selten. Im Bereich der Zervix spielen vielmehr die flachen Kondylome (Condyloma planum) eine wichtige Rolle, die als Präneoplasien des Zervixkarzinoms betrachtet und daher zusammen mit diesen abgehandelt werden.

Ätiologie Kondylome werden durch Papillom-Viren (HPV = humanes Papillom-Virus), speziell durch die Typen 6 und 11, induziert (Abb. 39-24d). Sie treten vor allem bei jungen Frauen auf und werden durch sexuelle Kontakte übertragen. Unzureichende hygienische Verhältnisse, orale Kontrazeptiva und Schwangerschaft sowie insbesondere Immundefekte (siehe Kap. 47.2) können ferner das Wachstum von Kondylomen begünstigen.

Abb. 39-24

Kondylomatöse Läsion.

a Makroskopie. Um den Muttermund scheibenförmig angeordnet die ektopische Zervixschleimhaut mit scharfer Grenze zum außen liegenden

Plattenepithel (Pfeile). An der vorderen Muttermundlippe ein Condyloma acuminatum (Stern). b übersicht. Mit deutlich verbreitertem Plattenepithel. HE, Vergr. 50fach. c Stärkere Vergrößerung. Deutlich erkennbare perinukleäre Zytoplasmaaufhellung (Koilozytose; Pfeile). HE, Vergr. 400fach. d Insitu-Hybridisierung. Nachweis von humanen Papillom-Viren im Kern (Pfeile). HPV-in-situ-Hybridisierung, Vergr. 630fach.

Epidemiologie Siehe unter Präneoplasien der Zervix.

Morphologie Ca. 70% der Zervixkondylome sind flache Läsionen. In seltenen Fällen zeigen sie ein exophytisches Wachstum (siehe oben). Histologisch liegt ein verbreitertes Plattenepithel mit unterschiedlicher Verhornungstendenz (zumeist Parakeratose) vor. Das zytologische Merkmal der Kondylome ist die Koilozytose (griech. koilos = hohl, Abb. 39-24). Die Koilozyten sind durch eine perinukleäre Aufhellungszone (sog. Halo) charakterisiert. Zusätzlich sind die Zellkerne häufig unregelmäßig und hyperchromatisch. Die Koilozyten liegen in intermediären und superfizialen Zellschichten.

Klinisch-pathologische Korrelationen Spitze Kondylome heilen meist spontan aus. Sie können aber rezidivieren oder über viele Jahre persistieren. In höchstens 5% der Fälle kommt es zur malignen Entartung.

HPV-assoziierte plattenepitheliale Läsionen der Cervix uteri Das Plattenepithelkarzinom der Zervix und seine Vorstadien (Präkanzerosen) gelten heute als Beispiele einer viralen bzw. von Viren beeinflussten Kanzerogenese beim Menschen. Nach dem derzeitigen Verständnis entsteht das invasive Plattenepithelkarzinom der Cervix uteri auf dem Boden dysplastischer Epithelveränderungen, die zum überwiegenden Teil mit HPV assoziiert sind. Diese Dysplasien weisen unterschiedliche Schweregrade auf und werden in drei Stufen unterteilt: zervikale intraepitheliale Neoplasie (CIN) I, II und III.

Epidemiologie von HPV-Infektionen Nach heutigem Wissensstand wird HPV durch Geschlechtsverkehr übertragen. Allerdings kommt es nur bei einem kleinen Teil der gegenüber HPV exponierten

Frauen zu einer Viruspersistenz mit kontinuierlich nachweisbarer HPV-DNA im Epithel des Genitaltrakts. Nur diese Frauen mit persistierender HPV-Infektion haben ein Risiko, eine CIN III und in der Folge ein invasives Zervixkarzinom zu entwickeln. Faktoren, die die Viruspersistenz bzw. -eliminierung nach anogenitaler HPVInfektion beeinflussen, sind zwar unbekannt, aber immunologische Faktoren und der HPV-Typ werden als bedeutsam erachtet. ■ Dafür, dass immunologische Faktoren eine wesentliche Rolle spielen, spricht die Tatsache, dass die HPV-Infektion bei HIV-infizierten Frauen häufiger persistiert als bei HIV-negativen Frauen. Außerdem steigt das Ausmaß der Viruspersistenz mit fortschreitender Immunsuppression im Rahmen der HIVErkrankung an. ■ Die Persistenz von Hochrisiko-HPV-Typen spielt in der Pathogenese der CIN III und des invasiven Zervixkarzinoms eine entscheidende Rolle. Dies wird von Studien belegt, die gezeigt haben, dass Frauen mit persistierender HochrisikoHPV-Infektion 30-mal häufiger eine CIN III entwickeln als Frauen, bei denen Hochrisiko-HPV-DNA nicht nachweisbar ist. Frauen mit persistierender HPVInfektion entwickelten mehr als 200-mal häufiger ein invasives Zervixkarzinom als Frauen ohne HPV-Infektion. Weiterhin fand man, dass 25% aller Frauen mit einem zytologisch unauffälligen Abstrich, aber nachweisbarer HPV-DNA in ihrem Abstrich innerhalb von 3 Jahren einen abnormen Abstrich aufweisen. Etwa der Hälfte dieser abnormen Abstriche liegt dann auch tatsächlich eine CIN zugrunde.

Einteilung der HPV-Typen Papillom-Viren gehören zur Familie der Papova-Viren. Sie unterscheiden sich von den übrigen Mitgliedern dieser Virusfamilie durch eine Doppelstrang-DNA mit ungefähr 8000 Basenpaaren Länge, ein Virion und ein ikosaedrisches (zwanzigflächiges) Kapsid. Papillom-Viren sind weit verbreitet und spezifisch. Da die Kapsidproteine jedoch nicht speziesspezifisch sind, erfolgt eine Unterscheidung der Typen auf Basis der DNA-Sequenz, im Speziellen der L1-, E6- und E7-GenSequenzen. Dies sind Genabschnitte, die für bestimme Virusproteine kodieren (L für late, E für early, d.h. späte bzw. frühe Synthese während der Replikationsphase). Papillom-Viren sind epitheliotrop, das heißt, sie infizieren bevorzugt Haut und Schleimhäute und verursachen charakteristische Epithelproliferationen im Bereich der Infektionsstellen. Diese als Papillome bezeichneten Läsionen haben die Fähigkeit, unter bestimmen Umständen maligne zu transformieren. Bisher sind mehr als 100 HPV-Typen bekannt, die in drei große Gruppen eingeteilt werden können:

■ mukokutane Gruppe mit Befall von Haut und Mundschleimhaut ■ Epidermodysplasia-verruciformis-Gruppe ■ anogenitale Gruppe. Letztere umfasst mehr als 40 Typen. Anogenitale HPV-Typen werden bezüglich ihrer Assoziation mit spezifischen Läsionen wiederum in drei onkogene Risikogruppen eingeteilt: ■ Die Gruppe mit niedrigem onkogenem Risiko umfasst vor allem die HPVTypen 6 und 11, daneben 42, 43, 44 und 53. ■ Die Hochrisikogruppe umfasst die Typen 16 und 18, daneben auch 45, 56 und 58. Diese Gruppe findet sich im häufigsten in invasiven Plattenepithelkarzinomen. ■ Eine weitere Gruppe von Viren wird ebenfalls mit einem hohen Risiko assoziiert, wenngleich sie weniger häufig in invasiven Zervixkarzinomen gefunden werden. Dazu gehören die Virustypen 31, 33, 35, 39, 51, 52, 59 und 68. Deshalb wurden sie auch in der Vergangenheit als intermediäre Risikogruppe bezeichnet.

Mechanismen der malignen Transformation Hochrisiko-HPV-Typen wie 16 und 18 produzieren im Gegensatz zu Niedrigrisiko-HPV (z.B. 6 und 11) die wachstumsstimulierenden und transformierenden Proteine E6 und E7. E6 und E7 ergänzen einander und werden für eine maligne Transformation in der Zellkultur gemeinsam benötigt. Andererseits wurde gezeigt, dass durch Blockierung der E6- und E7-Expression eine maligne Transformation gehemmt werden kann. Man nimmt aber an, dass für die maligne Transformation zusätzliche, derzeit noch nicht gesicherte Faktoren, die unter anderem zur genetischen Instabilität führen, erforderlich sind. E7 interagiert mit einer Reihe von Proteinen, die den Zellzyklus beeinflussen, wie das Retinoblastomgen (Rb), Zykline, p21 und p27, während E6 an p53 bindet. Durch die Bindung an diese verschiedenen Proteine wird deren normale Funktion in der Zelle ausgeschaltet. Im Falle von p53 wird dessen Fähigkeit ausgeschaltet, Zellen mit geschädigter DNA in die Apoptose zu überführen oder deren Wachstum zu stoppen, und dadurch wird die Entstehung von Mutationen begünstigt. E6 übt außerdem einen antiapoptotischen Effekt durch Degradierung des Proteins Bak aus und aktiviert die Telomerase. HPV-Infektionen haben eine Inkubationszeit von wenigen Wochen bis mehreren Monaten. Prädilektionsort für die Infektionen ist proliferativ aktives Epithel; daher ist die zervikale Transformationszone ideal. Die Viruspartikel befallen das Plattenepithel und vermehren sich intrazellulär. In Low-grade-Läsionen (CIN I)

zeigt sich das Virus überwiegend episomal. In High-grade-Läsionen (CIN II, III) ist das Virus in das Genom integriert. Der erste Schritt einer HPV-Infektion besteht im Kontakt der Virionen mit Basalzellen oder unreifen metaplastischen Plattenepithelien. In der Folge kann es entweder zu einer nichtproduktiven oder zu einer produktiven Infektion kommen: ■ Bei einer nichtproduktiven Infektion verbleibt HPV-DNA als episomale Form im Kern der infizierten Zellen. ■ Bei produktiven Infektionen wird die Virussynthese von der zellulären DNASynthese abgekoppelt. Große Mengen an Virus-DNA und Proteinen werden in den Intermediär- und Oberflächenzellen des Epithels vermehrt. Dadurch entstehen die typischen zytopathogenen Effekte der HPV-Infektion wie Koilozyten und Dyskeratozyten mit dem typischen Bild einer Low-grade-SIL (flaches Kondylom/CIN I, Tab. 39-8). Während der Entwicklung einer CIN III bzw. eines invasiven Plattenepithelkarzinoms kommt es zur Integration der HPV-DNA in die chromosomale DNA. Dadurch entsteht das histologische Bild einer echten Krebsvorstufe. Epithel mit sog. latenter Virusinfektion zeigt dagegen keine histomorphologischen Veränderungen.

HPV-Impfung (prophylaktische Immunisierung, Stand Sept. 2003) Eine Impfung gegen HPV befindet sich derzeit im Stadium der klinischen Erprobung. Eine Schwierigkeit in der Entwicklung der Impfung stellte die starke Heterogenität der HPV-Stämme dar. Die Impfstoffe basieren auf Partikeln, die dem L1-Protein des HPV entsprechen. Bis dato wurden die Impfstoffe gut vertragen und führten zu einem hohen Antikörpertiter. Die Impfung scheint gut gegen persistierende HPV-16-Infektion und zytologische Abnormalitäten zu schützen. Als nächster Schritt sind größere Untersuchungen unter Einsatz von L1-Vakzinen der Stämme 16 und 18, zum Teil in Kombination mit den Stämmen 6 und 11, vorgesehen. Als längerfristiges Ziel ist die Entwicklung von Impfstoffen mit kombinierter prophylaktischer und therapeutischer Einsatzmöglichkeit geplant. Durch eine breit angelegte Vakzination der Bevölkerung vor allem in Ländern mit hoher HPV-Durchseuchung sollte es in Zukunft gelingen, das Zervixkarzinom und seine Vorstufen weitgehend auszurotten.

Tab. 39-8 Zytologische und histologische Klassifikationssysteme der zervikalen Präkanzerosen.

* modifizierte PAP-Klassifikation: die PAP-Klassifikation wie derzeit in den deutschsprachigen Ländern praktiziert (in Deutschland unterteilt man nach der Münchner Klassifikation II von 1991 die Kategorie IV in 2 Gruppen: IVa = Zellbild einer CIN III und IVb = Zellen eines invasiven Karzinoms nicht auszuschließen). Abkürzungen: ASC-US = atypical squamous cells of undetermined significance; ASC-H = atypical squamous cells – cannot exclude a high grade lesion; AGUS = atypical glandular cells of undetermined significance; LSIL = low grade squamous intraepithelial lesion; HSIL = high grade squamous intraepithelial lesion; IIw = Abstrich wiederholen; IIID = Dysplasie; IIIG = glandulär

Zervikale intraepitheliale Neoplasie Das invasive Plattenepithelkarzinom der Zervix entwickelt sich in der Regel über Jahrzehnte aus präkanzerösen Vorläufern, die heute unter dem Begriff der zervikalen intraepithelialen Neoplasie (CIN) zusammengefasst werden (Abb. 39-25, Tab. 39-8). Weitere Bezeichnungen für CIN waren Dysplasie bzw. Carcinoma in situ. Etwa 20% der Frauen mit einer CIN entwickeln ein invasives Plattenepithelkarzinom. Ca. 90% der CIN und der daraus resultierenden Karzinome treten im Bereich der Umwandlungszone auf. Zwei Drittel der CIN sind vollständig oder teilweise auf der Portio lokalisiert und damit klinisch erkennbar. Als Folge der postmenopausalen Retraktion bestehen bei älteren Frauen ungünstigere Voraussetzungen für die Früherkennung.

Morphologie

Die CIN (Abb. 39-26) ist wie andere Formen der Dysplasie durch die Kombination einer Architekturstörung mit einer zellulären Atypie gekennzeichnet. Die Architekturstörung kommt in Form einer Proliferation atypischer basaloider Zellen und einer Ausreifungsstörung des Epithels zum Ausdruck. Die atypischen Zellen sind durch verschobene Kern-Plasma-Relation, Hyperchromasie, vermehrte mitotische Aktivität, vermehrte Zelldichte und Polaritätsverlust charakterisiert. Abhängig vom Ausmaß der Proliferation atypischer Zellen wird die CIN in verschiedene Stufen eingeteilt, wobei das Epithel in Drittel unterteilt wird: ■ Bei der CIN I (= geringgradige Dysplasie) nimmt sie nur das basale Drittel der Epithelhöhe ein. ■ Bei der CIN II (= mittelgradige oder mäßige Dysplasie) reicht sie bis in das mittlere Drittel der Epithelhöhe. ■ Bei der CIN III (= hochgradige oder schwere Dysplasie) reicht sie bis in das oberflächennahe Drittel der Epithelhöhe oder nimmt die gesamte Epithelhöhe ein. Eine Unterscheidung zwischen CIN III und CIS (= Carcinoma in situ) ist weder reproduzierbar noch klinisch relevant. Bei der CIN I ist die abnorme Ausreifung des Epithels in den oberflächennahen Schichten mit meist ausgeprägten HPV-assoziierten Zellveränderungen verbunden (Koilozyten, Dyskeratozyten). In die Gruppe der CIN I werden auch flache HPV-assoziierte Veränderungen eingeordnet, die früher als Condyloma planum (flaches Kondylom) bezeichnet wurden. Die Unterscheidung zwischen Condyloma planum und CIN I ist schwierig. Beim Condyloma planum fehlen atypische Basalzellen, obwohl eine Proliferation vorhanden ist. Deshalb wurden im Bethesda-System beide Läsionen als LSIL (low grade squamous

intraepithelial lesion) zusammengefasst. Die Tatsache, dass CIN II und CIN III in einem Teil der Fälle ebenfalls schwer unterscheidbar sein können, führte zur Zusammenfassung dieser beiden Läsionen in die Gruppe HSIL (high grade squamous intraepithelial lesion) im Bethesda-System. Molekulare Analysen haben gezeigt, dass ein Teil der CIN I polyklonal, die meisten CIN II und III aber monoklonal sind. Monoklonale CIN I sind typischerweise mit High-Risk-HPV-Typen, polyklonale CIN I mit Low-RiskHPV assoziiert.

Diagnose und Differentialdiagnose Die deutliche Korrelation der HPV-Infektionen mit genitalen Neoplasien erlaubt es, HPV als Tumormarker zu nutzen und somit reaktive Epithelveränderungen ohne HPV-Infektion und Karzinomrisiko abzugrenzen (Abb. 39-25). Die zytologische Diagnostik des Zervix- und Portioabstrichs ist die wichtigste Methode zur Früherkennungvon Präkanzerosen (Abb. 39-27). Die Grundlagen wurden bereits in den 30er Jahren durch Papanicolaou erarbeitet. Noch heute werden in manchen Ländern die zytologischen Veränderungen nach einer modifizierten Papanicolaou-Bewertung graduiert (Abb. 39-25).

Abb. 39-25 Zytologische und histologische Klassifikationssysteme der zervikalen Präkanzerosen (modifiziert nach C. Moll, Münsterlingen).

PAP: Grade nach Papanicolaou; CIN: cervical intraepithelial neoplasia; LSIL: low grade squamous intraepithelial lesion; HSIL: high grade squamous intraepithelial lesion; HPV: humanes Papillom-Virus.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die CIN verläuft klinisch meist asymptomatisch. Eine CIN I oder LSIL kann sich in bis zu 60% der Fälle zurückbilden. Eine Persistenz findet sich in 20– 40%, eine Progression in etwa 10–15% der Fälle. Im Gegensatz dazu schreitet eine CIN III bzw. HSIL in 20–70% zu einem invasiven Karzinom fort; in 35– 70% persistiert sie, und in 20–40% der Fälle bildet sie sich zurück. Aufgrund der hohen Progressionsrate wird die CIN III als obligate Präkanzerose angesehen. Das therapeutische Vorgehen ist nicht nur von der zytologischen und histologischen Graduierung der präinvasiven Läsion, sondern maßgeblich von ihrer Größe und Topographie abhängig. Die Standardtherapie der höhergradigen CIN ist die Konisation, meist in Form einer Elektrokonisation (sog. LOOP) oder als Messerkonisation (sog. Cold-knife-Konisation). Nach Konisation oder Hysterektomie bei CIN III und nachfolgend negativen zytologischen Untersuchungen ist nur in 1–2% der Fälle mit einem CINRezidiv in der Zervix bzw. im Scheidenstumpf zu rechnen. Heute nimmt man an, dass es sich hierbei eher um Zweitläsionen handelt. Die CIN während der Gravidität ist keine Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch. Wegen des langsamen natürlichen Verlaufs reichen die kolposkopischen und zytologischen Kontrollen in den meisten Fällen aus. Die chirurgische Sanierung folgt nach der Entbindung.

Zervixkarzinom Definition Etwa 90% der invasiven Zervixkarzinome sind Plattenepithelkarzinome, die meist im Bereich der Portio lokalisiert sind. Bei den restlichen 10% überwiegen Adenokarzinome, selten finden sich kleinzellige (neuroendokrine) Karzinome.

Abb. 39-26 Zervikale intraepitheliale Neoplasie.

a Kolposkopisches Bild eines suspekten Portiobefundes. Unregelmäßiges Oberflächenrelief mit durchscheinenden „atypischen“ Gefäßen. Darüber stellenweise Blutauflagerungen (mikroskopisch: Carcinoma in situ mit übergang in ein Zervixkarzinom). b Leichte Dysplasie (CIN I) mit erhaltener zonaler Gliederung des Epithels, mäßiger Verbreiterung der Basalis und typischen, z.T. mehrkernigen Koilozytosefeldern in der intermediären Zellschicht. HE, Vergr. 300fach. c Mäßige Dysplasie (CIN II). Proliferation atypischer Zellen in der basalen Hälfte des Plattenepithels. HE, Vergr. 200fach. d Schwere Dysplasie (CIN III). Die Schichtung des Epithels ist weitgehend aufgehoben. In allen Schichten befinden sich neoplastische Zellen, sichtbar auch z.T. atypische Mitosefiguren. HE, Vergr. 200fach.

Epidemiologie und Ätiologie Invasive Zervixkarzinome machen 20% der bösartigen Tumoren des weiblichen Genitaltrakts aus. Die Inzidenz liegt bei 10–20 Neuerkrankungen pro 100000 Frauen und Jahr. In den letzten vier Jahrzehnten hat die Häufigkeit des invasiven Zervixkarzinoms in Westeuropa und den USA um 50% abgenommen. Es wurden allerdings keine besseren überlebensraten über fünf oder mehr Jahre erzielt. Daraus kann geschlossen werden, dass die Abnahme der Letalität auf den Nachweis und die Behandlung früher Karzinomstadien mit äußerst günstiger Prognose zurückzuführen ist. Dabei spielt das zytologische Früherkennungsprogramm die wichtigste Rolle. Die Letalitätsrate des Zervixkarzinoms übertrifft immer noch die des Endometriumkarzinoms. Statistisch gesehen lebt eine Frau mit einem Zervixkarzinom häufiger in der Stadt und entstammt häufiger unteren sozioökonomischen Schichten. Besonders hohe Inzidenzen werden bei Prostituierten und Drogenabhängigen beobachtet. Selten kommt das Zervixkarzinom bei Nonnen und jüdischen Frauen vor. Es muss betont werden, dass die Infektion mit spezifischen High-Risk-HPV-Typen zwar für die Entwicklung eines invasiven Zervixkarzinoms notwendig ist, aber allein für die Entwicklung des Zervixkarzinoms nicht ausreicht. Dies wird unter anderem durch die Tatsache untermauert, dass nur ein kleiner Teil jener Frauen, die gegenüber HPV exponiert sind, ein Zervixkarzinom oder seine Vorstufen entwickeln.

Morphologie Makroskopisch kann nicht zwischen einzelnen Tumortypen unterschieden werden. Per definitionen sind Tumoren ab dem Stadium Ib im Rahmen der klinischen Untersuchung erkennbar. Meist handelt es sich um exophytisch wachsende und exulzerierte Fremdgewebeknoten (Abb. 39-28). Das Stadium Ia ist dadurch gekennzeichnet, dass der Tumor klinisch nicht erkennbar ist und nur durch Kolposkopie, Zytologie und Histologie diagnostiziert werden kann. Histologisch unterscheidet man das Plattenepithelkarzinom (verhornend und nichtverhornend) vom Adenokarzinom.

Abb. 39-27 Zytologische Abstrichpräparate von der Portio/Zervix.

a Normale großleibige Superfizialzellen des Portioepithels mit kleinen, regulären Kernen (zytologische Klassifikation: PAP I). Papanicolaou, Vergr. 200fach. b Abstrich einer Patientin mit einer CIN III. Auffällig sind die Kernpolymorphie und -hyperchromasie sowie die Verschiebung der KernPlasma-Relation zugunsten der Kerne (zytologische Klassifikation: PAP IV). Papanicolaou, Vergr. 200fach.

Sonderformen Das mikroinvasive Karzinom (Frühkarzinom) ist eine Bezeichnung für Karzinome im FIGO-Stadium Ia. Sie sind klinisch nicht erkennbar und werden nur mit Kolposkopie und Histologie entdeckt. Sie haben eine horizontale Ausdehnung von maximal 7 mm sowie eine minimale Stromainvasion bis zu einer Tiefe von maximal 5 mm. Nach der Invasionstiefe werden derzeit zwei Subtypen unterteilt: ■ FIGO-Stadium Ia1 (pT1a1). Invasionstiefe maximal 3 mm. ■ FIGO-Stadium Ia2 (pT1a2). Invasionstiefe maximal 5 mm. Das FIGO Stadium Ia2 wird aber nicht generell als Mikrokarzinom akzeptiert. Die Abgrenzung der Mikrokarzinome ist von großer praktischer Bedeutung und hat therapeutische Konsequenzen. Aufgund des sehr geringen Risikos von Lymphknotenmetastasen ( 39 °C bei 95% der Patienten, Hautausschläge bei 88%, Hepatosplenomegalie bei 45%,

Lymphknotenvergrößerung bei 60%, Pleuritis, Perikarditis, Anämie, Leukozytose) einhergehen. Solche systemischen Manifestationen können sich auch bei rheumatoider Arthritis des Erwachsenen finden (Morbus Still des Erwachsenen). 10% der juvenilen Patienten entwickeln eine sekundäre Amyloidose.

Felty-Syndrom Beim Felty-Syndrom handelt es sich um eine schwere Verlaufsform der chronischen Polyarthritis mit Splenomegalie und Neutropenie, die bei ca. 1% der cP-Patienten beobachtet wird. Adulte und juvenile Formen kommen vor. Die Ursache der Neutropenie ist noch ungeklärt. Die Gelenkzerstörungen sind bei diesen Patienten besonders stark ausgeprägt. Das Milzgewicht erreicht bis 2150 g. Als Ursache der Neutropenie kommen vermehrte Margination, gesteigerter lienaler Abbau und eine verminderte Granulopoese infrage. Die Mortalität ist hoch.

Spondylitis ankylosans Syn.: Morbus Bechterew, Spondylarthritis ankylopoetica Die Erkrankung setzt bei 80% der meist männlichen Patienten zwischen dem 16. und 40. Lebensjahr ein, betrifft in erster Linie das Achsenskelett und führt nach 15 bis 20 Jahren zum Spätstadium mit charakteristischer Kyphose und Ankylose der Wirbelsäule. Das Frühstadium zeigt entzündliches destruktives Granulationsgewebe der Zwischenwirbelscheiben, der Zwischenwirbelgelenke und der Sakroiliakalgelenke. An den peripheren Gelenken äußert sich die Entzündung in lymphoplasmazellulären Infiltraten und fibrinoiden Nekrosen (ähnlich der rheumatoiden Arthritis). Es kommt zur typischen Verknöcherung des Bandapparates und der Bandscheiben der Wirbelsäule mit brückenartiger Verbindung der Wirbelkörper und Gelenke („Bambusstabwirbelsäule“) (Abb. 44-6). Außerhalb des Bewegungsapparates manifestiert sich die Erkrankung bei 25% der Patienten als Iridozyklitis und bei 10% als Aortitis. 4–5% der Erkrankten entwickeln eine sekundäre Amyloidose (siehe Kap. 46.3.4).

Psoriatische Arthritis Bei ca. 5–20% der Patienten mit seit 5–10 Jahren bestehender Psoriasis, vor allem mit schwerer dermaler Manifestation (siehe Kap. 42.3.1), finden sich Arthritiden mit asymmetrischer Bevorzugung der distalen Interphalangealgelenke der Hände und Füße. Daneben können aber auch Knie-, Sakroiliakal-, Hüft- und Sprunggelenke betroffen sein. Die entzündlichen Veränderungen entsprechen weitgehend denen der cP. Im Phalangenbereich kann es zu Osteolysen, Gelenkdestruktionen und Knochenresorption (mutilierende Form) kommen. Als für die psoriatische Arthritis charakteristisch wird eine „Osteoperiostitis“ der Großzehe beschrieben, die

radiologisch mit Knochenresorption und Spikulabildung einhergeht. 10% der Patienten mit psoriatischer Arthritis entwickeln eine Amyloidose.

Abb. 44-6

Spondylitis ankylosans.

a Seitliches Röntgenbild der unteren Lumbalwirbelsäule und der Iliosakralgelenke. Die Iliosakralgelenke sind ankylosiert (Pfeilspitzen). Schmale Syndesmophyten als Ausdruck der Verknöcherung des Anulus fibrosus ziehen von einem Wirbelkörper zum nächsten (Pfeil). Die Zwischenwirbelscheiben sind gering verbreitert und

konvex geformt. Sie führen zur konkaven Verformung der Wirbelkörpergrundund -deckplatte. b Wirbelkörper mit verdünnten Zwischenwirbelscheiben (Z) und rarefizierten Spongiosabälkchen (S) als Hinweis auf Osteoporose werden durch das verknöcherte Längsband (L) überbrückt und verbunden (Syndesmophyten). Daraus resultiert eine starre Wirbelsäule („bambusstabartig“). HE, Vergr. 50fach.

Reiter-Syndrom Syn.: Morbus Reiter, Friesinger-Leroy-Reiter-Syndrom Das Reiter-Syndrom ist durch die Trias seronegative Arthritis (betroffen sind vorwiegend Gelenke der unteren Extremitäten wie Kniegelenk und Sprunggelenk), Urethritis und Konjunktivitis charakterisiert. Es tritt bevorzugt bei Männern um das 20.–30. Lebensjahr auf. Die Inzidenz liegt bei 3,5 pro 100000 Männern jünger als 50 Jahren. In etwa 50% geht die Erkrankung mit Fieber und Entzündungen anderer Organe (Prostatitis, Keratitis, Stomatitis) oder mit psoriatiformen Hautveränderungen einher. Die Ätiologie der Erkrankung ist uneinheitlich. Es finden sich epidemische und sporadische Formen. Chlamydien, Shigellen und Yersinien können bei genetischer Disposition (ca. 60–80% der Patienten sind Träger von HLA-B27) die Erkrankung auslösen. Das Reiter-Syndrom kann auch bei HIV-Infizierten auftreten. Morphologisch gleichen die struktuellen Veränderungen denen der cP.

Enteropathische Arthritis Die enteropathische Arthritis gehört zu den reaktiven Arthritiden, die mit einer Infektion an einem gelenkfernen Ort assoziiert und als sterile Arthrithis definiert sind. Sie findet sich als Entzündung peripherer und spinaler Gelenke (monoartikulär oder oligoartikulär), nach Enteritiden (durch Salmonellen, Shigellen, Yersinien, Campylobacter), aber auch bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (Colitis ulcerosa, Morbus Crohn) und Morbus Whipple bei disponierten Personen (meist HLAB27-positiv). Die Behandlung der Grunderkrankung führt oft zur Heilung der Arthritis.

Arthritiden bei systemischen Erkrankungen Gelenkbeteiligungen finden sich bei disseminiertem Lupus erythematodes, bei Sklerodermie, Panarteriitis nodosa, Dermatomyositis, Sarkoidose, Morbus Behçet sowie anderen systemischen Erkrankungen bekannter und unbekannter Ätiologie.

44.2.5

Arthritiden durch Kristallablagerung

Zu den sog. Kristallarthritiden gehören als wichtigste Vertreter die Arthritiden im Rahmen der Gicht, die Kalziumpyrophosphatdihydrat-Arthropathie (Chondrokalzinose, Pseudogicht) sowie die Oxalose. Dabei kommt es zu einer Ablagerung von Kristallen im Gelenkknorpel, in den Menisken und in der Synovialis, wodurch degenerative Veränderungen und Entzündungsreaktionen induziert werden.

Gicht Syn.: Arthritis urica

Definition Die Gicht ist durch einen erhöhten Harnsäurespiegel im Serum (>7 mg/dl beim Mann, >6 mg/dl bei der Frau) und Ablagerung von Uratkristallen in Gelenken, gelenknahen Weichteilen (Tophi) und Niere charakterisiert. Es kommt zu rezidivierenden, akuten Arthritisanfällen. Nur wenige Personen mit Hyperurikämie entwickeln das klinische Krankheitsbild der Gicht. Das Risiko nimmt mit steigendem Serumharnsäurespiegel zu. Männer ab dem 30. Lebensjahr sind bevorzugt betroffen.

Epidemiologie Die Prävalenz beim Erwachsenen wird mit 2 bis 2,6% angegeben.

Pathogenese Es werden eine primäre und eine sekundäre Gicht unterschieden. Bei primärer Gicht liegt eine Störung des Harnsäurestoffwechsels vor, während bei sekundärer Gicht eine andere Grunderkrankung eine Störung des Harnsäurestoffwechsels nach sich zieht. Harnsäure ist ein Endprodukt des Purinstoffwechsels und entsteht überwiegend in der Leber und der Dünndarmmukosa. Purine werden entweder exogen über die Nahrung zugeführt oder im Organismus gebildet. Die Ausscheidung der gebildeten Harnsäure erfolgt zu ca. 70% über die Niere und zu ca. 30% über den Darm (bakterielle Urikolyse). Eine Hyperurikämie kommt zustande durch: ■ Überproduktion von Harnsäure ■ verminderte Ausscheidung von Harnsäure

■ Kombination beider Mechanismen (selten). Die primäre Hyperurikämie (Gicht) ist autosomal-dominant vererbt mit geringer Penetranz. Bei der Mehrzahl (ca. 99%) der Patienten besteht eine Störung der renalen Harnsäureausscheidung, insbesondere der tubulären Harnsäuresekretion. Nur in ca. 1% liegt eine gesteigerte endogene Harnsäuresynthese, bedingt durch Enzymdefekte des Purinstoffwechsels, und/oder gestörte Regulation, vor. Bei Erwachsenen konnten Mutationen des Hypoxanthin-GuaninPhosphoribosyltransferase-Gens (HPRT) oder des PhosphoribosylPyrophosphatsynthetase-Gens, die zu unvollständigen Enzymdefekten führen, nachgewiesen werden. Die Enzymdefekte führen zu einer gesteigerten Purinsynthese. Das Gen, das die HPRT kodiert, liegt auf dem X-Chromosom (Xq 26–q 27) und enthält 9 Exone. Ist der Enzymdefekt der HPRT vollständig, so führt er bereits im Kindesalter zum Lesch-Nyhan-Syndrom. Es kommt ab einem Alter von etwa 6 Monaten zu Hyperurikämie, Choreoathetose, Spastik, mentaler Retardierung, Aggressivität und zwanghafter Selbstmutilation. Die sekundäre Hyperurikämie ist meistens bedingt durch Überproduktion von Harnsäure im Rahmen eines erhöhten Zellzerfalls und eines damit erhöhten Umsatzes von Nukleinsäuren (z.B. bei myeloproliferativen Erkrankungen). Eine Hyperurikämie entsteht aber auch bei verminderter renaler Ausscheidung von Harnsäure (z.B. durch Reduktion des funktionsfähigen Nierenparenchyms) oder durch Medikamente (z.B. Saluretika) oder Toxine. Letztere können Überproduktion und/oder verminderte Uratausscheidung über die Niere bewirken. Weitere mögliche Ursachen sind vermehrte Purinzu-fuhr mit der Nahrung, Stoffwechselstörungen (z.B. Ketoazidose bei Diabetes mellitus) und chronischer Alkoholismus.

Morphologie Durch Ablagerung von Uratkristallen kommt es vor allem zu Schädigungen der Gelenke und der gelenknahen Kutis und Subkutis. Die neutrophilen Granulozyten phagozytieren Uratkristalle und setzen dabei lysosomale Enzyme und andere Entzündungsmediatoren mit chemotaktischer Wirkung frei. Dadurch kommt es zum schmerzhaften Gichtanfall. Das bevorzugt befallene Gelenk ist das Großzehengrundgelenk, nach Häufigkeit folgen Sprung- und Fußwurzelgelenke, Hand- und Fingergelenke sowie das Kniegelenk. Zehen-, Hüft-, Schulter- und Ellenbogengelenke sind nur selten betroffen. Bei eröffnetem Gelenk zeigen sich die Uratkristallablagerungen als weiße Stippchen im Gelenkkapselgewebe, in fortgeschrittenen Stadien als kalkähnlicher gelb-weißer Belag an der Oberfläche des Gelenkknorpels (Abb. 447). Histologisch lassen sich im gelenknahen Bindegewebe büschelförmige Natriumuratkristalle nachweisen. Sie sind umgeben von Histiozyten und Riesenzellen vom Fremdkörpertyp, Fibroblasten, Lymphozyten sowie

neutrophilen Granulozyten (Fremdkörpergranulationsgewebe = Tophus, Abb. 447 und 44-8). Die Synovialzellschicht ist hyperplastisch und von Fibrin bedeckt. Bleibt die Erkrankung unbehandelt, kommt es zu einer Knorpel- und Knochendestruktion. Am Ende dieses Prozesses kann die Zerstörung des Gelenks stehen.

Abb. 44-7

Gelenkveränderungen bei der Gicht.

a Gichttophus im Bereich des Großzehengrundgelenks.b Bei eröffnetem Gelenk zeigt sich auf den Gelenkflächen ein weißer Belag von Natriumuratkristallen.

Klinisch-pathologische Korrelationen Beim akuten Gichtanfall ist das periartikuläre Gewebe geschwollen, gerötet und schmerzhaft. Entzündliche Gelenkveränderungen mit akuten (häufig nächtlichen) Schmerzattacken können durch reichliche Mahlzeiten und Alkoholgenuss ausgelöst werden. Klinische Folgen der Hyperurikämie sind:

■ akute rezidivierende Arthritis/Tendosynovitis/Bursitis ■ deformierende chronische Arthritis ■ subkutane Uratablagerungen (Gichttophi) ■ Nephrolithiasis ■ Uratnephropathie (mit Hypertonie) (siehe Kap. 36.6.4). Die Mortalität der Gicht beträgt ca. 13%, Todesursache ist Nierenversagen. Indometacin und andere entzündungshemmende Medikamente haben das Colchicin in der Behandlung der akuten Gicht abgelöst. Für die Dauerbehandlung werden beispielsweise folgende Substanzen eingesetzt: Allopurinol greift als Hemmer der Xanthinoxidase in die Harnsäuresynthese ein, Probenecid hemmt die Rückresorption der Harnsäure im proximalen Nierentubulus. Beide Substanzen führen damit zu einer Reduktion des Harnsäurespiegels.

Abb. 44-8

Gichttophus in der Haut.

a Unterhalb der Epidermis (E) finden sich Ablagerungen von Natriumurat mit Fremdkörperreaktion. HE, Vergr. 50fach.b Die büschelförmigen Harnsäurekristalle (Pfeil) liegen in einer fibrillären Proteinmatrix. Die Gichtablagerungen in den Weichteilen (Tophi) werden von

Fremdkörpergranulomen mit mehrkernigen Riesenzellen umgeben. HE, Vergr. 100fach.

Kalziumpyrophosphatdihydrat-Arthropathie Syn.: Chondrokalzinose, Pseudogicht Diese Arthropathie entsteht durch Ablagerung von KalziumpyrophosphatdihydratKristallen in Knorpel- und Gelenkkapselgewebe. Gelangen diese Kristalle in die Synovialflüssigkeit, so können sie eine akute Arthritis mit dem klinischen Bild eines Gichtanfalls (Pseudogichtanfall) auslösen.

Pathogenese

Anorganisches Pyrophosphat entsteht im Rahmen verschiedener Stoffwechselschritte im Organismus, z.B. bei Protein-, Nukleotid-, Lipid- und Steroidsynthese. Eine Ursache für die Ablagerung ist noch nicht sicher bekannt. Die Kristalle entstehen in unmittelbarer Assoziation zu Knorpelzellen in der Grenzzone zwischen peri- und extrazellulärer Matrix, wobei lokal erhöhte Kalziumkonzentrationen und/oder pH-Veränderungen eine Rolle spielen könnten. Hypothyreose, Hyperparathyreoidismus, Diabetes mellitus, Hämochromatose, Gicht und andere Stoffwechselstörungen stellen disponierende Erkrankungen dar. Daneben werden auch primäre (familiäre, hereditäre) und sporadische Formen beschrieben. Die Entzündung wird durch Ausbrechen der Kristalldepots aus dem Knorpel und deren Übertritt in die Synovialflüssigkeit hervorgerufen. Bei älteren Patienten kann es auch zur asymptomatischen Ablagerung in Menisken, Gelenkknorpel, Gelenkkapsel, Bändern und Sehnen kommen (Chondrokalzinose). Die Häufigkeit der Kalziumpyrophosphatdihydrat-Ablagerungen nimmt mit dem Lebensalter zu.

Morphologie

Die Pyrophosphatablagerungen betreffen bevorzugt die großen Gelenke (Knie-, Hüft-, Schulter- und Ellenbogengelenk), finden sich weniger häufig aber auch in kleinen Gelenken. Die Ablagerungen in hyalinem Gelenkknopel und Meniskus sind radiologisch nachweisbar. Lichtmikroskopisch finden sich basophile granuläre Kristallablagerungen mit schwach positiver Doppelbrechung im polarisierten Licht im Faserknorpel der Menisken, im hyalinen Gelenkknorpel und in den Synovialzotten. Sie können von einer Fremdkörper-Granulationsgewebsreaktion mit mehrkernigen Riesenzellen vom Fremdkörpertyp, ähnlich wie bei der Gicht, umgeben sein.

Verlauf und Prognose Bei den meisten Patienten kommt es zu einer Knorpelzerstörung mit Ausbildung einer Arthrosis deformans.

Hydroxylapatit-Synovialitis Die Ablagerung von basischem Kalziumphosphat (Kalziumhydroxylapatit) im Knorpel führt zur Knorpeldestruktion. Es ist allerdings unklar, ob die Kristallablagerung Ursache oder Folge des destruktiven Prozesses ist. Folge der Apatitablagerung soll die Induktion gesteigerter Kollagenaseaktivität sein. Die Ablagerung wird von einer villösen Hyperplasie der Synovialis begleitet.

Oxalose Bei der seltenen primären und der sekundären Oxalose wird die Entzündung durch die Oxalatkristallablagerung im Gelenkkapselgewebe ausgelöst. Oxalatkristalle sind auch in Knorpel- und Knochengewebe enthalten (siehe Kap. 46.2.4).

44.3 44.3.1

Degenerative Gelenkerkrankungen Arthrosis deformans

Syn.: Osteoarthrose, engl.: Osteoarthritis

Definition Die Erkrankung ist durch fortschreitende Degeneration und schließlich Verlust des Gelenkknorpels charakterisiert und äußert sich v.a. an den stärker belasteten Gelenken. In der Folge kommt es zu einer Verdichtung (Sklerose) des subchondralen Knochens und zur Bildung von Knochenauswüchsen im Bereich der Gelenkränder (Osteophyten). Es lassen sich primäre und sekundäre Formen unterscheiden. ■ Primäre Arthrosen. Die Knorpeldegeneration tritt ohne erkennbare Ursache auf und könnte auf einen endogenen Knorpelbildungsdefekt zurückgehen. Die degenerativen Veränderungen nehmen mit dem Alter zu. Eine familiäre Häufung wird beobachtet. ■ Sekundäre Arthrosen. Sie haben bekannte Ursachen. Mechanische Einflüsse spielen dabei eine wesentliche Rolle. Sie entwickeln sich bei übermäßiger Belastung (z.B. Übergewicht), in einem traumatisch geschädigten Gelenk, bei schlechter „Passform“ der Gelenkkomponenten (z.B. bei angeborener Hüftgelenkdysplasie), bei Infektionen, Kristallablagerungen, Gelenkblutungen etc.

Pathogenese Mechanische und biochemische Faktoren spielen eine Rolle, in erster Linie sich ständig wiederholende Mikrotraumen. Gesteigerte mechanische Belastung kann mit einer vorübergehend gesteigerten Proteoglykansynthese als Kompensationsversuch der Chondrozyten einhergehen, die dann jedoch dekompensiert. Es kommt zu einem

Schwund der Matrixproteoglykane und zu Chondrozytenapoptosen. Der wenig resistente Knorpel zeigt als Folge Fibrillationen seiner Oberfläche, die zu tiefen Fissuren werden. Übergewicht und Hochleistungssport steigern das Schädigungsausmaß. Durch Chondrozytenzelltod freigesetzte Kollagenasen und weitere Proteasen führen zu weiterem Knorpelabbau. Die resultierende Synovialitis kann die mechanische Knorpelzerstörung durch Freisetzung lytischer Enzyme aus Entzündungszellen verstärken. Im Knorpel kommt es zu einer Verminderung der Proteoglykane, zu Veränderungen der Glykosaminoglykanzusammensetzung und der Knorpelmatrix sowie zu einer Zunahme des Wassergehalts.

Abb. 44-9

Arthrose.

a Finger II posteroanterior und seitlich. Die Arthrose kann auch kleine Gelenke betreffen, wie hier die distalen Interphalangealgelenke. Der Interphalangealabstand ist verschmälert, die Gelenkflächen sind unregelmäßig konfiguriert, und die angrenzende subchondrale Knochenplatte zeigt eine Sklerose neben kleinen Geröllpseudozysten. Im Randbereich des Gelenks Osteophyten (Bild: H. Troeger, Basel). b Gonarthrose. Beachte die unregelmäßige Struktur und partielle Destruktion des Gelenkknorpels sowie die Osteophyten (Pfeile).

Morphologie Betroffen sind v.a. die großen, mechanisch besonders belasteten Gelenke – mit Bevorzugung des Kniegelenks (Gonarthrose, Abb. 44-9), des Hüftgelenks (Coxarthrose) und des Schultergelenks (Omarthrose) – sowie die zervikalen und lumbalen Wirbelgelenke. Ellenbogen-, Hand-, Fuß-, Finger- und Zehengelenke sind weniger häufig betroffen. Makroskopisch und radiologisch zeigen sich eine Verschmälerung des Gelenkspalts (bedingt durch Knorpelverlust), eine Verbreiterung und Verdichtung (Sklerosierung) des subchondralen Knochens mit Pseudozystenbildung sowie eine gesteigerte Knochenneubildung in der Grenzregion zwischen Gelenkkapselansatz und Knorpel mit Entwicklung von Randexostosen mit Faserknorpelüberkleidung (Osteophyten). Die morphologischen Veränderungen zeigen einen stadienhaften Verlauf (Abb. 44-10). ■ Stadium I. Oberflächennaher Proteoglykanverlust des Knorpels und Ausbildung von oberflächlichen Knorpeleinrissen (Fissuren). ■ Stadium II. Die Fissuren vertiefen sich und reichen bis zur Zone des radiären Knorpels. Knorpelzellen gehen zugrunde. Gleichzeitig proliferieren überlebende Chondrozyten unter Ausbildung von „Brutkapseln“, die von proteoglykanreichen Höfen umgeben sind. ■ Stadium III. Synovialflüssigkeit dringt durch die tiefen Fissuren in den Gelenkknorpel ein. Knorpelstücke und Knorpel-Knochen-Stücke mit Anteilen der subchondralen Knochenplatte brechen aus und liegen frei im Gelenkraum (freier Gelenkträger, „sog. Gelenkmaus“). Durch den Fremdkörperreiz kommt es zur Entwicklung einer Synovialitis mit Fremdkörper-Granulationsgewebe-Reaktion. ■ Stadium IV. Durch den Schwund des Gelenkknorpels wird die knöcherne Deckplatte freigelegt, in die dann Synovialflüssigkeit eindringt. Von der Epiphyse und aus dem subchondralen Knochen sprossen Gefäße in den Defekt ein. Es kommt einerseits zu osteoklastischem Knochenabbau, andererseits aber auch zur Verdickung und Sklerosierung der subchondralen Knochenplatte durch erhöhte Osteoblastenaktivität und zu einer verstärkten Bindegewebeproliferation. Außerdem wird Faserknorpel gebildet. Durch die eindringende Synovialflüssigkeit entstehen subchondrale Pseudozysten im Knochen, die mit Synovialflüssigkeit gefüllt und von reaktiv neu gebildetem Knochen umgeben sind. Später werden sie von fibrösem Narbengewebe ausgefüllt. Im Randbereich der Gelenke kommt es zu

metaplastischer Knochen- und Knorpelbildung in der Synovialis und zur Ausbildung von Osteophyten und Randzacken (Randexostosen). Bei Interphalangealgelenken werden diese Randexostosen als Heberden-Knötchen bezeichnet.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Arthrose wird erst mit der Ausbildung von Osteophyten und der Verschmälerung des Gelenkspaltes radiologisch fassbar.

Abb. 44-10 Entwicklung der Gelenkschädigung bei Arthrosis deformans.

Im Stadium I kommt es zu oberflächlichen Knorpeleinrissen, die sich im Stadium II und III vertiefen, wobei durch Ausbrechen von Knorpelstücken größere Defekte entstehen. Die subchondrale Knochenplatte wird freigelegt. Einerseits kommt es zu Knochenabbau, andererseits zu Verdickung und Sklerosierung des subchondralen Knochens. Durch Mikrofrakturen und Mikronekrosen entstehen subchondrale Pseudozysten im Knochen, die von verdichtetem Knochen umgeben sind (Stadium IV). Im Randbereich der Gelenke finden sich durch metaplastische Knochen- und Knorpelbildung verursachte Knochenvorsprünge und Knochenzacken (Osteophyten).

44.3.2

Andere Arthropathien

Neuropathische Arthropathie Durch verminderte Schmerzempfindlichkeit und Störung der Tiefensensibilität bei unbeeinträchtigter Motorik bei Tabes dorsalis oder Syringomyelie kommt es zu einer Überlastung der Gelenke mit rezidivierender Traumatisierung, Mikrofrakturen und Einblutungen. Dies führt zur Gelenkzerstörung (Charcot-Gelenk).

Spondylosis deformans Die Ursache dieser Erkrankung liegt in degenerativen Veränderungen der Zwischenwirbelscheiben. 80–90% der über 60-Jährigen weisen entsprechende Veränderungen auf.

Ätiologie und Pathogenese Mit zunehmendem Alter kommt es zu einer Verminderung des Protein- und Polysaccharidgehalts und zu einer Vermehrung kollagener Fasern im Nucleus pulposus. Daraus resultiert ein Elastizitätsverlust, als dessen Folge es bei Belastung zu Einrissen im Anulus fibrosus und zu einer Verlagerung von Bandscheibengewebe nach lateral kommt. Durch die dadurch bedingte Überbelastung der lateralen Anteile des vorderen Längsbandes und durch periostale Knochenneubildung und (enchondrale) Ossifikation im verlagerten Bandscheibengewebe kommt es zur Ausbildung von Knochenwülsten.

Morphologie

Es finden sich Knochenwülste seitlich des vorderen Längsbandes. Die Wirbelkörper können auch durch knöcherne Brücken verbunden sein. Histologisch lassen sich in den Zwischenwirbelscheiben Nekrosen, Fissuren und Brutkapselbildung der Chondrozyten nachweisen.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Randwulstbildung kann zu einer Bewegungseinschränkung der Wirbelsäule führen. In seltenen Fällen ist dadurch auch eine Kompression des Rückenmarks mit neurologischer Symptomatik möglich.

Spondylarthropathia deformans Jenseits des 60. Lebensjahres finden sich regelmäßig Arthrosen der Wirbelkörpergelenke, wobei v.a. die obere Brustwirbelsäule und die untere Lendenwirbelsäule betroffen sind. Die Ursache liegt in einer Erniedrigung der Zwischenwirbelscheiben (Bandscheiben), die zu einer Lockerung der Wirbelgelenke mit abnormer Beweglichkeit und Überlastung des Gelenkknorpels führt. Durch Randexostosen kann es später zu einer knöchernen Überbrückung und Verbindung der Wirbel und zu einer Versteifung der Wirbelsäule kommen.

Bandscheibenvorfall Syn.: Bandscheibenprolaps, Diskushernie Beim Bandscheibenvorfall handelt es sich um eine Verlagerung des Nucleus pulposus und von Teilen des Anulus fibrosus über die normale Begrenzung der Bandscheibe hinaus. Die Verlagerung kann in verschiedene Regionen hinein erfolgen: in den Knochen des kranialen oder kaudalen Wirbelkörpers (Schmorl-Knötchen), nach vorne (als Ursache der Spondylosis deformans) oder nach hinten.

Ätiologie und Pathogenese

Für die Entwicklung der Schmorl-Knötchen sind eine Schwäche der knöchernen Schlussplatte der Wirbelkörper (physiologisch im Bereich des Durchtritts der Chorda dorsalis), seltener Entzündungen oder Metastasen verantwortlich. Der hintere und der vordere Bandscheibenprolaps entsteht durch Risse im Anulus fibrosus.

Morphologie

Schmorl-Knötchen sind bis 1 cm große, grauweiße Herde in der Spongiosa des Wirbelkörpers. Das verlagerte Material besteht aus degenerativ veränderten und nekrotischen Anteilen des Nucleus pulposus und Anulus fibrosus. Schmorl-Knötchen sind am häufigsten in der Brust- und Lendenwirbelsäule lokalisiert. Ein Einbruch in die untere Schlussplatte ist häufiger als in die obere. Der Bandscheibenprolaps bevorzugt die untere Lendenwirbelsäule.

Klinisch-pathologische Korrelationen Schmorl-Knötchen haben meist keine klinische Symptomatik. Evtl. kommt es, wenn mehrere Wirbelkörper betroffen sind, zu einer Kyphose. Beim hinteren Bandscheibenvorfall kann es zu Schmerzen durch Druck auf die Nervenwurzeln, aber auch zu Parästhesien und Lähmungen durch Schädigung der Nervenwurzeln und des Rückenmarks kommen.

Arthropathien bei systemischen Erkrankungen Ochronose Abb. 44-11 Ochronose.

Beachte die schwarze Verfärbung des Gelenkknorpels (Femurkopf). Durch Fehlen des Enzyms Homogentisinsäureoxidase können Phenylalanin und Tyrosin nur bis zur Homogentisinsäure abgebaut werden. Die dadurch vermehrt anfallende Homogentisinsäure wird im Harn ausgeschieden. Polymerisierte Homogentisinsäure führt zur Schwarzfärbung des Bindegewebes (Abb. 44-11). Durch Anlagerung von polymerisierter Homogentisinsäure an kollagene Fasern kommt es zu einer gesteigerten Quervernetzung und zu Elastizitätsverlust des Knorpels, der dann gegenüber Belastungen weniger resistent ist.

Hämophilie Durch wiederholte Gelenkblutungen (Hämarthros) bei 80% der Patienten mit Hämophilie (Bluterkrankheit) kommt es v.a. in größeren Gelenken (Knie-, Ellenbogen-, Hüft- und Schultergelenk) zu einer von der Synovialis ausgehenden resorbierenden Entzündung mit Siderineinlagerung in Synovialzellen und

Makrophagen der Synovialmembran (Blutergelenk). Im Knorpel kommt es zu Fissuren, schließlich zu Knorpelschwund. Die Ausprägung der Arthropathie korreliert dabei mit der Aktivität der Gerinnungsfaktoren. Hämoglobin und seine Abbauprodukte sind für eine Reduktion der Knorpelproteoglykane verantwortlich, sodass der an interfibrillärer Grundsubstanz verarmte Knorpel einer mechanischen Belastung gegenüber weniger resistent ist. Bilirubin und Hämoglobin hemmen die chondrozytäre Matrixsynthese. Hämatoidinkristalle sind nach intraartikulären Blutungen auch in nekrotischen Chondrozyten nachweisbar. Die Folge kann eine fibröse Versteifung (Ankylose) von Gelenken sein.

Andere Ursachen Arthropathien können auch in Verbindung mit Hämochromatose, Amyloidose, Akromegalie, Hyperparathyreoidismus und Diabetes mellitus auftreten.

Meniskuserkrankungen Meniskusveränderungen haben degenerative und traumatische Ursachen.

Meniskusdegeneration Morphologie Degenerative Meniskusläsionen äußern sich als mukoide oder fettige Veränderungen des Meniskusgewebes. Histologisch zeigen sich eine verstärkte Faserstruktur und eine Verquellung der Grundsubstanz bis zur Ausbildung von Pseudozysten mit reaktiver Knorpelzellproliferation und Ausbildung von Brutkapseln. Fettablagerungen finden sich in den Zellen und in der Zwischensubstanz.

Folgen Die degenerativen Veränderungen können Meniskuszerreißung und -abriss bei Traumen begünstigen.

Traumatische Meniskusläsion Darunter wird eine traumatische Zerreißung des Meniskus ohne vorangegangene degenerative Veränderungen verstanden. Meist sind Sport- oder Berufsunfälle dafür verantwortlich. Die Gefahr einer Meniskusruptur besteht v.a. dann, wenn das gebeugte und abduzierte Kniegelenk bei außenrotiertem Unterschenkel und fixiertem Fuß plötzlich gestreckt wird.

Morphologie Die inneren Menisken sind wesentlich häufiger betroffen als die äußeren. Am häufigsten kommt es zu Längs- oder Korbhenkelrissen. Histologisch finden sich regressive Veränderungen (Nekrosen, Blutungen), später treten eine reparative Fibrose, Knorpelzellproliferation (Brutkapselbildung) und evtl. auch Granulationsund Narbengewebe auf.

Folgen Bei kleinen Rissen ist eine Restitutio ad integrum möglich. Abgerissene Meniskusanteile können zwischen den Gelenkflächen eingeklemmt werden und zu einer Gelenksperre führen.

Traumatische Schäden Durch stumpfe Gewalteinwirkung kann es zu Gelenkergüssen und Blutungen (Hämarthros) kommen. Durch Kapseldehnungen entstehen Distorsionen der Gelenkflächen. Bei Luxationen kommt es zu einer Verschiebung der Gelenkenden gegeneinander. Sie können zu Kapsel- oder Bänderrissen und zur Absprengung von Knochen oder Knorpelteilen führen.

44.4 44.4.1

Erkrankungen der Sehnen und Sehnenscheiden Anatomische Grundlagen

Sehnen bestehen größtenteils aus hochgeordneten kollagenen Fasern (Typ-I-Kollagen) mit dazwischenliegenden Fibrozyten. Die Ernährung erfolgt über Blutgefäße des Mesotendineums. Sehnenscheiden sind Gleiträume, die Synovialflüssigkeit enthalten. Sie werden von einer Synovialzellschicht ausgekleidet. Darunter liegt lockeres vaskularisiertes Bindegewebe.

44.4.2

Degenerative Veränderungen

Im Alter kann eine Verfettung des Sehnengewebes eintreten. Bei chronischer Überbelastung kommt es zu ödematöser Verquellung der Grundsubstanz, Aufsplitterung der Sehnenbündel, Fibrillenzerfall und fibrinoiden Nekrosen. Auch dystrophe Verkalkungen werden beobachtet.

44.4.3

Traumatische Sehnenruptur

Als Folge von Traumen kann es zu Sehnenabrissen kommen. Häufig betroffen sind die Achillessehne, Sehnen des Schultergelenks und des M. quadriceps. In rupturierten

Sehnen werden häufig degenerative Veränderungen gefunden, die auf vorangegangene Mikrotraumen zurückgeführt werden können.

44.4.4

Tendovaginitis stenosans

Diese mit Schmerzen und Bewegungseinschränkung einhergehende Erkrankung betrifft meist Frauen im mittleren und höheren Lebensalter. Ihr liegt eine Verdickung der Sehnenscheide (der Ringbänder von 1 auf 2–3 mm) mit Verengung des Sehnenscheidenkanals zugrunde (Abb. 44-12). Ursache ist eine Proliferation von Blutgefäßen und Fibroblasten, wahrscheinlich infolge mechanischer Schädigungen. Ein Diabetes mellitus wird als prädisponierender Faktor angesehen. Hauptlokalisationen sind die Sehnenscheiden des M. abductor pollicis longus, des M. extensor pollicis brevis, des M. flexor pollicis longus, des M. flexor digiti minimi, des M. flexor carpi radialis, des M. peroneus longus und des M. tibialis posterior. Die morphologische Differentialdiagnose hat die Amyloidose und Stoffwechseldefekte zu berücksichtigen.

Abb. 44-12

Tendovaginitis stenosans de Quervain

(intraoperative Makroaufnahme von H. Troeger, Basel). Die Sehne des M. abductor pollicis longus zeigt eine Auftreibung proximal des durch Kompression und

Einengung bedingten Kalibersprungs (Pfeile). Ursache ist eine Verdickung des Ringbandes (im Bild nicht zu sehen).

44.4.5

Karpaltunnelsyndrom

Dieses Syndrom geht mit Schmerzen und Parästhesien der Hände und mit Atrophie der Daumenballenmuskulatur einher und ist die Folge einer Kompression des N. medianus im Karpalkanal durch das Ligamentum carpi transversum. Die Ursache ist uneinheitlich. Frakturen, Luxationen, Arthritiden, Arthrosen und Stoffwechselerkrankungen (z.B. Gicht und Amyloidose) können zu dieser Symptomatik führen. Das häufige Auftreten bei Frauen in der Prämenopause soll für eine Beteiligung hormoneller Faktoren sprechen. Mechanische Ursachen in Form von Mikrotraumen nach repetitiven Bewegungen sind umstritten.

44.4.6

Entzündliche Erkrankungen

Entzündungen der Sehnen und Sehnenscheiden (Tendosynovitis) können auf bakterielle (z.B. Eitererreger, Tuberkulose) und immunologische (z.B. chronische Polyarthritis) Ursachen oder Stoffwechselstörungen (z.B. Gicht) zurückgehen. Die morphologischen Veränderungen entsprechen der jeweiligen Grunderkrankung.

44.5

Bursen

Bursen (Schleimbeutel) sind Hohlräume mit oder ohne Verbindung zu Gelenken, die von einer Synovialmembran ausgekleidet sind. Sie finden sich in Regionen, die Druck ausgesetzt sind. Durch wiederholte Traumen kann es zu zystischen Schwellungen kommen, die als Hygrome bezeichnet werden.

44.5.1

Entzündungen

Bursitiden können durch bakterielle Erreger eitriger Entzündungen (eitrige Bursitis) bedingt sein oder im Rahmen der chronischen Polyarthritis auftreten. Auch bei Gicht können Bursen entzündlich verändert sein und in ihrer Wand Gichttophi enthalten.

44.5.2

Baker-Zyste

Die Baker-Zyste entspricht einem Hygrom des Kniegelenks. Sie entsteht durch wiederholte Traumen meist an der Innenseite der Kniekehle, steht mit der Kniegelenkhöhle in Verbindung und ist mit Synovialflüssigkeit gefüllt. Sie kann eine Komplikation der Gonarthrose oder der chronischen Polyarthritis sein. Die Therapie besteht in der Exzision.

44.6 Tumoren und tumorähnliche Veränderungen der Gelenke, Sehnen, Sehnenscheiden und Bursen Primärtumoren der Gelenke, Sehnen, Sehnenscheiden und Bursen sind selten. Häufiger sind tumorähnliche Veränderungen.

44.6.1

Benigne Tumoren

Gutartige Tumoren im Gelenkbereich sind Lipome, Hämangiome, Fibrome und Lymphangiome.

44.6.2

Maligne Tumoren

Synoviales Sarkom Es handelt sich um das vierthäufigste Sarkom, das vorwiegend in Umgebung großer Gelenke mit Assoziation zu Sehnenscheide, Bursa und Gelenkkapsel auftritt. Weniger als 5% sind unmittelbar im Gelenkbinnenraum gelegen. 60% sind in der unteren Extremität lokalisiert, davon 30% in der Knieregion, 23% in der oberen Extremität und ca. 10% in der Kopf-Hals-Region. Das synoviale Sarkom kommt auch in Regionen ohne Bezug zu synovialen Strukturen vor, wie in Abdominalwand, Pleura, Herz, Lunge, parapharyngeal sowie in der Niere. Die Bezeichnung „synoviales Sarkom“ rührt von der morphologischen Ähnlichkeit zur Synovialis in der Embryonalentwicklung her. Hingegen konnte ein Tumorursprung von bestehender Synovialis nicht bewiesen werden. Männer sind häufiger betroffen als Frauen (1,2:1). Die Patienten sind typischerweise Adoleszenten oder junge Erwachsene (10–40 Jahre). Symptom ist meist eine tief gelegene, schmerzhafte, langsam expansiv wachsende, umschriebene Raumforderung mit geringer Bewegungseinschränkung. In 15–20% kommt es zu Knochenarrosion oder -destruktion.

Morphologie

Der Tumordurchmesser beträgt meist 3–5 cm, gelegentlich über 15 cm. Die Tumoren sind überwiegend von einer Pseudokapsel umgeben und können ausgedehnte Pseudozysten enthalten. Die Schnittfläche ist gelb bis weißgrau. 50% zeigen den klassischen biphasischen Aufbau aus epithelähnlichen Zellen in Strängen, Nestern oder Drüsenformationen, umgeben von zytoplasmaarmen Spindelzellen: rasenförmig angeordnet mit abwechselnd zellreicheren und zellärmeren, teils myxoiden oder hyalinisierten, verkalkten oder ossifizierten Arealen. Die übrigen 50% bestehen fast ausschließlich entweder aus der epithelähnlichen oder aus der spindelzelligen Komponente und werden als monophasische Synovialsarkome bezeichnet. Mitosefiguren sind selten, bei schlecht differenzierten Tumoren > 2/HPF (high power field). Immunhistochemisch

exprimieren 99% der synovialen Sarkome Zytokeratine (Abb. 44-13) oder EMA (epithelial membrane antigen).

Molekularbiologie Als spezifisch gilt die meist balancierte Translokation t(X;18)(p11,2; q11,2) mit Fusion des SYT-Gens mit dem SSX1- oder SSX2-Gen. Die mRNA des SYT/SSXFusionsgens kann mit RT-PCR oder FISH an Frischgewebe oder sogar formalinfixiertem paraffineingebettetem Gewebe nachgewiesen werden. Handelt es sich um einen monophasischen, wenig differenzierten oder ungewöhnlich lokalisierten Tumor, ist der molekularbiologische Nachweis der Translokation diagnostisch wegweisend.

Abb. 44-13 Synovialsarkom.

Biphasisches Zellbild mit epithelähnlichen Tumorzellen (positive Immunreaktion mit Zytokeratinantikörpern) und umgebendem sarkomähnlichem Gewebe mit spindeligen Tumorzellen. Immunhistologische Darstellung von Zytokeratinen, Gegenfärbung Hämatoxylin. Vergr. 100fach.

Therapie und Prognose Die Therapie besteht in der adäquaten radikalen chirurgischen Resektion mit adjuvanter Chemo- und Radiotherapie. Die 5-Jahres-Überlebensrate liegt zwischen 36 und 76%, die Rezidivrate bei 40%. Metastasen treten bei ca. 50% der Patienten auf, zu 94% in der Lunge, in 10% auch in Lymphknoten. Ungünstige prognostische Parameter sind weniger differenzierte Tumoranteile, ein Alter > 40 Jahre, ein Tumordurchmesser von > 5 cm.

Maligne Riesenzelltumoren der Sehnenscheide Maligne Riesenzelltumoren im eigentlichen Sinn sind ausgesprochen selten. Dieser Tumor wird auch als „Riesenzelltumor der Sehnenscheide/pigmentierte villonoduläre Synovitis, lokalisierte Form, mit eindeutig malignem Anteil oder malignem Rezidiv“ bezeichnet. Morphologisch imponieren große hyperchromatische Kerne, prominente Nukleolen, mehr als 10 Mitosefiguren pro 10 HPF, atypische Mitosen, Nekrosen, diffus infiltratives und diskohäsives Wachstum. Die wenigen beschriebenen Tumoren sind bei Patienten > 70 Jahre aufgetreten, im Gegensatz zur pigmentierten villonodulären Synovitis, die typischerweise im Alter < 40 Jahren vorkommt.

Klarzellsarkom Es handelt sich um oft langsam wachsende Tumoren, die bevorzugt an den unteren Extremitäten in Verbindung mit Sehnen, Bändern und Aponeurosen auftreten.

Ätiologie und Pathogenese

Im Gegensatz zur früheren Annahme einer histogenetischen Verwandtschaft zum synovialen Sarkom wird das Klarzellsarkom aufgrund neuerer Untersuchungen als neuroektodermaler Tumor eingeordnet, welcher dem zellreichen blauen Nävus ähnlich ist. Dementsprechend exprimieren die Tumorzellen S100 und die mit der Melaninsynthese assoziierten Antigene HMB45 und Melan A. Über 75% der Klarzellsarkome zeigen eine charakteristische Translokation t(12;22)(q13; q12), die zur Fusion des ATF-1-Gens mit dem EWS-Gen führt, und die das Klarzellsarkom als so genanntes Melanom der Weichteile vom malignen Melanom der Haut unterscheidet.

Morphologie

Makroskopisch finden sich umschriebene grau-weiße, gelegentlich pigmentierte Knoten. Sie bestehen aus runden oder spindeligen Zellen mit hellem, vakuolisiertem oder feingranulärem Zytoplasma und blasigen Zellkernen mit prominenten Nukleolen.

Verlauf und Prognose Die Prognose ist schlecht, die 5-Jahres-Überlebensrate beträgt 54–65%. Prognosefaktoren sind Tumorgröße, Nekrose, Alter, Lokalisation und Proliferationsindex. Die Rezidivrate beträgt ca. 30%. Rezidive können auch noch nach Jahren auftreten. Bevorzugter Metastasierungsort ist die Lunge, eine Metastasierung in regionale Lymphknoten ist ebenfalls häufig.

44.6.3

Tumorähnliche Läsionen

Pigmentierte villonoduläre Synovialitis, Bursitis und Tendosynovialitis Dazu gehören der Riesenzelltumor der Sehnenscheiden (moduläre Tendosynovialitis) und die pigmentierte villonoduläre Synovitis im eigentlichen Sinne. Es handelt sich um Proliferationen, die von den Synovialiszellen der Synovialmembran der Gelenke, Bursen und Sehnenscheiden ausgehen. Der Riesenzelltumor der Sehnenscheide ist der häufigste echte synoviale Tumor. Es lassen sich diffuse und lokalisierte Formen unterscheiden, wobei die lokalisierten im Gelenk (artikulär) oder außerhalb des Gelenks (extraartikulär) liegen können. Bei den lokalisierten Formen ist nur ein Teil der Synovialis, bei den diffusen die gesamte Synovialmembran betroffen. Typische Lokalisation der diffusen Form ist das Kniegelenk, bei der lokalisierten Knie und Hände. Die Inzidenz beträgt 1,8–9,2 pro 1 Million Einwohner, die Prävalenz ca. 1% aller Gelenkkrankheiten. Die meisten Patienten sind 30–50 Jahre alt, Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Die Tumoren wachsen langsam über Jahre. Bei 50% der Patienten findet sich eine Knochenarrosion.

Ätiologie und Pathogenese Die Ätiologie der Erkrankung ist noch unbekannt. Hypothesen über einen gestörten Cholesterinstoffwechsel, wiederholte Entzündungen oder Blutungen lassen sich nicht länger aufrechterhalten. Vielmehr sprechen zytogenetische Befunde für eine klonale Proliferation von Synoviozyten und damit für die Neoplasie. Die publizierten Translokationen und Rearrangements können jedoch noch nicht als diagnostisch relevant gelten.

Morphologie

Makroskopisch ist die Synovialmembran braun verfärbt und zottig bis knotig gestaltet. Bei den lokalisierten Formen finden sich gelbbraune Knoten, bei der generalisierten Form ist die gesamte Synovialmembran verändert. In den Sehnenscheiden finden sich 0,5–4 cm große gelbbraune Knoten (Riesenzelltumor der Sehnenscheiden). Histologisch zeigt sich eine zottige Hyperplasie des synovialen Gewebes. Die deckende Synovialzellschicht ist verbreitert. Darunter liegen fibroblastenähnliche Zellen, Schaumzellen (lipidspeichernde Makrophagen) und Siderophagen (siderinspeichernde Makrophagen). Eingestreut sind mehrkernige Riesenzellen vom Osteoklastentyp in unterschiedlicher Menge. Mitosefiguren können vorkommen, ebenso Gefäßeinbrüche in 1–5%.

Synoviale Chondromatose

Es handelt sich dabei um eine knorpelige Metaplasie des Gelenkkapselgewebes mit Auftreten von Knorpelinseln und -knoten. Die Erkrankung tritt vorwiegend monoartikulär auf mit bevorzugtem Befall der großen Gelenke (Knie-, Ellenbogen-, Hüft- und Schultergelenk). Diese Knoten können sich ablösen und als freie Körper in der Synovialflüssigkeit schwimmen.

Abb. 44-14

Ganglion im Bereich der Sehnenscheide.

Beachte die flüssigkeitsgefüllten Zysten mit dünner Wand.

Ganglion Definition Ganglien sind pseudozystische Veränderungen im Bereich von Gelenken und Sehnenscheiden.

Ätiologie und Pathogenese Ätiologie und Pathogenese sind noch nicht eindeutig geklärt. Es ist anzunehmen, dass degenerative Prozesse (myxoide Degeneration) des synovialen Bindegewebes, unterstützt durch Traumen, eine Rolle spielen.

Morphologie Makroskopisch finden sich ein- und mehrkammerige Pseudozysten, die den Sehnenscheiden anhaften und von fadenziehender Flüssigkeit erfüllt sind (Abb. 44-14). Die Hauptlokalisation ist das dorsale Handgelenk. Mikroskopisch besteht die Pseudozystenwand aus Bindegewebe mit Fibroblasten ohne eine das Zystenlumen auskleidende Zelllage.

Fibromatosen der Palmar- und Plantaraponeurosen Siehe Kap. 45.3.

Pathologie von Implantaten und Gelenkersatz Siehe Kap. 49.

44.7 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Gelenkkrankheiten Der pathomorphologischen Diagnostik kommt vor allem bei raumfordernden Gelenkprozessen eine entscheidende Bedeutung zu. Die Planung und Durchführung der Biopsie oder Resektion wird im Idealfall an einem spezialisierten Zentrum interdisziplinär vorbereitet, die klinischen, radiologischen und morphologischen Befunde anschließend synthetisch ausgewertet. Bei Systemerkrankungen kommt der Synovialisbiopsie eine wichtige Rolle im klinischen Diagnoseprozess zu. Die Zytopathologie kann bei Kristallarthropathien und Infektionen diagnostisch wegweisend sein. Die Kristallarthropathien lassen sich im Biopsat zuverlässig zuordnen, wenn beachtet wird, die Synovialisbiopsate nicht in Formalin, sondern in Alkohol zu fixieren. In ca. 5% der Synovialisresektionen bei Karpaltunnelsyndrom lässt sich Amyloid nachweisen. Zwar stellt die histologische Untersuchung keine primäre diagnostische Maßnahme bei der Abklärung der cP dar, doch lassen sich die morphologischen Befunde in die Befundkombination im Verlauf einordnen und die Aktivität der Erkrankung messen. Die pathologische Aufarbeitung von Gelenkresektaten bei Prothesenimplantaten (siehe Kap. 49.4) dient der Dokumentation und Graduierung der Arthrose sowie dem Ausschluss einer Tumorerkrankung. Sie bietet die Chance, das Skelettsystem an einem zugänglich gewordenen Ort einzusehen und dessen metabolische Aktiviät einzuschätzen, was für den übrigen Organismus von Bedeutung ist.

Literatur Enzinger and Weiss's Soft Tissue Tumours, 4th ed., Mosby, St. Louis 2001. Harris, E.D.: Rheumatoid arthritis. Pathophysiology and implications for therapy. New Engl. J. Med. 322 (1990) 1277–1289. Jaffe, H.L.: Metabolic degenerative and inflammatory diseases of bones and joints. Urban & Schwarzenberg, München–Wien–Baltimore 1972. Mohr, W.: Gelenkpathologie. Springer, Berlin–Heidelberg–New York 2000. Scriver, R., L. Beaudet, S. Sly, D. Valle (eds.): The metabolic and molecular bases of inherited disease. McGraw-Hill, Inc., 7th ed., New York 1995. Van den Steen, P.E. et al.: Cleavage of denatured natural collagen type II by neutrophil gelatinase B reveals enzyme specificity, post-translational modifications in the substrate,

and the formation of remnant epitopes in rheumatoid arthritis. FASEB J. 16 (2002) 379– 389.

FRAGEN 1 Welche chronische Arthritis tritt sehr häufig auf? Wie ist ihre Pathogenese? Welche Gelenke sind vor allem befallen? Welche Vorgänge laufen in den befallenen Gelenken ab? Welche Konsequenzen können bei schwerem Verlauf eintreten? Welche extraartikulären Gewebe sind häufig befallen? 2 Welche Arthritiden infolge Kristallablagerungen sind wichtig? Welches sind die wichtigen Symptome und Befunde? 3 Erklären Sie die Pathogenese der Gicht. 4 Wodurch unterscheidet sich prinzipiell eine Arthrose von einer Arthritis? 5 Wie ist ein biphasisches Synovialsarkom aufgebaut? 6 Welches sind die Indikationen zur morphologischen Untersuchung der in diesem Kapitel beschriebenen Krankheiten? Welche Untersuchungen sind indiziert? Welchen Beitrag können diese Untersuchungen zur präzisen Diagnostik und zur Planung der Therapie leisten?

45 Weichgewebe D. KATENKAMP 45.1

Normale Struktur und Funktion 1077

45.2

Nichttumoröse Erkrankungen 1078

45.2.1

Entzündungen 1078

45.2.2

Kreislaufstörungen 1078

45.2.3

Stoffwechselerkrankungen 1078

45.3

Tumoren 1078

45.3.1

Epidemiologie und Ätiologie 1078

45.3.2

Klassifikation 1078

Lipomatöse Tumoren 1079 Fibröse Tumoren 1080 Fibrohistiozytische Tumoren 1080 Glattmuskuläre Tumoren 1082 Skelettmuskuläre Tumoren 1082 Gefäßtumoren 1084 Sonstige Tumoren 1085 45.3.3

Molekularbiologische und zytogenetische Aspekte 1086

45.4 1087

Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Weichgewebetumoren

Literatur 1088 Fragen 1088

Zur Orientierung Das Krankheitsspektrum des Weichgewebes unterscheidet sich nicht grundsätzlich von dem anderer Organe. So lassen sich Entzündungen, Kreislaufstörungen, genetische und Stoffwechselerkrankungen, degenerative Erkrankungen sowie Tumoren unterscheiden. Da die nichttumorösen Weichgewebeerkrankungen aus systematischen Gründen bereits detailliert in den entsprechenden Kapiteln abgehandelt worden sind, erfolgt hier nur ein

zusammenfassender Überblick (siehe Kap. 45.2). Ausführlich werden die primären Tumoren des Weichgewebes dargestellt (siehe Kap. 45.3). Auf metastatische Tumoren im Weichgewebe wird nicht eingegangen, da sie selten sind. Prinzipiell können Karzinome, Sarkome (z.B. Leiomyo- und Liposarkome), Melanome sowie maligne Lymphome und Leukämien zu Absiedlungen im Weichgewebe führen. Die primären Weichgewebetumoren sind eine sehr heterogene Gruppe von Geschwülsten. Sie werden klassifiziert nach den Normalgeweben oder -zellen, die sie mehr oder weniger gut imitieren. In der derzeit gültigen WHO-Klassifikation werden mehr als 140 Entitäten und Subtypen primärer gut- und bösartiger Tumoren des Weichgewebes aufgeführt. Die exakte diagnostische Einordnung ist von großer klinischer Bedeutung, da sich aus der Klassifikation allgemeine (statistische) Hinweise zum Lokalverhalten (Rezidivwahrscheinlichkeit) und im Falle der Bösartigkeit zur Disseminierungstendenz (Metastasenwahrscheinlichkeit) des Tumors ableiten lassen. Bei bösartigen Tumoren muss die Klassifikation durch eine Malignitätsgraduierung ergänzt werden. Der Malignitätsgrad korreliert im Einzelfall mit der Prognose und dem Metastasierungspotential, ferner ergeben sich dadurch Hinweise auf die Therapieansprechbarkeit. Der Grad der Malignität ist neben der Größe und Lokalisation des Tumors für die Ermittlung des klinischen Stadiums gemäß der TNM-Klassifikation erforderlich. Die Pathologie ist also nicht nur für die Diagnose und eine Aussage zur Prognose, sondern auch für die Festlegung der Therapie von zentraler Bedeutung.

45.1

Normale Struktur und Funktion

Als Weichgewebe bezeichnet man alle nichtepithelialen extraskelettalen Gewebe unter Ausschluss des Gliagewebes, des Binde- und Stützgewebes parenchymatöser Organe sowie des mononukleären phagozytischen Systems. Dieser Begriff umfasst also Bindegewebe, Muskulatur und Fettgewebe inklusive der dort verlaufenden kleinen Gefäße und Nerven. Die zellulären Elemente des Weichgewebes sind demnach Fibroblasten und Myofibroblasten, Blut- und Lymphgefäßendothelien sowie Perizyten, die adipozytären Zellen des Fettgewebes und die Zellen der glatten und quergestreiften Muskulatur. Übereinkunftsgemäß rechnet man auch die Zellen der im Binde- und Stützgewebe verlaufenden kleinen Nerven (Schwann-Zellen, endo- und perineurale Fibroblasten) zu den zellulären Elementen des Weichgewebes. Das Weichgewebe hat verschiedene Funktionen und Aufgaben. Innerhalb des Weichgewebes verlaufende größere Gefäße und Nerven werden ebenso wie innere Organe (z.B. die Nieren) geschützt, außerdem dient es als Füllgewebe. Das Weichgewebe ist in den Körperstoffwechsel einbezogen (z.B. Fettgewebe als Depot- und Speichergewebe), an der Regulation des Wärmehaushalts beteiligt und ermöglicht durch die Kontraktionsleistungen der quergestreiften Muskulatur zielgerichtete Bewegungen.

45.2 45.2.1

Nichttumoröse Erkrankungen Entzündungen

Bei den entzündlichen Erkrankungen ist die auslösende Ursache von entscheidender Bedeutung. Pyogene Bakterien verursachen Phlegmonen und/oder Abszesse. Meist handelt es sich um ■ fortgeleitete Entzündungen (z.B. peri- oder paranephritische Abszesse bei Pyelonephritis, phlegmonöse Entzündung des mesenteriolären Fettgewebes bei Appendizitis, nekrotisierende Fasziitis nach bakteriell infizierten Hautwunden) ■ metastatische Eiterungen bei einem septikopyämischen Krankheitsbild (siehe Kap. 3.2.6) ■

iatrogen induzierte Entzündungen (z.B. Spritzenabszess).

Das klinische Krankheitsbild ist entsprechend vielfältig. Ein besonderes Krankheitsspektrum stellen die durch Varicella-Zoster-Virus, Borrelia burgdorferi, Mycobacterium leprae sowie Clostridium tetani und Botulinustoxine verursachten neuromuskulären Entzündungen dar (siehe Kap. 48). Nichtinfektiöse immunologische und paraneoplastisch bedingte Erkrankungen können ebenfalls zu einer Mitbeteiligung von Weichgewebe und Muskulatur führen (z.B. Myasthenia gravis, Rheumaknoten oder Krankheiten aus dem Formenkreis der Kollagenosen, wie die Dermatomyositis, Polymyositis oder gemischte Bindegewebekrankheit; siehe Kap. 10.3.7, 44.2.4 und 47.1.5).

45.2.2

Kreislaufstörungen

Kreislaufstörungen im Rahmen der allgemeinen Atherosklerose kommen hauptsächlich im Bereich der unteren Extremitätenmuskulatur in Form ausgeprägter Atrophien, seltener als Nekrosen vor. Darüber hinaus sind retroperitoneale bzw. mediastinale Massenblutungen nach der Ruptur eines abdominalen Aortenaneurysmas oder eines Aneurysma dissecans der Brustaorta von großer Bedeutung (siehe Kap. 7.10). Ausgedehnte Traumen und lokale Zirkulationsstörungen können zum Kompartmentsyndrom führen; bei ausgedehnten Myolysen kann sich eine Schockniere entwickeln (siehe Kap. 36.6.1).

45.2.3

Stoffwechselerkrankungen

Bei hormonellen Erkrankungen und Erkrankungen des Stoffwechsels ist insbesondere die Neuropathie mit ihren Auswirkungen auf die Skelettmuskulatur zu erwähnen, die im Kap. 10.2.2 abgehandelt wird. Die Folgeveränderungen hormoneller Störungen (z.B.

Morbus Cushing, Diabetes mellitus) sowie angeborener Stoffwechselerkrankungen (z.B. Gicht, Glykogenose) werden in den Kap. 16.1.10, 46.1, 44.2.5 und 46.3.2 besprochen.

45.3

Tumoren

45.3.1

Epidemiologie und Ätiologie

Epidemiologie Einige gutartige Weichgewebetumoren (z.B. Lipome) sind relativ häufig, die bösartigen Geschwülste jedoch sind selten und machen weniger als 1% aller Malignome aus. Die Zahl der jährlich neu diagnostizierten Weichgewebetumoren ist in den letzten Jahren unverändert geblieben, lediglich die Häufigkeit des KaposiSarkoms hat seit 1973 deutlich zugenommen. 75–85% der Weichgewebetumoren treten im Erwachsenenalter auf. Im Kindesalter repräsentieren die bösartigen Tumoren des Weichgewebes ungefähr 6% aller Malignome, sie rangieren damit in diesem Lebensalter hinter den Lymphomen/Leukämien, den Hirntumoren, Neuroblastomen und Nephroblastomen (Wilms-Tumor) an 5. Stelle. Insgesamt erkranken weibliche Patienten etwas häufiger als männliche an Weichgewebetumoren, jedoch gibt es im Hinblick auf die Geschlechtsverteilung deutliche Unterschiede bei den einzelnen Tumorarten.

Ätiologie In den allermeisten Fällen bleibt die Ätiologie eines Weichgewebetumors unbekannt, in Einzelfällen kann eine Ursache jedoch mit einiger Wahrscheinlichkeit identifiziert werden. Hier kommen Chemikalien (z.B. alkylierende Substanzen, Polyvinylchlorid, Arsen), radioaktive Strahlen (so genannte Strahlensarkome), immunologische Faktoren (Kaposi-Sarkom bei AIDS oder nach Transplantation) und genetische Ursachen (Keimbahnmutationen des p53-Tumorsuppressorgens im Rahmen des LiFraumeni-Syndroms) in Betracht. In diesem Zusammenhang sei auch auf die Assoziation des Kaposi-Sarkoms mit dem Herpesvirus 8 verwiesen. Die Neurofibromatose v. Recklinghausen wird autosomal-dominant vererbt, im klassischen Fall bilden sich beim Typ I multiple Neurofibrome aus. Als Regel gilt, dass maligne Weichgewebetumoren de novo entstehen, sich also nicht durch eine maligne Transformation aus gutartigen Weichgewebetumoren entwickeln. Die wahrscheinlich einzige Ausnahme stellt das Neurofibrom dar, das sich insbesondere im Rahmen einer Neurofibromatose zu einem malignen peripheren Nervenscheidentumor transformieren kann. Außerdem kennt man keine den Präkanzerosen der epithelialen Geschwülste (intraepitheliale Neoplasien, Dysplasien) vergleichbaren Vorstufen.

45.3.2

Klassifikation

Weichgewebetumoren werden nach ihrer zellulären Differenzierung und nicht nach ihrem Herkunftsgewebe („Histogenese“) klassifiziert. Die gutartigen Tumoren entwickeln sich zwar oft in dem Gewebe, dessen zelluläre Differenzierung sie aufweisen – z.B. findet man gutartige Tumoren mit Fettgewebedifferenzierung (Lipome) normalerweise im Fettgewebe, für bösartige Neubildungen trifft dies jedoch nicht immer zu. So können Sarkome mit Differenzierungsmerkmalen der quergestreiften Muskulatur (Rhabdomyosarkome) auch im Urogenitaltrakt oder im Bereich der ableitenden Gallenwege entstehen, wo es keine Skelettmuskulatur gibt. Die Tumoren müssen in gutartige (nichtmetastasierende) und bösartige (metastasierende) Geschwülste unterteilt werden. Neubildungen, die bezüglich ihres biologischen Verhaltens eine Zwischenstellung einnehmen, werden als Tumoren von intermediärer oder „borderline“-Malignität bezeichnet; man könnte auch den alten Begriff der Semimalignität verwenden. Hierzu gehören Neoplasien, die nur sehr selten metastasieren oder ein Metastasierungspotential erst im Verlauf von Rezidiven entwickeln. Dies gilt z.B. für einige fibrohistiozytische und vaskulär-endotheliale Tumoren. Im Folgenden wird die Nomenklatur der WHO verwendet.

Lipomatöse Tumoren Lipomatöse Tumoren ahmen Fettgewebe nach.

Benigne Tumoren (Lipome) Lipome sind sehr häufig und entstehen oft im subkutanen Fettgewebe als solitäre Neubildungen. Meist sind die Patienten älter als 30 Jahre, gelegentlich aber auch im Kindesalter. Der Tumor besteht aus ausgereiften adipozytären Zellen ohne Atypien und weist eine Kapsel auf. Intramuskuläre und intermuskuläre Lipome haben keine Kapsel, sie wachsen infiltrierend. Bei der seltenen Lipomatose liegt ein Überschusswachstum von Fettgewebe vor. Gutartige lipomatöse Tumoren bei Säuglingen oder Kleinkindern sind das Lipoblastom (umschriebener Tumor) oder die Lipoblastomatose (schlecht abgegrenzt gegenüber der Nachbarschaft). Sie bestehen aus reifen und unreifen Fettzellen (Lipoblasten). Angiolipome sind subkutan lokalisiert und kommen besonders bei jüngeren Erwachsenen vor. Sie können multipel auftreten und schmerzhaft sein. Neben reifen adipozytären Zellen sind reichlich kapilläre Gefäße vorhanden.

Spindelzell- und pleomorphe Lipome bieten zytogenetisch identische Befunde (Veränderungen am Chromosom 16) und sind ohne Rezidivtendenz. Sie kommen besonders bei älteren Männern vor, sind subkutan lokalisiert (meist im Nacken- und Schulterbereich) und besitzen eine Kapsel. Neben reifen adipozytären Zellen beobachtet man blande Spindelzellen (Spindelzell-Lipom) oder polymorphe Zellen und mehrkernige Riesenzellen (pleomorphes Lipom). Weitere Lipomvarianten sind das Myolipom, das chondroide Lipom, das Angiomyolipom und das Myelolipom. Das Hibernom ist ein Fettgewebetumor, der neben univakuolären Adipozyten mehr oder weniger reichlich braune Fettgewebezellen aufweist.

Maligne Tumoren (Liposarkome) Ein wesentliches diagnostisches Merkmal von Liposarkomen ist der uni- und/oder multivakuoläre Lipoblast (Abb. 45-1). Die vier wichtigsten Subtypen sind das hochdifferenzierte, das dedifferenzierte, das myxoid/rundzellige und das pleomorphe Liposarkom.

Morphologie Hochdifferenziertes Liposarkom.

Es handelt sich meist um einen lipomähnlichen Tumor, der allerdings Kernatypien aufweist und Größenunterschiede der adipozytären Tumorzellen erkennen lässt. Multivakuoläre Lipoblasten sind nicht unbedingt für die Diagnose erforderlich. Hochdifferenzierte Liposarkome tendieren zum Rezidiv, metastasieren aber nicht, sind tumorbiologisch also keine voll entwickelten Malignome. Deshalb kann man sie synonym auch als atypische Lipome (in superfizialer Lokalisation) oder atypische lipomatöse Tumoren (wenn sie im tiefen Weichgewebe liegen) bezeichnen. In retroperitonealer Lokalisation sind sie oft sehr groß und dann kaum lokal vollständig zu entfernen, so dass sie immer wieder rezidivieren und zum Tode des Patienten führen können. Hier sollte man aufgrund des Krankheitsverlaufs den Begriff des hochdifferenzierten Liposarkoms beibehalten.

Abb. 45-1 Gut differenziertes lipomähnliches Liposarkom

mit multivakuolären Lipoblasten (Pfeile). HE, Vergr. 200fach. Dedifferenziertes Liposarkom. Dieser Tumor liegt vor, wenn sich in einem hochdifferenzierten Liposarkom eine zusätzliche nichtlipomatöse Sarkomkomponente entwickelt. Myxoid/rundzelliges Liposarkom. Zusammen mit dem höher malignen rundzelligen Liposarkom ist der niedrigmaligne myxoide Subtyp durch eine spezifische 12;16-Chromosomentranslokation gekennzeichnet. Diese Tumorgruppe bildet ein Drittel aller Liposarkome. Die myxoide Variante ist von gelatinöser Konsistenz und zellarm, weist ein dichtes (plexiformes) Kapillarnetzwerk auf und bildet univakuoläre Lipoblasten aus. Der rundzellige Typ ist wesentlich zelldichter. Pleomorphes Liposarkom. Die Existenz von multivakuolären Lipoblasten grenzt diesen Tumor von anderen pleomorphen Sarkomen ab (Abb. 45-2).

Abb. 45-2

Pleomorphes Liposarkom

mit hochgradigen Zell- und Kernatypien sowie multivakuolären Lipoblasten. HE, Vergr. 400fach.

Klinisch-pathologische Korrelationen Liposarkome machen mehr als 20% der Sarkome des Erwachsenenalters aus (Gipfel in der 5.–7. Lebensdekade). Sie sind meist im tiefen Weichgewebe und am häufigsten in der unteren Extremität lokalisiert (besonders im Oberschenkelbereich), kommen aber auch am Körperstamm, in der oberen Extremität und im Retroperitonealraum vor. Die Prognose hängt stark vom histologischen Subtyp ab. Die 5-Jahres-Überlebensrate der hochdifferenzierten Liposarkome insgesamt beträgt etwa 90%, die der dedifferenzierten Subtypen liegt bei 60–70%. Für rein myxoide Läsionen liegt die 5-Jahres-Überlebensrate bei 90%, für gemischt myxoid-rundzellige Tumoren bei 40–50% und für rein rundzellige Liposarkome bei 25%. Pleomorphe Liposarkome sind selten (5% aller Liposarkome) und hochmaligne (5-Jahres-Überlebensrate 20%).

Fibröse Tumoren Fibröse Tumoren weisen Zellen mit einer fibroblastischen und/oder myofibroblastischen Differenzierung auf und enthalten in unterschiedlichem Ausmaß kollagene Fasern.

Benigne Tumoren Zu den gutartigen fibrösen Tumoren zählt man gemäß der WHO-Klassifikation nicht nur echte Tumoren, sondern auch reaktive Proliferate.

■ Als reaktiv sind das Keloid, pseudosarkomatöse, schnell wachsende Läsionen wie die noduläre Fasziitis, die proliferative Fasziitis/Myositis oder die Myositis ossificans sowie das im Schulterblattbereich gelegene Elastofibrom aufzufassen. ■ Zu den Tumoren gehören das Sehnenscheidenfibrom, Myofibrome und Myofibromatosen, das vorwiegend im Vulvabereich auftretende Angiomyofibroblastom und der solitäre fibröse Tumor. Letzterer wurde zunächst im Pleurabereich als solitäres fibröses Mesotheliom beschrieben, kommt aber auch extrapleural im Weichgewebe vor und ist durch seine immunhistochemisch positive Reaktion mit CD34-Antikörpern gekennzeichnet.

Semimaligne Tumoren: Fibromatosen Diese fibroblastisch/myofibroblastischen Tumoren stehen intermediär zwischen gutund bösartigen Geschwülsten und können als semimaligne bezeichnet werden. Sie zeigen keine zytologischen Atypien, wachsen aber lokal aggressiv (invasivdestruierend) und neigen zum Lokalrezidiv. Metastasen werden jedoch niemals gebildet. Man unterscheidet superfiziale und tiefe Fibromatosen.

Palmarfibromatose Sie gehört zu den superfizialen Fibromatosen. Bei älteren Patienten entwickelt sich in der Palmaraponeurose oder der Volarregion der proximalen Phalangen ein infiltrierend wachsendes fibroblastisch/myofibroblastisches Proliferat (Abb. 45-3), das mit der Zeit fibrosiert und eine Fingerkontraktur auslöst (Morbus Dupuytren). Die histologisch gleichartige Plantarfibromatose (Morbus Ledderhose) verursacht keine Kontrakturen.

Abdominale und extraabdominale Fibromatose Es handelt sich dabei um die sog. Desmoidfibromatosen. Sie machen 85% der tiefen Fibromatosen aus. Die abdominale Form findet sich besonders bei jüngeren Frauen in der vorderen Bauchwand, die extraabdominale Variante bevorzugt die Gliedmaßengürtel und die proximalen Extremitäten. Die Desmoidfibromatose in Assoziation mit einer familiären adenomatösen Polypose im Dickdarm entspricht dem Gardner-Syndrom. Aufgrund des infiltrierenden Wachstums sind Fibromatosen schlecht vom umgebenden Gewebe abzugrenzen und rezidivieren deshalb häufig nach der operativen Entfernung.

Abb. 45-3 Palmarfibromatose

mit proliferierenden fibroblastisch/myofibroblastischen Zellen ohne zelluläre Atypien und mit infiltrierendem Wachstum. HE, Vergr. 100fach.

Maligne Tumoren Fibrosarkome sind selten. Sie treten im Säuglings- und Kleinkindesalter (infantiler Typ) und im Erwachsenenalter (adulter Typ) auf. Als besondere Fibrosarkomvarianten sind das niedrigmaligne fibromyxoide Sarkom und das epitheloide Fibrosarkom abgegrenzt worden, deren histologisches Bild sich vom klassischen Fibrosarkom deutlich unterscheidet. Die meisten infantilen Fibrosarkome weisen eine 12;15-Chromosomentranslokation auf.

Morphologie Typische Fibrosarkome sind meist relativ gut umschrieben. Sie bestehen aus fibroblastenartigen Spindelzellen, die in gestreckten faszikulären Strukturen angeordnet sind und ein sog. Fischgrätenmuster erzeugen. Dieses Bild kann beim infantilen Typ fehlen, wo außerdem neben fibroblastischen oft auch myofibroblastische Zellen vorkommen.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Infantile Fibrosarkome entstehen in den distalen Extremitäten, die adulte Variante besonders im Bereich von Körperstamm oder proximalen Extremitäten. Sie haben eine unterschiedliche Prognose (90% 5-Jahres-Überlebensrate beim infantilen Typ vs. 40% beim adulten Typ).

Fibrohistiozytische Tumoren Das Konzept der fibrohistiozytischen Differenzierung leitet sich aus Zellkulturbeobachtungen der sechziger Jahre ab und gründete sich auf der Annahme, dass eine fakultative Wandlung von Histiozyten in Fibroblasten möglich sei. Obwohl heute klar ist, dass fibrohistiozytische Geschwülste keine Tumoren der echten Histiozyten des mononukleären Phagozytensystems sind, wird der Begriff beibehalten, weil er sich inzwischen in der Klinik etabliert hat. Die Tumorzellen sehen spindelzellig-fibroblastär und histiozytenähnlich aus, eine spezielle Zellliniendifferenzierung ist immunhistochemisch aber nicht nachweisbar.

Benigne Tumoren Das kutane fibröse Histiozytom (Syn. Dermatofibrom) kommt bevorzugt bei Erwachsenen vor und ist besonders im Bereich der Extremitäten zu finden. Es weist ein storiformes Wuchsbild auf (stora = Bastmatte, storiform: bastmattenartig verflochtene Zellbündel) und besteht aus spindeligen fibroblastären und polygonalen histiozytenähnlichen Zellen. Es hat u.U. Schaum- und Riesenzellen eingelagert, zeigt Hämosiderinablagerungen und oft eingestreute Entzündungszellen (Abb. 45-4). Im typischen Fall besteht kaum Rezidivtendenz. Es gibt allerdings Varianten der kutanen fibrösen Histiozytome, die zum Rezidiv neigen (z.B. die zellreichen fibrösen Histiozytome). Seltener sind fibröse Histiozytome auch im tiefen Weichgewebe gelegen. Xanthome sind umschriebene Herde von Lipidspeicherung in dermalen Histiozyten. Obwohl gelegentlich von knotiger Beschaffenheit (z.B. Sehnenscheidenxanthome, tuberöse Xanthome), handelt es sich nicht um echte Tumoren. Man unterscheidet hyperlipidämische Xanthome (bei Fettstoffwechselstörungen, meist im Rahmen eines Diabetes mellitus) von normolipidämischen Xanthomen (Funktionsstörungen der Histiozyten, z.B. im Rahmen einer Langerhans-Zell-Histiozytose).

Semimaligne Tumoren Atypische Fibroxanthome kommen in der lichtexponierten Haut (Gesicht, Hals) älterer Menschen vor. Sie weisen zytologisch erhebliche Atypien und zahlreiche Mitosen auf. Da sie jedoch auf das dermale Bindegewebe begrenzt und relativ gut umschrieben sind, nehmen sie trotz des sarkomverdächtigen Bildes einen gutartigen Verlauf.

Abb. 45-4

Benignes fibröses Histiozytom

mit storiformem Wuchsbild sowie vorwiegend fibroblastischen und nur wenigen histiozytenartigen Zellen. Fokal Siderinablagerungen. HE, Vergr. 200fach. Das Dermatofibrosarcoma protuberans wird von der WHO als ein fibrohistiozytischer Tumor eingeordnet. Es ist aber eine rein spindelzelligfibroblastäre Geschwulst, die die Dermis und Subkutis einbezieht, infiltrierend wächst und daher zum Lokalrezidiv neigt. Metastasen treten außerordentlich selten auf. Dies ändert sich, wenn eine sarkomatöse Transformation eintritt, die mit der Reduktion oder dem Verlust der charakteristischen CD34-Positivität einhergeht.

Maligne Tumoren Das maligne fibröse Histiozytom (MFH) ist der häufigste maligne Weichgewebetumor des höheren Erwachsenenalters. Da bekannt ist, dass verschiedene Weichgewebesarkome und sogar Melanome, Lymphome und manche Karzinome ein MFH morphologisch imitieren können, darf die Diagnose erst nach dem immunhistochemischen Ausschluss einer anderen definierten Tumorentität gestellt werden.

Morphologie

Es handelt sich um ein pleomorphes Spindelzellsarkom, das Riesenzellen sowie xanthöse und Entzündungszellen aufweist, viele Mitosen erkennen lässt und Nekrosen ausbildet (Abb. 45-5). Neben dem häufigsten storiform/pleomorphen Subtyp kommt nächsthäufig das myxoide MFH (Syn. Myxofibrosarkom) mit einer myxoiden Gewebeauflockerung vor. Die anderen Varianten (riesenzellig, inflammatorisch, angiomatoid) sind sehr selten. Bemerkenswert ist, dass sich das

angiomatoide MFH im Gegensatz zu den übrigen Formen bei Kindern und Adoleszenten entwickelt, niedrigmaligne ist und nur selten metastasiert.

Abb. 45-5

Malignes fibröses Histiozytom (MFH):

pleomorphes Sarkom mit bizarren Riesenzellen und eingestreuten Entzündungszellen. HE, Vergr. 180fach.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die malignen fibrösen Histiozytome entwickeln sich meist im tiefen Weichgewebe (besonders der Extremitäten), das myxoide MFH allerdings entsteht häufiger superfizial, ebenso wie der angiomatoide Subtyp. Das storiform/pleomorphe MFH ist hochmaligne. Im statistischen Mittel treten in 40–50% der Fälle Rezidive und ebenso häufig Metastasen auf. Weniger maligne ist das myxoide MFH, 60–70% der Patienten leben länger als 5 Jahre. Im Einzelfall wird die Lebenserwartung allerdings signifikant durch den Malignitätsgrad bestimmt.

Glattmuskuläre Tumoren Die Tumoren bestehen aus Zellen, die Merkmale von glatten Muskelzellen ausgebildet haben. Leiomyome sind relativ selten, Leiomyosarkome werden infolge verfügbarer immunhistochemischer Marker heute häufiger als früher diagnostiziert (gegenwärtig etwa 15% aller Weichgewebesarkome).

Benigne Tumoren Die Leiomyome der Haut leiten sich von der pilaren Muskulatur ab und treten häufiger multipel als solitär auf (pilare Leiomyome). Sie bestehen aus glatten Muskelzellen mit allenfalls leichten Atypien. In seltenen Fällen kann ein Leiomyom auch im tiefen Weichgewebe entstehen. Im gutartigen Leiomyom des

Weichgewebes dürfen keine Mitosen vorhanden sein (Leiomyome des Uterus siehe Kap. 39.3.4). Das Angioleiomyom ist häufiger als das pilare Leiomyom und in der Regel solitär. Es ist meist subkutan und oft im Unterschenkelbereich lokalisiert, betroffen sind ältere Patienten. Neben glatten Muskelzellen findet man Gefäße mit verdickter muskulärer Wandung.

Maligne Tumoren Leiomyosarkome treten am häufigsten intraabdominal, besonders retroperitoneal, auf (40–45% aller Fälle), nächsthäufig sind sie im Subkutan- oder tiefen Weichgewebe anzutreffen. Dann folgen die kutanen Leiomyosarkome, und schließlich können diese Tumoren gelegentlich auch von der Wand größerer Venen ausgehen (vaskuläre Leiomyosarkome).

Morphologie Histologisch ist der Tumor durch Spindelzellen (kastenförmige Kerne, kräftig eosinophiles Zytoplasma) und immunhistochemisch durch eine myogene Differenzierung charakterisiert (Nachweis von glattmuskulärem Aktin und Desmin). Neben zellulären Atypien sind für die Diagnose Mitosefiguren erforderlich.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Prognose ist bei intraabdominalen Leiomyosarkomen am schlechtesten, nur 20–30% der Patienten leben länger als 5 Jahre. Die beste Prognose haben Patienten mit kutanen Leiomyosarkomen, weil diese Tumoren praktisch nie metastasieren. 60–65% der Patienten mit einem Leiomyosarkom des tiefen Weichgewebes überleben 5 Jahre, jedoch treten schließlich bei etwa 50% aller Patienten Metastasen auf.

Skelettmuskuläre Tumoren Die Tumorzellen weisen Differenzierungsmerkmale der quergestreiften Muskulatur auf. Die Diagnose beruht also auf dem Nachweis einer skelettmuskulären Liniendifferenzierung (Abb. 45-6; siehe Kap. 45.3.3).

Benigne Tumoren: Rhabdomyome Man findet sie gleichermaßen selten bei Kindern (fetale Rhabdomyome) und Erwachsenen (adulte Rhabdomyome), besonders im Kopf-Hals-Bereich. Kardiale Rhabdomyome gehören zu den häufigeren der insgesamt seltenen Herztumoren und entwickeln sich besonders bei Säuglingen und Kindern. Sie haben eine signifikante

Assoziation zur tuberösen Sklerose (siehe Kap. 9.13.3). Genitale Rhabdomyome entstehen im Vaginalund Zervixbereich von Frauen im mittleren Lebensalter.

Maligne Tumoren: Rhabdomyosarkome Definition Hochmaligne Tumoren, die von undifferenzierten, pluripotenten Mesenchymzellen ausgehen und eine verschieden stark ausgeprägte rhabdomyomatöse Differenzierung zeigen.

Epidemiologie Unter den malignen Weichteiltumoren nehmen die Rhabdomyosarkome eine Sonderstellung ein: Sie sind die häufigsten Malignome der Weichteile beim Kind (über 50%) und kommen beim Erwachsenen nur sehr selten vor (siehe Kap. 45.2.4).

Ätiologie Beim alveolären Rhabdomyosarkom finden sich Translokationen mit Beteiligung des Chromosoms 13, z.B. (2;13) (q37;q14) sind beschrieben.

Lokalisation Rhabdomyosarkome treten vor allem im Kopf- (besonders Orbita [Abb. 45-7a], Gehörgang, Nase und Nasennebenhöhlen) und Halsbereich auf (ca. 50%) sowie im Urogenitaltrakt und Becken (ca. 30%, Harnblase, Prostata, Hodenhüllen beim Knaben, Harnblase und Vagina beim Mädchen). Seltener kommen sie in den Extremitäten und am Stamm (ca. 20%) vor. In der Skelettmuskulatur treten sie selten auf.

Abb. 45-6 Embryonales Rhabdomyosarkom.

Die Desmin-Antikörperreaktion ist rot dargestellt und belegt die muskuläre Differenzierung in den Rhabdomyoblasten (Pfeile). DesminImmunhistochemie, Vergr. 200fach.

Abb. 45-7 Rhabdomyosarkom.

a Ein Rhabdomyosarkom mit infiltrativem Wachstum in den Schädel entsteht häufig in der Augenhöhle.

b Histologisch besteht der Tumor aus zytoplasmareichen eosinophilen Zellen, die an frühe Entwicklungsstadien der Skelettmuskulatur erinnern. HE, Vergr. 180fach. c Manchmal lässt sich die Differenzierungsrichtung nur durch immunhistochemische Darstellung von muskeltypischen Proteinen zeigen; eine einzelne Tumorzelle bildet im Zytoplasma Myoglobin (braunes Reaktionsprodukt). Immunhistochemie für Myoglobin, Vergr. 500fach.

Morphologie und Typen Rhabdomyosarkome sind meist gut abgegrenzte Tumoren mit glänzender Schnittfläche, vereinzelten Blutungen und Nekrosen. Sie können je nach Lokalisation bis zu 20 cm im Durchmesser betragen. Beim Einbruch in das Lumen von Hohlorganen (Harnblase, Vagina, Uterus, Gallenwege) wächst das Tumorgewebe traubenförmig, polypös (Sarcoma botryoides) und darf nicht mit Schleimhautpolypen verwechselt werden. Histologisch lassen sich folgende Typen unterscheiden: ■ Embryonales Rhabdomyosarkom (ca. 70%, 0–5 Jahre, vor allem Kopf, Hals und Urogenitalsystem) mit kleinen, runden Zellen, hyperchromatischem Kern und wenig eosinophilem Zytoplasma (Abb. 45-7b). Besser differenzierte Formen zeigen Querstreifung und mehrkernige, teils kaulquappenförmige Zellen. ■ Alveoläres Rhabdomyosarkom (ca. 20%, 10–15 Jahre, meist in Extremitäten). Bindegewebige Septen unterteilen Gruppen dicht liegender, kleiner Tumorzellen, die in pseudoalveolären Strukturen angeordnet sind. ■ Pleomorphes Rhabdomyosarkom (weniger als 1%, vor allem bei Adoleszenten und Erwachsenen am Stamm und an den Extremitäten). Große pleomorphe Tumorzellen haben oft mehrere Kerne und reichlich eosinophiles Zytoplasma. Elektronenmikroskopisch sind Aktin- und Myosinfilamente in besser differenzierten Tumoren erkennbar. Immunhistochemische Färbungen mit Antikörpern gegen Desmin, Myoglobin, Myogenin und MyoD1 (Abb. 457c) sind sehr hilfreich zur Abgrenzung von anderen Sarkomen.

Klinisch-pathologische Korrelationen Durch moderne multimodale Therapieprotokolle hat sich die Prognose des Rhabdomyosarkoms bei Kindern und Jugendlichen dramatisch verbessert: 60– 70% dieser Patienten erreichen die 5-Jahres-Überlebens-Grenze, und man kann davon ausgehen, dass etwa 50% dieser Sarkome im Kindesalter geheilt werden. Im Einzelfall sind wesentliche Determinanten der Lebenserwartung der histologische Typ und die Lokalisation der Geschwulst: ■

gute Prognose: botryoides und spindelzelliges Rhabdomyosarkom



intermediäre Prognose: embryonales Rhabdomyosarkom



schlechte Prognose: alveoläres und pleomorphes Rhabdomyosarkom.

Bei Erwachsenen liegt die 5-Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit derzeit nur bei 10–20%.

Gefäßtumoren Die Gefäßtumoren untergliedert man in die gutartigen Neubildungen der Blut- und Lymphgefäße (Hämangiome und Lymphangiome), die bösartigen Geschwülste (Angiosarkome) und das Kaposi-Sarkom. Die sehr seltenen Hämangioendotheliome gehören teils zu den Blut- und teils zu den Lymphgefäßtumoren. Im erweiterten Sinne können auch die Tumoren der perivaskulären Zellen (Glomustumoren, Hämangioperizytome) zu den Gefäßtumoren gerechnet werden.

Benigne Tumoren Hämangiome Kapilläre Hämangiome bestehen aus kapillären Blutgefäßen. Sie machen 30– 40% aller Gefäßtumoren aus. Sie kommen besonders in der Haut und im Weichgewebe der Kopf-Hals-Region bei Kindern und (weniger häufig) bei Erwachsenen vor und können sehr schnell wachsen. Das Granuloma pyogenicum ist die lobuläre Variante eines kapillären Hämangioms mit Rezidivtendenz, sonst neigen kapilläre Hämangiome zur Spontanregression. Das kavernöse Hämangiom besteht aus dickwandigen, größeren Blutgefäßen. Es zeigt keine Tendenz zur Spontanregression, wächst langsam und entwickelt sich auch in inneren Organen. Komplikationen kavernöser Angiome sind Nekrose, Blutungen, Superinfektion, funktionelle Störungen durch Wachstumsbehinderung (Augen!), Verbrauchskoagulopathie (Kasabach-Merritt-Syndrom). Weitere Hämangiomtypen sind das arteriovenöse, das venöse, das epitheloide und das intramuskuläre Hämangiom. Unter einer Angiomatose versteht man ein Hämangiom mit diffuser Ausbreitung unter Einbeziehung größerer anatomischer Regionen oder verschiedener Gewebe.

Teleangiektatische Angiome Naevus flammeus (Feuermal), ein häufiges, meist im Gesicht lokalisiertes und „systemisiertes“, fleckförmiges, ausdrückbares, portweinfarbenes Mal von oft beträchtlicher Größe. Eine Rückbildungsfähigkeit besteht nicht. Fehlbildungssyndrome mit ausgedehnten Naevi flammei sind das KlippelTrenaunaySyndrom (Naevus flammeus einer – meist unteren – Extremität,

primäre Varikose und Riesenwuchs) und das Sturge-Weber-Syndrom (kraniofaziale Angiomatose mit zerebraler Verkalkung).

Lymphangiome Das kavernöse Lymphangiom ist eher eine Fehlbildung als ein echter Tumor. Er besteht aus dilatierten dünnwandigen Lymphgefäßen, manifestiert sich meist schon bei der Geburt oder in den ersten Lebensjahren und bevorzugt den Kopf-HalsBereich und Retroperitonealraum. Rezidive kommen vor. Die Lymphangiomatose stellt eine Entwicklungsanomalie mit weiten Lymphgefäßen in parenchymatösen Organen, im Knochen und/oder im Weichgewebe dar. Bei einer Lymphangiomyomatose proliferieren glatte Muskelzellen im Bereich von Lymphgefäßen. Die Erkrankung betrifft nur Frauen im mittleren Lebensalter und kann bei Einbeziehung der Lungen zur lebensbedrohlichen respiratorischen Insuffizienz führen.

Maligne Tumoren Angiosarkome sind bösartige Tumoren, deren Zellen endothelial differenziert sind und die Gefäßstrukturen nachahmen. Eine Auftrennung in Hämangio- und Lymphangiosarkome erfolgt nicht, da oft Mischbilder vorliegen. Angiosarkome der Haut entstehen im höheren Lebensalter und bevorzugen die Kopf-Hals-Region. Angiosarkome des Weichgewebes sind in jedem Lebensalter möglich und treten besonders in den Extremitäten und dem Retroperitonealraum auf. Schließlich können Angiosarkome auch in verschiedenen Organen vorkommen (Leber, Milz, Schilddrüse, Mamma, Knochen u.a.). Ätiologie Meist ist die Ursache unbekannt. Angiosarkome können sich allerdings nach Bestrahlung, in Nachbarschaft von Fremdkörpern oder im Bereich eines chronischen Lymphödems (Stewart-Treves-Syndrom nach Therapie eines Mammakarzinoms) entwickeln. Als Ursache von Leberangiosarkomen sind arsenhaltige Insektizide, Vinylchlorid (Kunststoffindustrie) oder das radioaktive Thorotrast (heute obsoletes Kontrastmittel) ermittelt worden.

Morphologie Die endothelial differenzierten Tumorzellen (immunhistochemischer Nachweis durch CD31-Antikörper) können ein Spektrum histologischer Befunde erzeugen, das von gut differenzierten anastomosierenden gefäßartigen Strukturen bis zu undifferenziert-soliden Tumorarealen reicht.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Prognose ist unabhängig vom histologischen Bild schlecht; eher von Bedeutung sind die initiale Tumorgröße und die Operabilität. Die 5-JahresÜberlebensrate liegt bei 20–30%.

Kaposi-Sarkom Das Kaposi-Sarkom ist ein Tumor endothelialer Zellen der Lymphgefäße. Es verläuft in verschiedenen Stadien; zu Beginn ist es ein reaktiver Prozess, am Ende ein maligner Tumor. Die klassische Form betrifft ältere Männer (besonders des Mittelmeerraums), führt zu Tumoren im Bereich der distalen Extremitäten und selten zur systemischen Progression. Die AIDS-assoziierte Form entsteht vorwiegend bei homosexuellen jungen Männern und stellt eine disseminierte aggressive Erkrankung mit Einbeziehung unterschiedlicher Gewebe und Organe dar. Ähnlich kann die immunsuppressionsassoziierte Form verlaufen. Die lymphadenopathieassoziierte Form betrifft lediglich die Lymphknoten bei afrikanischen Kindern.

Ätiologie Bei allen Formen ist das menschliche Herpesvirus 8 nachweisbar.

Morphologie In der Tumorphase findet man mitosenreiche Tumorknoten, die aus uniformen Spindelzellen bestehen und schlitzförmige Spaltbildungen aufweisen (Abb. 458).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die klassische Form nimmt einen indolenten Verlauf, gelegentlich entstehen Zweittumoren (besonders Non-Hodgkin-Lymphome). Die AIDS-assoziierte Form verläuft rasch und aggressiv, sie bestimmt oft das Schicksal des AIDSKranken. Wenn bei der immunsuppressionsassoziierten Form die immunsuppressive Therapie zurückgenommen werden kann, ist die Prognose gut. Bei Einbeziehung innerer Organe geht die Erkrankung ohne Ausnahme tödlich aus. Die lymphadenopathieassoziierte Form ist durch einen fulminanten Krankheitsverlauf mit tödlichem Ausgang gekennzeichnet.

Sonstige Tumoren In dieser „Mischgruppe“ werden Tumoren erfasst, die zwar eindeutig zu diagnostizieren sind, die aber kein Normalgewebe tumorartig nachahmen.

Abb. 45-8

Kaposi-Sarkom.

a Makroskopie. Multiple, konfluierende, derbe, lividbraune Knoten an der unteren Extremität. b Histologie. Schlitzartige Gefäßlumina, Aggregate spindeliger Tumorzellen, entzündliche Infiltration und Hämorrhagien. HE-Färbung, Vergr. 45fach.

Myxom Es handelt sich um eine benigne und wahrscheinlich nichtneoplastische Läsion, die hypovaskulär und zellarm ist und reichlich bindegewebigen Schleim (Muzin) produziert. Sie kommt kutan und/oder subkutan sowie intramuskulär vor.

Inflammatorischer myofibroblastischer Tumor Der Tumor besteht aus differenzierten fibro-/myofibroblastischen Zellen und zeigt eine überlagernde lymphoplasmazelluläre Entzündung. Man findet diese Neubildungen in jeder Lokalisation, besonders aber in der Bauchund Thoraxhöhle. Ein Teil der Läsionen ist sicher reaktiv (Pseudotumoren), ein anderer Teil tumorös, gelegentlich besteht sogar eine Metastasierungstendenz. Aus dem morphologischen Bild lässt sich im Einzelfall der weitere Verlauf nicht voraussagen, reaktive und tumoröse Läsionen sind histologisch nicht zu unterscheiden.

Alveoläres Weichteilsarkom Der Tumor ist sehr selten, kommt besonders bei jüngeren Erwachsenen vor, wächst langsam, führt aber meist erst nach Jahrzehnten zum Tod. Namensgebend ist die charakteristische pseudoalveoläre Textur (Abb. 45-9). Diagnoserelevant ist, dass die runden bis polygonalen Tumorzellen oft PAS-positive büschelförmige Kristalle enthalten.

Epitheloides Sarkom Diese Sarkome wachsen besonders im Hand- und Fingerbereich jüngerer Erwachsener, tendieren stark zum Rezidiv und erzeugen oft Lymphknotenmetastasen, bevor sie hämatogen metastasieren. Obwohl sich der Krankheitsverlauf vielfach über Jahre erstreckt, ist die Prognose letztlich schlecht. Die Letalitätsrate liegt bei 80%. Die oft granulomartig angeordneten runden bis spindeligen Tumorzellen sind Zytokeratin-positiv.

Abb. 45-9

Alveoläres Weichteilsarkom.

Die großen polygonalen Tumorzellen sind in einer pseudoalveolären Textur angeordnet. HE, Vergr. 200fach.

Maligner (extrarenaler) rhabdoider Tumor Dieser sehr aggressive Tumor besteht aus Zellen, die Rhabdomyoblasten ähneln können, aber nicht skelettmuskulär differenziert sind. Die rhabdoiden Zellen sind polygonal, haben einen exzentrisch gelegenen, vesikulären Kern mit prominentem Nukleolus und reichlich eosinrotes Zytoplasma mit einer globoiden hyalinen Inklusion. Dieser zelluläre Phänotyp kann offenbar durch verschiedene Tumoren hervorgebracht werden, insofern ist die Tumorgruppe heterogen. Der Krankheitsverlauf allerdings ist ähnlich, die meisten Patienten sterben innerhalb von 2 Jahren an ihrem Tumorleiden.

45.3.3 Aspekte

Molekularbiologische und zytogenetische

Zahlreiche Weichgewebesarkome zeigen im Gegensatz zu Karzinomen chromosomale Translokationen (Tab. 45-1). Diese haben eine pathogenetische Bedeutung, können aber auch zur diagnostischen Einordnung der Tumoren herangezogen werden. Durch den Austausch von Chromosomenarmen bzw. -teilstücken werden an den Bruchstellen Gene neu zusammengelagert (Abb. 45-10), wodurch sich ein einzigartiges chimärisches RNATranskript bildet. Man kann die Chromosomentranslokationen durch konventionelle Chromosomenpräparationen aus sich teilenden Zellen oder durch eine Fluoreszenz-insitu-Hybridisierung (FISH) im Interphasekern nachweisen. Die RNA-Transkripte sind durch eine besondere Variante der Polymerase-Kettenreaktion (RT-PCR) zu identifizieren.

Abb. 45-10 Alveoläres Rhabdomyosarkom: reziproke Translokation t(2;13)(q35;q14).

Chromosomenbrüche in den Regionen 2q35 und 13q14 führen zur Entstehung derivatisierter Chromosomen 2 und 13, wobei chromosomale Abschnitte ausgetauscht werden, ohne dass dabei genetisches Material verloren geht. Bei den Umlagerungen werden Teile der betroffenen Gene, FKHR (forkhead-related) auf Chromosom 13q14 und PAX3 (paired box) auf Chromosom 2q35, auf den derivatisierten Chromosomen fusioniert. Dadurch entsteht auf dem neu gebildeten der(13) ein Fusionsgen, das den 3′-Bereich des FKHR-Gens und den 5′-Bereich des PAX3-Gens aufweist. Das Protein, das durch dieses Fusionsgen kodiert wird, entspricht einem aberranten (verfremdeten) Transkriptionsfaktor, dem offenbar eine Bedeutung in der Entstehung der Rhabdomyosarkome zukommt.

Tab. 45-1 Beispiele von tumorspezifischen Chromosomentranslokationen in malignen Weichgewebetumoren. Aus pathogenetischer Sicht sind auch Veränderungen der Tumorsuppressorgene von Bedeutung. Es gibt inzwischen eine stattliche Zahl von Untersuchungen, die sich mit dem Retinoblastomgen oder dem p53-Gen befasst haben. Dass Alterationen von Suppressorgenen allerdings eine signifikante Assoziation zum klinischen Verhalten im Einzelfall haben und damit prognoserelevant sind, gilt derzeit als eher unwahrscheinlich.

45.4 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Weichgewebetumoren Ziel der pathologischen Untersuchungen ist es, die diagnoseweisende zelluläre Differenzierung zu erkennen. Bei den meisten gutartigen und in 70–75% aller bösartigen Tumoren gelingt dies konventionell-lichtmikroskopisch mithilfe eines HE-Präparats. Im Bedarfsfall stehen ergänzende Untersuchungsverfahren zur Verfügung. Derzeit haben immunhistochemische Methoden die größte praktische Bedeutung. Neuerdings werden auch zytogenetische und molekularbiologische Analysen eingesetzt (siehe Kap. 45.3.3 und 40.7.5). Am Beispiel des Rhabdomyosarkoms sollen die möglichen Ebenen der Diagnostik exemplarisch dargestellt werden: Falls die Tumorzellen im HE-Präparat (Abb. 45-11a) eine zytoplasmatische Querstreifung aufweisen, ist die skelettmuskuläre Differenzierung offensichtlich und eine eindeutige Diagnose möglich. Meist fehlt bei diesen Tumoren aber ein solcher Befund. Dann wird die Immunhistochemie herangezogen: Der Nachweis von Desmin (Abb. 45-11b) und/oder muskelspezifischem Aktin belegt eine muskuläre Differenzierung. Durch eine positive Reaktion mit Antikörpern gegen sarkomerisches Aktin, skelettmuskuläres „schnelles“ Myosin, Myoglobin oder Produkte myoregulatorischer Gene (MyoD1, Myogenin) kann eine skelettmuskuläre

Differenzierung verifiziert werden. Schließlich ist auch durch eine ultrastrukturelle Untersuchung das Erkennen von (evtl. rudimentären) Sarkomerenstrukturen möglich. Neuerdings bedient man sich in ausgewählten Fällen der zytogenetischen und/oder molekularbiologischen Analyse. So zeigt das alveoläre Rhabdomyosarkom eine Translokation von Teilstücken der Chromosomen 2 und 13, die es von allen anderen Weichgewebetumoren unterscheidet (siehe Abb. 45-10).

Abb. 45-11

Alveoläres Rhabdomyosarkom.

a HE, Vergr. 400fach. b Desmin-Immunhistochemie, Vergr. 400fach. Neben der Klassifikation des Weichgewebetumors ist im Falle der Malignität eine Malignitätsgraduierung von großer Bedeutung. Es ist heute unumstritten, dass die wichtigsten Parameter für die Bestimmung des Malignitätsgrades von

Weichgewebesarkomen die Zahl der Mitosen und das Ausmaß der Tumornekrosen sind. Der Malignitätsgrad ist ein Prognoseparameter. In multivariaten Analysen hat sich gezeigt, dass seine Aussagekraft bezüglich des weiteren Verlaufs der Erkrankung größer ist als die der alleinigen histologischen Diagnose. Außerdem ist der Malignitätsgrad am besten geeignet, die Wahrscheinlichkeit einer Metastasierung vorauszusagen. Schließlich ist er für die Festlegung der Therapie von Bedeutung. Nur bei hochmalignen Weichgewebetumoren ist mit einem befriedigenden Ansprechen auf eine Radio- und/oder Chemotherapie zu rechnen. Zur morphologischen Diagnostik gehört auch die Klassifikation des Tumors nach dem TNM-System. ■ Die T-Kategorie wird nach der Größe (kleiner oder größer als 5 cm Durchmesser – T1 oder T2) und der Lokalisation (oberhalb = superfizial oder unterhalb der oberflächlichen Faszie gelegen – Ta oder Tb) bestimmt. ■ Die N- und M-Kategorien reflektieren das Vorhandensein (N1, M1) oder Fehlen von Lymphknoten- oder Fernmetastasen (N0, M0). Aus der Kombination von TNM-Klassifikation und Malignitätsgrad, wobei nur in niedrige (G1, G2) und hohe Malignität (G3, G4) unterteilt wird, ergibt sich die Stadieneinteilung der malignen Weichgewebetumoren (Tab. 45-2).

Tab. 45-2 Stadieneinteilung der malignen Weichge-webetumoren unter Verwendung des Malignitätsgrades (G), der Tumorgröße (T), des Lymphknotenstatus (N) und der Fernmetastasen (M).

Literatur Katenkamp, D., D. Stiller: Weichgewebstumoren. J.A. Barth, Leipzig 1990.

Weiss, S.W.: Histological typing of soft tissue tumors. Springer, Berlin-Heidelberg 1994. Fletcher, C.D.M.: Soft tissue tumors. In: Diagnostic histopathology of tumors. Churchill Livingstone, Edinburgh a.o. 2000. Weiss, S.W., J.R. Goldblum: Enzinger and Weiss's soft tissue tumors. Mosby Company, St. Louis a.o. 2001. WHO Classification of Tumours: Pathology and Genetics of Tumours of Soft Tissue and Bone. Eds.: C.D.M. Fletscher, K.K. Unni and F. Mertens. IARC Press, Lyon 2002.

FRAGEN 1 Welche Daten sind für die Charakterisierung eines malignen Weichgewebetumors erforderlich? 2 Warum ist bei der Diagnose eines malignen Weichgewebetumors eine Malignitätsgraduierung erforderlich? 3 Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass aus einem gutartigen Lipom ein Liposarkom hervorgeht?

Systemische Erkrankungen, Organtransplantationen und umweltbedingte Erkrankungen

1 Panarteriitis nodosa. 2 „Zebra-bodies“ bei Morbus Hurler. Elektronenmikroskopische Aufnahme.

46 Stoffwechselerkrankungen Th. STALLMACH, G. KLÖPPEL, J. ROTH, G. A. SPINAS 46.1

Interaktion von Krankheitsgenen und Umwelteinflüssen 1091

46.1.1

Einteilungskriterien und Klassifikationen 1092

46.1.2

Angeborene versus erworbene Stoffwechselerkrankungen 1092

46.2 Genetisch bedingte Stoffwechselerkrankungen (geringgradige bis keine Umwelteinflüsse) 1093 46.2.1

Mukopolysaccharidosen 1093

46.2.2

Morbus Gaucher 1094

46.2.3

Glykogenosen 1095

46.2.4

Oxalose (primäre Hyperoxalurie Typ 1) 1097

46.2.5

Zystinose 1098

46.2.6

Glykosylierungskrankheiten1099

46.3 Durch genetische Disposition und Umwelteinflüsse bedingte Stoffwechselerkrankungen 1100 46.3.1

Porphyrie 1100

46.3.2

Diabetes mellitus 1102

Typ-I-Diabetes 1103 Typ-II-Diabetes 1105 46.3.3

Hyperlipidämie 1105

46.3.4

Amyloidose 1106

46.4 Erworbene Stoffwechselerkrankungen (geringgradige bis keine genetischen Einflüsse) 1109

46.4.1

Überernährung 1109

46.4.2

Unterernährung 1109

46.4.3

Vitaminmangel 1110

(Nacht-)Blindheit, Xerophthalmie (Vitamin-A-Mangel) 1110 Pellagra (Vitamin-B-Mangel) 1111 Skorbut (Vitamin-C-Mangel) 1112 Rachitis (Vitamin-D-Mangel) 1112 46.5

Metalle und andere Spurenelemente 1113

46.6 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von genetisch bedingten und erworbenen Stoffwechselerkrankungen 1113 Literatur 1114 Fragen 1114

Zur Orientierung Im Jahr 1909 erschien ein Buch mit dem Titel „Inborn errors of metabolism“, in dem Archibald E. Garrod klinische Symptome verschiedener Stoffwechselkrankheiten beschrieb; aufgrund von Familienstudien stellte er dabei eine familiäre Häufung bei der Alkaptonurie fest. Inzwischen sind mehr als 4000 monogene Erbleiden beschrieben (siehe Kap. 5.2.2). Diese meist sehr seltenen Krankheiten liefern Ausgangspunkte für die Erforschung von Gendefekten und deren Auswirkung auf die Struktur der Zelle und das Verhalten von Zellprodukten. Einige sind sog. Kandidatenkrankheiten, an denen die Entwicklung der Gentherapie vorangetrieben wird. Zu den rein exogen bedingten Stoffwechselkrankheiten gehören die weit verbreiteten Vitaminmangelzustände. Der Schotte James Lind bewies experimentell die vorbeugende und heilende Wirkung von Zitrusfrüchten bei Skorbut (Vitamin-C-Mangel-Krankheit). In der britischen Flotte konnte damit ein wirkungsvoller Kampf gegen die Krankheit beginnen. Möglicherweise war das Zurückdrängen des Skorbuts bei den Seesoldaten ein wesentlicher Faktor für die Erfolge Lord Nelsons bei den Seeschlachten von Abukir (1798) und Trafalgar (1805). Auch heute – 200 Jahre später – führt eine Vitaminmangelkrankheit zur Invalidisierung großer Bevölkerungsgruppen in den DritteWelt-Ländern. Man streitet allerdings, ob die Erblindung (Xerophthalmie) wegen Mangels an Vitamin A durch ökologische und erzieherische Maßnahmen, durch das Verabreichen von Tabletten oder aber die genetische Manipulation von Grundnahrungsmitteln (z.B. „golden rice“) angegangen werden soll.

46.1 Interaktion von Krankheitsgenen und Umwelteinflüssen Die im Organismus ständig ablaufenden chemischen Umwandlungen werden als Stoffwechsel bezeichnet. Verbrauch von Molekülen (z.B. Glukose beim Studieren) und plötzlicher Zustrom aus der Umgebung (z.B. Schokolade auf nüchternen Magen) führen zu schnellen Stoffwechseländerungen, wobei der biochemische Apparat sehr unterschiedliche Umwelteinflüsse verarbeiten kann. Wenn eine exogen zugeführte Substanz nur ungünstige Wirkungen hat, handelt es sich um ein Gift, wie z.B. Amanitin aus dem Knollenblätterpilz, das die RNA-Polymerase 2 blockiert. Genetische Defekte können zu einer „Giftwirkung“ von Umweltsubstanzen oder Medikamenten führen, wenn dem Betreffenden ein bestimmtes Enzym fehlt. So führt der genetisch bedingte Mangel des Enzyms Glukose-6-Phosphatdehydrogenase (G6PD) zu einer erhöhten Empfindlichkeit der roten Blutkörperchen gegen exogen zugeführte Oxidanzien. Der Betroffene ist gesund, bis er z.B. Primaquin (ein Antimalariamittel) oder ein Sulfonamid (z.B. wegen Blasenentzündung) zu sich nimmt. Bei seiner speziellen (enzymatischen) Konstitution führt dies zu einer hämolytischen Anämie. Die Kenntnis eines solchen Stoffwechseldefekts hat also große praktische Bedeutung, weil man die Ausprägung einer Krankheit durch einfache Vorsichtsmaßnahmen vermeiden kann. Bei der Neugeborenenuntersuchung auf das Vorliegen einer Phenylketonurie (Guthrie-Test) wird z.B. der genetisch bedingte schwere Mangel an Phenylalaninhydroxylase aufgedeckt. Unbehandelt würde innerhalb weniger Monate ein irreversibler neurologischer Schaden auftreten. Eine diätetische Einschränkung der Phenylalaninaufnahme kann das Auftreten von Krankheitssymptomen verhindern.

46.1.1

Einteilungskriterien und Klassifikationen

Zum Zweck einer Systematisierung werden Stoffwechselkrankheiten manchmal nach Stoffklassen zusammengefasst. So handelt es sich z.B. bei der Hämochromatose (siehe Kap. 32.10.1) und beim Morbus Wilson (siehe Kap. 32.10.2) um die pathologische Ansammlung eines Metalls, Eisen bzw. Kupfer, im Körper. Andere Einteilungen stellen die primär von einem Stoffwechseldefekt betroffene Zellstruktur in den Vordergrund. So kennt man den Ausfall mitochondrialer Enzyme, der zur mangelhaften Energieversorgung aller Zellen führt, wobei die Symptome vorrangig die mitochondrienreiche Muskulatur und das Nervensystem betreffen. Die Blockade abbauender Stoffwechselwege führt durch Speicherung angestauter Zwischenprodukte in den Lysosomen zur Schädigung (lysosomale Speicherkrankheiten). Neueste Einteilungen stellen die Art des Schadens auf dem Niveau des Genoms in den Vordergrund, weil das Rückschlüsse auf das Manifestationsalter erlaubt. So kann der Wegfall von Transkriptionsfaktoren notwendige Entwicklungsschritte bereits in utero blockieren: eine WT1-Mutation (siehe Kap. 40.7.2) verhindert die Ausbildung des männlichen Genitales sowie die Differenzierung der Nieren und bedingt Nephroblastome (Denys-Drash-Syndrom). Der Ausfall eines einzelnen Enzyms kann

unmittelbar nach der Geburt durch den Mangel einer notwendigen Substanz auffallen (Hypoglykämie bei Glykogenose Typ I) oder erst später, wenn die Ansammlung einer im Stoffwechsel nicht weiter abbaubaren Substanz Störungen verursacht (z.B. Speicherung und Zirrhose bei Glykogenose Typ IV). Viele praktische Konsequenzen ergeben sich bei einer groben Einteilung in genetisch bedingte gegenüber durch exogene Einflüsse erworbene Stoffwechselstörungen und der Etablierung einer Zwischengruppe (Abb. 46-1) mit komplexen Interaktionen von Genom und Umwelt, durch die Zeitpunkt und Schweregrad der Manifestation des Phänotyps, d.h. der Ausbildung von Krankheitssymptomen, beeinflusst werden.

46.1.2 Angeborene versus erworbene Stoffwechselerkrankungen Die meisten angeborenen Stoffwechselerkrankungen folgen einem autosomalrezessiven Erbgang, bei dem das vollständige Fehlen einer genetischen Information (homozygoter Zustand) einen biochemischen „Ausweg“ bedingt. Während des intrauterinen Lebens wird der Defekt oft durch den Organismus der Mutter kompensiert, spätestens ab der Geburt kommt es fortschreitend zum Mangel eines Substrats oder zur zunehmenden Akkumulation einer nicht mehr entfernbaren Zwischensubstanz. Bei 90% aller bekannten angeborenen Stoffwechselerkrankungen handelt es sich um den Defekt nur eines einzigen Gens (monogene Leiden). Allerdings gibt es monogene Krankheiten, bei denen viele Proteine gleichzeitig betroffen sind; solch ein pleiotroper Effekt ist z.B. für die Glykosylierungskrankheiten (siehe Kap. 46.2.6) typisch. Die posttranslationale Anheftung verschiedener Zuckerstrukturen an Enzymproteine modifiziert Reaktionskinetik und Lebensdauer der Proteine („modulators of protein function“). Die Notwendigkeit eines korrekten „make-up“ von Eiweißen durch Glykosylierung wird auch durch die geringe oder fehlende Wirksamkeit von manchen (exogen zugeführten) biotechnologisch hergestellten therapeutischen Substanzen belegt; z.B. hat das in einer Hefezelle hergestellte α1-Antitrypsin (es besitzt nicht die korrekten Zuckerseitenketten) eine Halbwertszeit von nur 8 Stunden im Organismus, während das im Körper hergestellte, von der Aminosäuresequenz her identische α1-Antitrypsin durch eine posttranslationale „Reifung“ (Anheftung von Zuckerstrukturen = Glykosylierung) eine Halbwertszeit von 4 Tagen aufweist (α1-Antitrypsin-Mangel siehe Kap. 5.3.2 und Kap. 32.10.3).

Abb. 46-1 Angeborene und erworbene Stoffwechselstörungen.

Krankheitsbeispiele mit unterschiedlichem Gewicht ätiologischer Faktoren. Einige Erkrankungen mit sehr großer volkswirtschaftlicher Bedeutung (Diabetes mellitus Typ I und II) entstehen aus der Interaktion einer genetischen Konstitution und ungünstigen Umwelteinflüssen (z.B. Virusinfektion bzw. Überernährung). Die genaue Kenntnis der Zusammenhänge ermöglicht therapeutische und präventive Maßnahmen mit potentiell großem Effekt. Erworbene Stoffwechselerkrankungen können durch Vergiftung entstehen (Streptozotocin tötet selektiv β-Zellen des Pankreas ab und bewirkt einen Diabetes mellitus) oder durch den lang anhaltenden Mangel einer für den Stoffwechsel notwendigen Substanz eintreten (z.B. Vitaminmangelkrankheiten wie Skorbut, Pellagra oder Rachitis).

46.2 Genetisch bedingte Stoffwechselerkrankungen (geringgradige bis keine Umwelteinflüsse) Die Mutation eines einzelnen Gens in unserem Genom legt den Grundstein zu einer Krankheit, bei der es keines zusätzlichen Auslösers mehr bedarf. Der Zeitpunkt der Manifestation und der Schweregrad der Krankheit sind zum einen von der Art der Mutation abhängig, sodass bei genauer Kenntnis der Mutation auch eine prognostische Aussage möglich wird; zum anderen können Umwelteinflüsse eine modifizierende Rolle spielen.

46.2.1

Mukopolysaccharidosen

Die Interzellularsubstanz, insbesondere von Bindegewebe und Knorpel, enthält verschiedene Glykosaminoglykane, deren unvollständiger Abbau zur lysosomalen Speicherung von partiell abgebauten Molekülen führt. Den Mukopolysaccharidosen liegen 10 verschiedene Enzymdefekte zugrunde, und allein anhand einer unterschiedlichen klinischen Symptomatik lassen sich 6 Formen unterscheiden (Tab. 461).

Definition Bei der Mukopolysaccharidose Typ I Hurler (MPS I H) besteht Homozygotie für verschiedene Punktmutationen im α-L-Iduronidase-Gen. Das völlige Fehlen des α-LIduronidase-Proteins verhindert den Abbau kettenförmiger Moleküle vom Typ des Dermatansulfats.

Epidemiologie Autosomal-rezessiver Erbgang mit einer Genhäufigkeit für das Allel der MPS I H von 1: 150 (Erkrankungshäufigkeit ca. 1: 100000). Ein klinisch deutlich unterscheidbares

Krankheitsbild, MPS I Scheie (MPS I S), mit milderem Verlauf wird durch eine andere Mutation (siehe unten) am gleichen Genort auf Chromosom 4p16.3 bewirkt (Genhäufigkeit 1: 400, daraus errechnet sich eine Prävalenz von 1: 600000).

Tab. 46-1 Mukopolysaccharidosen. DS = Dermatansulfat, KS = Keratansulfat, HS = Heparansulfat, Ch 4-S = Chondroitin-4-Sulfat, Ch 6-S = Chondroitin-6-Sulfat, AR = autosomal-rezessiv, XR = X-chromosomal-rezessiv, +++ = stark, + = schwach, – = nicht ausgebildet

Ätiologie und Pathogenese

Für den schrittweisen Abbau von Dermatansulfat, Heparansulfat und Keratansulfat sind bisher 10 verschiedene Enzyme bekannt. Beim Fehlen eines Enzyms werden unvollständig abgebaute Moleküle in den Lysosomen von Bindegewebezellen gespeichert. Bei Mutationen, die zur MPS 1 H führen, besteht keine Restaktivität der α-L-Iduronidase. Patienten mit dem Typ MPS 1 S sind homozygot oder compoundheterozygot für eine Mutation, durch die eine neue und bei der Prozessierung vorzugsweise benützte splice-site entsteht (die an dieser Stelle gesplicete mRNA kodiert ein Protein ohne Enzymaktivität). Die ursprüngliche splice-site wird nicht zerstört, und es entstehen auch funktionstüchtige mRNAs, allerdings in stark verminderter Anzahl.

Morphologie

Bei der Geburt ist der Aspekt meist noch unauffällig. Der behinderte Abbau der Interzellularsubstanzen hat eine Vermehrung und schaumige Vergrößerung von Bindegewebezellen zur Folge, was zur Vergröberung der Körperkonturen, zur Bewegungseinschränkung von Gelenken und zur Herzinsuffizienz führt. Die Patienten verlieren ihren individuellen Gesichtsausdruck und werden durch Entwicklung einer krankheitstypischen Fazies einander immer ähnlicher (Abb. 462). Das gespeicherte Dermatansulfat führt im elektronenmikroskopischen Bild zu vakuolig aufgetriebenen Lysosomen; in den von der Stoffwechselstörung der Glykosaminoglykane ebenfalls betroffenen Neuronen werden so genannte Zebrakörperchen gebildet.

Klinisch-pathologische Korrelationen Wachstum und Entwicklung sind mit zunehmendem Alter immer stärker behindert. Patienten mit MPS I H erreichen ein einfaches Sprachverständnis. Plötzliche

Todesfälle treten entweder durch die zunehmende Kardiomyopathie oder durch Apnoe bei verengten Atemwegen auf. Seit einigen Jahren ist eine Therapie durch intravenöse Gabe von rekombinanter humaner α-L-Iduronidase möglich (1×pro Woche). Darunter bildet sich die Hepatosplenomegalie deutlich zurück, das Wachstum und die Beweglichkeit der Gelenke nehmen zu. Apnoeanfälle werden seltener, und die Herzinsuffizienz nach NYHA-Kriterien (siehe Kap. 7.2) bessert sich um 1–2 Klassen. Die Ausscheidung von Glykosaminoglykanen im Urin wird annähernd halbiert. Trotz der Erfolge ist eine solche Therapie unphysiologisch, was durch das Auftreten von Serumantikörpern gegen α-L-Iduronidase bei etwa der Hälfte der Patienten deutlich wird.

46.2.2

Morbus Gaucher

Beim Abbau von Zellmembranen, insbesondere von gealterten Leukozyten und Erythrozyten, werden Glykolipide zu Glukozerebrosiden abgebaut. Der Ausfall einer Glukozerebrosidase führt zur lysosomalen Speicherung von Glukozerebrosid. Drei klinisch deutlich unterschiedliche Formen des Morbus Gaucher sind durch verschiedene Mutationen am gleichen Genlokus verursacht.

Definition Verschiedene Mutationen am Lokus der sauren β-Glukosidase (Glukozerebrosidase) verhindern den Abbau von Glukozerebrosid in unterschiedlichem Maß.

Abb. 46-2 Mukopolysaccharidose Typ I H (Pfaundler-Hurler).

a Unauffällige Physiognomie eines Kleinkindes im Alter von 18 Monaten. b Die bei diesem Patienten stark vergrößerten und die Atmung behindernden Rachenmandeln (Adenoide) zeigen tiefe Krypten und einen hellen Saum zwischen lymphatischem Gewebe und Epithel. HE, Vergr. 50fach.

c Bei starker Vergrößerung erkennt man Rasen von schaumig transformierten Bindegewebezellen; die Zellveränderung wird durch die lysosomale Speicherung von Glykosaminoglykanen hervorgerufen. HE, 500fach. d Krankheitstypische Physiognomie und gröbere, struppige Haare beim selben Patienten im Alter von sieben Jahren.

Epidemiologie Autosomal-rezessiver Erbgang. Die Häufigkeit von Mutationen am Genlokus auf Chromosom 1q21 beträgt in Populationen ohne spezielle Prädilektion für diese Krankheit 1: 200, woraus rechnerisch eine Krankheitshäufigkeit von 1: 160 000 resultiert. In manchen jüdischen Populationen (Aschkenasim) beträgt die Genhäufigkeit 1: 30, was zu einer Prävalenz von 1: 3600 führt. Die adulte Form (Typ I) des Morbus Gaucher ist die häufigste lysosomale Speicherkrankheit überhaupt.

Ätiologie und Pathogenese Die Mutationen des β-Glukosidase-Gens führen mehrheitlich nicht zum kompletten Verlust der enzymatischen Aktivität des kodierten Proteins, sondern zur Abschwächung. Die mit 50% weitaus häufigste Mutation N370S bedingt einen milden Verlauf und „schützt“ vor der Erkrankung im Nervensystem. Bei dieser Form (Typ I) tritt eine Speicherung lediglich in Zellen des retikuloendothelialen Systems auf. Demgegenüber führt die Mutation L444P im homozygoten Zustand zur schweren neuronopathischen Form (Typ II). Bei der Compound-Heterozygotie L444P/N370S wird zwar eine relativ ausgeprägte und früh einsetzende Form der Speicherung im retikuloendothelialen System beobachtet, das Nervensystem bleibt jedoch unbehelligt (nicht neuronopathisch). Bei den Aschkenasim ermittelt ein Screening für die fünf häufigsten Mutationen etwa 97% aller Mutationen. In einer nichtjüdischen Population können mithilfe des gleichen Screenings nur 75% aller Mutationen ermittelt werden.

Morphologie Die Speicherung von Glykosylceramid im retikuloendothelialen System führt in der Milz und in der Leber zur Vergrößerung von Zellen und einem charakteristischen Aspekt des Zytoplasmas (Abb.46-3.); es resultiert eine Hepatosplenomegalie. Die Speicherung im Knochenmark hat eine Anämie, Thrombozytopenie und Knochenschmerzen zur Folge. Wenn sich die Krankheit früh manifestiert, kommt es zur Wachstumsretardierung.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die Kenntnis der bei einem individuellen Patienten vorliegenden Mutation (mehrere Mutationen bei Compound-Heterozygotie) ermöglicht eine Prognose über Schweregrad und Manifestationsalter. Milde Formen sind mit einem normalen Leben und ungestörter Fortpflanzung vereinbar; sie führen in höherem Alter zu

Knochenschmerzen. Bei den schweren neuronopathischen Formen (Typ II) kommt es zu Krämpfen, Spastik und Lähmungen bereits in den ersten drei Lebensmonaten; die Krankheit führt in den ersten zwei Lebensjahren zum Tod. Eine Enzymersatztherapie ist möglich. Dabei schwinden die Knochenschmerzen meist rasch, die Blutbildung erholt sich innerhalb von Wochen und die Hepatosplenomegalie geht im Verlauf eines Jahres deutlich zurück. Bei Kindern wird eine Knochenmarktransplantation durchgeführt, bei deren Gelingen die übertragenen und sich reproduzierenden Lymphozyten (Chimärismus) das fehlende Enzym (β-Glukosidase) produzieren, das von den Zellen des retikuloendothelialen Systems aufgenommen und zum Abbau der Glukozerebroside eingesetzt werden kann.

46.2.3

Glykogenosen

Glukose ist für die meisten Zellen die primäre Energiequelle. Für eine individuelle Zelle ist es von Vorteil, wenn sie überschüssige Glukose aus der Blutbahn aufnehmen und in eine Speicherform überführen kann. Das Speichermolekül Glykogen ist besonders reichlich in Leber und Muskulatur vorhanden. Bei korrekt aufgebautem Glykogen und funktionstüchtigen Enzymen des Glykogenabbaus kann die Leber ihre zentrale Rolle in der Glukosehomöostase spielen, und die Muskulatur besitzt einen zusätzlichen lokalen Speicher für kurzfristigen Verbrauch hoher Energiemengen. Wird Glykogen in falscher Form synthetisiert oder fehlt ein Enzym zur Rückumwandlung in Glukose, wird das Molekül zu einem Problem für die Zelle und es resultieren Glykogenosen (Typ I–VII) als typische Stoffwechselspeicherkrankheiten.

Abb. 46-3

Morbus Gaucher.

a Leber in einer PAS-Färbung: Die Hepatozyten sind wegen ihres Glykogengehalts stark angefärbt, die Kupffer-Zellen vermehrt und vergrößert (Pfeile); der Aspekt ihres hellen Zytoplasmas wird in der Literatur häufig mit „geknitterter Seide“ verglichen. HE, Vergr. 500fach. b Elektronenmikroskopie einer Kupffer-Zelle mit zytoplasmatischen Ceramidtrihexosid-Einschlüssen in fischzugähnlichen Bündeln.

Definition Defekt in einem der Enzyme von Glykogensynthese oder Glykogenabbau führt zur abnormen Akkumulation von Glykogen in verschiedenen Organen.

Epidemiologie Autosomal-rezessiver Erbgang bei den meisten Formen. Außerhalb spezieller Populationen beträgt die Gesamthäufigkeit der Glykogenosen ca. 1: 200000, wobei deutliche Häufigkeitsunterschiede zwischen den einzelnen Formen bestehen (Tab.462).

Tab. 46-2 Glykogenosen.

AR = autosomal-rezessiv, XR = X-chromosomal-rezessiv, Chr. = Chromosom

Ätiologie und Pathogenese ■ Typ I (von Gierke). Durch den Mangel an Glukose-6-Phosphatase kann Glykogen in der Leber nicht mehr zu Glukose abgebaut werden, was eine Hepatomegalie bedingt. Durch den Enzymdefekt ist auch die Glukoneogenese behindert, sodass eine Hypoglykämie während Nahrungskarenz zur wichtigsten Krankheitsmanifestation wird. ■ Typ II (Pompe). Physiologischerweise wird Glykogen im Zytoplasma gespeichert. Die genaue Erforschung der Typ-II-Glykogenose ließ deutlich werden, dass ein kleiner Teil des Glykogens innerhalb der Zelle phagozytiert und intralysosomal prozessiert wird. Bei der Typ-II-Glykogenose findet man keinen

Fehler im Glykogenmolekül, jedoch fehlt in allen Körpergeweben das lysosomale Enzym α-1,4-Glykosidase (saure Maltase), sodass die Krankheit durch ein korrektes, innerhalb eines bestimmten zellulären Kompartiments aber nicht mehr mobilisierbares Glykogenmolekül hervorgerufen wird. Die Typ-II-Glykogenose ist somit eine lysosomale Speicherkrankheit. ■ Typ III (Forbes-Cori). Beim Abbau des Glykogens fehlt das zum „Knacken“ der 1,6-Verzweigung notwendige Enzym, und es bleiben abnorme Glykogenmoleküle mit kurzen Seitenketten im Zytoplasma der Zelle liegen. Bei einigen Patienten ist nur die Leber betroffen und es bestehen keine erkennbaren Muskelsymptome (Subtyp IIIb). ■ Typ IV (Andersen). Es fehlt das „brancher“-Enzym, das für die zur Verzweigung des Glykogenmoleküls notwendigen 1,6-Bindungen benötigt wird. In der Leber wird ein abnormes Polysaccharid mit geringer Löslichkeit gespeichert, wobei es sich um ein Glykogenmolekül mit verminderter Anzahl von Verzweigungen handelt. ■ Typ V (McArdle). Bei dieser Krankheit fehlt eine muskelspezifische Phosphorylase, sodass Glykogen, das eine normale Struktur besitzt, in der Muskulatur nicht abgebaut werden kann. ■ Typ VI (Hers). Es wird eine heterogene Gruppe von Leberglykogenosen zusammengefasst, bei denen das abbauende Schlüsselenzym Phosphorylase oder das aktivierende Enzym Phosphorylasekinase fehlt. Neben einem autosomalrezessiven Erbgang wird bei einigen Subtypen eine X-gebundene Vererbung gefunden. ■ Typ VII (Tarui). Durch den Mangel des Enzyms Phosphofruktokinase in der Muskulatur und Reduktion auch in den Erythrozyten ist der Glykogenabbau behindert.

Morphologie

Glykogen ist wasserlöslich. Es wird bei der üblichen Formalinfixierung (4%ige Lösung von Formaldehyd in Wasser) zu einem großen Teil aus dem Gewebe herausgelöst und ist dann auch durch Spezialfärbungen nicht mehr nachweisbar. Ausnahme ist die Glykogenose Typ IV, bei der das Glykogen nicht wasserlöslich ist und nicht einmal durch Diastaseeinwirkung entfernt werden kann. Alle anderen Glykogenosen sind an aufgetriebenen, „leeren“ Zellen erkennbar, wobei die unterschiedlichen Typen im Schweregrad und in der Beteiligung verschiedener Organsysteme variieren und der Typ I durch zusätzliche ausgeprägte Fettspeicherung hervorsticht (Abb. 46-4).

Klinisch-pathologische Korrelationen Eine kausale Therapie ist bislang bei keiner Form der Glykogenose möglich. Solange Ätiologie und Pathogenese völlig unklar waren, führten die schweren Formen früh zum Tod. Dies hat sich für den Typ II mit der lysosomalen Speicherung von Glykogen auch kaum geändert; die Patienten sterben im 1. Lebensjahr an Herzinsuffizienz. Beim häufigen Typ I wurde ein entscheidender Fortschritt dadurch erzielt, dass während der Nacht eine dosierte enterale (durch eine Nasensonde) Glukosezufuhr erfolgt (langsam degradierbare Maisstärke). Damit überleben viele Patienten bei gutem Befinden bis ins Erwachsenenalter. Einige Typen (III, V, VI und VII) haben einen relativ milden Spontanverlauf oder bessern sich merklich nach der Pubertät. Der Typ IV, der durch das besonders abnorme, unlösliche Glykogen gekennzeichnet ist, führt aus unbekannten Gründen zur Leberzirrhose und erfordert eine Lebertransplantation meist vor dem 5. Lebensjahr. Erstaunlicherweise wurde bei einigen Patienten nach der Transplantation auch eine Reduktion der Ablagerung im Myokard beobachtet, was möglicherweise auf aus dem Lebertransplantat migrierende Zellen („Enzymkuriere“) zurückzuführen ist.

46.2.4

Oxalose (primäre Hyperoxalurie Typ 1)

Definition Ein funktioneller Defekt des nur in der Leber exprimierten Enzyms Alaninglyoxylataminotransferase (AGT) führt zu einem erhöhten Oxalsäurespiegel im Blut und stark erhöhter Ausscheidung im Urin.

Epidemiologie Autosomal-rezessiver Erbgang. Das Gen ist auf Chromosom 2q36-37 lokalisiert, bisher sind 6 Mutationen beschrieben. Die Genfrequenz wird auf 1: 500 geschätzt (Prävalenz 1: 1 Mio.).

Abb. 46-4

Gykogenosen.

a Bei der Glykogenose Typ II ist das Herz durch lysosomal gespeichertes Glykogen stark vergrößert und kugelförmig deformiert. b Ausgeprägte Wandverdickung des Herzens durch speicherungsbedingte Vergrößerung der Herzmuskelfasern (nicht als Folge einer Hypertrophie). c Die aufgetriebenen Herzmuskelfasern zeigen in der HE-Färbung ein netzförmiges Bild. Das gespeicherte Glykogen ist durch die wässrige

Formalinlösung während der Fixation zum Teil herausgelöst (HE färbt Glykogen nicht an). HE, Vergr. 200fach. d Typ-I-Glykogenose. Die Glykogen speichernden, stark vergrößerten Hepatozyten besitzen ein schaumiges Zytoplasma und zentralständige Kerne. Bei den davon zu unterscheidenden Fett speichernden Zellen (F) sind die Zellkerne durch Fetttropfen an den Rand der Zelle gedrängt. HE, Vergr. 500fach.

Ätiologie und Pathogenese

Beim Fehlen des Enzyms AGT in den Peroxisomen der Leber ist der normale Abbauweg der Aminosäure Alanin blockiert. Das in einem Zwischenschritt erzeugte Glyoxylat wird in erhöhtem Maße zu Oxalat umgewandelt, das nicht weiter abbaubar ist (toxisches Stoffwechselendprodukt). Der zugrunde liegende genetische Defekt führt nicht zum Fehlen des Enzyms, sondern über eine falsche Adressierungssequenz im Vorläufermolekül wird AGT zu den Mitochondrien statt in die Peroxisomen dirigiert. Die in allen Körperflüssigkeiten erhöhte Oxalatkonzentration führt vorrangig in der Niere zur Ausfällung als Kalziumoxalat im Gewebe (Nephrokalzinose) und zur Bildung von Kalziumoxalat-Steinen im Nierenbecken und Harntrakt (Urolithiasis). Meist ist die Nierenfunktion vor dem 10. Lebensjahr so stark geschädigt, dass ohne therapeutisches Eingreifen der Tod in der Urämie eintritt.

Morphologie Die Niere wird von zahlreichen großen Steinen durchsetzt (Abb. 46-5). Mikroskopisch finden sich dicht gelagerte sternförmige, Licht brechende und im polarisierten Licht stark leuchtende Kristalle mit einer begleitenden interstitiellen Nephritis mit Bildung von Granulomen. Kristalle treten in geringerer Zahl in allen anderen Geweben auf, erstaunlicherweise nicht in der Leber. Die Ablagerungen im Knochen führen zu Schmerzen und erhöhter Brüchigkeit.

Klinisch-pathologische Korrelationen

In manchen Fällen ist ein plötzlicher Todesfall im Kindesalter die „Erstmanifestation“ der Erkrankung, wenn durch Oxalatkristalle im Reizleitungssystem des Herzens Rhythmusstörungen ausgelöst wurden. Üblicherweise wird die Diagnose jedoch bei bereits fortgeschrittener Niereninsuffizienz gestellt, die eine Nierentransplantation erfordert. Wegen des primären Defekts in der Leber wird gleichzeitig eine Lebertransplantation durchgeführt. Danach treten keine Kristalle mehr auf. Vermehrte exogene Zufuhr aus Nahrungsmitteln kann eine Oxalose nicht auslösen. In Einzelfällen ist jedoch eine Oxalose bei der Vergiftung durch Ethylenglykol (Gefrierschutzmittel) beobachtet worden.

Abb. 46-5

Oxalose.

a Röntgenbild (Abdomenleeraufnahme) mit kalkdichten Schatten im Bereich beider Nieren (Pfeile) im Alter von sieben Jahren. b Die anlässlich einer Nierentransplantation entfernten Eigennieren zeigen zahlreiche große Oxalatsteine im Bereich des Nierenbeckenkelchsystems. c Das Nierenparenchym ist von sternförmigen Kristallen durchsetzt, die im polarisiertem Licht stark leuchten (Oxalat). HE, Vergr. 400fach. d Kristallablagerungen auch in der Herzmuskulatur (polarisiertes Licht). HE, Vergr. 400fach.

46.2.5

Zystinose

Definition Beim Fehlen des Enzyms Zystinosin in der lysosomalen Membran kann Cystin nicht ausgeschleust werden und sammelt sich in den Lysosomen an (lysosomale Speicherkrankheit).

Epidemiologie Autosomal-rezessiver Erbgang. Das Gen (CTNS) ist auf Chromosom 17 lokalisiert. Bisher sind mehr als 55 Mutationen beschrieben, die Frequenz krankheitsbedingender Allele beträgt ca. 1: 200 mit regionalen Häufungen (z.B. 1: 80 in der Bretagne).

Ätiologie und Pathogenese Das in den Lysosomen von Zellen aller Gewebe des Organismus „gefangene“ Cystin führt zu einer 10- bis 1000fachen Erhöhung des Normalgehalts und zur Kristallbildung. Die Kristalle sind in der Retina einer direkten Untersuchung mit der Spaltlampe zugänglich und führen hier zu Lichtscheu und später Erblindung. Unbehandelt bewirken die Kristallablagerungen schon im 1. Lebensjahr eine Nierenfunktionsstörung und schließlich das Nierenversagen vor dem 10. Lebensjahr.

Morphologie

In allen Geweben finden sich ungefärbt flaschengrüne, Licht brechende Kristalle, v.a. in den Zellen des retikulohistiozytären Systems. In der Niere kommt es schon früh zu einer interstitiellen Nephritis mit Ausbildung von Schrumpfnieren. Elektronenmikroskopisch sind tafelförmige Cystinkristalle in Lysosomen nachweisbar (Abb. 46-6).

Klinisch-pathologische Korrelationen Seit mehr als 25 Jahren ist ein Behandlungsprinzip bekannt, bei dem durch die Substanz Zysteamin, die an Cystin bindet, eine Ausschleusung aus der Zelle ohne Zuhilfenahme des (fehlenden) Enzyms Zystinosin möglich wird. Die „Überlebenszeit“ der Niere kann dadurch mindestens verdoppelt werden. Segensreich sind auch zysteaminhaltige Augentropfen. Muss eine Nierentransplantation durchgeführt werden, tritt zwar im transplantierten Organ kein Rezidiv auf (die neue Niere besitzt das fehlende Enzym), der Krankheitsprozess geht jedoch in allen anderen Organen weiter (Wachstumsstörung, neurologische Schäden, Myopathie, Diabetes mellitus, Erblindung).

Abb. 46-6

Zystinose.

a Niere eines siebenjährigen Kindes mit narbigen Einziehungen. Rinde und Mark sind nicht mehr zu unterscheiden. Keine Steine. b Histologisch zeigt die Niere eine ausgeprägte interstitielle Entzündung und Ansammlungen grünlicher Kristalle. HE, Vergr. 100fach. c Im elektronenoptischen Bild erscheint das Cystin als tafelförmige Aussparung im Zytoplasma von Fibroblasten. d Im Auge eines Patienten sind neben dem Lichtreflex auf der Kornea kleine weiße Flecken erkennbar, die Cystinkristallen entsprechen. e Im Spaltlampenbild erkennt man das Ausmaß der Cystinkristallablagerungen in der Kornea, die zu Visusverschlechterung und Konjunktivitis führen (Bilder d und e: K. Landau, Universitäts-Augenklinik, Zürich).

46.2.6

Glykosylierungskrankheiten

Die Information zum Aufbau aller Körperbestandteile und für die enzymatische Maschinerie liegt im Genom. Eine Vielzahl von Proteinen und Lipiden wird durch die posttranslationale Anheftung von Zuckerseitenketten weiter modifiziert. Diese haben einen Einfluss auf die Faltung und Halbwertszeit von Glykoproteinen. Durch eine Glykosylierung wird oft auch das intrazelluläre Kompartiment bestimmt, in dem das Protein erscheinen und seine Funktion ausüben soll (z.B. Lysosomen). Die Zuckerseitenketten können auch Rezeptoren für Viren und Toxine sein. Während der Embryonalentwicklung sind sie in der Zell-Zell-Interaktion wichtig. Auch die Wachstumsform maligner Zellen wird durch die Art bzw. Veränderung von Zuckerseitenketten an Molekülen der Zelloberfläche bestimmt.

Definition Der Begriff kongenitale Glykosylierungskrankheiten (congenital disorders of glycosylation = CDG, früher carbohydrate deficient glycoprotein syndrome = CDGS) beinhaltet eine Gruppe klinisch heterogener, autosomal-rezessiv vererbter Erkrankungen, die durch die inkomplette Glykosylierung von Eiweißen und Lipiden verursacht sind. Zwei Gruppen werden unterschieden: ■ Gruppe I: bedingt durch Defekte in der Synthese der lipidverknüpften Oligosaccharide (N-Glykosylierung) und in ihrem Transfer auf Eiweiße ■ Gruppe II: bedingt durch Defekte in der Herstellung der eiweißverknüpften Oligosaccharide (O-Glykosylierung).

Epidemiologie Krankheiten durch Glykosylierungsfehler entsprechen einem neuen, erst seit ca. 1980 etablierten Konzept. Die hervorgerufenen Krankheitsbilder sind in der Regel multisystemisch. Zuverlässige epidemiologische Angaben sind noch nicht möglich.

Ätiologie und Pathogenese Die Zuckerseitenketten der Glykoproteine sind kovalent an die Aminosäure Asparagin (N-Glykosylierung) oder an die Aminosäuren Serin und Threonin bzw. an Xylose (O-Glykosylierung) gebunden. Die N-Glykosylierung ist sehr komplex und beginnt im endoplasmatischen Retikulum der Zelle mit der Synthese eines aus 9 Zuckern bestehenden, lipidverknüpften Oligosaccharids und seinem Transfer auf ein Eiweiß. Es folgt das so genannte Prozessieren, bei dem einige Zuckerreste noch im endoplasmatischen Retikulum sowie später dann im Golgi-Apparat entfernt werden, verbunden mit der Anheftung weiterer Zuckerreste, ebenfalls im Golgi-Apparat. Die Prozessierung der eiweißverknüpften Oligosaccharide erfolgt ausschließlich im Golgi-Apparat.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die meisten der bislang bekannten kongenitalen Glykosylierungskrankheiten betreffen die N-Glykosylierung. Es handelt sich um Krankheiten mit multisystemischem Charakter, bei denen typischerweise Dysmorphien des Skeletts und des Schädels in Verbindung mit psychomotorischer Retardierung und schlaganfallähnlichen Episoden beobachtet werden. Diagnostisch wegweisend ist eine Bandenverschiebung in Richtung Kathode bei der isoelektrischen Fokussierung (IEF) des Serumtransferrins. Bei einem Teil der Fälle gelingt eine exakte Typisierung über eine molekulargenetische Analyse. Bei der Defizienz des Enzyms Phosphomannomutase (CDG-Ia), welche die NGlykosylierung einer Vielzahl von Glykoproteinen betrifft, liegt der Gendefekt auf dem kurzen Arm des Chromosoms 16 (16p13). Etwa 20% der Betroffenen sterben im ersten Lebensjahr. Die Symptomatik ist gekennzeichnet durch muskuläre Hypotonie, Gelenkkontrakturen, Entwicklungsretardierung, Infektanfälligkeit, Anfallsleiden, Ernährungsprobleme, Retinitis pigmentosa und Dysmorphien (invertierte Mamillen, abnorme Fettpolsterverteilung). In der Gruppe der O-Glykosylierungs-Störungen sind Defizienzen der Enzyme Glucuronyltransferase und N-acetyl-D-Glucosaminyltransferase mit bisher mehr als 1000 bekannten Patienten von klinischer Bedeutung. Die den Enzymdefizienzen zugrunde liegenden Gendefekte sind auf den Chromosomen 8q23–24 und 11p11–12 lokalisiert. Ein dritter Genort wird auf dem kurzen Arm des Chromosoms 19 vermutet. Konsequenz ist die Störung eines

Glykosaminoglykankomplexes (EXT1/EXT2), der eine wichtige Rolle bei der Chondrozytendifferenzierung spielt. Als Folge zeigen sich multiple kartilaginäre Exostosen im Grenzbereich von Diaphyse und Epiphyse. Klinisch bedeutsam sind die mechanische Kompression von Nerven und Blutgefäßen durch die Exostosen sowie das leicht erhöhte Risiko einer malignen Entartung (< 3%).

46.3 Durch genetische Disposition und Umwelteinflüsse bedingte Stoffwechselerkrankungen Zuckerkrankheit und Fettstoffwechselstörungen haben in manchen Bevölkerungsgruppen eine hohe Prävalenz, was offenbar auf Ernährungsgewohnheiten zurückzuführen ist. In der Pathogenese einiger Stoffwechselerkrankungen (Typ-I-Diabetes, AA-Amyloidose) sind jedoch auch Infektionen von entscheidender Bedeutung. Es wird aber auch beobachtet, dass sich unter den gleichen Umweltbedingungen bei denjenigen Menschen eine Stoffwechselerkrankung manifestiert, die eine bestimmte genetische Konstellation aufweisen.

46.3.1

Porphyrie

Porphyrine sind komplexe ringförmige Makromoleküle mit der Fähigkeit, zentral ein Metallatom als Chelat zu binden. So findet sich im Chlorophyll der Pflanzen zentral ein Magnesiumatom; im roten Blutfarbstoff (Häm) ist zentral ein leicht oxidierbares Eisenatom gebunden. Der Aufbau der Ringstruktur der Porphyrine aus 8 Molekülen Glyzin und 8 Molekülen Succinyl-CoA erfordert 8 verschiedene Enzyme (Abb. 46-7a). Von 7 Enzymen sind genetische Defekte bekannt. Es kommt zur Anhäufung der dem entsprechenden enzymatischen Schritt vorgelagerten Intermediärprodukte der HämSynthese und zu deren vermehrter Ausscheidung in Harn und Stuhl. Entgegen dem bei den meisten genetisch bedingten Stoffwechselkrankheiten anzutreffenden rezessiven Erbgang folgen die klinisch bedeutsamen Porphyrien einem dominanten Erbgang. Weiterhin ist bemerkenswert, dass viele Anlageträger niemals erkranken und bei den übrigen die Erkrankung durch Umweltfaktoren ausgelöst oder verschlimmert wird.

Definition Die Porphyrien entstehen aus genetisch bedingten und erworbenen Störungen der Aktivität von Enzymen der Häm-Biosynthese. Abhängig vom Hauptort der Defektexpression werden hepatische und erythropoetische Porphyrien unterschieden.

Epidemiologie Von der Porphyrie, die durch den rezessiv bedingten Mangel an Aminolävulinsäuredehydratase bedingt ist, wurden weltweit erst 6 Patienten beobachtet. Bei der dominant vererbten akuten intermittierenden Porphyrie ist die

Inzidenz der klinischen Erkrankung in Schweden 1,5 auf 100000. Am häufigsten ist die Porphyria cutanea tarda mit einer Inzidenz von 20–50/100000 Einwohner.

Ätiologie und Pathogenese Bei den drei häufigsten Formen der Porphyrie ist der Zusammenhang zwischen genetischer Konstitution und Manifestation von Krankheitssymptomen wie folgt: Akute intermittierende Porphyrie (aus der Gruppe der akuten hepatischen Porphyrien). Bei autosomal-dominantem Erbgang führt der funktionelle Ausfall eines Allels am Lokus der Porphobilinogen(PBG)-Desaminase zur 50%igen Enzymreduktion. Im kaskadenförmigen Ablauf der Häm-Biosynthese wird die PBGDesaminase nun zum geschwindigkeitslimitierenden Faktor. Klinisch gesunde Genträger weisen eine Erhöhung der Vorstufen Aminolävulinsäure (ALS) und PBG im Urin auf (Abb. 46-7b). Eine Induktion des Enzyms ALS-Synthase durch bestimmte Medikamente (z.B. Psychopharmaka) führt zu einem weiteren Anstieg ihrer Konzentration, und durch ihre Neurotoxizität werden dann Krankheitssymptome ausgelöst (Abb. 46-7c). Porphyria cutanea tarda (aus der Gruppe der chronischen hepatischen Porphyrien): Es gibt erworbene Formen ohne genetische Grundlage (Typ I), während die familiären Formen (Typ II und III) einem autosomal-dominanten Erbgang folgen. Bei Manifestation der Krankheit ist die Porphyrin-Biosynthese in der Leber und in der Haut gesteigert, bei gleichzeitiger Reduktion des Enzyms Uroporphyrinogen-Dekarboxylase (Abb. 46-7a). Die vermehrten Intermediärprodukte werden durch UV-Strahlung in der Haut phototoxisch. Sowohl die sporadischen (meist in höherem Alter) als auch die genetischen (schon im jüngeren Erwachsenenalter) Formen werden durch Umweltfaktoren getriggert, insbesondere durch Alkohol, Östrogene, Eisen und chlorierte zyklische Kohlenwasserstoffe. Erythropoetische Protoporphyrie (auch als erythrohepatische Protoporphyrie bezeichnet, aus der Gruppe der erythropoetischen Porphyrien): Wegen einer 50%igen Reduktion (bei autosomal-dominantem Erbgang) des Enzyms Ferrochelatase kommt es zur Akkumulation von Protoporphyrin (Abb. 46-7a) in Erythrozyten, Blutplasma und Stuhl. Durch Einwirkung von Sonnenlicht wird das Protoporphyrin in der Haut phototoxisch und führt bereits im Kindesalter zur Blasenbildung.

Abb. 46-7

Porphyrien.

a Biosynthese des Häms mit Intermediärprodukten (blau) und beteiligten Enzymen (gelb). Dem jeweiligen Enzymdefekt zugeordnete klinische Formen der Porphyrie mit Erbgang und vorherrschender Symptomatik sowie Schwerpunkt des Enzymmangels in der Leber (hellbraun) oder in der Blutbildung (dunkelbraun).

NV = neuroviszerale Symptome, PS = Photosensitivität, AR = autosomal-rezessiv, AD = autosomal-dominant. b Akute intermittierende Porphyrie: Imbalance des Stoffwechsels bei einem symptomlosen Träger mit vermehrter Ausscheidung von Intermediärprodukten im Urin. c Akute intermittierende Porphyrie: Stoffwechselveränderung während einer medikamentös ausgelösten Schmerzattacke.

Morphologie Die abdominalen Schmerzattacken der akuten intermittierenden Porphyrie haben schon häufig zu einer Laparotomie geführt, bei der sich dem Chirurg kein makroskopischer Befund darbietet. Entnommene Gewebeproben wiesen degenerative Veränderungen in den feinen Verzweigungen des autonomen Nervensystems auf (daher die Bezeichnung „neuroviszerale Symptomatik“). Bei der Porphyria cutanea tarda führen die unter UV-Einwirkung in ihrer Toxizität verstärkten Porphyrine in der Haut zur Blasenbildung, die ihren Ausgangspunkt in der Lamina lucida der Basalmembran nimmt. Die erythropoetische Protoporphyrie (erythrohepatische Protoporphyrie) führt zum Anstieg von freiem Protoporphyrin in der Leber, das über die Galle ausgeschieden wird. Porphyrine emittieren eine intensive rote Fluoreszenz, wenn sie mit Licht einer Wellenlänge von ca. 400 nm angeregt werden. Bei entsprechendem Verdacht ist eine Untersuchung des histologischen Schnitts im Fluoreszenzmikroskop diagnostisch indiziert (Abb. 46-8).

Abb. 46-8

Erythrohepatische Protoporphyrie.

Der Ferrochelatase-Mangel führt zur vermehrten Ablagerung von Protoporphyrin im Lebergewebe, das im UV-Licht eine intensive Rotfluoreszenz zeigt.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Neurotoxizität führt im Zentralnervensystem zu Funktionsstörungen unter dem Bild epileptischer Anfälle oder psychiatrischer Symptome (depressive Verstimmungen, Halluzinationen). Im peripheren und insbesondere autonomen Nervensystem ist das klinische Korrelat der Nervendegeneration eine abdominale Schmerzsymptomatik. Die Therapie umfasst in erster Linie die Vermeidung auslösender Stimuli (Alkohol, Medikamente, Östrogene) und bei Photosensitivität den Schutz vor Sonnenlicht. Bei Kenntnis der Krankheitsbilder der Porphyrie und entsprechendem Verdacht ist die Diagnose relativ einfach (z.B. am Licht stehender Urin wird dunkel). Die rechtzeitig gestellte Diagnose kann den Patienten vor unnötigen Operationen bewahren, und auch vor der Einwirkung von Barbituraten, die durch Induktion der ALS-Synthase die unmittelbar auslösende Ursache noch verstärken. Eine porphyriebedingte Epilepsie kann durch Verabreichung bestimmter Antiepileptika noch verstärkt werden. Es wird auch immer wieder von einem gehäuften „Vorkommen“ von Porphyrien unter den Patienten psychiatrischer Institutionen berichtet.

46.3.2

Diabetes mellitus

Definition Der Diabetes mellitus beruht auf einer Glukose-Stoffwechselstörung, die zu einer chronischen Hyperglykämie führt.

Epidemiologie In den westlichen Ländern gehört der Diabetes mellitus zu den häufigsten Erkrankungen. Die Prävalenz beträgt bei Erwachsenen zwischen 2 und 3%. In den nichtindustrialisierten Ländern ist die Diabeteshäufigkeit generell niedriger, was auf das verminderte Vorkommen des Typ-II-Diabetes zurückzuführen ist und dafür spricht, dass Umgebungsfaktoren (Adipositas als Wohlstandsfaktor) bei der Entstehung dieses Diabetestyps in den Industrieländern eine Rolle spielen. Man nimmt an, dass in westlichen Industrieländern bis zu 14% der finanziellen Aufwendungen für das Gesundheitswesen auf die Behandlung des Diabetes mellitus und dessen Folgekrankheiten entfallen.

Klassifikation Ein Diabetes mellitus wird durch einen erhöhten Glukosespiegel im Blutplasma diagnostiziert (Nüchternplasmaglukose > 126 mg/dl oder ein zufällig gemessener Wert > 200 mg/dl). Verschiedene Grunderkrankungen können einen Diabetes mellitus zur Folge haben, z.B. wenn durch eine Hämochromatose oder im Rahmen einer

zystischen Fibrose das endokrine Gewebe zerstört wird. In seltenen Fällen ist der Diabetes auch die unmittelbare Konsequenz eines monogenen Erbleidens, durch das bei Homozygotie ein Enzym des Glukosestoffwechsels fehlt, der Insulinrezeptor an der Zelloberfläche durch eine Mutation funktionsuntüchtig geworden ist, oder aber durch den Defekt eines Transkriptionsfaktors (Tab. 46-3). Beim Typ-I-Diabetes werden auf der Grundlage einer genetischen Suszeptibilität (HLA-DQ8, HLA-DR4) und nach Einwirkung von Umwelteinflüssen (Autoimmunprozess, ausgelöst durch eine Virusinfektion) die Insulin produzierenden β-Zellen selektiv zerstört. Deshalb erfordert die Therapie eine exogene Zufuhr von Insulin. Beim Typ-II-Diabetes bleiben die β-Zellen weitgehend erhalten. Da die Muskulatur und das Fettgewebe jedoch ungenügend auf Insulin ansprechen (Insulinresistenz), steigt trotz normaler oder sogar gesteigerter Insulinsekretion der Blutzuckerspiegel an. Die genetische Disposition zum Typ-II-Diabetes kommt durch den Einfluss mehrerer Gene zustande, und unterschiedliche Ernährungsformen sind als entscheidende Umweltfaktoren anzusehen.

Komplikationen und Folgekrankheiten Die Morbidität, die mit zunehmender Dauer der Erkrankung bei allen Diabetesformen gleichermaßen beobachtet wird, resultiert beim Typ-I-Diabetes vorwiegend aus der Hyperglykämie. So zeigen Nieren nichtdiabetischer Spender nach Transplantation in einen diabetischen Empfänger innerhalb von drei bis fünf Jahren die typischen Zeichen einer diabetischen Nephropathie, während solche Veränderungen schwinden können, wenn die Niere eines Diabetikers in einen nichtdiabetischen Empfänger transplantiert wird. Beim Typ-II-Diabetes spielen neben der Hyperglykämie die mit der Insulinresistenz assoziierte Dyslipidämie, Endotheldysfunktion und Störungen des Gerinnungssystems eine wichtige Rolle in der Entstehung der Makroangiopathie. Eine Hyperglykämie kann über verschiedene Mechanismen zu diabetischen Folgeerkrankungen führen. Der wichtigste Weg ist die Bildung von glykosylierten Proteinen durch die nichtenzymatische Anlagerung von Glukose an die Aminogruppen von Proteinen (Albumin, Hämoglobin und Strukturproteine); es entstehen so genannte Schiff-Basen (reversible Glykosylierung). Im Laufe der Zeit entstehen aber auch nichtreversible Glykosylierungsendprodukte, unter anderem unphysiologisch stabil vernetzte Proteine, die wegen eines verminderten Abbaus z.B. in Gefäßwänden akkumulieren (Abb. 46-9). Dies führt in der weiteren Folge zur Einlagerung von Blutplasmabestandteilen, darunter auch Low-density-Lipoproteinen, sodass der Prozess der Atherosklerose in kleinen und großen Blutgefäßen in Gang gesetzt wird. Die irreversiblen Produkte werden als „advanced glycation endproducts“(AGE) bezeichnet. Sie binden auch an Rezeptoren verschiedener Zelltypen – Endothel, Makrophagen, Lymphozyten und mesangiale Zellen –, wodurch biologische Funktionen, z.B. Migration und Ausschüttung von Zytokinen, verändert oder im Bereich der Endothelzellen eine erhöhte Permeabilität oder eine Veränderung der

Oberfläche mit Neigung zur Koagulation von Blut bewirkt werden. Des Weiteren werden Fibroblasten und glatte Muskelzellen zur Proliferation angeregt.

Tab. 46-3 Ätiologische Klassifikation des Diabetes mellitus (expert committee, 2003). I. Typ-I-Diabetes (β-Zell-Zerstörung, die meist zur absoluten Insulindefizienz führt) A immunologische Ursache B idiopathisch II. Typ-II-Diabetes (vorwiegend Insulinresistenz mit relativem Insulinmangel bis vorwiegend Insulinsekretionsdefekt mit Insulinresistenz) III. andere spezifische Typen A genetische Defekte der β-Zell-Funktion ■ Chromosom 12, HNF-1α(MODY3)* ■ Chromosom 7, Glukokinase (MODY2) ■ Chromosom 20, HNF-4α(MODY1) ■ mitochondriale DNA ■ andere B genetische Defekte der Insulinwirkung, z.B. Typ-A-Insulinresistenz**, Leprechaunismus*** C Pankreaserkrankungen, z.B. chronische Pankreatitis, zystische Fibrose, Hämochromatose D

Endokrinopathien, z.B. Akromegalie, Morbus Cushing, Phäochromozytom E durch Medikamente oder Chemikalien induziert, z.B. Glukokortikoide, Thiazide, β-Mimetika F Infektionen, z.B. kongenitale Röteln, Zytomegalie G ungewöhnliche immunvermittelte Formen, z.B. Antikörper gegen den Insulinrezeptor H andere gelegentlich mit Diabetes assoziierte genetische Krankheiten, z.B. Down-Syndrom, Chorea Huntington, Porphyrie IV. Schwangerschaftsdiabetes MODY = Maturity Onset Diabetes of the Young ** Typ-A-Insulinresistenz: Funktionseinschränkung (durch Mutationen) des Insulinrezeptors mit Hyperinsulinämie und meist mäßiger Hyperglykämie als Folge *** Leprechaunismus: in utero beginnender Wachstumsrückstand, verbunden mit extrem unterentwickeltem Fettgewebe und endokrinen Störungen *

Die neurologischen Komplikationen sind zum Teil durch eine intrazelluläre Toxizität der Glukose verursacht. Nerven, Augenlinse, Blutgefäße und Nierenzellen sind insulinunabhängig, sodass die Hyperglykämie zum intrazellulären Anstieg der Glukose führt. Dadurch wird das Enzym Aldose-Reduktase angeregt, was zu einer intrazellulären Bildung und Akkumulation von Sorbitol führt. Es resultiert eine erhöhte intrazelluläre Osmolarität, die über den Einstrom von Wasser die Zelle osmotisch schädigen kann. Zusätzlich sinkt die intrazelluläre Konzentration von Myoinositol, das für die Funktion der Zellmembranen wichtig ist. Die diabetische Mikroangiopathie betrifft alle Kapillaren, manifestiert sich v.a. aber an der Niere (Glomerulopathie, siehe Kap. 36.5.2) und den Augen (Retinopathie, siehe Abb. 46-7 und Kap. 11.9.2). Die beschleunigte Atherosklerose führt bei Diabetikern zum deutlich erhöhten Risiko für Myokardinfarkt, Hirninfarkt oder Gangrän; letztere betrifft besonders häufig die Zehen. Histologisch unterscheiden sich die atherosklerotischen Läsionen nicht von denjenigen des Nichtdiabetikers.

Die diabetische Polyneuropathie beeinträchtigt in symmetrischer Form v.a. periphere sensible, weniger motorische Funktionen im Bereich der unteren Extremität. Histologisch sind die betroffenen Nerven durch Entmarkung und axonale Schädigung charakterisiert. Als weitere Läsionen werden bei Diabetikern Fettgewebenekrosen (Necrobiosis lipoidica) und Katarakt gesehen. Es besteht eine Infektionsneigung, die sich häufig als Pilzerkrankung der Haut bzw. Infektion der Harnwege mit Entwicklung einer Pyelonephritis äußert.

Typ-I-Diabetes Definition Eine selektive Zerstörung der β-Zellen des endokrinen Pankreas führt zum Verlust der Insulinproduktion. Zur Prävention einer diabetischen Ketoazidose muss Insulin verabreicht werden.

Epidemiologie Von den weltweit geschätzt 300 Mio. Diabetikern entfallen ca. 15% auf den Typ I. Beide Geschlechter sind gleich häufig betroffen. Die Erstmanifestation erfolgt meist während der Kindheit oder Adoleszenz. Die frühere Bezeichnung „juveniler Diabetes“ ist aber nicht mehr haltbar, da der Typ I auch nach dem 30. Lebensjahr, gelegentlich sogar erst im Alter auftreten kann.

Abb. 46-9 Auswirkungen eines hohen Blutzuckerspiegels.

a Ein hoher Blutzucker begünstigt die chemische Reaktion von Aldol-Gruppen des Glukosemoleküls mit Aminogruppen von Proteinen; die entstandenen SchiffBasen können sich einerseits auflösen, andererseits weiter reagieren zu AmadoriProdukten. Auch hier besteht eine Reversibilität der chemischen Reaktion. Die

Bildung von „advanced glycation endproducts“ (AGE) ist dadurch gekennzeichnet, dass die Reaktion nicht mehr reversibel ist. b Bei der Atherosklerose in einem Herzkranzgefäß wird die Plaquebildung durch die Ansammlung von AGE in der Media begünstigt, gefolgt von Einlagerung von Lipiden und Serumproteinen. Elastica-van Gieson, Vergr. 8fach. c Mikroangiopathie in der Niere mit AGE-Komplexen in Gefäßwänden, mesangialen Ablagerungen und verdickten Basalmembranen von Tubuli (in den Basalmembranen wird das korrekte „self assembly“ behindert und der Abbau verzögert). PAS, Vergr. 280fach. d Glomerulus und Vas afferens einer unauffälligen Niere zum Vergleich, ebenfalls in einer PAS-Färbung. PAS, Vergr. 280fach. e Diabetische Mikroangiopathie in der Retina: Ausbildung von Mikroaneurysmen nach Schwächung der Arteriolenwand durch AGEEinlagerungen.

Ätiologie und Pathogenese Bei Menschen mit erhöhtem Risiko für einen Diabetes mellitus (z.B. Zwillingsgeschwister eines Erkrankten) kann man im Blut zirkulierende Autoantikörper gegen verschiedene Strukturen der pankreatischen Inselzellen finden, in einem hohen Prozentsatz schon Jahre vor dem Auftreten des Diabetes mellitus. Bei Patienten, die in der frühen Phase eines Typ-I-Diabetes starben, hat man eine lymphozytäre Insulitis beobachtet. Diese beiden Merkmale ähneln den Befunden bei einer lymphozytären (Hashimoto-)Thyreoiditis (siehe Kap. 14.4), sodass eine autoimmune Zerstörung der β-Zellen angenommen wird. Patienten mit Typ-I-Diabetes mellitus haben ein erhöhtes Risiko für andere endokrine Autoimmunerkrankungen (lymphozytäre Thyreoiditis, Autoimmunadrenalitis, siehe Kap. 16.1.11). In diesen Fällen spricht man von einer polyendokrinen Insuffizienz (siehe Kap. 18.3). Im Tiermodell kann man einen Diabetes durch die transgene Expression von HLA-Molekülen auf der Oberfläche von β-Zellen erzeugen. Die natürlichen Oberflächenstrukturen der Inselzelle erhalten dadurch eine vermehrte Antigenität und werden dem Immunsystem ausgesetzt. Der genaue Mechanismus der β-Zellen-Zerstörung ist aber auch hier noch unklar. Der Einfluss genetischer Faktoren ist beim menschlichen Typ-I-Diabetes nicht sehr ausgeprägt; nur etwa 30–50% der eineiigen Zwillinge erkranken konkordant (beide Zwillinge betroffen). Die Auslösung des Autoimmunprozesses erfordert also exogene Faktoren, wobei in erster Linie Virusinfektionen im Verdacht stehen (CoxsackieB-Virus, Rötelnvirus, Mumpsvirus).

Morphologie

Bei Manifestation der Erkrankung ist der Großteil der β-Zellen bereits zerstört. Die Insulitis im Frühstadium des Typ-I-Diabetes ist ein außerordentlich seltener

Befund (Abb. 46-10). Da Insulin auch ein Wachstumsfaktor ist, entwickelt sich bei dessen Wegfall eine Atrophie des exokrinen Pankreas (Gewicht < 50 g).

Abb. 46-10 Morphologie des endokrinen Pankreas bei Diabetes.

a Insulitis bei Typ-I-Diabetes. Die β-Zellen der Inseln sind immunhistochemisch braun markiert (Insulin), bei den ungefärbten kleinen Infiltratzellen (zwischen den Pfeilen) handelt es sich um Lymphozyten. HE, Vergr. 400fach. b Inselamyloidose (lokalisierte AIAPP-Amyloidose) bei Typ-II-Diabetes. Lachsfarbene, strukturlose Einlagerung zwischen wenigen residuellen endokrinen Inselzellen. HE, Vergr. 500fach.

Klinisch-pathologische Korrelationen Eine klinische Symptomatik tritt erst auf, wenn ca. 80% der β-Zellen zerstört sind. Bereits während einer stummen präklinischen Phase (Monate bis Jahre) treten verschiedene Autoantikörper auf. So lassen sich bei 90% der Patienten zytoplasmatische Inselzell-Antikörper nachweisen. Diese umfassen Antikörper gegen GAD65 (Glutamatsäuredekarboxylase) und IA-2-Autoantikörper (gegen Tyrosinphosphatase). 40% der kindlichen Diabetiker haben auch Autoantikörper gegen Insulin. Diese können im Verlauf der Krankheit verschwinden.

Typ-II-Diabetes Definition Die Krankheit nimmt ihren Ausgang von einer reduzierten Insulinantwort insulinabhängiger Gewebe (Insulinresistenz). Die Insulinproduktion durch die βZellen ist zunächst erhöht. Später fällt sie ab, weil offenbar die Funktion der βZellen durch die chronische Hyperglykämie eingeschränkt wird. Aufgrund der in der westlichen Welt zunehmenden Adipositas und Bewegungsarmut wird eine zunehmende Inzidenz des Typ-II-Diabetes auch bei Jugendlichen beobachtet.

Epidemiologie 85% aller Diabetiker leiden am Typ-II-Diabetes mellitus; beide Geschlechter sind gleich häufig betroffen. Der Beginn ist schleichend und die meist adipösen Patienten sind in der Regel älter als 40 Jahre.

Ätiologie und Pathogenese Das Auftreten der Krankheit wird bei entsprechender familiärer Belastung durch Adipositas, Bewegungsmangel und hyperkalorische Ernährung begünstigt. Die zentrale Pathologie des Typ-II-Diabetes besteht in einer Unempfindlichkeit insulinabhängiger Gewebe, insbesondere der Skelettmuskulatur und des Fettgewebes, gegenüber Insulin (Insulinresistenz). Dies wird normalerweise durch eine vermehrte Insulinproduktion ausgeglichen. Nur diejenigen Menschen, die diese kompensatorische Mehrproduktion („Gegenregulation“) nicht auf Dauer aufrechterhalten können, entwickeln einen Typ-II-Diabetes. Es wird hier eine Schwäche der Insulinsekretion postuliert, die wahrscheinlich genetisch bedingt ist. Im Pankreas wird ein 10- bis 50%iger Verlust von β-Zellen beobachtet. Die Reduktion der Inselzellmasse kann aber nicht als Ursache des Typ-II-Diabetes angesehen werden, da Menschen, denen durch eine Pankreatektomie 90% der Inselzellmasse entfernt werden, keinen Diabetes entwickeln. Es scheint vielmehr die chronische Hyperglykämie selbst zu sein, die eine Apoptose von β-Zellen induzieren kann (Glukosetoxizität).

Morphologie Die Reduktion der β-Zellen im Pankreas ist nur durch morphometrische Analysen der endokrinen Inseln festzustellen. Etwa 80% der Patienten im hohen Alter weisen Amyloidablagerungen um die Kapillaren der Langerhans-Inseln auf. Chemisch handelt es sich dabei um das von der Inselzelle sezernierte Protein Amylin, dessen physiologische Funktion bislang unbekannt ist (Abb. 46-10).

Klinisch-pathologische Korrelationen Die beim Typ-I-Diabetes zu beobachtenden Autoantikörper gegen Inselzellen und Insulin finden sich nicht. Modellhaft lässt sich das Auftreten eines Typ-II-Diabetes durch den Einfluss mehrerer Gene im Zusammenhang mit überkalorischer Ernährung herleiten. Einige Bevölkerungsgruppen weisen eine sehr hohe Inzidenz des Typ-II-Diabetes-mellitus auf, allerdings nur, wenn sie eine hochkalorische „westliche“ Ernährung zu sich nehmen. Daraus kann geschlossen werden, dass die diabetogene Genkonstellation unter den Bedingungen einer seltenen, unregelmäßigen und insgesamt geringen Nahrungsaufnahme Vorteile bietet, sodass sie in den genannten Populationen einer positiven Selektion unterlag.

46.3.3

Hyperlipidämie

Lipide sind Bestandteil von Zellmembranen, konzentrierte Energieträger und Ausgangssubstanz für die Synthese einiger Hormone. Ihr Transport im wässrigen Milieu erfolgt durch Mikroemulsionen. Im Darmepithel und in der Leber werden Fettsäuren mit Apoproteinen verbunden. Diese Moleküle vermitteln nach außen eine Wasserlöslichkeit (durch polare Gruppen) und können durch Zusammenlagerung einen Kern von unpolaren Triglyzerid- und Cholesterinmolekülen transportieren (Mikroemulsion). Hyperlipidämien sind Störungen des Lipidstoffwechsels, die zu einer messbaren Vermehrung der Lipidkomponenten im Blut führen. Dies ist ein wesentlicher Risikofaktor für die Entwicklung der Atherosklerose, insbesondere der koronaren Herzerkrankung. Die primären Hyperlipidämien beruhen wesentlich auf einem genetischen Defekt in einer der Komponenten des Lipidstoffwechsels (z.B. Lipasen oder Apoproteinen; ein Beispiel wird in Kap. 5.3.2 am Krankheitsbild der AβLipoproteinämie dargestellt). Sekundäre Hyperlipidämien sind die Folge anderer Grunderkrankungen (z.B. Diabetes mellitus, Hypothyreose, Cholestase).

Epidemiologie In den allermeisten Fällen ist die Hyperlipidämie nur ein Symptom in einem sehr heterogenen Ursachenspektrum. Es gibt genetische Ursachen, die sehr selten sind und nur bei einem von 1 Mio. Menschen zur Manifestation führen. Hyperlipidämien aller Formen und unter Berücksichtigung aller möglicher Ursachen gehören zu den häufigsten „Erkrankungen“ mit einer Prävalenz von 20%.

Ätiologie und Pathogenese Die Lipoproteinpartikel, die im Blut und im Lymphsystem des Darms vorkommen, werden in folgende Klassen unterteilt: ■ Chylomikronen transportieren die aus den Darm aufgenommenen langkettigen Fettsäuren. Sie gelangen über die Lymphgefäße in das Blut. Das an der Oberfläche von Endothelzellen lokalisierte Enzym Lipoproteinlipase hydrolysiert die in den Chylomikronen enthaltenen Triglyzeride und leitet die entstehenden Fettsäuren in Muskulatur und Fettgewebe weiter. Die Chylomikronenreste („remnants“) werden rezeptorvermittelt von Leberzellen aufgenommen. ■ VLDL(Very-low-density-Lipoprotein)-Partikel werden aus Fettsäuren und Apoproteinen im Hepatozyten gebildet und in das Blut abgegeben. In Geweben, die Fettsäuren zur Energiegewinnung verwenden können, werden die Triglyzeride durch Lipoproteinlipasen an Endotheloberflächen hydrolysiert. ■ LDL(Low-density-Lipoprotein)-Partikel entstehen aus VLDL-Remnants in der Leber. Es sind die Partikel mit dem größten Cholesteringehalt (65%; im Vergleich dazu besitzen VLDL-Partikel 25% und HDL-Partikel < 20% Cholesterin). LDL sind die Hauptquelle des in atheromatösen Plaques enthaltenen Fetts. ■ HDL(High-density-Lipoprotein)-Partikel werden in Leber und Dünndarm gebildet und als flache „Scheibchen“ mit doppellagiger Membran sezerniert. Sowohl der Proteingehalt als auch die Fettzusammensetzung ändern sich während des Aufenthalts im Blutplasma, wodurch die Partikel rund werden. HDL mobilisieren Cholesterin aus dem Gewebe und führen es zur Leber zurück. Dies ist möglicherweise ein wichtiger Grund, dass hohe HDL-Spiegel im Blut einen Schutz vor Atherosklerose darstellen (siehe Kap. 20.2.1).

Morphologie

Die Auswirkungen eines gestörten Lipidstoffwechsels werden indirekt sichtbar. So führt der sehr seltene chronische Mangel an Blutfetten nach längerer Zeit zur Deformität und Instabilität von Erythrozyten, weil für ihre Zellmembranen nicht das richtige Mischungsverhältnis von Fetten im peripheren Blut zur Verfügung steht (siehe Aβ-Lipoproteinämie im Kap. 5.3.2). Der genetisch bedingte Funktionsverlust des LDL-Rezeptors an der Oberfläche der Hepatozyten behindert die LDL-Clearance und führt zu einer sehr frühen und sehr ausgeprägten Atherosklerose (siehe familiäre Hypercholesterinämie in Kap. 5.3.1). Das genetisch bedingte Fehlen der HDL-Partikel macht die Rückführung von Cholesterin aus dem Gewebe unmöglich, was durch Cholesterin speichernde, schaumig transformierte Zellen des retikuloendothelialen Systems deutlich wird (TangierKrankheit).

Klinisch-pathologische Korrelationen Entsprechend der unterschiedlichen Ätiologie variieren die klinischen Bilder. Eine WHO-Einteilung schlägt sechs biochemische Muster der Hyperlipidämie vor (Tab. 46-4). Sie dient zum Teil diagnostischen Zwecken, zum anderen beschreibt sie semiquantitativ das Hauptrisiko aller Formen der Hyperlipidämie: die Entwicklung einer Atherosklerose.

46.3.4

Amyloidose

Amyloid heißt „Stärke-artig“. Die Bezeichnung wurde 1854 von Rudolf Virchow gewählt, weil amyloidhaltige Gewebe bei der Behandlung mit Jodlösung die gleiche Blaufärbung zeigten wie Getreidestärke. Obwohl sich bereits 5 Jahre später herausstellte, dass „Amyloid“ im Gewebe nicht einem Kohlenhydrat entspricht, sondern „Eiweißartig“ ist, blieb der Begriff für eine sehr heterogene Gruppe von Proteinstoffwechselstörungen bestehen. Findet sich Amyloid in einem Organ, spricht man von lokalisierter, bei Ablagerung in vielen Organen von systemischer (generalisierter) Amyloidose. Amyloidablagerungen als Folge eines multiplen Myeloms werden häufig als primäre, als Folge einer entzündlichen Erkrankung oft als sekundäre Amyloidose bezeichnet. Davon abzugrenzen sind die hereditären Amyloidosen (autosomal-rezessiv vererbtes familiäres Mittelmeerfieber und eine große Zahl seltener autosomal-dominant vererbter Amyloidosen mit sehr unterschiedlichen amyloidogenen Ausgangssubstanzen).

Definition Amyloidose bezeichnet einen gemeinsamen Befund bei ätiologisch sehr unterschiedlichen Krankheiten. Chemisch völlig unterschiedliche Moleküle führen zu einem gemeinsamen morphologischen Bild, das auf einer β-Faltblattstruktur (gemeinsame Tertiärstruktur der Proteine) beruht. Dies führt auch zu einer spezifischen Anfärbbarkeit mit Kongorot und bedingt einen Umschlag nach Grün im polarisierten Licht.

Epidemiologie Epidemiologische Angaben zur Amyloidose sind nur sinnvoll, wenn sie die Grunderkrankung berücksichtigen: So findet man z.B. eine systemische AAAmyloidose bei 3% aller Patienten mit rheumatoider Arthritis, die systemische ALAmyloidose bei 10% der Patienten mit multiplem Myelom. In bestimmten Bevölkerungsgruppen des Mittelmeerraums ist das familiäre Mittelmeerfieber anzutreffen, bei dem eine Amyloidose obligat ist und bereits im Kindesalter auftreten kann. Es besteht ein autosomal-rezessiver Erbgang; die Genhäufigkeit beträgt in einigen Gruppen 1: 20.

Tab. 46-4 Hyperlipidämie-Muster: Epidemiologie, Ätiologie und klinische Bedeutung. >Ätiologie

und Pathogenese

Die β-Faltblattstruktur eines Proteins scheint – unabhängig von seiner primären chemischen Natur – zu einem weitgehenden Verlust der Löslichkeit im normalen physiologischen Milieu zu führen. Die Anhäufung von Amyloid führt deshalb zu vergrößerten Organen mit blasser, fester Konsistenz. Eine Voraussetzung für die Amyloidablagerung ist die anhaltende Überproduktion einer löslichen Proteinkette (z.B. Immunglobulin-Leichtkette λ), die unter Bedingungen eines limitierten Abbaus zur unlöslichen Amyloidsubstanz wird (Abb. 46-11). Eine Klassifikation beruht auf der Identifikation der involvierten Vorläuferproteine. ■ AA. Das erste A steht für Amyloidprotein, das zweite für ein Akute-PhaseProtein, das seinerseits den Namen SAA (Serum-Amyloid A) trägt. Unter normalen Bedingungen findet sich SAA nur in sehr geringen Konzentrationen im Serum. Bei Gewebeschädigung oder Entzündung bildet die Leber aber große Mengen. Die biologische Rolle des SAA ist unbekannt. Chronisch entzündliche Erkrankungen (erreger- oder autoimmun bedingt) wie Tuberkulose, Lepra, Osteomyelitis und Bronchiektasen, rheumatoide Arthritis und chronisch entzündliche Darmerkrankungen sowie gelegentlich auch Tumoren (HodgkinLymphom) führen zu lang anhaltender Überproduktion von SAA. ■ AL. Das L steht für Immunglobulin-Leichtketten (κ oder λ). Die Amyloidose vom AL-Typ ist durch eine monoklonale Proliferation von B-Lymphozyten oder Plasmazellen bedingt, wobei große Mengen vollständiger leichter Ketten, meist vom λ-Typ, gebildet werden. Bei 90% der Patienten ist auch im Serum ein monoklonales Immunglobulin (Bence-Jones-Protein) nachweisbar. Die Bedingungen, unter denen sich die gut lösliche α-helikale Struktur der Proteinketten in die schlecht lösliche „amyloidogene“ β-Faltblattkonfiguration umwandelt, sind bisher kaum bekannt.

■ ATTR. Die Buchstabenfolge TTR ist von Transthyretin abgeleitet, das eine Zusammenziehung der Begriffe Transportmolekül für Thyroxin und Retinol darstellt (früher Präalbumin genannt). Eine sehr häufige nichtgenetische Form ist bei 25% der über 80-Jährigen nachweisbar und führt zur Ablagerung von ATTRAmyloid, vorzugsweise im Herzen. Eine sehr seltene, genetisch bedingte Form führt durch die Ablagerung von ATTR zu Polyneuropathie und Nephropathie. Hier hat sich gezeigt, dass alle Patienten (bei der sog. portugiesischen Form) eine Punktmutation aufweisen, durch die in der Position 30 der Aminosäurekette von Transthyretin Methionin für Valin erscheint, was offenbar mit einer erhöhten Neigung zur Bildung von Amyloidfibrillen verbunden ist.

Abb. 46-11

Systemische Amyloidose.

a Pathogenese. Sehr unterschiedliche Ursachen führen zur gesteigerten Produktion von Kettenmolekülen, deren Weiterprozessierung zu Ablagerungen mit gleichen physikalischen (z.B. färberischen) Eigenschaften führt. b Amyloidablagerungen in Interlobulärarterien und Glomeruli der Niere. Kongorot, Vergr. 100fach. c Immunhistochemie zur Detektion der chemischen Natur des hier vorliegenden Amyloids: positive Reaktion bei Verwendung eines Antikörpers gegen Amyloidprotein A (AA-Amyloidose). Vergr. 400fach. ■ Aβ2M. β2M steht für β2-Mikroglobulin, das bei chronischer Nierenerkrankung vermehrt gebildet wird und nicht dialysierbar ist. Nach längerer Erkrankungsdauer zeigen mehr als die Hälfte aller Niereninsuffizienten Aβ2M-AmyloidAblagerungen, vorzugsweise in Gelenken und Sehnenscheiden.

■ Aβ. Das kleine β-Protein (auch: A4-Protein) wird im Hirn gebildet und auch nur hier als Amyloid abgelagert (lokalisierte Amyloidose). Diese Ablagerung ist einer der wesentlichen Befunde bei der Alzheimer-Demenz (siehe Kap. 8.8.2). ■ AE. Hiermit werden verschiedene lokale Ablagerungen (lokalisierte Amyloidose) zusammengefasst, bei denen das Vorläuferprotein aus endokrin aktiven Zellen stammt. Das hierbei abgelagerte Fibrillenprotein kann weitere Bezeichnungen tragen, z.B. AIAPP, wobei IAPP für „islet amyloid polypeptide“ (Abb. 46-10b) steht. Im medullären Schilddrüsenkarzinom finden sich Amyloidablagerungen, die als A Cal bezeichnet werden, wobei Cal für Kalzitonin steht (siehe Kap. 14.6.2). In allen Amyloidablagerungen findet sich ein Plasmaglykoprotein, das eine Homologie zum C-reaktiven Protein besitzt. Die Affinität dieser P-Komponente zu Fibrillen und die zusätzliche Anlagerung von Glykosaminoglykanen scheinen die Ablagerungen zu stabilisieren (Abb. 46-11a).

Morphologie Da der Krankheitsbegriff Amyloidose aus der Anwendung morphologischer Methoden entstanden ist, besitzen die in ihrer Ätiologie sehr unterschiedlichen Krankheiten tatsächlich einen einheitlichen Befund. Das konsistenzvermehrte Gewebe aus den blassen, vergrößerten Organen zeigt mikroskopisch eine strukturlose extrazelluläre Substanz, die in die Gewebearchitektur eingelagert ist und charakteristische Färbephänomene bei verschiedenen Spezialfärbungen zeigt. Unter Verwendung von Antikörpern gegen die Vorläuferproteine kann in vielen Fällen der Typ der Amyloidose bestimmt werden (Abb. 46-11b, c).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Eine Verhinderung der Amyloidablagerung oder gar die Auflösung einer bereits bestehenden Amyloidose verfolgt verschiedene Strategien, die wesentlich von der zugrunde liegenden Krankheit bestimmt sind. Durch antibiotische und tuberkulostatische Therapien ist die klassische systemische AA-Amyloidose, die auf nicht ausheilbare chronische Infektionen zurückging, viel seltener geworden. Beim familiären Mittelmeerfieber, bei dem von Makrophagen ausgeschüttete Zytokine die SAA-Bildung in der Leber stimulieren, wird die Pathogenese durch die Verabreichung von Kolchizin als Medikament unterbrochen. Wenn die Diagnose der Erkrankung frühzeitig gestellt wird, können 90% der Betroffenen vor einer Amyloidose geschützt werden. Erfolglos ist bislang der Versuch, die Amyloidbildung bei der Alzheimer-Demenz zu verhindern.

46.4 Erworbene Stoffwechselerkrankungen (geringgradige bis keine genetischen Einflüsse) (Siehe auch Kap. 51.5.) Umwelteinflüsse spielen bei Ernährungsstörungen die entscheidende Rolle, wobei es auch Überlagerungen gibt. So sind in den sog. Dritte-Welt-Ländern Infektionen häufig der entscheidende Auslöser zur Manifestation einer Mangelsituation. Genetische Einflüsse spielen insofern eine Rolle, als einige „Mangelkrankheiten“ durch Zufuhr der entsprechenden Substanz nicht zu beheben sind, weil der Patient einen spezifischen genetischen Defekt aufweist, der die Utilisation einer ausreichend vorhandenen Substanz verhindert (z.B. Vitamin-D-resistente Rachitis). Global gesehen sind solche Patienten aber eine extreme Ausnahme. In den USA und Europa sind hingegen viele Menschen „zu dick“. Brisant ist die Frage, ab wann der Überernährung Krankheitswert zukommt.

46.4.1

Überernährung

Wer über einen längeren Zeitraum mehr Energie zu sich nimmt, als er verbraucht oder ungenutzt ausscheidet, füllt seine Energiespeicher durch Vermehrung des Fettgewebes. Dies muss durch die Menge zugeführter Nahrung reguliert werden. Auf den Regelmechanismus „Appetit“ scheint jedoch wenig Verlass zu sein (Energiebilanz siehe Kap. 51.5.1).

Definition Aus der Formel „Körpergewicht in kg/(Körpergröße in m)2“ ergibt sich der BMI (Body-Mass-Index). Das Normalgewicht ist als BMI zwischen 18,5–24,9 definiert. Ein BMI von 25–30 bedeutet Übergewicht (Adipositas Grad I), bis 39,9 starkes Übergewicht (Adipositas Grad II), und ab einem BMI > 40 darf man von morbider Adipositas (Grad III) sprechen.

Epidemiologie Für das Jahr 2000 wurde ermittelt, dass 56% der US-Amerikaner übergewichtig sind. Die Prävalenz der Adipositas (BMI > 30 kg/m2) betrug dabei 19,8%.

Ätiologie und Pathogenese Eine unausgeglichene Energiebilanz durch zu reichliche Zufuhr von Energieträgern ist die unmittelbare Ursache der Fettsucht (Adipositas). Dahinter steht schwer veränderbares (Fehl-)Verhalten:

■ Wer über lange Zeiträume um jede Nahrungskalorie kämpfen musste, dem fällt es bei plötzlichem Überfluss schwer, das richtige Maß für die Kalorienzufuhr zu finden. ■ Andere Motive als bloße Kalorienzufuhr für die Nahrungsaufnahme sind vermehrtes Essen aus sozialen Gründen, zur Kompensation erlittener Frustrationen oder einfach zur Steigerung des Lebensgefühls (z.B. Zuckerzeug und Alkohol); diese dürften den wesentlichen Grund für die Adipositas als allgemeines Gesundheitsproblem darstellen. ■ Auch familiäre Faktoren sind von Bedeutung: Der genetische Einfluss wird auf ca. 30% geschätzt. Bei adoptierten Kindern, die aus „genetisch dicken“ Familien stammten, wurde festgestellt, dass sie ihre Tendenz zur Adipositas behielten, auch wenn sie in „dünnen“ Familien aufwuchsen; ebenso war die umgekehrte Konstellation feststellbar. Eineiige Zwillinge, die unter sehr unterschiedlichen Nahrungsbedingungen leben, haben die Tendenz, den gleichen BMI zu erreichen.

Morphologie und Komplikationen (Siehe Kap. 51.5.1.)

46.4.2

Unterernährung

Definition Unterernährung resultiert aus einer langfristig zu geringen Kalorienzufuhr und ist – weltweit gesehen – eine häufige Todesursache.

Epidemiologie Die UN-Ernährungsorganisation hat im Jahr 2000 weltweit 826 Mio. unterernährte Menschen gezählt und die Zahl der Hungertoten mit 36 Mio. angegeben.

Ätiologie und Pathogenese

Nach dem vorherrschenden klinischen Bild und der Ätiologie werden verschiedene Begriffe verwendet: ■ Marasmus. Mangelnde Kalorienzufuhr aus äußeren Gründen (Hungergebiete) führt zur Abnahme des Körpergewichts durch Fettverlust und Organatrophie. Körpertemperatur und Blutdruck sind erniedrigt, bei Kindern ist das Wachstum verzögert. ■ Kwashiorkor. Man versteht darunter die aus äußeren Gründen (Hungergebiete) erniedrigte, aber gerade noch ausreichende Zufuhr von Kalorien,

verbunden mit einem kritischen Mangel an Proteinen (z.B. ausschließliche Ernährung mit Kohlenhydraten nach dem Abstillen). In der Folge kommt es zu Hypalbuminämie, Ödemen, Aszites und trophischen Störungen an Haut und Haaren (ein rötlicher Haarton ist typisch). Der Mechanismus einer gleichzeitig entstehenden Fettleber ist noch weitgehend ungeklärt. ■ Kachexie (Auszehrung). Nicht durch äußere Bedingungen erzwungener und nicht beabsichtigter Gewichtsverlust als Folge von Erkrankungen. Ursächlich kann eine Kachexie durch erhöhten Energieverbrauch durch z.B. Hyperthyreose bedingt sein wie auch durch Proteinverlust bei Malabsorption (z.B. zu kurzer Darm nach Darmresektion wegen ausgedehnter Infarzierung). In den hoch entwickelten Gesundheitssystemen wird Kachexie am häufigsten als Folge einer therapeutisch nicht mehr beeinflussbaren Tumorprogression gesehen, bei der es durch im Einzelnen noch nicht völlig klare Änderungen im Stoffwechsel zur Dominanz kataboler Vorgänge kommt. ■ Anorexie. Eine Störung des Essverhaltens mit Ablehnung der Nahrungsaufnahme, z.T. in Verbindung mit willkürlich herbeigeführtem Erbrechen von bereits aufgenommener Nahrung, führt zur starken Reduktion des Körpergewichts. Bei der zurzeit häufig diagnostizierten „Anorexia nervosa“ Jugendlicher kommt es zur Amenorrhö und Rückbildung sekundärer Geschlechtsmerkmale. Die ätiologisch im Bereich der Psychodynamik angesiedelte Störung führt zum gleichen Bild wie die Kachexie. Auch die Sterblichkeit ist mit 10% hoch.

46.4.3

Vitaminmangel

Vitamine sind Bestandteile katalytischer Einheiten oder nichteiweißartiger Bestandteil von Enzymen. Die vier fettlöslichen und neun wasserlöslichen Vitamine (Tab. 46-5) werden vom menschlichen Organismus nicht oder in lediglich geringem Ausmaß gebildet und müssen mit der Nahrung zugeführt werden. Generelle Unterernährung bringt auch einen Vitaminmangel mit sich, wodurch sich die klinischen Bilder überlagern. Manche Formen einseitiger Ernährung führen zu klinisch eindeutigen Bildern (z.B. Skorbut). Einige der Erkrankungen tragen Bezeichnungen aus Sprachkreisen, in denen das ernährungsbedingte klinische Bild häufig ist, z.B. Beri-Beri.

Tab. 46-5 Vitamine: wichtigste Funktionen und Symptome bei Mangel.

(Nacht-)Blindheit, Xerophthalmie (Vitamin-A-Mangel) Vitamin A ist ein fettlösliches Vitamin, das als Retinol (Alkohol), Retinal (Aldehyd) und Retinsäure in dunkelgrünen Blattgemüsen, gelben Gemüsen, Eiern, Butter, Fleisch und v.a. Fischleber vorkommt. Für die Resorption aus dem Darm sind Galle und Pankreasenzyme erforderlich. Ein Vitamin-A-Mangel ist an einer charakteristischen Symptomatik leicht erkennbar und mit weltweit mehr als 200 Mio. Betroffenen der häufigste Vitaminmangel. Vitamin A hält den Differenzierungsgrad und die Integrität von Schleimhäuten aufrecht, v.a. im Urogenitaltrakt und am Auge, wobei die molekularen Mechanismen unbekannt sind.

Klinisch-pathologische Korrelationen Bei Vitamin-A-Mangel ist die Keratinisierung des konjunktivalen Epithels gestört, was zur Augentrockenheit (Xerophthalmie) führt. Im weiteren Verlauf kommt es zur Ulzeration und Erweichung der Hornhaut mit den Folgen Narbenbildung und Erblindung. Jährlich erblinden weltweit durch Vitamin-A-Mangel 250 000–500 000 Menschen (Abb. 46-12). Zahlenmäßig ist hierbei die Wirkung des Vitamins A in der Netzhaut noch nicht berücksichtigt. Hier sind viele Details bekannt. Das in den Stäbchen der Netzhaut vorhandene Sehpigment Rhodopsin ist für die Umsetzung des visuellen Lichtimpulses in einen elektrischen Impuls verantwortlich, v.a. bei reduzierter Lichtmenge. Retinol ist hier eine prosthetische Gruppe, die im Prozess des Sehens verschiedenen Konformationsänderungen unterliegt. Eine Frühmanifestation des Vitamin-A-Mangels ist die reversible Nachtblindheit. Vitamin A verbessert die Immunitätslage. Man hat beobachtet, dass in Regionen mit Vitamin-A-Mangel (manifestiert durch Xerophthalmie) die prophylaktische Gabe von Vitamin A die Infektionsraten in der Population deutlich senkt und insbesondere die Masernsterblichkeit auf die Hälfte reduziert. Allerdings ist bislang völlig unklar, an welcher Stelle im Immunsystem Vitamin A eine Rolle spielt. Eine netzhautbedingte frühe Erblindung (Retinitis pigmentosa) zeigt Symptome wie bei einem Vitamin-A-Mangel. Es handelt sich jedoch um ein genetisches Leiden, bei dem das mit dem Vitamin A interagierende Protein RPE65 defekt ist. Demzufolge nützt eine Vitamin-A-Therapie nichts. Bei dieser Krankheit sind in einem Tiermodell „Heilungen“ durch eine Gentherapie demonstriert worden. Viren mit einem RPE65-Transgen werden in die Augenkammer gespritzt, sodass hier – nach Aufnahme des Gens in die Zellen – das fehlende Protein hergestellt werden kann.

Abb. 46-12

Vitamin-A-Mangel.

Auf der Hornhaut wird das feuchte Konjunktivalepithel durch ein trockenes verhornendes Plattenepithel ersetzt, was zu einem „trockenen Auge“ (Xerophthalmie) führt. Neben den subjektiven Beschwerden kommt es im weiteren Verlauf zur Ulzeration und Infektion, wodurch die Hornhaut erweicht (Keratomalazie; Bild: Arbeitskreis Sehen und Leben, Basel, www.sightandlife.org).

Toxizität von Vitamin A Bei Vitamin A ist auch eine Toxizität bekannt. Überdosierung kann zu neurologischen Schäden und Leberfibrose führen. Bei Schwangeren, die wegen einer Aknetherapie hohe Dosen von Vitamin A zu sich nahmen, wurden Fehlbildungen des Embryos beobachtet.

Pellagra (Vitamin-B-Mangel) Die Substanzen Thiamin (Vitamin B1), Riboflavin (Vitamin B2), Nikotinamid, Folsäure, Pantothensäure, Pyridoxin (Vitamin B6), Biotin, Cobalamin (Vitamin B12) und Pangaminsäure (Vitamin B15) kommen meist gemeinsam vor (Vitamin-B-Komplex). Es handelt sich um wasserlösliche Substanzen, die besonders über Blattgemüse, Getreide, Leber und Milch aufgenommen und im Dünndarm resorbiert werden. Nikotinamid ist Bestandteil verschiedener Koenzyme (NAD und NADP). Es wird zu einem kleinen Teil beim Abbau von Tryptophan im Körper gewonnen, zu einem größeren Teil mit der Nahrung (Muskelfleisch, Fisch, Hefe, Getreide) aufgenommen. Nikotinamid ist stabil gegen Hitze und Oxidanzien. Im Mais ist es in einer gebundenen, nichtresorbierbaren Form enthalten.

Klinisch-pathologische Korrelationen Bei einer Mangelernährung (v.a. wenn Mais der Hauptnahrungsbestandteil ist) sowie bei Alkoholismus, lang dauernder Diarrhö oder chronischen Erkrankungen (Tuberkulose, Leberzirrhose, Tumoren) tritt die als Pellagra bezeichnete Mangelerkrankung auf. Es kommt zu Dermatitis, Diarrhö und Demenz (3D). Dermatitis (Abb. 46-13) und Diarrhö gehen auf eine Atrophie von Haut bzw. Schleimhaut zurück. Die Demenz beruht auf einer Degeneration von Nervenzellen und -bahnen des Rückenmarks.

Abb. 46-13

Pellagra (Vitamin-B-Mangel).

a Scharf begrenzte, depigmentierte, leicht schuppende Veränderung am Hals infolge schwerer Fehl- und Mangelernährung bei Katatonie.

b Die Hautveränderungen der Pellagra treten an sonnenexponierter Stelle auf und beginnen mit einem sonnenbrandartigen Erythem. (Moulagen, hergestellt von Lotte Volger um 1945 in der Dermatologischen Klinik des Universitätsspitals Zürich.)

Skorbut (Vitamin-C-Mangel) Im Unterschied zu den meisten Tierspezies kann der Mensch Vitamin C (Ascorbinsäure) nicht synthetisieren und ist auf eine exogene Zufuhr angewiesen. Vitamin C findet sich in den meisten Nahrungsmitteln, ist jedoch sensibel gegen längere Lagerung oder Erhitzen. Die Mangelkrankheit Skorbut wurde in epidemischem Ausmaß beobachtet, als zahlreiche lange Schiffspassagen üblich waren, bei denen die Seemänner fast ausschließlich von gesalzenem Fleisch und lang gelagerten Getreideprodukten ernährt wurden. Eine Prophylaxe war mit relativ einfachen Mitteln durch die Zufuhr von Zitrusfrüchten zum Speiseplan möglich – dafür aber mussten zunächst einmal die Zusammenhänge erkannt werden (siehe „zur Orientierung“). Vitamin C ist ein Antioxidans, in seiner Wirkung vergleichbar dem Vitamin E. Dadurch wird z.B. im Darm die Oxidation von Tetrahydrofolat (VitaminB-Komplex) verhindert. Außerdem wird die Absorption von Eisen verbessert. Am besten bekannt ist die Rolle der Ascorbinsäure bei der Kollagensynthese. Zahlreiche Cholin- und Lysinreste müssen posttranslational hydroxyliert werden. Das dazu nötige Enzym enthält zweiwertiges Eisen, was nur in der Gegenwart von Ascorbinsäure erreicht werden kann.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Auswirkungen einer gestörten Kollagensynthese bei Vitamin-C-Mangel sind Blutungen durch mangelnde Stabilität der Gefäßwände, die besonders häufig in der Mundschleimhaut (Abb. 46-14), subperiostal und intrazerebral auftreten. Daneben ist die Wundheilung stark gestört, das Immunsystem behindert und über den fehlenden Schutz des Hydrofolats entsteht eine megaloblastäre Anämie.

Rachitis (Vitamin-D-Mangel) Vitamin D kann im Körper aus Ergosterol zu Vitamin D2 synthetisiert werden. Ergosterol ist in nennenswertem Maß in Getreide, Milchprodukten und Fisch vorhanden. Eine rein endogene Synthese von Dehydrocholesterol zu Vitamin D3 findet in der Basalschicht der Epidermis statt, erfordert aber UV-Strahlen aus dem Sonnenlichtspektrum. Hauptfunktion von Vitamin D ist die Aufrechterhaltung der Serumspiegel von Kalzium und Phosphat (siehe Kap.15.1 und Abb. 15-1). Die aktiven Metaboliten des Vitamins D reagieren mit spezifischen Rezeptorproteinen an der Zelloberfläche und werden in den Zellkern transportiert. In der Dünndarmschleimhaut wird die RNASynthese für das Kalzium bindende Protein stimuliert. Das neu gebildete Transportprotein führt im Zusammenhang mit einer durch das Vitamin D direkt

bedingten Erhöhung der Permeabilität des Bürstensaums zur erhöhten Kalziumaufnahme aus dem Darm.

Abb. 46-14

Skorbut (Vitamin-C-Mangel).

a Schwellung und Blutungen der Mundschleimhaut. b Röntgenbild der Hand mit Demineralisierung und verdünnter Kortikalis (milchglasartige Knochenzeichnung) der Phalangen (Kreis) und metaphysärer Spornbildung (Pfeil) sowie „Trümmerfeldzonen“ in der Wachstumszone (Pfeilkopf). (Bilder: F. Riepe, Klinik für allgemeine Pädiatrie, Christian Albrechts-Universität, Kiel).

Klinisch-pathologische Korrelationen Längerfristiger Vitamin-D-Mangel führt zu hypokalzämischen Krämpfen und Reduktion des Mineralgehalts im Knochen. Beim Erwachsenen wird bei der physiologischen Skeletterneuerung im neugebildeten Osteoid zu wenig Kalzium deponiert, sodass eine Osteomalazie resultiert. Viel schwerwiegender sind Kinder betroffen, da bei ihnen das Skelett noch wächst. Bei voll entwickeltem Bild können die Ossa parietalia des Schädels mit der Hand eingedrückt werden (Kraniotabes). Eine – funktionell nutzlose – überschießende Osteoidproduktion führt zu Stirnhöckern (Frons quadrata). Überschuss an Osteoidbildung und Deformierung der kostochondralen Verbindungen durch Muskelzug an den Rippen hat einen „rachitischen Rosenkranz“ und eine Trichterbrust zur Folge. Die mangelnde Stabilität des Knochens führt zu einer fixierten lumbalen Lordose und Verbiegung der Beine. Prophylaxe und Therapie der Rachitis durch exogene Zufuhr von Vitamin D sind leicht möglich. Bei einer sehr kleinen Zahl von Patienten führen umschriebene genetische Defekte zu einer Vitamin-D-resistenten Rachitis. Hier fehlt der Vitamin-D-Rezeptor an der Zelloberfläche (siehe oben). Zur Therapie müssen sehr hohe Dosen von Vitamin D medikamentös zugeführt werden. Bei Gesunden führt eine extreme, lang dauernde Überdosierung von Vitamin D zu einem gesteigerten Kalziumspiegel im Blut mit sog. metastatischen Verkalkungen und Ausbildung von Nierensteinen.

46.5

Metalle und andere Spurenelemente

Eine Reihe von Metallen sind wichtige Bestandteile von Enzymen und daher, wenn auch häufig nur in kleiner Menge („Spurenelemente“), für die normalen Zell- und Organfunktionen wichtig. Dazu gehören Eisen, Magnesium, Kupfer, Zink, Selen, Chrom, Kobalt, Jod und Fluor. Unter gewissen Umständen kann es zu Mangelzuständen kommen.

Eisen Eisen ist eine essentielle Komponente von Hämoglobin, Myoglobin, Cytochromen, Katalase und Peroxidase. Circa 30% des Eisens ist als Speichereisen an Proteine in Form von Ferritin und Hämosiderin gebunden. Eisen ist in ausreichender Menge in der normalen Nahrung enthalten. Während der frühkindlichen Entwicklung, der Adoleszenz und im Rahmen der Schwangerschaft besteht ein erhöhter Eisenbedarf. Die Eisenresorption aus dem Darm wird durch Ascorbinsäure und andere Säuren gefördert. Eisenmangel ist häufig die Folge von chronischem Blutverlust, mangelhafter Eisenresorption aus der Nahrung (z.B. ist pflanzliches Eisen schlechter resorbierbar als Eisen in tierischen Produkten), erhöhtem Eisenbedarf (Wachstum, Gravidität) oder Malabsorption (z.B. Zöliakie, Morbus Crohn). Folgen sind Eisenmangelanämie (siehe Kap. 21.2.1), erhöhte Infektanfälligkeit (Störung von Immunreaktionen) und verminderte körperliche Leistungsfähigkeit. Bezüglich Eisenvermehrung siehe Hämochromatose (siehe Kap. 32.10.1).

Kalzium Kalzium spielt im Organismus eine wichtige Rolle als Bestandteil des knöchernen Skeletts, bei der Muskelkontraktion und -relaxation, bei Nervenerregung und neuromuskulärer Transmission. Viele Zellfunktionen (z.B. Enzymsysteme) sind kalziumabhängig. Kalzium findet sich in großer Menge in Milch und Milchprodukten, Eiern und pflanzlicher Nahrung. Der Kalziumhaushalt wird durch die Wirkung von Parathormon und Vitamin D auf Knochen, Niere und Darmmukosa geregelt (siehe Kap. 15.1). Kalziummangel findet sich bei Mangelernährung und bei erhöhtem Bedarf (Knochenwachstum im Kindesalter, Gravidität). Er äußert sich in erhöhter neuromuskulärer Erregbarkeit und Tetanie.

Magnesium Magnesium stellt im Organismus neben Kalzium und Phosphat einen wichtigen Knochenbestandteil dar. Intra- und extrazellulär hat es mit Kalzium vergleichbare Funktionen. Magnesium ist reichlich in der Nahrung vorhanden. Ein Magnesiummangel kann bei massiven Diarrhöen entstehen. Die klinischen Erscheinungen entsprechen weitgehend dem Kalziummangel.

Kupfer Kupfer ist eine wichtige Komponente verschiedener Enzyme (z.B. Cytochrom-COxidase). Es wird aus dem Darm resorbiert und hauptsächlich über die Galle und nur in geringem Maße über den Harn ausgeschieden. Kupfermangel ist selten und findet sich nur bei schwerer Mangelernährung, Malabsorption und lang dauernder Diarrhö sowie bei genetisch bedingter Störung der Kupferresorption. Folgen des Kupfermangels sind Anämie, Leukopenie, Störung der Knochenbildung und zentralnervöse Störungen als

Folge einer Myelinbildungsstörung. Bezüglich Kupfertoxizität bei Kupferüberschuss siehe Morbus Wilson (Kap. 32.10.2).

Zink Zink ist ein wichtiger Bestandteil von Enzymen, die eine Rolle im Protein- und Nukleinsäurestoffwechsel spielen. Es findet sich in ausreichendem Maße in der Nahrung. Eine Mangelsituation kann bei Mangelernährung, gestörter Resorption sowie erhöhtem Verlust (z.B. bei Darmfisteln) entstehen. Zinkmangel führt zu Wachstumsverzögerung bei Kindern, zu Infertilität, Störung der Wundheilung und Hautveränderungen.

Selen Selen spielt eine Rolle bei der Prävention von Zellmembranschäden durch freie Radikale. Bei Selenmangel kommt es zu Myopathien von Herz- und Skelettmuskulatur. Ursachen sind selenarme Nahrung, Malabsorption und inadäquate parenterale Ernährung.

Chrom Chrom spielt im Fett- und Kohlenhydratstoffwechsel eine wichtige Rolle. Bei Chrommangel (z.B. bei lang dauernder, inadäquater parenteraler Ernährung) kommt es zu Glukoseintoleranz und erhöhten Fettsäurespiegeln im Plasma.

46.6 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von genetisch bedingten und erworbenen Stoffwechselerkrankungen Ausgangspunkt bei der Erforschung von Krankheiten war über lange Zeit der morphologische Befund. So ergaben sich bei der Amyloidose durch die Konsistenzveränderung und den färberischen Befund an den Geweben Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Patienten, und es wurde deutlich, dass die Störung auf einem „Zuviel“ (pathologische Speicherung) und nicht etwa auf einem Mangel einer spezifischen Substanz beruhte. Morphologische Phänomene bieten auch heute Ansätze für Therapiestrategien. Die Beobachtung, dass unter Vitamin-A-Mangel die spezifische Differenzierung von Epithelien verloren gehen kann, dient im Umkehrschluss zur Hypothese, dass man durch hoch dosierte Retinoide einen Tumor in eine Differenzierung zwingen könnte, in der das Tumorleiden dann möglicherweise nicht mehr progressiv wäre. Spezifische Stoffwechselerkrankungen werden heute biochemisch diagnostiziert. Diese Analysen sind sehr aufwendig und können wesentlich gezielter begonnen werden, wenn

das Spektrum der möglichen Krankheitsbilder durch die klinische Symptomatik und den morphologischen Befund möglichst weit eingegrenzt wird. Durch eine Leberbiopsie wird z.B. eine – zuvor differentialdiagnostisch erwogene – Glykogenose weitgehend ausgeschlossen, stattdessen aber am gleichen Präparat möglicherweise eine andere Verdachtsdiagnose gestellt. Die genetisch bedingte Form der Eisenspeicherung (Hämochromatose, Kap. 32.10.1) kann in vielen Fällen definitiv an der Morphologie der Leberbiopsie diagnostiziert werden. Die mikroskopische Untersuchung einer Nierenbiopsie, die wegen Proteinurie unter dem Verdacht einer Glomerulonephritis durchgeführt wurde, führt nicht selten zur Diagnose einer Amyloidose. Durch die immunhistochemische Aufklärung der Natur des Fibrillen bildenden Proteins können dann genaue Hinweise auf die zugrunde liegende Erkrankung gegeben werden.

Literatur Scriver, C.R., A.L. Beaudet, W.S. Sly, D. Valle: The metabolic and molecular bases of inherited disease, 8th ed. McGraw-Hill Inc., New York, 2000. Internet: www.ncbi.nlm.nih.gov/0mim/ www.nature.com/ng/supplementary_info/ng0501_92/index.html (die Site zeigt die erfolgreiche Therapie eines Gendefekts im Sehpigment bei Hunden). www.i-sis.org.uk/rice.php (hier werden die Auswirkungen von „golden rice“ zur Prophylaxe des Vitamin-A-Mangels diskutiert).

FRAGEN

1 Warum ist bei verschiedenen Stoffwechselkrankheiten, die mit Speicherung einhergehen, der Ort der Speicherung unterschiedlich (siehe z.B. Morbus Gaucher und Glykogenose)? 2 Oxalose und Zystinose führen zur Niereninsuffizienz. Warum kann bei der Oxalose durch eine Lebertransplantation zusätzlich zur Nierentransplantation der Stoffwechseldefekt geheilt werden und warum ist dies bei der Zystinose nicht möglich 3 Weshalb manifestieren sich einige Stoffwechselkrankheiten erst im Erwachsenenalter, obwohl sie genetisch bedingt sind 4 Warum führen ätiologisch sehr unterschiedliche Krankheiten zu einem gemeinsamen morphologischen Befund, wie das bei der Amyloidose der Fall ist 5 Wie unterscheiden sich die Ablagerungen im Glomerulus bei Amyloidose und bei Diabetes mellitus im mikroskopischen Bild 6 Welche der häufigen Diabetesformen zeigt eine stärkere genetische Komponente Welcher Umweltfaktor ist darüber hinaus wichtig 7 Vitamin-A-Mangel kann zu „unterschiedlichen Formen“ der Erblindung führen. Erläutern Sie die beiden zugrunde liegenden pathogenetischen Mechanismen.

8 Vitamin-D-Mangel ist in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle exogen bedingt. Welcher Defekt liegt bei den genetisch bedingten Formen einer Rachitis vor?

47 Generalisierte immunologische Krankheiten G. Höfler Th. Kirchner 47.1

Autoimmunkrankheiten 1115

47.1.1

Mechanismen der Gewebeschädigung 1115

47.1.2

Entstehung von Immuntoleranz 1116

47.1.3

Pathogenese mangelnder Immuntoleranz 1116

47.1.4

Spektrum der Autoimmunerkrankungen 1116

Rheumatoide Arthritis 1116 Rheumatisches Fieber 1116 47.1.5

Kollagenosen1 1117

Systemischer Lupus erythematodes 1117 Antiphospholipid-Antikörper-Syndrom 1119 Sklerodermie 1119 Dermatomyositis 1120 Polymyositis 1121 Gemischte Bindegewebekrankheit 1121 47.1.6

Systemische nichtinfektiöse Vaskulitiden 1121

47.1.7

Sarkoidose 1121

47.2

Immundefekte des adaptiven Immunsystems 1123

47.2.1

Störungen der B-Zell-vermittelten Immunität 1123

X-chromosomal vererbte Agamma-globulinämie (Bruton-Typ) 1123 Gew.hnliche variable Immundefizienz 1123 Isolierte IgA-Defizienz 1124 47.2.2

Störungen der T-Zell-vermittelten Immunität 1125

DiGeorge-Syndrom 1125

Wiskott-Aldrich-Syndrom 1125 Hyper-IgM-Syndrom 1125 47.2.3

Schwere kombinierte Immundefekte 1126

47.2.4

Erworbene Immundefektsyndrome 1126

47.3 1127

Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Autoimmun-krankheiten

Literatur 1127 Fragen 1128

Zur Orientierung Ein entscheidender Mechanismus zur Bekämpfung von schädlichen Fremdeinflüssen wie z.B. Erregern ist die Fähigkeit des Organismus, zwischen „selbst“ und „fremd“ zu unterscheiden. Diese komplexe Fähigkeit ist bei Autoimmunerkrankungen, bei denen sich Abwehrmechanismen gegen körpereigene Gewebe richten, gestört. Zahlreiche, teils genetisch bedingte Faktoren können dafür verantwortlich sein und sowohl generalisierte als auch lokalisierte Gewebeschädigungen hervorrufen. Vererbte Defekte des Immunsystems sind sehr seltene Erkrankungen, die die B- oder TZell-vermittelte Immunität betreffen. Durch die enge Interaktion dieser beiden Systeme sind jedoch oft beide Funktionen beeinträchtigt. Die Untersuchung der Ursachen dieser Erkrankungen hat entscheidend mitgeholfen, zahlreiche grundlegende Vorgänge der normalen Immunabwehr zu verstehen.

47.1

Autoimmunkrankheiten

Unter Autoimmunität wird eine Immunantwort gegen Komponenten des eigenen Körpers verstanden. Diese Komponenten werden als Autoantigene bezeichnet. Die Immunantwort wird durch autoreaktive T-Zellen oder durch Autoantikörper vermittelt. Sie kann, muss jedoch nicht zu einer Krankheit führen. So hat das Auftreten von Autoantikörpern nicht immer Krankheitswert. Autoreaktive T-Zellen und Autoantikörper werden auch bei gesunden Personen gefunden. Sie können physiologische Funktionen haben, z.B. die Entfernung gealterter Erythrozyten infolge Autoantikörperbeladung. Autoimmunkrankheiten sind Erkrankungen, bei denen pathogenetisch relevante Autoantikörper oder autoreaktive T-Lymphozyten nachweisbar sind. Um die Kriterien einer Autoimmunerkrankung zu erfüllen, muss die Autoimmunreaktion dauerhaft und primär zur Gewebeschädigung führen.

47.1.1

Mechanismen der Gewebeschädigung

Die Mechanismen, die bei Autoimmunerkrankungen zur Gewebeschädigung führen, entsprechen den bekannten Hypersensitivitätsreaktionen. Folgende werden unterschieden: ■ Typ-II-Hypersensitivitätsreaktion. Autoantikörper, die an Zellen binden, schädigen durch Komplementaktivierung, Opsonierung oder Alteration zellständiger Rezeptoren. ■ Typ-III-Hypersensitivitätsreaktion. Immunkomplexe aus Autoantigenen und Autoantikörpern induzieren die Komplementaktivierung. ■ Typ-IV-Hypersensitivitätsreaktion. Autoreaktive T-Zellen wirken direkt zytotoxisch. Interessanterweise sind keine Autoimmunkrankheiten bekannt, die durch eine IgEvermittelte Typ-I-Hypersensitivitätsreaktion hervorgerufen werden.

47.1.2

Entstehung von Immuntoleranz

Die grundlegende Störung bei jeder Autoimmunerkrankung ist die Unfähigkeit des Immunsystems, zwischen Selbst- und Fremdantigenen zu unterscheiden, sodass Selbstantigene wie Fremdantigene behandelt und attackiert werden. Immuntoleranz kann zentral im Rahmen der T-Zell-Reifung im Thymus oder der BZell-Reifung im Knochenmark erworben werden und stellt somit eine Adaptation des Immunsystems an das Individuum dar. Dieser Vorgang ist jedoch unvollständig und ungenügend. Er wird daher durch Mechanismen einer peripheren Immuntoleranz ergänzt. Die Toleranzentwicklung erfolgt übergeordnet im T-Zell-Repertoire, aber auch im B-Zell-System und basiert auf folgenden Mechanismen: ■ Klonale Deletion. Autoreaktive T-/B-Zellen werden während der Entwicklung eliminiert. Im Thymus erhalten T-Zellen mit hochaffinen T-Zell-Rezeptoren gegen Selbstantigene keine Wachstumsüberlebenssignale und sterben durch Apoptose. ■ Klonale Anergie. Autoreaktive T-Zellen, die der klonalen Deletion im Thymus „entkommen“, kommen in der Peripherie in Kontakt mit Zellen, die das entsprechende „Selbstantigen“ tragen. Diese Zellen sind jedoch (im Gegensatz zu professionellen antigenpräsentierenden Zellen) nicht in der Lage, kostimulatorische Signale zu übermitteln. Die T-Zellen werden dadurch anerg, d.h., sie überleben, können aber auch nach Reexposition nicht mehr aktiviert werden. ■ Suppression autoreaktiver Zellen. Autoreaktive Zellen können auch noch durch weitere Mechanismen unterdrückt werden. Zu diesen zählen die Hemmung von T- und B-Zellen durch IL-10, die Unterdrückung autoreaktiver T- und B-Zellen durch

T-Suppressor-Zellen und die Suppression von B-Zellen durch idiotypische/antiidiotypische Netzwerke.

47.1.3

Pathogenese mangelnder Immuntoleranz

Ein Mangel an Immuntoleranz kann verschiedene Ursachen haben. Autoimmunität wird entweder durch ein Fehlen (mangelnder Erwerb) oder einen Verlust (ungenügende Aufrechterhaltung) von Immuntoleranz verursacht. Folgende Mechanismen können zum Verlust der Selbsttoleranz führen: ■ Umgehung der T-Zell-Toleranz. Selbstantigene können durch Mikroorganismen oder Medikamente modifiziert werden und zur Aktivierung von TZellen führen. Die normalerweise fehlenden kostimulatorischen Signale werden durch die gleichzeitig bestehende Entzündungsreaktion „geliefert“. Dies ruft eine Aktivierung der entsprechenden Signaltransduktionskette hervor und führt zur Ausbildung einer zytotoxischen T-Zell-Reaktion. ■ Molekulares Mimikri. Fremde Antigene rufen durch Ähnlichkeit mit körpereigenen Antigenen eine Immunantwort gegen die körpereigenen Strukturen hervor. Sobald die Immunreaktion gegen das fremde Protein in Gang gesetzt wird, wird auch das eigene, ähnliche, erkannt und die Immunreaktion prolongiert, auch wenn das ursprünglich auslösende fremde Antigen nicht mehr vorhanden ist. Beispiele hierfür sind die Kreuzreaktion zwischen Streptokokken-Antigenen der Gruppe A und körpereigenen Antigenen in Gelenken und im Herzen bei rheumatoider Arthritis sowie von Virusantigenen mit Inselzellen beim Diabetes mellitus Typ I. ■ Polyklonale Aktivierung von Lymphozyten. Bakterielle oder virale Superantigene können T-Zell-Rezeptoren direkt (ohne Präsentation über HLAMoleküle) aktivieren und dadurch auch autoreaktive T-Zell-Klone zur Proliferation anregen. Eine polyklonale B-Zell-Aktivierung erfolgt z.B. durch direkte Infektion der B-Zellen mit dem Epstein-Barr-Virus. Autoreaktive B-Zellen werden so zur Bildung von Autoantikörpern angeregt. ■ Imbalance von T-Helfer- und T-Suppressor-Zellen. Sowohl eine Steigerung der T-Zell-Hilfe als auch eine Verminderung der T-Zell-Suppression können zu überschießender B-Zell-Aktivierung und zur Produktion von Autoantikörpern führen. Dies wird z.B. beim systemischen Lupus erythematodes beobachtet. ■ Expression von „kryptischen“ Epitopen. Diese sind normalerweise dem Immunsystem verborgen und werden erst durch Faktoren wie Trauma oder Entzündung zugänglich gemacht. Die meisten derartigen Vorgänge sind nur von einer temporären Immunreaktion begleitet; unter bestimmten Bedingungen versagen jedoch die Mechanismen, die diese Reaktionen unterdrücken sollten. Beispiele hierfür sind Gewebe, die sich erst nach der Fetalperiode entwickeln (wie der Hoden) oder die durch die Blut-Hirn-Schranke dem Immunsystem nicht zugänglich sind. Bei Störung

dieser Barriere kann es zu Autoimmunerkrankungen wie multipler Sklerose oder traumatischer Orchitis kommen. Alle genannten Mechanismen können pathogenetisch zur Entstehung von Autoimmunerkrankungen beitragen, wobei oft mehrere Mechanismen zusammenwirken. Durch die Komplexität der Prozesse lassen sich die Einzelfaktoren für den individuellen Erkrankungsfall häufig nicht genau bestimmen.

47.1.4

Spektrum der Autoimmunerkrankungen

Autoimmunerkrankungen weisen ein weites Spektrum auf. Sie können ein spezifisches Organ oder Gewebe betreffen, z.B. bei der chronischen lymphozytären Thyreoiditis (Hashimoto) oder beim juvenilen (insulinabhängigen) Typ-I-Diabetes-mellitus. Diese Erkrankungen werden im jeweiligen organspezifischen Kapitel näher behandelt. Autoimmunkrankheiten können jedoch auch den ganzen Organismus einbeziehen (systemische Erkrankungen), wie z.B. der systemische Lupus erythematodes. Zwischen diesen Extremfällen liegen Erkrankungen wie das Goodpasture-Syndrom, bei dem die Antikörper gegen Basalmembranstrukturen der Lunge und der Niere gerichtet sind. Eine Übersicht findet sich in Tab. 47-1.

Rheumatoide Arthritis Siehe Kap. 44.2.4.

Rheumatisches Fieber Siehe Kap. 19.4.1.

Tab. 47-1 Spektrum der Autoimmunerkrankungen von organspezifisch bis systemisch. organspezifisch chronische lymphozytäre Thyreoiditis (Hashimoto) Autoimmunhyperthyreose (Morbus Basedow) chronische Nebennierenrindeninsuffizienz (Morbus Addison) perniziöse Anämie insulinabhängiger (juveniler) Diabetes mellitus (Typ I) Myasthenia gravis

autoimmunhämolytische Anämie idiopathische Leukopenie idiopathische Thrombozytopenie (Morbus Werlhof) Goodpasture-Syndrom Pemphigus vulgaris primäre biliäre Zirrhose Sjögren-Syndrom rheumatoide Arthritis rheumatisches Fieber Polymyositis Dermatomyositis Sklerodermie systemischer Lupus erythematodes gemischte Bindegewebekrankheit systemisch

47.1.5

Kollagenosen

Definition Unter diesem Sammelbegriff werden nichtorganspezifische Erkrankungen zusammengefasst, die durch Vaskulitis, fibrinoide Nekrosen und das Auftreten von Autoantikörpern (Tab. 47-2) gekennzeichnet sind. Die Autoantikörper sind meist gegen mehrere Strukturen des Zellkerns gerichtet.

Systemischer Lupus erythematodes Definition Der systemische Lupus erythematodes (SLE) ist eine klassische systemische Autoimmunerkrankung, die in ihrem chronisch rezidivierenden Verlauf alle Organe betreffen kann und besonders an Haut, Gelenken, Nieren und serösen Häuten zu Schädigungen führt. Sie ist durch das Auftreten von Autoantikörpern charakterisiert,

die gegen Zellkernkomponenten (antinukleäre Antikörper, ANA), doppelsträngige DNA (Anti-dsDNA-Antikörper) oder Histone (Anti-Histon-Antikörper) gerichtet sind und keine Organspezifität aufweisen. Daneben können Autoantikörper gegen Protein-Phospholipid-Komplexe (Antiphospholipid-Antikörper) bzw. gegen Erythrozyten, Leukozyten oder Thrombozyten vorkommen. Die Autoantikörper können über Typ-III-Hypersensitivitätsreaktionen (Immunkomplextyp) oder Typ-IIHypersensitivitätsreaktionen (zytotoxischer Typ) Zell- und Gewebeläsionen verursachen.

Epidemiologie Die Inzidenz des SLE beträgt in den USA und Europa 2–8 Erkrankungen auf 100 000 Einwohner/Jahr. Über 85% der Betroffenen sind Frauen, wobei die Altersstufen von 20–40 Jahren überwiegen.

Tab. 47-2 Häufigkeit von Autoantikörpern bei systemischen Autoimmunerkrankungen.

Pathogenese

Kausale Pathogenese. Die Anti-dsDNA-Antikörper und Anti-Histon-Antikörper sind typische Autoantikörper bei SLE. Doppelstrang-DNA und Histone sind Bestandteile der Nukleosomen. Die Nukleosomen entstehen durch die Endonukleaseaktivität als Chromatinbruchstücke bei der Apoptose. Man nimmt heute an, dass Störungen bei Anfall und Abräumen von Apoptosen für die Entstehung des SLE wesentlich sind. So könnten Bestandteile der Nukleosomen eine Autoantigenquelle darstellen, die einen Verlust von Immuntoleranz durch Änderung der Immunregulation autoreaktiver T- und B-Zellen bewirken. Vieles spricht dafür, dass der Prozess der geänderten und zum Toleranzverlust führenden Immunregulation komplex und multifaktoriell beeinflusst ist. Genetische Faktoren (Häufung bei Familien und eineiigen Zwillingen), hormonelle Faktoren (Häufung bei Frauen im Fortpflanzungsalter), Infektion (Assoziation mit humanen Herpesviren) und Umweltfaktoren (Medikamente wie Hydralazin, Procainamid und D-Penicillamin) können für die Pathogenese des SLE bedeutsam sein. Formale Pathogenese. Die meisten Organläsionen erklären sich durch die Bildung und Ablagerung von Immunkomplexen (Typ-III-Hypersensitivität), die

von Autoantigenen und Autoantikörpern gebildet werden und über die Komplementaktivierung eine schwere Entzündung verursachen. So lassen sich DNA-Anti-DNA-Komplexe in kleinen Gefäßen und Glomeruli nachweisen, wo sie eine Vaskulitis oder Glomerulonephritis vom Immunkomplextyp hervorrufen. Die Vaskulitis zeigt fibrinoide Nekrosen der Gefäßwand mit Thrombose oder sekundärer Fibrose und Stenose. Die Anti-dsDNA-Antikörper verursachen die Glomerulonephritis. Zytotoxische Reaktionen (Typ-II-Hypersensitivität) kommen durch Antikörper gegen Erythrozyten, Leukozyten oder Thrombozyten zustande.

Abb. 47-1 Lupusnephritis mit typischem Drahtschlingenphänomen (wire loops).

a Histologie. Deutliche Verdickung der glomerulären Kapillarschlingen (Pfeile), die sich typischerweise in das Mesangium fortsetzen. Außerdem fokale Nekrosen mit einer deutlichen Proliferation des Kapselepithels (Doppelpfeil). PAS-Färbung, Vergr. ca. 250fach. b Immunhistochemie. Darstellung der granulären Ablagerungen von IgG in den Kapillarschlingen und im Mesangium des gleichen Glomerulus (Stufenschnitt). Vergr. ca. 250fach.

Morphologie Krankheitsmanifestation und Gewebeschäden betreffen vor allem Gelenke, Haut, Niere, seröse Häute, Herz und ZNS. ■ Niere. Die Niere zeigt lichtmikroskopisch in 60–70% der Fälle Veränderungen (Abb. 47-1). Sehr häufig sind immunhistochemisch und/oder elektronenmikroskopisch Alterationen erkennbar. Als Pathomechanismus liegt eine Glomerulonephritis vom Immunkomplextyp zugrunde. Dabei wird angenommen, dass sich in situ DNA-anti-DNA-Komplexe ausbilden. Nach der WHO-Nomenklatur sind fünf Reaktionsklassen zu unterscheiden: ↸ Klasse I. Lichtmikroskopisch, immunhistochemisch und elektronenmikroskopisch normale Niere (selten) ↸ Klasse II. Leichte mesangiale Lupusglomerulonephritis (mesangiale Ablagerungen von Immunglobulin und Komplement) ↸ Klasse III. Fokal-segmentale proliferative Glomerulonephritis (weniger als 50% der Glomeruli betroffen) ↸ Klasse IV. Diffuse proliferative Glomerulonephritis (betrifft 40–50% der SLE-Patienten) ↸ Klasse V. Membranöse Glomerulonephritis (meist schwere Proteinurie mit nephrotischem Syndrom). Eine pathognomonische Nierenveränderung gibt es nicht. Die glomerulären Läsionen gehen häufig – vor allem bei Klasse IV – mit tubulointerstitiellen Veränderungen einher. ■ Haut.Der charakteristische Befund ist das schmetterlingsförmige Erythem im Gesicht. Ähnliche Erytheme kommen an Extremitäten und Rumpf vor. Sie werden durch Sonnenlicht verstärkt. Daneben können urtikarielle, bullöse, makulopapuläre und ulzeröse Exantheme auftreten. Histologisch findet man eine Vaskulitis oder perivaskuläre Infiltrate sowie Ablagerungen von Immunglobulin und Komplement an der dermoepidermalen Grenze.

■ Gelenke.Eine Arthritis ist bei SLE häufig und kann jedes Gelenk befallen. Die Synovitis ist mit Auftreten von Neutrophilen und Fibrin verbunden, jedoch nicht destruktiv wie bei der rheumatoiden Arthritis. ■ Seröse Häute. Pleuritis, Perikarditis oder Peritonitis werden bei SLE häufig beobachtet. Akut besteht eine fibrinöse oder mit Erguss einhergehende serofibrinöse Entzündung, die zu Fibrosen und Verwachsungen führen kann. ■ Herz. Außer der Perikarditis kommt eine nichtbakterielle verruköse Endokarditis (Libman-Sacks) vor, die jede Klappe betreffen kann. Selten ist eine Myokarditis. Zudem wird ein gehäuftes Vorkommen von Koronarsklerosen beschrieben. ■ ZNS. Neuropsychiatrische Symptome können auf Intimaproliferationen und Thrombosen kleinerer Gefäße zurückgehen, für die wahrscheinlich Antiphospholipid-Antikörper (siehe unten) bedeutsam sind. ■ Lunge. Selten kommt es zu einer interstitiellen „Lupuspneumonie“ oder Alveolitis mit Übergang in eine chronische interstitielle Lungenfibrose. ■ Andere Manifestationen. Grundsätzlich kann jedes Organ beteiligt sein. Die Autoantikörper gegen Blutzellen bewirken Anämie, Leuko- und/oder Thrombozytopenie als hämatologische Komplikationen.

Antiphospholipid-Antikörper-Syndrom Definition 40–50% der SLE-Patienten entwickeln Autoantikörper gegen Protein-PhospholipidKomplexe. Fälle, bei denen diese Autoantikörper ohne SLE auftreten, werden als primäres Antiphospholipid-Antikörper-Syndrom bezeichnet.

Epidemiologie Es handelt sich vermutlich um die häufigste Autoimmunerkrankung des Weichteilgewebes.

Pathogenese Die Autoantikörper richten sich gegen Plasmaproteine, die mit Phospholipiden Komplexe bilden, z.B. Prothrombin, Annexin V, β2-Glykoprotein I, Protein S und Protein C. Einige dieser Antikörper binden auch das Cardiolipinantigen, das in der Syphilisserologie gebraucht wird, sodass falsch positive Reaktionen vorkommen. Diese „falsch positive“ Reaktion kann diagnostisch für das AntiphospholipidAntikörper-Syndrom genutzt werden.

Morphologie Das Antiphospholipid-Antikörper-Syndrom ist durch eine Hyperkoagulabilität mit gehäuften venösen und arteriellen Thrombosen gekennzeichnet. Arterielle Thrombosen führen vor allem zu zerebralen Ischämien, aber auch zu Herz-, Mesenterial- und Niereninfarkten. Venöse Thrombosen betreffen vorrangig die tiefen Beinvenen, aber auch Niere, Leber und Retina. Darüber hinaus werden gehäuft Aborte, eine verruköse Endokarditis oder eine Thrombozytopenie gefunden.

Klinisch-pathologische Korrelationen Eine exakte Diagnosestellung ist umso wichtiger, da eine gerinnungshemmende Therapie und nicht eine Immunsuppression wie bei anderen Autoimmunerkrankungen zweckmäßig ist.

Sklerodermie Syn.: progressive systemische Sklerose, PSS

Definition Das Kennzeichen dieser Erkrankung ist eine im gesamten Körper anzutreffende Ablagerung von Kollagen, weshalb die Bezeichnung progressive systemische Sklerose (PSS) deskriptiv besser zutrifft. Nach dem vorherrschenden klinischen Erscheinungsbild werden verschiedene Verlaufsformen unterschieden: ■ Die diffuse Sklerodermie ist durch großflächige Hautbeteiligung, frühe Beteiligung innerer Organe (in absteigender Häufigkeit: Gastrointestinaltrakt, Lunge, Niere, Skelettsystem, Speicheldrüsen, Herz, Muskulatur, Nervensystem) sowie einen rasch progredienten Verlauf gekennzeichnet. ■ Die lokalisierte Sklerodermie (auch als Akrosklerose bezeichnet) bleibt lange auf bestimmte Hautregionen (mit Betonung der Akren) beschränkt. Bei der Mehrzahl der Patienten kommt es nach längerem Verlauf schließlich doch zur viszeralen Beteiligung. Als Sonderformen werden eine plaqueartige (Morphaea), eine lineare sowie eine subkutane Form abgegrenzt. ■ Das CREST-Syndrom umfasst den Symptomenkomplex aus Calcinosis cutis, Raynaud-Phänomen, ö(e)sophageale Dysmotilität, Sklerodaktylie und Teleangiektasie. Hautveränderungen stehen bei dieser Verlaufsform nicht im Vordergrund. Die Lebenserwartung ist etwas höher als bei der diffusen Sklerodermie.

Epidemiologie Die Inzidenz beträgt zwischen 0,6 und 1,2 Fälle pro 100000 Einwohner und Jahr. Frauen erkranken fünfmal häufiger.

Ätiologie und Pathogenese Die Ursache der Erkrankung ist unbekannt. Obwohl eine hochgradige Ablagerung von Kollagen besteht, konnte kein Defekt der Kollagensynthese oder des Kollagenabbaus festgestellt werden. Ebenso wenig wurden Mutationen im Bereich der Kollagengene gefunden. Es wird postuliert, dass die Fibrose als Folge einer gestörten Aktivierung des Immunsystems zu betrachten ist. Die Aktivierung von CD4-T-Lymphozyten (Helferzellen) führt zur Ausschüttung von Zytokinen, die ihrerseits Fibroblasten aktivieren und/oder Kapillaren schädigen können. Entzündungsmediatoren wie PDGF (platelet derived growth factor) und TGF-β (transforming growth factor) können die Transkription von Kollagen und anderen extrazellulären Matrixproteinen induzieren. Diese Veränderungen haben als Endstadium eine Fibrose zur Folge. Fast alle Betroffenen weisen antinukleäre Antikörper auf (siehe Tab. 47-2), von denen die Antikörper gegen DNATopoisomerase (Scl 70) fast ausschließlich bei der PSS vorkommen. Zentromerantikörper treten insbesondere bei Patienten mit CREST-Syndrom auf. Das gemeinsame Auftreten beider Antikörper wird nur selten beobachtet.

Morphologie

Veränderungen der Kapillaren und kleinen Arterien finden sich schon in den frühesten Krankheitsstadien, wobei in allen Fällen eine Intimafibrose der Fingerarterien zu beobachten ist. Histologisch zeigen sich in der Anfangsphase ein Ödem mit perivaskulären Infiltraten von CD4-T-Lymphozyten und eine Degeneration von Kollagenfasern. In den Kapillaren finden sich eine Verdickung der Basalmembran und eventuell schon partielle Verschlüsse. Mit Fortschreiten der Erkrankung kommt es zur Vermehrung von Kollagenfasern und schließlich zur ausgeprägten Fibrose. Pathogenetisch beteiligt sind durch Entzündungsmediatoren verursachte Endothelschäden, die zur Plättchenaggregation führen. Diese wiederum hat die Freisetzung von PDGF und TGF-β zur Folge. Durch die Verengung der kleinen Gefäße kommt es im Endstadium zu Ischämie und Nekrosen.

Abb. 47-2

Sklerodermie.

a Schmaler kleiner Mund mit senkrecht stehenden Falten, „Tabaksbeutelmund“. b Raynaud-Phänomen. Anfallsartige Verengung der Fingerarterien mit Ischämie der Akren.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Durch den erwähnten Mechanismus können fast alle Organe geschädigt werden. Im Folgenden die wichtigsten Organveränderungen: ■ Haut (zu 100% betroffen). Die Veränderungen beginnen an Akren (insbesondere obere Extremitäten) und Gesicht und schreiten nach zentral fort (Abb. 47-2). Die Epidermis ist verdünnt, die Hautanhangsgebilde atrophieren.

Im Endstadium kann es infolge des Verschlusses der Kapillaren zu Nekrosen, Ulzera und Verlust von Fingergliedern kommen. Ein diagnostisch gut verwertbares Zeichen sind Veränderungen der Nagelbettkapillaren, die mit Auflichtmikroskopie (Kapillaroskopie) untersucht werden können. Die Kapillarschlingen sind im Anfangsstadium deformiert, später veröden sie. ■ Gastrointestinaltrakt (zu 90% betroffen). Die schwerwiegendsten Veränderungen finden sich im Ösophagus. Durch die Fibrose entstehen Schluckstörungen sowie eine Refluxösophagitis, eventuell auch Ulzera. Die Atrophie der Darmmukosa kann Durchfälle und ein Malabsorptionssyndrom verursachen. ■ Lunge (zu 70% betroffen). Gefäßveränderungen stehen im Vordergrund. Sie führen zu pulmonalem Hochdruck. Daneben findet sich eine interstitielle Fibrose. Klinisch zeigen sich eine restriktive Ventilationsstörung sowie Zeichen einer Diffusionsstörung. ■ Skelettsystem (zu 50% betroffen). Eine Synovialitis wird oft in frühen Krankheitsstadien beobachtet. Im Spätstadium findet sich eine Fibrose. ■ Niere (zu 45% betroffen). Auch in der Niere stehen Gefäßveränderungen im Vordergrund. Sie betreffen in erster Linie kleine Arterien und Arteriolen, die eine ausgeprägte Intimafibrose (Abb. 47-3) und eine Proliferation der Intimazellen aufweisen. Die Glomeruli zeigen keine spezifischen Veränderungen. Klinische Folge der Gefäßveränderungen ist ein arterieller Bluthochdruck. Ein terminales Nierenversagen zählt zu den häufigsten Todesursachen bei PSS. ■ Speicheldrüsen (zu 15% betroffen). Die fortschreitende Fibrose führt zu Xerostomie und Xerophthalmie (Tränendrüse). ■ Muskulatur (in 10% betroffen). Die relativ seltene Myositis ist den Veränderungen bei Polymyositis (siehe unten) sehr ähnlich. ■ Herz (in weniger als 10% betroffen): Myokardfibrose, Perikarditis mit Perikarderguss sowie Gefäßveränderungen werden relativ selten beobachtet. Klinisch zeigen sich Herzinsuffizienz und Arrhythmien.

Dermatomyositis Definition Diese seltene Erkrankung ist durch eine Entzündung und segmentale Nekrose der Muskulatur und eine gleichzeitige Dermatitis charakterisiert. Sie kann isoliert, aber

auch im Rahmen anderer Autoimmunerkrankungen auftreten; daneben wird sie auch als paraneoplastisches Syndrom beobachtet.

Abb. 47-3 Veränderungen der Nierengefäße bei Sklerodermie.

Stanzzylinder aus der Niere mit einer mittelgroßen Nierenarterie. Diese zeigt eine ausgeprägte stenosierende Intimafibrose (Pfeile). HE, Vergr. ca. 60fach.

Ätiologie und Pathogenese

Antinukleäre Antikörper werden bei einem Drittel der Patienten gefunden (siehe Tab. 47-2). Relativ spezifisch sind Antikörper (Jo-1) gegen die Histidyl-TransferRNA-Synthetase. Daneben kann noch eine Vielzahl anderer Autoantikörper auftreten. Obwohl die genauen Ursachen der Erkrankung unbekannt sind, scheinen Kapillaren der Hauptangriffspunkt der Autoimmunreaktion zu sein. Die Entzündungsreaktion führt zu Gefäßverschlüssen, die lokalisierte Nekrosen der Muskulatur zur Folge haben. Eine nennenswerte Infiltration durch Lymphozyten im Bereich der Muskeldegeneration wird nicht beobachtet.

Morphologie Histologisch findet sich eine fokale, manchmal auch ausgedehnte Infiltration durch Lymphozyten mit deutlicher Betonung um Kapillaren. Wegen der oft fokalen Infiltration schließen Muskelbiopsien ohne wesentliche inflammatorische Veränderungen das Vorliegen einer Dermatomyositis nicht aus. Typisch sind das Auftreten von perifaszikulären atrophischen Muskelfasergruppen sowie eine Verminderung intramuskulärer Kapillaren. Muskelfasernekrosen führen zu einer Erhöhung der Kreatinphosphokinase im Blut.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Charakteristisch ist das Erythem im Gesichtsbereich, das als „fliederfarben“ beschrieben wird. Daneben finden sich auch Erytheme im Bereich der Streckseiten der Arme und Finger. Die Muskelveränderungen äußern sich klinisch als plötzliche Muskelschwäche und Druckschmerzhaftigkeit mit Betonung proximaler Muskelgruppen. Später kommt es zu Atrophie, Kontrakturneigung sowie in einem Teil der Fälle zu Schluckstörungen durch Beteiligung der Ösophagusmuskulatur. Seltener findet sich eine Beteiligung von Herz, Niere, Gastrointestinaltrakt oder Lunge. Eine immunsuppressive Therapie führt in den meisten Fällen zur Besserung. Die Inzidenz von Karzinomen des Gastrointestinaltrakts ist bei Patienten mit Dermatomyositis erhöht.

Polymyositis Definition Die Polymyositis unterscheidet sich von der Dermatomyositis durch das Fehlen von Hauterscheinungen. Das Muster des Muskelbefalls mit Betonung proximaler Muskelgruppen ist aber sehr ähnlich. Eine Beteiligung anderer Organe wie Herz und Lunge kann ebenfalls vorkommen.

Ätiologie und Pathogenese

Im Gegensatz zur Dermatomyositis scheinen Muskelzellen der direkte Angriffspunkt der Autoimmunreaktion zu sein. CD8-Lymphozyten (zytotoxisch) sind in der Umgebung von Muskelfasern deutlich vermehrt.

Morphologie Im Bereich der geschädigten und der angrenzenden normalen Muskelzellen zeigen sich dichte lymphozytäre Infiltrate (Abb. 47-4). Nennenswerte Gefäßveränderungen werden in der Regel nicht beobachtet. Eine Muskelbiopsie ermöglicht die exakte Diagnosestellung.

Abb. 47-4

Myositis.

Lymphozytäre interstitielle Entzündungsreaktion der quergestreiften Muskulatur. HE, Vergr. ca. 125fach.

Gemischte Bindegewebekrankheit Syn.: mixed connective tissue disease, Sharp-Syndrom

Definition Der Begriff umfasst ein Krankheitsbild, das Symptome des SLE, der Polymyositis sowie der progressiven systemischen Sklerose zeigt. Ob es sich bei diesem Syndrom um eine eigenständige Erkrankung handelt, ist umstritten.

Ätiologie und Pathogenese

Serologisch ist die Erkrankung durch das obligate Auftreten von Autoantikörpern gegen ein Ribonukleoprotein (Anti-U1-RNP) gekennzeichnet (siehe Tab. 47-2).

Morphologie

Die morphologischen Veränderungen entsprechen einer Kombination der zuvor genannten Erkrankungen.

Klinisch-pathologische Korrelationen Klinisch stehen Gelenkbeschwerden, Muskelschwäche und Raynaud-Phänomen im Vordergrund. Auffällig ist das gute Ansprechen auf Steroide. Die Prognose ist besser als bei den vorher erwähnten Erkrankungen, was unter anderem durch das Fehlen von Nierenveränderungen bedingt ist.

47.1.6

Systemische nichtinfektiöse Vaskulitiden

Zu diesen Erkrankungen zählen Wegener-Granulomatose, Panarteriitis nodosa und Hypersensitivitätsangiitis (siehe Kap. 20.5.1 und 36.9.5).

47.1.7

Sarkoidose

Syn.: Morbus Boeck

Definition Die Sarkoidose ist eine generalisierte granulomatöse Entzündung unbekannter Ätiologie mit bevorzugtem Befall von Lymphknoten, Lunge, Haut, Knochen u.a. Sie ist durch das Auftreten von nichtverkäsenden tuberkuloiden Granulomen mit zunehmender Vernarbung gekennzeichnet.

Epidemiologie Die jährliche Neuerkrankungsrate liegt in Deutschland bei 10 Fällen pro 100000 Einwohner. Frauen sind insgesamt häufiger betroffen als Männer.

Pathogenese

Diskutiert wird eine Immunantwort auf noch unbekannte (virale?) Antigene, die wahrscheinlich über den Respirationstrakt in den Organismus gelangen. Eine typische Befundkonstellation beim Sarkoidosepatienten sind: ■ reduzierte Anzahl von T-Lymphozyten im peripheren Blut mit einem verminderten Quotienten von T-Helfer-zellen zu T-Suppressor-Zellen von 0,8: 1 (normal: 2: 1) ■ beeinträchtigte T-Zell-Aktivität in betroffenen Organen mit einem Verhältnis von T-Helferzellen zu T-Suppressor-Zellen von 10: 1 ■ Vorkommen von hyperreaktiven B-Lymphozyten im peripheren Blut. T-Lymphozyten induzieren eine Aktivierung des Makrophagensystems mit Bildung von tuberkuloiden epitheloidzelligen Granulomen zunächst in Lunge und Lymphknoten, später auch in zahlreichen anderen Organen.

Morphologie Es kann nahezu jedes Organ betroffen sein. In 90% manifestiert sich die Sarkoidose intrathorakal. ■ Lymphknoten. Bevorzugt sind die Hiluslymphknoten und die mediastinalen und zervikalen Lymphknoten befallen. Sie sind vergrößert und weisen manchmal

eine lobuläre Schnittfläche auf. Histologisch findet man dicht gepackte, nichtverkäsende Granulome aus Epitheloidzellen und Langhans-Riesenzellen (Abb. 47-5). Die Riesenzellen enthalten z.T laminare Kalzium-Protein-Körper (Schaumann-Körper) oder sternförmige Einschlüsse (Asteroidkörper). Beim chronischen Krankheitsverlauf entwickeln sich eine zunehmende Fibrose und schließlich eine knotenförmige Vernarbung. ■ Lunge. Die Lunge ist meistens betroffen, der Befund ist jedoch häufig unauffällig. Selten findet man 1–2 cm große knötchenförmige Indurationen. Im akuten Stadium können Granulome in der Nachbarschaft von Blut-, Lymphgefäßen und Bronchien nachgewiesen werden, die später vernarben und zum Narbenemphysem mit konsekutivem Cor pulmonale führen können (Abb. 476). ■ Haut. In 5–40% der Fälle liegt eine granulomatöse Dermatitis mit 5 mm großen Läsionen vor. Sind diese im Gesicht lokalisiert, spricht man von Lupus pernio. Das Erythema nodosum kann im Rahmen einer Sarkoidose auftreten. ■ Augen und Parotis. Das sog. Uveo-Parotis-Syndrom (Heerfordt-Syndrom) tritt im Rahmen der Sarkoidose mit einer Häufigkeit von 5–20% auf und ist durch eine granulomatöse Iridozyklitis, Uveitis, Kalkablagerungen in Horn- und Bindehaut sowie durch eine granulomatöse Parotitis gekennzeichnet. ■ Knochen. In 10% der Fälle werden granulomatöse Knochendestruktionen (Ostitis multiplex Jüngling) nachgewiesen. ■ Gelenke. In 15% der Fälle kann eine granulomatöse Arthritis in Sprung-, Knieund Handgelenken die ersten Symptome darstellen. ■ Sonstige Manifestationen. Leber und Milz sind in 20–70% betroffen. Meist handelt es sich dabei um leichte Verläufe, die mit einer Hepatosplenomegalie verbunden sein können. Im Rahmen eines ZNS-Befalls können Hirnnerven betroffen sein. Eine Herzbeteiligung ist extrem selten. Eine akute Sarkoidose mit radiologisch bihilärer Lymphknotenschwellung, Erythema nodosum und Polyarthritis wird als Löfgren-Syndrom bezeichnet.

Abb. 47-5

Lymphknotensarkoidose.

Granulomatöse Lymphadenitis eines Halslymphknotens mit multiplen nichtverkäsenden tuberkuloiden Granulomen. HE-Färbung, Vergr. ca. 60fach.

Abb. 47-6

Lungensarkoidose.

Fortgeschrittenes Krankheitsstadium mit Ausbildung eines Narbenemphysems. HE-Färbung, Vergr. ca. 30fach.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Krankheitssymptome sind zumeist gering ausgeprägt und von der Organmanifestation abhängig. Häufig wird die Sarkoidose zufällig im Rahmen einer Röntgenuntersuchung des Thorax festgestellt, bei der eine bilaterale Hiluslymphadenopathie aufgefallen ist. Viele Patienten suchen den Arzt wegen

Luftnot, Brustschmerzen, Hämoptoe oder wegen Allgemeinbeschwerden wie Fieber, Gewichtsverlust und Nachtschweiß auf. Bei 60–70% der Patienten heilt die Sarkoidose ohne Folgen aus. Bei den Übrigen kommt es zu einer Progression mit Entwicklung einer Fibrose. Zur Diagnosesicherung wird zumeist eine Lymphknotenbiopsie genommen, die eine typische granulomatöse Lymphadenitis zeigt. Differentialdiagnostisch müssen Tuberkulose und andere granulomatöse Erkrankungen ausgeschlossen werden.

47.2

Immundefekte des adaptiven Immunsystems

Immundefekterkrankungen entstehen durch das Fehlen oder durch eine Funktionsstörung einer oder mehrerer Komponenten des adaptiven Immunsystems. Zu diesen Komponenten zählen in erster Linie B- und T-Lymphozyten und ihre Produkte zur spezifischen Erkennung von Pathogenen, die B- und T-Zell-Rezeptoren. Daneben gibt es auch Störungen der nichtadaptiven Elemente des Immunsystems wie der Phagozyten und des Komplementsystems. Durch Untersuchungen der Immundefekte konnten zahlreiche wichtige Rückschlüsse auf die normalen Funktionen des menschlichen Immunsystems gewonnen werden. Primäre Immundefekte sind genetisch determiniert, sekundäre (erworbene) Immundefekte werden durch exogene Faktoren verursacht. Zu diesen zählen z.B. Medikamente, deren supprimierende Wirkung auf das Immunsystem einerseits eine unerwünschte Nebenwirkung darstellen kann, andererseits z.B. bei Organtransplantationen auch notwendig ist. Weitere erworbene Immundefekte können durch Infektionen (z.B. HIV) oder radioaktive Strahlung verursacht werden. Immundefekte werden traditionellerweise in B- und T-Zell-Defekte unterteilt, wobei jedoch eine strenge Grenzziehung aufgrund des komplexen Zusammenspiels nicht möglich ist (Abb. 47-7). So sind z.B. fast alle T-Zell-Defekte von Störungen der Immunglobulinproduktion begleitet und dann meist nicht von kombinierten Immundefekten zu unterscheiden. Eine detaillierte Klassifikation der Immundefekte findet sich im WHO-Report über Immundefekte (siehe Literatur). Immundefekterkrankungen gehen mit einer erhöhten Infektneigung einher und führen zu wesentlich schwereren Verlaufsformen von Infektionserkrankungen. Bei Defekten des BZell-Systems stehen bakterielle Infekte im Vordergrund, da keine, zu wenige oder zu langsam B-Zell-Rezeptoren bzw. Immunglobuline gebildet werden. Dies führt in erster Linie zu eitrigen Entzündungen wie Pneumonien und Entzündungen im Bereich der oberen Luftwege. Wiederholte Bronchopneumonien bewirken oft irreversible Lungenparenchymzerstörungen und Bronchiektasen. Patienten mit einer Störung der TLymphozyten-Funktion weisen Defekte der zellvermittelten Immunität auf und sind insbesondere empfänglich für Pathogene, gegen die normalerweise eine Immunität erworben wird. Zu diesen zählen „opportunistische“ Mikroorganismen (Candida, Pneumocystis carinii u.a.) und Viren.

47.2.1

Störungen der B-Zell-vermittelten Immunität

X-chromosomal vererbte Agammaglobulinämie (BrutonTyp) Definition Dieser „Modellfall“ einer B-Zell-Defizienz wurde schon 1952 beschrieben und ist durch eine Entwicklungsstörung der B-Zell-Vorstufen gekennzeichnet. Die Patienten produzieren keine reifen B-Lymphozyten, wobei der Block nach dem Rearrangement des Immunglobulinschwerketten-Gens auftritt. Leichtketten werden nicht gebildet, im Serum fehlen IgA, IgM, IgD und IgE vollständig, IgG ist nur in geringen Mengen vorhanden.

Pathogenese Als molekulare Ursache wurde ein Defekt einer Tyrosinkinase (Bruton tyrosine kinase, btk) festgestellt, der eine Störung der Signaltransduktion der BLymphozyten-Vorstufen zur Folge hat. Die Zellen sind dadurch im Prä-B-Stadium blockiert und das Leichtketten-Gen-Rearrangement findet nicht statt. Das Gen für die btk ist am langen Arm des X-Chromosoms im Abschnitt Xq21.2-22 lokalisiert, wodurch der X-chromosomale Erbgang erklärt ist. Männliche Patienten überwiegen.

Klinisch-pathologische Korrelationen Lymphknoten und Tonsillen sind deutlich verkleinert, das mukosaassoziierte lymphatische Gewebe (MALT) ist unterentwickelt. Plasmazellen fehlen vollständig. Die Erkrankung manifestiert sich erst im Alter von ca. sechs Monaten, da die Kinder bis zu diesem Zeitpunkt noch durch mütterliche Antikörper geschützt sind. Die Betroffenen erkranken an bakteriellen Infekten, hervorgerufen durch Erreger, die normalerweise nach Antikörperbindung durch Phagozytose unschädlich gemacht werden. Durch den Mangel an neutralisierenden Antikörpern kann es auch zu erhöhter Anfälligkeit gegenüber Virusinfektionen kommen. Daneben besteht eine Tendenz zur Generalisation von Virusinfektionen des Gastrointestinaltrakts. In der Regel werden jedoch Virusinfektionen sowie Infektionen mit Pilzen oder Parasiten durch das funktionsfähige T-Zell-System beherrscht. Interessanterweise besteht ein gesteigertes Erkrankungsrisiko für Autoimmunerkrankungen wie SLE und Dermatomyositis. Der Defekt kann durch hohe Dosen intravenös verabreichter Gammaglobuline teil- und zeitweise ganz kompensiert werden.

Gewöhnliche variable Immundefizienz Definition Unter diesem Sammelbegriff wird eine heterogene Gruppe von Erkrankungen zusammengefasst. Die Diagnose beruht in erster Linie auf dem Ausschluss anderer definierter Ursachen für einen Antikörpermangel. Es werden sowohl sporadische als auch familiäre Formen beobachtet, wobei allerdings kein einfaches Vererbungsmuster vorliegt. Eine Assoziation mit bestimmten HLA-Haplotypen wurde beschrieben.

Pathogenese Der gemeinsame Nenner ist eine Hypogammaglobulinämie, die meist alle Antikörperklassen betrifft. Diese tritt zum Teil erst im Adoleszentenalter oder noch später auf, manchmal auch als Folge einer Epstein-Barr-Virus-Infektion. Die Patienten weisen im Gegensatz zur X-chromosomal vererbten Agammaglobulinämie vom Bruton-Typ eine normale B-Lymphozyten-Zahl auf, entwickeln jedoch ebenfalls keine Plasmazellen.

Abb. 47-7

Immundefekte des adaptiven Systems.

Morphologie Die B-Zell-Areale des lymphatischen Systems sind hyperplastisch, wahrscheinlich aufgrund eines fehlenden Rückkopplungsmechanismus. Die zugrunde liegenden molekularen Defekte sind noch nicht bekannt.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die klinische Symptomatik beruht wie bei der X-chromosomal vererbten Agammaglobulinämie vom Bruton-Typ auf dem Antikörpermangel und ist mit dieser weitgehend identisch. Beide Geschlechter sind jedoch gleichermaßen betroffen, und das Manifestationsalter liegt in der Kindheit oder der Adoleszenz. Es besteht ebenfalls ein erhöhtes Erkrankungsrisiko für Autoimmunerkrankungen, insbesondere für die perniziöse Anämie. Darüber hinaus zeigt sich ein erhöhtes

Erkrankungsrisiko für maligne Lymphome. Therapeutisch werden wie bei der Agammaglobulinämie vom Bruton-Typ intravenös Gammaglobuline verabreicht.

Isolierte IgA-Defizienz Definition Die isolierte IgA-Defizienz stellt den häufigsten Defekt des humoralen Immunsystems dar und betriffteine von 600–800 Personen. Die Betroffenen weisen extrem niedrige Serum-IgA-Spiegel auf und produzieren auch fast kein sekretorisches IgA. Die Zahl der IgA-positiven Lymphozyten ist meist normal, sie können jedoch nicht zu IgA-Plasmazellen differenzieren. Die molekulare Ursache hierfür ist nicht bekannt.

Klinisch-pathologische Korrelationen Erstaunlicherweise sind die betroffenen Personen meist völlig gesund, bei nur wenigen treten gehäuft sinonasale, intestinale und urogenitale Infektionen auf. Diese sind durch den fehlenden Schutz des IgA als hauptsächliches Immunglobulin der Schleimhäute bedingt. Bei einem Teil der Patienten besteht auch ein zusätzlicher Mangel an einzelnen oder mehreren IgG-Subklassen. Diese Patienten sind gehäuft von Infekten betroffen. Ein Teil der Patienten besitzt Antikörper gegen IgA, was bei Transfusionen zu u.U. tödlichen anaphylaktischen Reaktionen führen kann. Auch bei der isolierten IgA-Defizienz wird ein gehäuftes Auftreten von Autoimmunerkrankungen beschrieben.

47.2.2

Störungen der T-Zell-vermittelten Immunität

Die Gruppe von Erkrankungen mit gestörter T-Zell-vermittelter Immunität ist sehr inhomogen.

DiGeorge-Syndrom Definition Die Patienten mit dieser nichthereditären Erkrankung weisen zusätzlich zum Fehlen der T-Lymphozyten charakteristische Defekte auf, die durch eine fehlerhafte Entwicklung der 3. und 4. Schlundtasche bedingt sind (siehe auch Kap. 15.4).

Pathogenese Als zugrunde liegende Störung findet sich eine Deletion im Bereich der 22q11Region. Heterozygotie für diese Deletion findet sich im velokardiofazialen Syndrom, das bis auf die Thymushypoplasie ein ähnliches klinisches Bild zeigt.

Ein ähnliche Störung wird auch in einem transgenen Mausmodell beobachtet (gezielte Ausschaltung eines Homeobox-Gens).

Klinisch-pathologische Korrelationen Die T-Zell-Defizienz wird durch Fehlen oder Hypoplasie des Thymus hervorgerufen. Dies bedingt ein vermehrtes Auftreten von viralen Infektionen und Mykosen. Plasmazellen kommen in normaler Menge vor. Ob eine zusätzliche Störung der Immunglobulinproduktion vorliegt, hängt vom Schweregrad des TZell-Defekts ab. Zusätzlich zur Störung des Immunsystems finden sich eine Tetanie (durch ein Fehlen der Nebenschilddrüse bedingt), Fehlbildungen des Herzens und des Aortenbogens sowie eine charakteristische Fehlbildung des Gesichtsschädels (Hypertelorismus, tief sitzende Ohrmuscheln, Verkürzung des Philtrums).

Wiskott-Aldrich-Syndrom Definition Das Wiskott-Aldrich-Syndrom zeichnet sich durch Immundefekte, Ekzemneigung und Thrombozytopenie aus und wird X-chromosomal vererbt. Neben einer Verminderung der T-Lymphozyten findet sich auch ein Mangel an IgM, weshalb die Erkrankung teilweise auch zu den kombinierten Immundefekten gerechnet wird.

Pathogenese Der Gendefekt ist im Bereich Xp11.23 lokalisiert. Das entsprechende Protein (WASP, Wiskott-Aldrich-Syndrom-Protein) ist ein Faktor in der Signaltransduktion, die in hämatopoetischen Zellen die Regulation des Aktinzytoskeletts steuert. Obwohl der eigentliche pathogenetische Mechanismus unklar ist, könnten sich aus der Kenntnis des Gendefekts neue Therapieansätze ergeben.

Morphologie

Der Thymus ist morphologisch unverändert, die Parakortikalregion der Lymphknoten jedoch verschmälert. Ultrastrukturell fällt eine drastisch reduzierte Zahl von Mikrovilli an den Lymphozyten auf. IgM-Serumspiegel sind vermindert, IgG-Spiegel in der Regel normal, IgA- und IgE-Spiegel oft erhöht (evtl. kompensatorisch).

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Patienten erkranken gehäuft an eitrigen Infekten und entwickeln schwere ekzematöse Hautveränderungen. Des Weiteren zeigt sich eine erhöhte Rate an malignen Erkrankungen, insbesondere malignen Lymphomen.

Hyper-IgM-Syndrom Definition Dieses X-chromosomal vererbte Syndrom ist durch das Fehlen aller Immunglobuline mit Ausnahme von IgM charakterisiert. IgM liegt allerdings in erhöhten Serumkonzentrationen vor. Die B- und T-Zell-Entwicklung läuft normal ab.

Pathogenese Der Defekt beruht auf einem Fehlen der Expression von CD40L, dem Liganden des kostimulierenden Rezeptors CD40. Dies bedingt eine Funktionsstörung der THelferlymphozyten und hat neben dem T-Zell-Defekt auch einen Verlust der „Gedächtnisfunktion“ der B-Lymphozyten zur Folge. Die Aufklärung dieses spezifischen Defekts hat einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der physiologischen Funktion der Interaktion von CD40 und CD40L geleistet.

Morphologie

Aufgrund der fehlenden T-Helfer-Funktion entwickeln sich in Lymphfollikeln keine Keimzentren, B-Lymphozyten differenzieren nicht zu Plasmazellen und der Immunglobulinklassenwechsel findet nicht statt.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Patienten erkranken gehäuft an bakteriellen und parasitären Infekten. Dies zeigt die Wichtigkeit der CD40-CD40L-Interaktion für die Bereitstellung genügender Mengen von IgG (z.B. für die Opsonierung) und die Entwicklung funktionsfähiger zytotoxischer (CD8+) T-Lymphozyten (Abwehr von Erregern wie z.B. P. carinii). Die überschießende IgM-Produktion kann durch Autoantikörperbildung zu hämolytischen Anämien, Thrombo- und Neutropenien führen. Auch eine massive Proliferation polyklonaler IgM-produzierender lymphoplasmozytoider Zellen kann in späteren Krankheitsstadien Probleme hervorrufen.

47.2.3

Schwere kombinierte Immundefekte

Syn.: SCID, severe combined immunodeficiency disease

Definition Unter diesem Sammelbegriff werden Erkrankungen zusammengefasst, die durch genetisch bedingte Defekte sowohl der humoralen als auch der zellvermittelten Immunität bedingt sind. Die Patienten erkranken daher schon im frühen Lebensalter an zahlreichen schweren bakteriellen, viralen und parasitären Infekten.

Pathogenese Die zugrunde liegenden Defekte sind sehr unterschiedlich, betreffen meist jedoch Funktionen der T-Lymphozyten. ■ X-chromosomal vererbte Form. Die Ursache der häufigsten Form der SCID (über 50%) liegt in Mutationen der γ-Kette mehrerer Zytokinrezeptoren. Dadurch fällt die Funktion von Zytokinen aus, die als Wachstumsfaktoren für die Entwicklung und Funktionsfähigkeit von T- und B-Lymphozyten unentbehrlich sind. Die Zahl der T-Lymphozyten und die Immunglobulinsynthese sind hochgradig vermindert. ■ Adenosin-Deaminase(ADA)-Defekt. Die häufigste autosomal-rezessiv vererbte Form der SCID wird durch den Defekt eines Enzyms des Purinabbaus verursacht. Die Ansammlung der Stoffwechselmetaboliten dATP und dGTP ist für die lymphatischen Stammzellen besonders toxisch, da sie einen Mangel an Enzymen aufweisen, die in anderen Zellen für den Defekt kompensatorisch einspringen. ■ Purin-Nukleotid-Phosphorylase(PNP)-Defekt. Diese (seltenere) Form einer Purinabbaustörung zeigt im Wesentlichen den gleichen Phänotyp wie die ADADefizienz. Seltenere autosomal-rezessiv vererbte SCID-Formen: ■ Defekte des IL-2-Gens zeigen eine mildere Verlaufsform. ■ Defekte der Jak-3-Kinase, einer Komponente der Signaltransduktionskette der γ-Rezeptor-Untereinheit, zeigen eine schwere Verlaufsform. ■ Defekte der ZAP-70-Kinase führen zu einem Fehlen von CD8-TLymphozyten. Die Kinase spielt in der T-Zell-Rezeptor-Signaltransduktion eine Rolle. ■ Defekte im T-Zell-Rezeptor/CD3-Komplex haben ebenfalls eine Reduktion der CD8-T-Lymphozyten zur Folge. ■ Für das Rearrangement des T- und B-Zell-Rezeptors ist eine Rekombinase verantwortlich. Mutationen von Genen, die diese Rekombinase aktivieren, blockieren T- und B-Lymphozyten in ihrer Entwicklung, da sie das GenRearrangement verhindern. ■ Mutationen von Transkriptionsfaktoren, die die Expression von MHCMolekülen der Klasse II verhindern, blockieren die Entwicklung von CD4-TLymphozyten, da diese von der Antigenpräsentation durch MHC-II-Moleküle im Thymus abhängig ist.

■ Derzeit unbekannte Störungen liegen der schweizerischen Agammaglobulinämie (Defekt der lymphatischen Stammzelle) und der retikulären Dysgenesie (Defekt der hämatopoetischen Stammzelle) zugrunde. Alle diese Defekte und die Veränderungen in analogen Maus-knock-out-Modellen haben sehr viel zur Aufklärung der normalen Funktion des Immunsystems beigetragen. Die Kenntnis der zugrunde liegenden pathogenetischen Mechanismen ist für das Verständnis der Komplexität des Immunsystems von großer Bedeutung, obwohl die meisten Erkrankungen sehr selten sind.

Morphologie

Die histologischen Veränderungen entsprechen dem jeweiligen zugrunde liegenden Defekt. Thymus und andere lymphatische Organe und Gewebe sind hypoplastisch, wobei die T- und/oder B-Regionen betroffen sind.

Klinisch-pathologische Korrelationen Eine Knochenmarktransplantation ist in den meisten Fällen die einzige Therapiemöglichkeit. Bei der ADA-Defizienz besteht auch die Möglichkeit einer Enzymsubstitution. Diese Erkrankung hat insofern Berühmtheit erlangt, da bei Patienten mit ADA-Defizienz zum ersten Mal eine Gentherapie in der Humanmedizin durchgeführt wurde. Zu diesem Zweck wurden Knochenmarkstammzellen mit einem Vektorkonstrukt transfiziert, das eine normale Kopie der ADA enthielt, und diese Stammzellen dem Patienten rücktransfundiert.

47.2.4

Erworbene Immundefektsyndrome

Definition Sekundären Defekten des Immunsystems liegen andere Grunderkrankungen oder die Einwirkung von Umweltfaktoren zugrunde.

Ätiologie Immunglobulinmangel kann z.B. durch Proteinverluste in das Darmlumen bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen und durch großflächige Hautdefekte bei Verbrennungen verursacht werden. Auch führen maligne B-Zell-Lymphome bzw. Plasmozytome zu sekundären Defekten des Immunsystems, die durch den Ausfall der jeweiligen Funktion bedingt sind. T-Lymphozyten-Defizienz wird z.B. durch Chemo- oder Strahlentherapie bei malignen Erkrankungen verursacht. Proteinmangel ist, weltweit gesehen, sicherlich die häufigste Ursache eines Immundefekts im Kindesalter. Im Erwachsenenalter stehen Infektionserkrankungen

(v.a. AIDS, siehe Kap. 48.1.5) sowie Tumorerkrankungen im Vordergrund (v.a. maligne Lymphome, aber auch Karzinome).

47.3 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Autoimmunkrankheiten Die Diagnostik von Autoimmunerkrankungen basiert in erster Linie auf klinischen Parametern. Sie ist durch die oft uncharakteristischen Beschwerden zu Beginn der Erkrankung, die oft überlappenden Symptomatiken und uncharakteristische laborchemische Parameter erschwert. Dies lässt sich z.B. bei Betrachtung der Tab. 47-2 erkennen: Zahlreiche Typen von Autoantikörpern treten bei unterschiedlichen systemischen Autoimmunerkrankungen auf, keiner davon ist für nur eine infrage kommende Krankheit spezifisch. Nur durch das „Muster“ der Autoantikörper lassen sich Rückschlüsse auf den Erkrankungstyp ziehen. Auch die pathologisch-anatomischen Veränderungen sind oftmals bei unterschiedlichen Erkrankungen gleich. So finden sich bei zahlreichen Erkrankungen initial Gefäßveränderungen in Form von Ödemen mit perivaskulären Infiltraten von CD4T-Lymphozyten und eine Degeneration von Kollagenfasern, gefolgt von Verdickungen der Basalmembran von Kapillaren. Der Endzustand ist durch eine Vermehrung von Kollagenfasern und schließlich eine ausgeprägten Fibrose geprägt. Typische Nierenveränderungen wie die Verdickung der glomerulären Kapillarschlingen, die sich in das Mesangium fortsetzt, fokale Nekrosen mit einer Proliferation des Kapselepithels sowie granuläre Ablagerungen von IgG in den Kapillarschlingen und im Mesangium finden sich in erster Linie beim systemischen Lupus erythematodes, sind aber prinzipiell auch bei anderen generalisierten Autoimmunerkrankungen (v.a. in fortgeschrittenen Stadien) möglich.

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FRAGEN 1 Was versteht man unter Autoimmunität? 2 Welche Mechanismen führen bei Autoimmunerkrankungen zu Gewebeschädigungen? 3 Können genetische Faktoren Autoimmunerkrankungen begünstigen? Wenn ja, wie? 4 Welche pathogenetischen Mechanismen können zu einem systemischen Lupus erythematodes führen? Welche Organe sind in erster Linie betroffen, welche morphologischen Veränderungen werden gefunden?

5 Welche Formen der Sklerodermie werden unterschieden, und wodurch sind sie charakterisiert? 6 Erklären Sie die Pathogenese und Morphologie der Dermatomyositis. Wodurch unterscheiden sich Dermatomyositis, Polymyositis und die gemischte Bindegewebekrankheit? 7 Welche klinischen Veränderungen weisen auf eine Immundefekterkrankung hin? 8 Welche Typen der genetisch bedingten gestörten B-Zell-vermittelten Immunität kennen Sie, und wodurch sind sie verursacht? 9 Welche Typen der genetisch bedingten gestörten T-Zell-vermittelten Immunität kennen Sie, und wodurch sind sie verursacht? 10 Gibt es genetisch bedingte Störungen, die sowohl die B- als auch die T-ZellAntwort betreffen? Wenn ja, wie lässt sich dies erklären? 11 Wodurch kann ein erworbener Immundefekt verursacht werden? 12 Welches sind die Indikationen zur morphologischen Untersuchung der in diesem Kapitel beschriebenen Krankheiten? Welche Untersuchungen sind indiziert? 13 Welchen Beitrag können diese Untersuchungen zur präzisen Diagnostik und zur Planung der Therapie leisten?

48 Infektionskrankheiten W. FEGELER H. HERBST 48.1

Infektionskrankheiten durch Viren 1130

48.1.1

Virus-Zell-Wechselwirkung 1131

48.1.2

Virusinfektion 1132

48.1.3

Abwehrmechanismen 1133

48.1.4

Diagnostik einer Virusinfektion 1133

48.1.5

Virale Infektionskrankheiten 1134

Erkrankungen durch RNA-Viren 1134 Erkrankungen durch DNA-Viren 1137 48.2

Infektionskrankheiten durch Bakterien 1139

48.2.1

Morphologie der Bakterien 1139

48.2.2

Aufbau eines Bakteriums 1139

48.2.3

Pathogenese 1142

Pathogenitäts- und Virulenzfaktoren 1142 Adhäsion, Invasion und Ausbreitung 1142 Antiphagozytäre Faktoren 1143 Exo- und Endotoxine von Bakterien 1143 48.2.4

Abwehrmechanismen 1143

48.2.5

Klinik 1143

48.2.6

Akute bakterielle Infektionskrankheiten 1143

Staphylokokkenbedingte Erkrankungen 1143 Streptokokkenbedingte Erkrankungen 1145 Erkrankungen durch gramnegative Kokken1146

Erkrankungen durch gramnegative Stäbchenbakterien1146 Erkrankungen durch grampositive Stäbchenbakterien1148 Erkrankungen durch sporenbildende Bakterien1149 Erkrankungen durch Aktinomyzeten1150 48.2.7

Chronische bakterielle Infektionskrankheiten 1150

Syphilis (Lues)1150 Leptospirosen1151 Borreliosen1151 Mykobakteriosen1151 48.3

Infektionskrankheiten durch Pilze 1156

48.3.1

Morphologie der Pilze 1156

48.3.2

Abwehrmechanismen 1156

48.3.3

Einteilung der Mykosen 1157

Oberflächliche Mykosen1157 Subkutane Mykosen1157 Tiefe Mykosen1157 48.3.4

Candidosen 1158

48.3.5

Kryptokokkose 1158

48.3.6

Aspergillose 1159

Akute invasive pulmonale Aspergillose1160 Aspergillom und Pseudoaspergillom1160 Sinunasale Aspergillosen1161 Allergische Formen der Aspergillose1161 48.3.7

Mukormykose – Zygomykose 1161

Akute rhinozerebrale Mukormykose1161

48.3.8

Pneumozystose 1161

48.3.9

Außereuropäische Mykosen 1161

48.4

Infektionskrankheiten durch Protozoen 1162

48.4.1

Abwehrmechanismen 1162

48.4.2

Erkrankungen durch Rhizopoden 1163

Amöbiasis1163 48.4.3

Erkrankungen durch Sporozoen 1163

Malaria1163 Toxoplasmose1164 48.4.4

Erkrankungen durch Flagellaten 1165

Leishmaniose1165 Trypanosomiasis1165 48.5

Erkrankungen durch Helminthen 1166

48.5.1

Abwehrmechanismen 1166

48.5.2

Erkrankungen durch Zestoden 1166

Zystizerkose (Taeniasis)1166 Echinokokkose1167 48.5.3

Erkrankungen durch Nematoden 1167

Trichinellose1167 Filariosen1167 48.5.4

Trematoden 1168

Schistosomiasis1168 48.6 1168

Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Infektionskrankheiten

Literatur 1170 Fragen 1170

Zur Orientierung Infektionskrankheiten sind erregerbedingte Erkrankungen mit einer Vielzahl komplexer Wechselwirkungen zwischen Erreger und Patienten einerseits und, im Falle einer Therapie, zwischen Erreger und antimikrobieller Substanz sowie zwischen antimikrobieller Substanz und Patienten andererseits (Abb. 48-1). Das Verhältnis des Menschen zum Mikroorganismus lässt sich durch die Begriffe Empfänglichkeit, Disposition und Immunität charakterisieren. ■ Empfänglichkeit definiert, ob der Mensch überhaupt als Wirt für einen bestimmten Erreger in Frage kommt. ■ Disposition beschreibt, in welchem Ausmaß der einzelne Mensch für einen Erreger zu einem gegebenen Zeitpunkt empfänglich ist. Sie stellt somit ein individuelles Maß der Widerstandsfähigkeit dar, das z.B. durch Mangelernährung oder Stoffwechselerkrankungen vermindert sein kann. Faktoren, die von Seiten des Wirts Infektionen begünstigen, werden auch als prädisponierende Faktoren bezeichnet, wobei für verschiedene Erreger zumeist auch unterschiedliche Prädispositionen bestehen. ■ Immunität ist das Ergebnis einer erregerspezifischen erworbenen Infektionsabwehr. Das Verhältnis des Mikroorganismus zum Menschen wird durch die Begriffe Infektiosität, Pathogenität und Virulenz charakterisiert. Dabei lassen sich qualitative und quantitative Eigenschaften voneinander trennen (Tab. 48-1). Die infektiologischen Merkmale eines Mikroorganismus einerseits und die Abwehrmechanismen des Menschen andererseits bestimmen, ob es zu einer Infektion und danach zu einer Erkrankung kommt, und prägen die morphologischen Veränderungen. Die antimikrobielle Chemotherapie unterliegt Einflüssen seitens des Erregers (Resistenz) und seitens des Patienten (Resorption, Metabolisierung). Doch nicht nur für den einzelnen Menschen, sondern auch für die Gemeinschaft können Infektionserkrankungen eine ernste Gefährdung darstellen (Epidemien, Seuchen), der der Gesetzgeber mit einer gestaffelten Meldepflicht (Verdacht, Erkrankung, Tod) in § 6 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) für Erkrankungen Rechnung trägt. Ergänzt wird dies durch die Meldepflicht des direkten und indirekten Nachweises von Erregern gemäß § 7 IfSG. Leiter von Einrichtungen der pathologisch-anatomischen Diagnostik gehören zu dem in § 8 IfSG benannten Personenkreis, der zur namentlichen Meldung gemäß §§ 6 und 7 IfSG verpflichtet ist. Da nicht alle meldepflichtigen Erkrankungen und Sonderbedingungen des IfSG im Folgenden besprochen werden, sei hier beispielhaft für bakterielle Erreger auf Tab. 48-2 und die Internetadresse zur Einsicht ins IfSG hingewiesen (www.bmgesundheit.de).

Nur bei wenigen Krankheitsbildern sind das klinische Bild, die Symptomatik und der Verlauf so charakteristisch, dass eine direkte Zuordnung zu einem Erreger möglich ist (spezifische Krankheitsbilder, z.B. Masern, Windpocken, Diphtherie, Typhus abdominalis). In den meisten Fällen handelt es sich jedoch um unspezifische Krankheitsbilder, bei denen verschiedene Krankheitserreger und teils auch nichtinfektiöse Erkrankungen differentialdiagnostisch berücksichtigt werden müssen (z.B. Hepatitis, Sepsis, Meningitis). Dabei ist zu beachten, dass unter Therapie sowie Immunsuppression auch typische Krankheitsbilder atypisch verlaufen können. Aufgrund von diagnostischen und therapeutischen Gemeinsamkeiten liegt diesem Kapitel, in dem auf wesentliche systemische Infektionskrankheiten eingegangen wird, eine erregerbezogene Systematik zugrunde. Krankheiten, in deren Verlauf nur ein Organ befallen wird, und differentialdiagnostische Überlegungen werden hingegen in den verschiedenen Organkapiteln abgehandelt.

48.1

Infektionskrankheiten durch Viren

Viren sind obligate Zellparasiten. Sie sind keine Lebewesen im strengen Sinne, da ihnen ein eigener Energie- und Synthesestoffwechsel fehlt und sie nicht in der Lage sind, sich eigenständig zu vermehren. Sie sind somit auf die Nutzung der Syntheseleistungen fremder Zellen angewiesen. Dies haben sie mit Viroiden und Prionen gemeinsam und unterscheidet sie von allen übrigen mikrobiellen Erregern (Bakterien, Pilze, Protozoen, Würmer). Sie bestehen aus nur einer Nukleinsäureart, RNA oder DNA. Diese ist umgeben von einem Schutzmantel aus Protein, dem Kapsid, mit seinen Untereinheiten, den Kapsomeren. Ihre Größe liegt zwischen 25 und 300 nm (Abb. 48-2). Das Kapsid schützt das genetische Material des Virus vor schädigenden Umweltfaktoren (Nukleasen, Strahlen). Einige Viren besitzen eine Hüllmembran, die von der Wirtszelle (Zellmembran, Kernmembran oder endoplasmatisches Retikulum) stammen kann und viruskodierte Proteine einschließt.

Abb. 48-1 Wechselwirkungsdreieck zwischen Patient, Mikroorganismus und antimikrobieller Therapie.

Orientierend lassen sich Viren nach ihren Zielzellen in bakterienpathogene (Bakteriophagen), pflanzenpathogene sowie tier- und menschenpathogene (animale) Viren unterteilen. Die eigentliche Einteilung der Viren erfolgt nach Art und Struktur ihres Genoms und ihrer weiteren Struktur (Tab. 48-3).

Tab. 48-1 Infektiologische Merkmale eines Mikroorganismus(nach Kliewe und von Wasielewski).

Tab. 48-2 Meldepflichtige bakterielle Erkrankungen (Verdacht, Erkrankung, Tod) gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 1 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG; Auszug – im Bedarfsfall ist wegen weiterführender Bestimmungen das IfSG zu beachten: www.bmgesundheit.de sowie www.rki.de). Meldepflichtig ist das Auftreten einer bedrohlichen Krankheit oder von zwei oder mehr gleichartigen Erkrankungen, bei denen ein epidemischer Zusammenhang wahrscheinlich ist oder vermutet wird, wenn dies auf eine schwerwiegende Gefahr für die Allgemeinheit hinweist und Krankheitserreger als Ursache in Betracht kommen, die nicht in § 7 IfSG genannt sind. nichtnamentliche Meldepflicht Dem Gesundheitsamt ist unverzüglich das gehäufte Auftreten nosokomialer Infektionen, bei denen ein epidemischer Zusammenhang wahrscheinlich ist oder vermutet wird, als Ausbruch nichtnamentlich zu melden

48.1.1

Virus-Zell-Wechselwirkung

Das Viruskapsid hat bei nackten Viren neben der Schutzfunktion insbesondere die Aufgabe, über Liganden-Rezeptor-Bindungen die infektiöse Nukleinsäure in die Zielzelle einzuschleusen. Bei umhüllten Viren ist die Hülle in diese Aufgaben mit einbezogen. Kommt es zu einer Reproduktion des Virus im Wirt, spricht man von einer produktiven Infektion. Dabei nimmt das Virus die Syntheseleistungen der Wirtszelle in Anspruch, was zur Veränderung oder zum Ausschalten des Wirtsstoffwechsels führt. Die produktive Infektion erfolgt vereinfacht in fünf Schritten: 1 Adsorption des Virus an die Zelloberfläche über spezifische LigandenRezeptor-Bindungen. So bindet z.B. das Oberflächenprotein gp 120 des AIDS-Virus spezifisch an den CD4-Rezeptor der Zielzellen (siehe Kap. 4 und 48.1.5). 2

Penetration. Einschleusung des genetischen Materials in die Wirtszelle.

3 Eklipse. Freisetzung der Virusnukleinsäure (Uncoating) und virusinduzierte Synthese von viralen Sofort- und Frühproteinen, Replikation von Virusnukleinsäure, Kapsid- und Hüllmaterial (Spätproteinen). 4

Zusammenbau der Viren aus den vorgefertigten Teilen.

5

Freisetzung der Viren durch Exozytose, Knospung oder Zelllyse.

Nicht jeder Zelltyp besitzt für jedes Virus eine komplementäre Rezeptorstruktur. Fehlt sie, so findet keine Adsorption statt. Dies erklärt teilweise die Wirts- und Organspezifität von Viren. Abhängig von der Natur des Virusgenoms und seinem Aktivitätszustand einerseits sowie der Immunreaktion der infizierten Zelle andererseits unterscheidet man verschiedene Auswirkungen der Virusinfektion auf die Zelle: Produktive Virusinfektion mit zytopathischem/zytozidem Effekt.



□ Irreversible Zellschädigung, Zelllyse und Zellnekrose sind Folgen des durch die Virusreplikation veränderten oder ausgeschalteten Wirtszellstoffwechsels. Es kommt dabei zur Freisetzung von Viren. □ Riesenzellen kommen durch Fusion einkerniger zu mehrkernigen, großleibigen Zellen (Synzytium) zustande. Dieser Vorgang kann durch Virusproteine in der Zellmembran begünstigt werden. □ Milchglashepatozyten entstehen durch eine Vermehrung des endoplasmatischen Retikulums infolge massiv gesteigerter Synthese von Virusproteinen (HBs-Antigen) bei der Virushepatitis B (siehe Kap. 32.4.1) □ Einschlusskörper im Kern (Zytomegalievirus, siehe Kap. 48.1.5, Herpessimplex-Virus) oder im Zytoplasma (Adenoviren) sowie Veränderungen der Kernkontur (eingefaltete Kernmembran der Koilozyten bei Papillom-VirusInfektionen) können zu sehr charakteristischen, z.T. sogar pathognomonischen lichtmikroskopischen Befunden führen. ■

Nichtzytopathische Virusinfektion.

DNA-Viren und Retroviren nach reverser Transkription werden nach einer Infektion nicht vollständig aus dem Körper eliminiert (Persistenz). Sie können in das Zellgenom integriert werden oder als freie virale Nukleinsäure zeitweise oder lebenslang in der Zelle verbleiben. Bei einer latenten Infektion erfolgt keine Produktion von Viren. Latent virusinfizierte Zellen zeigen entweder keine nachweisbare oder aber eine von der lytischen bzw. replikativen Infektion unterschiedliche Genexpression. Durch besondere virale Genprodukte wird die Lebensspanne der latent infizierten Zellen verlängert (z.B. durch Vermeidung der Apoptose oder reduzierte Aktivierbarkeit der Zellen) und ggf. die Aktivität zytotoxischer T-Zellen gehemmt. Eine geringfügige Virusproduktion kann einerseits ohne Schädigung der Zelle ablaufen, andererseits zur chronischen Infektion führen. Beispiele hierfür sind das Herpes-simplex-Virus (HSV) und das VaricellaZoster-Virus (VZV) in neuronalen Zellen oder das Hepatitis-B-Virus (HBV) in Leberzellen.

Abb. 48-2

Struktur und Aufbau von Viren

(nach Brandis). Nähere Erläuterungen siehe Text.

Tab. 48-3 Familien animaler Viren. Durch Schwächung der Abwehr kann es zu einer Reaktivierung der latenten Infektion mit Übergang in eine lytische/replikative Infektion und damit zur Bildung eines Rezidivs kommen (Beispiel: Herpes-simplex-Virus-Infektion). Bestimmte Viren können die Regulation von Differenzierung, Proliferation und Apoptose der infizierten Zellen so beeinflussen, dass die infizierten Zellen immortalisiert (unsterblich) werden. Diese Zellen werden durch spezifische zytotoxische T-Zellen unter Kontrolle gehalten (siehe Kap. 4.15). Versagt diese Abwehr, können die infizierten Zellen proliferieren und ggf. durch Mutationen zu neoplastischen Zellen transformiert werden (onkogene Zelltransformation, siehe Kap. 6.3.3 und 48.1.5). Beispiele hierfür stellen die durch das Epstein-Barr-Virus (EBV) verursachten lymphoproliferativen Erkrankungen bei Immunschwächesyndromen dar.

48.1.2

Virusinfektion

Die virale Infektionskrankheit setzt die Aufnahme und Vermehrung des Virus voraus. Eintrittspforten sind Haut und Schleimhäute sowie der Blutweg.

Die virusbedingten Krankheitsbilder sind mannigfaltig und reichen von klinisch asymptomatischen (subklinisch) bis hin zu letalen Infektionen. Sie können akut oder chronisch, latent, persistierend oder rezidivierend verlaufen. Die Infektion kann zu einer lokalen Schädigung mit Ausbildung eines entzündlichen Ödems und einer Hyperämie (siehe Kap. 3) führen. Ausgehend von einer lokalen Virusinfektion kann es aber auch zum Befall des lymphatischen Systems mit Vermehrung der Viren oder zum Auftreten von Viren im Blut (Virämie) kommen. Meist stehen klinisch Allgemeinsymptome wie Fieber, Abgeschlagenheit und Unwohlsein im Vordergrund. In einem zweiten Schritt erfolgt dann die Infektion des Zielorgans. Da Viren oft bevorzugt oder sogar ausschließlich bestimmte Organe befallen, kommt es zu einer organspezifischen Symptomatik (z.B. Poliomyelitis, Hepatitis), die sich klinisch im Wesentlichen durch die Funktionsstörung des betroffenen Organs bemerkbar macht.

48.1.3

Abwehrmechanismen

Unspezifische und spezifische Infektabwehr führen beim Immunkompetenten zur Elimination virusbefallener Zellen und Viren. Effektoren der unspezifischen Abwehr sind neutrophile Granulozyten und Monozyten, die zur Phagozytose von Viren befähigt sind, sowie Interferon. Virusinfizierte Zellen produzieren vermehrt Interferon(IFN)-α und -β. Unter ihrem Einfluss kommt es zu einem „antiviralen Status“ der Zelle: Durch die Interferonwirkung werden virale Transkription, Translation von Virus-mRNA und Virusreifung gehemmt. Benachbarte nichtinfizierte Wirtszellen werden durch IFN durch Rezeptorblockade vor einer Infektion geschützt. Die Wirkweise der Interferone ist – unabhängig von der Virusart – immer gleich. Virusinfizierte Zellen zeigen darüber hinaus eine verstärkte Antigenpräsentation mittels MHC-Antigenen als Erkennungsmoleküle für immunkompetente Zellen. Ergänzend kommen das Komplementsystem (Opsonierung) und die natürlichen Killerzellen (NK-Zellen) hinzu. Die spezifische virale Infektabwehr setzt nach ca. 3–5 Tagen ein. Ihre humoralen und zellulären Effektormechanismen richten sich sowohl gegen die Viren selbst als auch gegen virusbefallene Zellen. ■ Spezifische humorale Infektabwehr. Sie stellt ein komplexes Geschehen dar, in dem die folgenden Mechanismen in wechselndem Ausmaß eine Rolle spielen: □ Neutralisation von extrazellulären Viren durch spezifische Antikörper (IgM und IgG, an den Schleimhautoberflächen IgA) mit Blockade „kritischer Moleküle“ (Störung der Adsorption etc.) oder mit Komplementaktivierung und Lyse von Viren □ Opsonierung von extrazellulären Viren durch nichtneutralisierende Antikörper und/oder Komplement mit anschließender Phagozytose und

intrazellulärer Lyse. Bei ausbleibender Lyse kann dieser Mechanismus allerdings auch zu einer Infektion von Abwehrzellen (z.B. Monozyten) führen und somit das Wirtszellspektrum und die Ausbreitungsmöglichkeiten der Erreger erweitern □ Lyse von infizierten Wirtszellen durch antikörpervermittelte Komplementaktivierung. Voraussetzung hierfür ist, dass virale Antigene auf der Zelloberfläche exprimiert werden und damit die Zelle für das Immunsystem zu einer Fremdzelle machen. Spezifische zelluläre Immunabwehr. Sie umfasst:



□ die antikörperabhängige zelluläre Zytotoxizität (ADCC) mit Bindung von Killerzellen über den Fc-Rezeptor mit folgender Lyse virusproduzierender Zellen (siehe Kap. 4.1.5) □ die Lyse virusbefallener Zellen durch zytotoxische T-Zellen. Voraussetzungen sind zunächst die Expression viraler Proteine und die Präsentation der Proteine oder von Proteinfragmenten im Kontext mit MHC-Klasse-I-Molekülen auf der Zelloberfläche (siehe Kap. 4.1.6).

Immunpathologie Die Immunantwort gegen Viren kann auf verschiedene Arten zu einer Schädigung und im schwersten Fall zum Tod des Wirtes führen. ■ Virusinduzierte zelluläre Immunreaktion. Zytotoxische T-Zellen können infizierte Zellen zerstören. Abhängig vom Ausmaß der Zellzerstörung kann es zum akuten Organausfall oder zu einer chronisch destruktiven Entzündung (z.B. chronische Hepatitis B) kommen. ■ Virusinduzierte Immunkomplexerkrankungen werden durch zirkulierende Komplexe aus viralen Antigenen und ihren Antikörpern hervorgerufen (z.B. Immunkomplex-Glomerulonephritis bei chronischer Virushepatitis). ■ Virusinduzierte Immunsuppression. Bestimmte Viren können Lymphozyten und antigenpräsentierende Zellen in ihrer Funktion stören oder durch Interferenz sogar zerstören und damit zu einer Abwehrschwäche führen. Es resultieren schwere Infektionsverläufe, die durch opportunistische Keime weiter kompliziert werden.

48.1.4

Diagnostik einer Virusinfektion

Aus der klinischen Symptomatik ergibt sich zunächst eine Verdachtsdiagnose. Das vermutete Virus bestimmt das weitere diagnostische Vorgehen, wie z.B. Virusanzüchtung und Identifizierung in der Zellkultur.

Methoden Serologische Methoden zum Nachweis von viralen Antigenen und Antikörpern stehen diagnostisch im Vordergrund. Direkter Virusnachweis im nativen Untersuchungsmaterial mittels Elektronenmikroskopie erlaubt aufgrund der morphologischen Unterschiede auch oft differentialdiagnostische Aussagen und ist für einige Virusarten als Methode etabliert (z.B. Rotaviren, Herpesviren). Immunhistochemischer Nachweis von Virusproteinen in befallenen Zellen (z.B. Hepatitis-Bs- oder Hepatitis-Bc-Antigen). Als molekularbiologische Methoden zum Nachweis der Virusnukleinsäuren ergänzen sich die verschiedenen Methoden der Hybridisierung und der PolymeraseKettenreaktion (PCR) je nach Aufgaben- und Fragestellung. Liegt die klinisch relevante Konzentration des Virus wie beim Hepatitis-C-Virus unter 104–105 Partikel/Probe, so bleibt der molekularbiologische Nachweis der PCR vorbehalten. Bei persistierenden Virusinfektionen werden für die Beurteilung der aktuellen Situation sowie des antiviralen Therapieerfolges quantitative Methoden (quantitative PCR, Dot-/Slot-Blot-Hybridisierung eingesetzt). Die In-situ-Hybridisierung bietet die Möglichkeit, virale DNA- oder RNA-Sequenzen in Zellen und Geweben nachzuweisen. Die Methode ist auch in formalinfixierten Paraffin- sowie in Gefrierschnitten und in zytologischen Präparaten durchführbar, wobei die Nachweisgrenze mit 10 Virusgenomen/Zelle angegeben wird.

48.1.5 Virale Infektionskrankheiten Erkrankungen durch RNA-Viren Erkankungen durch Picornaviren Humanpathogene Picornaviren – winzige (= pico) RNA-Viren – sind in den Gattungen Enterovirus, Hepatovirus (Hepatitis-A-Virus = HAV; siehe Kap. 32.4.1) und Rhinovirus zu finden. Innerhalb der einzelnen Arten besteht eine große Typenvielfalt. Neben inapparenten Infektionen rufen die Enteroviren – Coxsackie-Viren A und B, ECHO-Viren (= enteric cytopathogenic human orphan) – unspezifische Erkrankungen wie z.B. aseptische Meningitis, Enzephalitis, Ataxie, Myo- und Perikarditis, Pleurodynie, respiratorische Infekte und die „Sommergrippe“ hervor.

Polioviren, die auch zu den Enteroviren zählen, sind die Erreger der Poliomyelitis (siehe Kap. 8.5.7). Mit dem klinischen Bild einer akuten schlaffen Lähmung können auch andere Enterovirusinfektionen, z.B. mit Coxsackievirus A7, Enterovirus 71) verlaufen. Jede akute schlaffe Lähmung, wenn sie nicht traumatisch bedingt ist, ist nach § 6 des IfSG als Poliomyelitisverdacht zu melden. Rhinoviren verursachen insbesondere in den Wintermonaten durch Tröpfcheninfektion Schnupfenepidemien. Ihre große Typenvielfalt (>100) begünstigt Reinfektionen.

Tollwut Zu dieser Gruppe von einsträngigen RNA-Viren gehört das Lyssa- oder Rabiesvirus (griech.: lyssa, lat.: rabies = Wut), der Erreger der Tollwut, einer akuten Enzephalomyelitis. In Mitteleuropa wird das Virus überwiegend über die Fuchstollwut verbreitet. Infektionsquellen für den Menschen sind infizierte Hunde und Katzen. Das Virus befällt periphere Nerven und breitet sich zentripetal in Spinalganglien sowie im Mittel- und Zwischenhirn aus. Histologisch sind 1–10 μm große, eosinophile, intrazytoplasmatische Virusantigeneinschlüsse (sog. Negri-Körperchen) in den Ganglienzellen charakteristisch. Bei jeder Tollwutexposition muss umgehend eine postexpositionelle aktive und eventuell passive Immunisierung erfolgen, da die Erkrankung bei Ausbruch sonst über Koma und Atemstillstand ausnahmslos zum Tode führt (siehe Kap. 8.5.7). Als eine der von Tieren auf Menschen übertragbaren Krankheiten ist die Tollwut als Berufskrankheit anerkannt. Jägern und Angehörigen verwandter Berufe ist die vorbeugende aktive Immunisierung anzuraten.

Erkrankungen durch Paramyxoviren Hierzu gehören die Gattungen Paramyxovirus (Parainfluenza-, Mumpsvirus), Morbillivirus (Masernvirus) und Pneumovirus (respiratory syncytial virus = RSV). Die Parainfluenzaviren Typ 1–4 verursachen insbesondere bei Kindern grippeartige respiratorische Erkrankungen, wobei der Typ 1 häufig mit einem Krupp-Syndrom, der Typ 3 mit (asthmoiden) Bronchitiden und Pneumonien einhergeht. Das Mumpsvirus ist der Erreger der Parotitis epidemica (Ziegenpeter, Mumps). Die Viren befallen zunächst die Epithelzellen und Lymphknoten des oberen Respirationstraktes. Über eine Virämie kommt es zum Befall der Parotiden mit einer interstitiellen lymphoplasmazellulären Infiltration und serofibrinöser (nichteitriger) Exsudation. Eine Mitbeteiligung des ZNS (Meningitis) kann bei 5–10% und eine begleitende Pankreatitis bei ca. 5% der Patienten auftreten. Bei etwa 4% der Patienten mit einer Meningoenzephalitis kann es nach einer Akustikusneuritis zur einoder gar beidseitigen Taubheit kommen. Nach der Pubertät stellen beim Mann die Orchitis und

Epididymitis bei ca. 25% der Erkrankten eine zusätzliche Komplikation mit eventuell nachfolgender Sterilität aufgrund einer Hodenatrophie dar (siehe Kap. 38.1.4). Das Masernvirus ist ein hochkontagiöses Virus, welches über Tröpfcheninfektion zunächst den oberen Respirationstrakt befällt. Im Rahmen einer primären Virämie werden die T-Lymphozyten in den lymphatischen Organen befallen. Durch ein sog. Fusionsantigen verursachen die Viren eine Fusion von antigenpräsentierenden Zellen zu mehrkernigen Warthin-Finkeldey-Riesenzellen (Abb. 48-3). Die sekundäre Virämie aus dem Replikationszyklus der Lymphozyten ist gefolgt von einem Befall der Haut und Mundschleimhaut (Koplik-Flecken) mit einem sich rasch ausbreitenden Exanthem und Enanthem. Beide werden durch eine ausgeprägte Hyperämie sowie eine leichte perivaskuläre lymphozytäre Entzündungsinfiltration verursacht. Schwerwiegende Komplikationen der Erkrankung sind: ■

Masern-Riesenzellpneumonie

■ Akute Masernenzephalitis mit einer Häufigkeit von 0,1%. Hiervon verlaufen jedoch 15% tödlich, und in bis zu 40% bleiben Dauerschäden ■

Subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE).

Das respiratorische Synzytialvirus (RSV) ist weltweit Ursache akuter respiratorischer Erkrankungen. Dabei ist das Erkrankungsbild in der Regel altersabhängig. Bei Kindern zwischen 6 Wochen und 6 Monaten steht eine peripher betonte Bronchiolitis oder Bronchopneumonie (nicht selten mit bakterieller Superinfektion), bei Kleinkindern ein milderer Verlauf und bei Erwachsenen ein grippeartiger oder meist asymptomatischer Verlauf im Vordergrund.

Abb. 48-3

Masernpneumonie

mit einer interstitiellen lymphomononukleären Entzündung in den Alveolarsepten, einem alveolären Ödem und Ausbildung einzelner Riesenzellen (Pfeile) (A = Alveole, Doppelpfeile = Alveolarwand). HE, Vergr. 100fach.

Erkrankungen durch Orthomyxoviren Diese umfassen die Gattung Influenzavirus (Influenza-A- und -B-Viren) sowie eine noch nicht benannte Gattung, zu der Influenza-C-Viren gehören. Influenza-A-Viren sind für Mensch und Tier pathogen und können zu Epi- und Pandemien führen. Vom Influenza-B-Virus sind nur Infektionen beim Menschen bekannt. Das Influenza-CVirus besitzt statt Neuraminidase und Hämagglutinin ein spezielles Glykoprotein und ruft nur vereinzelt milde Erkrankungsbilder hervor. Die Epithelzellen des Respirationstraktes werden von den Influenzaviren bevorzugt befallen. Der Einschleusungsmechanismus der Viren in die Epithelzellen zeigt eine Besonderheit: Zunächst legt das Virus mit Hilfe des Enzyms Neuraminidase den Rezeptor frei und bindet anschließend mit dem Hämagglutinin (virales Lektin) an die Zelle, was zur Einschleusung in die Zelle führt, die nach der Virusreplikation abstirbt. Aufgrund des fragmentierten RNA-Genoms der Influenza-A-Viren kann es bei Koinfektion einer Zelle durch unterschiedliche Influenza-A-Virus-Stämme zum Auftreten neuartiger Virusmutanten mit vollständig veränderten biologischen Eigenschaften kommen (reassortment). Dieser Vorgang, auch als „antigenic shift“ bezeichnet, sowie Punktmutationen mit einer Häufigkeit von 10−3–10−4 sind für die hohe Variabilität der Virulenz und der Antigenstruktur der Influenza-A-Viren verantwortlich und haben in der Vergangenheit zur Ausbreitung von Influenza-AVirus-Erkrankungen in pandemischem Ausmaß geführt. Influenzaviren führen u.U. zu einer schweren hämorrhagischen oder pseudomembranösen Tracheobronchitis (Grippetracheitis, Abb. 48-4). Eine eventuell eintretende hämorrhagische Bronchopneumonie ist mit einer hohen Letalität verbunden. Besonders gefürchtet sind hierbei die sekundären Superinfektionen, z.B. mit Pneumokokken, Staphylokokken und Haemophilus influenzae. Weitere Komplikationen stellen Perikarditis, Myokarditis, Pseudokrupp – v.a. bei Kindern unter einem Jahr – sowie eventuell mit einer gleichzeitigen Einnahme von Acetylsalicylsäure als Kofaktor das Reye-Syndrom (= hepatozelluläres Syndrom) und selten Enzephalopathien dar.

Abb. 48-4

Akute Grippetracheobronchitis

mit Ausbildung einer hämorrhagischen Entzündung der Tracheobronchialschleimhaut (Pfeile).

Erkrankungen durch exogene Retroviren Charakteristikum der Retroviren ist ihr Replikationsmodus. Die retrovirale RNA wird nach Einschleusung in die Wirtszelle mittels viruspartikelassoziierter reverser Transkriptase in eine doppelsträngige DNA (DNA-Provirus) umgeschrieben und in das Genom des Wirts integriert. Die so bestehende latente Infektion kann über Jahre oder Jahrzehnte „folgenlos“ bleiben. Bei einer Reaktivierung wird das provirale Genom in einzelsträngige RNA überschrieben und im Zytoplasma mit Virusproteinen zu einem Virus komplettiert. Das Virus schnürt sich knospenartig von der Zelloberfläche ab und umgibt sich dabei mit einer zytoplasmatischen Hülle der Wirtszelle. In der Familie der Retroviridae gibt es sieben Gattungen, von denen derzeit zwei mit je zwei humanpathogenen exogenen Retroviren von Bedeutung sind: die Gattung

Deltaretrovirus (HTLV-1 und HTLV-2) und die Gattung Lentivirus (HIV-1 und HIV2). Das Deltaretrovirus HTLV-1 (humanes T-lymphotropes Virus) ist in Südjapan und der Karibik endemisch. Es wird durch Sexualkontakte und Blutprodukte übertragen. In den Zielzellen des Virus, CD4-positiven T-Lymphozyten, bewirkt das HTLV-1 eine Störung des Zellzyklus mit der Folge der Proliferation. Nach einer Latenzzeit von vielen Jahren bewirken Mutationen in einzelnen proliferierenden T-Zellen die Transformation zu einem besonderen T-Zell-Lymphom, welches sich auch in Form einer Leukämie manifestieren kann (ATL, „adult T-cell leukemia/lymphoma“). HTLV2 wird mit der Haarzellenleukämie assoziiert.

Erworbenes Immundefektsyndrom Syn.: AIDS (acquired immunodeficiency syndrome) Die Erreger des erworbenen Immundefektsyndroms (AIDS), die humanen Immundefizienzviren (HIV-1 und HIV-2), gehören zur Subfamilie der Lentiviren. HIV-1 ist der häufigste Erreger, wohingegen HIV-2 z.Z. nur lokal in Westafrika und Indien als Erreger eine Rolle spielt. Mittels Sequenzanalyse des Virusgenoms werden beide Viren in verschiedene Subtypen unterteilt. Die Erkrankung läuft nach der Infektion in drei klinischen Phasen ab – dem akuten retroviralen Syndrom, dem asymptomatischen und dem symptomatischen Stadium, welches im Vollbild AIDS fast ausnahmslos tödlich endet. Die Zeit zwischen der Infektion und dem Ausbruch des Vollbildes AIDS variiert mit 4,5–15 Jahren stark. Der Median liegt zur Zeit bei 8–10 Jahren. Ein kleiner Anteil der Infizierten (80 verschiedene HPV-Typen bekannt. Von besonderer Bedeutung sind die tumorassoziierten HPV-Typen (HPV 6, 11, 16, 18, 31, 33, 35, 45), die sich bei Präkanzerosen, auch bei den fakultativ präkanzerösen Condylomata acuminata, dem Larynxpapillom, der zervikalen intraepithelialen Neoplasie (siehe Kap. 39.3.5) sowie dem invasiven Plattenepithelkarzinom der Cervix uteri und des Pharynx nachweisen lassen. Hierbei spielen zwei transformierende HPV-Proteine, E6 und E7, die den Einfluss von Tumorsuppressorgen-Produkten aufheben, bei den HPV-Typen 16 und 18 eine entscheidende Rolle. Je nach Lokalisation und Situation ist beim Nachweis von HPV16 und HPV-18 das Karzinomrisiko um das 15- bis 30fache erhöht (siehe Kap. 6.2.5 und 39.3.5). Die Polyoma-Viren können bei Patienten mit Immundefekten eine hämorrhagische Urozystitis (BK-Virus) sowie selten auch die progressive multifokale Leukenzephalopathie (JC-Virus), eine demyelinisierende ZNS-Erkrankung (siehe Kap. 8.5.7), hervorrufen.

Erkrankungen durch Adenoviren Diese Erreger sind erstmals aus der Rachenmandel (= Adenoide) isoliert worden und tragen daher diesen Namen. Sie verursachen beim Menschen Infektionen im Bereich des oberen Respirationstraktes, der Konjunktiven, der Harnblase und des MagenDarm-Traktes. Von den 47 für den Menschen relevanten Serogruppen lassen sich bestimmte Haupterregertypen verschiedenen Krankheitsbildern zuordnen, so z.B. der epidemischen Keratokonjunktivitis (AV Typ 8, 19, 37), der akuten hämorrhagischen Zystitis (AV 11, 21) sowie der Gastroenteritis (AV 40, 41). Es handelt sich um einen zytoziden Infektionstyp mit Kerneinschlusskörpern und charakteristischen chromophilen Zellnekrosen, die massenhaft Viren enthalten.

Erkrankungen durch Herpesviren Diese Viren (Familie: Herpesviridae) werden nach biologischen Kriterien in die drei Subfamilien der α-, β- und γ-Herpesvirinae eingeteilt. Von Bedeutung sind die folgenden humanpathogenen Herpesviren: ■

α-Herpesvirinae: □ Herpes-simplex-Virus 1 und 2 (HSV 1, HSV 2) □ Varicella-Zoster-Virus (VZV)



β-Herpesvirinae: □ Zytomegalievirus (CMV) □ humanes Herpesvirus 6 (HHV 6) □ humanes Herpesvirus 7 (HHV 7)



γ-Herpesvirinae: □ Epstein-Barr-Virus (EBV) □ humanes Herpesvirus 8 (HHV 8)

Erkrankungen durch Herpes-simplex-Virus 1 und 2 (HSV 1, HSV 2) Die HSV-Erstinfektion verläuft meist inapparent. Die Viren gelangen über periphere Nervenendigungen axonal aufwärts zu den regionalen sensorischen Ganglien, wo sie persistieren. Durch äußere (UV-Licht, Nervenirritationen) und innere Reize (Fieber, Stress, Hormone u.a.) kommt es zur Reaktivierung des Virus und zu seiner neuralen Wanderung in die Peripherie. Dort findet die Virusvermehrung statt, die entweder inapparent verlaufen kann oder zu den charakteristischen klinischen Symptomen, z.B. Herpes labialis, führt. HSV-1-Infektionen manifestieren sich als Gingivostomatitis, Keratokonjunktivitis oder als – meist letal endende – Herpesenzephalitis (siehe Kap. 8.5.7). HSV 2 wird überwiegend sexuell übertragen und verursacht Vulvovaginitis und Herpes genitalis. Besondere Komplikationen stellen der Herpes neonatorum und die Reaktivierung des Virus bei immundefizienten Patienten dar. Morphologisch liegen intraepidermale Blasen mit Entzündungsreaktion der Umgebung vor (Abb. 48-6). Der Blaseninhalt ist infektiös. Die im Exsudat

vorhandenen herpesinfizierten Zellen sind durch ein homogenes Zytoplasma sowie Kerneinschlüsse (Cowdry-Körper) gekennzeichnet.

Erkrankungen durch das Varicella-Zoster-Virus Das hochkontagiöse Varicella-Zoster-Virus (VZV) wird durch Tröpfchen oder Kontakt übertragen. Primär befällt es den Respirationstrakt. Von dort aus erfolgt hämatogen ein Befall des Nasen-Rachen-Raums und der Haut. Die Windpocken – ein makulopapulöses Exanthem, das in mehrkammerige, durch Einschwemmung von Leukozyten trübe Bläschen übergeht – stellen die VZV- Erstmanifestation dar. Durch die schubweise ablaufende Virämie kommt es zum gleichzeitigen Auftreten aller Effloreszenzen. Daneben besteht eine Schwellung der Lymphknoten. Wesentliche Komplikationen sind die Varizellenenzephalitis und meist interstitielle -pneumonie.

Abb. 48-6 Viren.

Blasenbildende Dermatitis durch HSV-1-

Die eosinophilen Kerneinschlusskörperchen (Cowdry-Körper, Pfeile) sind in dieser Vergrößerung gerade eben erkennbar. Die intraepidermale Blase ist mit serösem Exsudat gefüllt. HE, Vergr. 50fach. Von der Haut gelangen die Viren wahrscheinlich über die sensiblen Nervenendigungen in die Spinalganglien, wo sie persistieren können. Bei einer allgemeinen Schwächung der Immunabwehr oder beim Nachlassen der spezifischen Immunität gegen VZV kommt es zum endogenen Rezidiv im zugehörigen Dermatom, zum Herpes zoster (Gürtelrose). Bei Immunsupprimierten, insbesondere bei immunsupprimierten Kindern, können sich nach einer Primärinfektion, selten nach einer Reaktivierung, schwer verlaufende

Krankheitsbilder entwickeln, die unbehandelt mit einer Letalität von 10–30% verbunden sein können. Bei einer Primärinfektion in der Frühschwangerschaft ist mit einem Schädigungsrisiko von 1% zu rechnen. Bei Ausbruch des Exanthems innerhalb des Zeitraums 4 Tage vor bis 4 Tage nach der Geburt beträgt die Häufigkeit einer konnatalen Varizellenerkrankung des Kindes 30%. Die Letalität des Kindes beträgt unbehandelt ebenfalls 30%, weshalb neben einer postexpositionellen Hyperimmunglobulingabe auch eine Aciclovir-Therapie sinnvoll ist.

Zytomegalie Eine Infektion mit dem humanpathogenen Zytomegalievirus (CMV) kann durch Speichel, Urin, Samenflüssigkeit, Muttermilch und Blut erfolgen. Zumeist verlaufen die Infektionen inapparent oder als fieberhafte Infekte mit Lymphadenitis, seltener unter dem Bild einer infektiösen Mononukleose (negative EBV-Serologie). Die perinatale Infektion verläuft in der Regel stumm und ohne Spätschäden. Bei einer pränatalen Infektion im Rahmen einer Primärinfektion der Mutter kann es zu zerebralen (Hydrocephalus e vacuo, Mikrozephalus, Chorioretinitis mit periventrikulären Verkalkungen), viszeralen oder hämatologischen Krankheitsbildern (Hepatitis, Gastroenterokolitis; Anämie, Hämolyse, Thrombozytopenie) kommen. Liegt eine Reaktivierungsinfektion bei der Mutter im Verlauf der Schwangerschaft vor, dominieren beim Kind Hörschäden (ca. 15%), verzögerte Sprachentwicklung und Intelligenzdefekte. Bei Immunsuppression kommt es nicht selten zu einer meist generalisierten CMVReaktivierung mit Entzündung v.a. der Leber, Lunge, Retina, Nieren und Lymphknoten. Histologisch ist die produktive Virusinfektion durch intranukleäre Einschlusskörper (Eulenaugenzellen) charakterisiert (Abb. 48-7).

Humane Herpesviren 6 und 7 Das humane Herpesvirus 6, ein β-Herpesvirus, ist der Erreger des Exanthema subitum (Roseola infantum). Dieses manifestiert sich in den ersten drei Lebensjahren als sog. Dreitagefieber mit einem fleckförmigen Exanthem. Das humane Herpesvirus 7, ein mit dem HHV 6 nahe verwandter Erreger, kann ebenfalls fieberhafte Erkrankungen mit Exanthem verursachen.

Epstein-Barr-Virus (EBV) Das EBV ist ein B-lymphotropes humanes γ-Herpesvirus, das über 90% der Bevölkerung weltweit infiziert. Die Primärinfektion ist gewöhnlich asymptomatisch, sofern sie in der Kindheit erfolgt. Bei verspäteter Primärinfektion im Jugend- und frühen Erwachsenenalter kann das Syndrom der infektiösen Mononukleose (Pfeiffer-Drüsenfieber) auftreten. Das EBV wird per Tröpfcheninfektion über den Oropharynx übertragen („kissing disease“). Dabei kommt es zu einer Infektion von B–Lymphozyten, in denen das Virus lebenslang persistiert. Die Infektiöse Mononukleose ist eine selbstbegrenzende lymphoproliferative fiebrige Erkrankung von gewöhnlich blandem Verlauf, kann allerdings selten mit Organkomplikationen (Hepatitis, Splenomegalie, Milzruptur, Pneumonie, Exantheme u.a) einhergehen.

Abb. 48-7

Zytomegalievirusinfektion

mit einem großen intranukleären Einschlusskörper (sog. Eulenaugenzelle). HE, Vergr. 500fach. Sehr selten sind fulminante, tödliche Verläufe, die vorwiegend Patienten mit angeborenen Immunschwäche-Syndromen (z.B. X-chromosomal vererbtes Lymphoproliferationssyndrom, XLP) betreffen. Versagt die Immunkontrolle der latenten EBV-Infektion, so kann das Virus sein onkogenes Potential entfalten. Mit dem EBV sind das endemische BurkittLymphom, das undifferenzierte Nasopharynxkarzinom, ein großer Teil der Erkrankungen am Hodgkin-Lymphom, insbesondere vom Mischtyp, sowie verschiedene Non-Hodgkin-Lymphome der B- und T-Zell-Reihen und Lymphoproliferationen bei Immunsuppression bzw. Immunschwäche assoziiert.

Humanes Herpesvirus 8 (HHV 8) Für das erst vor wenigen Jahren entdeckte γ-Herpesvirus 8 ist eine geographisch unterschiedliche Durchseuchung der Bevölkerung beschrieben. Bei Patienten mit erworbener Immunschwäche (AIDS) tritt das Virus in Kaposi-Sarkomen und großzelligen B-Zell-Lymphomen, die mit Ergussbildungen der großen Körperhöhlen einhergehen, auf.

48.2 48.2.1

Infektionskrankheiten durch Bakterien Morphologie der Bakterien

Bakterien sind einzellige Mikroorganismen und gehören zu den Prokaryoten. Einige gehören zur physiologischen Flora des Menschen, andere können Erkrankungen hervorrufen. Nach ihrer Gestalt unterscheidet man kugelförmige (Kokken), stäbchenförmige (Bakterien und Bazillen) und schraubenförmige Bakterien (Spirochäten) (Abb. 48-8a). Einige können umweltresistente Sporen bilden (Bazillen, Clostridien), aus welchen unter günstigen Lebensbedingungen wiederum ein vegetatives Bakterium entsteht, das sich dann durch Querteilung vermehren kann. Gestalt und Färbeverhalten der Bakterien in der Gram-Färbung erlauben eine orientierende Einteilung (Tab. 48-4).

48.2.2

Aufbau eines Bakteriums

Im Gegensatz zu den eukaryoten Zellen der Pilze, Protozoen, Pflanzen und Tiere besitzen die prokaryotischen Bakterien statt des Zellkerns ein Kernäquivalent (Nukleoid), das ringförmig geschlossen als stark gefaltetes und teils mehrfach verdrilltes DNA-Molekül frei im Zytoplasma liegt (Abb. 48-8b). Unabhängig vom Nukleoid können Bakterien im Zytoplasma kleinere ringförmige DNA-Stränge (Plasmide) enthalten. Auf ihnen sind unterschiedlichste „Eigenschaften“ kodiert, so z.B. Hämolysine, Toxine, Virulenzfaktoren, antibakterielle Resistenzen. Das Zytoplasma der Bakterien enthält u.a. Ribosomen, Strukturproteine, Enzyme, Ribonukleinsäuren (RNA), Granula mit Polymetaphosphaten, Lipiden und Polysacchariden. Organisierte Strukturen der eukaryoten Zelle, wie z.B. Mitochondrien, endoplasmatisches Retikulum oder Golgi-Apparat, fehlen.

Abb. 48-8a

(nach Seeliger).

Bakterienformen

Tab. 48-4 Einteilung von wichtigen Bakterienarten nach Form und Verhalten in der Gram-Färbung.

Abb. 48-8b

Schematischer Aufbau eines Bakteriums

(nach Brandis). Nähere Erläuterungen siehe Text. Die Zytoplasmamembran besteht aus Proteinen in einer Phospholipiddoppelschicht. Die nach innen liegenden Mesosomen – als Äquivalent zu den Mitochondrien – sind die Orte der Zellatmung. Der periplasmatische Raum bzw. Spalt – zwischen Zellmembran und äußerer Hülle gelegen – enthält Enzyme (z.B. Hydrolasen, Nukleasen, Phosphatasen) sowie Bindeund Transportproteine. Er ist bei den gramnegativen Bakterien im Unterschied zu den grampositiven Bakterien nur gering ausgeprägt. Die Zellwände von gramnegativen und grampositiven Bakterien unterscheiden sich deutlich in ihrem Aufbau. Bei gramnegativen Bakterien besteht die Zellwand aus einer dünnen Peptidoglykanschicht (Murein), die von einer äußeren Membran aus Phospholipiden, Proteinen und Lipopolysacchariden (LPS) umgeben wird. Beim Lipopolysaccharid sind von außen nach innen drei funktionelle Einheiten zu unterscheiden, O-spezifische Kette, Kernpolysaccharid und Lipoid A. Die O-spezifische Kette (O-Antigen) besteht aus 3 bis max. 20 Hexosemolekülen. Sie stellt ein für das Bakterium charakteristisches Oberflächenantigen dar, das die Bildung von spezifischen Antikörpern erlaubt. Während dem Kernpolysaccharid strukturelle Aufgaben zukommen, ist das Lipoid A die eigentliche Komponente des Endotoxins der gramnegativen Bakterien (siehe Kap. 48.2.3). Die grampositiven Bakterien besitzen eine einfache, nur aus einer dicken Peptidoglykanschicht bestehende Zellwand. Ihrer Oberfläche können weitere

Polysaccharide und/oder Proteine aufgelagert sein, so z.B. die C-Substanz und die MProteine bei den Streptokokken oder das Protein A bei den Staphylokokken. Das Peptidoglykangerüst der Mykobakterien weist einen sehr hohen Gehalt an Lipiden und Wachsen auf (ca. 60% des Trockengewichts gegenüber 4% bei grampositiven Bakterien). Dies ist der Grund für die Säurefestigkeit und die hohe Resistenz der Mykobakterien gegenüber sonstigen äußeren Einflüssen und stellt einen wesentlichen Virulenzfaktor dar (siehe Kap. 48.2.7). An ihrer Außenseite können Bakterien zusätzliche Differenzierungen aufweisen: ■ Kapseln sind aus viskösem Material (Polysaccharide oder andere Polymere) und stellen durch ihre antiphagozytäre Eigenschaft einen wesentlichen Virulenzfaktor dar. ■ Flagellen (Geißeln und Kinozilien) sind lange dünne bewegliche Filamente aus kontraktilen Proteinen, die den Bakterien Mobilität verleihen. ■ Fimbrien (Pili) sind kurze starre Filamente der Wand vieler – u.a. gramnegativer – Bakterien, die für adhäsive Eigenschaften der Bakterien mit verantwortlich sind. Einige Fimbrien spielen beim Transfer von DNA-Plasmiden von einem in ein anderes Bakterium eine Rolle (Sexpili). Einige Bakterien, wie z.B. Spirochäten und Mykoplasmen, besitzen einen abweichenden Aufbau. Hier sei auf entsprechende Lehrbücher der Mikrobiologie verwiesen.

48.2.3

Pathogenese

Um eine bakterielle Infektionskrankheit hervorrufen zu können, müssen Bakterien die unspezifische und spezifische Infektionsabwehr des Patienten überwinden und ihre pathogenen Fähigkeiten zum Tragen bringen. Entscheidend sind Art und Ausmaß von Pathogenitäts- bzw. Virulenzfaktoren, die bei Bakterien in unterschiedlichem Maße vorliegen können. Als fakultativ pathogen bezeichnet man Bakterien, die nur bei lokaler, regionaler oder generalisierter Einschränkung der Infektionsabwehr eine Erkrankung hervorrufen können. So z.B. Staphylococcus epidermidis, ein Keim der normalen Hautflora, der jedoch bei immunsupprimierten Patienten verschiedene Krankheiten bis hin zur Sepsis verursachen kann.

Pathogenitäts- und Virulenzfaktoren Pathogenitäts-, Virulenz-, aber auch Resistenzfaktoren können chromosomal, durch Bakteriophagen transduziert oder auf Plasmiden kodiert sein. Plasmide können unabhängig vom Kernäquivalent dupliziert werden, aber auch bei einer Zellteilung

„verloren gehen“. Eine Zelle kann gleichzeitig verschiedene Plasmide besitzen. Von besonderer Bedeutung ist, dass ein Teil von ihnen auf verschiedene Weise an andere Bakterien weitergegeben werden kann: ■ Bei der Transduktion wird das Plasmid irrtümlicherweise mit in die Nukleinsäure des Bakteriophagen eingebaut und auf diese Weise weitergegeben. Dabei wird nicht immer das ganze Plasmid transduziert. ■ Bei der Konjugation kommt es zu einer Plasmidweitergabe durch Zellkontakt über Sexpili, deren Ausbildung durch einen Transferfaktor (TransferPromotionsgen) auf dem Plasmid veranlasst wird. ■ Bei der Mobilisation besitzt das Plasmid statt des Transferfaktors einen Mobilisationsfaktor. Dieser ermöglicht es dem Plasmid, eine durch andere Plasmide veranlasste Konjugation zur Weitergabe seiner DNA an die andere Zelle mit zu nutzen. Bei den Staphylokokken überwiegt die Transduktion, bei den Enterobacteriaceae überwiegen Konjugation und Mobilisation, wobei Art- und Gattungsgrenzen überschritten werden. Die erworbenen „Fähigkeiten“ stehen dem Keim unmittelbar nach Erhalt des Plasmids zur Verfügung. Im Folgenden soll nur auf einige allgemeine Aspekte der Pathogenese eingangen werden. Die Besonderheiten werden bei den verschiedenen Erregern besprochen.

Adhäsion, Invasion und Ausbreitung Die Adhäsion ist zu Beginn einer Infektion und bei luminal vorkommenden Bakterien von besonderer Bedeutung. An ihr sind unterschiedliche Adhäsine, die im Zusammenhang mit Strukturen der Zelloberfläche (Kapseln, Lipoteichonsäure, OAntigene, Pili) stehen, beteiligt. Nicht selten erfolgt innerhalb der gleichen Bakterienart eine Anpassung auf spezielle Zielzellen des Patienten. So besitzen nephrogene E.-coli-Stämme eine andere O-Antigen-Struktur als enteropathogene Stämme. Von den Bakterien sezernierte lytische und zytotoxische Enzyme, wie z.B. Proteinasen (Kollagenasen), Phosphatasen, Fibrolysin, Nukleasen und Hyaluronidase, spielen bei Invasion und Ausbreitung der Erreger eine Rolle. Dabei wird das lokale Krankheitsbild durch das Enzymmuster des Erregers entscheidend mit geprägt.

Antiphagozytäre Faktoren Phagozytosehemmend wirken Exotoxine (Leukozidin und Hämolysine der Staphylokokken und Streptokokken) sowie Oberflächenproteine (M-Proteine der Streptokokken oder Protein A der Staphylokokken) und Kapseln. Letztere, indem sie u.a. die komplementbindende Struktur an der Bakterienoberfläche maskieren. Durch eine hohe Variabilität der Oberfläche, wie bei A-Streptokokken und Gonokokken, kommt die Infektabwehr mittels spezifischer Antikörper kaum zum Tragen.

Exo- und Endotoxine von Bakterien Eine Reihe von Bakterien produziert Toxine, die zu typischen Krankheitserscheinungen führen. Man unterscheidet Exo- und Endotoxine.

Exotoxine Exotoxine sind Proteine und werden überwiegend von lebenden grampositiven Bakterien sezerniert. Sie haben sehr unterschiedliche Angriffspunkte und Wirkungen. Aufgrund ihrer ausgeprägten Antigenität induzieren sie eine Antikörperbildung und können von Antikörpern neutralisiert werden. Nach ihren Angriffspunkten lassen sich unterscheiden: ■ Membranschädigende Toxine, wie Phospholipase C, Hämolysine, Leukozidin u.a. ■ ADP-ribosylierende Toxine, wie Diphtherietoxin, Choleratoxin u.a. ■ Neurotoxine, wie C.-botulinum-Toxin, Tetanustoxin (siehe Kap. 48.2.6). Von besonderer Bedeutung ist eine Gruppe von Toxinen, die als „Superantigene“ wirken. Sie verbinden Makrophagen mit T-Lymphozyten. Dies führt über die Freisetzung großer Mengen von Interleukin-2 und Interferon-γ aus den T-Zellen zur Aktivierung der Zytokinkaskade mit der Folge des toxischen Schocks. Zu diesen Superantigenen gehören u.a. die Exotoxine (Toxic-shock-syndrome-Toxin 1, Enterotoxine und die Exfoliativtoxine A und B) von Staphylococcus aureus und die pyrogenen (erythrogenen) Toxine A und C von Streptococcus pyogenes.

Endotoxine Endotoxine stellen Bestandteile der Zellwand gramnegativer Bakterien dar und werden u.a. bei Abtötung der Bakterien frei. Der aktive Teil ist das Lipid A der Lipopolysaccharide. Endotoxine sind schwache Antigene. Sie verursachen im Organismus eine Reihe von Reaktionen (siehe Kap. 7.10):

■ Aktivierung des Komplementsystems über den klassischen und alternativen Weg (siehe Kap. 3.2.4) ■ Freisetzung lysosomaler Granula von neutrophilen Granulozyten mit folgender Schädigung des Gewebes ■ Aktivierung und Stimulation von Monozyten und Makrophagen, u.a. mit vermehrter Bildung von lysosomalen Enzymen sowie Sekretion von Mediatoren wie Tumornekrosefaktor (TNF), Interleukin-1 (IL-1), colony stimulating factor (CSF), Interferon (IFN) etc. ■ Stimulation der Leukozytopoese ■ Aktivierung des Kinin- und Gerinnungssystems mit Vasodilatation, Permeabilitätsstörungen und Verbrauchskoagulopathie.

48.2.4

Abwehrmechanismen

Die Abwehrmechanismen gegen Bakterien hängen von den pathogenen Wirkmechanismen der Bakterien ab. Bei den meisten bakteriellen Infektionen kommt die unspezifische Abwehr mit ihren Effektoren, den Makrophagen und neutrophilen Granulozyten, zum Tragen. Unterstützend wirken dabei Opsonierung der Bakterien mit spezifischen Antikörpern, Komplementaktivierung und Lyse der Bakterien. Morphologisches Korrelat dieser Abwehrreaktion ist die eitrige Entzündung. Bei nichtinvasiven Keimen, wie z.B. Choleravibrionen und Corynebacterium diphtheriae, steht die humorale spezifische Abwehr im Mittelpunkt mit toxinneutralisierenden und die Bakterienadhäsion blockierenden Antikörpern. Bei obligat intrazellulären Erregern (z.B. bei Mykobakterien) ist die durch T-Zellen und Lymphokine bewirkte Aktivierung von Makrophagen von besonderer Bedeutung. Hier resultiert zumeist eine histiozytär-epitheloide Entzündungsreaktion.

48.2.5

Klinik

Die meisten Bakterien (Streptokokken, Staphylokokken u.a.) verursachen akute und chronische eitrige Entzündungen mit unterschiedlich ausgeprägten Allgemeinsymptomen (z.B. Fieber, Tachykardie) bis hin zum septischen Krankheitsbild. Bei einer Sepsis mit gramnegativen Erregern kann es zum tödlich verlaufenden Endotoxinschock kommen. Eine Sonderform stellt das Waterhouse-FriderichsenSyndrom im Rahmen einer Meningokokkensepsis dar (siehe Kap. 7.10.2).

Zum Spektrum bakterieller Infektionskrankheiten gehören auch chronische granulomatöse Entzündungen (z.B. Tuberkulose) sowie ausschließlich durch bakterielle Toxine verursachte Krankheiten (z.B. Tetanus, Diphtherie).

48.2.6

Akute bakterielle Infektionskrankheiten

Akute eitrige Infektionen werden überwiegend durch Staphylokokken, Streptokokken sowie durch im Krankenhaus erworbene gramnegative Stäbchenbakterien der Familie der Enterobacteriaceae (nosokomiale Infektionen) hervorgerufen. Die Abwehrreaktion gegen diese Keime ist durch eine neutrophil-granulozytäre Exsudation in Form einer abszedierenden oder phlegmonösen Entzündung gekennzeichnet. Abhängig von der Eintrittspforte und dem Erreger sind Haut, Schleimhäute, aber auch innere Organe betroffen. Im Rahmen einer septischen Streuung kann es dabei zu verschiedenen Krankheitsbildern kommen, so z.B. zu Pneumonie, Pyelonephritis, Meningitis, Endokarditis, Osteomyelitis oder sogar Sepsis. Die Erregerdiagnose erfolgt mikrobiologisch.

Staphylokokkenbedingte Erkrankungen Staphylokokken sind grampositive Haufenkokken. Zu ihnen gehören Staphylococcus aureus und die Gruppe der weniger virulenten koagulasenegativen Staphylokokken (CNS).

Staphylococcus aureus Staphylococcus-aureus-Infektionen Pathogenese Staphylococcus aureus besitzt eine Vielzahl von Virulenzfaktoren, die stammbezogen jedoch unterschiedlich ausgeprägt sein können. So sind die Keime mittels Plasmakoagulase und Clumping-Faktor in der Lage, durch Aktivierung von Fibrinogen einen Fibrinschutzwall um sich aufzubauen. Nach ungestörter Bakterienvermehrung wird dieser Wall durch ein keimeigenes Fibrolysin (Staphylokinase) wieder aufgelöst. Weitere Virulenzfaktoren sind z.B. das Protein A mit seiner antiphagozytären Wirkung, das α-Hämolysin (αToxin) mit dermatonekrotisierender und zytotoxischer Wirkung, das Leukozidin mit selektiver Schädigung von Granulozyten und Makrophagen sowie die Enzyme Hyaluronidase, Lipasen, Nukleasen, Proteinasen. Hinzu kommen hochwirksame Toxine (siehe unten).

Klinisch-pathologische Korrelationen Staphylococcus aureus ist die häufigste Ursache eitriger Infektionen der Haut (Furunkel, Karbunkel, Empyeme, Schweißdrüsenabszess, Panaritium,

Wundinfektionen, Mastitis puerperalis). Diese Entzündungen sind morphologisch charakterisiert durch eine zumeist lokale eitrigabszedierende Entzündung. Sekundäre Infektionen (z.B. des Zentralnervensystems, der Niere und der Lunge) können im Rahmen einer hämatogenen Streuung oder Sepsis auftreten. So kann es z.B. beim Nasenfurunkel zu einer Thrombophlebitis der V. angularis kommen. Die Verschleppung von erregerhaltigem thrombotischem Material in den Sinus cavernosus kann dann zu schwerwiegenden zerebralen Komplikationen führen. Selten, aber mit einer hohen Letalität verbunden sind die Staphylococcus-aureus-Pneumonie (Abb. 48-9), die sich meist als sekundär abszedierende Superinfektion nach Viruspneumonien (v.a. nach Influenzapneumonien) entwickelt, und die akute ulzeröse Endokarditis. Die Osteomyelitis dagegen neigt eher zum chronischen Verlauf. Die Gefahr eines irreversiblen septischen Schocks (siehe Kap. 7.10.2) besteht bei jeder Staphylococcus-aureus-Sepsis, wobei neben dem Peptidoglykan das αToxin und das Enterotoxin B teils als „Superantigen“ eine entscheidende Rolle spielen (siehe Kap. 48.2.3).

Toxinvermittelte Staphylococcus-aureusErkrankungen Abb. 48-9 Abszedierende Staphylokokkenpneumonie

mit Ausbildung mehrerer Abszesshöhlen (Pfeile). Beachte im Randbereich der Abszesshöhlen die pyogene Membran. Hier ist nicht der Erreger selbst Krankheitsursache, sondern seine Toxine. ■ Die Staphylokokken-Lebensmittelvergiftung (Enterotoxikose) wird durch hochwirksame Enterotoxine (A, B, C1–3, D) hervorgerufen, welche über kontaminierte Nahrung in den Organismus gelangen und nach wenigen Stunden massives Erbrechen, Kreislaufdekompensation, Fieber sowie in seltenen Fällen eine Diarrhö verursachen. Das Krankheitsbild klingt rasch nach ca. 48 h ohne Spätfolgen ab. Morphologische Veränderungen in der Schleimhaut des MagenDarm-Traktes lassen sich nicht nachweisen. ■ Die toxische epidermale Nekrolyse (staphylococcal scalded skin syndrome) wird durch die Exfoliativtoxine A und B hervorgerufen. Diese Erkrankung kommt hauptsächlich bei Neugeborenen (z.B. Pemphigus neonatorum) in Form einer blasenbildenden Epidermolyse mit Hautnekrose vor. Dabei handelt es sich

um eine intraepidermale Spaltbildung im Gegensatz zur subepidermalen Spaltbildung beim Lyell-Syndrom, der schwersten Form eines akuten Arzneimittelexanthems. ■ Das toxische Schocksyndrom (TSS) wird durch Freisetzung des toxischen Schocksyndrom-Toxins 1 (TSST 1) hervorgerufen, das zur Klasse der Superantigene (siehe oben) gehört. Die klinische Symptomatik ist durch Fieber, Hypotonie, Kreislaufdekompensation und Exanthem charakterisiert. Dabei kann es unter dem Bild eines protrahierten Schocks zum Multiorganversagen kommen. Ein TSS kann jedoch auch durch Enterotoxin B (siehe oben) oder durch die pyrogenen (erythrogenen) Toxine A und C von Streptococcus pyogenes hervorgerufen werden.

Koagulasenegative Staphylokokken (CNS) Die zur physiologischen Flora gehörenden Staphylococcus epidermidis, Staphylococcus haemolyticus und Staphylococcus hominis können bei verminderter Immunabwehr pyogene Krankheitsbilder bis hin zur Sepsis, wie bei Staphylococcus aureus, hervorrufen. Staphylococcus saprophyticus ist – wahrscheinlich aufgrund einer erhöhten Affinität zum Urothel – der Erreger des Dysuriesyndroms bei Frauen und der Urethritis bei Männern. Sowohl Staphylococcus aureus als auch insbesondere Staphylococcus epidermidis besitzen die Fähigkeit, sich an Kunststoffoberflächen (Katheter, Liquorableitungen, künstliche Herzklappen u.a.) anzuheften. Sie sind durch eine extrazelluläre Schleimsubstanz geschützt und können zu rezidivierenden septischen Schüben mit Fieber und Schüttelfrost führen. Eine Sanierung derart befallener Kunststoffflächen ist in den meisten Fällen nicht möglich.

Streptokokkenbedingte Erkrankungen Streptokokken sind grampositive Kettenkokken. Sie werden einerseits nach ihrem Hämolyseverhalten auf Blutagarplatten in β-hämolysierende (vollständige Hämolyse), α-hämolysierende (partielle Hämolyse, Vergrünung) und nichthämolysierende Streptokokken eingeteilt, andererseits nach dem Antigencharakter ihrer C-Substanz, einem Polysaccharid auf der Peptidoglykanwand, in die serologischen Gruppen A–T nach Lancefield (Tab. 48-5). Einen wesentlichen Virulenzfaktor für die Streptokokken in den serologischen Gruppen A, C und G stellen die M-Proteine dar, die „fimbrienartig“ an der Zelloberfläche vorkommen und antiphagozytäre Eigenschaften besitzen. Die hohe Variabilität dieser M-Proteine führt jedoch dazu, dass nur eine stammspezifische Immunität erworben wird mit der Folge, dass Stämme mit anderen M-Typen erneut zu

Erkrankungen führen können. Weitere Virulenzfaktoren sind die Streptolysine O und S mit ihren zellmembranschädigenden Wirkungen sowie die für die phlegmonöse Ausbreitung verantwortlichen Enzyme, Hyaluronidase, Streptokinasen sowie die DNAsen A, B, C und D. Die von einigen Stämmen sezernierten Toxine A, B und C sind für das Scharlachexanthem verantwortlich. Die Streptokokkentoxine A und C verursachen das Streptokokken-Toxin-Schocksyndrom, wobei die entsprechenden Streptokokkenstämme häufig auf ihrer Oberfläche die Proteine M1 und M3 tragen.

Tab. 48-5 Einteilung der Streptokokken.

Streptococcus pyogenes Streptococcus pyogenes gehört zu den pyogenen, β-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe A. Er verursacht v.a. die akute Pharyngitis, Tonsillitis und die Otitis media. Weitere lokale Streptococcus-pyogenes-Infektionen sind die Impetigo contagiosa – meist gemeinsam mit Staphylococcus aureus – und das Erysipel sowie die Phlegmone, deren schwerste Form, die nekrotisierende Fasziitis, mit einem rasch progredienten Verlauf und einer hohen Letalität verbunden ist. Infektionen der inneren Organe umfassen Pneumonie, Empyem, Perikarditis, Peritonitis, Meningitis, Arthritis und Endokarditis (akute und subakute bakterielle Endokarditis,

siehe Kap. 19.4.1). Die Puerperalsepsis („Kindbettfieber“) geht nicht selten von einer Endometritis post partum durch Streptococcus pyogenes aus. Wichtige immunologisch bedingte Folgeerkrankungen eines Streptokokkeninfekts sind akute Glomerulonephritis (siehe Kap. 36.5.1), akutes rheumatisches Fieber (siehe Kap. 48.1.6) mit Befall der mittleren und großen Gelenke sowie der Gefahr einer Endocarditis verrucosa.

Streptococcus agalactiae Der β-hämolysierende Streptococcus agalactiae aus der serologischen Gruppe B ist als Erreger einer Meningitis und einer Sepsis bei Neugeborenen, Säuglingen und immunsupprimierten Patienten von besonderer Bedeutung. Ferner sind Wund- und Harnwegsinfektionen bekannt. Wesentlicher Virulenzfaktor ist die Kapsel.

Streptococcus pneumoniae Die α-hämolysierenden Pneumokokken besitzen keine Gruppenantigene. Sie gehören zur physiologischen Schleimhautflora des Nasen-Rachen-Raumes. Nur Bakterien mit einer Polysaccharidkapsel sind als virulent einzustufen, wobei mehr als 80 Kapseltypen mit unterschiedlicher Virulenz unterschieden werden. Pneumokokken sind die häufigsten Erreger einer primären Pneumonie. Früher dominierte die klassische, auf einzelne Lungenlappen begrenzte Lobärpneumonie, heute dagegen die lobuläre Form einer Pneumonie (Bronchopneumonie, siehe Kap. 24.6.1). Im Rahmen einer septischen Streuung oder ausgehend von einer Otitis media kann es zu einer Pneumokokkenmeningitis kommen, die auch heute noch, trotz antibakterieller Therapie mit Penillicin G, mit einer hohen Letalität verbunden ist. Sie stellt die häufigste bakterielle Meningitis bei Patienten über 40 Jahre dar. Ein besonders hohes Risiko haben splenektomierte Patienten, die aus diesem Grund aktiv immunisiert sein sollten. Weitere Komplikationen einer septischen Streuung können metastatische Absiedlungen in die Gelenke sein.

Vergrünende und nichthämolysierende Streptokokken Vergrünende und nichthämolysierende Streptokokken des Mundraums sind die häufigsten Erreger einer Endokarditis der natürlichen Herzklappen (>50%) sowie wesentliche Erreger der Spätprothesenendokarditis. Sie können sich im Rahmen einer Bakteriämie, u.a. bei rheumatisch vorgeschädigtem Herzen, auf den Herzklappen absiedeln und zu einer Endocarditis lenta (siehe Kap. 19.4.1) führen. Ca. 10% der infektiösen Endokarditiden werden durch Enterokokken hervorgerufen, in den meisten Fällen durch E. faecalis, aber auch andere Enterokokken. Harnwegsinfekte, Mitbeteiligung an Adnexitiden sowie Wundinfektion stellen

weitere Infektionen durch die im Darm von Mensch und Tier natürlich vorkommenden Enterokokken dar.

Erkrankungen durch gramnegative Kokken In der Familie der Neisseriaceae sind Neisseria meningitidis (Meningokokken) und Neisseria gonorrhoeae (Gonokokken) von besonderer klinischer Bedeutung. Diese beiden Arten liegen meist als Diplokokken, d.h. als paarweise auftretende Kokken, vor.

Neisseria meningitidis Neisseria meningitidis ruft als häufigste Erkrankung eine eitrige Meningitis mit plötzlichem Beginn und foudroyantem Verlauf hervor. Andere Erkrankungsbilder wie Pharyngitis, Pneumonie und Arthritis sind seltener. Die Virulenz der Stämme wird wesentlich durch den Typ ihrer Polysaccharidkapsel bestimmt, wobei die Serotypen A, B und C besonders virulent sind. Weitere Virulenzfaktoren sind Pili, die zur Adhäsion am Epithel des Nasopharynx beitragen, eine IgA-Protease, die sekretorische IgA-Antikörper in der Schleimhaut zerstört, sowie ein Endotoxin. Virulente Stämme können über lokale Schleimhautinfektionen und eine Bakteriämie zu Meningitis und Sepsis mit Endotoxinschock, disseminierter intravaskulärer Koagulopathie, schweren Hämorrhagien und Nebennierenversagen (WaterhouseFriderichsen-Syndrom, siehe Kap. 8.5.1 und 16.1.11) führen.

Neisseria gonorrhoeae Neisseria gonorrhoeae ist der Erreger der Gonorrhö (Tripper), der häufigsten bakteriellen Geschlechtskrankheit. Pili und Protein II sind für die Adhäsion am Urothel und die Durchschleusung in das subepitheliale Gewebe verantwortlich. Beim Mann steht eine akute eitrige Urethritis, bei der Frau meist eine symptomärmere Cervicitis uteri im Vordergrund. Komplikationen bei unbehandeltem chronischem Verlauf sind u.a. bei der Frau Adnexitis, selten Peritonitis und beim Mann eitrige Prostatitis und Epididymitis. Während die Monarthritis gonorrhoica zu schweren Gelenkschäden führen kann, verläuft die seltene Gonokokkensepsis zumeist benigne. Die unter der Geburt erworbene Konjunktivitis (Blennorrhoea gonorrhoica) bei Neugeborenen ist durch die Prophylaxe nach Credé (Einträufeln einer 1%igen Silbernitratlösung) oder neuerdings auch durch Gabe eines Antibiotikums in jeden Konjunktivalsack unmittelbar nach der Geburt eine Seltenheit geworden.

Erkrankungen durch gramnegative Stäbchenbakterien Zu den gramnegativen sporenlosen Stäbchenbakterien gehört die – für die Humanmedizin wichtigste – Familie der Enterobacteriaceae (Tab. 48-6). Von diesen verursachen Salmonellen, Shigellen und Yersinien weitgehend spezifische Krankheitsbilder. Davon ist die Gruppe der fakultativ pathogenen Enterobacteriaceae mit unspezifischem Erkrankungsbild abzugrenzen. Neben den Enterobacteriaceae werden in diesem Kapitel die Pseudomonaceae sowie Francisella tularensis besprochen.

Enterobacteriaceae Salmonellen Salmonellen können sowohl systemische Allgemeinerkrankungen als auch Enteritiden verursachen (siehe Kap. 29.7.1), die bei Verdacht schon meldepflichtig sind.

Tab. 48-6 Gattungen und Arten der Familie der Enterobacteriaceae (Auswahl).

Salmonella typhi und Salmonella paratyphi A, B und C sind die Erreger der typhösen Salmonellosen (Typhus abdominalis und Paratyphus A, B und C). Hierbei handelt es sich um systemische Allgemeinerkrankungen. Die Erreger dringen über den Gastrointestinaltrakt ein und gelangen von dort in das lymphatische Gewebe, in dem sich sog. Typhusknötchen, vorwiegend aus Makrophagen mit Zeichen der Hämophagozytose („Rindfleischzellen“) bilden. Hier vermehren sie sich und breiten sich auf dem Blut- und Lymphweg im gesamten Körper aus. Dadurch kommt es zu einem septischen, in Phasen ablaufenden Krankheitsbild mit der Möglichkeit vielfältiger Komplikationen (Kreislaufversagen, Peritonitis, Cholezystitis u.a.). Salmonella enteritidis und Salmonella typhimurium, die häufigsten und bedeutendsten Erreger unter den „Enteritis-Salmonellen“, verursachen auf den Darm beschränkte Infektionen (Enteritiden) mit profusen, wässrigen Durchfällen. Eine Sepsis durch diese Keime – wie auch durch die fakultativ pathogenen Enterobacteriaceae (siehe unten) – findet sich hauptsächlich bei immunsupprimierten Patienten und verläuft unter dem gleichen klinischen Bild wie eine Sepsis durch andere gramnegative Stäbchenbakterien. Die Differenzierung der Salmonellen erfolgt serologisch anhand ihrer unterschiedlichen Oberflächenantigene, deren Muster im Kauffmann-WhiteSchema zusammengefasst sind.

Shigellen Nach den Serotypen unterscheidet man vier Shigellenarten, deren Häufigkeit regional variiert, Shigella dysenteriae (Tropen und Subtropen), Shigella boydii (Vorderasien und Nordafrika) sowie die weltweit vorkommenden Shigella flexneri und Shigella sonnei. Shigellen sind die Erreger der bakteriellen Ruhr (Shigellose), einer ulzerösen Dickdarmentzündung mit häufigen, teils schleimig-eitrigen, schmerzhaften Stuhlentleerungen. Kompliziert wird der Krankheitsverlauf durch die zyto-, neuround enterotoxischen Wirkungen des Shiga-Toxins.

Yersinien Yersinia enterocolitica und Yersinia pseudotuberculosis penetrieren als invasive Keime die Schleimhaut des unteren Darmtrakts und verursachen Enteritiden und Enterokolitiden mit einer mesenterialen Lymphangitis und Entzündungen in Dünn- und Dickdarm, oft unter dem Bild einer Appendizitis. Das mukosaassoziierte lymphatische Gewebe, die mesenterialen Lymphknoten und ggf. auch die Milz zeigen eine retikulozytär-abszedierende Entzündung mit Bildung von epitheloidzelligen Granulomen vom Pseudotuberkulose-Typ. Die

Krankheitsbilder sind altersabhängig und mit einer Reihe von (immunologischen) Begleit- und Folgeerkrankungen – z.B. Arthritis, Arthralgien, Erythema nodosum – verbunden (siehe Kap. 29.7.1). Yersinia pestis ist der Erreger der Pest, einer der gefährlichsten Anthropozoonosen, die bei Verdacht schon melde- und quarantänepflichtig ist. Nach dem Übertragungsmodus unterscheidet man zwischen der Bubonenpest (= Beulenpest) und der primären Lungenpest. ■ Bubonenpest. Hier erfolgt die Übertragung der Erreger von erkrankten Nagetieren (v.a. Ratten) auf den Menschen direkt über Hautläsionen oder indirekt durch den Biss von infizierten Rattenflöhen. Die Keime gelangen in die regionären Lymphknoten, wo sie sich vermehren und nach einer Inkubationszeit von 5–10 Tagen zu den charakteristischen, bläulich verfärbten, geschwollenen Lymphknoten (= Bubonen) führen. Eine hämatogene Aussaat führt zur Sepsis und zur möglichen Absiedlung der Yersinien in andere Organe. Eine Absiedlung in der Lunge hat die sekundäre Lungenpest mit erregerreichem, hochinfektiösem, hämorrhagischem Sputum zur Folge. Die Letalität der Beulenpest ist bei entsprechender antibiotischer Behandlung relativ gering. ■ Die primäre Lungenpest wird von Pestkranken mit sekundärer Lungenpest aerogen übertragen. Die Inkubationszeit beträgt wenige Stunden bis maximal zwei Tage. Es kommt zu einer hämorrhagischen Bronchopneumonie, die zusammen mit Sepsis und starker Toxinwirkung (z.B. toxische Herzlähmung) im unbehandelten Fall innerhalb von Stunden bis zu vier Tagen zum Tod führt.

Darmpathogene Escherichia-coli-Stämme Bestimmte E.-coli-Stämme rufen im Darmbereich definierte Erkrankungsbilder hervor. Es werden vier Gruppen unterschieden: enterotoxische E. coli (ETEC), enteroinvasive E. coli (EIEC), enterohämorrhagische E. coli (EHEC) und enteropathogene E. coli (EPEC; siehe Kap. 29.7.1). Die Stämme sind untereinander und von nichtdarmpathogenen E.-coli-Stämmen anhand ihrer Oberflächenantigene serologisch zu differenzieren. Manifestationsort des Krankheitsbildes sowie Angaben zu Lokalisation, Morphologie, Pathogenese und Klinik finden sich in Tab. 48-7.

Fakultativ pathogene Enterobacteriaceae Der bei weitem häufigste Keim dieser Gruppe ist E. coli. Dazu gehören außerdem Klebsiella pneumoniae, Enterobacter aerogenes, Proteus mirabilis, Serratia marcescens u.a. (siehe Tab. 48-5). Die fakultativ pathogenen Enterobacteriaceae gehören z.T. zur physiologischen Darmflora des Menschen. Bei eingeschränkter lokaler oder allgemeiner

Infektabwehr können sie unterschiedliche extraintestinale, teils eitrige Entzündungen hervorrufen. Im Vordergrund stehen dabei Harnwegsinfektionen, Pyelonephritis und Entzündungen der Gallenwege sowie im Krankenhaus erworbene (nosokomiale) Infektionen (postoperative Wundinfektionen, Peritonitiden, Pneumonien, Meningitiden und Septikämien). Bei nosokomialen Infektionen ist mit einer erhöhten antibakteriellen Resistenz der Erreger zu rechnen, da Resistenzplasmide unter den Bakterien weitergegeben werden können. Besonders infektionsgefährdet sind Patienten mit Immunschwäche. Bei ihnen kann es zur Aussaat der Bakterien aus dem Darm in die Lymph- und Blutbahn kommen. Bei hämatogener Ausbreitung können Abszesse in der Leber oder anderen Organen entstehen (Septikopyämie). Bei Septikämien mit gramnegativen Bakterien besteht die zusätzliche Gefahr des Endotoxinschocks (siehe Kap. 7.11). In der Autopsie findet man häufig nur die Zeichen eines generalisierten Schocks mit einer disseminierten intravasalen Koagulopathie (DIC).

Pseudomonadaceae Die in der Humanmedizin wichtigste Pseudomonadenart ist Pseudomonas aeruginosa. Wie E. coli ist Pseudomonas aeruginosa ein häufiger Erreger von nosokomialen Infektionen. Bei Patienten mit intaktem Immunsystem verursacht er nur selten Infektionen, bei Patienten mit geschwächter spezifischer und unspezifischer Abwehr – v.a. bei Frühgeborenen und neutropenischen Patienten – kommt es dagegen zu Pneumonien, Wundinfektionen, Pyelonephritis u.a. Pseudomonas aeruginosa produziert Pigmente (Pyozyanin, Fluoreszein), die dem Eiter einen eigenartig blauen Aspekt verleihen können.

Tab. 48-7 Infektiologische Aspekte bei darmpathogenen E.-coliStämmen. 1

siehe Kap. 21.4.2

Francisella tularensis Die durch Francisella tularensis, ein kokkoides, gramnegatives, sporenloses Stäbchen, hervorgerufene Tularämie ist eine Zoonose, die durch direkten oder indirekten Kontakt mit infizierten Tieren (v.a. Hasen, Mäusen, Ratten) übertragen wird und endemisch in Europa nur selten vorkommt. Nach einer Infektion kann es einerseits lediglich zur Schwellung der Lymphknoten kommen, andererseits kann ein Primäraffekt in Form wenig schmerzhafter, schmierig belegter Geschwüre mit leicht unterminierten Rändern entstehen, der zusammen mit den beteiligten weichen und vergrößerten Lymphknoten einen Primärkomplex ergibt. Sonderformen der äußeren Tularämie sind die ulzeroglanduläre Form mit kurzfristiger Einschmelzung der Lymphknoten des Primärkomplexes sowie die okuloglanduläre Form, bei der die Konjunktiven die Eintrittsstelle sind und der Primäraffekt in Form einer Konjunktivitis vorliegt. Histologisch findet man tuberkuloide Granulome mit neutrophilen Granulozyten (retikulär-abszedierend), die im Frühstadium von Nekrosen, im späteren Stadium von einer granulomatösen Entzündung mit Endangiitis geprägt sind. Das klinische Bild ist begleitet von Fieber und ausgesprochen vielgestaltig in Abhängigkeit vom Eintrittsort sowie von der unterschiedlichen Virulenz der Erreger. Neben den oben beschriebenen äußeren Formen der Tularämie, die in ca. 90% der Fälle vorliegen, gibt es auch innere Formen: Die Pleuritis prägt das klinische Bild bei der pulmonalen bzw. thorakalen Tularämie. Milzschwellung, Leibschmerzen und evtl. Durchfall sind die Symptome der abdominalen Form. Die sog. typhöse Form stellt eine Generalisation mit rezidivierenden Fieberschüben dar. Der lange Verlauf ist meist gutartig.

Erkrankungen durch grampositive Stäbchenbakterien Diphtherie Corynebacterium diphtheriae ist ein nichtsporenbildendes, grampositives Stäbchen und der Erreger der Diphtherie. Nur Bakterienstämme, die mit bestimmten Bakteriophagen befallen und somit virulent (toxinogen) sind, können eine Erkrankung hervorrufen. Die Pathogenität der Diphtheriebakterien beruht auf einem Exotoxin, welches aus den Untereinheiten A und B besteht. Über das B-Fragment bindet sich das Toxin an die Zellmembran. Das zellschädigende A-Fragment wird eingeschleust und blockiert irreversibel die Proteinsynthese der Zelle, was zum Zelltod führt.

Man unterscheidet eine lokale Infektion – z.B. der Tonsillen, des Rachens oder des Kehlkopfs – von einer systemischen Intoxikation. Die lokale Infektion ist gekennzeichnet durch eine pseudomembranös-nekrotisierende Entzündung der Rachen-, selten der Nasenschleimhaut mit flächigen grauweißen Belägen, Epithelnekrosen, Ödem und Toxinämie. Die systemische Intoxikation manifestiert sich – häufig erst nach Abklingen der akuten Infektion – als Parenchymdegeneration von Herz, Leber, Niere und Nebenniere sowie mit Lähmung motorischer Nerven. Am Herzen finden sich Herzmuskelnekrosen mit partiellem Verlust des synzytialen Verbundes der Herzmuskelfasern. Durch Nekrosen im Reizleitungssystem kann es zu Überleitungsstörungen kommen (EKG-Kontrollen).

Listeriose Listerien, die Erreger der Listeriose, sind grampositive Stäbchenbakterien, die fakultativ intrazellulär wachsen. Die Infektion erfolgt meist über Nahrungsmittel (u.a. naturbelassene Milchprodukte). Listeria monocytogenes verursacht als humanpathogener Erreger bei Patienten mit geschwächter Immunabwehr akute eitrige Entzündungen (Meningitis, Sepsis, Endokarditis, Endometritis). Bei intaktem Immunsystem hingegen verläuft die Infektion meist asymptomatisch oder unter dem klinischen Bild eines kurzen fieberhaften grippalen Infektes. Nach diaplazentarer oder perinataler Infektion kommt es zum Abort oder beim Neugeborenen zu einer generalisierten Infektion mit Ausbildung miliarer Entzündungsherde in den parenchymatösen Organen (Granulomatosis infantiseptica). Als Zeichen einer zellulären Immunabwehr entsteht eine granulomatöse Entzündung (siehe Kap. 40.3.2).

Erkrankungen durch sporenbildende Bakterien Milzbrand Bacillus anthracis, ein hochinfektiöses, aerobes, grampositives, sporenbildendes Stäbchen, ist der Erreger des Milzbrandes, einer Anthropozoonose. Pathogenitätsfaktoren von Bacillus anthracis sind die phagozytosehemmende Polypeptidkapsel und das gewebenekrotisierende Exotoxin. Letzteres verursacht eine schwere Schädigung der Endothelien der Endstrombahn mit Ausbildung einer serös-hämorrhagischen Entzündung. Der Milzbrand manifestiert sich bevorzugt an der Haut mit hämorrhagischen Hautnekrosen (Hautmilzbrand), an der Lunge nach Inhalation erregerhaltiger

Tierstäube mit einer hämorrhagischen Bronchopneumonie (Lungenmilzbrand) und im Darm mit einer hämorrhagischen Enteritis (Darmmilzbrand). Durch Einbruch in die Blutbahn kann eine Milzbrandsepsis mit Schüttelfrost, Fieber, Hautblutungen und Schock entstehen. Der klinische Verlauf wird durch den toxischen Schock und die Schädigung des Zentralnervensystems geprägt.

Clostridien Clostridien sind anaerobe, sporenbildende, grampositive Stäbchen. Sie kommen ubiquitär in der Umwelt vor, so z.B. im Darmtrakt von Mensch und Tier sowie als Spore im Erdboden. Die Pathogenität der Clostridien ist auf ihre Exotoxine (Neurotoxine, Histotoxine) zurückzuführen.

Gasbrand Der Gasbrand (Gasödem) entsteht durch Wundinfektion mit Clostridium perfringens, aber auch Clostridium novyi, Clostridium septicum und Clostridium histolyticum. Nicht selten handelt es sich um eine Mischinfektion mit anderen aeroben und anaeroben Erregern. Unter anaeroben Wundverhältnissen kommt es innerhalb von Stunden durch die Enzyme und Histotoxine der Clostridien zu Ödembildung und rasch fortschreitenden Nekrosen unter Gasbildung im Gewebe (Knistern bei Palpation). Histologisch finden sich ausgedehnte Nekrosen mit nahezu fehlender Entzündungsreaktion (Abb. 48-10). Über die Blutbahn kommt es durch die Toxine zu einem toxisch-septischen Schock. Starke Gewebeschädigungen mit Minderdurchblutung (Muskelquetschungen, Polytrauma, Frakturen) begünstigen den raschen Verlauf. Bei Verletzungen des Dickdarms, bei Darmkarzinomen sowie nach Dickdarmoperationen kann es auch zu endogenen Infektionen mit diesem Erreger kommen.

Abb. 48-10

Gasbrand

mit ausgedehnten Muskelnekrosen sowie unterschiedlich großen Gasblasen (Pfeile) im Interstitium. HE; Vergr. 100fach.

Tetanus Beim Tetanus (Wundstarrkrampf) handelt es sich um eine lokale Wundinfektion bei anaeroben Wundverhältnissen mit Clostridium tetani. Das allgemeine Krankheitsbild wird durch das Tetanustoxin (Tetanospasmin), das sich endoneural ausbreitet, sowie durch andere Toxine und Enzyme hervorgerufen. Die Blockierung von Transmittersubstanzen (Glyzin, γ-Aminobuttersäure) im Bereich der Vorderhörner führt je nach Erkrankungsstadium zu tonischen bzw. tonisch-klonischen Krämpfen und vegetativen Störungen. Die Letalität ist von der Inkubationszeit abhängig: Bei < 5 Tagen beträgt sie ca. 100%, bei 14–21 Tagen ca. 35%. Je länger die Inkubationszeit ist, desto besser sind die Überlebenschancen. Nach meist kaum bemerkten Prodromalzeichen, allgemein und im Bereich der Wunde, ist das erste klinisch charakteristische Zeichen eine zunehmende tonische Lähmung der Gesichtsmuskulatur, die zu einem Trismus und zum Bild des Risus sardonicus führt. Fortschreitend werden die Nacken- und Rückenmuskulatur mit der Folge eines Opisthotonus, dann die Thorax- und Bauchmuskulatur befallen. Durch die Lähmung der Schlundmuskulatur und des Zwerchfells kann es zum Erstickungstod kommen. Verstärkt wird das Erkrankungsbild durch Krampfparoxysmen, die durch leichteste mechanische, optische und akustische Reize ausgelöst werden können. Der Patient ist dabei bei klarem Bewusstsein. In Entwicklungsländern stellt der Tetanus neonatorum eine von der Nabelschnur ausgehende Form dieser Erkrankung dar (Letalität 85%). Da Antikörper gegen das Tetanustoxin einen sicheren Schutz vor einer Tetanusinfektion bieten, kommen der aktiven Grundimmunisierung mit einem Tetanustoxoid sowie der Postexpositionsprophylaxe mit aktiver oder – je nach Immunstatus – aktiver und passiver Immunisierung eine entscheidende Bedeutung zu.

Botulismus Der Botulismus stellt eine Lebensmittelvergiftung dar, die durch die Aufnahme von C.-botulinum-Toxin verursacht wird. Dieses wird in proteinhaltigen Nahrungsmitteln von Clostridium botulinum unter anaeroben Bedingungen gebildet. Das Neurotoxin verhindert die Freisetzung von Acetylcholin an den Nervenendplatten des peripheren Nervensystems und führt so zu schlaffen Lähmungen. Durch die Paralyse der Atemmuskulatur tritt der Tod ein.

Erkrankungen durch Aktinomyzeten Aktinomykose Bei der Aktinomykose handelt es sich um eine bakterielle anaerobe und aerobe Mischinfektion, deren Erkrankungsverlauf vor allem durch Actinomyces israelii als Leitkeim bestimmt wird. Actinomyces israelii ist ein anaerobes, grampositives, fadenförmiges, verzweigtes Stäbchenbakterium, welches zur physiologischen Mundflora des Erwachsenen gehört. Infektionen treten auf, wenn der Keim gemeinsam mit anderen Bakterien der Begleitflora durch Verletzungen in tiefere Gewebeschichten gelangt. Es handelt sich um eine eitrige Entzündung mit Bildung von Granulationsgewebe und Fisteln. Häufigste klinische Verlaufsform ist die zervikofaziale Aktinomykose. Alle anderen Formen, z.B. im Bereich der Haut, der Lunge oder des ZNS, sind selten.

Nokardiose Die Nokardiose stellt eine Monoinfektion durch aerobe Aktinomyzeten der Gattung Nocardia, insbesondere Nocardia asteroides, Nocardia farcinica, Nocardia brasiliensis, dar. Nokardien sind aerobe, grampositive, teils verzweigte Stäbchenbakterien. Eine Erkrankung setzt in der Regel eine prädisponierende Grunderkrankung beim Patienten voraus. Die häufigste klinische Verlaufsform ist eine zumeist abszedierende Bronchopneumonie. Im Verlauf septischer Streuungen kann es zu abszedierenden Entzündungen in anderen Organen, v.a. im Gehirn, kommen.

48.2.7

Chronische bakterielle Infektionskrankheiten

Syphilis (Lues) Treponema pallidum ist der Erreger der Syphilis (Lues), einer durch Geschlechtsverkehr übertragenen systemischen Infektion. Der Erreger ist außerhalb des Organismus kaum überlebensfähig und dringt über kleine Haut- und Schleimhautdefekte, aber auch durch die intakte Schleimhaut in den Organismus ein. Die Erkrankung verläuft in mehreren Stadien und ist anonym meldepflichtig.

Abb. 48-11 Syphilitisches Ulcus durum am Hodensack.

Umschriebener, wie ausgestanzt wirkender Hautdefekt mit leicht erhabenem Randwall (Pfeile). ■ Primärstadium (Lues I). Ca. 6 Wochen post infectionem entsteht im Bereich der Eintrittspforte (Vulva, Penis, Anus, Lippen, aber auch andere Lokalisationen) ein Primäraffekt mit Ausbildung eines schmerzlosen Ulkus (harter Schanker, Ulcus durum, Abb. 48-11). In diesen Läsionen sind Treponemen mittels Dunkelfeldmikroskopie, direkter Immunfluoreszenz und Silberfärbung nachweisbar. Die Treponemen breiten sich über die Lymphwege in die regionären Lymphknoten aus und führen hier zu einer schmerzlosen Lymphknotenschwellung. Die Symptome des Primärstadiums klingen auch ohne Therapie bei fortbestehender Lymphadenopathie ab. ■ Sekundärstadium (Lues II). Ca. 6–18 Wochen post infectionem entwickeln sich durch hämatogene Keimaussaat Schleimhauterosionen und makulopapulöse Exantheme, nässende, hochinfektiöse Condylomata lata sowie eine generalisierte Lymphadenopathie. Zusätzlich können auch Leber, Milz, Nieren, Gelenke, das Gefäßsystem sowie das Nervensystem befallen sein. Auch die Lues II kann unbehandelt in eine symptomfreie Latenzphase mit positiver Serologie übergehen. ■ Tertiärstadium (Lues III). 2–20 Jahre post infectionem kommt es ohne Behandlung nach jahrelangem symptomfreiem Intervall (Latenzstadium = Lues latens) bei 40% der unbehandelten Syphilispatienten zu tertiären Manifestationen. Hierbei handelt es sich in je 10% um die Neurosyphilis (siehe Kap. 8.5.4) und die kardiovaskuläre Syphilis (Mesaortitis luica) und in 15% um die gummöse Syphilis. Letztere kann in jedem Organ auftreten.

■ Die kongenitale Syphilis ist zumeist durch eine transplazentare Infektion bedingt. Bei früher und ausgeprägter Infektion resultiert ein Abort oder eine Totgeburt. Ein infiziertes Neugeborenes entwickelt zumeist einen Schnupfen (Coryza syphilitica) mit anschließendem makulopapulösem und flächenhaftem Exanthem sowie einen syphilitischen Pemphigus. Spätere charakteristische Veränderungen sind die generalisierte Osteochondritis und Perichondritis mit Ausbildung einer Sattelnase und Säbelscheidentibia. Im weiteren Verlauf entwickeln sich: □ eine chronisch fibrosierende Entzündung der Leber (sog. Feuersteinleber) □ eine fortschreitende interstitielle Pneumonie mit Lungenfibrose (Pneumonia alba) □ die Tonnenform der oberen und mittleren Schneidezähne mit halbmondförmiger Einbuchtung der Schneidekante, eine Keratitis parenchymatosa und eine Innenohrschwerhörigkeit (Hutchinson-Trias). Histologische Kriterien sind eine chronisch lymphoplasmazelluläre und/oder granulomatöse Entzündung mit Ausbildung von Nekrosen (Syphilom, Gumma) sowie eine Endarteriitis befallener Organe. Im weiteren Verlauf entstehen zunehmend Fibrosen und Vernarbungen. Die Diagnose der Lues erfolgt durch den Nachweis spezifischer Antikörper, da Treponema pallidum kulturell nicht anzüchtbar ist. Durch die Kombination verschiedener serologischer Tests unter Berücksichtigung der verschiedenen Immunglobulinklassen sind Stadieneinteilung und Therapieführung möglich. Als Suchtest wird heute der Treponema-pallidum-Hämagglutinationstest (TPHA) eingesetzt.

Leptospirosen Die humanpathogene Spezies Leptospira interrogans umfasst ca. 180 Serotypen. Zu den wichtigsten Erregern gehören Leptospira icterohaemorrhagica (Morbus Weil), Leptospira grippotyphosa (Schlamm-, Feldfieber) sowie Leptospira canicola (Canicolafieber). Schweregrad und Erkrankungsverlauf variieren bei den verschiedenen Erregern. Die Infektion erfolgt über kleine Hautrisse durch Wasser, welches mit infektiösem Urin von Ratten und Haustieren verseucht ist. Der Krankheitsverlauf ist biphasisch. Im Vordergrund stehen Leber- und Nierenveränderungen – im schwersten Fall (Morbus Weil) mit Oligo-/Anurie, schwerem Ikterus und generalisierten Hämorrhagien – sowie eine zumeist lymphozytäre Meningitis.

Histologisch findet man ausgedehnte Tubulusnekrosen der Nieren, in der Leber eine nekrotisierende Entzündung mit überwiegend portalen Entzündungsinfiltraten, hydropischer Veränderung der Leberzellen sowie Gallenthromben.

Borreliosen Borrelia burgdorferi ist der Erreger der Lyme-Borreliose, die durch den Biss verschiedener infizierter Zeckenarten übertragen wird. Die Krankheit verläuft typischerweise in drei Stadien (siehe Kap. 42.6.1 und Kap. 44.2.1). Zunächst entsteht im Bereich der Hautinfektionsstelle das Erythema chronicum migrans. Aus der Ausbreitung über die Lymphwege resultiert eine lokale Lymphadenitis. Nach mehreren Wochen folgt das zweite Stadium, dessen Leitsymptome die lymphozytäre Leptomeningitis und Polyneuritis sind. Daneben treten eine lymphoplasmazelluläre Myo- und Epikarditis auf. Nach Monaten kommt es im Stadium III zur Acrodermatitis chronica atrophicans (Herxheimer) und zu einer chronischen Lyme-Arthritis mit Synovialitis und Gelenkergüssen.

Mykobakteriosen Mykobakterien, unbewegliche, nichtsporenbildende Stäbchenbakterien, besitzen gegenüber anderen Bakterien einen besonders hohen Anteil (bis zu 60%) an Lipiden und Wachsen in der Zellwand, die ihnen sowohl in der Umwelt als auch im Körper entscheidende Überlebensvorteile verschaffen. Dieser Wandaufbau, der artspezifisch variieren kann, führt u.a. dazu, dass die Erreger sich einerseits mit den klassischen allgemeinen Färbungen, wie der Gram- oder der Methylenblau-Färbung nicht oder kaum anfärben lassen, sie sich jedoch andererseits in der Ziehl-Neelsen-Färbung mit heißem Karbolfuchsin angefärbt nicht einmal mit Salzsäurealkohol entfärben lassen („alkohol- und säurefeste Stäbchen“). Unter den mehr als 60 verschiedenen Arten sind sowohl obligat pathogene als auch saprophytäre Umweltkeime. Nach ihrer Generationszeit werden die Mykobakterien in schnell wachsende mit einer Generationszeit von 1–4 Stunden und langsam wachsende Arten (Generationszeit 6–24 Stunden) unterteilt. Die zurzeit als obligat bzw. fakultativ pathogen eingestuften Mykobakterienarten sind in der Tab. 48-8 zusammengefasst. Aufgrund der Krankheitsbilder lassen sich der Mycobacterium (M.) tuberculosisKomplex, das M. leprae sowie die atypischen Mykobakterien, die auch als „Mycobacteria Other Than Tuberculosis“ (MOTT) bezeichnet werden, unterscheiden.

Tab. 48-8 Übersicht über die pathogenen und fakultativ pathogenen Mykobakterien(modifiziert nach E.C. Böttger).

Tuberkulose Die Tuberkulose wird durch Mycobacterium tuberculosis (99%), Mycobacterium bovis < 1%) und in Afrika durch Mycobacterium africanum verursacht. In 90% der Fälle liegt eine Tröpfcheninfektion durch Patienten mit einer offenen Lungentuberkulose vor. Da die Organismen über Wochen auch außerhalb des Organismus überleben, kann eine Übertragung auch durch Staub erfolgen. Tierseuchen- und Lebensmittelhygiene, z.B. die Pasteurisierung der Milch, haben dazu geführt, dass eine primär nahrungsmittelbedingte intestinale Tuberkulose (Darmtuberkulose) in Europa selten ist. Erkrankung und Tod durch Tuberkulose sind meldepflichtig (§ 6 Abs.1 IfSG), ebenso Patienten, die die Behandlung verweigern oder abbrechen (§ 6 Abs.2 IfSG). Unberührt davon gilt die Meldepflicht, die sich bei direktem oder indirektem Erregernachweis, einschließlich des Nachweises „säurefester Stäbchen im Sputum“ nach § 7 Abs.1 IfSG, ergibt. Die niedrige Inzidenz der Tuberkulose in Europa, Nordamerika, Neuseeland und Australien (10–50/100000 Einwohner) und der Erkrankungsgipfel im Alter und bei Randgruppen täuscht leicht darüber hinweg, dass die Tuberkulose weltweit die bedeutendste Infektionserkrankung mit schätzungsweise 60 Millionen Erkrankten und jährlich 3 Millionen Todesfällen ist. Ein Drittel der Erkrankten, also 20 Millionen, haben eine offene Tuberkulose und sind damit Ansteckungsquelle. Der Schwerpunkt liegt in den Entwicklungsländern (Asien, Afrika, Lateinamerika), wobei hier jedoch überwiegend Kinder und junge Erwachsene betroffen sind.

Ätiologie und Pathogenese Die Pathogenität des M. tuberculosis beruht wesentlich auf dem besonderen Aufbau der Zellwand, die es ihm einerseits erlaubt, innerhalb der Phagosomen der Makrophagen zu überleben und andererseits durch einzelne Zellwandbestandteile

die Immunantwort des Körpers entscheidend zu beeinflussen. Hinzu kommt, dass die von den Mykobakterien hervorgerufene Immunreaktion im Gegensatz zu anderen Bakterien eine Hypersensitivitätsreaktion vom verzögerten Typ ist (Coombs Typ IV, siehe Kap. 4.3.1). Mykobakterien enthalten in ihrer Zellwand wachsartige langkettige Glykolipide, vorwiegend Mykolsäuren, sowie TrehaloseDimykolat und Lipoarabinomannan. ■ Trehalose-Dimykolat, der sog. „cord factor“, der M. tuberculosis in der Kultur in girlandenförmigen Ketten wachsen lässt, kommt nur bei virulenten Stämmen vor. Gereinigtes Trehalose-Dimykolat ist für Makrophagen direkt zytotoxisch. ■ Lipoarabinomannan ist ein Lipopolysaccharid mit Verwandtschaft zum Endotoxin gramnegativer Bakterien. Es bindet an Rezeptoren auf Makrophagen und verhindert so einerseits die Aktivierung der Zellen durch Interferon-γ, veranlasst sie aber andererseits u.a. zur Bildung von Tumornekrosefaktor(TNF)α. TNF-α bewirkt Fieber, Gewichtsverlust und Gewebeschädigung. ■ Komplexe Auswirkungen auf Immunreaktionen hat auch das Muramyldipeptid, ein weiterer mykobakterieller Membranbestandteil, der auch als Adjuvans bei Immunisierungen Verwendung findet. M. tuberculosis bindet Komplement und fördert damit seine Phagozytose durch Makrophagen über den Komplementrezeptor CR3. In den Phagosomen blockieren dann mykobakterielle Bestandteile die Fusion mit Lysosomen, sodass die Bakterien nicht abgetötet werden, sondern in diesen Organellen weiterleben können. Zur Bakterizidie sind die Makrophagen erst unter dem Einfluss spezifischer TZellen befähigt, deren Ausbildung beim immunkompetenten Individuum einen Zeitraum von 2–3 Wochen erfordert. Diese T-Zell-Reaktion vom verzögerten Typ erklärt das Muster der Gewebeschädigung, die Mechanismen der Resistenz und die Unterschiede in den Reaktionen nach Primärexposition und bei sekundärer Reaktion des Menschen nach der Infektion. Durch die erlernte T-Zell-Reaktion wird die Immunantwort zeitgleich mit dem Auftreten einer positiven Tuberkulinreaktion „spezifisch“: ■ Zunächst werden CD4-positive T-Helferzellen angeregt, Interferon-γ zu sezernieren. Dies aktiviert Makrophagen, die erst jetzt zur intrazellulären Abtötung der Bakterien durch hochreagible Stickstoffverbindungen fähig sind. ■ Weiterhin stimulieren die T-Helferzellen die Umwandlung von Makrophagen zu Epitheloidzellen und regen CD8-positive zytotoxische T-Zellen an, infizierte Makrophagen einschließlich der darin befindlichen Mykobakterien abzutöten.

■ Ebenfalls aktivierte CD4/CD8-negative T-Zellen können zwar die infizierten Makrophagen lysieren, nicht jedoch die darin befindlichen Mykobakterien abtöten. Diese Immunantworten und die direkte zytotoxische Wirkung der mykobakteriellen Zellwandbestandteile führen zur Bildung spezifischer epitheloidzelliger Granulome vom Tuberkulosetyp mit zentraler „verkäsungsartiger“ Nekrose. Einige Makrophagen konfluieren zu mehrkernigen Riesenzellen mit im Schnitt hufeisenförmig angeordneten Kernen (LanghansZellen), die ebenfalls an der Granulombildung teilhaben. Im Zentrum der Granulome entstehen unter Einfluss lysosomaler Enzyme verkäsungsartige Nekrosen aus Überresten der Mykobakterien, der Phagozyten sowie Gewebetrümmern. An den die Nekrose umgebenden Wall aus Epitheloid- und Langhans-Zellen schließen sich beim Granulom vom Tuberkulosetyp Lymphozyten und Plasmazellen außen an (Abb. 48-12). Da überlebende Mykobakterien in diesem anaeroben extrazellulären Milieu der verkäsungsartigen Nekrose nicht weiter wachsen können, wird die Mykobakterieninfektion eingedämmt, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass unter ständiger T-ZellHilfe eine effektive Abschottung durch Epitheloidzellsäume stattfindet. Das klinisch-pathologische Bild nach einer Infektion mit Mykobakterien wird daher von der individuellen Abwehrlage und dem zeitlichen Verlauf entscheidend mitbestimmt.

Abb. 48-12 Frisches tuberkulöses Granulom

mit Langhans-Riesenzellen (L) und zahlreichen, hier noch locker liegenden Epitheloidzellen. Im Randbereich lymphozytäre Infiltrate (Pfeile). HE, Vergr. 150fach.

Stadieneinteilung der Tuberkulose Primäre Tuberkulose Bei initialer Exposition ist die Entzündungsantwort unspezifisch und entspricht einer gewöhnlichen Herdpneumonie. Dieser Primärherd liegt meist in den besser belüfteten Lungenanteilen subpleural in der rechten Lunge im oberen Unter- bzw. unteren Mittellappen („Mittelgeschosse“). Die Mykobakterien werden von den Phagozyten aufgenommen, können jedoch nicht abgetötet werden, da zu diesem Zeitpunkt noch keine spezifische T-Zell-Antwort vorliegt. Die infizierten Makrophagen wandern über die Lymphbahnen in den regionären Lymphknoten. Die Infektion hat damit einen zweiten Ort erreicht. Wenn jetzt die T-Zellvermittelte Abwehr einsetzt, kommt es an beiden Orten zu einer produktiven granulomatösen Reaktion (siehe oben und Kap. 24.6.4). Es bildet sich der GhonPrimärkomplex aus Primärherd und dem regionären Lymphknotenherd (Anton Ghon, Prag 1912). Beide Herde können im weiteren Verlauf vernarben (etwa 3 Monate), verkalken (3–5 Jahre), verknöchern (10 Jahre) oder sogar versteinern (Jahrzehnte). Die Größe richtet sich nach den Ausmaßen der ursprünglichen Verkäsung. Bei Kindern ist der Lymphknotenherd oft größer als der Lungenherd, bei Erwachsenen ist es dagegen gewöhnlich umgekehrt. In > 90% der Fälle ist die Primärinfektion mit der unkomplizierten Abheilung des Primärkomplexes beendet. Die Narben des Primärkomplexes können jedoch noch über Jahre hinweg lebensfähige Mykobakterien enthalten.

Abb. 48-13 Progressive, verkäsende tuberkulöse Bronchopneumonie mit ausgedehnten verkäsenden Nekrosen (Pfeile)

(B = Bronchialsystem).

Abb. 48-14 Progressive Lymphknotentuberkulose.

Deutlich vergrößerte Lymphknoten (L) mit ausgedehnten verkäsenden Nekrosen. Im linken Lungenoberlappen eine azinös-nodöse Lungentuberkulose (Pfeile). Je nach Abwehrlage sowie Virulenz und Menge des Erregers kann in wenigen Fällen die Primärinfektion vom Lungenherd, vom Lymphknotenherd oder von beiden ausgehend fortschreiten (progressive Tuberkulose, Abb. 48-13). Ausgehend vom Lungenherd kann es unter dem Bild einer exsudativen Entzündung zur Einschmelzung des Lungengewebes (Primärherdphthise) sowie auch zu einer Kaverne („Primärkaverne“) oder einer Pleuritis exsudativa kommen. Erlangt die einschmelzende Entzündung Anschluss an das Bronchialsystem, so kommt es zur bronchogenen Streuung und zum Vorliegen einer offenen Lungentuberkulose. Aus dem Lymphknotenherd kann sich eine Hilustuberkulose entwickeln, die ebenfalls per continuitatem als lymphonoduläre Perforationsphthise auf angrenzendes Lungenparenchym und die Pleura übergreifen kann (Abb. 48-14).

Die hämatogene Streuung im Rahmen der Primärtuberkulose kann durch Einbruch von Tuberkelbakterien direkt in die Blutbahn, ggf. mit einer Lungenblutung und Bluthusten, oder aber über die Lymphwege erfolgen. In Abhängigkeit vom Immunstatus lassen sich 3 Verlaufsformen unterscheiden: ■ Bei geringer Virulenz bzw. geringer Bakterienlast sowie gutem Immunstatus kann eine blande verlaufende hämatogene Frühstreuung u.a. apikale Herde in den Lungenoberlappen (Simon-Spitzenherde), aber auch Herde in anderen Organen wie z.B. Niere, Nebenniere, Tube, Knochen induzieren. Diese Herde heilen meist aus, können aber evtl. später auch im Rahmen einer Postprimärtuberkulose exazerbieren. ■ Eine Miliartuberkulose entsteht bei unzureichender Abwehrlage und hoher Erregerlast durch eine generalisierte Streuung mit Ausbildung hirsekorngroßer (milium = Hirsekorn) Granulome (1–2 mm) in potentiell allen Organen (Abb. 48-15). Aus der Miliartuberkulose können sich verschiedenartige Organtuberkulosen bilden (z.B. „Kittniere“ bei Urogenitaltuberkulose, Abb. 4816, basale Meningealtuberkulose, Knochentuberkulose u.a.). Nach Abheilung dieser Herde kommt es auch hier zu einer Latenz der Erreger, die z.T. Jahrzehnte andauern kann. ■ Für eine Tuberkulosesepsis (Sepsis tuberculosa gravissima Landouzy, Landouzy-Sepsis) sind immungeschwächte Patienten (primäre und erworbene Immunschwächesyndrome, Zustand nach immunsuppressiver Therapie u.a.) durch ihre schwere Insuffizienz der primären oder anamnestischen T-ZellReaktion besonders gefährdet. Der Tuberkulinhauttest ist bei diesen Patienten meist negativ! Bei völligem Fehlen der T-Zell-Reaktion vermehren sich die Bakterien ungehemmt in Makrophagen und überschwemmen den Körper. Gleichzeitig produzieren die infizierten Makrophagen große Mengen an TNF-α, welches zu Gewebeschäden führt. Die Patienten gleiten rasch in einen septischen Schock, der meist zum Tode führt.

Abb. 48-15

Akute Miliartuberkulose.

Ausschnitt der Lunge mit hirsekorngroßen tuberkulösen Infiltraten. Zum Größenvergleich Hirsekörner neben dem Präparat.

Abb. 48-16

Sog. Kittniere.

Ausgedehnte verkäsende Tuberkulose der Niere mit weitgehender Destruktion des Nierenparenchyms. Durch Anschluss an das Nierenbecken entstehen Tuberkulosekavernen (K).

Postprimäre Tuberkulose Nach Ausheilung von Herden der Primärinfektionsperiode kann eine postprimäre Tuberkulose durch Reinfektion (Sekundärinfektion) eintreten, die bei guter

Abwehr lokal durch eine granulomatöse Reaktion beantwortet wird. Die andere Möglichkeit ist eine Exazerbation alter Herde der Primärinfektionsperiode aufgrund einer momentanen Abwehrschwäche (z.B. alters-, erkrankungs- oder therapiebedingte Veränderungen in der Immunabwehr, Unterernährung – „Hungertuberkulose“). Es kann dabei zu Lokalkomplikationen wie Kavernenbildung und kanalikulärer Streuung, aber auch zu einer miliaren Spätstreuung mit Organtuberkulosen kommen. Diese können entsprechend der Abwehrlage entweder günstigenfalls eher proliferativ-granulomatös oder aber vorwiegend exsudativ-käsig durch Konfluenz unzureichend wandstarker Granulome mit ausgedehntem Gewebeschaden verlaufen. Häufig betroffene Organe sind Lungen, Nieren, Nebennieren und Skelett. Bei schlechter Abwehrlage kann eine hämatogene Streuung eine tuberkulöse Meningitis (siehe Kap. 8.5.2), eine Miliartuberkulose oder gar eine Landouzi-Sepsis nach sich ziehen. Die sekundäre Tuberkulose produziert oft weit größere Schäden als die Primärtuberkulose.

Diagnostik der Tuberkulose Der Nachweis von Mykobakterien erfolgt in Ausstrichen oder im histologischen Präparat mit Hilfe der Ziehl-Neelsen-Färbung. Hierbei handelt es sich um eine Anfärbung der Bakterien mit Karbolfuchsin-Farbstoff, die auch nach einer Behandlung mit Salzsäurealkohol erhalten bleibt („alkohol- und säurefest“). Nach Gegenfärbung mit Methylenblau erscheinen die Mykobakterien als schlanke rote Stäbchen vor einem blauen Hintergrund. Eine Artdiagnose der Erreger ist so nicht möglich. Sie erfolgt durch die kulturelle Anzüchtung auf festen und in flüssigen Nährmedien mit anschließender Differenzierung (Biochemie, Gensonden). Die Flüssigkulturen, die den früher gebräuchlichen Tierversuch (experimentelle Infektion von Meerschweinchen) abgelöst haben, werden in teilautomatisierten Systemen entweder radiometrisch oder über den Sauerstoffverbrauch kontinuierlich überprüft und zeigen das Wachstum von Mykobakterien schon nach ca. 2 Wochen an, wohingegen auf festen Nährböden oft erst nach 4–8 Wochen Kolonien nachweisbar sind. Für besonders wichtige Materialien (Lavageflüssigkeit, Liquor, Gewebe u.a.) ist es möglich, mittels Polymerase-Kettenreaktion (PCR) spezifische bakterielle DNA und RNA aus den Proben direkt nachzuweisen. Ein negatives Ergebnis schließt jedoch eine Infektion nicht aus, die kulturellen Ergebnisse sind stets abzuwarten. Bei bestehendem Verdacht auf eine Tuberkulose sind mehrfache Untersuchungen erforderlich. In zunehmendem Maße erfolgt die Typisierung der Mykobakterien mit molekularbiologischen Methoden.

Lepra Mycobacterium leprae ist der Erreger der Lepra, einer chronisch granulomatösen Infektionskrankheit, die durch eine extrem lange Inkubationszeit (3–12 Jahre) sowie durch zwei verschiedene Krankheitsverläufe, die tuberkuloide und die lepromatöse Verlaufsform, gekennzeichnet ist. Nach dem Bundesseuchengesetz ist die Lepra bei Verdacht, Erkrankung und Tod meldepflichtig. Mycobacterium leprae ist ein 2–8 μm langes, meist leicht gebogenes, säurefestes Stäbchen, das kulturell nicht anzüchtbar ist. Die Generationszeit im Menschen wird mit 20–40 Tagen angenommen bei einem Temperaturoptimum von 30°C. Zielzellen des sich intrazellulär vermehrenden Bakteriums sind neben Makrophagen die Schwann-Zellen der peripheren Nerven sowie epitheliale und Muskelzellen.

Pathogenese

Pathogenitätsfaktoren sind das spezies-spezifische phenolische Glykolipid der Zellwand und die sonst bei keinem anderen Mykobakterium nachgewiesene Dihydroxyphenylalanin-Oxidase (DOPA). Ein essentieller Bedarf an DOPA für Mycobacterium leprae könnte die hohe Affinität des Erregers zu peripheren Nerven erklären, wo diese Substanz reichlich vorkommt.

Morphologie und klinisch-pathologische Korrelationen CD4+-T-Lymphozyten sind die Effektoren der entscheidenden zellulären Immunabwehr. Sie aktivieren Makrophagen und zytotoxische CD8+-TLymphozyten und führen zur Ausbildung der Granulome. In Abhängigkeit von der Immunkompetenz des Patienten ergibt sich eine Vielzahl von klinischen Bildern, die ineinander übergehen können. Man unterscheidet die tuberkuloide (TT) und die lepromatöse (LL) Verlaufsform. Bei intakter zellulärer Immunität entwickeln sich Epitheloidzellgranulome mit zentraler Verkäsung, die tuberkuloide Lepra. Eine unzureichende T-Zell-Antwort führt zu einer fortschreitenden histiozytären Entzündung, zur lepromatösen Lepra. Die Borderline-Form stellt eine Variante zwischen diesen beiden Formen dar. Mischformen (z.B. BL, BT) kommen vor. ■ Die indeterminierte Form (I-Form) stellt mit einzelnen, mehrfach auftretenden, teils hypopigmentierten Maculae die Frühform dar, die sich zurückentwickeln kann, aus der sich aber auch nach Jahren die anderen Krankheitsformen entwickeln können. Säurefeste Stäbchen sind, wenn überhaupt, am ehesten im Bereich der Nervenfibrillen mikroskopisch nachweisbar. ■ Die tuberkuloide Form (TT-Form) stellt die benigne Variante der Lepra dar. Erreger sind in den Makrophagen und den Läsionen meist nur vereinzelt nachweisbar.

■ Es kommt zu pigmentarmen anästhetischen Maculae, in deren Bereich die Schweißdrüsen zerstört sind. Die zugehörigen peripheren Nervenstränge sind geschwollen und verhärtet. Im Spätstadium treten Schmerzen und Resorption der kleinen peripheren Knochen der Hände und Füße auf. ■ Bei der lepromatösen Form (LL-Form) fehlt eine geeignete Immunreaktion der T-Lymphozyten. Die Makrophagen sind überfrachtet mit Erregern und Fetttröpfchen (Schaumzellen). CD4+-T-Lymphozyten sind nur in geringem Maße vorhanden, CD8+-T-Lymphozyten besitzen keine zytotoxische Aktivität. Spezifische Antikörper gegen Mycobacterium leprae sind zwar in der Regel nachweisbar, sie haben jedoch offensichtlich keine protektive Aktivität. Es liegen zahlreiche derbe Infiltrate der Haut (Leprome) vor. Insbesondere im Bereich der Nasen-, Mund- und Rachenschleimhaut sind tiefe Ulzera nachweisbar. Für das Spätstadium charakteristisch sind das Löwengesicht (Abb. 48-17a), Lähmungen und Anästhesien der peripheren Nerven, die zur typischen Krallenhand (Abb. 48-17b) führen. Ferner kann es zu Fazialisparese mit Augenkomplikationen kommen. In ca. 80% der Fälle ist ein Erythema nodosum nachzuweisen. Die Lymphknoten sind bei allen Formen der Lepra vergrößert.

Diagnose Aus dem klinischen Bild und dem Nachweis der Erreger aus Hautveränderungen und Nasensekret in der Ziehl-Neelsen-Färbung wird die Diagnose erstellt. Lichtmikroskopisch finden sich säurefeste Stäbchenbakterien, die oft zu vielen zusammengruppiert und nicht selten intrazellulär in Makrophagen liegen. Der Erregernachweis ist bei den lepromatösen wahrscheinlicher als bei den tuberkulösen Formen. Entsprechend besitzen die lepromatösen Formen eine höhere Infektiosität.

Therapie Die chronisch fortschreitende Lepra ist heute mit einer Kombinationstherapie aus Dapson, Rifampicin und Clofazimin behandelbar. Die Therapiedauer ist abhängig vom Krankheitsbild und kann in Kombination mit neueren Chinolon-Antibiotika deutlich verkürzt werden.

Abb. 48-17

Lepra im Spätstadium.

a Löwengesicht. b Krallenhand.

Atypische Mykobakteriosen Alle Mykobakterien, die nicht die klassischen Tuberkuloseerreger sind, werden als atypische Mykobakterien, als „Mycobacteria Other Than Tuberculosis“ (MOTT) zusammengefasst. Eine kleine Gruppe der ansonsten ubiquitär vorkommenden Bakterien ist medizinisch bedeutsam (Tab. 48-8) wie z.B. Mycobacterium avium, Mycobacterium intracellulare, Mycobacterium kansasii; Mycobacterium fortuitum und Mycobacterium marinum. Für das Entstehen einer Infektion sind lokale Schädigungen im Infektionsgebiet (Lunge, Haut) oder eine Störung insbesondere der

T-Zell-abhängigen Immunabwehr Voraussetzung. Die Erreger können bei Kindern Lymphadenitiden hervorrufen. Meist kommt es zur Bildung einer granulomatösen, atypischen Infektion mit chronisch protrahiertem Verlauf. Bei ausgeprägten Immundefekten (z.B. AIDS) kann es auch zu systemischen Infektionen und Meningitis kommen. In der Artdifferenzierung der MOTT gewinnen molekularbiologische Methoden zunehmend an Bedeutung.

48.3

Infektionskrankheiten durch Pilze

Pilze (Myces, Fungi) sind chlorophyllose eukaryotische Organismen mit einer ausgeprägten Zellwand. Sie decken ihren Energiebedarf durch den Abbau höhermolekularer organischer Substanzen (Heterotrophie). In der Humanmedizin lassen sich vier Krankheitsformen durch pathogene Pilze unterscheiden: ■ Mykosen stellen eine parasitäre Erkrankung dar. ■ Mykoallergosen sind allergische Erkrankungen, bei denen Pilzbestandteile oder Sporen auslösende Allergene sind. ■ Mykotoxikosen sind Vergiftungen durch Mykotoxine (z.B. Aflatoxin, Fusariotoxin), die als Stoffwechselprodukte der Pilze z.T. auch kanzerogene Wirkung besitzen. Die alleinige Aufnahme des Toxins reicht zur Entwicklung der Krankheit aus. ■ Myzetismus ist eine Vergiftung durch den Genuss giftiger Pilze (z.B. Knollenblätterpilz).

48.3.1

Morphologie der Pilze

Einige Pilze wachsen mit Pilzfäden (Hyphen), die sich verzweigen können und je nach Differenzierungsgrad septiert oder unseptiert sind. Durch das verzweigte Wachstum entsteht ein Geflecht, das Myzel, weshalb diese Wachstumsform als M-Form bezeichnet wird (Abb. 48-18). Eine andere Wachstumsform stellt die Zellsprossung dar, bei der ausgehend von einer Öffnung in der Zellwand eine Tochterzelle entsteht. Da Hefen (engl.: yeast) in der Form der Zellsprossung wachsen, wird diese Form auch als Y-Form bezeichnet. So wachsen u.a. die Pilze der Gattung Candida und Cryptococcus. Bei manchen Candida-Arten entsteht durch Längenwachstum der Tochterzellen ein Pseudomyzel (Abb. 48-18). Einige pathogene Candida-Arten können im Gewebe echtes Myzel bilden. Während bei einem echten Myzel zwischen zwei Zellen im Bereich des Septums keine

Zellwandveränderung besteht (Abb. 48-18, siehe ①), liegt eine Einziehung bei einem Pseudomyzel an dieser Stelle (Abb. 48-18, siehe ②) aufgrund der Wachstumsart vor.

Abb. 48-18

Wachstumsformen der Pilze.

Hyphen, Myzel, Zellsprossung und Pseudomyzel (nähere Erläuterungen siehe Text). In Abhängigkeit von ihrer Lebenssituation können dimorphe Pilze sowohl in der M- als auch in der Y-Form wachsen (z.B. Histoplasma capsulatum). Pilze vermehren sich durch Sporen, wobei eine geschlechtliche von einer ungeschlechtlichen Vermehrungsform unterschieden wird. Viele medizinisch relevante

Pilze vermehren sich durch ungeschlechtliche Sporen (Konidien), die in Abhängigkeit von Art und Gattung oft auf speziellen Strukturen (Konidiophoren) gebildet werden. Für die medizinische Diagnostik hat sich die Einteilung im DHS(DermatophytenHefen-Schimmelpilze)-System nach Rieth bewährt (Tab. 48-9). Die unterschiedlichen Infektionswege sind in Tab. 48-10 zusammengefasst.

48.3.2

Abwehrmechanismen

Die Abwehrmechanismen unseres Körpers gegen Pilze sind so effektiv, dass der gesunde Organismus vor den meisten Infektionen geschützt ist. Abhängig vom Erreger erfolgt die Abwehrreaktion auf spezifischer oder unspezifischer zellulärer Ebene. Bei Kryptokokkosen sind T-Lymphozyten und Lymphokine, die Makrophagen aktivieren, die Effektoren des Immunsystems. Defekte der spezifischen zellulären Immunität, wie z.B. Lymphome und AIDS, prädisponieren daher zu einer Infektion mit Cryptococcus neoformans.

Tab. 48-9 Erreger von Mykosen im DHS-System nach Rieth (Auswahl).

Tab. 48-10 Infektionsweg, Erkrankung und Erreger. Sprosspilze der Gattung Candida und Schimmelpilze dagegen werden von neutrophilen Granulozyten und Makrophagen abgewehrt. Eine Leukopenie prädisponiert zu einer invasiven Aspergillose, Candida-Mykose oder Zygomykose.

48.3.3

Einteilung der Mykosen

Eine Mykose wird durch das parasitäre Wachstum des Pilzes im lebenden Gewebe hervorgerufen. Je nach der Lokalisation der Mykose lassen sich oberflächliche, subkutane und tiefe Mykosen unterscheiden.

Oberflächliche Mykosen Bei den oberflächlichen Mykosen handelt es sich um Infektionen der Haut, Nägel und Haare sowie der Schleimhautoberflächen (siehe Kap. 42.6.3, 27.6.4 und 29.7.3).

Subkutane Mykosen Subkutane Mykosen entstehen in der Regel auf dem Boden von Verletzungen. Die wesentlichen Erreger gehören zu den Dematiaceae (Schwärzepilzen) und wachsen mit braun pigmentierten, septierten Hyphen im Gewebe. Es handelt sich hierbei um Erreger der Gattungen Alternaria, Bipolaris, Curvularia, Exophiala, Exserohilum, Phialophora sowie Xylohypha. Die Infektion im Bereich der Subkutis kann auf den Knochen übergreifen. Diese Form der Mykose kommt zumeist in den Tropen vor und ist nicht selten durch eine chronisch granulierende Entzündung gekennzeichnet.

Bei immunsupprimierten Patienten wurden vereinzelt auch tiefe Mykosen durch diese Erreger beschrieben. Sowohl die subkutanen als auch die tiefen Mykosen durch Dematiaceae stellen in Europa eine Seltenheit dar. Jedoch können in Europa subkutane und kutane Veränderungen, meist zu Beginn makulopapulärer, später pustulärer oder ulzeröser Art, in unterschiedlichem Ausmaß im Rahmen einer hämatogenen Streuung tiefer Mykosen (siehe unten) auftreten (Tab. 48-11).

Tiefe Mykosen Tiefe Mykosen können generalisieren und/oder einzelne Organe betreffen. Sie stellen in Europa in der Regel opportunistische Erkrankungen bei Vorliegen prädisponierender

Tab. 48-11 Häufigkeit hämatogen bedingter (sub)kutaner Veränderungen bei tiefen generalisierenden Mykosen.

Tab. 48-12 Prädisponierende Faktoren für Mykosen. Faktoren (Tab. 48-12) dar. In der Reihenfolge ihrer Häufigkeit handelt es sich bei den systemischen Mykosen um Candidosen, Aspergillosen, Kryptokokkosen und Mukormykosen sowie in seltenen Fällen um Trichosporosen oder Fusariosen. Aspergillose, Mukormykose und Kryptokokkose entstehen durch Inhalation der Erreger (aerogene Infektion). Bei der Candidose handelt es sich um eine endogene oder exogene „Schmierinfektion“. Generalisierte Organmykosen gehen häufig letal aus. Im Gegensatz dazu stellen Histoplasmose, Kokzidioidomykose, Blastomykose und Parakokzidioidomykose tief lokalisierte Mykosen mit Tendenz zur Generalisation auch bei nichtprädisponierten Personen dar. Diese obligat pathogenen Erreger kommen allerdings nur in Endemiegebieten außerhalb Europas vor. Im Folgenden werden die in Europa vorkommenden generalisierten systemischen Pilzerkrankungen besprochen.

48.3.4

Candidosen

Erreger der Candidose sind Hefen der Gattung Candida, zu der mehr als 150 Hefearten gehören. Wichtige pathogene Erreger sind Candida albicans, Candida tropicalis, Candida glabrata, Candida parapsilosis, Candida krusei und Candida inconspicua. Der Verdauungstrakt von Mensch und Tier stellt für einen Teil der pathogenen Hefen den natürlichen Lebensraum dar. In ca. 25% sind bei Gesunden Hefen im Mund-RachenRaum bzw. im Anorektalbereich als Teil der transienten Flora nachweisbar. Eine physiologische Flora mit pathogenen Pilzen gibt es beim Menschen nicht.

Pathogenese Liegt eine lokale, regionale oder generalisierte Prädisposition vor, kann es zu einer Kolonisation von Hefen der transienten Flora auf der Haut und/oder v.a. den Schleimhäuten kommen, die häufig den Ausgangspunkt für eine lokale und/oder eine tiefe Infektion darstellt. Dabei spielen Exoenzyme (saure Proteinasen, Phosphomonoesterasen, Phospholipasen) und verschiedene Zellwandproteine (Manoproteine) als Adhäsine eine Rolle.

Morphologie

Je nach Art stellen sich die Pilze histologisch als PAS-positive Sprosszellen oder lang gestreckte Elemente (teils Pseudomyzel, teils echtes Myzel) dar. Während bei der akut disseminierten Form Nekrosen und Abszesse im Vordergrund stehen, kommt es bei chronisch disseminierten Verläufen eher zur Granulombildung.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Bestimmte Hefen (z.B. Candida albicans) verursachen schon bei einer Kolonisation auf Wundflächen aufgrund eines ausgeprägten zytopathischen Effekts Wundheilungsstörungen, ohne jedoch unbedingt eine Mykose auszulösen. Die Candida-Pneumonie bietet radiologisch das Bild einer Herdpneumonie. Die hepatolienale Candidose stellt eine Sonderform der chronisch disseminierten Candidosen bei Zustand nach Knochenmarkaplasie dar. Bei einer Candida-Sepsis handelt es sich in den meisten Fällen um eine von einer Hefekolonisation im Dünndarm ausgehende endogene Infektion prädisponierter Patienten. Durch Persorption (= parazellulärer Durchtritt von festen, unverformbaren Partikeln bis zu einer Größe von 150 μm) gelangen Hefen vom Dünndarm aus in die Lymphbahnen des Magen-Darm-Traktes und führen so zu einer Fungämie (Abb. 48-19). Liegt eine Einschränkung der zellulären Immunabwehr, v.a. der Granulozyten und Makrophagen, und/oder des retikuloendothelialen Systems vor, so kann es zu einer Pilzsepsis mit Absiedlung der Erreger in verschiedene Organe, bevorzugt in Lunge, Leber, Nieren (80%), Gehirn (50%) und Herz (50%), kommen (Abb. 48-19). Der Einbruch von Hefen in die Gefäßbahn im Rahmen einer sekundären Candida-Pneumonie stellt einen weiteren, wenn auch selteneren Infektionsweg einer Candida-Septikämie dar. Die zusätzliche Letalität einer Candida-Sepsis beträgt 38%.

48.3.5

Kryptokokkose

Cryptococcus neoformans ist ein runder, 10 μm großer, hefeartiger Pilz mit einer Schleimkapsel. Er ist der Erreger der Kryptokokkose. Vogel-(Tauben-)Kot sowie das damit verunreinigte Erdreich stellen das Erregerreservoir dar. Wichtigster disponierender Faktor ist eine Störung der spezifischen zellulären Immunität, wie z.B. AIDS. Das Krankheitsbild verläuft in Stadien, wobei lokalisierte und generalisierte Stadien unterschieden werden. ■ Lungenkryptokokkose. Die Kryptokokken gelangen aerogen in die Lungen, wo sie bei entsprechend prädisponierten Patienten meist kleine asymptomatische Pilzherde ohne nennenswerte Abwehrreaktion des Organismus bilden. Die primäre Infektion der Lunge wird in der Regel nicht bemerkt und verläuft unter den Zeichen eines milden pulmonalen Infekts (Husten, vermehrte Sputumproduktion, evtl. Fieber). Bei inhalativer Kortikoidtherapie kann es zu einer miliaren Streuung mit granulomatösen Entzündungen und Nekrosen kommen. ■ Generalisationsstadium. Es erfolgt eine Dissemination mit überwiegender Manifestation im Bereich des ZNS, typischerweise als Meningoenzephalitis, die mit hoher Letalität verbunden ist. Erreger und/oder Kapselantigen lassen sich im Liquor nachweisen (Abb. 48-20). In ungefähr 5% der ZNS-Manifestationen finden sich tumorartige raumfordernde Herde. In diesen Fällen ist in der Regel die zelluläre Immunabwehr nur partiell eingeschränkt (siehe Kap. 8.5.5).

Abb. 48-19

Candidosen.

a Candida-Sepsis mit Befall der Niere. Nierenoberfläche mit zahlreichen septikopyämischen Pilzherden (Pfeile).

b Histologisches Präparat der Niere mit Blastokonidien (B), Pseudomyzel (P) und echtem Myzel (M). Kulturell: Candida albicans. c Entstehung lokaler und systemischer Komplikationen durch Hefen. Im Rahmen der Dissemination kann es auch zum Befall von Haut (10–15%), Skelettsystem (5–10%) und anderen Organen (Abb. 48-21) kommen. Bei AIDSPatienten ist die Prostata ein bleibendes Reservoir für Kryptokokken. Symptomatik und Verlauf der generalisierten Kryptokokkose sind durch die Hirnbeteiligung bestimmt. Patienten mit einem bleibenden T-Zell-Defekt bedürfen einer lebenslangen Therapie.

Abb. 48-20 Tuschepräparat des Liquors bei einer Kryptokokkenmeningitis.

Unterschiedlich große Kryptokokken mit Kapseln („Sternenhimmel“). Tusche, Vergr. 250fach.

48.3.6

Aspergillose

Die Aspergillose ist eine opportunistische Pilzerkrankung, die durch Schimmelpilze der Gattung Aspergillus hervorgerufen wird. Der Erreger wächst in Form von etwa 3 μm gleichmäßig breiten, septierten und verzweigten Hyphen, die ein Myzel mit Fruchtköpfen bilden. Das bekannteste Mykotoxin ist das Aflatoxin, das u.a. in der Ätiologie des primären Leberkarzinoms eine Rolle spielt. Die häufigsten humanpathogenen Arten sind Aspergillus fumigatus, Aspergillus niger, Aspergillus flavus und Aspergillus terreus.

Abb. 48-21

Kryptokokkeninfektion des Myokards

mit Ausbildung eines weitgehend areaktiven Kryptokokkenherdes innerhalb der Muskulatur. HE, Vergr. 250fach. Die Aspergillose ist eine klassische Inhalationsmykose. Erkrankungen der Lunge sowie der Nasennebenhöhlen stehen im Vordergrund. Dispositionsfaktoren sind Alkoholismus, Diabetes mellitus, Leukopenie und Kortisontherapie. Bei immunsupprimierten Patienten kann es zu einer Absiedlung in andere innere Organe kommen mit einer Letalität bis zu 45% und mehr. Im Folgenden werden die verschiedenen Formen der Aspergillose dargestellt.

Akute invasive pulmonale Aspergillose Dieses Krankheitsbild tritt insbesondere bei neutropenischen Patienten oder bei Patienten mit Knochenmarkaplasie auf und nimmt an Häufigkeit zu. Die invasive pulmonale Aspergillose ist gekennzeichnet durch: ■

ein bevorzugtes Einwachsen der Erreger in die Pulmonalarterien



hämorrhagische Infarkte (Abb. 48-22a, b, c)

■ hämatogene Streuung und Metastasierung in das Gehirn, den Gastrointestinaltrakt oder andere Organe mit einer Wahrscheinlichkeit von 30%. In allen befallenen Organen finden sich thrombotisch bzw. thrombembolisch verschlossene Gefäße mit septierten und spitzwinklig verzweigten Pilzmyzelien und meist ausgedehnten, teils hämorrhagischen Nekrosen.

Aspergillom und Pseudoaspergillom Beim klassischen Aspergillom handelt es sich um ein Konglomerat aus Pilzhyphen verschiedenster Vitalzustände und Degenerationserscheinungen in präformierten Höhlen (z.B. Kieferhöhle), in tuberkulösen Kavernen oder Bronchiektasen. Ein Aspergillom entwickelt sich über verschiedene Stadien: das Initialstadium, die Wachstumsphase, die Ruhephase, das Degenerationsstadium und das Stadium des „toten Sequesters“. Im Stadium des „toten Sequesters“ kann das Aspergillom eine Quelle für eine allergisch-bronchopulmonale Aspergillose (ABPA, siehe unten) darstellen. Wenn ein Aspergillom über Jahre besteht, zieht es derbe fibrotische Veränderungen in der Wand der präformierten Höhle nach sich.

Abb. 48-22

Pulmonale Aspergillose.

a „Typisches Bild“ im hochauflösenden Computertomogramm (HR-CT) mit Ausbildung gefäßbezogener Infiltrate in beiden Lungen. (Die Abbildung verdanken wir Herrn Dr. med. N. Roos, Institut für klinische Radiologie der Westfälischen Wilhelms-Universität).

b Hämorrhagische Infarzierung der Lunge (Pfeile) sowie Ausbildung eines subpleuralen bronchopneumonischen Herdes. HE, Vergr. 10fach. c Histologisches Präparat mit typischem Wachstum von Aspergillosemyzel. HE, Vergr. 20fach. Aggressive, invasiv verlaufende Aspergillomformen führen in 50–80% der Fälle zu einer Gefäßarrosion mit teilweise massiven lebensbedrohlichen Blutungen. Das Pseudoaspergillom entsteht im Verlauf einer invasiven pulmonalen Aspergillose, wenn die Patienten aus der Knochenmarkaplasie in einen immunkompetenten Zustand zurückgekehrt sind. Hierbei kommt es zur Markierung der Lungenherde durch Granulozyten und Makrophagen sowie zu Einschmelzungs- und Resorptionsprozessen, die sich radiologisch als Luftsichel darstellen. Histologisch handelt es sich beim Pseudoaspergillom um Lungengewebe mit den Zeichen einer invasiven Aspergillose. Aufgrund ihrer Entstehung und der damit verbundenen Gefäßversorgung sind Pseudoaspergillome in der Regel einer systemisch-antimykotischen Therapie zugänglich. Bei echten, lokalisierten Aspergillomen dagegen kommt therapeutisch derzeit nur die operative Entfernung in Frage. Nur in ca. 10% der Fälle kommt es zu einer spontanen Heilung.

Sinunasale Aspergillosen Sinunasale Aspergillosen manifestieren sich unter dem Bild einer Polyposis der Nebenhöhlen als chronische Erkrankung. Sie sollten vor einer aplasiogenen Therapie ausgeschlossen werden (Infektionsherd für invasive Aspergillosen in Aplasie).

Allergische Formen der Aspergillose Bei der allergisch-bronchopulmonalen Aspergillose (ABPA) kommt es zu einer komplizierten allergischen Reaktion, die sich aus Typ-I-, -III- und -IV-Reaktionen zusammensetzt. Im Verlauf der Erkrankung kann es zu fortschreitenden Bronchiektasen und zur Fibrose kommen. Bei Patienten mit zystischer Fibrose ist in einem erhöhten Prozentsatz (4–15%) mit einer APBA zu rechnen.

48.3.7

Mukormykose – Zygomykose

Unter dem Begriff der Mukormykose fasst man Erkrankungen durch Schimmelpilze der Ordnung Mucoralis zusammen. Ähnliche Krankheitsbilder werden in den Subtropen und Tropen durch Schimmelpilze der Ordnung Entomophthoralis hervorgerufen. Der Begriff Zygomykose fasst die Erkrankungen durch beide Ordnungen auf Klassenebene zusammen. Prädisponiert sind v.a. Diabetiker mit ketoazidotischer Stoffwechsellage,

knochenmarktransplantierte und immunsupprimierte Patienten sowie Patienten unter Hämodialyse und gleichzeitiger Therapie mit Deferoxamin. Der wichtigste Erreger der humanen Mukormykose ist Rhizopus arrhizus. In der Kultur und im Gewebe sind diese Pilze durch breite (10–25 μm im Durchmesser), wenig septierte oder unseptierte, irregulär verzweigte Hyphen gekennzeichnet. Die Mukorazeen zeigen eine hohe Gefäßaffinität. Ihr Einbruch in die Blutbahn führt zu Hämorrhagien, Ischämien und metastatischer Streuung. Die häufigste Manifestationsform ist die rhinozerebrale Mukormykose, gefolgt von der generalisierten Mukormykose. Pulmonale, abdominale und kutane Mukormykosen kommen selten als Einzelformen vor, sondern stellen in der Regel Organmanifestationen im Rahmen einer Generalisation dar.

Akute rhinozerebrale Mukormykose Ausgehend von der Nase bzw. den Nasennebenhöhlen kommt es zu einem massiven invasiven Wachstum der Erreger mit Einbruch in Gefäße, Orbita, Auge und Gehirn. Ischämie und Hämorrhagien begünstigen das Auftreten einer schnell voranschreitenden Nekrose des Wundgebietes. Im nekrotischen Material liegen nach Behandlung mit Kalilauge dickwandige, kaum oder gar nicht septierte Hyphen mit einem mittleren Durchmesser von 10–15μm vor. Reguläre Verzweigungen sowie sprunghafte Veränderungen im Durchmesser der Hyphen sind zu finden. Die Letalität einer rhinozerebralen Mukormykose liegt zwischen 70 und 100%.

48.3.8

Pneumozystose

Die Pneumozystose ist eine interstitielle Pneumonie (Abb. 48-23) bei Frühgeborenen und Säuglingen sowie bei immunsupprimierten Personen und wird durch Pneumocystis jiroveci (vormals P. carinii), einen ubiquitär vorkommenden, fakultativ pathogenen Erreger, verursacht (siehe Kap. 24.6.2 und Abb. 24-25), dessen Morphologie protozoenähnlich ist, der aufgrund von RNA-Analysen jedoch jetzt den Pilzen zugeordnet wird.

48.3.9

Außereuropäische Mykosen

Die Blastomykose, die Kokzidioidomykose, die Parakokzidioidomykose sowie die Histoplasmose kommen in Europa nur bei Personen vor, die sich in den Endemiegebieten der Erkrankung aufgehalten haben oder deren besondere berufliche Exposition einen direkten Infektionsweg mit sich bringt. Zur näheren Erläuterung dieser Erkrankungen sei auf Tab. 48-13 und die spezielle Literatur verwiesen.

Abb. 48-23

Pneumocystis-Pneumonie.

Die Erreger finden sich intralobulär, das entzündliche Infiltrat liegt dagegen im Interstitium vor. HE, Vergr. 270fach (mit freundlicher Genehmigung von pathologie-online.de).

Tab. 48-13 Wesentliche außereuropäische Mykosen (Übersicht).Infektionsweg: aerogen, keine Übertragung von Mensch zu Mensch. Erkrankung Gattung/Art Endemiegebiete Klinisch-pathologische Korrelationen Blastomykose Blastomyces B. dermatitidis ■ Gebiete des Ostens und des Mittleren Westens der USA bis nach Kanada



Mittel- und Südamerika



Teile Afrikas



epitheloidzellige Granulome



chronische Eiterungen



Fibrosierung



Nekrosen

Klinik: akute pulmonale Infektion (grippeähnlich), gefolgt von Metastasierungen in die Haut (Mikroabszesse, Fistelbildung, papillomatöse, warzenartige Läsionen), ferner in Knochen (25–50%), Urogenitalsystem (5– 20%), Zentralnervensystem (3–10%), Leber, Milz u.a. Kokzidioidomykose Coccidioides C. immitis ■

Südwesten Nordamerikas



Mittel- und Südamerika



Eiterungen



epitheloidzellige Granulome



Fibrose



Verkäsung



Verkalkung

Klinik: asymptomatischer oder grippeähnlicher Verlauf (ca. 60%), nach 1–3 Wochen Fieber, Pneumonie, Pleuritis, Husten mit Auswurf, Anorexia, Erythema nodosum, Arthralgien, Disseminierung selten, aber in alle Organe möglich (< 1%). Histoplasmose Histoplasma H. capsulatum ■

Zentralregion Nordamerikas Mittel- und Südamerika



Afrika



Australien



Südostasien insbes. Indien, Malaysia



Befall des RES



intrazelluläre Lagerung in Makrophagen



epitheloidzellige Granulome



Fibrose



Verkäsung



Verkalkung

Klinik: primäre Form: Lungenveränderungen ähnlich Tuberkulose mit Primärkomplex; in 99% Spontanheilung; disseminierte Form: bei Immunsuppression (z.B. AIDS); chronische Form: chronisch obstruktive Form, Fibrose, Granulomatose u.a. afrikanische Histoplasmose H. capsulatum var. dubosii ■

Afrika insbes. Zentralbereiche



Granulome



Eiterungen



Aggregate von Riesenzellen



Kettenbildung (4–5) der Hefezellen

Klinik: destruktive granulomatöse Prozesse kutan, subkutan und im Bereich der Knochen und Lymphknoten. Infektionsweg unbekannt – oral? Parakokzidioidomykose Paracoccidioides P. brasiliensis ■

Süd- und Mittelamerika



Mikroabszesse



epitheloidzellige Granulome



chronische Eiterungen



Mikroabszesse



Nekrosen



Fibrosierung



„Steuerradformation“ der Erreger

Klinik: Geschwüre im Oropharynx, Gingiva, Zahnverlust; primär benigne pulmonale Form; progressive Form: akut bei Immunsupprimierten; chronisch Befall der Lymphbahnen, Leber, Milz u.a.

48.4

Infektionskrankheiten durch Protozoen

Protozoen sind einzellige eukaryotische Mikroorganismen. Humanpathogene Protozoen findet man unter den Rhizopoden, Flagellaten, Sporozoen, Ziliaten und Mikrosporidien. Der Lebenszyklus der meisten Protozoen weist unterschiedlichste Vermehrungs- und Lebensformen auf. Ein Teil des Entwicklungszyklus kann in spezifischen Vektoren (Blutsauger wie Mücken und Wanzen) oder unter besonderen Bedingungen in der Umwelt stattfinden, bevor sich nach Infektion eines Wirtsorganismus der Entwicklungskreis schließt. In Abhängigkeit vom Ort der Vermehrung im Menschen lassen sich luminale, hämatogene und intrazelluläre humanpathogene Protozoen unterscheiden.

48.4.1

Abwehrmechanismen

Protozoen werden vom Organismus mit unspezifischen (neutrophile Granulozyten, Makrophagen, Komplement) und spezifischen zellulären und humoralen Effektoren des Immunsystems bekämpft. Bei Plasmodien, Sporozoiten und Trypanosomen lösen Antikörper gegen Protozoenantigene und Komplement eine Schädigung/Lyse der Erreger im Blut oder in Gewebeflüssigkeiten aus. Durch Opsonierung fördern die Antikörper die Phagozytose der Erreger. Andererseits können Antikörper die Adhäsionsmoleküle auf Zellen des Wirtsorganismus besetzen und so die Anlagerung der Erreger an die Wirtszellen sowie deren weitere Ausbreitung im Wirt verhindern. Zelluläre Immunmechanismen sind v.a. bei intrazellulären Protozoen (Trypanosomen, Leishmanien) von Bedeutung und umfassen die Aktivierung von Makrophagen durch TLymphozyten und Lymphokine mit Verstärkung der makrozytären Abtötungsmechanismen.

48.4.2

Erkrankungen durch Rhizopoden

Amöbiasis Syn.: Amöbenruhr Von den Amöbenarten, die im Darm des Menschen vorkommen können, ist die weltweit gehäuft in den Tropen und Subtropen vorkommende Art Entamoeba histolytica die einzige pathogene Art. Molekularbiologisch verbergen sich jedoch unter dieser morphologisch klassifizierten Amöbenart die apathogene Spezies Entamoeba dispar und die pathogene Spezies Entamoeba histolytica (sensu strictu).

Pathogenese Im Dickdarm des Menschen lebt Entamoeba histolytica in seiner vegetativen Form (Trophozoit) als Minutaform (Darmlumenform) und vermehrt sich durch Teilung, ohne Krankheitserscheinungen zu verursachen. Diese vegetativen Formen bilden im distalen Kolon dickwandige, unbewegliche Dauerformen (= Zysten). Sie werden mit dem Stuhl ausgeschieden und besitzen eine hohe Umweltresistenz (u.a. magensaftresistent!). Nach ihrer oralen Aufnahme durch fäkal verunreinigtes Trinkwasser und/oder Speisen kommt es im Darm zur Freisetzung der Amöben und zur Infektion. Bei der invasiven Amöbiasis kommt es mittels proteolytischer Enzyme zum Übertritt von Trophozoiten aus dem Darmlumen in die Kolonschleimhaut. Diese als Gewebeform deutlich vergrößerten Trophozoiten (Magnaformen), die typischerweise phagozytierte Erythrozyten beinhalten, können nur von Entamoeba histolytica (sensu stricto) gebildet werden. Über Lymphbahnen und Blutgefäße (Parasitämie) kann die Absiedlung der Amöben in die Organe, bevorzugt in die Leber, erfolgen.

Morphologie Die Invasion der Kolonschleimhaut durch die Magnaformen hinterlässt Ulzerationen, in denen histologisch an der Oberfläche, im Schleim und im Nekroserand PAS-positive Amöben nachweisbar sind (Abb. 48-24a, b). Die Abszesse bei der Leberamöbiasis entsprechen einschmelzenden Nekroseherden.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die Amöbiasis kann asymptomatisch verlaufen. Die akute Proktokolitis mit kolikartigen Bauchschmerzen, Tenesmen und blutig-schleimiger Diarrhö stellt das klassische Erkrankungsbild dar. Arterielle Gefäßarrosion sowie Darmperforation mit nachfolgender Peritonitis, bedingt durch die Ulzera und ihre Veränderungen, stellen lebensbedrohliche Komplikationen dar. Der Leberabszess – überwiegend im rechten Leberlappen – stellt mit über 90% die häufigste extraintestinale Komplikation dar.

Abb. 48-24

Amöbenkolitis.

a Makroskopie. Aufsicht auf die Kolonschleimhaut mit Ausbildung von Amöbenabszessen (Pfeile). b Histologie. Präparat mit dem Randbereich eines Abszesses mit zahlreichen PASpositiven Amöben (Pfeile). HE, Vergr. 50fach.

Diagnose Der Nachweis von Magnaformen ist aus den Blut-Schleim-Beimengungen bis maximal eine Stunde nach Absetzen des Stuhls oder aus koloskopisch gewonnenem Schleim möglich. Die auch in älteren Stuhlproben nachweisbaren Zysten lassen morphologisch jedoch keine Differenzierung zwischen E. dispar und E. histolytica (sensu stricto) zu, hierzu bedarf es spezifischer Antigen-ELISA- oder PCR-Methoden.

Für die histologische Untersuchung eignet sich Gewebe aus den aufgeworfenen Rändern der unterminierten Geschwüre.

48.4.3 Erkrankungen durch Sporozoen Malaria Plasmodien sind die Erreger der Malaria. Man unterscheidet verschiedene Malariaformen, die von unterschiedlichen Plasmodien-Arten hervorgerufen werden. ■

Plasmodium falciparum (Malaria tropica)



Plasmodium vivax (Malaria tertiana)



Plasmodium ovale (Malaria-tertiana-ähnliches Krankheitsbild)



Plasmodium malariae (Malaria quartana).

In fast allen tropischen und vielen subtropischen Ländern ist die Malaria verbreitet, derzeit jedoch nicht in Europa, Nordamerika und Australien. Herdgebiete gibt es ferner an der nordafrikanischen Küste, in der Türkei sowie in den mittelasiatischen Nachfolgestaaten der ehemaligen UdSSR.

Pathogenese Endwirt der Malariaerreger sind die Stechmückenweibchen der Gattung Anopheles, in deren Darm der geschlechtliche Entwicklungszyklus der Erreger abläuft. Am Ende der Entwicklung gelangen die Sporozoiten in die Speicheldrüse der Mücke. Beim Stich werden die Sporozoiten mit dem Speichel der Mücke in die Gefäßbahn des Menschen übertragen. Eine erste ungeschlechtliche Vermehrungsphase findet in den Leberparenchymzellen und im retikuloendothelialen System (RES) statt (exoerythrozytäre Schizogenie). Durch Zerfall befallener Leberzellen werden Tochterparasiten (Merozoiten) frei, die nun Erythrozyten befallen. In der Folge laufen Teilungszyklen in den Erythrozyten ab (erythrozytäre Schizogenie), die nach einer Anfangsphase rhythmisch artspezifisch synchronisiert werden. Nach einigen Teilungszyklen der Parasiten kommt es zur Lyse der Erythrozyten, und es werden Merozoiten und ihre Stoffwechselprodukte, u.a. pyrogene Substanzen, frei. Das führt beim Patienten zu den Krankheitserscheinungen wie Fieber (typisches Wechselfieber, meist aber nicht bei der Malaria tropica), Anämie und Thrombopenie. Der – im Gegensatz zu den anderen benignen Malariaformen – lebensbedrohliche Verlauf der Malaria tropica wird durch die Plasmodium-falciparum-bedingte Ausbildung von sog. „knobs“ an der Erythrozytenoberfläche verursacht. Diese rufen durch die erhöhte Adhäsion der Parasiten an die Endothelzellen der Kapillarwände Gefäßverschlüsse mit nachfolgender Ischämie hervor. Von besonderer Bedeutung sind

hierbei die Alterationen in Gehirn (zerebrale Malaria), Herz, Leber, Milz, Niere, Nebenniere und Knochenmark. Die Merozoiten werden schließlich geschlechtsreif und als Makro- und Mikrogametozyten beim Stich eines Anophelesweibchens wieder aufgenommen, wo sie sich geschlechtlich vermehren. Ursache von Rezidiven bei Infektionen mit P. vivax oder P. ovale ist die Ausbildung von sog. Hypnozoiten (Ruhestadien in den Leberzellen), bei Infektionen mit P. malariae liegt die Ursache in einer diagnostisch nicht nachweisbaren geringgradigen Persistenz des Erregers in Erythrozyten.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Erkrankung ist durch Zirkulationsstörungen, Gewebehypoxie und Diapedeseblutungen geprägt. Im retikulohistiozytären System kann es zur Einlagerung von schwarzem Malariapigment (Abb. 48-25) kommen (histologisches Kriterium bei entsprechenden Punktaten). Hierbei handelt es sich um durch die Parasiten abgebautes Hämoglobin. Die Malaria tropica hat den schwersten klinischen Verlauf mit nicht selten letalem Ausgang. Komplikationen sind u.a.: ■ Zerebrale Malaria. Sie stellt die schwerste Komplikation der Malaria tropica dar mit Störungen des Bewusstseins bis hin zum Koma und zur Ausbildung neurologischer Symptome (Krämpfe, Lähmungen). ■ Schwarzwasserfieber. Es ist der historische Begriff für eine Hämoglobinurie, die verursacht ist durch eine massive intravasale Hämolyse mit terminaler Niereninsuffizienz (Hämoglobinurie mit Nekrosen der Tubulusepithelien), Erythrozytenphagozytose, Ikterus und hämorrhagische Diathese. ■ Bei der sog. algiden Form der Malaria liegt ein schwerer Schockzustand bei oft „normaler“ Körpertemperatur vor. Schwere Verläufe der Malaria tropica mit zentralen Komplikationen weisen eine Mortalität von 20–50% auf. Bei der Malaria tertiana und quartana steht das Fieber im Vordergrund, Todesfälle sind selten.

Abb. 48-25 Niere.

Malariapigment (= Hämozoin) in der

HE, Vergr. 325fach (mit freundlicher Genehmigung von pathologie-online.de).

Toxoplasmose Bei der Toxoplasmose handelt es sich um eine Erkrankung durch Toxoplasma gondii, einen obligat intrazellulären Parasiten. Das Wirtsspektrum der Toxoplasmen ist breit. Die geschlechtliche Vermehrung erfolgt im Darm der Katze. Die Oozysten werden mit dem Katzenkot ausgeschieden, mit dem der Mensch sich infiziert. Eine weitere Infektionsmöglichkeit stellt der Verzehr von rohem Fleisch (Schweinehack), welches Hunderte von Parasiten in dickwandigen Gewebezysten enthalten kann, dar. Nach oraler Aufnahme und Penetration durch den Darm befallen die Parasiten zunächst die Zellen des RES und können in Blut, Lymphknoten und Liquor nachgewiesen werden. Sie vermehren sich in den Zellen des Wirtsorganismus, bis dieser zugrunde geht oder eine Immunreaktion einsetzt. In diesem Fall bildet der Erreger Gewebezysten insbesondere im Gehirn und in der Muskulatur aus, in denen er sich langsam weiter vermehren kann.

Klinisch-pathologische Korrelationen In der Regel führt die Toxoplasmainfektion ohne nennenswerte Krankheitszeichen zu einer effektiven Immunabwehr. Die Parasiten selbst können aber in dickwandigen Gewebekapseln in den oben aufgeführten Organen überleben. Bei immundefizienten Patienten kann es zu einer Reaktivierung der Toxoplasmainfektion kommen. Typisch ist dabei die Toxoplasmaenzephalitis (siehe Kap. 8.5.6). Sie ist gekennzeichnet durch einzelne oder multiple Herde einer nekrotisierenden Entzündung mit neutrophilen Granulozyten und Histiozyten, aufgebrochenen Toxoplasma-zysten und freien Trophozoiten im Zentrum. Zu einem geringen Prozentsatz entwickelt sich bei immunkompetenten Personen vorzugsweise im Halsbereich eine schmerzlose Lymphknotenschwellung (Lymphadenitis toxoplasmotica). Histologisch findet sich in den vergrößerten Lymphknoten das Bild einer kleinherdigen epitheloidzelligen Lymphadenitis mit Follikelhyperplasie. Eine konnatale Toxoplasmose kann nur bei einer Erstinfektion der Schwangeren während der Gravidität entstehen. Das Risiko einer fetalen Erkrankung ist abhängig vom Infektionszeitpunkt während der Schwangerschaft und ist im dritten Trimenon am höchsten.

48.4.4 Erkrankungen durch Flagellaten Leishmaniose Unter dem Begriff Leishmaniasis (Leishmaniose) werden durch Leishmanien (intrazelluläre Protozoen) hervorgerufene chronische Infektionserkrankungen zusammengefasst. Vektoren sind infizierte Sandmücken (Phlebotomus, Lutzomyia). Folgende Erkrankungen sind zu unterscheiden: ■ Kutane Leishmaniosen der Alten Welt (Orientbeule, Alleppobeule, Delhibeule u.a.). Erreger sind verschiedene Subspezies von Leishmania tropica und major u.a. im Mittelmeerraum, in der Sahelzone und in Ostindien (Abb. 48-26). ■ Kutane und mukokutane Leishmaniosen der Neuen Welt in Lateinamerika werden durch Erreger aus dem Leishmania-brasiliensis-Komplex und dem Leishmania-mexicana-Komplex sowie durch Leishmania peruviana hervorgerufen. ■ Die viszerale Leishmaniose (Kala-Azar) wird hervorgerufen durch Subspezies von Leishmania donovani im Mittelmeerraum, in Teilen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas.

Abb. 48-26

Leishmaniose im Knochenmarkausstrich.

Makrophage mit zahlreichen intrazytoplasmatischen Leishmanien. Giemsa, Vergr. 1000fach.

Pathogenese Die Erreger vermehren sich in Zellen des retikuloendothelialen Systems (RES) von Darm, Leber, Milz, Lymphknoten und Knochenmark. Manifeste Infektionen setzen häufig Defekte der zellulären Immunität voraus.

Morphologie Im Vordergrund steht eine ausgeprägte Splenomegalie, gelegentlich auch eine Hepatomegalie. Die Zellen des RES enthalten reichlich Erreger, die mit Spezialfärbungen nachgewiesen werden können. Es imponiert eine ausgeprägte Vermehrung von Histiozyten, die teilweise das Bild einer granulomatösen Entzündung annehmen kann. Für die Diagnostik der Leishmaniose ist die Knochenmarkpunktion mit dem Nachweis der Erreger in den histiozytären Knochenmarkzellen von besonderer Bedeutung.

Klinisch-pathologische Korrelationen Bei der viszeralen Leishmaniose (Kala-Azar) stehen die Störungen des RES im Vordergrund. Im Verlauf der Erkrankung kommt es zu Fieber, Splenomegalie und durch Verdrängung des Knochenmarks zunehmend zu Anämie, Granulozytopenie und Thrombopenie.

Trypanosomiasis Die für die Humanmedizin klinisch wichtigsten Erkrankungen durch Flagellaten der Gattung Trypanosoma sind die Schlafkrankheit (afrikanische Trypanosomiasis) sowie die Chagas-Krankheit (amerikanische Trypanosomiasis).

Schlafkrankheit Bei der Schlafkrankheit wird zwischen einer akuten Form durch Trypanosoma brucei rhodesiense (Vektoren: Glossina-morsitans-Gruppe), die in den trockenen Savannen Ostafrikas vorkommt, und einer chronischen Verlaufsform (West- und Zentralafrika), die durch Trypanosoma brucei gambiense (Vektoren: Glossina palpalis u.a.) hervorgerufen wird (siehe Lehrbücher der Inneren Medizin), unterschieden.

Chagas-Krankheit Hierbei handelt es sich um eine von Trypanosoma cruzi hervorgerufene Allgemeinerkrankung. Als Vektoren fungieren blutsaugende Raubwanzen (Triatomidae), die v.a. in Mittel- und Südamerika vorkommen. Die Übertragung der Erreger erfolgt nicht beim Stich, sondern durch den beim Blutsaugen abgesetzten Wanzenkot, der in Haut- und Schleimhautläsionen eingerieben wird. Die Letalität ist regional unterschiedlich, liegt aber in der akuten Phase unter 5%. Die Zahl der infizierten Personen wird heute auf 10 Millionen geschätzt. Chronisch verlaufende Formen gehen mit der Ausbildung von Megaorganen (insbesondere Herz, Ösophagus, Magen, Kolon) einher. Die Pathogenese der Entstehung der Megaorgane ist zur Zeit unklar. Diskutiert werden Störungen von Ganglienzellen im autonomen muralen Nervenplexus, eventuell schon in der akuten Phase der Erkrankung, sowie Autoimmunprozesse.

48.5 48.5.1

Erkrankungen durch Helminthen Abwehrmechanismen

Die Größe der Helminthen sowie die häufige Veränderung ihrer Antigenstruktur im Rahmen ihrer Entwicklung stellen eine besondere Herausforderung für die spezifische und unspezifische Infektabwehr dar. Die Effektormechanismen hängen vom Entwicklungsstadium und von der Lokalisation der Erreger ab. Im Darmlumen vorkommende Nematoden induzieren eine Immunantwort der Darmmukosa: Es werden spezifische Antikörper gegen den Wurm gebildet. Eine IgEvermittelte Mastzelldegranulation führt zu vermehrter Schleimsekretion und Darmperistaltik und damit zu einer beschleunigten Austreibung des Wurmes.

Wesentliche Träger der zellulären Infektabwehr sind eosinophile und neutrophile Granulozyten sowie Makrophagen. Ihre Vermehrung, Differenzierung und Aktivität werden besonders durch die Mediatoren von T-Lymphozyten und Mastzellen beeinflusst. Ergänzt wird diese Abwehr durch spezifische Antikörper und das Komplementsystem. Morphologisches Korrelat dieser Abwehrreaktion ist ein an eosinophilen Granulozyten reiches Granulationsgewebe, das zunehmend fibrosiert.

48.5.2

Erkrankungen durch Zestoden

Für eine Reihe von Zestoden (Bandwürmer) kann der Mensch End- oder Zwischenwirt sein. Während im Fall des Endwirtes die geschlechtsreifen Würmer im Dünndarm meist ohne besondere klinische Symptomatik leben, kann es zu einer vielfältigen klinischen Symptomatik durch den Befall von Larven als Gewebeparasiten kommen, wenn der Mensch als Zwischenwirt dient.

Erreger und Epidemiologie Bandwürmer besitzen bei all ihren großen Unterschieden einen übereinstimmenden strukturellen Aufbau. Generell bestehen sie aus Kopf (Skolex), einer anschließenden Proliferationszone und der folgenden Gliederkette (Strobila) mit ihren einzelnen Gliedern (Proglottiden). Ein eigenes Darmsystem fehlt den Proglottiden, die Nahrungsaufnahme erfolgt über die Körperoberfläche aus dem Darminhalt des Wirtes. In der Regel sind die Proglottiden insbesondere im Endabschnitt komplett von den Geschlechtsorganen des Wurmes ausgefüllt. Bei den beim Menschen vorkommenden Bandwürmern handelt es sich um Hermaphroditen, wobei die skolexnahen Proglottiden in der Regel männlich, die älteren endständigen Proglottiden weiblicher Natur sind. In Deutschland ist mit einem Befall von 0,5% der Bevölkerung mit Taenia saginata, dem häufigsten Bandwurm des Menschen, zu rechnen. Andere Arten sind deutlich seltener.

Zystizerkose (Taeniasis) Die vom Endwirt (Schwein) ausgeschiedenen Eier von Taenia solium (Abb. 48-27) enthalten in der Regel eine Larve (Oncosphaera), die nach oraler Aufnahme über die Blutbahn in parenchymatöse Organe wie Gehirn, Auge und Muskulatur gelangt. Hier wird aus der Larve eine infektionsfähige Finne (Cysticercus), wobei der Skolex des späteren Bandwurms in die Finnenblase eingestülpt ist (Protoscolex). Hierdurch entstehen 15–20 mm große Zysten (Zystizerken).

Der Genuss von finnenhaltigem, unzureichend erhitztem Schweinefleisch führt beim Menschen im Bereich des Dünndarms zur Ausstülpung des Skolex und zum Heranwachsen des adulten Wurms im Verlauf einiger Wochen (Taeniasis). Mehrfachinfestationen sind möglich. Die Würmer bleiben über Jahrzehnte lebensfähig. Die Zystizerkose stellt in Deutschland heute eine Rarität dar, wohingegen sie in warmen Ländern ein schwerwiegendes Problem ist.

Abb. 48-27

Taenia solium

(Schweinefinnenbandwurm; mit freundlicher Genehmigung von pathologieonline.de). a Zystizerkus (Gesamtlänge im Original: 0,6–2 cm; hier Ausschnitt: Protoskolex mit Saugnäpfen und Hakenkranz (der Protoskolex des Rinderbandwurms, Taenia saginata, besitzt dagegen keinen Hakenkranz). b Ei (Originalgröße ca. 35 μm); radiäre Zeichnung der Hülle.

Morphologie

Im Randbereich der Zysten entwickelt sich zunächst eine lymphoplasmazelluläre und eosinophile Entzündung, die in eine zunehmende Vernarbung mit Entwicklung einer bindegewebigen Kapsel übergeht.

Klinisch-pathologische Korrelationen Das klinische Bild der Zystizerkose wird von der Anzahl und der Lokalisation der Zystizerken bestimmt. Bei Befall des ZNS und der Augen kann die klinische Symptomatik Sehstörungen bis zur Erblindung, Hirndruckzeichen, Krampfanfälle, Querschnittssymptomatik u.a. umfassen.

Echinokokkose Zystische Echinokokkose Bei der zystischen Echinokokkose handelt es sich um eine Erkrankung durch Larven von Echinococcus granulosus (Hundebandwurm), bei der der Mensch als Zwischenwirt fungiert.

Erreger und Pathogenese

Nach oraler Aufnahme der Echinokokkeneier – sie befinden sich in hundekotverschmutzten Nahrungsmitteln sowie im Fell und an der Schnauze des Hundes – gelangen diese in das Duodenum des Menschen, wo die OncosphaeraLarve schlüpft und die Darmwand durchdringt. Über Lymph- und Blutgefäße gelangen die Larven in Leber (60%), Lunge (25%) und andere Organe. Dort entwickeln sich zystenförmige Larven (= Finnen, Hydatiden). Der Durchmesser dieser Zysten kann 20 cm und mehr betragen. Ihre äußere Schicht wird vom Bindegewebe des Wirtes, ihre innere Schicht von einer laminierten Membran (Cuticula) sowie einer Keimschicht aus lebendem Wurmgewebe gebildet. Ausgehend von der Keimschicht kommt es zur Knospung mit Bildung von Brutkapseln, in denen mehrere Kopfanlagen neuer Bandwürmer (Protoscolices) entstehen.

Klinisch-pathologische Korrelationen Das klinische Bild wird durch die mechanische Verdrängung durch die Zysten in den betroffenen Organen bestimmt.

Alveoläre Echinokokkose Die Infektion mit dem kleinen Fuchsbandwurm (Echinococcus multilocularis) wird u.a. vom Fuchs auf den Menschen durch die orale Aufnahme von Eiern übertragen. Die Finnen entwickeln sich überwiegend in der Leber und rufen die alveoläre Echinokokkose hervor. Im Gegensatz zum Befall mit Echinococcus granulosus kommt es in der Leber zu einem unregelmäßigen infiltrativen Wachstum durch das Keimepithel des Wurms mit späterer Ausbildung von schlauchartigen Hohlräumen im Lebergewebe.

Klinisch-pathologische Korrelationen Die Klinik ist von der massiven Raumforderung und Destruktion durch Echinococcus multilocularis in der Leber bestimmt und geht mit Erscheinungsbildern wie Ikterus und Splenomegalie einher.

48.5.3

Erkrankungen durch Nematoden

Infektionen durch die runden zweigeschlechtlichen Würmer aus der Gruppe der Nematoden (Rundwürmer) sind in Europa selten geworden. Aus dieser Gruppe werden nur die Trichinen und Filarien besprochen.

Trichinellose Die Trichinellose stellt eine Zoonose durch Trichinella spiralis und verwandte Trichinenarten dar. Der Erreger weist eine ausgesprochen geringe Wirtsspezifität auf. Die Infektion erfolgt über ungenügend oder nicht erhitztes Fleisch (Muskeltrichinen). Durch die konsequenten Kontrollmaßnahmen (Trichinenschau) ist die Erkrankung in Europa selten geworden. Die im Darm durch Verdauungsprozesse freigesetzten Würmer entwickeln sich in 5–7 Tagen zu adulten Würmern. Die befruchteten Weibchen dringen in die Darmmukosa ein, wo sie lebende Larven freisetzen. Über den Lymph- und Blutweg gelangen die Larven vorzugsweise in die quergestreifte Muskulatur, wo sie sich in Muskelfasern einbohren und spiralig aufgerollt zu einer Größe von 1 mm heranwachsen.

Morphologie

Nach der Larveninvasion kommt es in den ersten beiden Tagen zum Verlust der Querstreifung der Muskulatur sowie zu einer basophilen und ödematösen Aufquellung. Nach zwei Wochen sind die Larven von degenerierter Muskelsubstanz

umgeben. In der Nachbarschaft findet sich ein unspezifisches entzündliches Infiltrat mit eosinophilen Granulozyten. Eine Abkapselung der Larven erfolgt in der fünften Woche, eine Verkalkung nach zwei oder mehr Jahren.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Nach einer Inkubationszeit von 1–28 (meist 5–7) Tagen treten bei massiver Infestation intestinale Beschwerden (Gastroenteritis, Durchfälle) auf. Nach einer Woche kommt es dann bei beginnender Penetration in die Muskelfasern zu einem toxisch-allergischen Syndrom mit kolikartigen Schmerzen, Fieber, urtikariellen und asthmaartigen Beschwerden sowie zu einem Gesichtsödem. Dieses Beschwerdebild ist u.a. auf die Fremdeiweißbelastung durch den massiven Larvenbefall zurückzuführen. Eine periphere eosinophile Leukozytose (bis 90%) tritt in der 2.–3. Woche auf. Eine akute Pneumonie sowie myokardiale und seltener neurologische Komplikationen können zu einem letalen Ausgang führen. Nach der dritten Krankheitswoche geht das Krankheitsbild mit der Entzystierung der Larven in die chronische Phase über, in der Myalgien und allergische Reaktionen als dauerhafte Symptome, insbesondere nach körperlicher Belastung, über Jahre fortbestehen können.

Filariosen Fadenwürmer (= Filarien), die sich im Gewebe absiedeln, sind die Erreger der Filariosen. Diese gehören zu den typischen Tropenerkrankungen durch Nematoden. Arthropoden fungieren als Überträger und Zwischenwirte. Die Weibchen sind vivipar, d.h., sie gebären lebende Larven, die sog. Mikrofilarien. Diese werden von den Insekten bei der Blutmahlzeit aufgenommen. In der Muskulatur der Insekten entwickeln sich die Mikrofilarien zu infektionsfähigen Larven, die im Rahmen eines erneuten Stichs auf den Menschen übertragen werden.

Lymphatische Filariosen Die sog. lymphatischen Filariosen werden hauptsächlich durch die Arten Wuchereria bancrofti und Brugia malayi hervorgerufen. Die Entzündungsreaktionen auf die oft bis zu 10 cm langen adulten Würmer führen in den Lymphgefäßen zu Lymphstau und begleitendem Lymphödem. Daraus resultieren Veränderungen im subkutanen Bindegewebe mit Entstehung der sog. Elephantiasis tropica. Besonders betroffen sind dabei Extremitäten, Skrotum und Mammae. Neben diesen extremen Infektionen kommen jedoch auch asymptomatische Verläufe vor.

Loiasis Eine entzündliche Schwellung im Unterhautgewebe (Calabar-Schwellung) ruft die im subkutanen Bindegewebe wandernde Filarie Loa loa hervor. Die adulten Würmer (sog. Wanderfilarien) können sich auch in der Bindehaut ansiedeln, wo sie bei der Wanderung durch die Bindehaut zu sehen sind. Eine Infektion des inneren Auges erfolgt durch diese in Zentralafrika und im östlichen Teil Westafrikas auftretende Filarienart jedoch nicht.

Onchozerkose Die Onchozerkose (Flussblindheit) wird durch Onchocerca volvulus hervorgerufen. Die bis zu 70 cm langen adulten Weibchen liegen aufgeknäuelt in derben, haselnussbis walnussgroßen Bindegewebeknoten (Onchozerkome) in der Subkutis. Ihre zu Millionen ausgeschiedenen Mikrofilarien, die sich in der Subkutis fortbewegen, rufen die Krankheitserscheinungen hervor. Neben einem starken Juckreiz kommt es bei chronischen Verläufen zu Atrophie, Hyperkeratose und Depigmentierung der Haut (Onchodermatitis) sowie zu Lymphadenopathien, die zu genitaler Elephantiasis führen können. Die Mikrofilarien rufen auch Augenentzündungen (sklerosierende Konjunktivitis, Keratitis, Iridozyklitis, Optikusatrophie) mit Einsprossungen von Gefäßen und Bindegewebe hervor, welche zur Erblindung führen.

48.5.4

Trematoden

Schistosomiasis Syn.: Bilharziose Die Schistosomiasis gehört zu den häufigsten Wurmerkrankungen. Sie wird hervorgerufen durch Saugwürmer der Gattung Schistosoma (Pärchenegel). Schistosoma haematobium ist Erreger der regional begrenzten Blasenbilharziose, bei der ein Zusammenhang mit der Entstehung von Blasenkarzinomen besteht. Schistosoma mansoni (Abb. 48-28), Schistosoma japonicum, Schistosoma intercalatum und Schistosoma mekongi rufen die Darmbilharziose hervor.

Abb. 48-28

Schistosoma mansoni

(mit freundlicher Genehmigung von pathologie-online.de). a Zerkarie (= die im Wasser lebende Larvenform). Der Ruderschwanz wird beim Eindringen der Schistosomula in die Haut abgeworfen (Originallänge: 0,3–0,5 mm).

b Ei (Originalgröße ca. 150 μm). Für die Pathogenese entscheidend sind weniger die in den Venen parasitierenden, ca. 1–2 cm langen Würmer, sondern die massenhaft in Blasen- bzw. Darmwand abgesetzten Eier. Diese gelangen über den Blutweg in die Lunge und in andere innere Organe. Dort rufen sie eine starke entzündliche Reaktion hervor und führen teilweise im weiteren Verlauf zu Granulomen und fibrinösen Narben. Im Bereich der Leber kann es durch den langsamen fibrinösen Umbau insbesondere in Form einer periportalen Fibrose zu einer portalen Hypertonie kommen.

48.6 Bedeutung der Pathologie in der Diagnostik von Infektionskrankheiten In der Diagnostik von Infektionskrankheiten ergänzen sich die Ergebnisse der Virologie, Bakteriologie, Mykologie und Parasitologie als Teilgebiete der medizinischen Mikrobiologie mit denen der Histo- und Zytopathologie in vielen Fällen. Die Anamnese und das aktuelle klinische Bild bestimmen mit dem zu erwartenden Erregerspektrum das Untersuchungsmaterial sowie das diagnostische Vorgehen. Voraussetzung für den kulturellen Erregernachweis in der medizinisch-mikrobiologischen Diagnostik ist jedoch natives Untersuchungsmaterial, welches kurzfristig und steril dem mikrobiologischen Labor zugestellt werden muss, damit die Erreger lebensfähig und ohne Kontamination zur Untersuchung gelangen. Ziel der mikrobiologischen Diagnostik ist, mit Nachweis und Differenzierung des Erregers die klinische Diagnose zu sichern und die Therapie zu optimieren sowie Aufschlüsse über den zu erwartenden Krankheitsverlauf zu ermöglichen. Methodologisch lassen sich dabei direkte Nachweisverfahren – Mikroskopie, Kultur, Antigennachweis und molekularbiologische Verfahren – von indirekten Nachweisen anhand der humoralen (Antikörper) und zellulären (Hautteste) Immunantwort unterscheiden. Das mikroskopische Präparat erlaubt im positiven Fall über die Morphologie des Erregers häufig eine orientierende Zuordnung und eine entsprechend differenziertere Therapie. Zur Anwendung kommen unterschiedliche, der klinischen Fragestellung angepasste Färbungen (Gram-, Giemsa-, Ziel-Neelsen-, Neisser-Färbung u.a.) sowie neben der Hellfeld- auch Dunkelfeld-, Phasenkontrast- und Fluoreszenzmikroskopie zum direkten Nachweis und zur Differenzierung von Bakterien, Pilzen und Protozoen. Viren liegen aufgrund ihrer Größe außerhalb des lichtmikroskopischen Bereichs, doch hat sich für einige Viren (z.B. Rotaviren, Herpesviren) die Elektronenmikroskopie als Methode sowohl für den direkten diagnostischen Nachweis als auch für die Differenzierung etabliert. Der kulturelle Nachweis des Erregers ist in den meisten Fällen anzustreben, da so eine genaue Klassifizierung und häufig auch eine Empfindlichkeitsprüfung des Erregers

durchgeführt werden kann. Doch nicht alle Mikroorganismen lassen sich in Zellkulturen (Viren) oder künstlichen Nährböden (Bakterien, Pilze, Protozoen) anzüchten und vermehren. So sind bis zum heutigen Tage z.B. Treponema pallidum, der Erreger der Syphilis, oder das Mycobacterium leprae, der Erreger der Lepra, nicht auf künstlichen Nährböden anzüchtbar. Bei anderen Erregern (z.B. bei den Rickettsien-Arten) nimmt man aufgrund der hohen Infektionsgefahr bei der kulturellen Anzüchtung bewusst andere, diagnostisch sichere Nachweismethoden in der Routinediagnostik in Anspruch. Der Nachweis von Antikörpern gegen verschiedene Erreger nutzt die humorale Immunantwort in den unterschiedlichen Immunglobulinklassen, die bei einer Infektion auf die Auseinandersetzung des Körpers mit dem Erreger als Antigen entsteht. Dabei stellt ein Erreger ein komplexes Antigen mit einer Vielzahl von Epitopen dar, sodass unterschiedliche Antikörper auch zeitlich versetzt gegenüber ein und demselben Erreger gebildet werden. Als Beispiel sei auf das Hepatitis-B-Virus oder die Salmonellen, die nach ihrer Antigenstruktur im Kauffmann-White-Schema klassifiziert sind, verwiesen. Aussagen über den Infektionsverlauf ergeben sich häufig aus der Antikörperkinetik gegenüber dem Erreger, bedingt durch ihr unterschiedliches zeitliches Auftreten, ihre Zugehörigkeit zu den verschiedenen Immunglobulinklassen (IgM, IgG, IgA) sowie ihre Halbwertszeiten. Als molekularbiologische Methoden zum Nachweis von Erregernukleinsäuren ergänzen sich die verschiedenen Methoden der Hybridisierung und der Polymerase-Kettenreaktion (PCR) je nach Aufgaben- und Fragestellung. Durch gezielte Amplifikation und Sequenzierung kann eine Typisierung auf Genus-, Art- und Stammebene erfolgen. Bei persistierender Virusinfektion werden für die Beurteilung der aktuellen Situation und des Therapieerfolgs quantitative Methoden eingesetzt.

Methoden der Pathologie Bei bakteriellen und Pilzinfektionen leisten Methoden der Pathologie wesentliche Beiträge, da sie neben dem Erregernachweis auch die Wirtsreaktion im Gewebe als Antwort auf die Infektion darstellen. Hieraus ergeben sich Rückschlüsse sowohl auf die Abwehrlage des Patienten als auch auf die Prognose der Erkrankung. Bakterien lassen sich im Paraffinschnitt mit verschiedenen histochemischen Färbungen (Gram, Giemsa, PAS, Ziehl-Neelsen, Versilberungsreaktionen) und mittels Fluoreszenzmikroskopie gezielt darstellen. Immunhistologische Färbungen sind für einige Erreger (z.B. Helicobacter pylori, Toxoplasma) verfügbar und ermöglichen so eine Artdiagnose. Bestimmte Viren machen durch Änderungen der Zytomorphologie („Virozyten“) schon in der Lichtmikroskopie auf sich aufmerksam (nukleäre und zytoplasmatische Einschlusskörper, Veränderungen der Zellgestalt, Riesenzellen). Bei derartigen Zellveränderungen ist ein direkter Virusnachweis durch Elektronenmikroskopie auch am

fixierten Gewebe prinzipiell möglich. Wenn verfügbar, wird jedoch der Nachweis von Virusproteinen in den infizierten Zellen mittels Immunhistologie geführt (z.B. HBs- und HBc-Antigene bei Virushepatitis B). Die In-situ-Hybridisierung bietet die Möglichkeit, insbesondere virale DNA- und RNA-Sequenzen in zytologischen Präparaten an Gefrierschnitten und an Paraffinschnitten mit hoher Spezifität nachzuweisen. Die Sensitivität ist u.a. abhängig von der Art des Materials, von der gewählten Technik und von der Länge der Sonde. Auch aus paraffineingebettetem Gewebe können Nukleinsäuren für molekularpathologische Methoden, insbesondere mittels PCR, zur Erregerdiagnostik durch Amplifikation genomischer DNA oder RNA gewonnen werden. Für eine gezielte Diagnostik seltener Keime bietet der Nachweis ribosomaler RNA (16S RNA) mittels PCR eine zusätzliche Möglichkeit. Durch die Tatsache, dass die zu untersuchenden Gewebeproben während der Einbettungsprozedur gemeinsam mit anderen Geweben bearbeitet werden und viele Erreger ubiquitär vorkommen, verbietet sich der Versuch, häufige Keime (Enterobacteriaceae, Enterokokken, Staphylokokken, Streptokokken u.a.) an routinemäßig eingebettetem Gewebe nachweisen zu wollen. Die Interpretation dieser ergänzenden molekularbiologischen Untersuchungen darf nur im Zusammenhang mit den konventionell-histologischen, ggf. unter Einbeziehung auch der bakteriologischen Befunde sowie der klinischen Situation des Patienten erfolgen, um Fehlinterpretationen zu vermeiden. Die Anamnese sowie das aktuelle klinische Bild des Patienten und seine Therapie stellen wesentliche Informationen dar, die den Ablauf sowohl für die mikrobiologische als auch für die pathologische Diagnostik entscheidend beeinflussen können. Leicht verständlich werden so die Notwendigkeit und die hohe Bedeutung qualifizierter klinischer Informationen auf dem zum Untersuchungsmaterial gehörenden Einsendeschein bzw. in der gemeinsamen direkten Absprache in besonderen Fällen sowohl für die medizinisch mikrobiologische als auch für die histopathologische Diagnostik.

Literatur

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FRAGEN 1 Welche Viren rufen die Poliomyelitis anterior acuta oder poliomyelitisähnliche Erkrankungsbilder hervor? 2 Welche Ursachen rufen im Verlauf einer HIV-Erkrankung die Verminderung der CD4+-Lymphozyten hervor? 3 Bei welcher Viruserkrankung ist eine aktive und passive Immunisierung bei begründetem Verdacht eines Erregerkontaktes unmittelbar durchzuführen? Warum? 4 Zu welchen pathogenetisch unterschiedlichen Krankheitsbildern kann Staphylococcus aureus führen? 5 Bei welchen Infektionserkrankungen ist die Pathogenese des Krankheitsbildes überwiegend toxinbedingt? 6 Welche durch Schimmelpilze der Gattung Aspergillus hervorgerufenen Erkrankungsbilder gehören nicht zu den Mykosen?

7 Welche Manifestationsorte sind für eine Kryptokokkose klassisch und welcher Personenkreis ist besonders gefährdet? 8 Welche Malariaerreger können ein Rezidiv hervorrufen, und worin ist dies begründet? 9 Welche Infektionserreger sind bei isolierten Lymphknotenschwellungen differentialdiagnostisch im Wesentlichen zu beachten? 10 Welches sind die Indikationen zur morphologischen Untersuchung der in diesem Kapitel beschriebenen Krankheiten? Welche Untersuchungen sind indiziert? Welchen Beitrag können diese Untersuchungen zur präzisen Diagnostik und zur Planung der Therapie leisten?

49 Fremdmaterial-Implantate K.-M. MÜLLER F.A. OFFNER 49.1

Allgemeine Reaktionsmuster nach Fremdmaterial-Implantation 1171

49.2

Blutgefäße 1171

Einheilungsphasen von Gefäßprothesen 1171 Komplikationen 1172 49.3

Herz 1172

49.3.1

Schrittmacher 1172

49.3.2

Herzklappenprothesen 1173

Verlauf und Komplikationen 1174 49.4

Gelenke 1176

Endoprothetischer Gelenkersatz 1176 Komplikationen 1176 49.5

Mamma 1176

Implantate 1176 Komplikationen 1176 49.6

Bauchwand 1176

49.7

Klinisch-pathologische Korrelationen 1177

49.8 Bedeutung der Pathologie nach der Verwendung von Fremd-materialImplantaten 1177 Literatur 1177 Fragen 1178

Zur Orientierung Schwerwiegende Funktionsstörungen – meist verbunden mit einer erheblichen Schmerzsymptomatik – können durch Implantation von Prothesen aus Kunststoffen, Metalllegierungen oder denaturierten Organteilen einzelner Tierspezies behandelt werden. Zu den heute am häufigsten implantierten Ersatzmaterialien gehören

■ Metalllegierungen und Keramik im Rahmen von Oberschenkel-Hüft-EndoprothesenOperationen, überwiegend zur Behandlung schwergradiger Hüftgelenksarthrosen (Koxarthrosen) ■ gitterförmige, selbst expandierende Metall- (Nitinol-) und Kunststoffstents zur Therapie der koronaren Herzkrankheit, von Aortenaneurysmen oder von Stenosen des Bronchialsystems, des Ösophagus und der Gallengänge.

49.1 Allgemeine Reaktionsmuster nach FremdmaterialImplantation Es kommt immer zu einer biologischen Reaktion auf einen implantierten Fremdkörper. Sie ist stark abhängig von der sog. Biokompatibilität des Fremdmaterials. Bei Einschaltung von Fremdmaterial in den Blutkreislauf – Gefäßprothesen/Herzklappen – ist meist eine blutgerinnungshemmende Therapie notwendig. Nach Einsatz von Gelenkprothesen können Partikel des Implantationsmaterials durch Abrieb und/oder Korrosionsprozesse in das periartikuläre Gewebe gelangen und Fremdkörperreaktionen hervorrufen.

49.2

Blutgefäße

Gefäßprothesen werden bevorzugt im Bereich von Aorta, Becken- und Beinarterien eingesetzt. Sie bestehen vorwiegend aus Dacron (Polyethylenterenphthalat) und PTFE (Polytetrafluorethylen). Sie dienen der Überbrückung (Bypass) oder dem Ersatz atherosklerotischer, hochgradig stenosierter Arterienabschnitte (Abb. 49-1), von Aortenaneurysmen (Abb. 49-2) und arteriovenösen Shunts, z.B. für wiederholte Dialysebehandlungen bei Niereninsuffizienz.

Einheilungsphasen von Gefäßprothesen Einheilungsphasen und Reaktionsmuster auf intravasal implantierte Kunststoff- und Metallprothesen – Stents – sind entscheidend von der Grunderkrankung abhängig (in der Regel fortgeschrittene atherosklerotische Läsionen). Voraussetzung für eine ausreichende Erweiterung von Stenosen, z.B. der Koronargefäße durch einen Metallstent, ist eine mindestens noch sektorförmig erhaltene Dehnbarkeit des entsprechenden Gefäßabschnitts. Im Idealfall kann die luminale Oberfläche von transformierten Neo-Endothelzellen überkleidet werden.

Abb. 49-1 Aortobifemorale Kunststoff-BypassProthese bei verschließender Atherosklerose in den Beckenarterien.

a Fibrinreicher Parietalthrombus im Bereich der „Neointima“. b Im Röntgenbild ist die erhebliche verkalkende Atherosklerose in den dorsal des Bypass verbliebenen Abschnitten von Aorta und Iliakalgefäßen zu sehen. Das Reaktionsmuster auf die Implantation von Kunststoffgefäßen lässt sich in drei Phasen unterteilen (Abb. 49-3):

Phase 1: Frühphase Bis zu zwei Wochen nach Implantation wird die Prothese von einem lockeren Granulationsgewebe mit zahlreichen Histiozyten, mehrkernigen Riesenzellen, proliferierenden Bindegewebezellen, Myofibroblasten und neu gebildeten Blutgefäßen umgeben. Zellen des Granulationsgewebes wachsen zwischen den gestrickten oder gewebten Kunststofffibrillen der Prothese mit Bildung von extrazellulärer Matrix bis zur luminalen inneren Oberfläche vor. Gleichzeitig gelangen aus dem Blutstrom Eiweißsubstanzen und Zellen zwischen das Maschenwerk der Prothese.

Phase 2: Organisationsphase Bis etwa zu einem Monat nach Implantation dominiert eine fortschreitende bindegewebige Einscheidung des Fremdmaterials. Im äußeren bindegewebigen Prothesenmantel bleibt eine oft erhebliche zelluläre Fremdkörperreaktion bestehen.

Der luminale innere Mantel wird auch als Neointima bezeichnet. Entwicklung, Kontinuität und Zusammensetzung des inneren Mantels sind stark von örtlichen Kreislauffaktoren, Strömungsanomalien, z.B. durch thrombogene Wandunregelmäßigkeiten, und Gerinnungsstörungen abhängig.

Phase 3: Spätphase Nach sechs Monaten bis zu vielen Jahren wird bei ausreichender transprothetischer Durchbauung der Prothese im Regelfall ein bleibender Zustand erreicht (Abb. 49-1 und 49-3). Der definitive Einbau der Prothese geht mit einem Verlust der zunächst durchaus elastisch konzipierten Prothese einher. Dies ist die Folge einer bindegewebigen Durchbauung der Prothese, wobei fibrilläre Strukturen um- und abgebaut werden und sich eine bindegewebige Neointima entwickelt.

Komplikationen Während der verschiedenen Einheilungsphasen können thrombotische Verschlüsse, Frühstenosen und sog. Intimahyperplasien sowie regressive Prothesenveränderungen bis zu echten Prothesenaneurysmen entstehen. Etwa 30% der operierten Patienten entwickeln im Bereich von Koronarstents bei fortbestehender Fremdkörperreaktion erneut Stenosen, die dann mit dem Verfahren der Katheter-Ballondilatation teilweise wieder eröffnet werden können.

49.3 49.3.1

Herz Schrittmacher

Batterien von Herzschrittmachern werden im Regelfall im Bereich der Weichteile der Thoraxwand implantiert. Die durch das venöse System über die obere Hohlvene und den rechten Vorhof bis in den rechten Ventrikel eingeführten Schrittmachersonden werden bis in das subendokardiale Myokard vorgeschoben. Sie sind im Spitzenbereich mit feinen Häkchen versehen. Dort kommt es zu einer kleinherdigen narbigen festen Verankerung der Sondenspitzen. Im Verlauf des Katheters durch Vorhof- und Venenregionen bilden sich strangförmige, vom Endokard ausgehende Fibrosierungen, die zu einer partiellen Fixierung der Schrittmachersonden führen können (Abb. 49-4).

Abb. 49-2 Makrofoto und Röntgenbild von Aorta und Beckengefäßen.

Zustand nach Aneurysmabehandlung im Bereich von Aorta und linksseitiger Iliakalarterie durch endoluminale Metallgitter-Stents und Anlage einer sog. Crossover-Kunststoffprothese zwischen den Beckenarterien.

49.3.2

Herzklappenprothesen

Seit über 40 Jahren können Herzklappen durch Prothesen ersetzt werden. In den USA werden zurzeit jährlich ca. 30000 Herzklappen implantiert. Mechanische Klappen und sog. Bioprothesen kommen zum Einsatz. Bei mechanischen Prothesen sind die Klappen aus pyrolytischem Karbon über Bügel an einem Klappenring aus Metalllegierungen, z.B. Kobaltchrom, befestigt. Das Metall ist mit Polyestermanschetten ummantelt. Nach Form und Funktion kommen u.a. Kippscheiben- oder Zweischeibenprothesen zum Einsatz (Abb. 49-5).

Für Bioprothesen werden Herzklappen überwiegend von Schweinen nach Glutaraldehydfixierung, aber auch körpereigenes Material, z.B. vom Perikard, verwandt. Das biologische Material wird auf vorgefertigte Rahmen mit basalen Metallringen und pfeilerartigen Kunststoffbögen befestigt.

Abb. 49-3 Einheilungsphasen von porösen Kunststoffprothesen nach Implantation als Gefäßersatz.

Verlauf und Komplikationen Mechanische Prothesen erfordern eine lebenslange blutgerinnungshemmende Therapie, um Funktionsstörungen im Klappenbereich durch angelagertes thrombotisches Material sowie daraus resultierende Embolien im großen Kreislauf zu verhindern (Abb. 49-6). Typische Komplikationen mit Funktionsstörungen bei Bioprothesen sind Verkalkungen der durch die vorausgegangene Glutaraldehydfixierung partiell denaturierten Kollagenfasern der biologischen Klappenstrukturen. Wegen dieser teilweise sehr ausgedehnten und schon nach wenigen Jahren einsetzenden Verkalkungen werden Bioprothesen bevorzugt älteren Patienten implantiert (Abb. 497c). Verschleiß, Klappenschrumpfung, Pfeilerausrisse am Rahmen und Klappenperforationen führen zur Klappeninsuffizienz (Abb. 49-7a). Über thrombotische Auflagerungen mit Bakterienbesiedlung sind Klappenentzündungen auch im biologischen Fremdmaterial der transplantierten Prothesen möglich (Abb. 497b).

Abb. 49-4 Zwei Herzschrittmachersonden im eröffneten rechten Herzen.

Fest im Myokard eingeheilte Katheterspitzen. Teilweise graue fibröse Umscheidung der Katheter im Bereich von Ventrikel und Trikuspidalklappe. Frischer Thrombus an Anheftungsstellen im Vorhof oberhalb der Fossa ovalis (77jähriger Mann).

Abb. 49-5

Herzklappenprothesen.

a Mechanische Herzklappenprothesen zwei Jahre nach Operation, von ventrikulär aufgenommen. Links: Kippscheibenprothese im Aortenklappenbereich. Rechts: Scheibenprothese in Mitralklappenposition (71-jähriger Mann). b Röntgenbild einer geöffneten Zweischeibenprothese aus dem Aortenklappenbereich. Funktionsstörungen können auch durch Ausrisse im Bereich der eingenähten Metalloder Kunststoffringe in der Klappenebene auftreten (sog. paravalvuläres Leck). Derartige Defekte treten v.a. dann auf, wenn im Klappenringbereich (Anulus fibrosus) im höheren Alter ausgedehnte Verkalkungen (Klappenringsklerose) vorliegen.

Abb. 49-6

Thrombotische Auflagerungen

mit starken Funktionseinschränkungen einer mechanischen Aortenklappenprothese sechs Monate nach Operation (58-jähriger Mann).

Abb. 49-7 Vor über 11 Jahren implantierte Bioprothese

(Aortenklappe eines Schweins) im Mitralklappenbereich. Fibrose (grau) im Bereich des Klappenring-Kunststoffmantels. Massive grau-gelbe Verkalkungen aller Taschen. a Aufsicht von oben. Perforation der Tasche links. b Aufsicht von unten mit dem Bild einer polypösen Endokarditis. c Zugehöriges Röntgenbild mit Erfassung der streifigen Verkalkungen.

49.4

Gelenke

Endoprothetischer Gelenkersatz Schwerwiegende Arthrosen oder entzündliche Gelenkveränderungen, vor allem im Bereich der Hüft- oder Kniegelenke, werden immer häufiger durch Implantation von Fremdmaterial behandelt. Bevorzugt kommen Prothesen aus Stahl, Titan-AluminiumVanadium-Legierungen oder Molybdänlegierungen, die mit Kunststoffkomponenten (Polyethylen) binden, zum Einsatz (Abb. 49-8). Die Fixation der Implantate erfolgt durch Einzementierung mit Polymethylmetacrylat oder durch Einwachsen des umliegenden Knochengewebes in spezielle poröse Implantatoberflächen. Nach Einzementierung entwickelt sich innerhalb weniger Tage ein Granulationsgewebe und schließlich eine chronisch entzündlich infiltrierte Pseudomembran, die das Implantat umgibt.

Komplikationen Lockerungen stellen die häufigste Ursache für ein Implantatversagen dar. Verantwortlich sind der progrediente Abrieb von Implantatbestandteilen und/oder Mikrobewegungen zwischen Implantat und Knochen mit verstärkter Knochenresorption. Selten kommt es zur Implantatinfektion (meist Staphylococcus epidermidis oder Staphylococcus aureus). Durch mechanischen Abrieb und Korrosionsprozesse gelangen im Lauf der Zeit Abriebpartikel (Metalle, Zement, Polyethylen) in das periartikuläre Gewebe. Sie finden sich im Interstitium, in Histiozyten oder Riesenzellen. Gelegentlich rufen sie granulomatöse Pseudotumoren hervor.

Abb. 49-8

Totalendoprothese der Hüfte (TEP)

mit Prothesenkopf aus Porzellan und Metallschaft im eröffneten Markraum des Oberschenkels. Operation drei Wochen vor dem Tod infolge rezidivierender Lungenembolien (66-jähriger Mann).

49.5

Mamma

Implantate Implantate werden zur Brustrekonstruktion (nach Amputation) oder aus kosmetischen Gründen zum Brustaufbau (Mammaaugmentation) eingesetzt. Die Außenhülle der Implantate besteht aus Silikon (Silikonelastomer), die Füllung aus Silikongel oder Kochsalzlösung. Implantiert wird entweder unter den M. pectoralis (retromuskulär) oder unter das Brustdrüsengewebe (retroglandulär). Am Implantationsort kommt es zunächst zu einer entzündlichen Infiltration durch Makrophagen und Lymphozyten, danach zu zunehmender Fibrosierung mit Ausbildung einer das Fremdmaterial umschließenden Bindegewebemembran („Kapsel“).

Komplikationen Infektionen (meist Staphylokokken) treten selten und in der Regel unmittelbar postoperativ auf. Plötzliche oder kaum merkbare („stille“) Rupturen können zur Schrumpfung des Implantats und zum Austritt des Füllmaterials in das umgebende Gewebe mit konsekutiver Ausbildung von Fremdkörpergranulomen (Mamma, Arme) führen. Ursache für Rupturen sind Alterungsprozesse der Silikonhülle, Traumen oder Kapselkontrakturen. Letztere sind die häufigste Komplikation (4–8%) und führen je nach Schweregrad zu einer erheblich verfestigten und deformierten Mamma. Seltenere Nebenwirkungen sind eine Druckatrophie des Brustdrüsengewebes oder eine Galaktorrhö.

49.6

Bauchwand

Implantate werden zur Verstärkung der Bauchwand in der Hernienchirurgie eingesetzt. Verwendet werden Netze (Meshes) aus Polypropylen, Polyester oder Polytetrafluorethylen (PTFE). Nach Implantation durchwächst Granulationsgewebe das maschenförmige Netz aus Kunststofffibrillen. Es dient dann als bindegewebig durchbaute Membran zur Verstärkung von Weichteilstrukturen. Komplikationen umfassen Entzündungen im Bereich der Netz-implantate (oft durch Staphylococcus epidermidis). Verlagerung und Schrumpfung des Netzes können zu narbigen Kontrakturen oder Einrollungen führen, die dann korrigierende Operationen notwendig machen.

49.7

Klinisch-pathologische Korrelationen

Fremdmaterial-Implantate werden heute in großem Umfang eingesetzt. Herzschrittmacher kompensieren Herzrhythmusstörungen. Funktionsstörungen der Herzklappen durch Stenosen oder Insuffizienzen können durch Klappenersatz korrigiert werden. Gefäßprothesen und Stents überbrücken oder erweitern atherosklerotisch stark eingeengte Gefäßabschnitte, führen zur Wiederherstellung der Durchblutung mit Linderung von

Schmerzen und Funktionsstörungen und können oft (früher) notwendige Amputationen, z.B. der unteren Extremitäten, verhindern. Die prothetische Versorgung von Aortenaneurysmen beugt der oft tödlichen Aneurysmaruptur vor. Hüft- und Kniegelenksendoprothesen vermögen starke Schmerzen und Bewegungseinschränkungen als Folge fortgeschrittener Gelenkarthrosen zu beheben. Eine in den vergangenen 20 Jahren stark gestiegene durchschnittliche Lebenserwartung hat zur Häufigkeitszunahme altersbedingter degenerativer Veränderungen am HerzKreislauf- und Skelettsystem geführt, die in vielen Fällen durch operative und endovaskuläre Maßnahmen mit Fremdmaterial-Implantaten kompensiert werden können.

49.8 Bedeutung der Pathologie nach der Verwendung von Fremdmaterial-Implantaten Fremdmaterial-Implantate kommen heute besonders zur Behandlung der Komplikationen atherosklerotischer Gefäßveränderungen zum Einsatz: zum Beispiel bei Aortenaneurysmen, arterieller Verschlusskrankheit (AVK) der Becken- und Beinarterien, in der Bypass-Chirurgie bei fortgeschrittener koronarer Herzkrankheit oder bei der Karotisendarteriektomie bei hochgradigen Karotisstenosen. Weitere Schwerpunkte des Einsatzes von Fremdmaterial-Implantaten bilden die Erkrankungen des Skelettsystems, insbesondere der Hüft- und Knieregionen. Werden Operations- und Obduktionspräparate nach der Implantation von Fremdmaterialien nach unterschiedlich langen Inkorporationsphasen pathologischanatomisch untersucht, ergeben sich wiederkehrende Befunde zu variablen Bildern der Inkorporation, z.B. von Gefäßprothesen aus unterschiedlichen Kunststoffen in variabler Ausprägung und in Abhängigkeit der Implantationsphasen. Nur durch morphologische Befunde sind Ab- und Umbauprozesse des fibrillären Kunststoffmaterials als Ursache von Prothesenaneurysmen aufzuzeigen. Überschießende Gewebereaktionen mit Entwicklung einer hyperplastischen Neointima, fehlende endothelähnliche Innenauskleidung von Prothesen sowie unterschiedliche Reaktionsmuster in Abhängigkeit vom Ausgangsmaterial der Fremdkörper können dokumentiert werden. Die Untersuchung von Synovialisgewebe und Knochenstrukturen nach Inkorporation z.B. von Hüftendoprothesen ergibt ebenfalls wichtige Informationen zu besonderen Reaktionsmustern der Weichteil- und Knochenstrukturen auf die vorwiegend inkorporierten metallischen Fremdkörper. Die Dokumentation körpereigener Gewebereaktionen auf Implantate im Bereich von Brustrekonstruktionen oder bei Bauchwandverstärkungen im Rahmen der Hernienchirurgie sind auch unter Berücksichtigung möglicher Fragestellungen zu Regressansprüchen von Patienten von Bedeutung. Sie sollten daher, ebenso wie Obduktionsbefunde von Herzen mit Zuständen nach prothetischem Klappenersatz, sorgfältig dokumentiert werden. Die Aufarbeitung von Gefäßpräparaten nach intravasaler

Inkorporation von Prothesen (Stents) aus verschiedenen Metalllegierungen und Kunststoffen geben wichtige Hinweise zur formalen Pathogenese der intravasalen Fremdkörperinkorporation, wobei aus den morphologischen Befunden zu Explantaten mit Restenosen als Folge einer überschießenden Myofibroblastenproliferation auch wichtige Informationen für Entwicklung, Produktion und zusätzliche Behandlung von Stents resultieren. Somit erlangt die Pathologie eine wesentliche Bedeutung für den Einsatz und die Fortentwicklung, aber auch bei der Aufdeckung von Komplikationen nach der Verwendung von Fremdmaterial-Implantaten.

Literatur Berry, C.L. (ed.): The pathology of devices. Current topics in pathology, Vol. 86. Springer Verlag, Berlin–Heidelberg–New York 1994. Hastings, G.W. (ed.): Cardiovascular biomaterials. Springer Verlag, London–Berlin– Heidelberg–New York 1992. Müller, K.-M., G. Dasbach: The pathology of vascular grafts. In C.L. Berry (ed.): Current topics in pathology. Vol. 86. Springer Verlag, Berlin–Heidelberg–New York 1994, 273–306.

FRAGEN 1 Welches sind die drei Phasen der Reaktion auf die Implantation von Kunststoffprothesen? Bitte geben Sie zu jeder Phase eine kurze Erläuterung. 2 Nennen Sie mögliche Komplikationen, die in den Einheilungsphasen einer implantierten Gefäßprothese auftreten können. 3 Welche Möglichkeiten der Fixation von endoprothetischen Gelenkersätzen gibt es? 4 Nennen Sie mögliche Komplikationen, die nach Implantation eines endoprothetischen Gelenkersatzes auftreten können. 5 Welche Bedeutung kommt der Pathologie nach der Verwendung von Fremdmaterial-Implantaten zu?

50 Transplantationspathologie G. CATHOMAS PH. U. HEITZ 50.1

Typen der Organtransplantation 1179

50.2

Transplantatabstoßung 1180

50.2.1

Hyperakute Abstoßung 1180

50.2.2

Akute Abstoßung 1181

50.2.3

Chronische Abstoßung 1181

50.3

Risiken bei Organtransplantationen 1181

50.3.1

Infektionen 1181

50.3.2

Tumoren 1181

50.4

Transplantation einzelner Organe 1182

50.4.1

Niere 1182

50.4.2

Leber 1183

50.4.3

Lunge 1184

50.4.4

Herz 1185

50.4.5

Pankreas und Pankreasinseln 1185

50.4.6

Dünndarm 1186

50.5

Transplantation von hämatopoetischen Stammzellen 1186

50.5.1

Graft-versus-Host-Reaktion 1186

50.6

Bedeutung der Pathologie in der Transplantationsdiagnostik 1187

Literatur 1188 Fragen 1188

Zur Orientierung Die Transplantation von soliden Organen und hämatopoetischen Stammzellen ist heute für eine wachsende Zahl von Erkrankungen eine etablierte therapeutische Methode bei

Organversagen oder, im Fall der Stammzellentransplantation, zur Behandlung hämatologischer Erkrankungen. So wurden z.B. im Einzugsgebiet von „Eurotransplant“, einer Organisation zur Koordination der Organtransplantation in Deutschland, Österreich, den Beneluxstaaten und Slowenien, im Jahre 2000 über 5000 Organe transplantiert. Die Mehrheit davon entfällt auf Nieren (2900), gefolgt von Lebern, Herzen und Lungen bzw. Herz-Lungen. Das größte Problem nach erfolgter Transplantation ist die Abstoßung des Spenderorgans durch das Immunsystem des Empfängers. Im Gegensatz dazu richtet sich bei der Knochenmarktransplantation das transplantierte Knochenmark gegen den Empfänger, es entsteht die so genannte Graft-versus-Host-Reaktion (GvHR). Durch die Verwendung hochwirksamer immunsuppressiver Therapien kann heute vor allem die akute Abstoßung in vielen Fällen erfolgreich unterdrückt bzw. behandelt werden. Was bleibt, ist vor allem das Problem der chronischen Abstoßung bzw. des schleichenden Funktionsverlusts des Organs im Langzeitverlauf. Weitere Probleme, die typischerweise nach Transplantation auftreten, sind Infekte, bedingt durch die notwendige Immunsuppression, Tumoren und das Rezidiv der Grundkrankheit (Abb. 50-1).

50.1

Typen der Organtransplantation

Im Wesentlichen lassen sich folgende vier Typen der Transplantation unterscheiden: ■ Autologe Transplantation. Zellen oder Gewebe desselben Individuums werden verpflanzt, entsprechend sind Spender und Empfänger identisch. Zur Anwendung gelangt diese Form der Transplantation z.B. bei Hautlappen nach Verbrennung oder bei der autologen Stammzellentransplantation nach aplasierender Zytostatikatherapie. ■ Syngene Transplantation. Dieser Typ von Transplantation findet zwischen Spendern und Empfängern statt, die mit Ausnahme mutierter Immunglobulingene und T-ZellRezeptoren genetisch identisch sind (z.B. monozygote Zwillinge oder Inzuchttierstämme). ■ Allogene Transplantation (Allotransplantation). Dies ist klinisch die häufigste Art der Transplantation. Sie bezeichnet die Transplantation von Organen zwischen verschiedenen Individuen der gleichen Spezies (z.B. Mensch zu Mensch), die jedoch immungenetisch verschieden sind. Der Erfolg der Transplantation hängt im Wesentlichen von der immunologischen Kompatibilität von Spender und Empfänger ab. ■ Xenotransplantation. Bezeichnet die Übertragung von Organen zwischen verschiedenen Spezies (z.B. Schwein zu Mensch). Derzeit sind vor allem die allogene und in geringerem Umfang auch die autologe, seltener die syngene Transplantation von klinischer Bedeutung. Patienten entwickeln nach letzteren keine oder höchstens eine geringgradige Abstoßungsreaktion und bedürfen dementsprechend keiner immunsuppressiven Therapie. Demgegenüber kommt es nach allogener Transplantation regelmäßig zu einer therapiebedürftigen Abstoßungsreaktion.

Die Xenotransplantation befindet sich zum heutigen Zeitpunkt im experimentellen Stadium und besitzt noch keine klinische Bedeutung.

Abb. 50-1 Zeitliche Abfolge der wichtigsten Erkrankungen nach Transplantation.

50.2

Transplantatabstoßung

Auf der Basis des klinischen Verlaufs, der pathogenetischen Mechanismen und der Morphologie können drei Typen von Abstoßung unterschieden werden, die ihre Namen ursprünglich aufgrund ihres zeitlichen Auftretens nach der Transplantation erhielten: die hyperakute, die akute und die chronische Abstoßung. Trotz dieser Bezeichnungen ist die zeitliche Abfolge aber nicht zwingend, so kann z.B. eine akute Abstoßung auch nach Jahren infolge plötzlicher Änderung oder nach Absetzen der immunsuppressiven Therapie auftreten (Abb. 50-1).

50.2.1

Hyperakute Abstoßung

Die hyperakute Abstoßung wird durch vorbestehende alloreaktive Antikörper gegen Gruppenantigene (AB0) oder Histokompatibilitätsantigene ausgelöst. Sie kann sich

innerhalb weniger Minuten oder nach Stunden und Tagen entwickeln und führt praktisch ausnahmslos zum Verlust des Transplantats. Die allogenen Antikörper binden an Antigene im Gewebe, insbesondere an das Endothel, was zu einer Aktivierung von Komplement und Gerinnungssystem führt. Es entstehen Mikrothromben, welche die Kapillaren verschließen. Dieser Vorgang kann so rasch ablaufen, dass er bereits intraoperativ beobachtet werden kann. Das betroffene Organ schwillt an, zeigt eine dunkelblaurote Verfärbung und entwickelt hämorrhagische Nekrosen, die durch Fibrinthromben in den kleinen Gefäßen entstehen. Durch die verbesserte Immunsuppression ist diese Form der Abstoßung glücklicherweise selten geworden.

50.2.2

Akute Abstoßung

Die akute Abstoßung ist die häufigste Form und damit der häufigste Grund einer Organdysfunktion. Sie entwickelt sich oft während der ersten Wochen nach Transplantation und ist wegen ihrer grundsätzlichen Therapierbarkeit von großer klinischer Bedeutung. Die Morphologie ist in den verschiedenen Organen teilweise unterschiedlich. Die akute Abstoßung des Transplantats wird im Wesentlichen durch eine T-ZellAntwort des Empfängers gegen die Fremdantigene (Alloantigene) auf dem Transplantat ausgelöst. Dieses betrifft vor allem Moleküle der Klasse I des Haupthistokompatibilitätskomplexes (major histocompatibility complex, MHC). Die allogenen Proteine werden den Effektor-T-Zellen über antigenpräsentierende Zellen des Spenders präsentiert, die mit der Transplantation in den Körper des Empfängers und anschließend in die regionalen Lymphknoten gelangen (direkte Allogen-erkennung). Die zweite Möglichkeit liegt in der Aufnahme von alloreaktiven Proteinen durch antigenpräsentierende Zellen des Empfängers mit nachfolgender T-Zell-Präsentation und Aktivierung der Effektor-T-Zellen (indirekte Allogenerkennung). Die Erkenntnis, dass die MHC-Moleküle den entscheidenden Faktor bei den Transplantationsabstoßungen ausmachen, führte in der Transplantationsmedizin zu einer Abstimmung der HLA-Typen von Spender und Empfänger. Aber auch die Transplantation zwischen HLA-identischen Geschwistern führt zu einer, wenn auch verzögerten, Abstoßung. Die dafür verantwortlichen polymorphen Antigene werden als „Minor-Histokompatibilitätsantigene“ oder „Minor-H-Antigene“ bezeichnet. Deren Natur ist noch nicht vollständig geklärt; bekannt sind z.B. Proteine, die auf dem YChromosom kodiert werden. Es ist davon auszugehen, dass grundsätzlich jedes Protein infolge eines Polymorphismus als „Minor-H-Antigen“ infrage kommt.

50.2.3

Chronische Abstoßung

Die chronische Abstoßung tritt meist erst nach dem zweiten Monat nach Transplantation auf, häufig, aber nicht immer bei Patienten mit vorangegangenen Schüben akuter Abstoßung. Ursächlich scheinen auch hier alloreaktive T- und B-Zellen beteiligt zu sein. Ein morphologisches Hauptmerkmal ist die obliterierende Schaumzellarteriopathie

(siehe Abb. 50-6). Die daraus resultierende Minderdurchblutung führt zu schleichendem Parenchymverlust mit zunehmender Fibrosierung und entsprechendem Funktionsverlust des betroffenen Organs.

50.3

Risiken bei Organtransplantationen

Eine Reihe von Veränderungen kann grundsätzlich bei allen Transplantationen auftreten. Dazu gehören bei den soliden Organen ischämische Organschäden, die aufgrund einer ungenügenden arteriellen Blutversorgung wegen Insuffizienz der anastomosierten Blutgefäße entstehen. Als Folge davon kommt es zur Infarzierung des transplantierten Organs und häufig zu dessen Verlust. Ebenfalls kann es bei soliden Organen während der Organkonservierung in der Zeit zwischen Transplantatentnahme und Implantation beim Empfänger durch die damit verbundene Ischämie zu einer Gewebeschädigung kommen. Diese kann durch die Reperfusion nach Anschluss des Organs an den Empfängerkreislauf noch verstärkt werden. Man spricht von einem Präservierungs- und Reperfusionsschaden. Die größte Bedeutung aber kommt den Infektionen und den malignen Tumoren zu.

50.3.1

Infektionen

Durch die notwendige Immunsuppression nach Transplantation ist kurz- und langfristig das Risiko für Infektionen erhöht. In den ersten Wochen nach Transplantation besteht – insbesondere bei den knochenmarktransplantierten Patienten – ein erhöhtes Risiko für bakterielle Infekte sowie Pilzinfektionen, insbesondere durch Candida und Aspergillus. Ebenfalls in dieser Zeit finden sich gehäuft Infektionen mit dem Herpes-simplex-Virus und besonders im zweiten und dritten Monat mit dem Zytomegalievirus. Zudem ist nach Transplantation auch ein erhöhtes Risiko für Pneumocystis-carinii-Infekte vorhanden (Abb. 50-1). Gewisse virale Infektionen scheinen außerdem direkt oder indirekt einen negativen Effekt auf die Transplantatfunktionen auszuüben, dies vor allem das Zytomegalievirus und, wie kürzlich gezeigt wurde, auch das BK-Virus (Polyoma-Virus) für die Nieren.

50.3.2

Tumoren

Patienten nach Transplantation entwickeln gehäuft Tumoren. Zu den malignen Tumoren gehören die lymphoproliferativen Erkrankungen, das Kaposi-Sarkom und epitheliale Tumoren der Haut wie das Plattenepithel- und das Basalzellkarzinom (Abb. 50-1). Posttransplantäre lymphoproliferative Erkrankungen (PTLD) als Folge der Immunsuppression treten bei Empfängern von Organtransplantaten wie auch von hämatopoetischen Stammzellen auf. Das Risiko einer posttransplantären lymphoproliferativen Erkrankung liegt, abhängig von der Art des Transplantats und der angewandten Immunsuppression, bei 2%. Rund 80% dieser Erkrankungen sind mit Epstein-Barr-Virus (EBV) assoziiert und die Mehrzahl der Proliferationen stammt von

Zellen des Transplantatempfängers. In nur etwa 10% zeigen sich phänotypische und genotypische Veränderungen, die darauf hinweisen, dass sich die Proliferation aus Lymphozyten des Spenders entwickelt hat. Lymphoproliferative Erkrankungen nach Transplantation können schon nach wenigen Wochen und Monaten, allerdings auch erst nach Jahren auftreten. Phänotypisch handelt es sich überwiegend um B-Zell-Proliferationen. Morphologisch lassen sich folgende Formen unterscheiden: ■ Frühläsionen mit plasmazellulärer Hyperplasie oder Veränderungen, die einer infektiösen Mononukleose ähneln ■ Polymorphzellige PTLD mit gemischtem Zellbild aus Immunoblasten, kleinen lymphoiden Zellen und Plasmazellen ■ Monomorphe PTLD mit Überwucherung des Lymphknotens durch ein monomorphes B-Zell-Infiltrat, meist einem diffusen großzelligen B-Zell-Lymphom entsprechend (Abb.50-2).

Abb. 50-2 Posttransplantäre lymphoproliferative Erkrankung (PTLD).

a Monomorphes Infiltrat von blastären, lymphozytären Zellen. Giemsa, Vergr. 400fach. b Der EBV-Nachweis zeigt, dass die große Mehrheit der blastären Zellen EBVinfiziert ist. In-situ-Hybridisierung für EBV, Vergr. 400fach. Schließlich treten auch andere maligne Lymphome, insbesondere das HodgkinLymphom, gehäuft nach Transplantation auf. Molekulargenetisch findet sich in den meisten Fällen bereits bei der polymorphzelligen PTLD eine oligo- bis monoklonale, insbesondere aber bei der monomorphen Variante eine klonale genetische

Rekombination. Trotzdem kann, insbesondere in der Frühphase, eine Reduktion der Immunsuppressiva die lymphoproliferative Erkrankung zum Verschwinden bringen. Ein weiterer Tumor, der nach Transplantation auftritt, ist das Kaposi-Sarkom, das durch das humane Herpesvirus 8 (HHV 8) ausgelöst wird. Die Tatsache, dass diese Tumoren durch Reduktion der immunsuppressiven Therapie zumindest teilweise zurückgehen, weist auf die pathogenetische Bedeutung der Immunabwehr bei der Entstehung dieser Tumoren hin.

50.4 50.4.1

Transplantation einzelner Organe Niere

Die Niere ist das am häufigsten transplantierte Organ. Die Indikation schließt alle Formen des chronischen Nierenversagens ein, z.B. nach chronischer Glomerulonephritis oder bei Diabetes mellitus. Da Patienten mit terminaler Niereninsuffizienz dank Hämodialyse viele Jahre leben können, besteht kein akuter Zeitdruck für die Durchführung der Transplantation. Die Implantation des Transplantats erfolgt heterotop, extraperitoneal in der Fossa iliaca mit Gefäßanastomosierung an die A. und V. iliacae. Die akute Abstoßung nach Nierentransplantation äußert sich klinisch vor allem im Anstieg des Serumkreatinins. Daneben können eine Schwellung des Transplantats sowie Sekundärsymptome wie Fieber, Hypertonie und Inappetenz beobachtet werden. Differentialdiagnostisch müssen vor allem die akute Tubulusnekrose, aber auch Störungen des Urinabflusses sowie Infekte ausgeschlossen werden.

Abb. 50-3

Akute Abstoßung der Nieren.

a Nierenrindenparenchym mit lymphozytärem Infiltrat der Tubulusepithelien (Tubulitis). HE, Vergr. 120fach. b Arteriitis mit lymphozytärem Entzündungsinfiltrat der Intima. HE, Vergr. 300fach (Bild: S. Hailemariam, Liestal). Morphologisch werden bei der Diagnostik der akuten Abstoßung die folgenden vier Elemente beurteilt: ■ Tubulitis. Die Tubulusepithelien der transplantierten Niere zeigen eine zunehmende Infiltration, vor allem aus Lymphozyten (Abb.50-3).

■ Arteriitis. Diese entzündliche Gefäßveränderung liegt in Form einer transmuralen oder intimalen Arteriitis (Syn.: Endothelitis) vor. Bei der intimalen Arteriitis kommt es zu einer Intimaverdickung mit subendothelialen Hohlräumen und entzündlichen Infiltraten, bestehend vor allem aus Lymphozyten und Monozyten (Abb. 50-3). Als Folge davon kann es zu Endothelnekrosen mit Ablagerung von Fibrin und Blutplättchen kommen. Der Schweregrad wird nach der Anzahl befallener Gefäße beurteilt. Bei der transmuralen Arteriitis ist die ganze Arterienwand einschließlich der Media betroffen. Es finden sich Nekrosen der glatten Muskelzellen, Fibrininsudation und ein entzündliches Infiltrat aus Lymphozyten und (weniger) Granulozyten. ■ Interstitielle Entzündung. Ausmaß des mononukleären Entzündungsinfiltrats im Niereninterstitium. ■ Glomerulitis. Ausmaß der Ansammlung von Lymphozyten und Monozyten in den glomerulären Kapillaren mit Schwellung des Endothels. Von den aufgeführten Veränderungen gelten heute nur die Tubulitis und Arteriitis als sichere diagnostische Kriterien für die akute Abstoßung. Interstitielle Entzündungsinfiltrate sind häufig die augenfälligste Veränderung in einer Nierenbiopsie nach Transplantation. Sie werden aber auch in einwandfrei funktionierenden Transplantaten angetroffen und haben keine prognostische Bedeutung. Die Abstoßungsreaktion wird in der Banff-Klassifikation nach dem Ausmaß der Tubulitis eingeteilt (Grad IA und B). Findet sich zusätzlich eine intimale Arteriitis, wird sie als Grad II bezeichnet, im Fall einer transmuralen Arteriitis als Grad III (Tab. 50-1). Die chronische Abstoßung, auch chronische Transplantatnephropathie genannt, äußert sich morphologisch vor allem als Transplantatglomerulopathie. Dabei kommt es zu einer Proliferation der mesangialen Zellen mit Vermehrung der mesangialen Matrix und später zu einer Verdickung der glomerulären Kapillarwand. Außerdem finden sich eine progressive interstitielle Fibrose und Tubulusatrophie sowie eine verdickte Gefäßintima mit Arterio- und Arteriolosklerose. Es wird heute angenommen, dass die tubulointerstitiellen Veränderungen als sekundäre Läsionen bei einer zunehmenden Atherosklerose mit konsekutiver Minderdurchblutung anzusehen sind. Differentialdiagnostisch muss vor allem eine Ciclosporintoxizität in Betracht gezogen werden, ähnliche Veränderungen sind auch bei FK506/Tacrolimus beobachtet worden. Der akute Ciclosporinschaden äußert sich in einer Gefäßveränderung analog einer thrombotischen Mikroangiopathie mit Endothelschwellung der Arteriolen und Intimaödem. Später kommt es zu Fibrinablagerungen in der Gefäßwand, fragmentierten Erythrozyten sowie einer myointimalen Zellproliferation mit konsekutiver Lumeneinengung. Außerdem findet sich eine akute Tubulusnekrose meist ohne wesentliche Entzündungsinfiltrate. Bei der chronischen Schädigung durch Ciclosporin zeigt sich eine Mediahyalinose der afferenten Arteriolen und kleinen Arterien mit Schädigung der Myozyten, Ödem und Intimaverdickung, was wiederum zu einer

Lumeneinengung der Gefäße führt. Als Folge davon entwickeln sich ebenfalls eine interstitielle Fibrose und tubuläre Atrophie.

Tab. 50-1 Schweregradeinteilung der akuten Abstoßung nach Nierentransplantation (Banff-Klassifikation). − = nicht vorhanden (+) = geringgradig ausgeprägt + = mäßiggradig ausgeprägt ++ = stark ausgeprägt

50.4.2

Leber

Die häufigsten Indikationen für die Lebertransplantation sind Krankheitszustände, die zu einem funktionellen Leberversagen führen. Dazu gehören alle chronischen Lebererkrankungen wie Virushepatitis, Stoffwechsel- oder Gallenwegserkrankungen und das akute Leberversagen. Die Transplantation erfolgt orthotop. Episoden einer akuten Abstoßung treten nach Lebertransplantation bei rund 20–40% der Patienten auf. Klinisch äußern sie sich durch Fieber, Transplantatvergrößerung, Verminderung der Galleproduktion und bei zunehmendem Schweregrad durch Zeichen des Leberausfalls bis hin zum Transplantatverlust. Laborchemisch kommt es zu einem Anstieg der Leberenzyme bei gleichzeitiger Abnahme der Syntheseleistung. Morphologisch äußert sich die akute Abstoßung des Lebertransplantats in drei Hauptmerkmalen:

■ Portale Entzündung. Es findet sich ein zunehmendes portales Entzündungsinfiltrat, das überwiegend aus Lymphozyten besteht, zudem eosinophile Leukozyten und vereinzelt auch neutrophile Granulozyten und blastäre Lymphozyten enthält. Bei zunehmendem Schweregrad der Entzündung greift das Infiltrat auf das angrenzende Leberläppchen über. ■ Gallengangsläsionen. Interlobäre Gallengänge zeigen ein periduktales Entzündungsinfiltrat mit Übergreifen der Entzündungszellen auf die Gangepithelien. Als Folge davon kommt es zu degenerativen Gallengangsveränderungen mit unregelmäßigen Kernen, gestörter Zellpolarität und zytoplasmatischer Vakuolisierung der Epithelzellen und schließlich zur Zerstörung des Gallengangs. ■ Endothelitis. Dabei handelt es sich um eine Vaskulitis der Portal- oder Zentralvenen mit subendothelialen Lymphozyten und Endothelschwellung (Abb.504). Bei schwerer Endothelitis kommt es perizentral zusätzlich zu einer Leberzellnekrose. Da bis heute der prognostische Wert der einzelnen Elemente nicht sicher definiert ist, werden zur Graduierung die einzelnen Punkte zusammengezählt und als Gesamtscore angegeben.

Abb. 50-4

Akute Abstoßung der Leber.

Gemischtes Entzündungsinfiltrat in einem Portalfeld mit subendothelialer Infiltration durch Lymphozyten (Endothelitis). HE, Vergr. 360fach. Die morphologischen Hauptmerkmale der chronischen Abstoßung des Lebertransplantats sind der zunehmende Verlust an Gallengängen (sog. Gallengangsverlustsyndrom, engl. „vanishing bile duct syndrome“, Abb. 50-5) und die obliterative Arteriopathie (Abb. 50-6). Die beiden Veränderungen treten meist, aber nicht immer zusammen auf. Die Arteriopathie, die sich histologisch in Form einer Schaumzelltransformation von Intima und Media manifestiert, ist in der Nadelbiopsie nur selten nachweisbar. Die histologische Diagnose basiert deshalb im Wesentlichen auf

dem genannten Verlust der Gallengänge. Ein Verlust von mehr als 50% der Gallengänge aller untersuchten Portalfelder gilt als Beweis für ein Gallengangsverlustsyndrom. Daneben finden sich Cholestase, perizentrale Leberschwellung und Leberzelluntergang sowie Venulosklerose.

Abb. 50-5

Chronische Abstoßung der Leber.

Portalfeld mit erkennbarer Portalvene und Arteriole, aber ohne nachweisbaren Gallengang. Nur ganz vereinzelt Entzündungszellen. Bei Befall von mehr als 50% der Portalfelder spricht man von einem Gallengangsverlustsyndrom. HE, Vergr. 360fach.

Abb. 50-6

Schaumzellarteriopathie.

Kleine Arterie mit deutlich abgehobenem Endothel und subendothelial-intimaler Schaumzellansammlung. HE, Vergr. 250fach.

50.4.3

Lunge

Die orthotope Lungentransplantation wird im Endstadium chronischer obstruktiver und restriktiver Lungenerkrankungen, z.B. bei Patienten mit Mukoviszidose, sowie bei primären Erkrankungen der Lungengefäße durchgeführt. Bei schwerer, irreversibler Schädigung von Lunge und Herz, z.B. bei primärer pulmonaler Hypertonie, kann auch eine kombinierte Herz-Lungen-Transplantation durchgeführt werden. Die klinische Symptomatik der akuten Abstoßung nach Lungentransplantation schließt Fieber mit Leukozytose, interstitielle Infiltrate im Röntgenthoraxbild und Pleuraergüsse ein. Die definitive Diagnose der akuten Abstoßung wird über eine transbronchiale Biopsie gestellt. Dabei werden multiple Gewebefragmente entnommen. Das histologische Hauptmerkmal ist ein überwiegend aus Lymphozyten bestehendes, manschettenartig angeordnetes perivaskuläres Entzündungsinfiltrat (Abb.50-7). Bei zunehmendem Schweregrad wird dieser Lymphozytensaum ausgedehnter und kann auch auf die benachbarten Alveolarwände übergreifen. Schließlich kann es bei schweren Formen der akuten Abstoßung zu einem diffusen perivaskulären und interstitiellen Entzündungsinfiltrat mit Alveolarschaden, Nekrose, Blutungen und hyalinen Membranen kommen. Diese perivaskulären Infiltrate sind von den lymphozytären Entzündungsinfiltraten in der Wand von Bronchien und Bronchiolen zu unterscheiden, wie sie bei der lymphozytären Bronchitis bzw. Bronchiolitis auftreten. Die lymphozytäre Bronchitis/Bronchiolitis kann auch zu Nekrosen von Bronchialepithelien und Ulzera führen und sogar in eine Bronchitis obliterans übergehen. Daher wird sie nicht der akuten Abstoßung zugeordnet. Leitsymptome bei der chronischen Abstoßung sind die Verschlechterung des Gasaustausches und die daraus resultierende progressive Dyspnoe. Die chronische Abstoßung manifestiert sich morphologisch vor allem unter dem Bild einer sog. Bronchiolitis obliterans. Sie tritt meist erst nach dem dritten Monat nach Transplantation auf und manifestiert sich durch submuköse Einlagerungen von Bindegewebe mit zunehmender Obliteration des Lumens der Bronchiolen. Die Wandveränderung findet sich primär in den membranösen und respiratorischen Bronchiolen. Je nachdem, ob zusätzlich ein entzündliches Infiltrat vorliegt, spricht man von einer aktiven oder inaktiven Form. Klinisch gehen der chronischen Abstoßung des Lungentransplantats meist Episoden einer akuten Abstoßung voraus. Außerdem wird – wie bei anderen Transplantaten – auch nach der Lungentransplantation eine obliterative Vaskulopathie beobachtet, die eine fibrointimale Verdickung von Arterien und Venen mit oder ohne entzündliches Infiltrat zeigt.

Abb. 50-7

Akute Abstoßung der Lunge.

Perivaskuläres lymphozytäres Infiltrat. HE, Vergr. 110fach.

50.4.4

Herz

Die orthotope Transplantation des Herzens erfolgt bei Patienten mit therapieresistenter schwerer Herzinsuffizienz mit voraussichtlich wesentlicher Verminderung der Lebenserwartung. Als Ursache dieser Insuffizienz sind ischämische, dilatative und obstruktive Kardiomyopathien, aber auch schwere Herzrhythmusstörungen zu nennen. Die klinischen Symptome der akuten Abstoßung eines Herztransplantats sind wenig spezifisch: Leistungsabfall, Abgeschlagenheit, Fieber und Herzrhythmusstörungen wie supraventrikuläre Extrasystolen. Die Endomyokardbiopsie ist die derzeit einzige zuverlässige diagnostische Methode zum Nachweis einer Abstoßung. Zur Gewebeentnahme wird ein transjugulärer Venenkatheter in den rechten Ventrikel vorgeschoben. Histologisch äußert sich die akute Abstoßung in einem interstitiellen wie auch perivaskulären, überwiegend aus Lymphozyten bestehenden Entzündungsinfiltrat. Entscheidend ist, ob es zu einer zusätzlichen Schädigung bzw. Nekrose der Herzmuskelzellen kommt (Abb.50-8). Bei zunehmendem Schweregrad entwickelt sich zunehmend ein gemischtzelliges Entzündungsinfiltrat mit neutrophilen und eosinophilen Leukozyten. Eine spezielle Veränderung ist die so genannte Quilty-Läsion (benannt nach dem ersten Patienten, bei dem diese Veränderung beobachtet wurde). Dabei handelt es sich um ein endokardiales lymphozytäres Entzündungsinfiltrat, das auch auf das Myokard übergreifen kann. Die klinische und pathogenetische Bedeutung der Quilty-Läsion ist unklar.

Abb. 50-8

Akute Abstoßung des Herzens.

Herdförmiges lymphozytäres Entzündungsinfiltrat mit Schädigung der Herzmuskelfasern. HE, Vergr. 330fach. Die chronische Abstoßung äußert sich am Herzen vor allem durch die chronische Herzinsuffizienz. Morphologisch besteht eine Transplantatvaskulopathie, die sich wie bei anderen Organen durch eine fibrointimale Hyperplasie vor allem der Arterien äußert. Diese führt zu einer zunehmenden Lumenobliteration, die ihrerseits einen ischämischen Herzschaden bedingt. In den Endomyokardbiopsien jedoch werden entsprechende Gefäßkaliber nicht mit biopsiert. Es wird deshalb nach den Folgen dieser obliterativen Vaskulopathie gefahndet, die sich im Myokard durch tubuläre Myopathie, Myokardnekrosen und Fibrose äußert.

50.4.5

Pankreas und Pankreasinseln

Das Pankreas wird gewöhnlich bei Diabetikern meist in Kombination mit einer Niere transplantiert. Im Fall einer Abstoßung kann im Rahmen der Überwachung von der Niere auf das Pankreas geschlossen werden. Bei einer isolierten Pankreastransplantation oder einer Pankreastransplantation nach Nierentransplantation wird das Pankreas jedoch direkt über eine transkutane Biopsie untersucht. Als klinisches Symptom der akuten Pankreasabstoßung tritt Fieber auf; manchmal finden sich auch laborchemische Zeichen einer Pankreatitis. Morphologisch zeigt sich bei der akuten Abstoßung ein überwiegend lymphozytäres Entzündungsinfiltrat, häufig vermischt mit eosinophilen und neutrophilen Granulozyten. Es ist vor allem periduktal und perivaskulär in den fibrösen Septen nachweisbar. Die Endothelitis, eine direkte entzündliche Infiltration der Endothelien mit endothelialer Schwellung, beweist eine akute Abstoßungsreaktion des Pankreas. Mit zunehmendem Schweregrad werden auch

die Azini von den Entzündungsinfiltraten erfasst, während die Langerhans-Inseln lange ausgespart bleiben. Bei der chronischen Abstoßung findet sich ein zunehmender Parenchymverlust durch eine Fibrose bei obliterativer Arteriopathie. In der Anfangsphase überlappen sich die histologischen Zeichen der akuten und chronischen Abstoßung häufig. Wie bei der chronischen Pankreatitis bleiben auch hier die Langerhans-Inseln lange ausgespart.

Abb. 50-9

Pankreasinseltransplantation.

In einem Portalfeld der Leber eingenistete transplantierte Langerhans-Insel. HE, Vergr. 200fach (Bild: R. Lehmann, Zürich). Anstelle des ganzen Pankreas werden heute häufiger isolierte Langerhans-Inseln transplantiert. Dabei wird das Pankreas durch Kollagenase verdaut. Die endokrinen Inseln werden mittels Dichte-Gradienten vom exokrinen Gewebe getrennt und durch die Portalvene in die Leber transplantiert, wo sie sich in den Portalfeldern einnisten. Um eine Insulinunabhängigkeit zu erreichen, werden 500000–800000 Inseläquivalente benötigt (Abb. 50-9).

50.4.6

Dünndarm

Die Dünndarmtransplantation wird relativ selten durchgeführt. Sie ist klinisch indiziert beim Kurzdarmsyndrom, wenn nach ausgedehnter Darmresektion keine ausreichende Resorptionsleistung mehr besteht. Die akute Abstoßung äußert sich klinisch in Fieber, Abdominalschmerzen und möglicherweise Abwehrspannung des Abdomens. Die Endoskopie zeigt meist das Bild einer hämorrhagischen Enteritis. Histologische Hauptmerkmale sind ein herdförmiges, primär lymphozytäres Entzündungsinfiltrat, intraepitheliale Entzündungszellen (sog.

Kryptitis) sowie insbesondere eine Apoptose der Kryptenepithelien. Mit zunehmendem Schweregrad kommt es zu einer Ulzeration mit Übergreifen des Entzündungsinfiltrats auf angrenzende Nerven- und Ganglienzellen. Bei der chronischen Abstoßung bildet sich primär eine obliterative Arteriopathie mit Ulzera und zunehmender Fibrose des transplantierten Darms.

50.5 Transplantation von hämatopoetischen Stammzellen Die tierexprimentell gewonnenen Erkenntnisse, dass das hämatopoetische System durch die Transplantation von Stammzellen rekonstituiert werden kann, führte zur Entwicklung der Stammzellentransplantation bei Menschen. Bei der klassischen Knochenmarktransplantation wird das Gewebe durch Knochenmarkaspiration gewonnen. Demgegenüber wird bei der peripheren Stammzellentransplantation durch die Gabe hämatopoetischer Wachstumsfaktoren die Anzahl von Stammzellen im peripheren Blut erhöht. Diese Stammzellen können dann ohne aufwendige Knochenmarkaspiration aus dem peripheren Blut über Apherese gewonnen werden. Auch die Stammzellentransplantation ist in einer allogenen und einer autologen Form möglich. Die allogene Stammzellentransplantation hat heute ihren festen Platz in der Therapie von malignen, insbesondere hämatologischen Erkrankungen wie der chronischen myeloischen Leukämie, akuten Leukämien, Non-Hodgkin-Lymphomen oder dem multiplen Myelom. In einem ersten Schritt wird der Tumor durch eine aggressive Chemound/oder Radiotherapie behandelt (Konditionierung). Hierbei wird einerseits der Tumor eradiziert, anderseits das Immunsystem des Empfängers weitgehend zerstört, um eine Graft-versus-Host-Reaktion (GvHR), also den immunologischen Angriff des gespendeten Marks auf den Empfänger, zu verhindern. Nach Möglichkeit werden bei der allogenen Transplantation die Stammzellen von einem Geschwister verwendet, um eine möglichst hohe HLA-Übereinstimmung zu erreichen. Registraturen von Tausenden freiwilliger Spender oder von Nabelschnurblut erlauben es auch, nichtverwandte Spender mit einer hohen HLA-Übereinstimmung zu finden. Der eigentliche antitumorale Effekt beruht dabei auf zwei Wirkungsmechanismen: ■ dem zytotoxischen Effekt der Stammzellentransplantation nach Konditionierungstherapie ■ dem so genannten Graft-versus-Leukemia(GvL)-Effekt. In den letzten Jahren hat sich nämlich gezeigt, dass die allogenen Zellen des transplantierten Marks hämatologische Tumoren wirkungsvoll angreifen und einen ganz wesentlichen Beitrag zum Langzeiterfolg der Stammzellentransplantation leisten. Dies konnte unter anderem eindrücklich damit belegt werden, dass Infusionen von T-Zellen des

ursprünglichen Stammzellspenders bei Rezidiv des Tumors zu einer vollständigen Remission führen konnten. Bei der autologen Stammzellentransplantation werden dem Patienten Stammzellen entnommen und im Anschluss an die Konditionierungsbehandlung zurückinfundiert. Der Vorteil dieser Methode ist, dass durch das eigene Mark keine GvHR ausgelöst wird, allerdings fehlt auch der oben angeführte GvL-Effekt. Die autologe Stammzellentransplantation kommt auch bei soliden Tumoren zum Einsatz, hat aber die in sie gesteckten Erwartungen bis heute nicht erfüllen können.

50.5.1

Graft-versus-Host-Reaktion

Das größte Problem im Anschluss an eine Stammzellentransplantation ist die Graftversus-Host-Reaktion (GvHR). Die akute Graft-versus-Host-Reaktion befällt vor allem die Haut, den Gastrointestinaltrakt und die Leber. ■ Morphologisch zeigt die Haut in der basalen Epidermis eine vakuoläre Degeneration und zunehmende epidermale Nekrose bei häufig nur geringgradig entzündlichem Infiltrat. Mit zunehmendem Schweregrad kommt es zu einer subepidermalen Spaltbildung mit gelegentlich vollständiger Ablederung der Epidermis. Differentialdiagnostisch ist vor allem eine medikamentöse Schädigung der Haut in Erwägung zu ziehen. ■ Im Gastrointestinaltrakt finden sich herdförmige Nekrosen der Kryptenepithelien mit Ausbildung von Lakunen, die mit Zelldébris („Zellmüll“) gefüllt sind (Abb. 50-10). Eigentlich handelt es sich hier um apoptotische Figuren, die auch als „explodierende Krypten“ bezeichnet werden. Bei Zunahme des Schweregrades der GvHR kommt es zu einem progressiven Verlust an Krypten und schließlich zur diffusen Ulzeration der Mukosa. ■ In der Leber äußert sich die GvHR morphologisch in einem zunehmenden Verlust von Gallengängen, der zu einem Gallengangsverlustsyndrom führen kann. Bei der chronischen Graft-versus-Host-Reaktion, die 100 Tage oder später nach Transplantation auftritt, können neben den bereits für die akute GvHR erwähnten Organen zahlreiche weitere Organsysteme betroffen sein, z.B. die Speicheldrüsen oder Lungen. Der Befall der Speicheldrüsen wie auch der Tränendrüsen führt zu trockenem Mund und trockenen Augen (Sicca-Syndrom). In der Haut findet man eine zunehmende dermale und subepidermale Fibrosierung mit Pigmentverschiebungen und Atrophie der Epidermis und der Hautanhangsdrüsen. Andere Erkrankungen, die nach Knochenmarktransplantation gehäuft auftreten, sind interstitielle Pneumonien und eine Verschlusskrankheit der kleinen Zentralvenen der Leber (venookklusive Erkrankung).

Abb. 50-10 Graft-versus-Host-Reaktion nach Knochenmarktransplantation.

Rektum: entzündliches Infiltrat der Tunica propria sowie Kryptenveränderungen mit herdförmigen Nekrosen der Kryptenepithelien. HE, Vergr. 70fach. Kleines Bild: Krypte mit apoptotischen Figuren, charakterisiert durch Lakunen mit Zelldébris. HE, Vergr. 360fach.

50.6 Bedeutung der Pathologie in der Transplantationsdiagnostik Der morphologischen Diagnostik kommt in der Transplantationsmedizin eine große Bedeutung zu. Dabei ist die häufigste und wichtigste Problemstellung, eine Transplantatabstoßung gegen eventuelle andere Erkrankungen abzugrenzen, die eine fehlende, ungenügende oder sich verschlechternde Organfunktion erklären könnten. Das Gewebe wird durch eine Nadelbiopsie (z.B. Niere und Leber) gewonnen. Da die Beurteilung häufig schwierig ist, sollte das Gewebe je nach Organ eine gewisse Mindestgröße aufweisen, um eine zuverlässige Diagnose am Biopsat stellen zu können und eine erneute Gewebeentnahme zu vermeiden. Der Schweregrad der akuten, aber auch der chronischen Form der Abstoßung wird häufig, insbesondere im Hinblick auf eine ggf. notwendige Therapie, in Form eines sog. Abstoßungsscores angegeben. Während in der

Anfangsphase der Transplantation verschiedene Beurteilungssysteme entwickelt wurden, strebt man heute international anerkannte Standards an, insbesondere um bei zunehmender Verbreitung der Transplantation die Abstoßungstherapien besser und vergleichbar einsetzen zu können. Bekannt wurde vor allem die Banff-Klassifikation (siehe Tab. 50-1), die nach einem Tagungsort in Alberta/Kanada benannt ist. Neben der bioptischen Diagnostik an Nadel- und Knipsbiopsien des transplantierten Organs kann die Morphologie in der Transplantationsmedizin noch eine Reihe anderer Aussagen erbringen. Erwähnt seien insbesondere: ■ Explantat. Bei orthotoper Transplantation (z.B. Lunge, Leber und Herz) wird auch das entnommene Eigenorgan insbesondere auf maligne Tumoren oder unerwartete Infekte hin untersucht. Manchmal kann auch die Diagnose der Grunderkrankung, die zu einem Organversagen geführt hat, erst am Explantat gestellt werden. ■ Nullbiopsie. Damit wird die erste Biopsie bezeichnet, die noch intraoperativ, meist nach Reperfusion des transplantierten Organs, entnommen wird. Sie gibt Aufschluss über vorbestehende Veränderungen des transplantierten Organs und erlaubt diese von später erworbenen Veränderungen abzugrenzen. ■ Autopsie. Im Todesfall nach Transplantation sollte möglichst immer eine Autopsie durchgeführt werden, um daraus Schlüsse für eine Verbesserung des Vorgehens bei anderen Transplantationen ziehen zu können.

Literatur

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Solez, K. et al.: Report of the third Banff conference on allograft pathology (July 20–24, 1995) on classification and lesion scoring in renal allograft pathology. Transplant. Proc. 28 (1996) 441–444. Yousem, S. A. et al.: Revision of the 1990 working formulation for the classification of pulmonary allograft rejection: lung rejection study group. J. Heart Lung Transplant. 15 (1996) 1–15. http://www.transplant.org

FRAGEN 1 Welche Veränderungen können im Rahmen der chronischen Abstoßung bei allen Organtransplantaten beobachtet werden? 2 Welches ist der grundsätzliche Unterschied in der Abstoßungsreaktion zwischen Organtransplantation und hämatogener Stammzellentransplantation? 3 Nennen Sie die vier histologischen Hauptmerkmale der akuten Abstoßung nach Nierentransplantation. 4 Was ist die Banff-Klassifikation? 5 Welches sind die häufigsten nichtabstoßungsbedingten Folgen einer Organtransplantation? 6 Welches sind die Indikationen zur morphologischen Untersuchung der in diesem Kapitel beschriebenen Krankheiten? Welche Untersuchungen sind indiziert? Welchen Beitrag können diese Untersuchungen zur präzisen Diagnostik und zur Planung der Therapie leisten?

51 Umweltbedingte Schäden M. BROCKMANN 51.1

Schäden durch physikalische Einwirkungen 1190

51.1.1

Schäden durch mechanische Einwirkungen 1190

Schäden durch kurzfristige Einwirkungen großer Kräfte 1190 Schäden durch chronische Einwirkung von Schwingungen 1190 Schäden durch Einwirkung statischer Kräfte bzw. Überbeanspruchung 1191 51.1.2

Schäden durch Temperaturänderungen 1191

51.1.3

Schäden durch Änderungen des atmosphärischen Drucks 1192

51.1.4

Schäden durch elektromagnetische Energie 1192

Schäden durch elektrischen Strom 1192 Strahlenschäden 1192 51.2

Umweltbedingte Schäden der Lunge und der Atemwege 1193

51.2.1

Obstruktive Atemwegserkrankungen 1193

51.2.2

Pneumokoniosen 1193

Pneumokoniosen infolge organischer Stäube 1194 Pneumokoniosen infolge anorganischer Stäube 1194 51.3

Schäden durch chemische Einwirkungen 1198

51.4

Umweltbedingte Tumorerkrankungen 1199

51.5

Ernährungsbedingte Schäden 1200

51.5.1

Überernährung und Fettsucht 1200

51.5.2

Unterernährung und Kachexie 1201

51.6

Schäden durch Tabakrauchen 1202

51.7

Schäden durch Alkohol 1203

51.8

Schäden durch illegale Drogen 1204

51.8.1

Schäden durch Rauschmittel: allgemeine Auswirkungen 1204

51.8.2

Spezielle Rauschmittel 1204

Literatur 1205 Fragen 1206

Zur Orientierung Krankheiten sind im Allgemeinen die Folge des Zusammenwirkens äußerer und innerer Ursachen, wobei der relative Anteil der beiden Komponenten variiert. Dabei werden als äußere Krankheitsursachen alle aus der Umwelt auf den Organismus einwirkenden Faktoren bezeichnet. Vor diesem Hintergrund können im weiteren Sinne viele Krankheiten zumindest teilweise als umweltbedingt angesehen werden. Im engeren Sinne fasst man unter den umweltbedingten Schäden die Folgen der Umweltverschmutzung, schädigender Einflüsse am Arbeitsplatz und schädigender Lebensgewohnheiten zusammen. Erkrankungen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch Einwirkungen am Arbeitsplatz verursacht oder wesentlich mitverursacht werden, sind in der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) aufgelistet und werden von den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung, den Berufsgenossenschaften, als Berufskrankheiten entschädigt (Einzelheiten siehe arbeitsmedizinisches Fachgebiet). Unter den umweltbedingten Schäden lassen sich Erkrankungen durch physikalische Einwirkungen, ferner durch toxisch-irritative, fibrosierende und allergisierende sowie kanzerogene Noxen unterscheiden. Charakteristisch für umweltbedingte Schäden ist eine langfristige Belastung durch vergleichsweise niedrige Schadstoffdosen, nicht selten überlagert durch kurzfristige Konzentrationserhöhungen. Essentiell für die Diagnostik umweltbedingter Schäden ist eine sorgfältige Anamneseerhebung. In seltenen Situationen wird die Diagnose eines umweltbedingten Schadens allein aufgrund des klinischen oder des pathologisch-anatomischen Befundes möglich sein. Wichtig bei der Anamneseerhebung sind gute Kenntnisse über denkbare Umgebungsexpositionen. Bei der Bewertung der Patientenangaben ist zu berücksichtigen, dass freiwillig in Kauf genommene Expositionen häufig negiert oder heruntergespielt, fremdbestimmte Expositionen hingegen häufig überbewertet werden. Beispiele sind die Bewertung der Beeinträchtigung durch Diskothekenlärm im Vergleich zu derjenigen durch Flugzeuglärm sowie die gesundheitliche Beeinträchtigung durch „asbestverseuchte Räume“ im Vergleich zu derjenigen durch Rauchen. Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Tatsache, dass die schädliche Einwirkung zwar vielfach über lange Zeiträume, aber gewöhnlich in niedriger Dosierung erfolgt. Zudem ist die Latenzzeit zwischen dem Expositionsbeginn und der klinischen Manifestation insbesondere bei den umweltbedingten Tumorleiden häufig lang, z.B. beim asbestinduzierten malignen Mesotheliom im Mittel 33 Jahre (siehe auch Kap. 6.2.2 und 25.4.2).

Epidemiologie Als Folge der Problematik bei der Identifikation einer Erkrankung als umweltbedingt liegen verlässliche Angaben zur Häufigkeit umweltbedingter Schäden in ihrer Gesamtheit nicht vor. Bei den in Deutschland als berufsbedingt anerkannten Schäden stehen jene durch physikalische Einwirkungen an erster Stelle, gefolgt von den Erkrankungen der Lunge einschließlich der Atemwege. Insgesamt wurden in Deutschland im Jahre 2001 23933 Erkrankungen als berufsbedingt neu anerkannt. Häufigste Einzelursache war der Lärm. Demgegenüber wurden am häufigsten Erkrankungen durch mechanische Einwirkungen den Berufsgenossenschaften angezeigt, speziell eine Beeinträchtigung der Wirbelsäule durch statische Kräfte. Berufsbedingte Ursachen ließen sich jedoch nur in ca. 2% medizinisch-wissenschaftlich nachweisen (zelluläre Mechanismen der Schädigung siehe auch Kap. 2.2.6, Kanzerogenese siehe Kap. 6.3). Auch bezüglich der Häufigkeit umweltbedingter maligner Tumoren liegen aus den genannten Gründen lediglich grobe Schätzungen vor. Ergebnisse epidemiologischer Studien deuten darauf hin, dass etwa 80–90% der bösartigen Tumoren auf Umwelteinflüsse zurückgehen, davon allein 35% auf die Ernährung. Von den etwa 300000 jährlich in Deutschland neu auftretenden malignen Tumoren werden etwa 0,6% (2000: 1785 Tumoren) bzw. von den 210000 Todesfällen durch bösartige Neubildungen 1169 von den Berufsgenossenschaften als berufsbedingt anerkannt. An erster Stelle stehen die malignen Lungentumoren, gefolgt von den malignen Mesotheliomen (siehe auch Kap. 25.4.2). Unter den Folgen schädigender Lebensgewohnheiten sind die ernährungsbedingten Schäden von wesentlicher Bedeutung, in den westlichen Industrieländern speziell die Folgen der überernährung. So sind in den USA jedes Jahr 280000 Todesfälle auf die Adipositas (= Fettsucht) und ihre Folgeerkrankungen zurückzuführen. In Deutschland liegt bei annähernd jedem fünften Erwachsenen im Alter zwischen 25 und 69 Jahren eine mäßige bis starke Adipositas vor, der Anteil der übergewichtigen Kinder beträgt je nach Definition 10–20%. Dabei ist eine Zunahme der Kinder mit extremer Adipositas zu verzeichnen. Demgegenüber leiden viele Menschen weltweit an den Folgen der Unterernährung, vornehmlich in den Ländern der sog. Dritten Welt. Aber auch in den westlichen Industriestaaten wird eine Mangelernährung beobachtet. So liegt der Anteil der Untergewichtigen in Deutschland bei 2,3% der Frauen und 1,6% der Männer. Unter den Folgen schädigender Lebensgewohnheiten ist neben den ernährungsbedingten Schäden vor allem der Konsum psychoaktiver Substanzen für zahlreiche Erkrankungen verantwortlich. So werden allein in Deutschland die Folgekosten für Erkrankungen durch Tabakkonsum (siehe Kap. 24.7.2) auf 40 Milliarden e, die des Alkoholkonsums (siehe auch Kap. 32.5.3) auf 20 Milliarden ε und die Schäden durch illegale Drogen auf 6,5 Milliarden e geschätzt. Dabei ist auch der Konsum von illegalen Drogen nicht allein auf Erwachsene beschränkt. Schon bei den 12–18-Jährigen haben bundesweit 16% Cannabisprodukte (Haschisch, Marihuana) probiert, der Anteil bei den 18–24-Jährigen ist seit 1998 von 24 auf 38% gestiegen. Erfahrungen mit sog. Party- bzw. Designerdrogen (Ecstasy) haben bundesweit 5,5% der Jugendlichen und in den städtischen

Ballungsräumen 15% der Erwachsenen. Im Jahre 2002 sind in Deutschland 1513 Menschen an den Folgen illegaler Drogen gestorben.

51.1

Schäden durch physikalische Einwirkungen

Der menschliche Organismus ist in seiner beruflichen und privaten Umwelt einer Reihe unterschiedlicher physikalischer Einwirkungen ausgesetzt. Dazu gehören mechanische Einwirkungen, Änderungen der Temperatur, des atmosphärischen Drucks und der elektromagnetischen Energie.

51.1.1

Schäden durch mechanische Einwirkungen

Bei den Folgen der Einwirkung von mechanischen Kräften muss differenziert werden, ob große Kräfte kurzzeitig oder schwächere Kräfte langfristig auf den Organismus einwirken. Bei den schwächeren Kräften kann es sich zum einen um eine rhythmische Einwirkung in Form von Schwingungen handeln; hierzu gehören im weiteren Sinne auch die Einwirkungen von Schallwellen. Zum anderen kann die Einwirkung weitgehend statisch bzw. in Form einer überbeanspruchung gegeben sein.

Schäden durch kurzfristige Einwirkungen großer Kräfte Definition und Ätiologie Große Krafteinwirkung auf den menschlichen Organismus erfolgt üblicherweise im Rahmen von Unfällen. In der Arbeitswelt ereignen sich allein in Deutschland ca. 1,2 Millionen Unfälle (2001: 1237045 Unfälle), davon ca. 1500 mit tödlichem Ausgang (2001: 1480 Arbeitsunfälle mit Todesfolge). Die Zahl der Unfälle im häuslichen Umfeld bzw. in der Freizeit ist wesentlich höher und wird auf 4,8 Millionen geschätzt. Unter umweltmedizinischen Aspekten sind hier insbesondere Verkehrsunfälle zu nennen, die allein in Deutschland jedes Jahr mehrere tausend Menschen, insbesondere Kinder, das Leben kosten.

Morphologie Morphologisch fassbare Folgen der Einwirkung großer Kräfte sind Gewebezerreißungen bzw. -zerstörungen mit nachfolgender Blutung aus den eröffneten Gefäßen. Folgt der Tod des Gesamtorganismus unmittelbar nach der mechanischen Einwirkung, fehlen vitale Reaktionen auf die Gewebezerstörung.

Schäden durch chronische Einwirkung von Schwingungen Definition und Ätiologie Eine längerfristige Einwirkung von Schwingungen (Vibrationen oder Erschütterungen) erfolgt fast ausschließlich im Rahmen beruflicher Tätigkeit. Eine Gefährdung ist insbesondere in der Transportindustrie (z.B. als Gabelstaplerfahrer) und der Bauindustrie bei der Benutzung vibrierender Arbeitsgeräte, z.B. eines Bohrhammers, gegeben.

Pathogenese

Bei lokalisierter Einwirkung von Schwingungsbelastungen, v.a. im Hand-ArmBereich, führen diese insbesondere bei anlagebedingter verminderter Leistungsfähigkeit der Gelenke zu vorzeitigen Abnutzungsreaktionen und zu Schäden an Gefäßen und peripheren Nerven. Ganzkörperschwingungen hingegen wirken sich in erster Linie auf die Wirbelsäule aus. Dort kommt es durch die mechanische überbeanspruchung in den blutgefäßlosen Zwischenwirbelscheiben zu einer Reduktion der druckabhängigen Flüssigkeitsverschiebungen mit nachfolgender Laktatakkumulation und pHVerschiebung zu sauren Werten. Dadurch wird ein Milieu erzeugt, das die Enzyme der Zytolyse aktiviert, reparative Prozesse hemmt und damit degenerative Veränderungen einleitet bzw. beschleunigt.

Morphologie und klinisch-pathologische Korrelationen Lokalisierte Einwirkungen von Schwingungen führen zu einer vorzeitigen Arthrosis deformans, insbesondere des Ellenbogen- und Handgelenks. Daneben kommt es zu einer Hypertrophie der Gefäßmuskulatur. Die nachfolgenden Funktionsstörungen der Gefäße und Nerven äußern sich klinisch in anfallsartigen, durch Kälteeinfluss begünstigten, örtlich begrenzten Durchblutungs- und Sensibilitätsstörungen (vibrationsbedingtes vasospastisches Syndrom, traumatisches Raynaud-Phänomen). Folgen von Ganzkörperschwingungen sind degenerative Wirbelsäulenveränderungen, insbesondere im Bereich der Lendenwirbelsäule. Klinische Symptome sind vor allem ein lokales Lumbalsyndrom oder mono- bzw. polyradikuläre Wurzelsyndrome („Ischias“).

Lärm Definition und Ätiologie Unter „Lärm“ versteht man eine unerwünschte, als unangenehm empfundene Schalleinwirkung. Nach den Ergebnissen verschiedener sozialpsychologischer Erhebungen klagt etwa jeder dritte, in Großstädten sogar jeder zweite Einwohner über eine Beeinträchtigung seines Wohlbefindens durch Umweltlärm. Als Hauptstörquelle steht dabei der Straßenverkehrslärm im Vordergrund, gefolgt von Flug- und Gewerbelärm. Daneben werden insbesondere bei Jugendlichen auch Schäden durch erwünschte Schalleinwirkung (Diskotheken) beobachtet.

Pathogenese Eine physiologische Wirkung von Schallreizen besteht in der Beeinflussung vegetativer Areale im Zwischenhirn im Sinne einer ergotropen Reaktion. Auf diesem Wege beeinflussen übermäßige Schallreize (Lärm) u.U. die Funktionsbereiche des autonomen Nervensystems. Darüber hinaus können Schallwellen über eine Erschöpfung der Sinneszellen im Innenohr mit nachfolgendem Zelltod eine Schallempfindungsschwerhörigkeit verursachen. Dabei spielt nicht nur die Lärmintensität, sondern auch die Frequenz des Schalls eine Rolle. Geräusche, bei denen Frequenzen über 1000 Hz vorherrschen, und schlagartige Geräusche hoher Intensität (Impulslärm) sind für das Gehör besonders gefährlich.

Morphologie

Das Knalltrauma mit seinem sehr hohen, aber kurzzeitigen (< 2 ms) Schalldruck bewirkt einen umschriebenen Haarzelluntergang im Innenohr am übergang von der ersten zur zweiten Schneckenwindung. Beim länger andauernden Explosionstrauma werden neben schweren Mittelohrschäden, u.U. mit Trommelfellzerreißung, ausgedehnte Läsionen des Innenohrs, bei der Lärmschwerhörigkeit schwere degenerative Veränderungen besonders der äußeren Haarzellen gefunden.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Typische Folgen einer Lärmeinwirkung sind Ein- und Durchschlaf-sowie Konzentrationsstörungen. Bei einer längeren Einwirkung von mindestens 85 dB kann u.U. bereits eine Lärmschwerhörigkeit auftreten.

Schäden durch Einwirkung statischer Kräfte bzw. überbeanspruchung Definition und Ätiologie Eine einseitige, lang andauernde mechanische Beanspruchung kann besonders bei fehlender oder gestörter Anpassung Erkrankungen zur Folge haben. Dabei kann es sich um chronische Druckbelastungen (z.B. von Schleimbeuteln oder Kniegelenken), ständig sich wiederholende einseitige Bewegungsabläufe (z.B. am Computerarbeitsplatz, beim Tennisspielen oder beim Spiel von Musikinstrumenten) oder Haltungsschäden bei mangelnder Bewegung bzw. ungenügendem körperlichem Training handeln. Aus sozialmedizinischer Sicht sind die Folgeerkrankungen die häufigste Ursache für krankheitsbedingte Arbeitsausfälle.

Morphologie und klinisch-pathologische Korrelationen

Die einseitige mechanische Beanspruchung führt über Mikrotraumen zu rezidivierenden Blutungen, nachfolgender Bildung von Granulationsgewebe und schließlich zu Vernarbungen. Typische Folgen sind Tendovaginitis (= Entzündung der Sehnenscheiden), Periostosen an Sehnenansätzen (Epikondylitis), Bursitiden bzw. Schleimbeutelhygrome und degenerative Veränderungen von Menisken, Bändern, Gelenkkapseln und Zwischenwirbelscheiben. Die isolierte chronische Druckbelastung hat eine Atrophie der belasteten Abschnitte zur Folge, ggf. mit kompensatorischer Hypertrophie anderer Areale.

51.1.2

Schäden durch Temperaturänderungen

Als homöothermes (= mit gleich bleibender Körpertemperatur trotz äußerer Temperaturschwankungen) Lebewesen ist der Mensch darauf angewiesen, seine Temperatur in engen Grenzen konstant zu halten. Vor diesem Hintergrund können sowohl durch Wärme- als auch durch Kälteeinwirkung Schäden verursacht werden. Dabei muss man differenzieren, ob die Temperaturänderung lediglich lokal wirksam ist oder den Gesamtorganismus betrifft. Hitzeschäden bzw. Verbrennungen werden gewöhnlich im Rahmen von Unfällen beobachtet, besonders betroffen sind Kinder und Jugendliche. Kälteschäden, also Erfrierungen und Unterkühlungen, sind demgegenüber vergleichsweise deutlich seltener. In unseren Breiten treten sie in den Wintermonaten bei bewusstseinsgetrübten Personen auf, die im Freien übernachten (z.B. alkoholabhängige Obdachlose; siehe Kap. 32.5.3).

51.1.3 Schäden durch Änderungen des atmosphärischen Drucks Zwar ist der menschliche Organismus an einen konstanten atmosphärischen Druck von 1 Atmosphäre (= 760 Torr) adaptiert, innerhalb bestimmter Grenzen kann er sich jedoch auch an einen höheren (z.B. beim Tauchen mit Druckkammern) oder niedrigeren Druck (z.B. Andenbewohner, Bergsteiger) gewöhnen. Schäden treten auf, wenn dem Organismus nicht genügend Zeit bleibt, sich an den geänderten Druck zu adaptieren. Dies geschieht vor allem im Rahmen von Unfällen, insbesondere im Zusammenhang mit Freizeitaktivitäten (Tauchen, Fliegen, Bergsteigen).

Pathogenese Bei plötzlichen starken Druckänderungen, z.B. bei einer Explosion, kommt es zu mechanischen Schäden, z.B. Gewebezerreißungen. Ein rascher Druckabfall, z.B. bei zu schnellem Auftauchen (= Caissonkrankheit) oder in einem Flugzeug in großen Höhen, führt zu einer Entsättigung des Körpers von Gasen, insbesondere Stickstoff, die bei dem vorher höheren Druck vermehrt gelöst waren. Hierdurch entstehen Gasblasen in den Geweben und Körperflüssigkeiten mit nachfolgender Luftembolie. Ein Druckabfall, z.B. beim Bergsteigen in großen Höhen (Höhenkrankheit), kann aufgrund der niedrigeren Sauerstoffspannung eine Hypoxidose zur Folge haben (siehe Kap. 2.6.2).

51.1.4

Schäden durch elektromagnetische Energie

Zu den Schäden durch elektromagnetische Energie sind im weiteren Sinne Folgezustände nach Einwirkung elektrischen Stroms und von elektromagnetischen Strahlen zu rechnen. Bei letzteren muss man unterscheiden, ob sie durch ionisierende Strahlen oder Strahlen niedrigerer Energie, z.B. Licht- oder UV-Strahlen (= UltraviolettStrahlen), induziert werden.

Schäden durch elektrischen Strom Künstlich erzeugter elektrischer Strom ist in den Industrienationen ein integraler Bestandteil des täglichen Lebens. Eine Schädigung des menschlichen Organismus ist gewöhnlich Folge eines Stromunfalls. Dabei kommt es entweder zum sofortigen Tod durch Zusammenbruch nervöser Regulationsmechanismen oder zu thermischen Schäden infolge der Hitzeentwicklung beim Stromfluss (siehe Kap. 2.6.2).

Strahlenschäden Elektromagnetische Strahlen bzw. Wellen sind sich mit Lichtgeschwindigkeit wellenförmig ausbreitende elektromagnetische Felder, die bei der beschleunigten Bewegung elektrischer Ladungsträger (bes. Elektronen) entstehen. Das Spektrum

reicht von den energiearmen langwelligen Radiowellen über die Infrarotstrahlung, das sichtbare Licht, die Ultraviolettstrahlung bis zu den Röntgen- und γ-Strahlen. Der menschliche Organismus ist nicht nur den Licht- und UV-Strahlen, sondern auch ionisierenden Strahlen, z.B. als kosmischer Strahlung, ständig ausgesetzt. Elektromagnetische Strahlen stellen daher einen universellen Umweltfaktor dar.

Schäden durch energiearme Strahlen Die energiearmen Strahlen umfassen den Frequenzbereich von 10 kHz bis 300 GHz. Technisch werden diese elektromagnetischen Wellen vorwiegend als Radiowellen und für die Funktechnik (z.B. Handys), die höherfrequenten Mikrowellen (300 MHz bis 300 GHz) auch zur Erwärmung (z.B. von Lebensmitteln, zur Gewebeerwärmung in der Medizin) verwendet. Grundlage der biologischen Wirkung ist die Absorption dieser Strahlung mit Polarisationen auf atomarer und molekularer Ebene. Dabei muss zwischen der thermischen Wirkung (bei der Mikrowellenbehandlung therapeutisch eingesetzt) und der nichtthermischen Wirkung, z.B. durch Ladungsverschiebungen an Zellmembranen, unterschieden werden. Insbesondere seit der weiten Verbreitung der Mobilfunktechnik werden denkbare gesundheitliche Folgeschäden intensiv diskutiert, z.B. Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Migräne, Tinnitus (= Ohrklingen), aber auch beschleunigtes Krebswachstum. Bislang haben sich trotz umfangreicher Untersuchungen keine ausreichenden Hinweise für gesundheitliche Auswirkungen der gegenwärtig in der Umwelt auftretenden elektromagnetischen Felder ergeben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Langzeitergebnisse bei der vergleichsweise neuen Technik zurzeit noch nicht vorliegen können und subtile Effekte nur schwierig nachzuweisen sind. Unstrittig ist hingegen die Funktionsbeeinflussung durch diese Form der Strahlen von empfindlichen medizinischen Diagnose- und Therapiegeräten, z.B. Herzschrittmachern, Insulinpumpen, elektrisch betriebenen Implantaten, Hörgeräten.

Schäden durch Licht und UV-Strahlen Im Spektrum der elektromagnetischen Wellen schließen sich auf der hochfrequenten Seite an die energiearmen Radiowellen und die Infrarotstrahlen (Wärmestrahlung) das sichtbare Licht (Frequenz: 3,8 × 1014 – 7,9 × 1014 Hz, Wellenlänge 780–390 nm) und die UV-Strahlen (Frequenz: 7,9 × 1014 – 3 × 1016 Hz, Wellenlänge 380–30 nm) an. Die UV-Strahlen werden weiter unterteilt in die dem sichtbaren Licht näher gelegenen UV-A-Strahlen (Bräunungsstrahlen – Wellenlänge 400–315 nm), die UVB-Strahlen (315–280 nm), die z.B. die Photosynthese des Vitamins D bewirken, und die UV-C-Strahlen (280 bis 100 nm). Die UV-Strahlen am übergang zu den Röntgenstrahlen (100–10 nm) werden nicht gesondert bezeichnet. Da elektromagnetische Strahlen umso energiereicher sind, je höher ihre Frequenz ist, kommt den Licht- und insbesondere den UV-Strahlen im Hinblick auf ihren krank

machenden Effekt besondere Bedeutung zu. Eine starke Exposition ergibt sich bei häufigem Aufenthalt im Freien (und in Sonnenstudios). Aufgrund der geringen Eindringtiefe der Licht- und UV-Strahlen finden sich direkte Schäden lediglich an den äußeren Körperschichten, insbesondere an der Haut. Von Bedeutung sind v.a. die Dermatitis solaris und die Lichtdermatosen, ferner die Induktion von Präkanzerosen (solare Keratose) und bösartigen Tumoren (siehe Kap. 42.7).

Schäden durch ionisierende Strahlen Definition und Ätiologie Unter ionisierenden Strahlen versteht man Strahlen, deren Energie groß genug ist (> 34 eV), um Elektronen aus der Hülle der Atome herauszulösen und diese damit zu ionisieren. Hierzu gehören neben elektromagnetischen Wellen (Röntgen-, γStrahlen) auch energiereiche geladene Partikel (z.B. α- und β-Strahlen). Neben der ubiquitären, wenn auch regional unterschiedlich intensiven natürlichen (z.B. der terrestrischen und kosmischen) Strahlung ist in den Industrieländern zusätzlich eine Exposition durch künstlich erzeugte Strahlung gegeben. Letztere kann massiv, meist kurzzeitig, auf den Menschen einwirken, gewöhnlich im Rahmen von Unfällen bzw. beim militärischen Einsatz der Kernenergie (Atombombe), oder es kann eine vergleichsweise schwächere chronische Exposition (z.B. aus Kraftwerken) gegeben sein.

Pathogenese

Strahlungsenergie erzeugt entweder direkt oder indirekt (durch Bildung freier, hochreaktiver Radikale) Läsionen, besonders der DNA. Diese haben entweder den sofortigen Zelltod, den reproduktiven Zelltod oder Mutationen zur Folge, wobei letztere Ursache maligner Tumoren (siehe Kap. 6.3) und Erbschäden sein können. Darüber hinaus können Spätschäden infolge einer Strahlenvaskulopathie auftreten. Diese entsteht durch die strahleninduzierte Permeabilitätssteigerung der Endothelien mit nachfolgender Insudation von Blutplasma in das subendotheliale Gewebe. Das Plasma stimuliert die Fibroblasten zur vermehrten Produktion von kollagenen Fasern und Proteoglykanen. Dies führt zu einer irreversiblen hochgradigen stenosierenden Intimafibrose mit nachfolgenden chronischen Durchblutungsstörungen.

Sozialmedizinische Bedeutung Bereits die natürliche Strahlung wird für etwa 0,25–5% der genetisch bedingten Krankheiten verantwortlich gemacht. Vor der Erzeugung jeder darüber hinausgehenden (künstlichen) Strahlung sollten daher, auch bei medizinischer

Anwendung, Nutzen und mögliche schädliche Folgen in Relation zueinander gesetzt werden. Leider wird diese Diskussion vielfach unsachlich und emotional geführt. So wird z.B. nicht eingerechnet, dass die Belastung durch natürliche Strahlung im Rahmen von Freizeitaktivitäten (z.B. beim Aufenthalt im Hochgebirge oder bei Transatlantikflügen) um ein Vielfaches höher sein kann als die künstliche Strahlenbelastung, z.B. durch radiologische Untersuchungen.

51.2 Umweltbedingte Schäden der Lunge und der Atemwege Die Atemwege des Erwachsenen werden täglich von 15000–20000 l Luft durchströmt. Der Gasaustausch findet auf einer Fläche von ca. 80 m2 statt, die über die Atmung unmittelbar mit der Umwelt in Berührung kommt, sie ist damit etwa so groß wie ein Tennisspielfeld. Dieses erklärt die zentrale Bedeutung des Respirationstrakts bei den umweltbedingten Schäden (siehe auch Kap. 23–25).

51.2.1

Obstruktive Atemwegserkrankungen

Häufigste Folge umweltbedingter inhalativer Schadstoffbelastungen sind obstruktive Atemwegserkrankungen. Sie sind meist allergisch bedingt, seltener auf die chemischirritativen bzw. toxischen Wirkungen der Schadstoffe zurückzuführen. Kinder sind aufgrund des geringeren Atemwegsquerschnitts, der relativ höheren Atemzeitvolumina und der gewöhnlich höheren Outdoor-Schadstoffexposition stärker gefährdet als Erwachsene.

Ätiologie Für die Entstehung obstruktiver Atemwegserkrankungen sind neben den wichtigsten Faktoren, dem Rauchen und der Allergenexposition (z.B. Pollen), auch die Folgen der Luftverschmutzung von Bedeutung. So ergeben sich aufgrund neuer Studien Hinweise auf einen Synergismus von Ozon (O3; bildet sich aus O2 unter Einfluss von Autoabgasen und UV-Strahlung) und Allergenexposition bei Atopikern, ferner Hinweise darauf, dass Stickoxide (NOx), z.B. aus Autoabgasen, das Auftreten von Allergien begünstigen. Eine Inhalation von Schwefeldioxid (SO2; Heizungs- und Industrieabgase) führt in hohen Konzentrationen direkt zu einer Atemwegsobstruktion. Folglich treten Allergien und bronchiale Hyperreagibilität vermehrt in belasteten Ballungsräumen, Industrieregionen und verkehrsreichen Wohngebieten auf.

Pathogenese

In Abhängigkeit von der allergenen Potenz des Schadstoffs sowie der Dauer, Häufigkeit und Konzentration des inhalativen Allergeneinstroms können disponierte Personen Antikörper bilden, z.B. Immunglobulin E. Nach erneutem inhalativem

Kontakt kommt es zu einer spezifischen Allergie, meist vom Typ der Sofortreaktion, seltener vom verzögerten Typ (siehe Kap. 4.3.1).

Klinisch-pathologische Korrelationen Typische klinische Befunde sind neben einer allergischen Konjunktivitis eine allergische Rhinopathie oder ein Asthma bronchiale, bei andauernder Schadstoffbelastung auch eine chronisch obstruktive Bronchitis mit oder ohne Emphysem. Für umweltbedingte Schäden spezifische klinische oder morphologische Befunde gibt es nicht.

51.2.2

Pneumokoniosen

Unter Pneumokoniosen versteht man Inhalationsschäden der Lungen, die durch anorganische oder organische Schwebestäube mit einem maximalen aerodynamischen Durchmesser von etwa 1–5 μm hervorgerufen werden. Staubpartikel mit einem Durchmesser > 5 μm werden aufgrund der auf sie einwirkenden Trägheitskräfte bereits in der Nase und im Tracheobronchialbaum in dem die Atemwege benetzenden Schleim abgeschieden. Der staubhaltige Schleim wird von den Zilien der Flimmerepithelien mundwärts geführt und dann verschluckt oder expektoriert. Staubpartikel mit einem Durchmesser < 1 μm werden wegen ihrer kleinen Masse in den Alveolen im Luftstrom bewegt und wieder ausgeatmet. Schwebestäube, die in den Alveolen deponiert und nicht von den Alveolarmakrophagen eliminiert werden, können zu akuten oder chronischen Schädigungen des Lungengewebes führen. Diese Lungenveränderungen sind, je nach Zusammensetzung der Stäube, gekennzeichnet durch ■

generalisierte bzw. knotig-granulomatöse Bindegewebeneubildungen



allergische Reaktionen bzw. entzündliche Prozesse und ihre Folgen

■ bei sog. inerten Stäuben durch reaktionslose bzw. nahezu reaktionslose Ablagerungen in den Lungen. Sind die Reinigungsmechanismen überlastet (sog. Overload-Phänomen), können aber auch inerte Stäube krankhafte Veränderungen zur Folge haben.

Pneumokoniosen infolge organischer Stäube Die Lungenveränderungen nach Inhalation organischer Stäube beruhen meist auf allergischen Reaktionen und führen zum Bild einer exogen-allergischen Alveolitis. Wesentlich seltener wird eine irritativ-toxische Wirkung beobachtet, z.B. durch Einatmen von Staub ungereinigter Rohbaumwolle oder nichtgehecheltem Flachs (Byssinose).

Exogen-allergische Alveolitis Definition und Ätiologie Exogen-allergische Alveolitiden sind Lungenentzündungen, die durch eingeatmete Antigene, meist von Schimmelpilzen, verursacht werden. Risikofaktoren im häuslichen Bereich sind hohe Raumfeuchte, verunreinigte Klimaanlagen, aber auch Haustiere. Eine Gefährdung aus dem beruflichen Umfeld stellt vornehmlich der Umgang mit verschimmelten Materialien wie Heu oder Getreide (Farmerlunge, Drescherlunge) dar.

Pathogenese Nach Antigenexposition kommt es bei entsprechender Disposition vorwiegend im Alveolarbereich zu einer Überempfindlichkeitsreaktion (siehe Kap. 4.3.1).

Morphologie

Histologisch handelt es sich bei der exogen-allergischen Alveolitis um eine lymphoplasmazelluläre interstitielle Pneumonie mit begleitender granulomatöser Bronchiolitis. Die typischerweise kleinen Granulome bestehen aus Epitheloidund Fremdkörperriesenzellen (Abb. 51-1). Bei chronischem Verlauf geht die Erkrankung in eine interstitielle Lungenfibrose über.

Abb. 51-1 Exogen-allergische Alveolitis.

Lymphoplasmazelluläre interstitielle Pneumonie (Pfeil) mit riesenzellhaltigem Granulom (G) in der Wand eines Bronchiolus. 47-jähriger Landwirt mit Exposition gegenüber schimmeligem Heu. Elastica-van Gieson, Vergr. 180fach.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Etwa 4–8 Stunden nach Exposition kommt es zu Schüttelfrost, Fieber, grippeähnlicher Symptomatik und Bronchialspasmus. Funktionell liegt eine restriktive Ventilationsstörung vor.

Abb. 51-2 Energiedispersive Röntgenmikroanalyse.

Analyse von Lungengewebe eines Schweißers mit hohem Anteil von Phosphor, Schwefel, Kalzium und Eisen (Amplituden und Einheiten von Messgerät abhängig).

Pneumokoniosen infolge anorganischer Stäube Die Folgeveränderungen nach Inhalation anorganischer Stäube beruhen meist auf einer Bindegewebeneubildung. Dabei können z.T. typische morphologische Befunde erhoben werden. So sind z.B. die Silikose durch hyalinschwielige Granulome und die Asbestose durch Asbestkörper charakterisiert. Zusätzlich können inkorporierte Stäube im Rasterelektronenmikroskop näher typisiert werden. Mit der energiedispersiven Röntgenmikroanalyse ist dort eine Elementanalyse möglich (Abb. 51-2). Grundsätzlich ist zu berücksichtigen, dass nicht selten Begleitfaktoren und nicht die im Vordergrund stehende Staubkomponente für die Fibrose verantwortlich sind.

Silikose Definition und Ätiologie Die Quarzstaublungenerkrankung (Silikose) ist eine progrediente Lungenfibrose infolge der Einwirkung lungengängigen quarzhaltigen Staubes. Eine Gefährdung ist insbesondere bei der Gewinnung, Be- und Verarbeitung von quarzhaltigen Materialien gegeben. Betroffene Berufsgruppen sind z.B. Steinmetze, Sandstrahler und Arbeiter in der keramischen Industrie. Wesentlich häufiger als reine

Quarzstaubexpositionen sind Mischstaubexpositionen, z.B. die gleichzeitige Kohlenstaubeinwirkung im Kohlebergbau. Folge ist eine Anthrakosilikose.

Pathogenese In den Alveolarbereich gelangter Quarzstaub wird von Makrophagen phagozytiert. Diese können den Staub nicht abbauen, gehen zugrunde und setzen eine chronische Entzündung in Gang. In Abhängigkeit vom Kieselsäuregehalt kommt es nachfolgend zu einer unterschiedlich starken Entzündung mit hyalinisierender Fibrose. Dieser Prozess wird durch verschiedene Mischstaubkomponenten modifiziert.

Abb. 51-3 Silikose bzw. Anthrakosilikose.

a Zwei korrespondierende Lungenschnittflächen mit einer schwergradigen Anthrakosilikose. Bis 5 cm große, zentral erweichte und über die Bronchien entleerte anthrakosilikotische Schwielen in den Mittelgeschossen (Pfeile).

b Thorax-Röntgenaufnahme im a.p. Strahlengang. Schwergradige Silikose mit flächenhaften, nahezu symmetrischen Verschattungen in den seitlichen Oberfeldern sowie kleineren Fleckschatten in den Ober- und Mittelgeschossen beider Lungen. Begleitende Hilusvergrößerung. c Mittelgroßknotige Anthrakosilikose mit einer 2,1 cm großen, subpleuralen Mischstaubschwiele, begleitendem Narbenemphysem und Pleuraeinziehung. Elastica-van Gieson, Vergr. 3,6fach.

Morphologie Histologisch finden sich konzentrisch aufgebaute Granulome. Sie bestehen aus einem hyalinisierten Zentrum und einem schmalen Saum eines zellreichen Faserbindegewebes, in dem sich reichlich sog. Staubzellen nachweisen lassen. Die Granulome können zu größeren Schwielen konfluieren (Abb. 51-3a und b). Makroskopisch finden sich die Granulome in Frühstadien symmetrisch in den Mittelgeschossen der Lunge. Bei lymphogener Elimination der Staubpartikel lassen sich gleichartige Veränderungen in den Hiluslymphknoten nachweisen. Mit fortschreitender Schwielenbildung kommt es zu narbigen Einengungen des Bronchialbaums und einem perifokalen Narbenemphysem (Abb. 51-3c; siehe Kap. 24.4.2). Pathologisch-anatomisch wird das Ausmaß quarzstaubinduzierter Lungenveränderungen durch Zuordnung in die Stadien 0 bis III beschrieben. Demgegenüber hat sich klinisch-radiologisch die vom International Labor Office vorgeschlagene Einteilung (sog. ILO-Klassifikation) durchgesetzt. Diese verzichtet auf eine allgemeine Angabe zum Schweregrad, stattdessen wird eine formelhafte Kurzbezeichnung silikotischer Herde bezüglich der Größenordnung, der Verbreitung in den verschiedenen Lungenfeldern und in der Anzahl der Herdbildungen angegeben. So bezeichnet man ■ kleine rundliche Herdbildungen in Abhängigkeit von der Größe mit p (< 1,5 mm), q (1,5–3 mm) bzw. r (3–10 mm) ■ in der Form unregelmäßige Herdbildungen mit s (< 1,5 mm), t (1,5–3 mm) bzw. u (3–10 mm) ■ größere Schwielen mit A (1–5 cm), B (5 cm bis ⅓ Lunge) bzw. C (> ⅓ Lunge). Die Streuung wird in 12 Stufen von 0/− über 1/2 bis 3/+ wiedergeben. Zusätzliche Befunde wie z.B. Pleurabefunde, ein Emphysem oder eine Tuberkulose werden gleichfalls mit Symbolen belegt.

Klinisch-pathologische Korrelationen Klinische Symptome sind abhängig vom Schweregrad der Silikose. In Frühstadien finden sich lediglich im Thorax-Röntgenbild weit verstreute kleine Verschattungen als Äquivalent zu den silikotischen Herden, in fortgeschrittenen Stadien kommt es dann zu Atembeschwerden, Husten, Auswurf sowie Zeichen einer zunehmenden Rechtsherzbelastung.

Komplikationen ■ Chronisch obstruktive Atemwegserkrankung (COLD). Eine fortgeschrittene, schwielige Silikose bzw. eine Hiluslymphknotensilikose führt zur Einengung der zentralen Bronchien. Die hierdurch bedingte Ventilationsstörung kann eine COLD verursachen bzw. fördern. ■ Chronisches Cor pulmonale. Perfusionsstörungen durch Einengungen der Lungenstrombahn, vor allem aber eine Vasokonstriktion bei alveolärer Hypoxie führen zu einer pulmonalen Hypertonie mit konsekutivem Cor pulmonale. ■ Silikotuberkulose. Silikose und Tuberkulose können sich gegenseitig ungünstig beeinflussen. Eine Silikotuberkulose liegt dann vor, wenn sich neben einer eindeutigen Silikose eine aktive Tuberkulose nachweisen lässt. ■ Silikotisches Narbenkarzinom. Eine silikotische Narbe führt durch Umlenkung des Luftstroms zu einer vermehrten Deposition von Kanzerogenen. Sie kann damit ein die Kanzerogenese begünstigender Faktor (Wirtsfaktor) und hierdurch Ausgangsort eines Bronchialkarzinoms sein. Daneben wird eine primär die Epithelzellen der mittleren und tiefen Atemwege betreffende kanzerogene Wirkung von kristallinem Quarz angenommen.

Asbestassoziierte Lungen- und Pleuraerkrankungen Asbest ist ein Sammelbegriff für faserförmige Silikate. Sie bestehen aus einem Siliziumoxidgitter, in das andere Elemente wie z.B. Eisen und Magnesium eingelagert sind. Dabei grenzt man Amphibolasbeste (z.B. Krokydolith = Blauasbest), die aus starren, im Gewebe stabilen Fasern bestehen, von Serpentinasbest (Chrysotil = Weißasbest) ab, der aus biegsamen Fasern besteht und dazu neigt, sich in die Elementarfibrillen aufzuspleißen. Aufgrund ihrer besonderen physikalischen und chemischen Eigenschaften haben insbesondere Blau- und Weißasbest bis in die 70er Jahre hinein breite Verwendung gefunden, z.B. im I/ierund Baugewerbe sowie im Fahrzeugbau. Seit der Einstufung von Asbest in die Gruppe der eindeutig als kanzerogen ausgewiesenen Arbeitsstoffe und den hierdurch bedingten Umgangsbeschränkungen ist eine Gefährdung vor allem durch Emission vorhandener asbesthaltiger Materialien gegeben, z.B. bei der Asbestentsorgung. In

einigen Gegenden kommen Asbest bzw. asbestartige Mineralien auch in der natürlichen Umgebung vor, z.B. in der Türkei, Zypern, Griechenland und Finnland. Als Asbestinhalationsfolgen finden sich in der Lunge die Asbestose und das asbestassoziierte Bronchialkarzinom, in der Pleura u.a. die „Asbestpleuritis“,Pleuraplaques und das maligne diffuse Mesotheliom. Die Latenzzeit zwischen dem Beginn der Asbestexposition und dem ersten Auftreten von Symptomen ist lang und beträgt z.B. für das Mesotheliom im Mittel 33 Jahre (siehe Kap. 6.2.2 und 25.4.2).

Asbestose Definition Die Asbestose ist eine progrediente Lungenfibrose infolge Asbeststaubinhalation. Für den Schwergrad der Erkrankung sind neben der Asbestart, der Dauer und Intensität der Exposition und der Latenzzeit auch individuelle Faktoren verantwortlich.

Morphologie Die Asbestose ist eine interstitielle Lungenfibrose. In den Fibrosierungsarealen lassen sich regelmäßig Asbestkörper nachweisen. Das sind vom Organismus mit einer eisenhaltigen Proteinhülle ummantelte Asbestfasern, gewöhnlich von Amphibolasbesten. Die früheste Veränderung ist die Minimalasbestose (Asbestose Grad I nach der angloamerikanischen Nomenklatur). Sie beinhaltet den lichtmikroskopischen Nachweis minimaler Fibrosierungsherde im Bereich der Bronchioli respiratorii und der begleitenden Gefäße mit Einstrahlung bis maximal in die direkt angrenzenden Alveolarsepten sowie in diesen Arealen eingelagerte Asbestkörper. Dabei reicht der zufällige (einmalige) Nachweis von Asbestkörpern (Abb. 51-4b) zur Diagnosestellung einer Minimalasbestose nicht aus. Ein staubanalytischer Grenzwert für die Minimalasbestose ist zurzeit nicht definiert. Das Spektrum der Asbestose reicht über verschiedene Schweregrade der Fibrose bis zum Vollbild einer sog. Wabenlunge (Asbestose Grad IV nach der angloamerikanischen Nomenklatur). Die Veränderungen sind in beiden Lungen gewöhnlich symmetrisch ausgebildet. Die subpleurale Region der mittleren und unteren Lungenabschnitte ist in der Regel am stärksten betroffen (Abb. 51-4).

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die klinischen Symptome sind vom Schweregrad der Asbestose abhängig. Die Minimalasbestose entzieht sich der klinischen Diagnostik. Auch das ThoraxRöntgenbild ist unauffällig. Die Diagnose ist ausschließlich histologisch zu stellen. In fortgeschrittenen Stadien entsprechen die klinischen Symptome

denen einer Lungenfibrose mit langsam progredientem Reizhusten, Kurzatmigkeit und (Belastungs-)Dyspnoe.

Differentialdiagnose Sowohl das klinische als auch das makroskopische Bild der Asbestose können durch eine Reihe verschiedener fibrosierender Lungenveränderungen imitiert werden. Alleinige Voraussetzung für die Diagnose einer Asbestose ist der histologische Nachweis von Asbestkörpern in Fibrosierungsarealen.

„Asbestpleuritis“ Definition Nach einer Latenzzeit von nicht selten weniger als 10 Jahren nach dem Beginn der Asbestexposition treten rezidivierende, andererseits sich aber spontan zurückbildende, meist einseitige Ergüsse auf, die zu einer progredienten Verschwartung der Pleura mit Obliteration des Spaltes führen können.

Abb. 51-4

Asbestose.

a Lungenschnittfläche mit einer fortgeschrittenen Asbestose bei einem 58jährigen Asbestweber. Schwergradige Lungenfibrose mit wabenartigem Umbau (Pfleile) in den Mittel- und Untergeschossen der Lunge. Begleitende diffuse Pleuraverdickung mit charakteristischen krähenfußartigen Pleuraeinziehungen. b Typischer Asbestkörper im Lungenstaub nach Lungenkaltveraschung mit Zentralfaser und umgebender Proteinhülle. Millipore-Filter, Vergr. 460fach c Thorax-Röntgenaufnahme im a.p. Strahlengang. Asbestose mit streifigen Verschattungen in den Mantelzonen beider Lungen basal.

d Comutertomographische Aufnahme. Irregulär verdickte bronchovaskuläre Strukturen (Pfeile) mit Ausweitung der terminalen Lufträume unter dem Bild der sog. Honigwabenlunge.

Morphologie

Es handelt sich um fibrinreiche Ergüsse, die praktisch keine Entzündungszellen enthalten. Eine spezifische Morphologie gibt es nicht. Entscheidend für die Diagnose ist der Ausschluss anderer Ergussursachen, insbesondere tuberkulöser, traumatisch-entzündlicher und tumoröser Pleuraveränderungen.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Die klinische Bild ist meist symptomarm und entspricht dem von Ergüssen anderer Ursache. Mit zunehmender Verschwartung findet sich eine progrediente restriktive Ventilationsstörung.

Pleuraplaques Definition Pleuraplaques sind umschriebene hyaline Pleuraverdickungen. In den westlichen Industrieländern lässt sich bei ca. 80% der Patienten eine frühere Asbestexposition nachweisen.

Morphologie

Plaques treten gewöhnlich multipel, bilateral und symmetrisch rippenparallel im Bereich der Pleura parietalis bzw. im Bereich des Centrum tendineum des Zwerchfells auf. Makroskopisch sind sie tafelbergartig erhaben. Ihre Oberfläche ist glatt und weiß, zentral können sie verkalken. Histologisch besteht die verbreiterte Pleura aus breiten, parallel angeordneten, gewellt verlaufenden, hyalinisierten Faserbündeln mit dazwischenliegenden spaltförmigen Hohlräumen (Abb. 51-5).

Abb. 51-5

Pleuraplaques.

a Makroskopischer Aspekt hyaliner Plaques der Pleura parietalis mit rippenparalleler Anordnung der inselartigen, grauweißen, knorpelähnlichen Pleuraverdickungen. b Zugehöriges histologisches Bild mit nahezu zellfreiem kollagenem Bindegewebe, breiten, gewellt verlaufenden Faserbündeln und dazwischenliegenden spaltförmigen Hohlräumen. Phasenkontrastmikroskopisches Bild. HE, Vergr. 360fach.

Klinisch-pathologische Korrelationen Ohne begleitende Lungenveränderungen sind Pleuraplaques symptomlos.

51.3

Schäden durch chemische Einwirkungen

Definition und ätiologie Chemische Stoffe können mit Zellen bzw. Zellbestandteilen reagieren und hierdurch eine Störung der Zellfunktion, ggf. auch einen Zelluntergang bewirken. Voraussetzungen hierfür sind der unmittelbare Kontakt zwischen Noxe und Zielgewebe, eine ausreichend lange Einwirkzeit und eine ausreichend hohe lokale Konzentration. Letztere ist im Gewebeverband nur dann gewährleistet, wenn der Stoff gelöst und resorbiert werden bzw. das Gewebe durchdringen und in die Zellen eintreten kann. Die Zahl der chemischen Schadstoffe und damit der Gefahrenquellen ist in der modernen Industriegesellschaft unüberschaubar groß geworden. So waren im Jahre 1978 ca. 4 Millionen chemische Verbindungen bekannt. Von diesen wurden damals etwa 40000–50000 auch tatsächlich genutzt. Seither sind pro Jahr etwa 300000 neue Verbindungen hinzugekommen, von denen etwa 500–1000 Anwendung finden, insgesamt derzeit also ca. 50000–80000. Dass dennoch die Zahl der durch chemische Einwirkungen verursachten Schädigungen im Vergleich zur gesamten Morbidität und Mortalität vergleichsweise gering ist, hat seinen Grund wahrscheinlich in der Zeit- und Konzentrationsabhängigkeit dieser Einwirkungen. So lassen sich Erkrankungen bzw. Todesfälle fast ausschließlich im Rahmen von Unfällen und bei Suizidversuchen beobachten.

Pathogenese

Den Schädigungen durch chemische Einwirkungen können unterschiedliche Prozesse zugrunde liegen. So verursachen Säuren eine Koagulationsnekrose mit Verschorfung des Gewebes. Laugen bewirken zwar gleichfalls eine Eiweißdenaturierung, jedoch eine Kolliquationsnekrose mit Verflüssigung und Auflösung des Gewebes. Ein Beispiel für eine schädigende Wirkung mittels Enzymblockade ist das Blei. Es bindet an Sulfhydrylgruppen von Enzymen der Hämsynthese, verhindert so den Einbau des Eisens in das Häm-Molekül, vor allem der mitochondrialen Cytochrome, und hemmt so die Zellatmung. Demgegenüber bindet α-Amanitin selektiv an die RNAPolymerase II in den Leberzellkernen, hemmt so die Transkription und damit die Protein- und Lipoproteinsynthese. DDT (= Dichlor-Diphenyl-Trichlorethan) führt hingegen über eine mikrosomale Enzyminduktion zu einem vermehrten Umbau von Vitamin D in gallefähige Metaboliten, die ausgeschieden werden, sodass es zu einem Vitamin-D- und damit zu einem Kalziummangel kommt. Andere chemische Substanzen entfalten ihre Wirkung durch Interaktion mit Hämoglobin, so z.B. Kohlenmonoxid (CO). Dieses bindet mit hoher Affinität an Hämoglobin. Das so gebildete Carboxyhämoglobin (COHb) fällt für den O2-Transport aus und behindert zudem die Freisetzung von O2 aus Oxyhämoglobin mit hierdurch bedingter Hypoxidose. Die Wirkung von Tetrachlorkohlenstoff (CCl4) beruht auf der Bildung von Radikalen, die über eine Peroxidation von Membranlipiden zu einer u.U. letalen Zellschädigung führen (siehe Kap. 2.6).

Morphologie Die morphologischen Befunde nach chemischen Einwirkungen sind abhängig von dem Schädigungsmechanismus der jeweiligen Substanz sowie deren Zielorgan. Anders als bei den Pneumokoniosen muss dieses mit der jeweiligen Eintrittspforte nicht identisch sein. So werden einzelne Noxen zwar über die Atemwege oder die Haut aufgenommen, aufgrund ihrer Lipotropie entfalten sie dann aber im Zentralnervensystem ihre Wirkung. Beispiele sind die u.a. in Lösungsmitteln, Schädlingsbekämpfungsmitteln und Kältemitteln vorhandenen Halogenkohlenwasserstoffe. Andere weitgehend inerte Noxen werden durch den Organismus erst in Giftstoffe umgebaut. So ist CCl4 selbst nicht toxisch. Erst durch Metabolisierung in der Leber wird das sehr kurzlebige Radikal CCl3Æ gebildet, das für die Schädigung verantwortlich ist. Auch bei der chemischen Kanzerogenese werden vielfach die in den Organismus aufgenommenen Prokanzerogene erst nach metabolischer Konversion in das Kanzerogen umgewandelt (siehe Kap. 6.6.3). Aufgrund der Vielzahl an Giftstoffen ist in den meisten Fällen ohne ergänzende anamnestische Angaben ein Rückschluss vom morphologischen Schädigungsmuster auf die verursachende Noxe äußerst problematisch (Tab. 51-1).

51.4

Umweltbedingte Tumorerkrankungen

Definition und Ätiologie Darunter versteht man bösartige Tumoren, an deren Entstehung physikalische und chemische Noxen aus der häuslichen oder beruflichen Umwelt einen zumindest maßgeblichen Anteil haben („Umweltverschmutzung“). Die Schätzungen über die Anzahl der durch Noxen in der privaten Umgebung induzierten bösartigen Tumoren variieren erheblich, u.a. in Abhängigkeit von der untersuchten Region. Ergebnisse epidemiologischer Studien deuten darauf hin, dass etwa 80–90% der bösartigen Tumoren auf Umwelteinflüsse zurückgehen. Wichtigster Einzelfaktor ist sicher das inhalative Tabakrauchen, weitere wichtige Noxen sind u.a. eine intensive UVBestrahlung, Nitrosamine, Mykotoxine und Radon. Der Anteil der menschlichen Krebsleiden, bei denen berufliche Einflüsse von Bedeutung sind, wird auf etwa 4% geschätzt.

Pathogenese

Der Angriffspunkt des Kanzerogens und die nachfolgenden Prozesse variieren in Abhängigkeit von der jeweiligen Noxe, teils auch in Abhängigkeit vom Zielorgan (siehe Kap. 6.3).

Morphologie

Während der histologische Tumortyp praktisch immer für die Noxe unspezifisch ist, ist der Manifestationsort vom Kanzerogen und vom Aufnahmemodus abhängig (Tab.

51-2). Wie bei den übrigen umweltbedingten Schäden sind auch bei den bösartigen Tumoren die Atmungsorgane der Hauptmanifestationsort.

Klinisch-pathologische Korrelationen Das klinische Bild umweltbedingter maligner Tumorerkrankungen ist abhängig vom zugrunde liegenden Tumor, hingegen unabhängig von der zugrunde liegenden Noxe.

Tab. 51-1 Fünf wichtige Umweltgifte: Expositionsmodus, Zielorgane, morphologisch/klinische Veränderungen und Pathogenese.

Tab. 51-2 Manifestationsort bösartiger Tumoren und ggf. Tumortyp in Abhängigkeit vom Kanzerogen und vom Aufnahmemodus.

51.5

Ernährungsbedingte Schäden

Definition Eine ernährungsbedingte Erkrankung liegt vor, wenn ■

die Erkrankung durch Ernährungsgewohnheiten mit verursacht wurde



durch Vermeiden von Fehlernährung der Erkrankung vorgebeugt werden kann



die Erkrankung durch Ernährungsmaßnahmen behandelt werden kann.

Dabei ist die Ernährungsabhängigkeit einzelner Krankheiten unterschiedlich zu bewerten. Vitaminmangelkrankheiten werden in der Regel allein durch Fehlernährung verursacht. Hingegen sind an Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems auch genetische Faktoren, Bewegungsmangel, Rauchgewohnheiten u.a. beteiligt. Zu den ernährungsabhängigen Erkrankungen zählen z.B. Diabetes mellitus, Gicht, Fettstoffwechselstörungen, Struma, Anämien, Karies, Osteoporose, Lebensmittelinfektionen, Hypertonie, Atherosklerose, ischämische Herzerkrankung, Schlaganfall, bösartige Neubildungen der Speiseröhre, der Leber, des Dickdarms, des Magens und anderer Organe.

Übergewicht und Untergewicht stellen ein besonderes ernährungsbedingtes Risikomerkmal dar.

51.5.1

Überernährung und Fettsucht

Definition und Ätiologie Unter einer Fettsucht (Adipositas) versteht man eine im Vergleich zur Norm vermehrte Ablagerung von Depotfett. Sie kommt in einer Erhöhung des Körpergewichts („Übergewicht“) und einer Zunahme des Körperumfangs zum Ausdruck. Da es schwierig ist, den Fettanteil des Körpers zu ermitteln, hat sich der Body-Mass-Index (BMI) zur Abschätzung des Körperfettanteils weltweit durchgesetzt. Der BMI errechnet sich als Quotient aus dem Körpergewicht in kg und dem Quadrat der Körpergröße in Metern (Einheit kg/m2, siehe auch Kap. 46.4). Bei Erwachsenen liegt das Normalgewicht bei einem BMI zwischen 18,5 und 24,9 kg/m2. Übergewicht (Adipositas Grad I) besteht bei einem BMI von 25–30 kg/m2, eine starke Adipositas (Grad II) bei einem BMI zwischen 30 und 40 kg/m2. Von einer morbiden Adipositas (Grad III) spricht man bei einem BMI von mehr als 40. Auf dieser Basis waren Anfang der neunziger Jahre 19,5% der Frauen und 17,3% der Männer in den alten Bundesländern sowie 25,5% der Frauen und 20,6% der Männer in den neuen Bundesländern übergewichtig. Im Einzelfall kann es jedoch schwierig sein, den Grad der Fettsucht festzulegen und von einer Erhöhung des Körpergewichts aus anderer Ursache, z.B. bei Athleten, abzugrenzen.

Pathogenese

Eine Fettsucht ist Folge einer gestörten Energiebilanz, wobei die Energiezufuhr durch die Nahrungsaufnahme größer ist als der Energieverbrauch. Als Richtwert für Erwachsene mit vorwiegend sitzender Tätigkeit gilt im Alter von 19–24 Jahren (25– 50 Jahre/51–65 Jahre) eine Energiezufuhr von 10 MJ (9,5 MJ/8,5 MJ) pro Tag für Frauen und 12,5 MJ (12 MJ/10,5 MJ) pro Tag für Männer (1 Megajoule = 238,9 Kilokalorien). Tatsächlich betrug die Gesamtenergiezufuhr in Deutschland bei einem Viertel der Frauen mehr als 10,1 MJ pro Tag und bei mehr als einem Viertel der Männer mehr als 13,2 MJ pro Tag. Entscheidend ist dabei nicht nur die Energiezufuhr insgesamt, sondern auch die Nahrungszusammensetzung. Kritisch ist diesbezüglich der Fettgehalt der Nahrung, insbesondere an gesättigten Fettsäuren. Als Richtwert für die Fettzufuhr von Personen mit mittelschwerer Arbeit werden 30% der Gesamtenergiezufuhr empfohlen, davon nicht mehr als ein Drittel gesättigte Fettsäuren. Tatsächlich hatte die Fettzufuhr im Durchschnitt einen Anteil von etwa 40–45%, davon mehr als 40% als gesättigte Fettsäuren.

Untersuchungen an Zwillingen, die bei der Geburt getrennt wurden, sprechen dafür, dass neben der übermäßigen Energiezufuhr bzw. dem Bewegungsmangel auch genetische Faktoren für die Entwicklung einer Adipositas von Bedeutung sind. Infolge der positiven Energiebilanz kommt es zu einer vermehrten Bildung von Depotfett. Damit verbunden nehmen die Insulinrezeptoren auf den Fettzellen ab und die Glukoseverwertung ist gestört. Letzteres führt zu Störungen des zentralnervösen Sättigungszentrums mit vermehrtem Hungergefühl. Auch sinkt der Energieverbrauch durch eine Abnahme der Bewegungsfreude bei erhöhtem Körpergewicht einerseits und die herabgesetzte Wärmeproduktion bei verbesserter Wärmei/ierung durch die Fettdepots andererseits.

Morphologie

Das vermehrte Depotfett erscheint gewöhnlich geschlechtsspezifisch verteilt, d.h. beim Mann im Bereich der vorderen Bauchwand, des Rückens und des Nackens (= Falstaff-Typ), bei der Frau an den Hüften, den Oberarmen, den Oberschenkeln und dem Gesäß (= Rubens-Typ). Histologisch findet sich eine Hypertrophie der Fettzellen, ihre Zahl bleibt bei Erwachsenen hingegen weitgehend konstant.

Komplikationen Die Komplikationen erklären sich aus der mit der Fettsucht verbundenen Störung des Fett-, Kohlenhydrat- und Purinstoffwechsels bei gleichzeitigem Hyperinsulinismus. ■ Diabetes mellitus. Der Typ-II-Diabetes (sog. Erwachsenendiabetes) ist streng mit dem übergewicht assoziiert (siehe Kap. 46.3.2). ■ Hypertonie. Personen mit einem Übergewicht von 20% über dem Idealgewicht haben 3–8-mal häufiger eine Hypertonie als Normgewichtige (siehe Kap. 7.9). ■ Hyperlipidämie. Bei Übergewicht findet sich eine Korrelation vornehmlich zur Hypertriglyzeridämie, gering auch zur Hypercholesterinämie. ■ Atherosklerose. Die Adipositas gehört zu den Risikofaktoren 2. Ordnung für eine Atherosklerose (siehe Kap. 20.2.1). Die Atherosklerose ist in Zusammenhang mit dem bei übergewicht gehäuft auftretenden Diabetes mellitus bzw. der Hypertonie zu sehen. ■ (Koronare) Herzerkrankung/zerebrovaskuläre Erkrankungen. Als typische Komplikationen der Hypertonie bzw. der Atherosklerose finden sich diese Krankheiten gehäuft bei der Adipositas.

■ Alveoläre Hypoventilation. Sie ist Folge der vermehrt zu leistenden Atemarbeit und der gesenkten funktionellen Reservekapazität bei Zwerchfellhochstand mit nachfolgender Schlafneigung (Pickwick-Syndrom). ■ Thrombose/Lungenembolie. Die Störung der Skelettmuskelpumpe durch interponiertes Fett führt zur chronischen Insuffizienz vor allem der Beinvenen mit Varizenbildung, Phlebothrombosen und nachfolgenden Lungenembolien. ■ Arthrose. Das erhöhte Körpergewicht bedingt eine vermehrte statische Belastung des Halteapparats und speziell der Gelenke mit nachfolgend erhöhtem Verschleiß. ■

Gallensteine. Cholesterinsteine finden sich gehäuft bei übergewicht.



Hyperurikämie. Sie ist Folge der Störung auch des Purinstoffwechsels.

■ Erhöhtes Operationsrisiko. Dieses erklärt sich aus den anderen Komplikationen.

51.5.2

Unterernährung und Kachexie

Definition und Ätiologie Man geht von einer Unterernährung aus, wenn der BMI eines erwachsenen Mannes unter 20 kg/m2 und einer Frau unter 19 kg/m2 beträgt. In den westlichen Industrieländern tritt eine Unterernährung, insbesondere aber eine Kachexie (= Auszehrung) häufig als Krankheitskomplikation auf, z.B. bei Tumorleiden und Malassimilationssyndromen (siehe Kap. 29.6). Nicht zu unterschätzen sind aber auch Essstörungen wie Anorexia nervosa (= Magersucht) und Bulimia nervosa (regelmäßige Essanfälle mit gesteigertem Gewichtsbewusstsein), die auch mit Untergewicht verbunden sein können. Besonders anfällig sind 10–25-jährige Mädchen bzw. Frauen. Schätzungen zufolge leidet jede dritte Schülerin an Frühformen einer Essstörung, ca. 2,4% der Bevölkerung sind manifest von Bulimia nervosa betroffen. Darüber hinaus findet sich eine Unterernährung in den hochentwickelten Industrieländern bei bestimmten sozialen Gruppen, dort gewöhnlich mit gleichzeitiger Fehlernährung, z.B. bei Obdachlosen, Drogenabhängigen oder verwahrlosten älteren Menschen. Demgegenüber ist eine Unterernährung in den sog. Entwicklungsländern weit verbreitet.

Pathogenese

Bei negativer Energiebilanz kommt es zunächst zu einem Verbrauch des leicht verbrennbaren Glykogens, sodann werden die Fettdepots abgebaut mit Abnahme des

Körpergewichts. Erst in der Spätphase kommt es zu einem Proteinabbau, dabei bevorzugt der Organe mit regem Stoffwechsel.

Folgen Insbesondere bei sozialen Randgruppen, z.B. Obdachlosen, Alkoholikern, werden die Folgen der Unterernährung durch die gleichzeitige Fehlernährung überlagert (Vitaminmangel, einseitige Kohlenhydraternährung, Eisenmangel). Es resultieren komplexe Krankheitsbilder in Abhängigkeit von Ausmaß und Dauer des Energie-, Protein-, Eisen- und Vitaminmangels, ferner des Lebensalters. Typische Befunde sind: ■ Periphere Ödeme. Diese erklären sich vornehmlich aus der Hypalbuminämie bei Proteinmangel. ■ Fettleber. Infolge der gestörten Synthese von Lipoproteinen können Fette nicht aus der Leber abtransportiert werden. ■ Anämie. Infolge des Protein-, Eisen- und Vitaminmangels kommt es zu einer Hypoplasie des Knochenmarks. ■ Infektanfälligkeit. Sie erklärt sich gleichfalls über die Hypoplasie des Knochenmarks, insbesondere die Leukopenie. ■ Muskelatrophie. In fortgeschrittenen Phasen kommt es nach Abbau der Fettdepots auch zu einem Proteinabbau. ■ Schleimhautatrophie. Insbesondere bei bevorzugtem Eiweißmangel kommt es zu einer Atrophie der Dünndarmschleimhaut mit nachfolgender Reduktion der Resorptionskapazität. ■

Wachstumsverzögerung. Sie tritt bei Kindern in der Wachstumsphase auf.

■ Hirnatrophie. Wird vornehmlich bei Kindern in den ersten beiden Lebensjahren beobachtet. Die Rückbildungsfähigkeit unter adäquater Ernährung ist umstritten.

51.6

Schäden durch Tabakrauchen

Das inhalative Tabakrauchen, gewöhnlich mittels Zigaretten, ist die Lebensgewohnheit mit den stärksten negativen Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung und die Gesamtsterblichkeit. Pro Jahr sterben in Deutschland etwa 110000 Menschen an den Folgen des Tabakkonsums. Zwar ist der Pro-Kopf-Verbrauch an Zigaretten in Deutschland seit Anfang der 90er Jahre zurückgegangen, dennoch rauchen zurzeit immer noch etwa 22% der Frauen und 36% der Männer über 15 Jahre. Im internationalen Vergleich liegt die Quote der in Deutschland rauchenden Männer und Frauen dennoch

unter dem Durchschnitt. Die krank machende Wirkung des passiven Rauchens ist ebenfalls belegt.

Pathogenese Tabakrauch, ein Gemisch aus Gasen und Aero/en, enthält ca. 7000 unterschiedliche chemische Substanzen. Dabei variiert die Zusammensetzung des inhalierten Hauptstroms unter anderem mit der Tabaksorte, der Zigarettenlänge, dem Vorhandensein und der Effektivität eines Filters. Zu den Inhaltsstoffen gehören ■ hochpotente Kanzerogene, z.B. polyzyklische Kohlenwasserstoffe, aromatische Amine, Nitrosamine und kanzerogene Metallverbindungen ■ toxisch-irritative Substanzen, z.B. Formaldehyd, Stickoxide (NOx) und Ammoniak ■

Kohlenmonoxid (= CO), das infolge der Bildung von COHb zur Hypoxie führt

■ Nikotin, ein auf vegetative Ganglien wirkendes Alkaloid, u.a. mit Einfluss auf das Herz-Kreislauf-System.

Tab. 51-3 Durch Tabakrauch induzierte Krebsleiden (IARC Monograph Vol. 83).

Klinisch-pathologische Korrelationen Entsprechend der heterogenen Zusammensetzung des Tabakrauches lassen sich eine Reihe unterschiedlicher Erkrankungen auf den inhalativen Tabakkonsum zurückführen: ■ Atherosklerose. Nikotin ist ein atherogener Faktor, z.B. mit Auswirkungen auf den Lipoproteinspiegel, die Thrombozyten- und Makrophagenfunktion, die Hämodynamik und die Integrität des Endothels (siehe Kap. 20.2.1).

■ Myokardinfarkt, periphere arterielle Verschlusskrankheit, zerebrovaskuläre Erkrankungen. Wegen der entscheidenden pathogenetischen Bedeutung der Atherosklerose für diese Erkrankungen treten sie gehäuft bei Rauchern auf (siehe Kap. 8.2, 19.5 und 20.2). ■ Lungen- und Kehlkopfkrebs. Mehr als 90% der bösartigen Tumoren der Atemwege und der Lungen sind Folge des Rauchens (siehe Kap. 23.2.4 und 24.7.2). ■ Mundhöhlen- und Speiseröhrenkrebs. Das Rauchen, häufig in Kombination mit dem Alkoholkonsum, ist auch für diese Krebsarten der wichtigste ätiologische Faktor in Europa (siehe Kap. 26.1,7 und 27.8.4). ■ Bösartige Tumoren anderer Lokalisation. Für Raucher ist bei weiteren Krebsarten ein erhöhtes relatives Erkrankungs- und Sterberisiko belegt, z.B. für Nieren-, Harnblasen-, Pankreas-, Leber-, Magenkrebs und Leukämien (Tab. 51-3). ■ Chronisch-obstruktive Atemwegserkrankung. Die toxischen Substanzen des inhalierten Tabakrauches sind der wichtigste ätiologische Faktor für die Entstehung chronisch-obstruktiver Atemwegserkrankungen (siehe Kap. 24.3.3). Auch passives Rauchen führt, insbesondere bei Kindern bis 5 Jahren, zum vermehrten Auftreten von Atemwegserkrankungen. ■ Magen- und Duodenalulzera. Rauchen führt über eine Belegzellstimulation mit nachfolgender übersäuerung des Magensaftes zu einer Zunahme der aggressiven Faktoren und begünstigt damit die Entstehung von Ulzera (siehe Kap. 28.7.2 undd Kap. 28.14). ■ Schwangerschaftskomplikationen. Bei Raucherinnen sind das durchschnittliche Geburtsgewicht ihrer Kinder erniedrigt und die Zahl der Spontanaborte, Frühgeburten, Totgeburten, die perinatale Sterblichkeit sowie die Häufigkeit von Schwangerschaftskomplikationen erhöht (z.B. vorzeitige Plazentalösung, Placenta praevia, vorzeitiger Blasensprung). Die körperliche und intellektuelle Entwicklung der ungeborenen Kinder wird durch das Rauchen der Mütter beeinträchtigt. Schließlich ist die Häufigkeit von kindlichen Fehlbildungen sowohl bei rauchenden Müttern als auch bei rauchenden Vätern erhöht. ■ Allgemeine Stoffwechselwirkungen. Raucher haben einen höheren Grundumsatz. Nikotinkonsum hat durch kontinuierliche Stimulation des sympathoadrenalen Systems eine glykogenolytische und lipolytische Wirkung. ■ Thrombosen. Raucherinnen, die orale Antikonzeptiva einnehmen, haben ein erhöhtes Thromboserisiko.

51.7

Schäden durch Alkohol

Nach dem inhalativen Tabakrauchen stellt der Konsum von Alkohol (Äthanol) das wichtigste Suchtproblem dar. Gesteigerter und chronischer Alkoholkonsum kann zu einer Vielzahl von Gesundheitsstörungen und Krankheiten führen. Darüber hinaus ist er vielfach mit der Störung und Auflösung sozialer Bindungen verknüpft. Als Maß für den Alkoholkonsum hat sich der Pro-Kopf-Verbrauch reinen Alkohols etabliert. Deutschland nimmt mit ca. 12 l reinen Alkohols (als Bier, Spirituosen, Wein oder Sekt) pro Jahr einen der vorderen Plätze in Europa ein. Eine besondere Gefahr für die Gesundheit stellt ein dauerhafter Tagesverbrauch von mehr als 40 g reinen Alkohols für Männer (z.B. 0,4 l Wein) bzw. mehr als 20 g für Frauen (z.B. 0,2 l Wein) dar. Diese schädliche Menge verbrauchten im Jahr 1995 ca. 16,2% der Männer und rund 10% der Frauen in Deutschland, umgerechnet entspricht dies insgesamt ca. 10,6 Mio. Betroffenen beiderlei Geschlechts. Neben den Schäden bei den Alkoholkonsumenten selbst kann es infolge der Störung kognitiver und motorischer Funktionen unter Alkoholeinfluss und einer damit verbundenen Steigerung der Gewaltbereitschaft zu traumatischen Schäden bei anderen kommen. So standen im Jahr 1993 in Deutschland 30,1% der Tatverdächtigen für gefährliche und schwere Körperverletzung unter Alkoholeinfluss, bei den Totschlagsdelikten (42,4%) und den Sexualmorden (52,9%) ist der Anteil sogar noch höher. Zudem stirbt jeder 6. Getötete im Straßenverkehr durch einen Unfall unter Alkoholeinfluss.

Pathogenese Beim Konsum von Alkohol wird dieser rasch und nahezu vollständig über die Magenund Dünndarmschleimhaut aufgenommen. Über das Blut verteilt er sich im gesamten Körperwasser einschließlich dem des Zentralnervensystems. Abhängig von der aufgenommenen Menge ist in 1–2 Stunden das Maximum der Blutkonzentration erreicht. Aufgrund seiner einfachen chemischen Struktur kann Alkohol praktisch jede Körperzelle erreichen und durch Diffusion über die Zellmembran in das Zellinnere gelangen. Neben unbedeutenden Anteilen, die über die Lungen und die Nieren ausgeschieden werden, wird der Alkohol über drei verschiedene Enzymsysteme ganz überwiegend (ca. 90%) in der Leber oxidativ metabolisiert (Alkoholdehydrogenase, mikrosomales ethanoloxidierendes System, Katalase). Als erster Metabolit in der Abbaukaskade entsteht Acetaldehyd, ein extrem reaktives Molekül, das rasch kovalente Bindungen an zahlreichen Molekülen einschließlich der DNA eingeht. Beim chronischen Alkoholabusus kommt es zu einer Enzyminduktion mit nachfolgend vermehrter Bildung von Radikalen, die ihrerseits schädigend wirken können. Schließlich geht ein chronischer Alkoholkonsum gewöhnlich mit einer chronischen Unter- und Fehlernährung einher – Mangelzustände an Eiweißen, Vitaminen und Spurenelementen

sind die Folge. Ursachen sind die Ernährungsumstellung, ferner alkoholinduzierte Veränderungen des Dünndarms mit nachfolgender Malabsorption.

Klinisch-pathologische Korrelationen Als Folgen des Alkoholkonsums müssen akute und chronische Schäden unterschieden werden. Akute Alkoholintoxikation. Abhängig vom Alkoholspiegel kommt es zu einer exogenen Psychose mit Enthemmung, Störungen der kognitiven und motorischen Funktionen und schließlich zur Narkose bzw. tödlichen Atemlähmung (siehe Kap. 8.7.2). Chronischer Alkoholabusus. Langzeitwirkungen des erhöhten Alkoholkonsums können sein: ■ Alkoholische Fettleber, -hepatitis, -zirrhose. In Deutschland ist ein erhöhter Alkoholkonsum für etwa 50% der chronischen Lebererkrankungen verantwortlich. Für ihre Manifestation sind jedoch noch weitere Faktoren bedeutsam (z.B. genetische Disposition, Trinkgewohnheiten, Koinfektionen), denn auch bei vergleichbarer Alkoholaufnahme lässt sich nur in einem Teil der Fälle eine Leberschädigung nachweisen (siehe Kap. 32.5.3). ■ Zentralnervensystem. Chronischer Alkoholabusus hat multiple direkte und indirekte Effekte auf das ZNS, die i/iert oder in Kombination auftreten können. Dazu gehören u.a. die Wernicke-Enzephalopathie, die Großhirn- und Kleinhirnwindungsatrophie sowie die zentrale pontine Myelinolyse (siehe Kap. 8.7.2) ■ Alkoholische Kardiomyopathie. Als Ursache wird die direkte toxische Wirkung von Alkohol bzw. Acetaldehyd bei disponierten Personen angenommen. In Endstadien findet sich eine dilatative Kardiomyopathie („Münchner Bierherz, Tübinger Weinherz“ siehe Kap. 19.6.2). ■ Chronische Pankreatitis. In Industrienationen findet sich bei mehr als 70% der Patienten mit chronischer Pankreatitis ein chronischer Alkoholabusus (siehe Kap. 34.5.2). ■ Alkoholische Embryopathie. Durch den teratogenen Effekt von Alkohol kommt es bei chronischem Abusus während der Schwangerschaft zu einem komplexen Fehlbildungssyndrom, u.a. mit Mikrozephalie. Pro Jahr kommen in Deutschland etwa 2200 Kinder mit einer alkoholischen Embryopathie zur Welt (siehe Kap. 8.7.2). ■ Alkoholische Polyneuropathie. Neben der toxischen Wirkung des Alkohols kommt auch dem Vitaminmangel ätiologische Bedeutung zu (siehe Kap. 10.2.6).

■ Krebsleiden. Bei chronischem Alkoholkonsum besteht ein erhöhtes Krebsrisiko im Bereich vieler Organe, z.B. Mundhöhle, Rachen, Kehlkopf, Speiseröhre, Dickdarm und Rektum, Leber und Mamma. Der gleichzeitige Konsum von Alkohol und Tabak hat hier nicht nur eine additive, sondern eine potenzierende Wirkung. ■ Alkoholische Myopathie. Als Mechanismus der regressiven Veränderungen der Skelettmuskulatur wird eine direkte toxische Wirkung angenommen. ■ Hypertonie. Während Alkohol in niedriger Dosierung den Blutdruck senkt, fördert ein chronischer Alkoholabusus den Bluthochdruck.

51.8

Schäden durch illegale Drogen

Unter Rauschgiften („illegalen Drogen“) versteht man in der Rechtsprechung eine Gruppe von Substanzen unterschiedlicher Herkunft, Zusammensetzung und Wirkung, deren Herstellung und Handel unter Strafe gestellt ist. Überwiegend handelt es sich um Rauschmittel (Betäubungsmittel), also Stoffe, die eine direkte Wirkung auf das zentrale Nervensystem besitzen. Die Verwendung der Rauschgifte kann zur Abhängigkeit führen. Drogenabhängigkeit ist definiert ■ als ein zwanghaftes Verlangen nach Einnahme der Substanzen, um einen angenehmen psychischen Zustand zu erreichen bzw. einen unangenehmen zu vermeiden (psychische Abhängigkeit) ■ als das körperliche Angewiesensein auf eine fortlaufende Zufuhr der Giftstoffe, wobei die Dosis nicht selten permanent erhöht wird (physische Abhängigkeit).

Pathogenese Entsprechend der großen Heterogenität der Rauschgifte finden sich in Abhängigkeit von den unterschiedlichen Wirkungen verschiedene Reaktions- und Schädigungsmuster. Die Rauschmittel werden in folgende Gruppen eingeteilt: Morphintyp, Barbiturat- und Alkoholtyp, Kokaintyp, Cannabistyp, Kathtyp, Halluzinogentyp und Opiatantagonisttyp.

51.8.1 Schäden durch Rauschmittel: allgemeine Auswirkungen Unter- und Fehlernährung Die psychische und ggf. auch physische Abhängigkeit von der regelmäßigen Zufuhr steigender Rauschmitteldosen hat zur Folge, dass die Nahrungszufuhr eine untergeordnete Bedeutung erlangt. Hinzu kommt, dass viele Rauschmittel eine Störung intellektueller Funktionen und einen Verlust an Realitätsorientierung zur Folge haben, einige dämpfen zudem das Hungergefühl.

Infektionen Bereits die Unter- bzw. Fehlernährung begünstigen Infektionen. Einige Rauschgifte, z.B. Cannabisprodukte (Haschisch, Marihuana), führen zudem zu einer Immunabwehrschwäche. Eine wichtige Infektionsquelle stellt die Prostitution dar, die vielfach zum Zweck der Drogenbeschaffung ausgeübt wird. Bei Rauschgiften, die intravenös oder subkutan appliziert werden (z.B. Heroin), infizieren sich die Konsumenten vielfach über kontaminierte Kanülen.

Klinisch-pathologische Korrelationen

Folgende Organe sind bevorzugt von den Infektionen betroffen: ■ Haut und Unterhaut. Im Bereich von Einstichstellen finden sich Abszesse mit nachfolgenden Ulzerationen und Vernarbungen. ■ Venen. Wiederholte Injektionen führen zu Phlebothrombosen und Thrombophlebitiden. ■ Herzklappen. Infektiöse Endokarditiden, speziell auch der Klappen des rechten Herzens, werden durch kontaminierte Kanülen ausgelöst. Als Erreger findet sich häufig Staphylococcus epidermidis, daneben werden aber u.a. auch Pilzinfektionen beobachtet. ■ Leber. Bei Drogensüchtigen findet sich eine hohe Durchseuchung mit Hepatitisviren. Sie sind zudem eine Risikogruppe für die Entwicklung einer chronischen Hepatitis-B- und -C-Infektion. Als Infektionsquelle kommen neben Kanülen auch die Sexualkontakte im Rahmen der Prostitution in Betracht. ■ Immunsystem. Rauschgiftsüchtige stellen eine Risikogruppe für die HIVInfektion dar. ■ Lunge. Neben Lungenabszessen infolge septischer Embolien, die von Thrombophlebitiden und infektiösen Endokarditiden ausgehen, findet sich ein breites Spektrum unterschiedlicher, auch opportunistischer Infektionen. Besonders die Tuberkulose ist bei Rauschgiftsüchtigen gehäuft.

Pulmonale Fremdkörpervaskulitis Sie entsteht durch die intravenöse Injektion von Substanzen, die nicht für die parenterale Applikation bestimmt sind. Von Drogensüchtigen werden nicht selten Medikamente in Wasser aufgelöst und injiziert. Zudem werden speziell Opiate häufig von Händlern „gestreckt“. So gelangen unlösliche Stoffe, Füll- und Bindemittel wie Talk und Stärke in den Kreislauf und werden in die peripheren Lungengefäße embolisiert, wo sie zu multiplen Fremdkörpergranulomen führen.

51.8.2

Spezielle Rauschmittel

Cannabisprodukte (Haschisch, Marihuana) Für die psychotrope Wirkung der Cannabisprodukte ist vor allem das Delta-9Tetrahydrocannabinol verantwortlich. Die Aufnahme erfolgt vorwiegend durch Rauchen. Als wichtige, morphologisch fassbare Schäden finden sich: ■ Akute/chronische Bronchitis. Die schädigende Wirkung auf die Atemwege ist um ein Vielfaches stärker als die von Zigaretten. ■ Fertilitätsstörungen. Es kommt zu einer herabgesetzten Spermienmotilität und einer Senkung des Testosteronspiegels. ■ Fetopathien. Diese werden beim Abusus von Cannabisprodukten durch die Mutter während der Schwangerschaft beobachtet. ■

Verminderte Infektabwehr (siehe oben).

Kokain/Crack Das ursprünglich als Lokalanästhetikum entwickelte Kokain besitzt neben seiner zentralnervösen auch vasokonstriktive Eigenschaften, bedingt durch eine Verstärkung der adrenergen Reaktion. Zudem ist es thrombosefördend. Diese Eigenschaften erklären die schädigenden Wirkungen, u.a.: ■

Hypertonie



Myokardinfarkt mit und ohne Koronararteriensklerose



dilatative Kardiomyopathie



Ruptur des aufsteigenden Astes der Aorta



Ulzerationen, evtl. auch Perforationen der Nasenscheidewand

■ retardierte Fetalentwicklung und vorzeitige Plazentalösung bei Konsum während der Schwangerschaft.

Heroin Die Aufnahme dieses Rauschgiftes erfolgt praktisch ausschließlich durch Injektionen. Entsprechend sind Infektionen besonders häufig (siehe oben). Weitere wichtige Komplikationen sind:

■ massives, gewöhnlich tödliches Lungenödem als Folge einer Überempfindlichkeitsreaktion auf Begleitstoffe ■ Arrhythmien und ein plötzlicher Herzstillstand ohne morphologisch fassbares Korrelat ■

Atemdepression (u.U. tödlich)



diffuse membranöse Glomerulonephritis



systemische Amyloidose aufgrund der chronischen Infekte



periphere Neuropathie.

Ecstasy Unter dem Begriff „Ecstasy“ (engl.: XTC) fasst man eine Gruppe vollsynthetisch hergestellter Drogen zusammen. Es handelt es sich dabei um Amphetaminderivate. Wichtigste Vertreter sind das MDMA (3,4 Methylendioxy-N-methamphetamin) und das MDE (3,4 Methylendioxy-N-ethylamphetamin). Neben den Grundsubstanzen und den harmlosen Trägermaterialien bzw. Tablettierhilfsstoffen können in verschiedenen Ecstasy-Tabletten sehr unterschiedliche Wirkstoffe enthalten sein, die z.T. erhebliche Nebenwirkungen haben (z.B. Chloramphenicol, Lidocain, Paracetamol, aber auch LSD). Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, dass es den reinen EcstasyKonsumenten praktisch nicht gibt. über 90% der Abhängigen nehmen auch andere illegale Drogen zu sich, meist Cannabis oder Kokain. Folgende Schädigungen werden beobachtet: ■ Hypertonie und Tachykardie als Äquivalent der sympathomimetischen, noradrenergen Wirkung der Amphetaminderivate ■ Hyperthermie mit Temperaturen bis 41°C infolge eines Flüssigkeits- und Elektrolytverlustes ■ neurologische Komplikationen wie Krampfanfälle, Hirninfarkte und Hirnblutungen ■ akutes Leber- und Nierenversagen infolge Myoglobinämie, das bei starker körperlicher Anstrengung freigesetzt wird ■ Degeneration serotonerger Neurone mit Beeinträchtigung der kognitiven Fähigkeiten auch in der abstinenten Phase und psychotischen Symptomen ■ Kinder von Frauen, die im ersten Schwangerschaftsdrittel regelmäßig Ecstasy genommen haben, werden bis zu siebenmal häufiger mit Fehlbildungen geboren.

Literatur und Internetseiten Brockmann, M.: Asbestassoziierte Lungen- und Pleuraerkrankungen – pathologische Anatomie. Pneumologie 45 (1991) 422–428. Chen, V.W. et al.: Cancer incidence in the industrial corridor: an update. J. La. State Med. Soc. 150 (1998) 158–167. Cotran, R.S., V. Kumar, St.L. Robbins: Environmental and nutritional disease. In: Cotran, R.S., V. Kumar, St.L. Robbins (Hrsg.): Robbins pathologic basis of disease, 5th ed., S. 379–430. W.B. Saunders, Philadelphia 1994. Konietzko, J., H. Dupuis: Handbuch der Arbeitsmedizin – Arbeitsphysiologie, Arbeitspathologie, Prävention. ecomed, Landsberg–München–Zürich 1989. Merchant, J.A., B.A. Boehlecke, G. Taylor, M. Picket-Harner: Occupational respiratory diseases. U.S. Department of Health and Human Services, Washington 1986. Nishimura, S.L. et al.: Asbestos-induced pleural disease. Clin. Chest Med. 19 (1998) 311–329. Souza, M.B. et al.: Respiratory changes due to long-term exposure to urban levels of air pollution: a histopathologic study in humans. Chest 113 (1998) 1312–1318. Vallyathan, V. et al.: Roles of epidemiology, pathology, molecular biology, and biomarkers in the investigation of occupational lung cancer. J. Toxicol. Environ. Health B Crit. Rev. 1 (1998) 91–116. Wichmann, H.-E., H.-W. Schlipköter, G. Fülgraff: Handbuch der Umweltmedizin. ecomed, Landsberg 1992. www.hvbg.de www.gbe-bund.de www.umweltbundesamt.de www.rki.de www.dge.de www.fda.gov www.who.int

FRAGEN

1 Welche Probleme ergeben sich bei der Anamneseerhebung umweltbedingter Schäden? 2 Wie hoch ist der Anteil der bösartigen Tumoren, die auf Umwelteinflüsse zurückgehen? 3

Wie häufig ist die Adipositas in Deutschland?

4 Welche Schädigungen durch umweltbedingte physikalische Einwirkungen kennen Sie? 5 Nennen Sie Beispiele für eine einseitige mechanische Beanspruchung, deren Folgen und typische Erkrankungen. 6 auf?

Was versteht man unter einer Strahlenvaskulopathie und wann tritt sie

7

Was versteht man unter Pneumokoniosen und wie entstehen sie?

8 Nennen Sie Ätiologie (inkl. gefährdeter Personengruppen), Morphologie und Komplikationen der Silikose. 9 Welche Asbestinhalationsfolgen in Lunge und Pleura kennt man? Durch welche morphologischen Befunde ist eine Asbestose charakterisiert? 10

Wie kommt es zu einer Schädigung durch chemische Einwirkungen?

11 Unterscheiden sich die umweltbedingten malignen Tumorerkrankungen von den anderen im Hinblick auf das klinische Bild, den histologischen Typ und die Tumorlokalisation? 12

Was versteht man unter einer ernährungsbedingten Erkrankung?

13

Nennen Sie typische Komplikationen der Überernährung!

14 Welche allgemeinen Folgen eines Rauschmittel-/Drogenkonsums kennt man? 15 Was versteht man unter Ecstasy und welche Schädigungen werden beobachtet?

Glossar PH. U. HEITZ W. BÖCKER H. DENK Abbau (Degradation) Katabolismus: im Organismus bzw. in der Zelle unter Energiefreisetzung bzw. Energieverbrauch erfolgender Abbau von Lipiden, Eiweißen und Kohlenhydraten. Führt über Intermediärprodukte zur Bildung von Kohlendioxid, Wasser und Harnstoff als End- und Ausscheidungsprodukte. Ablatio placentae Syn: Abruptio placentae. Totale oder teilweise vorzeitige Plazentalösung bei normalem Plazentasitz, z.B. bei Schwangerschaftstoxikose, nach Unfall, bei Hydramnion. Abort Vorzeitige Beendigung einer Schwangerschaft, d.h. Verlust des Schwangerschaftsproduktes vor Eintritt der extrauterinen Lebensfähigkeit. Spontan oder künstlich herbeigeführt. Abszess Lokal begrenzte leukozytäre Exsudation mit zentraler Gewebenekrose. Es findet sich ein mit Eiter gefüllter Hohlraum. Achalasie Fehlende Erschlaffung der glatten Muskulatur eines Sphinkters infolge Innervationsstörung, Aplasie oder Degeneration des entsprechenden Nervenplexus. Achlorhydrie Absolute oder (histamin)refraktäre Anazidität, auch nach Pentagastringabe fehlende Sekretion von Salzsäure (HCl) durch die Magenschleimhaut, gekennzeichnet durch ein konstantes HCl-Defizit bei fraktionierter Magenuntersuchung. Adaptation Reaktion auf physiologische oder pathologische Reize, einschließlich vermehrter oder verminderter Belastungen.

Adenom Gutartiger Tumor, der aus drüsenbildendem Epithel besteht. Adipositas Fettsucht. Ätiologie Lehre von den Krankheitsursachen. Heute auch auslösender Faktor einer Störung. Agenesie Fehlen eines Organs infolge Fehlens der embryonalen Anlage. Agranulozytose Hochgradige Verminderung der granulierten Leukozyten (Granulozytopenie) und Störung der Granulozytopoese. Akronym Ein Kunstwort, welches aus den Anfangsbuchstaben einer Reihe anderer Wörter zusammengesetzt ist; in der Medizin z.B. aus den typischen Symptomen einer Krankheit oder den häufigsten Elementen einer komplexen Fehlbildung (z.B. VATERAssoziation). Allel Eine von zwei oder mehreren unterschiedlichen Formen eines Gens oder einer DNASequenz an einem bestimmten Ort im Genom (Lokus). Ein Individuum besitzt an jedem autosomalen Lokus zwei Allele, von denen eines vom Vater und eines von der Mutter stammt. Allergen Allergie auslösendes Antigen. Allogen Von einem Individuum der gleichen Art stammend, jedoch genetisch verschieden. Amenorrhö Nichteintreten (primäre A.) oder Ausbleiben (sekundäre A. = Menostase) der Regelblutung bei der geschlechtsreifen Frau. Amniozentese

Unter Ultraschallkontrolle durchgeführte Punktion der Fruchtblase. Zugang durch die Bauchdecke oder das hintere Scheidengewölbe bzw. mittels Amnioskop durch den Zervixkanal zur Fruchtwasserentnahme. Ziel: Gewinnung kindlicher Zellen für die pränatale Diagnostik. Amphetamin Sympathomimetikum mit noradrenerger Wirkung, als illegale Droge genutzt. Amphibolasbest Aus starren, im Gewebe stabilen Fasern bestehender Asbest (z.B. Krokydolith = Blauasbest). Amyloid Lichtmikroskopisch homogene, glasig durchscheinende Substanz. Färbung mit Kongo-Rot. Charakteristika: β-Fibrillose (= β-Konformation der darin enthaltenen Substanzen) und Unlöslichkeit (= Resistenz gegenüber dem enzymatischen Abbau durch den Organismus). Es können verschiedene chemische Substanzen in Amyloidablagerungen enthalten sein, z.B. Immunglobuline, Proteine und Proteohormone. Anämie Verminderung der Hämoglobinmenge im Blut. Geht meist mit der Verminderung der Erythrozytenzahl einher. Anergie Nichtreagieren auf ein Antigen (Allergen); negative A. (Anallergie) bei herabgesetzter Resistenz (z.B. Masern-A.); als positive A. infolge erworbener Immunität oder natürlicher Resistenz. Aneuploidie Nummerische Chromosomenaberration: Fehlen eines ganzen Chromosoms oder Vorliegen eines zusätzlichen ganzen Chromosoms. Aneurysma Umschriebene, meist asymmetrische permanente Erweiterung einer Arterie oder des Herzens infolge angeborener oder erworbener Wandveränderungen bzw. infolge eines Infarktes. Angiitis

Wandentzündung eines Blut- oder Lymphgefäßes (Arteriitis, Phlebitis, Lymphangiitis). Angina pectoris Stenokardie. Syndrom mit ischämisch bedingtem, meist anfallsweisem, in der Herzgegend (retrosternal bzw. präkordial) auftretendem Schmerz. Anisozytose Ungleiche Größe vergleichbarer Zellen, z.B. der Erythrozyten. Ankylose Durch Krankheitsprozesse im Gelenkinnern bedingte vollständige Gelenksteife infolge knöcherner Gelenkspaltüberbrückung oder durch intraartikuläre Narbenzüge. Anomalie Eine Entwicklungsstörung, bei der die funktionelle Auswirkung für das betroffene Individuum als gering angesehen wird. Deren Erkennung und korrekte Benennung kann jedoch von hohem diagnostischem Wert sein, z.B. sind bestimmte Furchen auf dem Ohrläppchen typisch für ein Wiedemann-Beckwith-Syndrom. Anorexia nervosa Magersucht, psychogen verursacht. Anthrakosilikose Progrediente Lungenfibrose infolge der Einwirkung lungengängigen quarzhaltigen Staubes bei gleichzeitiger Kohlestaubexposition, insbesondere im Kohlebergbau. Antigen (Abkürzung für Antisomatogen; Syn.: Immunogen). Jede (xeno-, allo- oder isogene sowie autologe) Substanz mit chemisch charakterisierten Gruppierungen (Determinante), die vom Organismus als fremd erkannt wird und befähigt ist, eine Immunantwort auszulösen. Antigenpräsentierende Zelle Jede Zelle, welche MHC Klasse II exprimiert. Präsentation des Antigens an CD4positive Lymphozyten. Makrophagen (MHC Klasse I) können ebenfalls Antigene prozessieren und präsentieren (an CD4-positive und CD8-positive Lymphozyten).

Antigendeterminante Die immunogene Teilstruktur (Determinante) eines Antigens. Antikörper Zur Fraktion der Gammaglobuline gehörige Proteine, die von B-Lymphozyten und Plasmazellen als Reaktion auf ein Antigen spezifisch gegen dieses gebildet und ausgeschieden werden. Antitoxin „Gegengift“. Jeder neutralisierende Antikörper. Aplasie Fehlen eines Organs infolge fehlenden Wachstums und fehlender Ausdifferenzierung bei vorhandener embryonaler Anlage. Apoptose (griech.: abfallen, abtropfen). Genetisch programmierte Elimination von Zellen (= programmierter Zelltod). Tritt verstärkt auf im Rahmen der Embryonalentwicklung und bei physiologischen Involutionsprozessen, aber auch bei pathologischen Vorgängen. Sie stellt die natürliche Form der Zellmauserung dar. Unter normalen Bedingungen besteht ein Gleichgewicht zwischen Zellerneuerung und Zellverlust. Arteriolosklerose Hyalinisierung der Gefäßwand von Arteriolen. Arteriosklerose Mit Elastizitätsverlust einhergehende Verdickung und Verhärtung der Arterienwand. Zusammenfassender Ausdruck aller Veränderungen der Arterienwand, die zur Sklerosierung (Atherosklerose, Mediasklerose, Arteriolosklerose) führen. Wird meist synonym mit Atherosklerose (siehe dort) gebraucht. Arthrosis deformans Degenerative Gelenkerkrankung infolge Missverhältnisses von Beanspruchung und Belastungsfähigkeit des Gelenks. Arthus-Reaktion Immunreaktion Typ III als schwere, evtl. nekrotisierende Entzündungsreaktion nach intrakutaner Antigenapplikation bei bestehender, aktiv oder passiv erfolgter

Sensibilisierung (Allergie), d.h. bei Vorliegen präzipitierender humoraler Antikörper (im Überschuss). Asbest Sammelbegriff für faserförmige Silikate, bestehend aus einem Siliziumoxidgitter, in das andere Elemente wie z.B. Eisen und Magnesium eingelagert sind. Asbestkörper Vom Organismus mit einer eisenhaltigen Proteinhülle ummantelte Asbestfasern, gewöhnlich von Amphibolasbesten. Asbestose Progrediente Lungenfibrose infolge einer Asbeststaubinhalation. Asbestpleuritis Rezidivierende, sich spontan zurückbildende, meist einseitige Ergüsse nach Asbestexposition, die zu einer progredienten Verschwartung der Pleura mit Obliteration des Spaltes führen können. Assoziation Ein Zusammentreffen verschiedener Symptome oder Fehlbildungen mit derart großer Häufigkeit, dass es nicht zufallsbedingt sein kann. Ätiologie und Pathogenese sind unbekannt. Zur näheren Bezeichnung werden oft Akronyme benutzt (siehe dort). Asthma (griech. = erschwertes Atmen). Asthma bronchiale: Anfallsweise Auftreten von Atemnot als Folge einer zu obstruktiver Ventilationsstörung führenden Stenose der Atemwege infolge Verkrampfung, Schleimhautödem und erhöhter sowie visköser Schleimsekretion, kombiniert mit reflektorischer Steigerung des Tonus der Einatmungsmuskulatur. Aszites Abnorme Ansammlung klarer, seröser Flüssigkeit im Peritonealraum (= Hydrops der Bauchhöhle, Hydraskos, Bauchwassersucht). Atelektase Verminderter bis fehlender Luftgehalt der Lungenalveolen mit entsprechend mangelhafter bis fehlender Entfaltung des entsprechenden Lungenbereiches. Atemzugvolumen

Volumen, das bei einem normalen Atemzug (ohne Belastung) eingeatmet wird. Atherosklerose Variable Kombination von Veränderungen der Intima, bestehend aus herdförmiger Einlagerung von Fettsubstanzen, komplexen Kohlenhydraten, Blut und Blutbestandteilen, Bindegewebe und Kalk, verbunden mit Veränderungen der Arterienmedia. Charakteristisch sind Atherome (Plaques) der Intima. Atopie Erbliche (z.T. an das HLA-System gekoppelte) Überempfindlichkeit mit Neigung zu erhöhter Bildung von Immunglobulinen E (IgE) gegen Substanzen der Umwelt. Atresie Fehlen einer Körperöffnung oder Undurchgängigkeit des Lumens eines Hohlorgans. Atrophie Reversible Verkleinerung eines primär regelrecht entwickelten und normal großen Organs oder Gewebes. Adaptation an ein niedrigeres energetisches Fließgleichgewicht. Atypie Abweichung vom Typischen (im normalen und pathologischen Bereich), i.e.S. die Zell- und Gewebeatypie, d.h. Abweichung von Zellen und Gewebe bezüglich Form und Struktur. Autoimmunität Zustand der Immunreaktivität gegenüber körpereigenen Strukturen. Autokrinie Der Selbststimulierung dienende Sekretion von Wachstumsfaktoren durch Zellen. Autolyse Postmortaler enzymatischer Abbau von Gewebe und Zellen. Autopsie Leichenöffnung, Sektion, Obduktion. Axonale Degeneration Untergang des Achsenzylinders (Neurit), zunächst ohne Schädigung der Markscheide.

Autosom Eines der beim Menschen 22 Chromosomen (Geschlechtschromosomen ausgenommen). Azoospermie Im Spermatogramm nachweisbares Fehlen beweglicher, reifer Spermien im Ejakulat (Vorstufen jedoch vorhanden). Bakteriämie Einschwemmung von Bakterien in das Blut. Dauert meist nur kurze Zeit und wird durch das Abwehrsystem abgefangen (siehe auch Sepsis). Bakterium Prokaryotischer Einzeller, der auf zellfreien Nährböden gezüchtet werden kann. Seine Vermehrung erfolgt durch Querteilung. Bakteriurie Ausscheidung von Bakterien im Harn (krankhaft bei Keimzahlen >105/ml), z.B. bei Zystitis, Pyelonephritis. Barr-Körper Der im Zellkern nahe der Membran gelegene größte (∅ ca. 0,8–1,1 μm), Feulgenpositive „Chromatinkörper“, nachweisbar u.a. in Mund-, Nasen-, Vaginalschleimhaut, Fibroblasten, Amnion und Haarwurzelzellen. Er entspricht einem inaktivierten XChromosom und ist nachweisbar bei weiblich determinierten Zellen. Berufsgenossenschaft Träger der gesetzlichen Unfallversicherung. Berufskrankheit Erkrankung, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch Einwirkungen am Arbeitsplatz verursacht oder wesentlich mitverursacht worden ist. Betäubungsmittel Stoffe, die eine direkte Einwirkung auf das zentrale Nervensystem besitzen (= Rauschmittel). Biokompatibilität Verträglichkeit z.B. von Fremdmaterialien im Organismus.

Biopsie Gewebeprobe, die durch Nadelpunktion oder mit Hilfe spezieller Instrumente entnommen wird (Knips-, Saug-, Zangen-, Nadelbiopsie). Blastopathien Störungen, die auf eine Schädigung während der Blastogenese (Tag 0 bis 18) zurückzuführen sind. Blutung Blutaustritt aus Gefäßen in das umgebende Gewebe, an Oberflächen oder in Körperhöhlen. BMI Body-Mass-Index: Quotient aus dem Körpergewicht in kg und dem Quadrat der Körpergröße in Metern, zur Abschätzung des Fettanteils des Körpers. Bronchiektas(i)e Dauerhafte, spindel-, zylinder- oder sackförmige Erweiterung von Bronchialästen; angeboren (infolge Entwicklungs- oder Differenzierungsstörung) oder erworben, als Folge der Zerstörung elastischer und muskulärer Wandelemente bei akuter oder chronischer Bronchitis. Bronchoalveoläre Lavage (BAL) Spülung einzelner Lungensegmente mit 150–300 ml Kochsalzlösung, zytologische Auswertung der wieder abgesaugten Flüssigkeit. Zeigt mehr oder weniger charakteristische Zellmuster, vorwiegend bei entzündlichen Lungenerkrankungen. Broncholysetest Test zur Abgrenzung von reversiblen und irreversiblen Obstruktionen. Dabei wird ein Tiffenau-Test vor und nach Gabe eines β2-Sympathomimetikums durchgeführt. Bronchoskopie Heute häufig angewandte Methode zur Inspektion und Probeentnahme von Gewebestücken (1–2 mm im Durchmesser) der Bronchialschleimhaut. Bulimia nervosa Regelmäßige Essanfälle mit gesteigertem Gewichtsbewusstsein. Bursitis

Schleimbeutelentzündung. Bypass Umgehung eines Gefäßverschlusses oder hochgradiger Stenosen mittels eines anderen Gefäßes oder einer Prothese. Der Bypass kann entweder autolog (z.B. V. saphena magna) oder alloplastisch (aus Kunststoff) sein. Byssinose Erkrankung der Lungen und Atemwege infolge der irritativ-toxischen Einwirkung des Staubes ungereinigter Rohbaumwolle oder von nicht gehechseltem Flachs. Caisson-Krankheit Infolge eines zu schnellen Auftauchens beim Tauchen führt der rasche Druckabfall zu einer Entsättigung des Körpers von Gasen, insbesondere Stickstoff, die bei dem vorher höheren Druck vermehrt gelöst waren; die entstehenden Gasblasen führen zu einer Luftembolie. Cannabisprodukte Haschisch, Marihuana, aus der weiblichen Pflanze des indischen Hanfes hergestellt. Hauptwirkstoff ist δ9-Tetrahydrocannabinol. Carcinoma in situ Histologisch nachweisbare atypische Zellproliferation mit den zytologischen Charakteristika der Karzinomzellen und geweblicher Differenzierungsstörung. Das Carcinoma in situ ist noch durch eine Basalmembran vom gefäßführenden Stroma abgesetzt und noch nicht zur Metastasierung befähigt (= präinvasives Karzinom). Heute wird oft der Ausdruck „intraepitheliale Neoplasie“ gebraucht. Carcinosis pleurae Ausbreitung metastatischer Tumorzellen in der Pleura im Niveau des ursprünglichen Mesothels. CD Cluster of differentiation; Bezeichnung für Oberflächenmoleküle (Antigene) von Leukozyten, Thrombozyten und anderen Zellen, die systematisch in Gruppen (clusters) erfasst und funktionell, biochemisch und genetisch aufgeschlüsselt werden (CD-Nomenklatur). CFU-GEMM

Einheit (CFU) aus Kolonie-bildenden Stammzellen aus Blut oder Knochemark, die in vitro Zellen der Granulo- und der Eythropoese sowie Makrophagen und Megakaryozyten bilden. CFU-GM Einheit (CFU) aus Kolonie-bildenden Stammzellen aus Blut oder Knochenmark, die in vitro Granulozyten- und Makrophagen-haltige Kolonien bilden. Chemotaxis Durch einen chemischen Reiz ausgelöste positive oder negative, in Richtung auf den Reiz hin bzw. von ihm fort erfolgende Bewegungsreaktion beweglicher Organismen sowie – als Leukotaxis – von Blutzellen (Makrophagen und polymorphkernige neutrophile Granulozyten). Chiari-Netz Spongiöse bindegewebige, membranartige Residuen der Venensinusklappe im Bereich der Einmündung des Sinus venosus des Herzens in den rechten Vorhof. Chimäre Individuum, das aus zwei genetisch unterschiedlichen, von verschiedenen Zygoten abstammenden Zelllinien besteht (siehe Mosaik). Choristom Tumorartige Bildung, die aus ortsfremdem Gewebe besteht (Verlagerung dieses Gewebes während der Embryonalperiode?). Chromatin Das spezifisch anfärbbare Material des Zellkerns. Eine fädige Struktur bestehend v.a. aus DNA und Histonen, die gemeinsam Nukleosomen bilden, sowie aus zwischen den Nukleosomen gelegener „internukleosomaler“ DNA, ferner aus kleineren Mengen RNA und nichtbasischen Proteinen (Hertone). Chromosom/Chromatid Ein lineares doppelsträngiges DNA-Molekül, das mit Proteinen (Histonen) besetzt ist. Nach einer Zellteilung bis zum ersten Teil der Synthesephase einer erneuten Zellteilung ist dies gleichbedeutend mit einem Chromosom. Nach der Verdoppelung der DNA in der S-Phase enthält ein Chromosom zwei identische Schwesterchromatiden, die über ein Zentromer zusammengehalten werden. Chylothorax

Chylöser Pleuraerguss überwiegend durch eine Läsion des Ductus thoracicus bzw. eines seiner Äste. Codon Dreier-Nukleotid (Triplet), das für eine Aminosäure bei der Synthese der Polypeptidketten kodiert oder das Signal für den Syntheseabbruch gibt. Crack Darreichungsform des Kokains. Débridement (franz.: Abzäumen). Abtragung oberflächlicher Nekrosen. Defektheilung Wiederherstellung des Gesundheitszustandes (Reparatio) mit Restschaden unter Bildung eines funktionell minderwertigen Ersatzgewebes (Narbe). Dekubitus Meist superinfizierte Nekrosen- und Geschwürbildung der Haut oder von Schleimhäuten als Folge chronischer örtlicher Druckwirkung. Deletion Verlust eines DNA-Abschnitts. Diabetes Allgemeine Bezeichnung für Krankheiten mit krankhaft gesteigerter Ausscheidung von Flüssigkeit und/oder bestimmten Stoffwechselprodukten durch die Niere. Diabetes insipidus Steigerung der Wasserausscheidung. Diabetes mellitus Zuckerkrankheit; Nüchternblutzucker > 120 mg/dl; Glukosurie. Diagnose Nosologisch-systematische Benennung eines Krankheitsbildes; in der Praxis die Summe der Erkenntnisse, auf denen das ärztliche Handeln, d.h. die Therapie, beruht. Diapedese

Durchtritt von Blutzellen durch die intakte Wand der Blutkapillaren. Diathese, hämorrhagische Erhöhte Blutungsbereitschaft in Form generalisierter Blutungen ohne adäquate Ursache oder in Form verstärkter oder verlängerter Blutungen nach verschiedenen Ursachen. DIC Disseminierte intravasale Gerinnung (C = Coagulation). Multifaktorielles Ereignis, bei dem es zur Bildung von zahlreichen Mikrothromben in der Gefäßendstrombahn kommt. Dignität (latein.: Wertigkeit, Bedeutung). Angabe über das voraussichtliche biologische Verhalten eines Tumors. Diploidie Vorhandensein zweier vollständiger homologer Chromosomensätze im Zellkern von Organismen mit sexueller Fortpflanzung. Disruption Eine primär normale Entwicklung wird durch äußeren Einfluss unterbrochen. Auch wenn der schädigende Einfluss (z.B. eine Rötelninfektion oder die Einnahme von Thalidomid) nur kurze Zeit besteht, ist die gesamte weitere Entwicklung pathologisch, weil die Störung z.B. in der Entwicklung der Augen oder der Extremitäten durch die weitere fortlaufende Entwicklung nicht kompensiert werden kann. Divertikel Umschriebene, meist sackförmige Wandausstülpung eines Hohlorgans. 1. Echtes Divertikel: Beteiligung sämtlicher Wandschichten als angeborene Ektasie bzw. als Rest embryonaler Aussackungen. 2. Falsches Divertikel (Pseudodivertikel): erworbene, oft mehrfach ausgebildete Schleimhautvorstülpung durch Lücken bzw. Risse der muskulären Wandschicht eines Organs (meist an Gefäßdurchtrittsstellen des Dünn- oder Dickdarms). Dominant In der klinischen Genetik werden damit Merkmale bezeichnet, die bereits im heterozygoten Zustand (d.h., nur ein Allel kodiert für das Merkmal) deutlich werden (siehe rezessiv).

Drogenabhängigkeit Zwanghaftes Verlangen (psychische oder physische Abhängigkeit) nach Einnahme von (illegalen) Drogen. Dying-back Die Degeneration von Nervenfasern von peripher nach proximal. Typisch für toxische und stoffwechselbedingte Neuropathien. Dynamische Compliance Empfindlicher Parameter für eine periphere Atemwegsobstruktion. Der Patient atmet nach einer vorgegebenen Frequenz. Gemessen wird während einer Inspirationsphase. Man erhält die Volumenänderung der Lunge pro Druckdifferenz. Bei peripheren Atemwegsobstruktionen kann das Lungenvolumen dem Inspirationsdruck nicht folgen (verzögerte Entfaltung). Als Konsequenz wird der Compliance-Wert verringert. Dysgenesie Anlagebedingte Fehlentwicklung (abnorme Struktur und unzureichende Differenzierung) eines Organs oder Organteils. Wird auch als Dysplasie bezeichnet. Dies kann jedoch zu Missverständnissen führen (siehe Dysplasie). Dysmenorrhö Menstruation mit (oft kolikartigen) Unterleibsschmerzen (evtl. schon vor Blutungsbeginn) unabhängig von der Blutungsstärke. Dysostose Eine Fehlbildung einzelner oder weniger Knochen. Bei diesem Begriff wird jeder Knochen als Organ gesehen; die Dysostose ist somit ein Organdefekt. Bei den Skelettdysplasien (siehe Osteochondrodysplasien) handelt es sich um einen systemischen Defekt des knöchernen Gewebes. Dysphagie Störung des Schluckaktes mit Druckgefühl oder Schmerz hinter dem Brustbein oder im Oberbauch. Dysplasie Dysplasie 1. In der Tumorpathologie: eine atypische Zellproliferation, die noch nicht alle Kriterien einer Neoplasie aufweist, z.B. durch eine Virusinfektion erworbene Dysplasie des Zervixepithels.

2. In der Embryologie/Humangenetik: fehlerhafter Aufbau eines Organs/fehlerhafte Organisation eines Gewebes, z.B. genetisch bedingte Störung der Architektur aller Knochen bei einer thanatophoren Dysplasie. Dyspnoe Atemnot, Lufthungergefühl; meist subjektiv empfundene Mehrarbeit der Atmung – entweder durch erhöhten Atemantrieb (z.B. bei Hypoxie, Hyperkapnie, Azidose; emotionaler Erregung) oder durch erhöhte Strömungswiderstände im Atemapparat (v.a. bei Krankheiten des Herzens und der Lunge). Dysrhaphie Fehlbildung, die durch eine fehlerhafte Schließung embryonaler Verwachsungslinien verursacht wird. Dysurie Schmerzhafter Harndrang mit erschwerter Miktion. Ecstasy Gruppe vollsynthetisch hergestellter (illegaler) Drogen in Tablettenform, gewöhnlich Amphetaminderivate, enthalten neben der Grundsubstanz weitere Wirkstoffe. Eiter Durch belebte oder unbelebte (auch sterile) Fremdkörper hervorgerufenes entzündliches Exsudat, z.B. in infizierten Wunden, bei Phlegmonen, in Abszessen und Furunkeln, bei Infektionen von Körperhöhlen bzw. Hohlorganen; bestehend aus zahlreichen polymorphkernigen Leukozyten, nekrotischen Zellen und wenig Serum. Die Farbe und die Viskosität sind abhängig von den beteiligten Erregern (z.B. blauer Eiter bei Pseudomonas-Infektion). Ektasie Nichtumschriebene, d.h. diffuse, meist zylindrische Erweiterung von Arterien, Venen oder Ausführungsgängen. Ektopie Angeborene oder erworbene Verlagerung eines Gewebes oder Organs an eine anormale Stelle des Körpers. Elektromagnetische Strahlen

Mit Lichtgeschwindigkeit sich wellenförmig ausbreitende elektromagnetische Felder, die bei der beschleunigten Bewegung elektrischer Ladungsträger (bes. Elektronen) entstehen. Embolie Hämatogene Verschleppung von korpuskulären Elementen (Thromben, Fetttropfen, Cholesterin, Tumorzellen, Fruchtwasserbestandteile, Fremdkörper), Luft oder Gas, die zu Gefäßverschluss führen kann. Embryopathien Störungen, die auf eine Schädigung während der Embryogenese (Tag 18 bis Ende der 8. Schwangerschaftswoche) zurückzuführen sind. Emphysem Übermäßiges oder ungewöhnliches Vorkommen von Luft in Körpergeweben. Am wichtigsten: Lungenemphysem bei Zerstörung von Interalveolarsepten. Empyem Ansammlung von Eiter in Körperhöhlen oder in einem Hohlorgan. Empyema necessitatis Pleuraempyem mit einer Fistel durch die Thoraxwand. Endokarditis Entzündung des Endokards, v.a. der Herzklappen (E. valvularis), weniger oft des parietalen Endokards (E. parietalis) oder der Sehnenfäden (E. chordalis). Endometriose Endometrium, das außerhalb der zusammenhängenden Endometriumschicht des Uterus gelegen ist; das Wachstum ist hormonabhängig und kommt daher nur im geschlechtsreifen Alter vor. Endoneurium (-mysium) Bindegewebeelemente innerhalb von Primärfaszikeln, zwischen einzelnen Nervenfasern (Axonen) und zwischen einzelnen Muskelfasern. Endotoxin

Thermostabile Bestandteile der Wand eines Bakteriums (Proteine, Lipide und Polysaccharide); werden beim Zerfall (Tod) des Bakteriums freigesetzt und können zum Endotoxinschock führen. Aktiver Bestandteil ist Lipid A der Lipopolysaccharide. Entzündung Intravitaler, örtlich begrenzter Abwehrprozess auf eine Gewebeschädigung. Der Prozess besteht aus einer komplexen Reaktion von gefäßführendem Bindegewebe, Blutzellen und Bestandteilen des Blutplasmas. Epikondylitis Erkrankung der Sehnenansätze bei Überbeanspruchung, gewöhnlich infolge rezidivierender Mikrotraumen mit nachfolgender Ausbildung eines vernarbenden Granulationsgewebes. Epidemie Massenhaftes Auftreten einer Krankheit, v.a. Infektionskrankheit, in einem umschriebenen Gebiet und innerhalb eines begrenzten Zeitraumes. Epidemiologie Befasst sich mit der Häufigkeit des Auftretens von Krankheiten und untersucht statistisch den Zusammenhang dieser Häufigkeiten mit Verhaltens- und Umweltfaktoren, welche die Verteilung dieser Krankheit beeinflussen können. Epilepsie Fallsucht. Oberbegriff für Elementaranfall und Anfallsleiden verschiedener Ursachen infolge hirnorganischer Erkrankungen, Stoffwechselstörungen, familiärer Belastung oder ohne nachweisbare Ursachen. Epitheloidzellen Entwickeln sich unter dem Einfluss von T-Helferzellen aus Monozyten bzw. Histiozyten, zeigen eine enge Verzahnung ihrer Zellmembranen untereinander und weisen daher ein epithelähnliches („epitheloides“) Bild auf. Epineurium (-mysium) Bindegewebige Umhüllung eines ganzen Nervs oder eines Muskels (beim Muskel auch identisch mit Faszie). Epitope Antigene Determinanten. Die Spezifität der Antikörper bestimmende Bereiche eines Antigens.

Ergotrop Im Sinne einer Leistungssteigerung wirkend. Erosion Umschriebener, oberflächlicher Zellverlust in der Epidermis (bis zur Basalmembran) oder in der Schleimhaut (bis zur Lamina muscularis mucosae im Magen-Darm-Trakt). Siehe auch Ulkus. Exfoliativzytologie Untersuchung von Zellen, die sich von Oberflächen abgelöst haben, oder von Zellen, die durch direkte Abstrichentnahme (z.B. Wattebausch, Bürste, Spatel) gewonnen wurden. Exogen-allergische Alveolitis Lymphoplasmazelluläre interstitielle Pneumonie mit begleitender granulomatöser Bronchiolitis infolge der Inhalation von Antigenen, gewöhnlich Schimmelpilzen. Exon Kodierender Bereich in einem in mehrere Abschnitte unterteilten Gen (Exons wechseln mit Introns ab; siehe Intron). Exotoxine Thermolabile Proteine, die überwiegend von lebenden grampositiven Bakterien sezerniert werden, ohne dass das Bakterium dabei zugrunde geht. Explosionstrauma Einwirkung eines relativ kurzzeitigen Schalldrucks mit nachfolgendem schwerem Mittelohrschaden, u.U. mit Trommelfellzerreißung sowie ausgedehnten Läsionen des Innenohrs. Expressivität Art und Ausmaß der Ausprägung einer Erbanlage. Exspiratorisches Reservevolumen Volumen, das am Ende der Exspiration eines normalen Atemzuges noch ausgeatmet werden könnte. Exsudat Entzündlicher Erguss in Körperhöhlen (Eiweißgehalt > 3 g/dl).

Fc-Fragment „fragment cristallin“. Das durch Papain-Spaltung darstellbare Fragment der Immunglobuline mit MG ≈ 40000; über das „Hinge“-Peptid mit beiden FabFragmenten verbunden. Es ist zuständig für Komplement- und Gewebebindung der zytophilen Antikörper. Fc-Rezeptoren Membranrezeptoren (z.B. auf Lymphozyten und Makrophagen) für das Fc-Fragment. Fehlbildung Eine Entwicklungsstörung mit deutlicher funktioneller Auswirkung für das betroffene Individuum (alter Begriff: Missbildung). Fetopathien Störungen, die auf eine Schädigung während der Fetogenese (9. Schwangerschaftswoche bis zur Geburt) zurückzuführen sind. Fibrinoid Lichtmikroskopisch homogene, leicht lichtbrechende Veränderung des Gewebes, die färberisch einige Eigenschaften des Fibrins zeigt. Fibrinoid ist immer extrazellulär lokalisiert. Es enthält nekrotisches Gewebe, Blutplasma und Fibrin. Es wird v.a. in Form einer fibrinoiden Nekrose des Bindegewebes bei immunologischen Erkrankungen gesehen, z.B. bei chronischer Polyarthritis, Arteriitiden und Lupus erythematodes. Fibrinolyse Die enzymatisch-proteolytische Auflösung von Fibringerinnseln im Organismus, z.B. bei Thrombosen. FISH Fluorescence In Situ Hybridization. Fistel (latein.: Fistula = röhrenförmiges Geschwür). Angeborene oder erworbene pathologische, gangförmige Verbindung zwischen Hohlorgan oder Höhlen und Körperoberflächen. Fraktur

Bruch, Knochenbruch. Trennung des Zusammenhalts eines über seine Elastizitätsgrenze hinaus belasteten Knochens unter Bildung zweier oder mehrerer Bruchstücke mit oder ohne deren Verschiebung. Frühgeburt Geburt nach der 28. und vor Ende der 38. Schwangerschaftswoche. Furunkel Abszess eines Haarfollikels. Galaktorrhö Milchfluss. Gamet Reife, zur geschlechtlichen Befruchtung befähigte Keimzelle. Gametogenese Keimzellentwicklung von den im Bereich des Dottersacks während der Embryonalzeit entstehenden Urkeimzellen bis hin zur Eizelle bei der Frau bzw. Samenzelle beim Mann. Gametopathien Störungen, die auf bereits vor der Befruchtung abnorme Gameten zurückzuführen sind. Sie sind meist Folge von Genmutationen. Gangrän Brand. Durch mechanische oder thermische Schädigung hervorgerufene Gewebenekrose mit Gewebeerweichung, Schrumpfung, Vertrocknung und Schwarzfärbung (trockene Gangrän). Aus zusätzlicher Infektion durch Fäulnisbakterien resultiert eine feuchte Gangrän mit Erweichung, evtl. Verflüssigung des nekrotischen Gewebes. Gelenkmaus Freier Gelenkkörper. Gen DNA-Abschnitt, der mittels der Messenger-RNA für ein Polypeptid oder für einen RNA-Baustein (ribosomale RNA, Transfer-RNA) kodiert. Genkomplex

Gruppe von Genen, die ein bestimmtes Phän gemeinsam beeinflussen. Genlokus Lage eines Gens auf einem Chromosom; auch die entsprechende Position des Allels auf dem homologen Chromosom. Genmutation Eine nur ein Gen betreffende Mutation, die nicht mikroskopisch als strukturelle Chromosomenaberration, sondern nur durch ein verändertes Genprodukt (z.B. als Enzymdefekt) erkennbar oder mit Hilfe molekularbiologischer und biochemischer Methoden nachweisbar ist. Genom Gesamtheit der Gene (d.h. die gesamte genetische Information) einer Zelle. Genotyp Genotyp 1.

Genetische Konstitution eines Organismus.

2. Kombination von Allelen, die man an einem bestimmten Lokus einer Zelle findet. Gen-Rearrangement, DNA-Rearrangement Eine der Grundlagen für die Synthese verschiedener Antikörper. Die DNA von Immunglobulingenen wird durch Deletionen oder Inversionen von DNA-Abschnitten neu zusammengefügt, so dass eine neue Sequenz entsteht. Da diese Vorgänge sehr unterschiedlich ablaufen, entsteht eine hohe Zahl unterschiedlicher DNA-Sequenzen. Auch die transkribierte RNA wird teilweise deletiert und neu zusammengesetzt. Gesundheit Nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist Gesundheit der Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens, d.h. das subjektive Fehlen körperlicher und seelischer Störungen bzw. die Nichtnachweisbarkeit entsprechender krankhafter Veränderungen. Gliedergürteldystrophie Eine große Gruppe heterogen vererbter Mutationen muskelfaserassoziierter Strukturund Membranproteine, oft in Assoziation mit und um die Verankerung des Dystrophinkomplexes, aber nicht des Dystrophins selbst.

Globale respiratorische Insuffizienz Gleichzeitige Senkung des PaO2 und Erhöhung des PaCO2 (siehe auch Partialdruck). Grading Wird bei der histologischen und/oder zytologischen Charakterisierung maligner Tumoren verwendet. Nummerische Einteilung des histologischen und/oder zytologischen Differenzierungsgrades eines malignen Tumors, z.B. G1 bedeutet hochdifferenziert, G4 bedeutet niedrigdifferenziert. Granulationsgewebe Es entsteht im Rahmen von Entzündungen und nach einer Nekrose, leitet die Reparation ein und besteht aus Makrophagen, Fibroblasten, proliferierenden neugebildeten Kapillaren, Lymphozyten und Granulozyten. Granulom Kleines Knötchen mit einem Durchmesser von 0,1–2 mm. Es besteht in der Regel aus Makrophagen, Epitheloidzellen und (inobligat) mehrkernigen Riesenzellen. In der Peripherie findet sich ein Saum aus T-Lymphozyten und Fibroblasten. Granulozytopenie Verminderung der Zahl der Granulozyten im peripheren Blut, im engeren Sinn die Neutropenie; im weiteren Sinne auch die Agranulozytose und die granulozytopenische Krise. Granulozytose Erhöhte Granulozytenzahl im peripheren Blut ohne nennenswerte Vermehrung der Lympho- und Monozyten; wird differenziert als Baso-, Eosino- und Neutrophilie. Gynäkomastie Abnorme Größenzunahme der männlichen Brust. Hämatom Bluterguss. Blutmasse außerhalb der Gefäße (Blutextravasat) im Gewebe oder in einem vorgebildeten Hohlraum. Hämatoperikard

Auftreten von Blut im Herzbeutel. Umfasst Blutungen im Herzbeutel und Blutbeimengungen im Sinne eines hämorrhagischen Ergusses. Hämatoserothorax Blutiger Pleuraerguss mit einem Hämatokriten < 50% des peripheren Blutes. Hämatothorax Blutiger Pleuraerguss mit einem Hämatokriten > 50% des peripheren Blutes. Hämochromatose Eisenspeicherkrankheit infolge Eisenüberladung des Organismus, v.a. der parenchymatösen Organe. Hämoglobinopathie Sammelbegriff für erbliche Erkrankungen, bedingt durch Hämoglobinanomalien infolge Störung der Globinsynthese. Hämolyse Auflösung (Zerstörung) der roten Blutkörperchen innerhalb des Organismus (intraoder extravasal). Hämosiderose Vermehrte Eisenablagerung in Form von Hämosiderin. Hämostase Hämostase 1. Spontane bzw. künstlich (operativ oder medikamentös) herbeigeführte Blutstillung. 2.

Blutstockung (Stase).

Halbwertszeit Derjenige Zeitraum, in dem die Zahl der in einem Organ(ismus) abgelagerten Atome eines Nuklids auf die Hälfte abgesunken ist, und zwar entweder durch Stoffwechselleistung, Ausscheidung etc., radioaktiven Zerfall oder aufgrund beider Faktoren. Hamartom

Dysontogenetische, d.h. während der Embryonalentwicklung entstandene tumorartige Gefäßentwicklung, die einzelne Gewebekomponenten des betreffenden Organs enthält. Ein Hamartom manifestiert sich oft als tumorähnlicher Knoten. Haploidie Haploidie 1. Das Vorhandensein eines nur einfachen (= haploiden) kompletten Chromosomensatzes bei üblicherweise zu erwartender Diploidie. 2. Der Chromosomenbestand der reifen Geschlechtszellen, entsprechend dem halben Chromosomensatz der normalerweise einen doppelten Chromosomensatz aufweisenden somatischen Körperzellen. Haschisch Aus dem harzartigen Sekret der weiblichen Pflanze des indischen Hanfes hergestellte illegale Droge mit psychotroper Wirkung. Heilung Wiederherstellung des Gesundheitszustandes unter Erreichen des Ausgangszustandes (Restitutio ad integrum) oder mit organischem oder funktionellem Restschaden (Defektheilung). Hemizygotie Erbanlagen, die nicht paarweise vorhanden sind, z.B. Gene auf dem X-Chromosom bei Männern. Hermaphroditismus Zwitterbildung, nach Hermaphroditos, dem zweigeschlechtigen (androgynen) Sohn des Hermes und der Aphrodite der griechischen Mythologie, benannte Entwicklungsstörung der Keimdrüsen bzw. das daraus resultierende Erscheinungsbild der Zweigeschlechtigkeit. Hernie Bruch, Eingeweidebruch: die zunächst evtl. nur vorübergehende Verlagerung von Organen, Organteilen (als Bruchinhalt) aus einer normal ausgebildeten Körperhöhle durch eine angeborene oder erworbene Lücke (Bruchpforte) der muskuloaponeurotischen Wand einer Körperhöhle nach außen in eine natürlich vorgebildete oder sich erst unter der Entwicklung des Bruches (Herniation) ausbildende, den Bruchsack darstellende Ausstülpung der Höhlenauskleidung. Heroin

Analgetikum vom Morphintyp, als illegale Droge benutzt. Heterozygotie, loss of heterozygosity (LOH) Genetische Konstitution di- oder polyploider Zellen oder Individuen: Mindestens ein Gen ist durch zwei verschiedene Allele im Genlokus oder zwei homologe Chromosomen vertreten. Dieser Zustand entsteht durch die Verschmelzung von zwei Gameten (paternal bzw. maternal) mit verschiedenen Allelen desselben Gens oder durch Mutation eines Allels in einem oder zwei homologen Chromosomen. Verlust der Heterozygotie (loss of heterozygosity): Verlust des einen oder beider Allele. Nachweis: siehe Kap. 1. Heterozygot homologe Chromosomen Zwei Kopien des gleichen Chromosoms (Chromosomen mit der gleichen Nummer), die man in diploiden Zellen findet; normalerweise stammt je eines von Vater und Mutter. Histogenese Entstehung der Gewebe: Differenzierungsvorgang der embryonalen Gewebe bis zur endgültigen Differenzierung und Funktionsspezifität. Histogramm Graphische Darstellung quantitativer Daten als Stufen- oder Treppendiagramm, wobei die Häufigkeit jedes Messwertes durch die Fläche (bzw. Höhe) eines Rechtecks über der betreffenden Messwerteklasse der Abszisse dargestellt wird. Histokompatibilität Verträglichkeit zwischen Spender- und Empfängergeweben bei Organtransplantation. Beruht auf weitgehender oder völliger Übereinstimmung ihrer Histokompatibilitätsantigene und der klassischen Blutgruppen. Histokompatibilitätsantigen Genetisch festgelegte (vererbte) Strukturen an der Oberfläche biologischer Membranen und im Zellplasma menschlicher und tierischer Zellen, die – in einem Transplantat übertragen – beim Transplantatempfänger eine Immunreaktion und damit eine Transplantatabstoßung auslösen. HLA-System

Human Leukocyte Antigen. Das erstmals an weißen Blutzellen anhand der von ihnen kodierten Oberflächenantigene (Histokompatibilitätsantigene) entdeckte, für die Immunabwehr wichtige Regulationssystem des Organismus. HMSN Hereditäre motorisch sensorische Neuropathien. Aufgrund verschiedener genetisch bedingter Myelinprotein- und Adhäsionsmoleküldefekte in unterscheid-bare Typen eingeteilt. Im angelsächsischen Schrifttum werden HMSN-Typen neu mit wenigen Ausnahmen den Typen von Charcot-Marie-Tooth(CMT)-Varianten gleichgestellt. Höhenkrankheit Hypoxydose aufgrund des niedrigeren Sauerstoffpartialdrucks beim Bergsteigen in großen Höhen. Homöothermie Gleich bleibende Körpertemperatur trotz äußerer Temperaturschwankungen. Homozygot Zustand einer Zelle oder eines Lebewesens mit zwei identischen Genen an einem bestimmten Lokus des Genoms (siehe heterozygot). Homozygotie Zustand mit identischen Allelen eines Gens in beiden homologen Chromosomen eines diploiden bzw. in allen eines polyploiden Genoms. HPF High Power Field (Objektiv 40x). HSN/HSAN Hereditäre sensorisch-autonome Neuropathien. Molekular noch unvollständig charakterisierte Neuropathien mit vorwiegend sensorischen und autonomen Ausfällen. Hyalin Rein deskriptiver Begriff: intra- oder extrazelluläre homogene Substanz mit deutlicher Lichtbrechung und Anfärbbarkeit durch Eosin in der Hämatoxylin-Eosin-Färbung. Der Begriff macht keine Aussage über die chemische Zusammensetzung des Materials. Der Ausdruck wird heute v.a. noch bei regressiven Veränderungen in Bindegewebe, Lymphknoten und Corpora albicantia gebraucht. Hydrocephalus

Wasserkopf. Angeborene oder erworbene dauerhafte Ausweitung der Liquorräume des Gehirns infolge Missverhältnisses zwischen Liquorproduktion und -resorption. Hydroperikard Pathologische nichtentzündliche Flüssigkeitsansammlung im Herzbeutel, die durch einen geringen Eiweißgehalt charakterisiert ist (Perikarderguss). Hydrothorax Ansammlung seröser Flüssigkeit in der Pleurahöhle. Hyperämie Vermehrte Blutfülle in einem Kreislaufabschnitt: 1. Aktive, arterielle Hyperämie: bei Weitstellung der Arterien, v.a. der Arteriolen, z.B. bei erhöhtem Zufluss bei Entzündung. 2. Passive Hyperämie: bei Abflussstörung (venöse Hyperämie = Stauungshyperämie). Hyperchromasie Gesteigerte Anfärbbarkeit, z.B. der Zellkerne in Tumorgewebe. Hyperthermie Erhöhte Körpertemperatur. Hyperplasie Größenzunahme eines Organs oder Gewebes durch Zunahme der Zellzahl. Hypertonie Blutdruckerhöhung über den Normwert. Nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) liegt eine Hypertonie vor, wenn der systolische Blutdruckwert über 160 mmHg und der diastolische über 95 mmHg liegt. Nach der Lokalisation unterscheidet man die Hypertonie im großen Kreislauf von derjenigen im kleinen Kreislauf (pulmonale Hypertonie) oder im Pfortadergebiet (portale Hypertonie). Hypertrophie Reversible Zellvergrößerung und damit Größenzunahme eines Organs oder Gewebes durch Vermehrung von Zellkomponenten (Vergrößerung der Einzelzelle) ohne

Zunahme der Zellzahl. Adaptation von obligat postmitotischen Zellen und Geweben an ein erhöhtes energetisches Fließgleichgewicht. Hypoplasie Ungenügende Ausbildung eines Organs bei vorhandener embryonaler Anlage. Hypovolämie Verminderung der zirkulierenden Blutmenge. Hypoxämie Herabgesetzter Sauerstoffgehalt im Blut (normal ca. 200 ml/l). Hypoxie Zustand eines verminderten Sauerstoffgehaltes in Zellen, der mit einer Störung der oxidativen Energiegewinnung in Geweben einhergeht. Iatrogen Durch ärztliche Einwirkung entstanden (Diagnostik, Therapie). Ikterus Gelbsucht. Gelbliche Verfärbung der Haut und Schleimhäute sowie innerer Organe und – besonders häufig – der Skleren durch Übertritt von Gallefarbstoffen aus dem Blut in die Körpergewebe, vor allem von Bilirubin bei Hyperbilirubinämie (ab ca. 34 μmol/l = 2 mg/dl Gesamtbilirubin im Serum). Illegale Drogen In der Rechtsprechung eine Gruppe von Substanzen unterschiedlicher Herkunft, Zusammensetzung und Wirkung, deren Herstellung und Handel unter Strafe gestellt sind (= Rauschgift). ILO-Klassifikation Von der internationalen Arbeitsorganisation (International Labor Office) vorgeschlagene formelhafte Kurzbezeichnung zur Beschreibung des Ausmaßes quarzstaubinduzierter Lungenveränderungen. Imprinting Modifikation der Genexpression durch Inaktivierung einer von zwei ererbten Genkopien. Diese physiologische Inaktivierung ist nicht zufällig, sondern für jedes

dem Imprinting unterworfene Gen ist festgelegt, ob die vom Vater oder die von der Mutter geerbte Kopie inaktiviert wird (siehe Prägung). Immundefekt Immundefizienz, Störung der normalen Immunität des Organismus. Immunglobuline Ig, Gammaglobuline: als Antikörper der spezifischen körpereigenen Abwehr dienende Plasmaproteine. Die Produktion der Ig erfolgt in Plasmazellen. Immunisation Immunisierung. Herbeiführen der Immunität eines Organismus. Aktive Immunität: durch direkten Kontakt des Organismus mit dem Antigen (z.B. durch Infektion, Impfung, Kontakt mit Allergen). Passive Immunität: Zufuhr von Immunglobulinfraktion bzw. Immunserum zum Schutz vor Infektionen oder Toxinen; Wirkungsdauer durchschnittlich 3–4 Wochen, da die Immunglobuline im Körper abgebaut werden. Immunität Angeborene oder erworbene spezifische Abwehr gegenüber Infektionen und Toxinen. Immunkomplexe Produkte der Antigen-Antikörper-Reaktion. Immunologische Überempfindlichkeitsreaktionen Typ I: anaphylaktischer oder Soforttyp (meist IgE-abhängig) Typ II: zytotoxischer Typ (Ig-abhängig) Typ III: Immunkomplex-Typ Typ IV: verzögerte Immunreaktion (T-Zell-abhängig) Implantate Stoffe oder Teile, die in den menschlichen Körper eingebracht werden, um bestimmte Ersatzfunktionen zu erfüllen. Sie können entweder für einen begrenzten Zeitraum oder auf Lebenszeit eingesetzt werden. Dazu gehören z.B. künstliche Herzklappen, Herzschrittmacher oder Gefäßimplantate. Im Gegensatz zu Transplantaten bestehen Implantate aus toter Materie (Alloplastik). Inaktivierung des X-Chromosoms (Lyonisierung)

Spezielle Form der genetischen Prägung, bei der eines der beiden X-Chromosomen in den Zellen weiblicher Individuen inaktiviert wird. Die Auswahl des zu inaktivierenden X-Chromosoms erfolgt in jeder einzelnen Zelle zufällig. Infarkt Intravitale Gewebenekrose, die durch Sauerstoffmangel (Hypoxie oder Anoxie) infolge einer raschen Verminderung der arteriellen Blutzufuhr (= Ischämie, siehe dort) verursacht wird. Infektion Ansteckung. Eindringen von Mikroorganismen (z.B. Bakterien, Viren, Pilze, Parasiten) in einen Makroorganismus (z.B. Mensch), wo sie überleben und sich vermehren. Inhalationsszintigraphie Prüfung der Ventilation mit Xenon133-haltigen Gasen. Initiation Im Rahmen der Karzinogenese: Transformation einer Zelle in eine neoplastische Zelle durch einen karzinogenen Faktor. Inkubationszeit Latenzperiode. Bei Infektionskrankheiten die Zeitspanne zwischen der Ansteckung und dem Auftreten von Krankheitszeichen; für die einzelnen Erkrankungen innerhalb gewisser Grenzen charakteristisch. Insertion Einfügung eines oder mehrerer Nukleotide in eine DNA-Sequenz. Inspiratorisches Reservevolumen Volumen, das nach einer normalen Inspiration noch zusätzlich eingeatmet werden kann. Interferone Von kernhaltigen Zellen nach Infektion durch Viren gebildete niedermolekulare Proteine, die als Hemmstoffe der intrazellulären Virusreplikation wirken. Interleukine

Lymphokine, die als Signalstoffe des Immunsystems wirken; als Mediatorsubstanzen verantwortlich für Induktion und Verlauf der T-Zell-vermittelten zytotoxischen Immunreaktion sowie der B-Zell-Aktivierung (Antikörperproduktion). Intron Abschnitt eines in Abschnitte aufgeteilten Gens, der keine kodierende Information für das Genprodukt enthält (Introns sind zwischen Exons eingeschaltet; siehe Exon). Invagination Einstülpung, Intussuszeption. Einstülpung eines Hohlorgan(teils) in sich selbst oder in ein Nachbarorgan. Invasion Charakteristikum eines malignen Tumors: aktives Einwachsen von Tumorzellen in das umgebende Gewebe mit Zerstörung der vorhandenen normalen Gewebestrukturen. Inzidenz Zahl der an einer bestimmten Krankheit Neuerkrankten in einer zahlenmäßig definierten Population innerhalb einer bestimmten Zeitspanne (Angabe meist pro 100000/Jahr). Ionisierende Strahlen Elektromagnetische Strahlen (Röntgen-, γ-Strahlen) und energiereiche geladene Partikel (z.B. α- und β-Strahlen), deren Energie groß genug ist (> 34 eV), um Elektronen aus der Hülle der Atome herauszulösen und diese damit zu ionisieren. Ischämie Blutleere. Verminderte arterielle Durchblutung eines Organs oder eines Gewebes infolge unzureichender (= relative Ischämie) oder völlig fehlender (= absolute Ischämie) Blutzufuhr. Der Ischämie liegt ein thrombotisch, thrombembolisch oder gefäßspastisch bedingter vollständiger (= absolute Ischämie) oder partieller (= relative Ischämie) Verschluss einer Arterie zugrunde. Kachexie Auszehrung. Karbunkel Konfluierende Furunkel. Kardiomyopathie

Erkrankung des Herzmuskels, die nicht Folge arteriosklerotischer Gefäßerkrankungen, Widerstandserhöhung im kleinen oder großen Kreislauf sowie von Herzfehlern ist. Karyogramm Idiogramm. Paarweise Anordnung der Chromosomen nach Länge, Lage des Zentromers, der Satelliten, sekundärer Einschnürungen und des Nukleusorganisators sowie nach dem Muster der Chromosomenbänder. Karyotyp Der für ein bestimmtes Individuum, eine Gruppe oder eine Art charakteristische Phänotyp des Chromosomensatzes in der Metaphase der Mitose. Karzinogen Initialer, krebsauslösender Faktor (chemische Substanz, Virus, ionisierende Strahlen etc.). Karzinogenese Ursache und Entstehung maligner Tumoren. Karzinom Maligner Tumor, der aus Zellen mit epithelialem Phänotyp besteht. Katheter-Ballon-Dilatation Therapeutische intravasale Gefäßaufdehnung durch wiederholtes Einbringen eines Katheters mit Ballon, der im kollabierten Zustand im Bereich der Gefäßstenose platziert und dort aufgeblasen wird. Dadurch kann die Gefäßlichtung erweitert und die Gefäßinnenwand geglättet werden. Ein Ballonkatheter ist ein Katheter aus Kunststoff mit meist endständigem aufblasbarem Ballonsegment. Keloid Wulstnarbe. Derbe, knotige bis bandartige, von Teleangiektasien durchsetzte gutartige Bindegewebewucherung, die bei der als fibroplastische Diathese bezeichneten Disposition spontan auftritt. Kinine Sammelbezeichnung für Gewebehormone, die bei Gewebeverletzungen und durch Bakterieneinwirkung aus ihren Vorstufen enzymatisch freigesetzt werden. Wirkungen: Steigerung der Gefäßpermeabilität, Vasodilatation, Blutdrucksenkung, Ödembildung, Kontraktion glatter Muskulatur.

Klon Genetisch einheitliche Nachkommensgruppe, die sich von einem Mutterorganismus (Zelle bzw. Einzeller) ableitet. Knalltrauma Einwirkung eines sehr hohen, kurzzeitigen (< 2 ms) Schalldrucks mit umschriebenem Haarzelluntergang im Innenohr am Übergang von der 1. zur 2. Schneckenwindung. Koagulationsnekrose Gewebeuntergang mit Verschorfung. Kokain Lokalanästhetikum, illegale Droge, mit zentralnervösen und vasokonstriktiven Eigenschaften. Kollagen Prolinreiche Skleroproteine. Drei Eiweißketten mit linksläufiger Helixstruktur sind zu einer rechtsdrehenden Tripelhelix verdrillt. Kolliquationsnekrose Gewebeuntergang mit Verflüssigung bzw. Auflösung. Komplementsystem Aus ca. 20 Glykoproteinen bestehendes komplexes Enzymsystem. Reagiert als Kaskade. Wichtiges Element der humoralen Resistenz. Kopplung Gemeinsame Vererbung von Genen oder DNA-Sequenzen an bestimmten Loci aufgrund ihrer räumlichen Nachbarschaft auf dem Chromatid. Koronare Herzkrankheit Begriff, der alle stenosierenden Erkrankungen der Koronargefäße, die zu einer unzureichenden Blutversorgung des Myokards führen, umfasst. Krankheit Subjektive oder objektive Störung der körperlichen und geistig-seelischen Gesundheit. Krebs

Allgemeine Bezeichnung für bösartige Geschwülste. Lärmschwerhörigkeit Gehörschaden durch eine andauernde Einwirkung hoher Schallpegel (Geräuschpegel) mit schweren degenerativen Veränderungen besonders der äußeren Haarzellen. Latenzzeit Zeit zwischen dem Beginn einer Schadstoffexposition und Manifestation der hierdurch induzierten Erkrankung, bei umweltbedingten Erkrankungen gewöhnlich lang. Letalität Zahl der an einer bestimmten Krankheit Verstorbenen, bezogen auf die Gesamtzahl der von dieser Krankheit betroffenen Personen. Leukämie Sammelbegriff für maligne Entartung, einhergehend mit Reifungsstörung weißer Blutzellen. Auftreten unreifer, von der Norm morphologisch und biochemisch unterscheidbarer Zelltypen v.a. im Blut und in Organen der Blutbildung. Die Krankheitserscheinungen entstehen allmählich durch Verdrängung normaler Blutzellen und Infiltration atypischer Zellen in Organe: Anämie, Blutungen (infolge Thrombozytopenie), Infektionen (infolge Granulozytopenie). Leukoplakie Klinischer Begriff, mit dem ein weißer, nicht wegwischbarer, flacher oder papillomatöser Herd an Schleimhäuten, Übergangsschleimhäuten oder der Genitalhaut bezeichnet wird, der weder klinisch noch histologisch einer Krankheit zugeordnet werden kann. Histologisch zeichnen sich Leukoplakien durch eine (Hyper-)Orthooder (Hyper-)Parakeratose und eine Epithelhyperplasie mit oder ohne Dysplasie aus. Leukotriene Aus Arachidonsäure unter Mitwirkung der 5-Lipoxygenase v.a. in Leukozyten entstehende Substanzen, die bereits in sehr geringen Mengen als Vermittlerstoffe der Entzündung bzw. der allergischen Reaktion wirken. Lipotropie Neigung bestimmter Stoffe, sich an Fett anzulagern. Lokus Ort im Genom.

Loss of heterozygosity (LOH) Siehe Heterozygotie. Lymphadenopathie Erkrankung der Lymphknoten. Lymphokine Substanzen, die v.a. von T-Lymphozyten nach Kontakt mit ihrem Antigen freigesetzt werden und die zellvermittelten Immunreaktionen wesentlich beeinflussen. Lyse Lyse 1. Auflösung von Zellen (Bakterien, Blutkörperchen) nach Zerstörung der Zellmembran durch Lysine. 2. Allmähliches Abklingen eines Krankheitsgeschehens (lytische Phase) bzw. des Fiebers (lytische Deferveszenz). Malabsorption Ungenügende Aufnahme von Nahrungsbestandteilen aus dem Verdauungstrakt, v.a. dem Dünndarm, infolge Störung der Verdauung (Maldigestion) oder der Resorption. Margination Adhärenz der Leukozyten und Thrombozyten an den Venolenwänden als passives, strömungsdynamisch ausgelöstes Phänomen; ermöglicht das aktive Emigrieren der Leukozyten in das Interstitium im Rahmen der unspezifischen Abwehrreaktion und die Interaktion der Thrombozyten mit dem Endothel. Marihuana Aus den getrockneten Blättern und Blüten der weiblichen Pflanze des indischen Hanfes hergestellte illegale Droge mit psychotroper Wirkung. Mediastinoskopie Inspektion des oberen Mediastinums über einen Hautschnitt oberhalb des Jugulums. Mediatoren Lösliche Zellprodukte, die von einer aktivierten Zelle abgegeben werden, um an benachbarten Zellen eine Wirkung hervorzurufen.

Meläna Teerstuhl. Durch Blutbeimengung aus dem Verdauungstrakt rötlich-schwarz verfärbter Stuhl – nach > 8-stündigem Verweilen des Blutes im Darm – durch Sulfide sowie Proto- und Deuteroporphyrine, „teerfarben“. Tritt z.B. bei Blutung aus Magen-, Darmgeschwüren und bei Blutgerinnungsstörungen auf. Menarche Zeitpunkt der ersten Menses. Menopause Zeitpunkt der infolge Nachlassens der Ovarialfunktion letzten Menstruation. Menorrhagie Verlängerte und verstärkte Menstruationsblutung. Mesothel Einschichtige Lage polygonaler Zellen an der Oberfläche der serösen Häute (Pleura, Perikard, Peritoneum). Mesotheliom Tumor der Mesothelien, gewöhnlich maligne. Metaplasie Reversible Umwandlung eines reifen, differenzierten Zelltyps/Gewebetyps in einen anderen differenzierten Zelltyp/Gewebetyp, z.B. Plattenepithelmetaplasie des respiratorischen Epithels. Metastasierung Verschleppung von Tumorzellen vom Primärtumor an einen anderen Ort mit Ausbildung einer Tochtergeschwulst (= Metastase). Die Verschleppung von Tumorzellen kann auf dem Lymphweg (lymphogen), auf dem Blutweg (hämatogen) oder über Flüssigkeit in Körperhöhlen (kavitär) erfolgen. Metrorrhagie Außerhalb der Menstruation auftretende Gebärmutterblutung. Mikroangiopathie Stenosierende bzw. obliterierende Veränderungen kleiner Arterien und Arteriolen.

Mikrowellen Energiearme elektromagnetische Strahlen (Frequenzbereich: 300 MHz bis 300 GHz), zur Erwärmung (z.B. von Lebensmitteln, zur Gewebeerwärmung in der Medizin) verwendet. Minimalasbestose Minimale Fibrose im Bereich der Bronchioli respiratorii mit Nachweis eingelagerter Asbestkörper in diesen Arealen (= Asbestose Grad I). Minithorakotomie Entnahme von Lungengewebe über einen 5–10 cm langen Schnitt der Thoraxwand entlang einer Rippe. Missense-Mutation Nukleotidaustausch, der zu einem Aminosäureaustausch führt. Daraus kann ein inaktives Protein oder ein Protein mit veränderten Eigenschaften resultieren. Mononeuritis multiplex „Springende Entzündung“ von peripheren Nervenstämmen, typischerweise nicht an Dermatome und eine Körperhälfte gebunden, synchron oder metachron auftretend. Monosomie Fehlen eines Homologen eines Chromosomenpaares bei ansonsten diploidem Chromosomensatz (z.B. bei Monosomie X). Mortalität Zahl der an einer bestimmten Krankheit Verstorbenen in einer zahlenmäßig definierten Population innerhalb einer bestimmten Zeitspanne (Angabe meist pro 100000/Jahr). Mosaik Gewebe oder Individuum, das aus zwei oder mehr genetisch unterschiedlichen Zelllinien besteht, die von einer Zygote abstammen. mRNA (Messenger-RNA = Boten-RNA) Einzelsträngige RNA, die durch Transkription eines DNA-Abschnitts synthetisiert wurde und als Matrize bei der Proteinsynthese dient. Muskeldystrophie

Meist rasch progrediente degenerative Muskelerkrankungen mit ausgeprägter Zerstörung von Muskelgewebe, assoziierter Entzündung und Ersatz der Muskulatur durch Binde- und Fettgewebe. Mutation Veränderung der DNA-Sequenz. Myelin Komplexes Membranlipid, das bemarkte Nervenfasern zur Erhöhung der Nervenleitgeschwindigkeit umwickelt. Produkt Schwann'scher Zellen im peripheren, von Oligodendrozyten im zentralen Nervensystem. Myeloproliferative Syndrome Chronische Krankheiten mit progredient gesteigerter Blutzellbildung. Mykose Durch Pilze verursachte Krankheit. Myoglobinämie Myoglobin (dem Hämoglobin ähnlicher Eiweißkörper im Muskel) im Blut nach großen Muskelbelastungen. Myopathien Erkrankungen der Skelettmuskulatur im weitesten Sinn. Meist langsam progrediente degenerative primäre Veränderungen der Skelettmuskulatur aufgrund metabolischer, toxischer oder anlagebedingter Störungen. Myositiden Entzündliche Muskelkrankheiten, entweder durch direkte pathogene Noxen wie Erreger und Toxine, durch immunpathologische Vorgänge mit Autoantikörperbildung (bei Polymyositis und Dermatomyositis) oder durch Strukturdefekte (Einschlusskörpermyositis) bedingt. Myxödem Primäre Anreicherung schleimartiger Substanzen (proteingebundene Polysaccharide; saure Mucopolysaccharide vom Typ Hyaluron- und Chondroitinschwefelsäure) in der Leder- und Unterhaut; umschrieben als Myxodermie bezeichnet. Nanotechnologie

„Nano“ bedeutet auf Griechisch „Zwerg“. Schaffung und Benutzung von Materialien, Geräten und Systemen und Beobachtung von Objekten, deren Dimensionen sich im Nanometerbereich befinden. Nekrose Summe aller morphologischen Veränderungen, die dem Zelltod in einem lebenden Gewebe oder Organ folgen. Die Nekrose ist Folge der Denaturierung von Proteinen und der enzymatischen Auflösung von Zell- und Gewebekomponenten. Neointima Neubildung einer Intima-ähnlichen Schicht aus Myofibroblasten und Bindegewebe auf der Innenseite von Kunststoffprothesen. Neoplasie Tumor (siehe dort). Nervenleitgeschwindigkeit Messbare Leitgeschwindigkeit von peripheren Nerven in der Elektroneurographie bei standardisierter Temperatur und altersentsprechenden Normwertetabellen. Maß der Erhaltung bemarkter Nervenfasern (bis maximal 80 m/s). Neurogene Muskelatrophie Ausfall von Muskelfasern respektive Atrophie von motorischen Einheiten durch Ausfall von motorischen Nervenfasern entweder peripherer oder zentraler Ursache. Neuronopathie Erkrankungen des neuronalen Zellkörpers (Perikaryon) inklusive seiner Fortsätze (Dendriten und Neuriten). Neuropathien Gesamtheit der peripheren Nervenkrankheiten durch unterschiedlichste Noxen (genetisch, nutritiv, toxisch, metabolisch, traumatisch, vaskulär, immunologisch). Non-disjunction Nichttrennen, Ausbleiben der Trennung 1. eines Chromosomenpaares während der Meiose, wobei Ei- bzw. Samenzellen mit einem überzähligen bzw. einem fehlenden Chromosom entstehen; häufigste Ursache einer Trisomie (nummerische Chromosomenaberration)

2. der Schwesterchromatiden eines Chromosoms bei einer mitotischen Zellteilung; Folge: Entstehung von Körperzellen mit verschiedenen Chromosomensätzen („Mosaik“), d.h. beim Menschen mit 46, 47 oder 45 Chromosomen. Nonsense-Mutation Mutation innerhalb eines Codons, die dieses zu einem Stopp-Codon macht. Bei der Translation wird die Proteinkette an dieser Stelle abgebrochen und das Produkt meist sofort wieder abgebaut. Nosologie (griech.: nosos = Krankheit). Lehre von den Krankheiten. Die Begriffe Pathologie und Nosologie werden oft synonym verwendet. Noxe Faktor, der eine Gewebeschädigung hervorruft. Ödem Abnorme Ansammlung seröser, nicht gerinnender Flüssigkeit im Interzellularraum. Ödem, intrazelluläres Syn.: hydropische Zellschwellung, trübe Schwellung. Zellvergrößerung v.a. durch Vergrößerung des Zytoplasmas infolge vermehrten Einstroms von Natrium, Kalzium und Wasser. Oligämie Verminderung der zirkulierenden Blutmenge. Oligurie Verminderte Harnproduktion und/oder -ausscheidung (Tagesmenge < 500 ml; um ca. 100 ml auch als Oligoanurie bezeichnet). Onkogen Gen, das über ein Protein das Tumorwachstum induziert. Mutiertes oder dysreguliertes Allel von normalen zellulären Genen, die als Protoonkogene bezeichnet werden. Wirkt meist dominant. Onkozyt

Epithelzelle mit breitem, stark eosinophil gefärbtem, granuliertem Zytoplasma. Die Granula sind das morphologische Korrelat einer Akkumulation von vergrößerten Mitochondrien. Opportunistisch-pathogene Erreger Im Organismus als apathogen vorhandene, erst nach immunschwächender Vorkrankheit (auch als Folge von Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes mellitus) sich pathogen verhaltende Keime. Opsonine Körpereigene Stoffe, die durch Anlagerung („opsonieren“) an Bakterien, Pilze, Immunkomplexe und andere Fremdkörper deren Phagozytose begünstigen und so v.a. der Infektionsabwehr dienen. Osteochondrodysplasie Eine Gruppe von primären (anlagebedingten) Störungen in Organisation und Architektur von Knochen- und Knorpelgewebe, häufig auf den Defekt eines einzelnen Gens zurückzuführen. Osteomalazie Knochenerweichung. Generalisierte Skelettveränderung mit unzureichender Mineralisation der Grundsubstanz infolge Kalzium- und Phosphat-Minderangebotes oder -entzugs. Bei Vitamin-D-Mangel, Malabsorption, Vitamin-D-Resistenz, Stoffwechselerkrankungen. Osteoporose Metabolische Osteopathie ungeklärter Ätiologie mit lokalisierter oder universeller Verminderung von Knochengewebe. Dadurch Minderung der mechanischen Belastbarkeit, Neigung zu Frakturen und Spontanverformung. Overload-Phänomen Überlastung der Reinigungsmechanismen der Lungen durch sog. inerte Stäube. Pandemie Auf große Gebiete eines Landes oder Erdteils übergreifende Epidemie. Pannus Gelenkoberfläche bedeckendes gefäßreiches Granulationsgewebe, das den Gelenkknorpel und später den Knochen enzymatisch zerstört.

Papanicolaou-Abstrich Vaginalabstrich (seitl. Scheidenwand) für hormonale Diagnostik; Zervix, Portio oder hinteres Scheidengewölbe für Krebsdiagnostik mit anschließender Färbung nach Papanicolaou (PAP). Paraneoplasie Paraneoplastische Syndrome sind Fernwirkungen, bedingt durch eine Stoffwechselleistung eines Tumors, unabhängig von dessen Lokalisation, Größe oder Struktur. Paraneoplastisch entstehen z.B. das Tumorfieber, tumorinduzierte Anämien, hormonähnliche Wirkungen. Parapneumonisches Pleuraempyem Pleuraempyem als Komplikation einer Pneumonie. Parasit Schmarotzer. Ein- oder mehrzellige Pflanze oder Tier, das sich auf oder in einem anderen Lebewesen auf dessen Kosten ernährt, mit oder ohne Verursachung von Krankheitserscheinungen. Parietalthrombus Wandständig, oft exzentrisch geschichteter Thrombus. Partialdruck Für die Untersuchungen des Gasaustausches in der Lunge ist es zweckmäßig, die O2und CO2-Anteile im alveolären Gasgemisch in Partialdruckeinheiten anzugeben. Jedes Gas in einem Gasgemisch übt, entsprechend seinem Anteil, einen Partialdruck aus, d.h., PaO2 und PaCO2 geben wichtige Auskünfte über die Ventilation. Partielle respiratorische Insuffizienz Verminderter Sauerstoffpartialdruck (PaO2) im Blut. Pathogenese Entstehung und Entwicklung eines krankhaften Geschehens (im Unterschied zur Ursache = Ätiologie). Pathologie (griech.: pathos = leiden, logos = Lehre). Lehre der krankhaften Organ- und Gewebeveränderungen.

Penetranz Klinisch auffälliger Anteil an Trägern einer Mutation (Manifestationswahrscheinlichkeit der Mutation). Perineurium (-mysium) Bindegewebige Umhüllung von Primärfaszikeln von peripherem Nerv bzw. Skelettmuskulatur. Peripheres Myelinprotein 22 (PMP 22) Spezifisches peripheres Myelinprotein mit 4 Transmembrandomänen und einer Größe von 22 kD. Perkutane Nadelbiopsie Punktion von Organen durch die Haut unter radiologischer oder sonographischer Kontrolle. Perfusionsszintigraphie Darstellung der Lungengefäße nach Injektion von radioaktiven Partikeln. Phänotyp Erkennbare Eigenschaften oder Merkmale (auch Krankheiten) einer Zelle oder eines Organismus, die durch die genetische Konstitution (Genotyp) bestimmt werden. Phagozytose Aktive Aufnahme unbelebter oder belebter Partikel in das Innere einer Zelle zwecks Nahrungsaufnahme oder zur Eliminierung von Fremdelementen nach deren Markierung mit Opsoninen oder Antikörpern, v.a. als Mechanismus der unspezifischen Infektionsabwehr durch Phagozyten. Phlegmone Nichtbegrenzte, diffuse leukozytäre Entzündung. Physische Abhängigkeit Das körperliche Angewiesensein auf eine fortlaufende Zufuhr der Giftstoffe, wobei die Dosis nicht selten permanent erhöht wird. Pickwick-Syndrom

Alveoläre Hypoventilation bei hochgradiger Fettsucht infolge der vermehrt zu leistenden Atemarbeit und der gesenkten funktionellen Reservekapazität bei Zwerchfellhochstand mit nachfolgender Schlafneigung. Pinozytose Aufnahme von gelösten, z.T. hochmolekularen Stoffen in das Zellinnere, teils durch Pseudopodien, teils als „Mikro-Pinozyose“ durch sog. Vesikulation. Wahrscheinlich eine elementare Leistung aller lebenden Zellen, von Bedeutung z.B. für die Fettresorption (Chylomikronen) in Dünndarm und Leber. Plasmide Extrachromosomale Gene in Bakterien, die direkt oder durch Bakteriophagen auf andere Zellen übertragen, evtl. auch in deren Genom eingebaut werden können und dem Wirt neue, unter normalen Bedingungen entbehrliche Eigenschaften verleihen (z.B. Penicillinasebildung, Resistenzfaktoren). Plasmide werden als Vektoren in der Gentechnologie verwendet. Pleuraempyem Eitriges Exsudat in der Pleurahöhle. Pleuraerguss Abnorme Flüssigkeitsansammlung in der Pleurahöhle. Pleurahauptschicht Nerven- und gefäßführende Schicht der Pleurablätter, durch elastische Lamellen begrenzt. Pleurahöhle 10–20 μm breiter Spaltraum zwischen den beiden Pleurablättern, der Pleura visceralis und der Pleura parietalis (= Pleuraraum). Pleura parietalis Dünne Haut, die die innere Oberfläche des Brustkorbs, des Mediastinums und des Zwerchfells auskleidet (= Rippenfell). Pleuraplaques Umschriebene, hyaline Pleuraverdickungen, bei ca. 80% der Patienten infolge einer früheren Asbestexposition. Pleuraraum

s. Pleurahöhle. Pleura visceralis Dünne Haut, die die gesamte Lungenoberfläche einschließlich der interlobulären Septen überzieht (= Lungenfell). Pleuritis Entzündung der Pleurablätter. Pleuritis exsudativa Serofibrinöse Pleuritis mit Begleiterguss. Pleuritis sicca Fibrinöse Pleuritis ohne Begleiterguss. Pneumokoniosen Inhalationsschäden der Lungen, die durch anorganische oder organische Schwebestäube mit einem maximalen aerodynamischen Durchmesser von etwa 1–5 μm hervorgerufen werden. Pneumonie Diffuse oder herdförmige, exsudative oder proliferative Entzündung der Lunge. Pneumothorax Luft im Pleuraspalt. PCR Polymerase Chain Reaction (Polymerasen-Kettenreaktion). Polymorphie, Polymorphismus Polymorphie, Polymorphismus 1. Häufiges Vorkommen zweier oder mehrerer Allele an einem Genlokus. Mit Polymorphismus wird hier die genetische Vielfalt einer Population an einem Genlokus bezeichnet. 2. Der Unterschied in der Abfolge der 3 × 109 Nukleotide des menschlichen Genoms wird als (Sequenz-)Polymorphismus (single nucleotide polymorphism) bezeichnet und in genetischen Analysen verwendet.

Polyp Makroskopischer Sammelbegriff für verschiedene gestielte, umschriebene Schleimhautvorwölbungen unterschiedlicher Morphologie: als angiomatöser (gefäßreicher) oder lipomatöser Polyp (submuköses Angiom oder Lipom); entzündlicher (Granulationsgewebe-)Polyp; hyperplastischer Polyp oder als neoplastischer Polyp (Schleimhautadenom; tubuläres, villöses oder tubulovillöses Adenom); v.a. in Hohlorganen (Magen, Darm, Harnblase, Uterus, Zervix), Nasennebenhöhlen. Polyploidie Genom, bestehend aus > 2 vollständigen haploiden Chromosomensätzen, z.B. als Tri(3n) oder als Tetraploidie (4n). Polypose Vorhandensein mehrerer bis zahlreicher Polypen, meist erblich bedingt. Prägung von Genen Physiologische Inaktivierung von Genen: Ein „maternal geprägtes“ Gen ist inaktiviert und wird nur von dem vom Vater ererbten Allel exprimiert (siehe Imprinting). Präkanzerose Morphologisch und klinisch definierter Zustand, der mit einer erhöhten Inzidenz maligner Tumoren einhergeht. Prämutation Genetische Instabilität im Genom (z.B. durch zu häufige Repetition bestimmter Sequenzen), die das Auftreten von Mutationen stark begünstigt. Prävalenz Zahl der an einer bestimmten Affektion erkrankten Personen in einer zahlenmäßig definierten Population zu einem definierten Zeitpunkt (Angabe meist pro 100000/Stichdatum). Probeexzision Chirurgische Gewebeentnahme zur histologischen Untersuchung. Prognose Erwarteter Verlauf einer Krankheit.

Protein Zero oder Protein Null (P0) Peripheres Myelinprotein. Dient der Adhäsion und Kompaktierung von Myelinlamellen. Proteomics Auftrennung und Visualisierung komplexer Proteingemische meist mit Hilfe einer 2DGel-Elektrophorese und eine darauf folgende Identifizierung der Proteine durch Massenspektrometrie. Prothesen (Endoprothesen) Künstlicher Ersatz von Körperteilen. Endoprothesen bestehen aus Fremdmaterialien (Metalle/Kunststoffe), die in das Innere des Körpers eingebracht werden. Prozessierung, „Processing“ Prozessierung, „Processing“ 1. Molekularbiologie: Reifungsprozess des primären Transkriptionsproduktes (RNA-Strang) zur funktionalen RNA (m-RNA, r-RNA, t-RNA) bei der Biosynthese von Zellprodukten. 2. Immunologie: Aufnahme, Fragmentierung und Präsentation eines Antigens auf einem „Self“-MHC-Molekül auf der Oberfläche einer antigenpräsentierenden Zelle. T-Lymphozyten können effizient nur an Proteinfragmente binden, die in der Grube von „Self“-MHC-Molekülen „präsentiert“ werden. Psammomkörper Sandkörperchen. Hyalinisierte, zwiebelschalenartige Partikel mit Kalkinkrustation, z.B. in Tumoren. Pseudogen Im normalen Genom nachweisbare und einem Gen ähnliche DNA-Sequenz, der aber keine Funktion zukommt. Pseudomesotheliomatöses Wachstum Imitation des makroskopischen Wachstumsmusters maligner Mesotheliome durch Metastasen. Pseudopolyposis

„Entzündliche Polyposis“, vorgetäuscht durch Schleimhautregenerate oder -reste (z.B. bei Colitis ulcerosa, Enteritis regionalis) oder durch vergrößerte Lymphfollikel (bei Ileitis follicularis). Pseudozyste Falsche Zyste. Zystisches Gebilde mit primär nur bindegewebiger Kapsel ohne Epithelauskleidung, z.B. als Erweichungszyste (u.a. nach Hirnerweichung); ferner durch Abräumung von Granulationsgewebe. Psychische Abhängigkeit Psychische AbhängigkeitZwanghaftes Verlangen, um einen angenehmen psychischen Zustand zu erreichen bzw. einen unangenehmen zu vermeiden. Punktmutation Mutation, die die DNA-Sequenz durch Austausch eines einzigen Nukleotids verändert. Pulmonalangiographie Darstellung der Pulmonalarterien mit Kontrastmittel. Pulmonale Fremdkörpervaskulitis Perivasale Fremdkörpergranulome durch die intravenöse Injektion von unlöslichen Substanzen, die nicht für die parenterale Applikation bestimmt sind (z.B. bei Drogenabhängigen). Pulmonalisdruck In Ruhe liegt der mittlere pulmonal-arterielle Druck unter 20 mmHg und soll unter Belastung 30 mmHg nicht übersteigen. Pathologische Druckwerte über 40 mmHg werden bei fortgeschrittenen Atemwegserkrankungen und Lungengerüsterkrankungen in Kombination mit einer Hypoxämie (Reduktion der O2-Konzentration im Blut) gemessen. Punktionszytologie Aspiration von Zellen mit Hilfe von Punktionsnadeln (Feinnadelpunktion). Purpura Spontane, kleinfleckige („petechiale“) Kapillarblutungen in Haut, Schleimhaut und Subkutis bei hämorrhagischer Diathese. Pyopneumothorax

Pneumothorax mit zusätzlicher eitriger Entzündung. Radikulitis (Polyradikulitis) Entzündliche, meist demyelinisierende Nervenerkrankung der Spinal- und Hirnnervenwurzeln, d.h. im Bereich des Ein- oder Austrittes von peripheren Nervenfasern in das Zentralnervensystem (sog. zentro-periphere Übergangszone), z.B. bei Guillain-Barré-Erkrankung. Radikal Verbindungen, welche ungepaarte Elektronen enthalten; meist kurzlebige, intermediäre Reaktionsprodukte. Radiowellen Energiearme elektromagnetische Strahlen (Frequenzbereich: 10 kHz bis 300 GHz). Rauschgift In der Rechtsprechung eine Gruppe von Substanzen unterschiedlicher Herkunft, Zusammensetzung und Wirkung, deren Herstellung und Handel unter Strafe gestellt sind (= illegale Drogen). Rauschmittel Stoffe, die eine direkte Einwirkung auf das zentrale Nervensystem besitzen (= Betäubungsmittel). Raynaud-Phänomen Anfallsweise auftretende Gefäßkrämpfe, meist an den Arterien der Finger, mit hierdurch bedingter Ischämie. Reflux Rückfluss. Regeneration, physiologische Ersatz von abgestoßenen oder abgebauten Zellen in Geweben mit physiologischem Zellverlust (s. auch Apoptose). Regeneration, reparative Restitutio ad integrum (siehe dort). Rekanalisation

Rekanalisation 1. Wiederdurchgängigwerden eines durch Thrombose verschlossenen Gefäßes durch lichtungsbildende Einsprossung von Endothel in das organisierte Gerinnsel. 2. Chirurgische Plastik zur Wiederherstellung der Durchgängigkeit eines verlegten Hohlorgans. Remission Vorübergehendes Nachlassen von Krankheitszeichen, jedoch ohne Erreichen der Genesung. Reparation Unvollständige reparative Regeneration = Defektheilung. Residualvolumen Volumen, das nach maximaler Exspiration in der Lunge verbleibt. Resistance Atemwegswiderstand: dient zum Nachweis oder Ausschluss einer endobronchialen Obstruktion. Respiratorische Insuffizienz Herabsetzung der Effektivität der Atmung durch pulmonale oder extrapulmonale Ursachen, die in einer Veränderung der Blutgaswerte sichtbar wird. Respiratorischer Quotient Verhältnis von CO2-Abgabe zu O2-Aufnahme. Resistenz Summe aller Schutzmechanismen des Organismus gegenüber Einflüssen, die seine funktionelle oder strukturelle Organisation stören können. Restitutio ad integrum Völlige Heilung bzw. vollständige Wiederherstellung ohne bleibenden Defekt. Rezessiv Merkmal, das nur im homozygoten Zustand (d.h., beide Allele kodieren für das Merkmal) durch einen Phänotyp deutlich wird (siehe dominant).

Riesenzellen Enthalten einen großen Zellleib und ggf. zahlreiche Zellkerne. Riesenzellen kommen als Synzytium von Histiozyten vor, können durch zytopathische Effekte, z.B. von Viren, und bei Tumoren durch Endomitose entstehen. Rezidiv Erneutes Auftreten einer Krankheit nach symptomfreiem Intervall. Sarkom Maligner Tumor, der aus Zellen mit mesenchymalem Phänotyp besteht. Schleimbeutelhygrom Vergrößerung des Schleimbeutels durch Flüssigkeitsansammlung bei Störung der Resorption. Schnellschnittuntersuchung, intraoperative Mikroskopische Untersuchung am Gefrierschnitt entnommener Gewebeproben. Erfolgt während einer Operation. Schock Generalisiertes lebensbedrohliches Versagen der Mikrozirkulation mit Gewebeschädigung durch Hypoxidose. Alle Formen des Schocks führen zur Mangeldurchblutung der terminalen Strombahn. Die daraus resultierende Beeinträchtigung der Funktion wichtiger Organsysteme stellt eine lebensbedrohliche Situation dar, die sich progressiv über verschiedene Stadien entwickelt. Schrittmacher Künstliche Herzschrittmacher sind ein elektronischer Impuls-Generator bei der Elektrotherapie des Herzens zur Elektrostimulation des Myokards. Einsatz erfolgt entweder extern – mit äußeren Elektroden für kurzzeitigen Einsatz – oder intern implantiert – mit Übertragung der Impulse mit i.v. verlegten Elektroden für bleibenden Einsatz. Segmentale Demyelinisierung Entmarkung einer bemarkten Nervenfaser in einem Myelinsegment (von einem Ranvier'schen Knoten zum nächsten). Sensibilisierung

Erzeugung einer Immunantwort durch ein Antigen und anschließende Antikörperbildung. Sensitivität Sensitivität eines diagnostischen Tests ist der Anteil der Kranken mit positivem Test, bezogen auf alle getesteten Personen. Sepsis Einschwemmung virulenter Bakterien mit ihren Toxinen in das Blut bei inadäquater Abwehrlage des Organismus. Geht mit schweren allgemeinen Krankheitssymptomen einher. Sie führt zu einer ungehemmten Freisetzung von Mediatoren des Entzündungs, Gerinnungs- und Komplementsystems. Ein ähnlicher Symptomenkomplex, SIRS (systemic inflammatory response syndrome), kann auch ohne Erreger nach einem schweren Trauma oder bei anhaltender Gewebehypoxie entstehen (Freisetzung von Lipopolysacchariden, Wirkung von Kalzitonin). Septikopyämie Einschwemmung von Bakterien (oder Pilzen) in das Blut mit Absiedlung der Erreger und eitriger Entzündung (= metastatisch-pyämische Abszesse) in verschiedenen Organen. Sequenz Eine umschriebene Ausgangsfehlbildung zieht eine Folge („Kaskade“, „Sequenz“) weiterer Störungen nach sich. Die Pathogenese des Gesamtkrankheitsbildes ist somit abschnittsweise bekannt; hingegen ist der Auslöser der primären Störung und damit die Ätiologie unbekannt. Serpentinasbest Aus biegsamen Fasern bestehender Asbest, der dazu neigt, sich in die Elementarfibrillen aufzuspleißen (Chrysotil = Weißasbest). Serumkrankheit Nach erstmaliger, v.a. aber nach wiederholter parenteraler Zufuhr von artfremdem (xenogenem), ausnahmsweise auch artgleichem (allogenem) Eiweiß (als Heilsera) auftretende Symptomatik, meist zwischen 6. und 11. Tag nach Injektion, d.h. nach Antigengabe. Shunt-Effekt Die Alveolen werden ausreichend mit Blut versorgt, aber gleichzeitig mit zu wenig Sauerstoff. Das Ventilations-Perfusions-Verhältnis sinkt auf unter 0,8.

Silikose Progrediente Lungenfibrose infolge der Einwirkung lungengängigen quarzhaltigen Staubes. Silikotisches Narbenkarzinom Karzinom auf dem Boden einer silikotischen Narbe/kanzerogenen Wirkung (?) von kristallinem Quarz auf die Epithelzellen der mittleren und tiefen Atemwege. Silikotuberkulose Nachweis einer aktive Tuberkulose neben einer eindeutigen Silikose. Spannungspneumothorax Pneumothorax mit ständigem Druckanstieg aufgrund eines Ventilmechanismus sowie hierdurch bedingter zunehmender Lungenkompression und schließlich tödlicher Mediastinalverlagerung. Spezifische Strukturanomalien Lichtoptisch sichtbare charakteristische Veränderungen der myofibrillären Sarkoplasmastruktur einer Muskelfaser (z.B. fadenartige Kondensate bei NemalineMyopathie). Spezifität Eignung einer (Labor-)Methode, bei Gesunden keine falsch positiven Werte zu erhalten; errechnet als Anteil der richtig negativen Ergebnisse, geteilt durch die mit Vergleichsmethoden ermittelte Gesamtzahl der Gesunden unter den Probanden. Spontanpneumothorax Luft im Pleuraspalt ohne vorausgegangenes Trauma, z.B. infolge der Ruptur einer Emphysemblase. Staging Einstufung bösartiger Geschwülste anhand ihrer kontinuierlichen Ausbreitung innerhalb des Organs und in die Nachbarorgane (siehe auch TNM-System). Statische Compliance Maß für die Steifigkeit (Kehrwert) des Lungengewebes. Gemessen werden der Ösophagusdruck zu Beginn und am Ende einer Inspiration und das eingeatmete Luftvolumen. Die Inspiration erfolgt sehr langsam, um eine Beeinflussung durch evtl.

Strömungswiderstände zu verhindern. Als Wert gibt man die Volumenänderung der Lunge pro Druckdifferenz an (Norm: 0,03–0,05 kPa). Stenose Einengung eines Lumens (Blutgefäß, Magen-Darm-Trakt und andere Hohlorgane; Herzklappen). Stent Alle Endoprothesen zur inneren Schienung von stenosierten Gefäßen von Hohlorganen. Aller Wahrscheinlichkeit nach benannt nach Sir Charles Stent, einem Dentisten aus London (1848–1901) oder abgeleitet vom englischen Wort to extend = erweitern. Stoffwechselkrankheiten, angeborene Störungen des Intermediärstoffwechsels durch Genmutationen, die zu Enzymdefekten führen. Strahlenvaskulopathie Infolge der strahleninduzierten Permeabilitätssteigerung der Endothelien kommt es zu einer Insudation von Blutplasma in das subendotheliale Gewebe, das die Fibroblasten zur vermehrten Produktion von kollagenen Fasern und Proteoglykanen stimuliert und zu einer irreversiblen hochgradigen stenosierenden Intimafibrose mit nachfolgenden chronischen Durchblutungsstörungen führt. Struma Kropf. Vergrößerung der Schilddrüse als Folge einer mangelhaften Jodversorgung oder Störung des Enzymsystems der Schilddrüsenfollikel (mit Jodfehlverwertung). Suralisbiopsie Periphere Nervenbiopsie hinter und oberhalb des Malleolus lateralis zur neuropathologischen Diagnostik. Symptom Zeichen. In der Medizin als Krankheitszeichen. Syndrom Syndrom wird im Sprachgebrauch der klinischen Genetik für Fehlbildungen und Krankheiten verwendet, deren primärer Auslöser (Ätiologie) klar ist. Das „DownSyndrom“ ist z.B. eindeutig auf eine Trisomie des Chromosoms 21 zurückzuführen;

die Pathogenese der verschiedenen Symptome/Fehlbildungen darf dabei unbekannt sein. Notabene:„Syndrom“ ist einer der meistgebrauchten Begriffe in der Medizin und wird häufig im Sinne der „Assoziation“ verwendet, d.h., wenn man auf eine „unverständliche“ Bündelung von Symptomen trifft. Synovia Gelenkflüssigkeit, durch die Synovialis sezerniert. Synovialis Synovial-(Gelenk-)Membran. Teleangiektasie Erweiterung der Endstrombahngefäße, hauptsächlich der Hautgefäße. Tendovaginitis Entzündung der Sehnenscheiden. Teratogene Determinationsperiode Kritischer Zeitraum, in dem eine sich entwickelnde Organanlage empfindlich auf Umweltschäden reagiert. Die Determinationsperiode ist für Lokalisation und Art der Fehlbildungen von entscheidender Bedeutung. Teratogenität Fähigkeit von chemischen Substanzen (z.B. Thalidomid, Retinoide, Alkohol), physikalischen Faktoren (z.B. ionisierende Strahlung) oder biologischen Noxen (z.B. Viren), kongenitale Fehlbildungen zu verursachen. Teratologie Lehre von den Fehlbildungen. Teratom Tumor, der wahrscheinlich aus pluripotenten Zellen entsteht bzw. besteht und dementsprechend verschiedenartige Gewebe ausbilden kann. Teratom, reifes Enthält ausgereifte Gewebekomponenten und ist meist gutartig. Teratom, unreifes

Embryonales Teratom. Mit wenig differenziertem, embryonal anmutendem epithelialem und mesenchymalem Gewebe. Meist bösartig. Thorakoskopie Untersuchung der Pleurahöhle mithilfe eines optischen Instrumentes. Thorakotomie Operative Eröffnung der Pleurahöhle. Thrombose Blutgerinnsel im Gefäßsystem. Entstanden durch intravitale intravasale Blutgerinnung. Zu unterscheiden vom sog. Leichengerinnsel, d.h. der postmortalen intravasalen Gerinnung. Thrombozythämie Hochgradige (> 106/μl), bleibende Vermehrung der Thrombozyten im Blut. Thrombozytopenie Verminderung der Thrombozytenzahl (< 150000/μl = 150 G/l) im peripheren Blut; entweder infolge verkürzter Thrombozytenüberlebenszeit (Thrombozytolyse) oder als Bildungsstörung. Thrombozytose Beim Blutnormalen reaktive Vermehrung der Thrombozyten, z.B. nach Blutung, Operation, Splenektomie. Tiffenau-Test Forciertes 1-Sekunden-Volumen (FEV1): Atemstoßtest zur Bestimmung der Sekundenkapazität. Der Tiffenau-Wert gibt an, welcher prozentuale Anteil der Vitalkapazität nach maximaler Inspiration innerhalb einer Sekunde ausgeatmet werden kann (Normalwert: 75–85 %). Tinnitus Ohrklingen. Tod Exitus letalis. In Phasen ablaufender Vorgang des Versagens der Lebensfunktionen. Irreversibles Versagen aller lebenserhaltenden Prozesse, d.h. Stillstand von Atmung, Kreislauf und Aktivität des Zentralnervensystems.

Totalendoprothese (TEP) Alloplastische Endoprothese zum Ersatz eines Gelenkes, insbesondere des Hüftgelenks. Die Komponenten werden mit Knochenzement im Knochen fixiert oder zementfrei verankert. Totalkapazität Summe von Vitalkapazität und Residualvolumen. Totraumeffekt Die Alveolen sind ausreichend belüftet, aber mangelhaft durchblutet. Das Ventilations-Perfusions-Verhältnis steigt auf über 0,8. Transbronchiale Biopsie (TBB) Entnahme von Gewebestücken des Lungenparenchyms nach Penetration der Bronchialwand mit kleinen Biopsiezangen. Transformation, maligne Durch Karzinogene (chemisch, ionisierende Strahlen, onkogene Viren) in der DNA von Zellen hervorgerufene Mutationen, die auf die Tochterzellen übertragen werden. Transgene Mutierte oder fremde Gene, die auf einen tierischen oder pflanzlichen Organismus übertragen werden (oft durch Injektion von DNA in befruchtete Eizellen). „Transgene“ sind Organismen, auf die fremde Gene oder zusätzliche Kopien eines normalen eigenen Gens übertragen worden sind. Die Übertragung eines mutierten Gens (nicht Ersatz der normalen Genkopie) führt zu einem sog. „Knockout“. Transkription Synthese einer einzelsträngigen mRNA anhand der DNA-Sequenz eines Gens. Translation Synthese der Polypeptidkette von Proteinen mit der Aminosäuresequenz entsprechend der genetischen Information der mRNA. Translokation Austausch von Chromosomenabschnitten zwischen nicht homologen Chromosomen. Transplantatabstoßung

Durch Immunreaktion bedingte Wirt-Transplantat(„host-versus-graft“)-Reaktion zur Abstoßung des Transplantats. Transplantation Transplantation 1. Einpflanzung lebender Zellen (einschl. Bluttransfusion), Gewebe oder Organe an eine andere Stelle des gleichen Organismus (= autogene = autologe = Autotransplantation). 2. In einen anderen Organismus derselben Spezies (z.B. Herz-, Nierentransplantation) (allogene Transplantation). Transsudat Stauungserguss in Körperhöhlen (Eiweißgehalt < 3 g/dl). Triplet Dreiergruppe von Nukleotid-Bausteinen für die DNA (Trinukleotid). Triploidie Vorliegen von 3 haploiden Chromosomensätzen. Trisomie Vorhandensein eines vollständigen, zu den 2 normalen Allelen zusätzlichen Chromosoms (z.B. Trisomie 21). tRNA (Transfer-RNA) Kleines RNA-Molekül, das als Transporter und Überträger einer Aminosäure bei der Polypeptidsynthese dient. Tumor Syn.: Geschwulst, Neoplasma, Neoplasie. Abnorme Gewebemasse, die durch unregulierte oder unvollständig regulierte und fortschreitende Vermehrung von körpereigenen entarteten Zellen (Tumorzellen) entsteht. Tumor, bösartiger (maligner) Tumor, der Zellen mit maligner Transformation enthält, wächst i.A. rascher als ein gutartiger Tumor, invadiert und zerstört das umgebende Gewebe und metastasiert. Ein maligner Tumor führt unbehandelt zum Tode des Patienten. Tumor, gutartiger (benigner)

Tumor, der i.A. langsam wächst und gut gegenüber dem umgebenden Gewebe abgegrenzt und damit operabel ist. Er destruiert das umgebende Gewebe nicht. Er gefährdet i.A. das Leben des Erkrankten nicht, kann jedoch aufgrund lokaler Verdrängungsprozesse (im Schädel, Kompression eines Ganges) sowie seiner Funktion (z.B. Hormonsekretion) lebensgefährlich werden. Tumor, semimaligner Lokal invasiv und destruierend wachsender Tumor, der jedoch nicht metastasiert (z.B. Basalzellkarzinom). Tumormarker Substanzen, deren Auftreten oder erhöhte Konzentration in Körperflüssigkeiten (v.a. Serum) einen Zusammenhang mit dem Vorhandensein und/oder Verlauf von Tumoren aufweist: Tumorantigene, Enzyme, Hormone. Tumorsuppressorgen Gen, das an der Hemmung der Zellproliferation beteiligt ist. Bei Verlust beider Allele geht diese Kontrolle verloren. Bei hereditären Tumoren wird oft ein defektes Allel durch einen Gameten vererbt. Fällt auch das zweite intakte Allel durch eine somatische Mutation aus, kommt es zur malignen Transformation der betroffenen Zelle. Rezessives Verhalten. Ulkus Geschwür der Haut oder einer Schleimhaut mit Substanzverlust, der tiefer reicht als die Epidermis bzw. die Schleimhaut (siehe auch Erosion). Umweltverschmutzung Belastung der Natur mit Abfall- und Schadstoffen als Folge der menschlichen Zivilisation. UV-Strahlen (= ultraviolette Strahlen) Elektromagnetische Strahlen (Frequenz: 7,9 × 1014 bis 3 × 1016 Hz, Wellenlänge 380– 10 nm), die sich auf der hochfrequenten Seite an das sichtbare Licht anschließen. Die UV-Strahlen werden unterteilt in die dem sichtbaren Licht näher gelegenen UV-AStrahlen (Bräunungsstrahlen – Wellenlänge 400–315 nm), die UV-B-Strahlen (315– 280 nm), die z.B. die Photosynthese des Vitamins D bewirken, und die UV-C-Strahlen (280–100 nm). Vasa nervorum

Blutgefäße der peripheren Nerven. Sitz der entzündlichen Infiltrate bei vaskulitischen Neuropathien. Vasodilatation Weitstellung von Blutgefäßen; passiv durch Wanddehnung infolge intravasalen Druckanstiegs bei Blutstauung; oder durch Tonusabnahme der Wandmuskulatur infolge Einwirkung vasodilatorischer Stoffe. Vasokonstriktion Engstellung von Blutgefäßen (mit resultierender Erhöhung des Strömungswiderstandes) durch verstärkten Kontraktionszustand („Tonus“) der Gefäßmuskulatur infolge Vasokonstriktoren-Aktivierung oder VasodilatatorenHemmung bzw. humoraler Einwirkung vasokonstriktorischer Stoffe. Ventilations-Perfusions-Verhältnis Unter normalen Umständen und in Ruhe werden die Alveolen durchschnittlich pro Minute mit 4 Liter Luft ventiliert und von 5 Liter Blut perfundiert. Das entspricht einem normalen Ventilations-Perfusions-Verhältnis von 0,8. Verbrauchskoagulopathie Disseminierte, intravasale Koagulation oder Gerinnung (DIC, DIG): durch verschiedenartige Ursachen hervorgerufene Aktivierung des Blutgerinnungssystems, die zum Verbrauch von Gerinnungsfaktoren und Thrombozyten (mit Bildung kleiner Thrombosen) und somit zur Blutungsneigung führt, verstärkt durch die einsetzende Hyperfibrinolyse (Fibrinolysesyndrom). Verkalkung Dystope Ablagerung von Kalksalzen. Virämie Zirkulation von Viren im Blut. Viraler Einschlusskörper Lichtmikroskopisch homogene Einschlüsse im Zellkern oder Zytoplasma, bestehend aus viralen Proteinen oder Viruspartikeln. Virulenz Die den Grad der Pathogenität bestimmende Infektionskraft eines Erregers. Charakteristika: Fähigkeit, in gesunde Gewebe einzudringen, sich dort zu vermehren und den Wirtsorganismus durch Toxizität zu schädigen oder teilweise zu zerstören.

Virus Obligater Zellparasit. Kleinste lebensfähige biologische Einheit, die auf Vermehrung in lebenden Zellen angewiesen ist. Vitalkapazität Differenz zwischen maximaler Inspiration und maximaler Exspiration. Die Vitalkapazität ist ein wichtiges Maß für die Ausdehnungsfähigkeit von Lunge und Thorax. Sie ist abhängig von Alter, Geschlecht, Körpergröße, Körperposition und Trainingszustand. Die Vitalkapazität ist die Summe aus Atemzugvolumen, inspiratorischem Reservevolumen und exspiratorischem Reservevolumen. Waller-Degeneration Kompletter Faserzerfall eines myelinisierten Neuriten (Achsenzylinder und Myelinhülle). Wundheilung Umfasst im Initialstadium die Exsudation mit Bildung eines fibrinreichen Blutgerinnsels. Es folgen resorptive Entzündung, Reparation mit Ausbildung von kollagenem Bindegewebe sowie Parenchymregeneration. Zellschaden Resultat der Überforderung der Anpassungsfähigkeit der Zelle durch eine zu hohe Intensität des Stimulus bzw. des Schadens oder durch eine zu lange Einwirkung eines schädigenden Agens. Der Zellschaden ist zunächst reversibel. Bei Versagen vitaler Zellfunktionen (z.B. oxidative Phosphorylierung) wird er irreversibel. Zwiebelschalenformation Konzentrische Anordnung von hypertrophen Schwann-Zell-Fortsätzen um meist hypomyelinisierte Axone bei chronischen Bemarkungs- oder Entmarkungsneuropathien. Zyanose Blausucht: bläuliche Verfärbung der Haut und Schleimhäute infolge relativer Vermehrung reduzierten Hämoglobins im Kapillarblut (> 5 mg/100 ml). Zygote Befruchtete Eizelle mit diploidem Chromosomensatz, aus der sich ein neues Individuum entwickeln kann. Zyste

Durch eine Gewebekapsel abgeschlossener, ein- oder mehrkammeriger Gewebehohlraum mit oder ohne Inhalt; als echte Zyste ausgekleidet mit Epithel. Zytopathischer Effekt Die schädliche Wirkung auf die Gestalt, den Stoffwechsel und die genetische Funktion von Zellen, z.B. durch Erreger, ionisierende Strahlen, chemische Substanzen. Zytopathologie Punktionszytologie. Mikroskopische Untersuchung an Einzelzellen oder Zellverbänden zur Erkennung von Krankheiten, vor allem von Tumoren und Entzündungen. Zytotoxisch Zellvergiftend, zytolytisch, zellschädigend