Aggressionsentwicklung zwischen Normalität und Pathologie 9783666462337, 3525462336, 9783525462331

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Aggressionsentwicklung zwischen Normalität und Pathologie
 9783666462337, 3525462336, 9783525462331

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Für Jakob Moritz Seiffge: May the force be with you!

Inge Seiffge-Krenke (Hg.)

Aggressionsentwicklung zwischen Normalität und Pathologie Mit 18 Abbildungen und 22 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Informationen Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar. ISBN 3-525-46233-6 Umschlagabbildung: Franz Marc, Kämpfende Formen (Abstrakte Formen I), (Ausschnitt), 1914, Öl auf Leinwand, 91 x 131,5 cm. © 2005, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Schrift: Minion Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Judith Schrenk und Lothar Krappmann Aggressive Taktiken bei der Verfolgung eines anerkennenswerten Ziels. Grundschulkinder beschreiben ihr Vorgehen in einem Konflikt im Klassenzimmer . . . . . . . . . 20 Franz Resch und Peter Parzer Aggressionsentwicklung zwischen Normalität und Psychopathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Herbert Scheithauer Lästern, soziale Manipulation, Gerüchte verbreiten, Ausschließen – (geschlechtsspezifische) Formen aggressiven Verhaltens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Mechthild Schäfer und Stefan Korn Gewalt fängt im Kleinen an: Zur Stabilität von Mobbing zwischen Grund- und weiterführender Schule . . . . . . . . . . . . . 88 Barbara Gasteiger Klicpera und Christian Klicpera Stabilität und Konsequenzen von Viktimisierung durch Mitschüler in der Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Friedrich Lösel, Mark Stemmler, Andreas Beelmann und Stefanie Jaursch Aggressives Verhalten im Vorschulalter. Eine Untersuchung zum Problem verschiedener Informanten . . . . . . . . . . . . . . . . 141

6 Inge Seiffge-Krenke, Eginhard Koch und Michael Schulte-Markwort Eine besondere Art der Aggressionsdiagnostik: OPD-KJ . . . . 168 Maria von Salisch, Astrid Kristen und Caroline Oppl Aggressives Verhalten und (neue) Medien . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Simone Mayer, Urs Fuhrer und Haci-Halil Uslucan Intra- und intergenerationale Weitergabe von physischer Gewalt in Familien türkischer und deutscher Herkunft. Eine Mehrebenenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Wolfgang Ihle, Günter Esser und Martin H. Schmidt Determinanten rechtsextremer Einstellungen und aggressiv-dissozialer Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Marcus Roth und Inge Seiffge-Krenke Die Relevanz von familiären Belastungen und aggressivem, antisozialem Verhalten in Kindheit und Jugend für Delinquenz im Erwachsenenalter: Eine Studie an »leichten« und »schweren Jungs« in Haftanstalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Carola Kirchheim Gewaltprävention in Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

Vorwort

Der Gewaltanstieg an deutschen Schulen ist besorgniserregend. Tagtäglich werden in den Medien Auswüchse von Gewalt berichtet, die als Massaker durch Schüler, Waffengebrauch auf den Pausenhöfen und Erpressungen von Kindern durch Kinder grausame Gestalt annehmen. Die starke Emotionalisierung des Themas Aggression macht eine besonnene Beschäftigung mit Entwicklungsfragen der Aggression schwierig. Ziel dieses Buchs ist es daher, entwicklungspsychologische Aspekte von Aggression im Schnittfeld zwischen Normalität und Pathologie darzustellen … Aggressive Handlungen können in einem bestimmten Entwicklungskontext durchaus als adaptive Mechanismen verstanden werden. Diese unvoreingenommene Betrachtung aggressiven Verhaltens wird allerdings oft aufgegeben, wenn die Öffentlichkeit durch brutale Vorkommnisse, in die Kinder und Jugendliche verwickelt sind, aufgeschreckt wird. Das Buch möchte daher einen Beitrag zur differenzierten Betrachtung von Aggression im Kindes- und Jugendalter leisten und die entwicklungspsychologischen Voraussetzungen aggressiven Verhaltens herausarbeiten, aber auch die Bedingungen und Faktoren näher beleuchten, die zu einem Übergang in pathologische Formen führen. Es bietet auf der Basis umfangreicher Datensätze von Kindergarten- und Schulkindern bis hin zu Gefängnisinsassen eine Übersicht über wissenschaftliche Ergebnisse zur Aggressionsforschung, wobei Forschung im Schnittfeld entwicklungspsychologischer, familienpsychologischer, klinischer und psychopathologischer Aspekte Berücksichtigung findet. Dabei spielen diagnostische Aspekte eine wichtige Rolle. Der Aggressionsbegriff ist nicht nur vieldeutig und umfasst eine Vielzahl offen geäußerter, aber auch relationaler Aggressionsformen. Die Ein-

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schätzungen aggressiven Verhaltens unterscheiden sich auch deutlich, wenn man unterschiedliche Respondenten zu Rate zieht. Nicht jede Rauferei, nicht jeder Streit unter Kinder und nicht jedes Necken und Ärgern ist als pathologisch einzustufen. Wie der Beitrag von Judith Schrenk und Lothar Krappmann eindrucksvoll verdeutlicht, ist es wichtig, aggressive Akte im Kontext zu analysieren und ihre verschiedenen Funktionen und Bedeutungen aufzudecken. Ihre Kategorisierung von Funktionen beruht auf Beobachtungen im Sozialleben von Grundschulklassen, die demonstrieren, in wie vielfältiger Weise und zu welchen Zwecken aggressives Verhalten eingesetzt werden kann. In einer Studie an 213 Kindern der dritten und fünften Klassen an Berliner Grundschulen untersuchten die Autoren aggressive Taktiken, die unter anderem Drohen, Schädigen, massives Sichäußern und Eingreifen umfassen. Ihre Daten sprechen dafür, dass viele aggressive Verhaltensweisen Taktiken sind, die aufgrund von sozialen Erfahrungen entwickelt und oft sehr kompetent eingesetzt wurden, um Beteiligung zu erreichen. In vielen Fällen signalisierten sie keineswegs Unvermögen, sondern Erfahrungswissen und pragmatisches Kalkül. So dienten etwa üblicherweise als aggressiv bezeichnete Handlungen durchaus prosozialen Zielen, etwa der massiven Verteidigung eines Freundes gegen Attacken. Entscheidend ist auch, ob aggressive Taktiken bereits als erster Schritt verwendet werden, um eine Absicht durchzusetzen, oder erst im späteren Verlauf der Auseinandersetzung, wenn andere Versuche vergeblich blieben. Franz Resch und Peter Parzer haben in ihrem Beitrag die entwicklungspsychopathologische Perspektive herausgearbeitet und wesentliche Bestimmungsmerkmale für pathologische Aggressionsformen wie eine zerstörerische Komponente und die bewusste Schädigungsabsicht hervorgehoben, die Eingang in psychiatrische Klassifikationssysteme wie das DSM-IV gefunden haben. Bei pathologischen Formen werden unterschiedliche Typen unterschieden, die den Beginn zum einen in der Kindheit, das heißt vor dem 10. Lebensjahr, zum anderen aber auch in der Adoleszenz haben. In dem von den Autoren entwickelten Modell stehen aggressive Verhaltensweisen in enger Wechselwirkung mit Vulnerabilitäten und Risikofaktoren der individuellen Entwicklung. Temperament und Persönlichkeit als Einflussfaktoren und die enge Wechselbezie-

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hung mit elterlicher Interaktion werden hervorgehoben. Störungen der Handlungskontrolle und Impulsivität stellen ebenso Risikofaktoren dar wie die Störung der Mentalisierung von Interaktionen, die als Folge eines gestörten Bindungskontextes zwischen Bezugspersonen und Kindern auftreten kann. In der Untersuchung der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Heidelberg mit dem Gesundheitsamt des Rhein-Neckar-Kreises unter Leitung von Franz Resch, in der alle Einschulungskinder in Heidelberg und im Rhein-Neckar-Kreis (N = 4300) zur Einschulung und vier Jahre später untersucht wurden, wurde eine sehr hohe Komorbidität zu internalisierenden Störungen ermittelt, was unterstreicht, wie sehr Aggression gegen sich selbst und Aggression gegen andere miteinander verknüpft sind. Ausgehend von der Konzeption von Terry Moffitt mit ihrer Einteilung in early starters und late starters arbeiten Resch und Parzer heraus, dass die early starters mit dem persistierenden Verlauf (5 bis 10 % der männlichen Kinder) eine Problemgruppe darstellen. Sie begehen als Erwachsene vermehrt Gewaltverbrechen und weisen mehr Verurteilungen wegen Gewaltdelikten auf. Bei der Grenzziehung zwischen normalen und pathologischen Verläufen muss man bedenken, das sich das Bild aggressiven Verhaltens im Kindes- und Jugendalter in den letzten Jahren stark gewandelt hat. Bis in die 1980er Jahre überwog die Meinung, dass Aggression vorwiegend ein männliches Problem darstelle. Oft wurden ausschließlich männliche Kinder, Jugendliche und Erwachsene untersucht. Daraus folgte, dass sich Definitionen von Aggression vornehmlich auf körperlich oder verbal aggressives Verhalten konzentrierten, das bei Jungen und Männern häufiger beobachtet wurde und mit aggressivem Verhalten per se assoziiert worden ist. Seit etwa zwei Jahrzehnten rücken allerdings, wie der Beitrag von Herbert Scheithauer verdeutlicht, relationale oder indirekte Formen von Aggression stärker in den Blickpunkt, bei denen eine Person direkt oder indirekt über die soziale Bezugsgruppe geschädigt wird, beispielsweise mit Hilfe von Manipulation, Diffamierung oder Ausschluss. Scheithauer geht auf diese geschlechtsspezifischen Formen aggressiven Verhaltens ein und erläutert vor allem die relationale Aggression. Gerade bei bestimmten Formen der relationalen Aggression, zum Beispiel beim

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Tratschen, werden nicht nur negative, sondern auch positive Funktionen deutlich: In der Gruppe führt Tratschen zur Erhöhung der Kohäsion, in Beziehungen erhöht Tratschen das Verständnis für Gemeinsamkeiten. Auch das Ausgrenzen hat neben dem aggressiven Aspekt gegenüber den Opfern eindeutig auch positive, den Gruppenzusammenhalt fördernde Funktionen. Da aber die Schädigungsabsicht eindeutig ist – eines der Bestimmungsstücke von Aggressionsdefinitionen –, muss man auch hier von aggressivem Verhalten sprechen. Auf der Basis von Meta-Analysen belegt Scheithauer, dass relationale Aggression bei Mädchen häufiger ist als bei Jungen, allerdings ist der Gesamtgeschlechtsunterschied relativ gering. Unter Jungen stellen – dem maskulinen Geschlechtsrollentyp entsprechend – Fragen der Stärke und des Status in der Gruppe wichtige Themen dar, die eher mit körperlich- und verbal-aggressivem Verhalten einhergehen. Relationale Aggression hat vor allem eine wichtige Funktion innerhalb der sozialen Entwicklung von Mädchen, wo sie ab der Pubertät zur Stabilisierung der engen Freundschaftsdyaden dient. Mobbing unter Schülern beschreibt das aggressive, systematische und wiederholte Schikanieren Schwächerer, ohne dass das Opfer dazu Anlass gegeben hat. Die in der späten Kindheit und mit Beginn der Adoleszenz beobachteten Veränderungen der sozial-kognitiven Entwicklung werden auch mit Veränderungen im Ausmaß und in der Stabilität von Mobbing in Verbindung gebracht. Wie die beiden umfangreichen Studien von Mechthild Schäfer und Stefan Korn sowie Barbara Gasteiger-Klicpera und Christian Klicpera zeigen, ist das Mobbingverhalten von der Grundschule zur weiterführenden Schule äußerst stabil, setzen sich einmal festgefahrene Muster der Viktimisierung fort, vor allem, wenn spezifische Klassenkontexte gegeben sind. Mechthild Schäfer und Stefan Korn stellen die Münchener Soziale-Aggression-und-Mobbing-in-Schulen-Studie (SAMS) vor, in der über 1.500 Kinder in Grundschulklassen in München und Bayern sowie in einer Follow-up-Studie knapp 3.000 Schüler der siebten und achten Jahrgangsstufe zu ihren Mobbingerfahrungen befragt wurden. Ergebnis der sechsjährigen Längsschnittstudie war eine erhebliche Rollenfluktuation. Die SAMS-Längsschnittstudie zeigt, dass eine Opferrolle in der Grundschule kein Risiko

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darstellt, in der weiterführenden Schule wieder zum Opfer zu werden. Die Stabilität der Opferrolle ist nur dann hoch, wenn die Schüler aus Klassen kommen, die schon in der Grundschule stark hierarchisch strukturiert waren. Hingegen repräsentiert eine Täterrolle in der Grundschule ein zweifach erhöhtes Risiko, in der weiterführenden Schule wieder als Täter die Mitschüler zu schikanieren. Über längere Zeit wurden aggressives Verhalten und soziale Ablehnung seitens der Mitschüler als Risikofaktor betrachtet. Eine kritische Entwicklungslinie, die diskutiert wird, bezieht sich auf den Außenseiterstatus jener, die sich durch ihr eigenes aggressives Verhalten bei den meisten Schülern unbeliebt machen und deshalb Anschluss an Kinder suchen und finden, die ebenfalls in der Gruppe abgelehnt werden. Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit einer gegenseitigen Verstärkung abweichenden Verhaltens, erhöht sich die Gefahr, dass diese Kinder in illegale Aktivitäten wie Alkohol- und Drogengebrauch involviert werden. In den letzten Jahren wurden zunehmend internalisierende Schwierigkeiten, soziale Zurückgezogenheit, Einsamkeit und Traurigkeit, als Risikofaktor für die Entwicklung von Kindern betrachtet, so unter anderem in der erwähnten Heidelberger Untersuchung. Es konnten enge Zusammenhänge zwischen Viktimisierung und Gefühlen von Einsamkeit, sozialer Ängstlichkeit und depressiven Symptomen nachgewiesen werden, wie Gasteiger-Klicpera und Klicpera in ihrem Beitrag belegen. Die größten Effektstärken ließen sich bei der Depression nachweisen. Die meisten Studien berichten über eine hohe Stabilität von Viktimisierungen ab der Grundschulzeit. Korrelationen der Peernominierungen über erhebliche Zeiträume von .70 bis .90 werden genannt, wobei die Stabilität für Jungen (.75) größer ist als für Mädchen (.45). Zwar nimmt die Häufigkeit von Viktimisierungen mit dem Alter der Kinder kontinuierlich ab, allerdings nimmt die Stabilität der Viktimisierung zu, das heißt, es werden weniger Kinder zu Opfern, aber die Aggressionen richten sich gegen eine stabile Gruppe von Kindern. Wer als geeigneter Beurteiler für Viktimisierungen oder aggressive Akte in Frage kommt, ist in der Studie der Autoren – ähnlich wie in dem Beitrag von Friedrich Lösel und Mitarbeitern – von großer Bedeutung. Die Wiener Studie an 366 Kindern aus ersten

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Klassen legt erstmals Längsschnittdaten vor und überprüft die Stabilität des aggressiven Verhaltens sowie der Viktimisierungen. Die Untersuchungswellen bezogen sich auf fünf Messzeitpunkte vom Kindergarten bis zum Ende der vierten Klasse, und zwar sowohl in der Selbsteinschätzung der Kinder als auch in den Einschätzungen von Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen. Aggressives Verhalten war generell stabiler als Viktimisierung. Es scheint vor allem für jüngere Kinder schwierig zu sein, die Opferrolle stabil einzuschätzen. Es gab einen Anteil von knapp neun Prozent der Kinder, die über Jahre hinweg von ihren Mitschülern aggressiv behandelt wurden. Der Übergang von der ersten zur zweiten Klasse erwies sich dabei als kritisch. Bei Schülern, die darüber hinaus viktimisiert wurden, verschlechterte sich die Stimmung in Richtung Zunahme einer Depression deutlich. Es konnte auch belegt werden, dass die negativen Auswirkungen einer aggressiven Behandlung durch die Mitschüler kumulativ sind. Je länger die Kinder von anderen aggressiv behandelt wurden, desto deutlicher zeigten sich negative Auswirkungen auf das emotionale Befinden. In der Studie von Gasteiger-Klicpera und Klicpera besticht die unterschiedliche Sicht von Aggression durch verschiedene Beurteilergruppen. Die mangelnde Übereinstimmung in der Einschätzung zwischen Lehrern, Mitschülern und der Selbsteinschätzung kam deutlich zum Tragen. Der Beitrag von Friedrich Lösel, Mark Stemmler, Andreas Beelmann und Stefanie Jaursch legt den Schwerpunkt auf diagnostische Fragen, genauer den Einfluss des Informanten auf die Einschätzung aggressiven Verhaltens. Wiederum wurde längsschnittlich erhoben an einer Stichprobe von 675 Kindern aus Kindergärten im Raum Nürnberg-Erlangen. Das Design umfasste drei Erhebungen, die jeweils in jährlichem Abstand stattfanden. Neben Hausbesuchen, Elterninterviews, Fragebögen, Beobachtung der Eltern-KindInteraktionen und Untersuchung der Kinder wurden auch die Erzieher und Erzieherinnen befragt. Es zeigte sich, dass die Übereinstimmung in der Einschätzung des Problemverhaltens aus der Sicht beider Eltern von mittlerer Höhe war, während die Übereinstimmung zwischen Eltern und Erziehern gering war (r = .35). Die Ergebnisse belegen sowohl Übereinstimmung als auch Unterschiede in der Beurteilung des auffälligen kindlichen Verhaltens durch ver-

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schiedene Informanten. Die Eltern schätzen aggressives Verhalten ihres Kindes erwartungsgemäß ähnlicher ein, als dies im Vergleich mit den Erzieherinnen der Fall ist. Differenzen zeigen sich auch in der Beurteilung der Stabilität. So nehmen Eltern einen Rückgang an aggressivem Verhalten bei ihren Kindern wahr, was generell für das Vorschulalter zutrifft, dies ist jedoch nicht im Urteil der Erzieherinnen nachweisbar. Auch in dem Beitrag von Inge Seiffge-Krenke, Eginhard Koch und Michael Schulte-Markwort geht es um diagnostische Fragen. Ein neues psychodynamisches diagnostisches System wird vorgestellt, das OPD-KJ, das es erlaubt, neben einer Diagnose zusätzliche für die Behandlung aggressiver Störungen wichtige Informationen zu erheben. Diese beziehen sich auf die Struktur des Kindes oder Jugendlichen, seine Beziehungen, als entwicklungsbehindernd erlebte zentrale Konflikte sowie die Einschätzung von Leidensdruck, Krankheitseinsicht, Behandlungsmotivation und weitere, für die Therapieplanung und die Einschätzung des Therapieerfolgs wichtige Dimensionen. Dass Aggression uns alle angeht und der gesamtgesellschaftliche Kontext von sehr großer Bedeutung ist, wird in dem Beitrag von Maria von Salisch, Astrid Kristen und Caroline Oppl besonders deutlich. Sie untersuchen, ob es aus wissenschaftlicher Sicht gerechtfertigt ist, eine klare Verbindung zwischen der Beschäftigung mit gewalthaltigen Medieninhalten und aggressiven Akten wie dem Massaker von Erfurt zu ziehen. In der Tat ist in den letzten Jahren der potentielle Einfluss der Bildmedien sehr stark gewachsen, denn zusätzlich zu der Zeit, die Kinder und Jugendliche vor dem Fernseher verbringen, beschäftigen sie sich mit Computern und dem Internet und dort vor allen Dingen mit Computerspielen. Im Fernsehen und bei Computerspielen sind immer wieder Sequenzen zu beobachten, in denen Handlungsträger andere intentional schädigen, sich also aggressiv verhalten. Kinder im Vorschulalter scheinen besonders empfänglich für aggressive Fernsehbotschaften zu sein: Überdurchschnittlich enge Zusammenhänge zum aggressiven Verhalten ließen sich bei Zeichentrickfilmen und bei realen Verhaltensmodellen nachweisen; man fand hohe Effektstärken bei Kindern im Vergleich zu Erwachsenen. Der häufige Konsum von gewalthaltigen Fernsehprogrammen im Kindesalter

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sagte den Aggressionswert im Alter von 15 bis 18 Jahren vorher. Diese Zusammenhänge gelten vor allem für Jungen. Allerdings ist die Frage nach der Wirkrichtung nicht ganz geklärt: Sind es die gewalthaltigen Fernsehprogramme, die Kinder über die Zeit aggressiver machen, oder sind es ohnehin aggressive Kinder, die sich Angebote mit diesen Inhalten suchen? In einer Stichprobe an 414 Berliner Grundschulkindern der dritten und vierten Klasse, die aus Mittelschichtsvierteln und sozialen Brennpunkten stammen, haben von Salisch und Mitarbeiterinnen die Auswirkungen gewalthaltiger Bildschirmspiele, insbesondere von Aktionsspielen, untersucht, bei denen schnelles Reagieren häufig in Form von Schießen gefragt ist. Spiele, bei denen es überdurchschnittlich häufig zu brutalen und blutigen Handlungen kam, zählten dreimal häufiger bei den Jungen (18 %) als bei den Mädchen (5 %) zu den Lieblingsspielen. Je mehr Bildschirmspiele Kinder genannt hatten, die brutale Handlungen aufwiesen, desto mehr offen aggressives Verhalten wurde ihnen von Klassenkameraden und Lehrkräften bescheinigt. Insgesamt unterstreicht die Berliner Studie, dass die Beschäftigung mit brutalen und blutigen Bildschirmspielen mit verstärktem aggressiven Verhalten in der Schulklasse einhergeht, das auch von fremden Personen wahrgenommen wird. Unter den langfristigen Effekten aggressiver Medieninhalte ist vor allen Dingen die Habituation (Gewöhnung) beziehungsweise Desensibilisierung problematisch. Bedeutsam für den Transfer des zerstörerischen Verhaltens vom Bildschirm in die Wirklichkeit dürften jedoch Gewalterfahrungen in der Familie und Schwierigkeiten in der Schule oder mit Gleichaltrigen sein, aber auch die Enthemmung der durch Gesellschaft und Erziehung aufgebauten Kontrollmechanismen. Zur intraund intergenerationalen Weitergabe von Gewalt liegen unterschiedliche Hypothesen vor, unter anderem die Spill-over-Hypothese, die davon ausgeht, dass sich aggressives Verhalten innerhalb der Partnerschaft direkt auf die Interaktionen zwischen Eltern und Kindern überträgt. Wie die Weitergabe von Gewalt zwischen Familienmitgliedern verläuft und in welcher Intensität innerfamiliäre Gewalt vorzufinden ist, unterscheidet sich auch in verschiedenen Kulturen. Dieser Zusammenhang wird in der Weitergabe von physischer Gewalt in

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Familien türkischer und deutscher Herkunft in dem Beitrag von Simone Mayer, Urs Fuhrer und Haci-Halil Uslucan deutlich. In ihren Forschungsarbeiten fanden sie erhöhte Gewaltraten in Familien türkischer Herkunft, zum einen aus der türkischen Kultur entstanden, zum anderen durch die Belastungen der Migration und die daraus folgenden kulturellen Konflikte, die Gewaltbereitschaft und Transmission von Gewalt begünstigen. Türkische Familien lernen aufgrund ihres kulturellen Hintergrunds, sich im Wesentlichen auf ihre individuellen Kräfte zu verlassen und eher selbst zur Gewalt zu greifen, um ihre Interessen durchzusetzen, als sich auf Aktivitäten von staatlicher Seite zu verlassen. Gewalt in Familien wird als legitime Einflussmöglichkeit wahrgenommen. 206 türkische und 236 deutsche Jugendliche aus verschiedenen Bezirken Berlins nahmen – ebenso wie ihre Eltern – an der Studie teil. In den türkischen Familien war nicht nur eine stärkere Gewalt befürwortende Einstellung nachweisbar, die Jugendlichen haben auch sehr viel mehr mütterliche und väterliche Gewalt real erfahren: Gewalterfahrungen waren in Familien türkischer Herkunft doppelt so häufig wie in Familien deutscher Herkunft (34 % gegenüber 18 %). Dies bezog sich sowohl auf die eigene Gewalterfahrung als auch auf die Beobachtung von Gewalt gegenüber Familienmitgliedern. In einer Mehrebenenanalyse wurde die mehrgenerationale Transmission von Gewalt geprüft. Entsprechend zeigte sich, dass diejenigen türkischen Jugendlichen, deren Väter früher von ihren eigenen Vätern vermehrt Gewalt erfahren hatten, in erhöhtem Maß wieder selbst Gewalt gegenüber anderen Jugendlichen ausübten. Wolfgang Ihle, Günter Esser und Wolfgang H. Schmidt gehen in ihrem Beitrag der Frage nach, ob aggressiv-dissoziale Störungen zugenommen haben. Belegt wird vor allem eine Zunahme des Aggressionspotentials an Hauptschulen, die mit Abstand die höchsten Raufunfallquoten haben. Der starke Anstieg bis in die 90er Jahre konnte inzwischen gestoppt werden, hat sich allerdings seit 1998 auf einem hohen Niveau eingependelt. Die höchsten Aggressionsraten traten bei den 16- bis 20-jährigen männlichen Jugendlichen beziehungsweise jungen Erwachsenen auf. Auch rechtsextreme Gewalt hat insgesamt zugenommen und sich auf einem relativ hohen Niveau eingependelt. Alle von den Autoren vorgestellten Studien konnten jedoch zeigen, dass rechtsextreme Einstellungen

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wesentlich stärker verbreitet sind als rechtsextrem motivierte Straftaten. Dennoch muss betont werden, dass ungefähr jeder dritte Gewaltbereite ein rechtsextremes Weltbild aufweist. Die Ergebnisse der meisten Studien zeigen, dass soziale, ökonomische, gesellschaftliche oder kulturelle Entwicklungen nicht direkt zu rechtsextremen Einstellungen oder gar Gewalt führen, sondern meist nur Auslöser oder Katalysator sind. Auch das Kapitel von Ihle und Mitarbeitern basiert auf Forschungsergebnissen an großen Stichproben, der Mannheimer Kurpfalzerhebung, die die Entwicklung von 399 Achtjährigen bis ins frühe Erwachsenenalter untersuchte, beziehungsweise der Mannheimer Risikokinderstudie mit 362 Kindern und deren Familien, die von der Geburt bis zum Alter von elf Jahren begleitet wurden. Die Lebenszeitprävalenz für das ICD-10Kriterium für aggressiv-dissoziale Störungen betrug bei Männern bis zum Alter von 25 Jahren 32 Prozent und bei Frauen 13 Prozent. In beiden großen Längsschnittstudien konnte gezeigt werden, dass die Entwicklungsprognosen aggressiv-dissozialer Störungen des Kindes- und Jugendalters sehr ungünstig ausfallen. Die Befunde sprechen eindeutig dafür, dass eine frühe Indikation der Störung möglich und vielversprechend ist. Die Kombination aus frühen Verhaltensproblemen des Kindes und erhöhter familiärer Risikobelastung stellte einen Risikofaktor für Eltern-Kind-Interaktionsstörungen dar, die wiederum zu einer Verstärkung der Probleme beitragen können. Anknüpfend an diesen Beitrag sowie den Beitrag von Franz Resch und Peter Parzer zeigen die von Marcus Roth und Inge Seiffge-Krenke an Insassen von verschiedenen Haftanstalten in Sachsen und Rheinland-Pfalz erhobenen Befunde, dass kindliche Delinquenz ein wichtiger Faktor für die persistierenden Formen von Gewalt und Delinquenz im Erwachsenenalter darstellt. Es wurde deutlich, dass für die schwerwiegenden delinquenten Verhaltensformen im Erwachsenenalter ein kontinuierliches antisoziales und aggressives Verhalten von der Kindheit über die Adoleszenz bis in das Erwachsenenalter nachweisbar ist. Auch schwere familiäre Belastungen während der Kindheit und Jugend sind für die Vorhersage von Delinquenz im Erwachsenenalter unmittelbar relevant. In einem Forschungsverbund der Universitäten Leipzig und Mainz wurde eine Studie an 241 Straftätern durchgeführt, die aufgrund

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der Häufigkeit und Schwere ihrer Delikte als »leichte« beziehungsweise »schwere« Jungs bezeichnet wurden. Kindliche Delinquenz, das heißt das Beschädigen von Eigentum, Weglaufen von zu Hause und Ähnliches ab dem Alter von 15 Jahren war ein relevantes Merkmal für spätere Straftäter; hinzu kamen massive familiäre Belastungen wie psychische Schwierigkeiten der Eltern, Alkoholprobleme und Straffälligkeit. Ab einem kritischen Wert von über vier schweren familiären Belastungen stieg die Delinquenzbelastung sprunghaft an. Aggressives, antisoziales Verhalten in der Kindheit und Jugend ist demnach ein wichtiger Faktor für die lebenslange Vorhersage von Delinquenz, das durch einen ganz spezifischen Bedingungskomplex ausgelöst und aufrechterhalten wird. Zunehmenden aggressiven Tendenzen bei Kindern und Jugendlichen steht ein verstärktes Bemühen gegenüber, durch präventive Maßnahmen und schulische Verhaltensprogramme dem entgegenzuwirken. Im Beitrag von Carola Kirchheim werden primärpräventive Programme wie FAUSTLOS geschildert, die sich direkt an Schüler wenden und in denen unter anderem Empathie und Impulskontrolle trainiert und ein angemessener Umgang mit Ärger und Wut eingeübt wird. Das Streitschlichter-Programm gibt aggressiven, gewaltbereiten Schülern die Möglichkeit, als Mediator in eine neue Rolle zu schlüpfen und sich ihren Mitschülern von einer bislang unbekannten positiven Seite zu zeigen. Auch hier sind Elemente wie Konfliktlösung finden, Schlichterkenntnisse und -fähigkeiten einüben, Gefühle erkennen und benennen von großer Bedeutung. Bei den lehrerorientierten Programmen werden vor allen Dingen umfangreiche Materialsammlungen für die Ausbildung von Lehrern vorgelegt. Das Programm zur Gewaltintervention von Olweus dagegen ist ein sehr komplexes Programm, in dem das gesamte schulische Umfeld in den Blick genommen wird und das die Schulebene (zum Beispiel Verbesserung der Aufsicht in Pausen), die Klassenebene (zum Beispiel Einführung von Klassenregeln gegen Gewalt) und die persönliche Ebene (zum Beispiel Diskussionsgruppen für Eltern betroffener Kinder) in Angriff nimmt. Ein Schwachpunkt der meisten Programme ist allerdings deren Evaluation. Dieses Buch macht deutlich, dass es erhebliche Unterschiede

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zwischen alters- und entwicklungsbedingten aggressiven Akten des Aushandelns von Grenzen und pathologischen Verlaufsformen gibt. Die Risikogruppe mit schon früh auffälligem und persistierendem aggressivem Verhalten bedarf besonderer Fürsorge und Stützung. Die Durchführung der beschriebenen schülerorientierten Programme im Klassenverband reicht für die Arbeit mit solchen gewaltbereiten und aggressiven Kindern zweifellos nicht aus. Unter den Risikofaktoren des sozialen Umfelds für diese Gruppe werden in diesem Buch vor allem inkonsistente und gewaltbereite Erziehungsstile, Gewaltübergriffe, sexueller Missbrauch und emotionale Vernachlässigung herausgearbeitet. Die gegenwärtig vorliegenden Programme mit ihrem Fokus auf Emotionsregulierung, Empathietraining und Kompetenztraining müssen durch weitere Maßnahmen ergänzt werden, die an familiären Belastungen, unangemessenen Erziehungsstilen und problematischen Sozialisationsbedingungen ansetzen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Anzahl von Kindern und Jugendlichen, die aus veränderten Familienstrukturen stammen oder einen Migrationshintergrund haben, ständig steigt. Interventionsangebote müssen sich also an besonders benachteiligte Familien richten. Besondere Anstrengungen sollten für die Implementierung und Evaluierung multimodaler Programme in verschiedenen Lebenswelten (Familien, Schule, Kindergarten) unternommen werden, die in sozialen Brennpunkten angesiedelt sind. Sie sollten niedrigschwellig angelegt sein, da diese Risikogruppen häufig ein verringertes Inanspruchnahmeverhalten für Hilfsangebote haben. Historische Bezüge und der aktuelle gesellschaftliche Hintergrund sind wichtig und eröffnen den Blick auf eine vollständigere Sicht auf die Aggression. Es ist gefährlich, in dem Bedürfnis nach schnellen Erklärungen neurobiologischen Mechanismen, genetischen oder sozialen Risikofaktoren die alleinige kausale Bedeutung für die Zunahme der Aggression im Alltag zuzusprechen. Wir müssen bedenken, dass die gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen von einer Enttraditionalisierung gekennzeichnet sind; die zunehmende Individualisierung erlaubt eine größtmögliche Zahl veränderter Lebensformen und auch zahlreiche Grenzüberschreitungen, die nicht länger ein Devianzproblem darstellen, sondern Normalerfahrungen einer globalisierten Gesell-

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schaft sind. Einerseits sind Entgrenzungen und größere Durchlässigkeit auffällig, andererseits ist auch sehr viel Mobilität und Veränderung in das gesellschaftliche Leben gekommen. Maßnahmen der Gewaltprävention müssen daher auch von der Frage ausgehen, welche Kompetenzen Heranwachsende brauchen, um in einer Gesellschaft handlungsfähig sein zu können, die einen so starken Strukturwandel durchmacht. Der Wertewandel mit den abgewerteten und fast bedeutungslos gewordenen Tugenden von Gehorsam, Unterordnung, Bescheidenheit, Zurückhaltung, Einfühlung, Anpassung, Glauben und so weiter ist auffällig. Zugleich finden wir eine wachsende Ungleichheit im Zugang zu Ressourcen. Zunehmende Migration und die daraus folgenden Erfahrungen mit kulturellen Differenzen, ein Patchwork von Beziehungen sowie ein wachsender Einfluss von Medien sind Kontextbedingungen, die die Entwicklung heutiger Kinder und Jugendlicher sehr stark bestimmen. Kinder und Jugendliche finden sich in zunehmend komplexen und widersprüchlichen Lebenswelten wieder, die ihnen zwar mehr Handlungsoptionen bieten, ihnen aber auch sehr viel mehr Selbstorganisation und Entscheidungsprozesse bei hoher Ungewissheit abverlangen. Im Hinblick auf die komplexen Anforderungen kann es nicht überraschen, dass längst nicht alle Kinder und Jugendliche in der Lage sind, die veränderten Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Die Shell-Studie 2002 geht davon aus, dass für rund die Hälfte aller Jugendlichen ein Risiko besteht, auf die Seite der »Modernisierungsverlierer« zu geraten. Sie haben Schwierigkeiten, mit den Leistungsanforderungen in Schule und Ausbildung Schritt zu halten und reagieren darauf mit Resignation, Apathie, aber auch Aggressivität und politischer Radikalität. Franz Resch schreibt am Ende seines Beitrags: »Aggression geht uns alle an.« Ich kann dem nur zustimmen und hoffen, dass dieses Buch dazu beiträgt, die Entwicklung aggressiven Verhaltens aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und das Verhalten derjenigen Kinder und Jugendlichen besser zu verstehen, die Täter und Opfer sind. Inge Seiffge-Krenke

Judith Schrenk und Lothar Krappmann

Aggressive Taktiken bei der Verfolgung eines anerkennenswerten Ziels 1 Grundschulkinder beschreiben ihr Vorgehen in einem Konflikt im Klassenzimmer

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Zum Problem

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Sozialforschern ist seit langem bekannt, dass Aggression nicht nur ein Begriff für Verhalten ist, dessen Ergebnis oder Ziel in der Schädigung/Verletzung von Personen (oder deren Interessen), Tieren oder Objekten besteht, beziehungsweise für eine latente Bereitschaft zu derartigem Verhalten (so zuletzt z. B. Zumkley 2002). Von der Wurzel des Wortes her steckt im Begriff Aggression auch die aktive Zuwendung eines Menschen zu einem Thema, Anliegen oder Problem, die produktiv und konstruktiv sein kann, sodass eine möglicherweise zugleich auftretende Schädigung zumindest relativiert, manchmal sogar gerechtfertigt werden kann. Daher verlangte Mummendey (1987) bereits vor längerer Zeit, aggressive Akte in ihrem Kontext zu analysieren und ihre verschiedenen Funktionen und Bedeutungen aufzudecken. Dieser Forderung entspricht der strategische Ansatz von Archer (2001), nach dem aggressive Handlungen als adaptive Mechanismen verstanden werden müssen. Aggression stellt Taktiken bereit, mit denen soziale Ziele verfolgt werden. Ob sie überhaupt eingesetzt werden, hängt vom Kontext ab. Wenn sie eingesetzt werden, hängt von ihrer Abstimmung auf den Kontext ab, ob sie akzeptiert oder als antisozial beurteilt werden. Die unvoreingenommene Betrachtung aggressiven Verhaltens wird allerdings oft aufgegeben, wenn die Öffentlichkeit von Meldungen aufgeschreckt wird, in denen über brutale Vorkommnisse, in die Kinder und Jugendliche verwickelt sind, berichtet wird. Die1 Das Projekt wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert (KR 1008/2-1 und OS 29/19-2).

Aggressive Taktiken bei der Verfolgung eines anerkennenswerten Ziels

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se schockierenden Vorfälle stärken die Unterstützung für alle Maßnahmen und Programme, die derartige Gewalthandlungen nicht in ihrem Zustandekommen aufzuklären, sondern massiv zu unterbinden und präventiv zu verhindern versuchen. Es überwiegt die Auffassung, dass man bereits den Anfängen wehren müsse, denn bereits im Anbrüllen, Knuffen und Schubsen unter Kindern, die sich über irgendetwas nicht einig sind, werden die ersten Schritte hin zu jenen grausamen, manchmal tödlich endenden Handlungen gesehen, die Zeitungsleser und Fernsehzuschauer erschüttern. Außer Acht gelassen wird dabei weithin, dass sogar in massiven Verbrechen, wie etwa dem Erfurter Schulmassaker, Sinnzusammenhänge zu entdecken sind, die die Untat keineswegs rechtfertigen, aber die Notwendigkeit unterstreichen, die Bedeutung aggressiv genannter Handlungen im Interaktionsprozess sehr genau aufzudecken. Entwicklungspsychologische Untersuchungen entsprechen diesem Anliegen nur selten, da sie die Häufigkeit verschiedener Varianten aggressiven Vorgehens in den Vordergrund stellen und deren Zusammenhang mit anderen Variablen des Sozialverhaltens herausarbeiten. Der Bezug zum Handlungszusammenhang wird zumeist nicht hergestellt. So wird in diesen Untersuchungen nachgewiesen, dass Kinder mit hoher Bereitschaft, sich aggressiv zu verhalten, von ihren Peers abgelehnt werden und häufiger als nicht aggressive Kinder Schulprobleme, Delinquenz und psychische Störungen zeigen (für eine Übersicht siehe Rubin et al. 1998). Aggressives Verhalten wird folglich als sozial schädlich und unangepasst angesehen, und aggressive Kinder werden als Risikogruppe betrachtet. Obwohl diese Ergebnisse auf soliden Untersuchungen beruhen und Zusammenhänge zwischen sozial unangepasstem Verhalten und ungünstigen Entwicklungsverläufen nicht geleugnet werden können, stellen einige Untersuchungen dennoch in Frage, ob die Zusammenhänge so einfach sind. Diese Studien machen vor allem deutlich, dass sich aggressive Kinder voneinander unterscheiden. Von besonderem Interesse für unsere Frage ist eine Untergruppe aggressiver Kinder, die neben aggressiven auch prosoziale Verhaltensweisen anwenden. Im Vergleich mit ihren Klassenkameraden haben diese Kinder in ihrer Schulklasse eine unauffällige oder sogar gute Stellung hinsichtlich ihrer Akzeptanz, ihres Einflusses

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Judith Schrenk und Lothar Krappmann

oder ihrer Popularität (Hawley 2003; Parkhurst u. Asher 1992; Rodkin et al. 2000). Allerdings kann aggressives Verhalten mit verschiedenen Aspekten sozialer Anpassung auch in unterschiedlichem Zusammenhang stehen, wie Lease et al. (2002) zeigen, denn nach ihren Analysen sind aggressive Verhaltensweisen wie Ausschließen, Schikanieren oder disruptives Verhalten mit Ablehnung, aber gleichzeitig mit Einfluss (»soziale Dominanz«) verbunden. Das Anwenden aggressiver Verhaltensweisen muss folglich nicht per se unangepasst sein. Insgesamt unterstreichen die Ergebnisse, dass der Interaktionskontext einbezogen werden muss, um diese nicht leicht zu vereinigenden Zusammenhänge besser zu verstehen. Verschiedene Funktionen, die gewalttätiges Handeln in Interaktionen unter gleichaltrigen Kindern erfüllt, haben Oswald und Krappmann (2000) herausgearbeitet. Ihre Kategorisierung von Funktionen beruht auf Beobachtungen im Sozialleben von Grundschulklassen, die beispielhaft herangezogen werden, um zu demonstrieren, in wie vielfältiger Weise und zu welchen Zwecken gewaltträchtiges Vorgehen eingesetzt werden kann. So dienten manche der üblicherweise als aggressiv bezeichneten Handlungen »prosozialen« Zielen, etwa die massive Verteidigung eines Freundes gegen Attacken oder die effektive Eindämmung eines eskalierenden Streits durch physischen Widerstand. In systematischer Weise gehen wir in diesem Beitrag der Frage nach, in welchen Formen Kinder aggressive Taktiken einsetzen, welche Ziele sie damit anstreben und welche unmittelbaren und langfristigen Wirkungen solche Handlungen haben.

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Die Untersuchung

Wir verstehen unter aggressivem Vorgehen Verhaltensweisen, die Interessen und Rechte anderer außer Acht lassen, also Rücksichtslosigkeit, Regelverletzung, Drohung, Zwang oder schädigendes Verhalten. Mit dieser Definition unterscheiden wir uns von gängigen Definitionen, nach denen aggressive Verhaltensweisen Handlungen sind, die darauf abzielen oder zum Ergebnis haben, andere zu verletzen oder zu schädigen (wie Zumkley 2002). Damit wollen

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wir nicht ausschließen, dass beim aggressiven Handeln auch Schaden intendiert werden kann. Für uns ist aber die Missachtung der Interessen und Rechte der Gegenseite das entscheidende Merkmal. Angesichts unseres Untersuchungsziels haben wir uns entschieden, Kinder zu befragen, wie sie in einer ihnen geschilderten realistischen Situation im Klassenzimmer eine Idee durchzusetzen versuchen würden, auf die andere Kinder zunächst nicht zu hören bereit sind. Durch die offene Antwortsituation war zu erwarten, dass die Kinder eine Vielzahl unterschiedlicher aggressiver und nicht aggressiver Taktiken nennen würden. Auf diese Weise ist es möglich zu untersuchen, ob Kinder überhaupt aggressive Handlungsweisen anwenden würden und, wenn ja, in welcher Form, zu welchem Ziel und in welcher Phase des Aushandlungsprozesses. Außerdem ermöglicht eine Befragung – im Gegensatz zu einer Beobachtungsstudie – die Erwartungen der Kinder in Bezug auf die unmittelbaren Wirkungen aggressiver Taktiken zu erfassen. Die Vorgehensweisen, die die Kinder in der Befragung konkretbeschreibend benennen, bezeichnen wir als Taktiken, denn es handelt sich um geplante Schritte in der Verfolgung eines Handlungsziels. Taktiken unterscheiden wir von Strategien, die mehrere Schritte und Alternativen umfassende Planungen des Vorgehens sind. Obwohl eine Taktik aus Überlegungen zum optimalen Vorgehen in einer Situation hervorgeht, erwarten wir nicht, dass Kinder Taktiken im Fluss der Interaktionen stets ebenso bewusst anwenden, wie sie diese in einer Befragung als angemessen oder einem Ziel dienend zu begründen vermögen. Die Ausführungen der Kinder weisen jedoch darauf hin, dass sie sich durchaus darüber Gedanken machen, welches Vorgehen ihnen helfen könnte, sich durchzusetzen, und dass sie auch bedenken, welche Vor- und Nachteile dieses Vorgehen ihnen einbringen wird. Da wir annehmen, dass die von uns vorgegebene Situation für Kooperationsprobleme in Schulklassen typisch ist, vermuten wir, dass Kinder sich des Öfteren in der Weise verhalten, wie sie es in den Antworten auf unsere Fragen schildern. Daher halten wir es für aufschlussreich zu untersuchen, welche Stellung Kinder, die bestimmte aggressive Taktiken vertreten, in ihrer Schulklasse einnehmen. Die Stellung, die Kindern in ihrer Klasse zuteil wird, dürfte die langfristigen Wirkungen des Einsatzes bestimmter Tak-

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Judith Schrenk und Lothar Krappmann

tiken in Aushandlungen widerspiegeln. Da unsere Analysen auf Querschnittsdaten beruhen, können wir die Richtung der Kausalität nicht bestimmen. Für den Einfluss des Verhaltens auf die Stellung sprechen Untersuchungen von Coie und Kupersmidt (1983) sowie Dodge (1983). Die Stellung eines Kindes wollen wir sowohl im Hinblick auf seine Akzeptanz als auch auf seinen Einfluss untersuchen. Denn der soziale Erfolg kann daran gemessen werden, inwieweit das Kind es schafft, sowohl von anderen anerkannt zu werden, als auch seine persönlichen Ziele in den Interaktionen mit anderen Kindern durchzusetzen (Rubin u. Rose-Krasnor 1992). Bislang finden sich nur wenige Studien, in denen beide Dimensionen, Akzeptanz und Einfluss, zugleich untersucht wurden (z. B. Hawley 2003; Lease et al. 2002; Wright et al. 1996). Diese Schritte der Forschung wollen wir mit unseren Analysen weiterführen. Über die bisherige Forschung gehen wir hinaus, indem wir Kinder anhand der Ausführungen, die sie zu ihrem Vorgehen in einer Auseinandersetzung machen, danach unterscheiden, ob sie eine aggressive Taktik bereits als ersten Schritt verwenden würden, um eine Absicht durchzusetzen, oder erst im späteren Verlauf der Auseinandersetzung, also erst, wenn andere Versuche, sich durchzusetzen, vergeblich blieben. Wir nehmen an, dass aggressives Vorgehen eines Kindes, das das Recht auf seiner Seite hat und sich zunächst auf sozial akzeptierte Weise um seine Beteiligung bemüht, weniger schädlich für seine Akzeptanz und seinen Einfluss in der Schulklasse ist als aggressives Vorgehen ohne vorherige Bemühungen um aggressionslose Lösungen. Es ist anzunehmen, dass Verhalten von Kindern auch in Abhängigkeit vom Geschlecht bewertet wird und sich dadurch für Mädchen und Jungen unterschiedlich auf die Stellung in der Schulklasse auswirkt. French (1988, 1990) fand, dass aggressive Verhaltensweisen bei Jungen mit Ablehnung in Verbindung stehen; bei Mädchen gab es diesen Zusammenhang nicht. Im Gegensatz zu diesem Ergebnis zeigte sich in einer Untersuchung von Chung und Asher (1996) ein negativer Zusammenhang aggressiver Taktiken mit Akzeptanz bei Mädchen, aber kein Zusammenhang bei Jungen. Wir wollen zur Aufklärung der Frage nach Geschlechtsunterschieden beitragen und den Zusammenhang aggressiver Taktiken sowohl

Aggressive Taktiken bei der Verfolgung eines anerkennenswerten Ziels

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mit Akzeptanz als auch mit Einfluss für Mädchen und Jungen getrennt untersuchen. Im Zentrum unserer Untersuchung stehen somit die folgenden Fragen, die in ihrer Formulierung widerspiegeln, dass die befragten Kinder auf eine hypothetische Situation reagieren: (1) Welche Formen aggressiver Taktiken wenden Kinder nach ihren Aussagen an, um sich in der vorgegebenen Aushandlungssituation gegenüber anderen Kindern zu behaupten? (2) Welche Ziele verfolgen die Kinder nach ihren Berichten mit den von ihnen gewählten aggressiven Taktiken und welche unmittelbaren Wirkungen schreiben sie ihren Taktiken zu? (3) Welche Zusammenhänge finden sich zwischen dem Einsatz aggressiver Taktiken und der Stellung der Kinder (Akzeptanz, Einfluss) in ihrer Schulklasse? (4) Welche Geschlechtsunterschiede zeigen sich im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen dem Einsatz aggressiver Taktiken und der Stellung (Einfluss, Akzeptanz) der Kinder in ihrer Schulklasse?

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Methoden

Stichprobe: Die hier präsentierte Analyse bezieht sich auf die Daten von 213 Kindern (96 Jungen und 117 Mädchen), die fünf dritte und fünf fünfte Jahrgangsklassen an zwei Berliner Grundschulen besuchten. Unter den 213 Kindern befanden sich 103 Drittklässler (Durchschnittsalter: 9,6 Jahre) und 110 Fünftklässler (Durchschnittsalter: 11,7 Jahre). Darunter waren 134 (63 %) Kinder mit deutschen Eltern, 29 (14 %) Kinder mit einem Elternteil anderer Nationalität und 50 (23 %) Kinder mit beiden Eltern anderer Nationalität. Die Haushalte, aus denen die Kinder kamen, gehörten hauptsächlich der Mittelschicht an. Konfliktsituation: Als Ausgangsbasis für die Befragung diente eine kurze Geschichte aus dem Klassenalltag (»Vignette«), die einen Konflikt bei der Gruppenarbeit schildert, der in einer früheren Studie beobachtet wurde. Die im Folgenden dargestellte Vignette wurde jedem Kind in Einzelsitzung vorgelesen. Im Anschluss wurde es anhand eines Interviewleitfadens befragt.

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Judith Schrenk und Lothar Krappmann

Monika1 (Manuel2) sitzt mit Britta1 (Bernd2) an einem SechserTisch. Britta ist sehr beliebt, denn bei ihr ist immer etwas los. Alle mögen sie und sind gerne in ihrer Nähe. Im Deutschunterricht machen sie heute Gruppenarbeit. An jedem Sechser-Tisch sollen sich alle zusammen eine Geschichte ausdenken. Monika hat gleich eine tolle Idee, was sie schreiben könnten. Aber die anderen schieben das Blatt zu Britta, und die fängt gleich an, eine Geschichte aufzuschreiben. Monika ruft: »Ich weiß einen tollen Anfang für die Geschichte!«, aber 2 Britta hört nicht auf sie.2 Aushandlungstaktiken: Zur Erfassung der Aushandlungstaktiken wurden die Kinder gefragt, was sie an Stelle von Monika/Manuel tun würden, um ihre Idee einzubringen, und was sie tun würden, falls die vorgeschlagene Taktik nicht erfolgreich wäre. Die Kinder wurden so lange nach ihren Durchsetzungstaktiken befragt, bis sie sagten, dass ihnen nichts anderes mehr einfiele, oder angaben, sie würden aufgeben. Dadurch sollte nicht nur erfasst werden, was die Kinder in einer solchen Situation als Erstes tun würden, sondern darüber hinaus, wie sie bei Misserfolg weiter vorgehen würden. Insgesamt nannten die Kinder 855 Durchsetzungstaktiken, im Durchschnitt jedes Kind 4.0 (SD = 2.0). Die genannten Taktiken wurden mit Hilfe eines von Schrenk entwickelten Kategoriensystems acht einander ausschließenden Kategorien zugeordnet, die an anderer Stelle beschrieben sind (Schrenk et al. 2003). Der vorliegende Beitrag beschränkt sich auf die 155 aggressiven Durchsetzungstaktiken, die in diesem Material identifiziert wurden. Die Zuordnung zu diesen Kategorien erfolgte mit Hilfe eines Manuals, das nach Training der Rater eine gute Interraterübereinstimmung hervorbrachte (Cohen’s Kappa = .88). Die 155 aggressiven Taktiken entsprechen einem Anteil von 18 Prozent aller von den Kindern genannten Taktiken. Um den unterschiedlichen Einsatz aggressiver Taktiken im Ablauf der Aushandlung zu berücksichtigen, wurden die Kinder in drei Gruppen eingeteilt: Kinder, die angaben, schon im ersten Schritt eine aggressive Taktik anzuwenden, Kinder, die dies erst zu einem späteren Zeitpunkt tun würden, und Kinder, die an keiner 2

1 Mädchenversion, 2

Jungenversion

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Stelle des Ablaufs eine aggressive Taktik erwähnten. Unter den 213 Kindern nannten 29 (14 %) eine aggressive Taktik bereits als ersten Schritt ihres Vorgehens, 68 (32 %) erst an späterer und 116 (54 %) an keiner Stelle. Somit nannten 46 Prozent der Kinder mindestens eine aggressive Taktik. Unter den 117 Mädchen würden 12 (10 %) bereits als ersten Schritt eine aggressive Taktik einsetzen, 46 (39 %) erst im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung und 59 (50 %) würden sich in keiner Phase aggressiv verhalten. Unter den 96 Jungen nannten 17 (18 %) als ersten Schritt eine aggressive Taktik, 22 (23 %) erst im weiteren Verlauf und 57 (59 %) überhaupt keine aggressive Taktik. Die Verteilung von Mädchen und Jungen auf die drei Gruppen wurde mittels log-linearer Analyse überprüft. Mehr Mädchen (39 %) als Jungen (23 %) würden aggressive Taktiken erst im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung anwenden (z = 2.19). Insgesamt nannten etwas mehr Mädchen als Jungen mindestens eine aggressive Taktik (50 % vs. 41 %), dieser Unterschied war aber nicht signifikant. Ziele: Um zu untersuchen, was die Kinder mit ihrem aggressiven Vorgehen erreichen wollen, wurden die Antworten der Kinder zu der Frage analysiert, was sie in der geschilderten Situation tun würden. Die Wahl eines Ziels war insofern eingeschränkt, als den Kindern durch die Frage im Interview »Wenn du Monika/Manuel wärst, was würdest du tun, damit sich die anderen die Idee anhören?« das Ziel nahe gelegt wurde, ihre Beteiligung bei der Gruppenarbeit zu erreichen. Wir wollten wissen, ob die Kinder im Verlauf der Befragung weitere Ziele entwickeln würden. Wirkungen: Die Erwartungen der Kinder im Hinblick auf die unmittelbaren Wirkungen der aggressiven Taktiken wurden erfasst, indem jedes Kind nach der Nennung einer Taktik gefragt wurde, welche Reaktionen es in der geschilderten Situation von den anderen Kindern der Gruppe erwarten würde. Stellung in der Schulklasse: Die Stellung eines Kindes beziehen wir auf seine Akzeptanz bei den anderen Kindern der Klasse und auf seinen Einfluss auf Vorgänge in der Klasse. Die Akzeptanz wurde mit Hilfe des sozialen Präferenzmaßes nach Peery (1979) bestimmt, das sich auf die soziometrische Methode stützt. Alle Kinder einer Klasse werden aufgefordert, drei

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Klassenkameraden zu nennen, die sie am liebsten mögen (positive Wahlen), und drei Klassenkameraden, die sie am wenigsten gern haben (negative Wahlen). Die soziale Präferenz ergibt sich aus der Differenz der positiven und negativen Wahlen. Da sich die Klassen hinsichtlich ihrer Größe unterschieden, wurden die Wahlen und die Variable soziale Präferenz auf die Klasse z-standardisiert. Mädchen waren durchschnittlich akzeptierter als Jungen (MM = 0.21 vs. MJ = -0.18; t = 3.03; p < .01). Der Einfluss wurde mittels eines in der Arbeitsgruppe entwickelten Instruments bestimmt. Jedes Kind wurde aufgefordert, alle anderen Kinder der Klasse auf einer dreistufigen Skala danach einzuschätzen, wie viel sie in der Klasse zu sagen haben. Für jedes Kind wurde der durchschnittlich von allen Klassenkameraden eingeschätzte Einfluss berechnet und ebenfalls auf die Klasse z-standardisiert. Es fanden sich keine Geschlechtsunterschiede hinsichtlich des Einflusses (Mädchen: MM = 0.03 vs. Jungen: MJ = -0.02; t = 0.39; p > .05).

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Ergebnisse

(1) Welche Formen aggressiver Taktiken wenden Kinder nach ihren Aussagen an, um sich in der vorgegebenen Aushandlungssituation gegenüber anderen Kindern zu behaupten? Die zu ihrem Vorgehen befragten Kinder nannten 155 aggressive Taktiken. Nach ihren Beschreibungen von rücksichtslosem, Zwang ausübendem und eventuell schädigendem Vorgehen lassen sich fünf Unterkategorien aggressiver Taktiken bilden (vgl. Tab. 1): Die Äußerungen der Kinder über ihre Taktiken konnten diesen Unterkategorien mit ausreichender Übereinstimmung der Rater zugeordnet werden (Kappa = .88). Wie Tabelle 1 zeigt, ist Eingreifen die am häufigsten genannte aggressive Taktik der Kinder (26 %), gefolgt vom massiven Sichäußern (24 %) und Schädigen (23 %). Seltener wählen die Kinder demonstrativen Rückzug (15 %) und Drohen (13 %). Schläge oder Tritte werden übrigens nur in neun Fällen berichtet; überwiegend wird mit psychischem Druck und psychischer Verletzung gegen das andere Kind vorgegangen. Jungen und Mädchen unter-

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Tabelle 1: Unterkategorien aggressiver Taktiken

Unterkategorie Massives Sichäußern

N 37

% 24

Eingreifen

40

26

Drohen

20

13

Schädigen

36

23

Demonstrativer Rückzug Insgesamt

23

15

155

100

Beispiele schreien, auf den Tisch hauen, immer wieder etwas Bestimmtes wiederholen die schreibende Hand festhalten, Britta (Bernd) das Blatt oder den Stift wegnehmen Konsequenzen androhen, sollte der/die andere der eigenen Forderung nicht nachkommen gegen die Person gerichtete Handlungen wie beleidigen, physisch verletzen, Freundschaft kündigen sich verweigern, schmollen, die Gruppe verlassen

scheiden sich nicht hinsichtlich der Anteile dieser Unterkategorien an den insgesamt genannten aggressiven Taktiken. (2) Welche Ziele verfolgen die Kinder nach ihren Berichten mit den von ihnen gewählten aggressiven Taktiken und welche unmittelbaren Wirkungen schreiben sie ihnen zu? Die den fünf aggressiven Taktiken zugeordneten Ziele und Wirkungen stützen sich zum einen auf Interpretationen der Äußerungen der Kinder, zum anderen auf Sachanalysen der von ihnen beschriebenen Handlungen.3 Ziele: Zwei Ziele werden genannt beziehungsweise sind aus den 3 Wirkungen und Ziele der aggressiven Taktiken wurden bislang nur von einem Rater eingeschätzt. Die aufgeführten Quantifizierungen dienen dazu, dem Leser einen ersten Eindruck von den Häufigkeitsverteilungen zu vermitteln, sie sollten aber nicht überinterpretiert werden.

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Äußerungen zu erschließen: das Ziel, Beteiligung am Entwurf der Geschichte zu erreichen, und das Ziel, das ausschließende Verhalten von Britta oder Bernd zu bestrafen, indem man Schaden zufügt. Den Berichten der Kinder ist zu entnehmen, dass sie überwiegend das Ziel verfolgen, Beteiligung zu erreichen, nämlich mit 137 der 155 identifizierten aggressiven Taktiken. Nur mit wenigen Taktiken zielten die Kinder darauf ab, Britta oder Bernd für ihr Verhalten zu bestrafen (18 Fälle). Dieses Ergebnis ist darauf zurückzuführen, dass durch das Interview das Ziel, die eigene Beteiligung zu erreichen, nahe gelegt wurde. Möglicherweise hätten die Kinder öfter die Bestrafung oder andere Ziele angegeben, wenn die Situation in dieser Hinsicht offener gewesen wäre. Trotzdem zeigen die Ergebnisse, dass aggressive Taktiken in einem hohen Maß mit dem Ziel eingesetzt werden, eine faire Beteiligung an der Gruppenarbeit zu erreichen. Unmittelbare Wirkungen aggressiver Taktiken: Die Gründe, um derentwillen Kinder aggressive Taktiken einsetzen, werden besonders deutlich, wenn man ihre Aussagen zu den erwarteten Wirkungen analysiert. Massives Sichäußern Diese Taktik besteht darin, das eigene Anliegen mit gesteigerter Intensität vorzutragen. Protestierend schreien, auf den Tisch hauen, auf den Tisch steigen sind eingesetzte Mittel. Oder das Kind wiederholt eine bestimmte Handlung so lange, bis die anderen genervt nachgeben. Es geht darum, die Aufmerksamkeit der anderen zu erzwingen, um auf diesem Weg Beteiligung zu erreichen. Wie kann die Aufmerksamkeit erzwungen werden? Taktiken wie Schreien, auf den Tisch Hauen oder hartnäckige Wiederholung einer Forderung bewirken eine Störung der anderen. Diesen ist es dadurch mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr möglich, ihre Aufgabe in Ruhe zu bearbeiten; sie werden gezwungen, auf das störende Kind zu reagieren. Ein Fünftklässler berichtete: K: Würd ich mich auf ’n Tisch stellen und sie, würd ich laut rumschreien. I: Hm, würdest dich auf ’n Tisch stellen und laut rumschreien? O. k., und wie würden die Kinder darauf reagieren an deinem Tisch?

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K: Die würden rufen: Schrei doch nicht so laut. I: Hm, schrei doch nicht so laut. Was würde dann passieren? K: (Pause) Dann würd ich sagen: Aber wenn ihr mir nicht zuhört! Die durch die Störung erzwungene Aufmerksamkeit muss geschickt genutzt werden, um eine Forderung zu formulieren oder die eigene Idee zur Geschichte zu erzählen. Eingreifen Durch Wegnehmen des Blattes, auf das geschrieben wird, oder durch Festhalten der Hand wird der Adressat physisch gehindert, seine Tätigkeit fortzusetzen. Diese Unterbrechung kann genutzt werden, um die eigene Idee einzubringen oder die eigene Beteiligung weiter auszuhandeln. Während es noch möglich ist, ein Kind zu ignorieren, das schreit oder hartnäckig seine Forderung wiederholt, so geht das beim Eingreifen nicht mehr. Die am Fortgang der Handlung Gehinderten müssen abwägen, ob sie Gehör schenken oder eine weitere Eskalation der Situation durch Zurückforderung oder Zurückeroberung des Entwendeten riskieren wollen. In gut der Hälfte der Fälle, so wurde aus den Berichten deutlich, würden die Kinder die entstandene Unterbrechung für weitere Aushandlungen nutzen. Beispielsweise berichtete eine Fünftklässlerin: K: Dann würd ich ihr den Zettel wegnehmen, der Britta. I: Der Britta, genau. K: Und, ähm, wenn sie sagt: Hey, gib das her und so, dann würd ich sagen: ähm, könntest du mir mal bitte auch zuhören? Ich hab auch eine Geschichte. Und lass uns das doch am Ende, wenn jeder seine Geschichte gesagt hat, am Ende sagen, welche besser ist. In knapp der Hälfte der Fälle zielte das Eingreifen nicht darauf ab, die Unterbrechung zu neuer Aushandlung zu nutzen, sondern die Kinder berichteten, sie würden die eigene Idee zur Geschichte auf das entwendete Blatt schreiben (knapp ein Drittel der Fälle). In etwa einem Sechstel der Fälle ging es ihnen nur darum, den Opponenten am Weiterschreiben zu hindern, ohne eigene Vorschläge einzubringen. Im letzteren Fall wurde mit dem Eingreifen nicht

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das Ziel verfolgt, sich Gehör zu verschaffen, sondern den Opponenten zu bestrafen. Drohen Durch Drohen soll das Gegenüber zum Einlenken bewegt werden. Drohungen sind, dem Lehrer zu petzen, die Gruppe zu verlassen oder die Freundschaft zu kündigen. Durch Drohung wird versucht, Angst vor bestimmten Konsequenzen auszulösen. Eine Drittklässlerin erzählte: K: Dann wär ich sauer auf die andern und hätte gesagt: wenn ’s so weitergeht, dann möcht ich nicht mehr eure Freundin sein, weil ihr mir ja sowieso nicht zuhört, und vielleicht hätten die ja dann auf mich gehört. I: Hm, wie würden die andern denn reagieren …? K: Dann hätten die wahrscheinlich gesagt, dass ich nicht gleich so Wutausbrüche kriegen soll, dass, ähm, dass ich ja so, nur neidisch bin auf Britta, und dann hätte ich gesagt, dass es nicht stimmt, nur ich bin sauer auf Britta, weil sie immer die Beste sein will, und so geht es nicht weiter. Eine Drohung muss allerdings nachteilige Konsequenzen glaubhaft machen. Zum Beispiel ist die Drohung, die Gruppe zu verlassen, nur dann wirksam, wenn das drohende Kind bei den anderen beliebt ist. Schädigen Diese Taktik reicht von Beleidigung, Beschimpfung, Ausschluss aus der Gruppe und Aufkündigung der Freundschaft bis zum Zerstören von Gegenständen oder körperlichen Verletzungen. Schädigen soll Einlenken bewirken. Es soll signalisieren, dass man nicht bereit ist, die Behandlung zu ertragen, und dass man gegebenenfalls weitere Gewalt anwenden wird. Diese Taktik ist zugleich Strafe. Aus den Berichten der Kinder ist zu erkennen, dass Strafe jedoch in drei Viertel der Fälle nicht das eigentliche Ziel ist, sondern durch die Schädigung soll die eigene Beteiligung erreicht werden. Der Bericht einer Fünftklässlerin verdeutlicht dies: K: Würd dann voll wütend aufstehn, ja. I: Hm, und was würde dann passiern, wenn du jetzt ausrastest?

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K: (Lachen) Wenn ich ausrasten würde, dann hau ich manchmal. I: Ja? K: Ich kann ganz schön aggressiv werden. I: Ja? Wen würdst du denn hauen, wenn? (…) K: Vielleicht die Britta da, weil die mir nie zuhört. I: Hm, vielleicht Britta, weil sie dir nicht zuhört. Ja, was … würd passieren, wenn du jetzt ausrastest und einen von den’n, also vielleicht Britta haust? (…) K: Na, dann würden die vielleicht ja Angst haben und dann denken die, dass ich den’n auch eine knalle. I: Ja? K: Dass, dann würden die dann zuhörn, vielleicht. Und die Britta würde heulend rausrennen. In etwa einem Viertel der Fälle hatte das Schädigen allein das Ziel, den Adressaten zu bestrafen, ohne dass Beteiligung angestrebt wurde. Dieses Vorgehen scheint zweischneidig zu sein. Auf der einen Seite ist Schädigung ein starkes Mittel, das viele Kinder dazu bringt, sich zu fügen. Auf der anderen Seite birgt diese Taktik die Gefahr der Eskalation. Außerdem kann sich solches Verhalten schlecht auf den eigenen Ruf und die Stellung auswirken. Demonstrativer Rückzug Sich verweigern oder schmollend die Gruppe verlassen, ist eine defensive Art der Sanktionierung, die mitteilt, dass man nicht bereit ist, sich in dieser Weise behandeln zu lassen. Es sollen ein schlechtes Gewissen und Reue ausgelöst werden. In knapp zwei Drittel der Fälle erwarteten die Kinder, dass das schlechte Gewissen die anderen dazu bringen werde, der Forderung, beteiligt zu werden, nachzukommen. Eine Drittklässlerin erklärte: K: Ja, dann würd ich erst mal rausgehen, also weil ich sauer bin, und denn, wenn ich mal kurz alleine bin, können die sich es anders überlegen, dann holen sie mich rein, hören mein Dings an, und denn mach ich den Anfang und Britta den Schluss. I: Hm, und wieso würden die dich reinholen, wenn du rausgehst?

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K: Also, viele haben also Mitleid damit. I: Ah ha, die würden dann Mitleid haben mit dir, wieso? K: Ja, weil ich denn, denn ins Klo gehen würde, die Beine nach oben und weinen, bis die mir zuhören wollen, sitz ich dann Kopfschmerzen kriegend. In gut einem Drittel der Fälle ging es nicht darum, sich durchzusetzen, sondern das Ziel war, die anderen durch ein schlechtes Gewissen zu bestrafen. Zusätzlich kann Angst vor weiteren Sanktionen, vor allem auf der Beziehungsebene, erzeugt werden, denn der Rückzug demonstriert den anderen, dass sie zu weit gegangen sind und dadurch die Beziehung bedrohen. (3) Welche Zusammenhänge finden sich zwischen dem Einsatz aggressiver Taktiken und der Stellung der Kinder (Akzeptanz, Einfluss) in ihrer Schulklasse? Wir erwarten, dass die langfristigen Wirkungen aggressiver Taktiken davon abhängen, an welcher Stelle in einer Auseinandersetzung ein Kind diese einsetzt. Um diese Annahme zu untersuchen, wurden die drei Gruppen von Kindern, die nach ihrem Einsatz aggressiver Taktiken gebildet wurden (vgl. die Erläuterung in Abschnitt 3: Methoden), hinsichtlich der Aspekte Einfluss und Akzeptanz miteinander verglichen (vgl. Abb. 1 und Abb. 2).

Abbildung 1: Durchschnittlicher Einfluss der Kinder (Mädchen und Jungen) nach Einsatz aggressiver Taktiken

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Im Hinblick auf ihren Einfluss unterscheiden sich die drei Gruppen nicht (F(2,210) = 1.77; p > .05). Ein Muster, das sich andeutet, nämlich geringerer Einfluss der Kinder, die angaben bereits im ersten Schritt eine aggressive Taktik einzusetzen, verfehlt die Signifikanzgrenze (vgl. Abb. 1).

Abbildung 2: Durchschnittliche Akzeptanz der Kinder (Mädchen und Jungen) nach Einsatz aggressiver Taktiken

Im Hinblick auf ihre Akzeptanz unterscheiden sich die drei Gruppen signifikant, wenn auch nur auf dem 10-Prozent-Niveau (F(2,210) = 2.45; p = .09). Im Anschluss durchgeführte Einzelvergleiche (Tuckey HSD) ergeben der Tendenz nach, dass Kinder, die nach ihren Aussagen bereits im ersten Schritt aggressive Taktiken einzusetzen gewillt waren, weniger akzeptiert waren als Kinder, die keine aggressiven Taktiken nannten (mittlere Differenz = 0.43; p < .07; vgl. Abb. 2). (4) Welche Geschlechtsunterschiede zeigen sich im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen dem Einsatz aggressiver Taktiken und der Stellung (Einfluss, Akzeptanz) der Kinder in ihrer Schulklasse? Vergleicht man für Mädchen und Jungen getrennt den durchschnittlichen Einfluss der drei Gruppen mit unterschiedlichem Einsatz aggressiver Taktiken, so finden sich ebenso wie für die Gesamtstichprobe keine signifikanten Ergebnisse (Mädchen: F(2,114) = 1.13; p > .05; Jungen: F(2,93) = 0.83; p > .05; vgl. Abb. 1).

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Im Hinblick auf den Zusammenhang des unterschiedlichen Einsatzes aggressiver Taktiken mit der Akzeptanz gibt es einen Geschlechtsunterschied. Nur für die Jungen zeigen sich Gruppenunterschiede (F(2,93) = 3.11; p = .05): Jungen, die angaben bereits im ersten Schritt der Aushandlung eine aggressive Taktik anzuwenden, sind signifikant weniger akzeptiert als Jungen, die keine aggressiven Taktiken nannten (mittlere Differenz = 0.68; p < .05). Bei Mädchen ergibt sich kein Zusammenhang zwischen unterschiedlichem Einsatz aggressiver Taktiken und Akzeptanz (F(2,114) = 0.01; p >.05; vgl. Abb. 2).

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Zusammenfassung und Diskussion

Um ein anerkennenswertes Ziel zu verfolgen, nämlich um ihre Beteiligung an einer gemeinsamen Aufgabe zu erreichen, geht annähernd die Hälfte der befragten Kinder aus dritten und fünften Grundschulklassen nach eigenen Angaben auch aggressiv vor. Die Aussagen ermöglichten es, fünf verschiedene aggressive Taktiken zu unterscheiden, die darin übereinstimmen, dass Kinder ihren berechtigten Wunsch, in die Ausarbeitung der Geschichte einbezogen zu werden, mit Mitteln zu erzwingen versuchen, die Regeln brechen, die freie Verfügung des Gegenübers einschränken und oft auch Nachteil oder Schaden bereiten. Auch wenn die Taktiken überwiegend mit dem Ziel eingesetzt werden, Beteiligung zu erreichen, so haben sie doch weithin einen sanktionierenden Anteil oder können als sanktionierend verstanden werden, denn der Versuch, Beteiligung zu erzwingen, enthält, zumal wenn er insistierend und mit Nachdruck vorgetragen wird, auch eine Komponente der Zurechtweisung. Zumindest indirekt wird mitgeteilt, dass das Verhalten des Kindes, das die Beteiligung der anderen Gruppenmitglieder verhindert, eine Regel bricht und man folglich das Recht hat, sich zu wehren und vielleicht sogar Vergeltung zu üben. Die fünf beschriebenen Untergruppen aggressiver Taktiken unterscheiden sich hinsichtlich des Ausmaßes und der Intensität des aggressiven Vorgehens. Vor allem die beiden Taktiken Schädigen und Drohen überschreiten eine Grenze, die auch bei heftigen Aus-

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handlungen von Problemlösungen respektiert werden sollte. Diese Taktiken richten sich direkt gegen die Person und ihr Territorium. Mit Lautstärke und Hartnäckigkeit sowie durch das Eingreifen in den Ablauf wird dagegen versucht, eine Aushandlung zu eröffnen oder wieder aufzunehmen. Demonstrativer Rückzug ist ein selbstdestruktives Vorgehen, das dem Kind, das aufgibt und weggeht, schaden kann und bei dem nicht sicher ist, ob es die anderen als Signal oder Warnung wirklich erreicht. Um keinen falschen Eindruck der Sozialwelt der Kinder zu erzeugen, sei daran erinnert, dass die meisten Kinder, die aggressive Taktiken nennen, auch andere Taktiken schildern. Aggressive Taktiken sind folglich nur ein Teil einer komplexeren Strategie, zu der auch nicht aggressive Komponenten gehören. Die aggressive Taktik verstärkt im Rahmen dieses umfassenderen Vorgehens den Nachdruck der Bemühungen um eine andere Form der Zusammenarbeit. Aus den Berichten der Kinder wird zudem deutlich, dass selbst eine Taktik, die als eine der Untergruppen aggressiven Vorgehens eingestuft wurde, neben dem ausgeübten Zwang auch noch nicht aggressive Komponenten enthalten kann. Der aggressive Anteil dient dazu, die Bereitschaft zu steigern oder zu erzwingen, über den Vorschlag zu verhandeln, den der Aggressor zugleich unterbreitet. Wenn zum Beispiel ein Kind Britta oder Bernd den Stift wegreißt, mit dem sie oder er die Geschichte schreibt, ohne auf die anderen zu hören, so soll diese Handlung nicht primär schädigen oder strafen, sondern eine Gesprächschance schaffen, da Britta oder Bernd nicht mehr fortsetzen kann, was sie oder er gegen den Willen der anderen tut. Es wäre interessant zu untersuchen, inwieweit aggressives Vorgehen geduldet wird, wenn es aus dem Zusammenhang heraus als verständliches Mittel für ein anerkennenswertes Ziel eingesetzt wird. Hinweise darauf, dass aggressives Handeln je nach Kontext verschieden bewertet wird, geben auch die vorgestellten Ergebnisse zur Frage, in welchem Schritt längerer Bemühungen um Beteiligung an der gemeinsamen Aufgabe eine aggressive Taktik eingesetzt wird. Der Akzeptanz in der Klasse ist abträglich, wenn ein Kind sein Ziel unmittelbar mit einer aggressiven Taktik durchzusetzen versucht. In einem späteren Schritt eines längeren Prozesses aggressive Taktiken einzusetzen, geht dagegen mit einer durch-

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schnittlichen Akzeptanz einher. Allerdings zeigt die nach Geschlecht getrennte Analyse, dass dieser Zusammenhang nur für die Jungen gültig ist. Für Mädchen scheint das Anwenden aggressiver Taktiken nicht im Zusammenhang mit ihrer Akzeptanz zu stehen. Möglicherweise wird aggressives Handeln von Mädchen eher als »sich nicht alles gefallen lassen« verstanden und nicht als abzulehnender Übergriff. Dieser Befund entspricht den Ergebnissen von French (1990), nach denen bei Mädchen mangelnde Akzeptanz ebenfalls nicht mit Aggressivität, sondern mit Zurückgezogensein verbunden ist. Weniger aussagekräftig sind die Ergebnisse im Hinblick auf den Zusammenhang aggressiver Taktiken mit dem Einfluss. Das erkennbare Muster verfehlt das Signifikanzkriterium und kann nicht als Beleg interpretiert werden. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Gruppen teilweise relativ klein sind und möglicherweise aus diesem Grund die Mittelwertsunterschiede nicht signifikant werden. Die Ergebnisse sprechen dafür, dass es sich lohnt, nicht nur zu untersuchen, ob überhaupt und wenn, wie häufig Kinder aggressive Taktiken anwenden, sondern auch, wann innerhalb der Abfolge von Schritten zum Erreichen eines Ziels sie dies tun. Die vorgestellten Auswertungen sind ein erster Versuch, diese Sequenz der Schritte in Untersuchungen zum aggressiven Verhalten zu berücksichtigen.4 Eines wurde in der Auswertung der Antworten der Kinder und bei der Analyse der Daten überaus augenfällig: Verhaltensweisen, die aggressiv genannt werden, weil sie mit Regelbruch und Verletzung ohne Rücksicht auf die Gegenseite eine Absicht durchsetzen wollen, sind sehr vielgestaltig und vieldeutig. Ob ihr Einsatz als verständlich gilt, ob ihnen Aussicht auf Erfolg zugeschrieben wird und ob demjenigen, der so vorgeht, ein Vorwurf daraus entsteht, entscheidet sich offensichtlich situativ und mit Blick auf die Handelnden. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Kinder einer Anlage folgend zu aggressiven Taktiken greifen, sondern sie benutzen sie um eines Ziels willen. Sie gehen dabei klug oder töricht vor und 4 Eine differenziertere Auswertung der vorliegenden Daten wird in der Dissertation von Judith Schrenk ausgearbeitet.

Aggressive Taktiken bei der Verfolgung eines anerkennenswerten Ziels

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steigern oder schwächen auf diese Weise ihre Aussichten auf Erfolg. Wir wollen nicht unterstellen, dass Kinder stets lange überlegen, ob sie eine aggressive Taktik anwenden wollen. Sie handeln vermutlich oft relativ spontan, weil die beschriebenen aggressiven Taktiken zu dem pragmatischen Verhaltensrepertoire gehören, auf das sie leicht zurückgreifen können. Dennoch unterscheidet sich unsere Sicht von der üblichen. Weithin gilt Aggression als das Musterbeispiel unkontrollierten Handelns. Aggression »bricht aus«, ein Kind »rastet aus«, Aggression demonstriert soziale Inkompetenz. Ohne Zweifel wird man für diese Aussagen Belege finden können. Eine Befragung ist vermutlich wenig geeignet, um diesen Teil aggressiven Verhaltens aufzuklären, weil diese Methode der Datensammlung nahe legt, den eigenen Handlungsschritten und weitgehend auch dem der anderen absichtsvolles Vorgehen zu unterstellen. Wahrscheinlich könnten Beobachtungen besser zeigen, inwieweit Kinder aus Mangel an Verhaltenskontrolle aggressiv werden. Unsere Daten sprechen jedoch dafür, dass viele aggressive Vorgehensweisen Taktiken sind, die aufgrund von sozialen Erfahrungen entwickelt wurden und oft sehr kompetent eingesetzt werden. In vielen Fällen signalisieren sie keineswegs Unvermögen, sondern Erfahrungswissen und pragmatisches Kalkül. So wie Intelligenz hilft, sich dumm zu stellen, schließt hohe Sozialkompetenz möglicherweise auch ein, im rechten Moment Ausdruck und Ton zu finden, die anderen klar machen, dass eine Grenze der Auseinandersetzung überschritten ist, die besser beachtet werden sollte. Die langfristigen Konsequenzen, die zu tragen sind, wenn aggressive Taktiken nicht klug gehandhabt werden, geben Kindern den Hinweis, dass diese gefährlichen Mittel der Beeinflussung des Interaktionsgeschehens nicht leichtfertig eingesetzt werden sollten.

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Judith Schrenk und Lothar Krappmann

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Franz Resch und Peter Parzer

Aggressionsentwicklung zwischen Normalität und Psychopathologie

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Einleitung

Tagtäglich werden uns von den Medien Auswüchse der Gewalt gespiegelt. Es handelt sich dabei nicht nur um institutionalisierte Gewalt, Krieg, Terror und Folter, sondern auch um gravierende individuelle Grenzüberschreitungen und Grausamkeiten im gesellschaftlichen Alltag: Massaker durch Schüler, Waffengebrauch auf den Pausenhöfen, rituelle Vergewaltigungen unter Jugendlichen und Erpressungen von Kindern durch Kinder. Historisch gesehen sind Gewalttaten auf politischer und individueller Ebene nicht neu. Historische Lichtgestalten haben nicht selten durch Gewalttaten die Unsterblichkeit ihres Namens errungen. Am Beginn des 21. Jahrhunderts finden wir eine immer breiter werdende Skepsis gegenüber Heroisierungen. Eine solche Skepsis betrifft auch die Verherrlichung von Gewalt. Die ungezügelte und perfide instrumentalisierte Gewalt in den Geschehnissen des Dritten Reichs unter der nationalsozialistischen Herrschaft hat der Verwirklichung von Gewaltvorstellungen nochmals eine neue Qualität verliehen. Aber so sehr unsere gesellschaftliche Skepsis gegenüber Gewalt wächst, so unübersichtlich die weltpolitischen Konfliktlagen sich auch darstellen, so einfach klingt aus dem Mund mancher Politiker die Lösung: Das Zerschlagen des gordischen Knotens ist allemal gewalttätig! In den Medien treiben Gewaltdarstellungen die Einschaltquoten in die Höhe. Häusliche Gewalt lässt tiefe Abgründe in der »heilen Familie« erkennen. Die starke Emotionalisierung des Themas Aggression insbesondere in seinen gewalttätigen Ausformungen macht eine besonnene Beschäftigung mit Entwicklungsfragen der Aggression schwierig.

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Zunehmenden aggressiven Tendenzen bei unseren Kindern und Jugendlichen steht ein verstärktes Bemühen gegenüber, durch präventive Maßnahmen, schulische Verhaltensprogramme und die Idee eines aggressionslosen Miteinanders in Beruf und Alltag Abhilfe zu schaffen. Fordern wir von der zukünftigen Generation die vollkommene Aggressionslosigkeit, schütten wir jedoch das Kind mit dem Bade aus. Dies soll in diesem Beitrag anhand einer Übersicht über wissenschaftliche Ergebnisse zur Aggressionsforschung verdeutlicht werden, wobei neurobiologische, psychologische und soziologische Aspekte Berücksichtigung finden.

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Definitionen

Ein Grundproblem der wissenschaftlichen Erfassung des Phänomens Aggression liegt bereits in der Vieldeutigkeit des Aggressionsbegriffs. So spannt sich der Bedeutungsbogen von negativen Willensäußerungen des Kleinkinds über Streitsituationen unter Schulkindern, bewaffnete Attacken von jugendlichen Banden bis hin zu ethnischen Säuberungen durch staatlich legitimierte Truppen (Cairns u. Cairns 2000). Während manche Definitionen von Aggression wie die von Buss (1961) immer eine negative zerstörerische Komponente hervorheben (Verhaltensweisen, die einem anderen Organismus schädigende Reize zufügen), betont eine andere Definition (Cairns u. Cairns 2000) den Aspekt der unprovozierten Aktion: Sie beschreibt Aggression als unprovozierte Handlung, die Leid und Verletzung hervorrufen soll. Der Wunsch zu schädigen wird motivational hervorgehoben. Dagegen möchten wir eine andere Definition stellen, die auch eine physiologische, dem menschlichen Streben und Expansionsdrang angemessene Seite der Aggression in den Fokus nimmt: Aggression ist die aktionale Erweiterung des Selbstentfaltungsstrebens zur territorialen und sozialen Behauptung mit der Bereitschaft, Grenzen (des Unbekannten, sozialer Regeln, der Intimität, körperlicher Integrität) zu überschreiten, um eigene Ziele zu erreichen. Die Selbstbehauptung und Sicherung der eigenen Person in territorialen und sozialen Auseinandersetzungen ist ein fundamentales Prinzip von Selbst- und Arterhaltung. Zur Verteidigung der ei-

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genen Angehörigen, der eigenen Rechte, oder gar des eigenen Überlebens ist es dem Menschen gegeben, auch aggressive Strategien erfolgreich einzusetzen. Letztlich werden solche Formen von Aggression auch in Gesellschaften ethisch gerechtfertigt (Aggression zur Verteidigung) und in sozialen Regelsystemen legitimiert. Auch das Brechen sozialer Regeln kann nicht grundsätzlich mit psychopathologischen Symptomen gleichgesetzt werden. Es gibt Formen von zivilem Ungehorsam und Widerstand gegen geltende Regeln, die gesellschaftlichen Fortschritt und ethische Weiterentwicklung bedeuten. In demokratischen Systemen – mit Meinungsäußerung und Zivilcourage in Verbindung gebracht – kann solches Verhalten in differenzierter Form gedeihen. Auch alltägliche Widerstände von Kindern gegenüber den von Erwachsenen aufgestellten Regeln sind im Rahmen des Entwicklungsprozesses als normal einzuschätzen: Nicht jede Rauferei, nicht jeder Streit unter Kindern, nicht jedes Necken und Ärgern ist als pathologisch zu verteufeln. Solche Spielarten sozialer Auseinandersetzungen gehören zum Erlernen sozialer Verhaltensweisen und müssen durch geeignete Erziehungsmaßnahmen im Beziehungsrahmen kanalisiert werden. Selbstbehauptung und aggressive Strebungen müssen kultiviert und in einem von Erwachsenen gelenkten Erziehungsprozess kooperativ entfaltet werden.

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Der entwicklungspsychopathologische Standpunkt

Das Erkennen altersangemessener Formen von expansiven Verhaltensweisen und die Erforschung von Entwicklungswegen von der Normalität hin zu pathologischen Aggressionsformen sollen unter entwicklungspsychopathologischen Gesichtspunkten erfolgen. Die Entwicklungspsychopathologie beschäftigt sich mit der Entstehung und dem Verlauf individueller Muster von fehlangepasstem Verhalten und kennzeichnet damit eine Sichtweise, die neurobiologische, psychologische und soziologische Erkenntnisse zu integrieren versucht. Einerseits werden Einflüsse der normalen Entwicklung auf die Genese psychopathologischer Symptome und andererseits Einflüsse psychopathologischer Symptome auf die normale Entwicklung des Individuums betrachtet (Resch et al.

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1999). Die entscheidenden Fragen sind diejenigen nach einer Definition pathologischer Aggression, den Entwicklungswegen pathologischer Aggression in der Wechselwirkung zwischen Individuum und sozialer Umwelt sowie nach den Zusammenhängen zwischen Verhalten und subjektivem Erleben bei Aggression.

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Definition von pathologischer Aggression und sozialer Grenzüberschreitung

Pathologische Aggression definiert sich durch die Wechselwirkung des Affekts »Wut« mit einem schädigenden Handlungsimpuls. Eine besondere Intensität des Wutaffekts und die Heftigkeit des Handlungsimpulses können ebenso pathologisch sein wie die Dissoziation zwischen Affekt- und Handlungsimpuls. Zur pathologischen Aggression zählen auch jene Formen, bei denen aus rationalem Kalkül ohne Wutaffekt destruktive Handlungsimpulse zur Erreichung persönlicher Ziele eingesetzt werden. Auch die Dauer des aggressiven Zustands, das Nichtabklingen einer aggressiven Grundhaltung trägt zu deren Pathologisierung bei. Generalisierung von Anlässen und aktive Provokation von Anlässen, um das eigene Verhalten zu legitimieren, sind ebenfalls Kennzeichen der pathologischen Aggression. Das Ausmaß, in dem durch einen destruktiven Handlungsimpuls soziale Regeln oder die Integrität und Intimität einer anderen Person verletzt werden, bildet die Grundlage der gesellschaftlichen Ächtung von Aggression. In psychiatrischen Klassifikationssystemen werden aggressive Verhaltensweisen und soziale Regelübertretungen wie folgt operationalisiert (es werden die entsprechenden Definitionen nach DSM-IV gegeben): Die Störung mit oppositionellem Trotzverhalten wird durch ein anhaltendes Muster von negativistischem, feindseligem und trotzigem Verhalten operationalisiert, wobei vier oder mehr der folgenden Symptome fassbar werden müssen: 1. wird schnell ärgerlich 2. streitet sich häufig mit Erwachsenen 3. widersetzt sich häufig aktiv den Anweisungen oder Regeln von Erwachsenen oder weigert sich, diese zu befolgen

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4. verärgert andere häufig absichtlich 5. schiebt häufig die Schuld für eigene Fehler oder eigenes Fehlverhalten auf andere 6. ist häufig empfindlich und lässt sich von anderen leicht verärgern 7. ist häufig wütend und beleidigt 8. ist häufig boshaft und nachtragend Die Störung wird nur dann als Verhaltensstörung aufgefasst, wenn sie in klinisch bedeutsamer Weise Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsbereichen zur Folge hat. Zu betonen ist, dass gerade bei Kindern im Vorschulalter und bei Jugendlichen in der Ablösungsphase zeitweiliges Oppositionsverhalten mit der normalen Selbstentwicklung verbunden ist. Da es sich um eine Reihe von Symptomen handelt, die im Rahmen von Interaktionen mit anderen Menschen zum Ausdruck kommen, wird deutlich, wie sehr die Wechselwirkung mit elterlichen Personen oder Gleichaltrigen zu einer Verstärkung oder Verringerung der Symptome beitragen kann. Die Störung des Sozialverhaltens wird als repetitives und anhaltendes Verhaltensmuster definiert, durch das die grundlegenden Rechte anderer und wichtige altersentsprechende gesellschaftliche Normen oder Regeln verletzt werden. Die Definition sieht vor, dass mindestens drei der folgenden Kriterien während der letzten zwölf Monate aufgetreten sind, wobei mindestens ein Kriterium in den letzten sechs Monaten aufgetreten sein muss. Aggressives Verhalten gegenüber Menschen und Tieren 1. bedrohte oder schüchterte andere häufig ein 2. begann häufig Schlägereien 3. hat schon Waffen benutzt, die anderen schweren körperlichen Schaden zufügen können (Schlagstöcke, Ziegelsteine, zerbrochene Flaschen, Messer, Gewehre) 4. war körperlich grausam zu Menschen 5. quälte Tiere 6. hat in Konfrontationen mit dem Opfer gestohlen (Überfall, Taschendiebstahl, Erpressung, bewaffneter Raubüberfall) 7. zwang andere zu sexuellen Handlungen

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Zerstörung von Eigentum 8. beging vorsätzlich Brandstiftung mit der Absicht, schweren Schaden zu verursachen 9. zerstörte vorsätzlich fremdes Eigentum Betrug oder Diebstahl 10. brach in fremde Wohnungen, Gebäude oder Autos ein 11. log häufig, um sich Güter oder Vorteile zu verschaffen oder um Verpflichtungen zu entgehen (»legte andere herein«) 12. stahl Gegenstände von erheblichem Wert ohne Konfrontation mit dem Opfer (z. B. Ladendiebstahl) Schwere Regelverstöße 13. blieb schon vor dem 13. Lebensjahr trotz elterlicher Verbote häufig über Nacht weg 14. lief mindestens zweimal über Nacht von zu Hause weg, während er noch bei den Eltern oder bei einer anderen Bezugsperson wohnte 15. schwänzte schon vor dem 13. Lebensjahr häufig die Schule Die Verhaltensstörung ist dadurch definiert, dass sie in klinisch bedeutsamer Weise Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsbereichen hervorruft. Zwei grundsätzliche Typen werden festgestellt: Der Typus mit Beginn in der Kindheit zeigt mindestens eines der für die Störung des Sozialverhaltens charakteristischen Kriterien bereits vor dem zehnten Lebensjahr. Der Typus mit Beginn in der Adoleszenz weist vor dem zehnten Lebensjahr keines der charakteristischen Kriterien auf. Unter Entwicklungsgesichtspunkten stellt nicht selten die Störung mit oppositionellem Trotzverhalten eine Vorläufersymptomatik für die Störung des Sozialverhaltens dar. Darauf wird später noch einzugehen sein. Für expansive Störungen besteht eine hohe Komorbidität. So finden sich in Anwesenheit von Sozialverhaltensstörungen odds-ratios für das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom von 7,7 bis 14,8 und für depressive Störungen von 4,4 bis 11,0 (Hill 2002).

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Risikofaktoren der Aggressionsentwicklung

Unter dem Titel der »Risikoverhaltensweisen« werden auch aggressive Handlungsmuster zusammengefasst, die als Symptom der Selbstregulation im Entwicklungsverlauf dienen. So finden wir in Pubertät und Adoleszenz hervorzuhebende Handlungsmuster, die einerseits durch einen Mangel an Selbstfürsorge, Gesundheitsbewusstsein und sozialer Umsicht gekennzeichnet sind und andererseits der Stabilisierung von Selbstwertgefühl und Identität des Individuums dienen. Die individuelle Bedeutung beispielsweise aggressiver Verhaltensweisen für das Selbst und den Selbstwert muss hervorgehoben werden. Gefahrvolle, riskante und andere schädigende Manöver werden vom Jugendlichen oft deswegen ausgeführt, weil sie dem Zuwachs des eigenen Handlungsspielraums oder einer Vermehrung der eigenen Bedeutsamkeit dienen. Aggressive Verhaltensweisen als Risikoverhaltensweisen stehen dabei in enger Wechselwirkung mit Vulnerabilitäten und Risikofaktoren der individuellen Entwicklung. Sie etablieren sich in der Auseinandersetzung des aktuellen Selbst mit der sozialen Umwelt. Risikoverhaltensweisen können also in negativen Interaktionszyklen mit anderen Individuen eskalieren und ins Pathologische übersteigert werden. Wir finden in Bezug auf destruktive Verhaltensweisen deutliche Geschlechtseffekte. Während nach außen gerichtete Aggressionen beim männlichen Geschlecht signifikant häufiger vorkommen, zeigen sich autoaggressive Störungen gehäuft bei weiblichen Individuen. Diese kommen beispielsweise als Selbstverletzungstendenzen zum Ausdruck (Resch et al. 2004). Genetische Einflüsse: Aus Zwillings- und Adoptionsstudien konnte für Verhaltensstörungen (kategorial und dimensional gemessen) ein Heritabilitätsindex von 0,4 bis 0,7 erhoben werden (Übersicht bei Hill 2002). Es zeigt sich dabei, dass offensichtlich genetische Faktoren eine ebenso wichtige Rolle für die Entwicklung pathologischer Sozialverhaltensweisen spielen wie umweltbezogene Einflüsse. Genetisch bedingte Vulnerabilitäten könnten als individuelle Risikofaktoren des Erlebens und Verhaltens in entsprechend ungünstigen Milieubedingungen zu pathologischen Handlungsstrukturen heranreifen. Im Folgenden werden einige neurobiologische und neuropsychologische Risikofaktoren benannt.

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Neuroanatomisch werden strukturelle und funktionelle Defizite im präfrontalen Kortex mit der Entwicklung pathologisch aggressiver Verhaltensweisen in Verbindung gebracht. Entsprechende Defizite sollten sich in sozialen Integrationsfunktionen und exekutiven Funktionen äußern. Auch Atrophien und Läsionen der Amygdala-Region werden mit verstärkten aggressiven Verhaltensweisen in Verbindung gebracht (Übersicht bei Raine 2002). Das am besten replizierte biologische Korrelat antisozialer Verhaltensweisen bei Kindern und Adoleszenten ist die autonome Hyporeagilibität: Diese äußert sich in einer niedrigen Herzfrequenz und einem geringen Hautleitwert bei Kindern schon unter Ruhebedingungen. Diese Befunde werden mit einer reduzierten noradrenergen Aktivität in Verbindung gebracht. Die starke Unteraktivierung des sympathischen Nervensystems könnte ein Risikofaktor für aggressive, antisoziale Verhaltensweisen sein. Unter dem Begriff der »Fearlessness« wird ein Theoriegebäude entwickelt, das davon ausgeht, dass Individuen mit reduzierter Arousal unter Stressbedingungen auch wenig Angst entwickeln. Antisoziale und gewalttätige Verhaltensweisen entstehen oft auf dem Boden der Angstlosigkeit, weil mögliche Bestrafungskonsequenzen von sozialen Regelübertretungen keine individuelle Beunruhigung hervorrufen. Zusammenhänge mit der Temperamentforschung legen nahe, dass angstfreie und nicht verhaltensgehemmte Kinder erniedrigte Herzfrequenzen in Ruhe aufweisen. Auf diese Aspekte soll im Abschnitt über Temperament und Persönlichkeit noch weiter eingegangen werden. Da sich bei fast allen Spezies im Tierreich männliche Individuen aggressiver als weibliche verhalten und in tierexperimentellen Befunden eine enge Assoziation zwischen aggressivem und sexuellem Verhalten gezeigt werden konnte, wurde der Einfluss von Geschlechtshormonen, insbesondere von Testosteron, auf aggressive Verhaltensweisen bevorzugt untersucht (Übersicht bei Matthys et al. 2003). Bei Kindern und Jugendlichen zeigen sich die Befunde aber nicht einheitlich (Laucht 2001). Offensichtlich überlagern reifungsbedingte Veränderungen der Testosteronsekretion im intraindividuellen Verlauf mögliche interindividuelle Unterschiede von Kindern am Übergang ins Jugendlichenalter. Möglicherweise spielen Phänomene des sozialen Rangs für die Ausschüttung von

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Geschlechtshormonen ebenfalls eine Rolle. Auch andere Hormone aus dem androgenen Spektrum, die der Nebenniere entstammen, zeigten einen Zusammenhang mit expansiven Verhaltensweisen: So konnten van Goozen et al. (1998) zeigen, dass acht- bis zwölfjährige Jungen mit Störungen des Sozialverhaltens erhöhte Dehydroepiandrosteronspiegel aufwiesen. Korrelationen ergaben sich mit dem Schweregrad des aggressiven und delinquenten Verhaltens. Das Hypophysennebennierenrindensystem (HPA-Achse) scheint ebenfalls an der Steuerung aggressiver Verhaltensweisen beteiligt. Immer wieder wird argumentiert, dass aggressive Verhaltensweisen mit einem erniedrigten Kortisolspiegel einhergehen. Bei Erwachsenen konnten entsprechende Befunde erhoben werden. Auch bei Kindern mit Verhaltensstörungen wurden im Speichel erniedrigte Kortisolwerte erhoben. Auch hier gilt wieder die Argumentationslinie, dass Kinder und Jugendliche mit aggressiven Verhaltensweisen weniger stressempfindlich seien. Solche Befunde wären mit jenen, die eine erniedrigte Aktivität des autonomen Nervensystems feststellen, kompatibel. Aufmerksamkeitsprobleme stellen einen wesentlichen Risikofaktor für die Entwicklung pathologischer Aggression dar. Das zeigt sich nicht nur an den hohen Komorbiditätsraten zwischen Aufmerksamkeitsdefizitsyndromen mit Hyperkinese und Sozialverhaltensstörungen unter klassifikatorischen Gesichtspunkten – auch bei dimensionaler Erhebung finden sich erhöhte Werte von Aufmerksamkeitsproblemen im Vorfeld von Störungen des sozialen Verhaltens. Ob die Aufmerksamkeitsprobleme die Erziehungsleistung von Eltern erschweren oder ob impulsive Verhaltensweisen im Rahmen des hyperkinetischen Syndroms elterliche Erziehungsstrukturen überfordern, stellt nur die eine Seite möglicher Zusammenhänge zwischen Aufmerksamkeit und Verhalten dar. Untersuchungen an Kindern im Alter von 27 bis 36 Monaten auf einem Response-Inhibitionstest, der insbesondere das bewusste Aufmerksamkeitssystem untersucht – das mit dem vorderen cingulären Kortex neuroanatomisch in Verbindung gebracht wird –, haben ergeben, dass Kinder, die ihre Verhaltensantworten besser kontrollieren können, auch von ihren Bezugspersonen als weniger impulsiv und weniger frustrierbar eingeschätzt wurden. Aufmerk-

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samkeitsprobleme könnten direkt auf die Fähigkeit von Kindern Einfluss nehmen, in sozialen Situationen aggressionsfördernde Stimuli zu erkennen und entsprechend früh eine Lösungsorientierung in sozialen Konflikten einzunehmen. Es gibt Hinweise, dass Kinder, die körperlich misshandelt wurden, in sozialen Situationen bedrohliche Aspekte besonders hervorheben und somit auch normale Alltagssituationen als subjektiv gefährlich erleben. Solche Kinder könnten zunehmend Probleme bekommen, ihre Aufmerksamkeit auf andere Lösungsmöglichkeiten einer sozialen Konfliktsituation zu verschieben. Verfrühte Fluchtreaktionen oder präventive Angriffsstrategien unter dem Eindruck der persönlichen Bedrohung würden in der Folge ungünstige soziale Lernprozesse vertiefen (Übersicht bei Hill 2002). Die Rolle der exekutiven Funktionen bei aggressiven Störungen des Sozialverhaltens wurde in den letzten zehn Jahren immer stärker untersucht. Die exekutiven Funktionen umfassen die Fähigkeiten, definierte Ziele durch angemessene effektive Handlungsstrategien zu erreichen. Notwendige Fertigkeiten dazu sind Lernprozesse, die Anwendung von Kontingenzregeln, abstraktes Denken, Problemlösungsstrategien sowie die Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeit und Konzentration. In vielen Tests zur Prüfung der Frontalhirnfunktion gibt es Überlappungen mit Störungen aus dem Bereich des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms. Es gibt jedoch erste Hinweise auf spezifische exekutive Funktionsdefizite, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit aggressiven Verhaltensmustern stehen (Seguin et al. 1999). Immer wieder wurden auch Verbalisierungsdefizite bei Kindern und Jugendlichen mit aggressiven Verhaltensweisen festgestellt. So werden im Rahmen von sozialen Dilemmata weniger verbale als aktionsorientierte Lösungen bevorzugt. Auch konnte gezeigt werden, dass Jungen mit früh beginnenden Verhaltensauffälligkeiten weniger Begriffe zur Beschreibung affektiver Zustände zur Verfügung hatten als die Jungen der Kontrollgruppe (Speltz et al. 1999).

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Temperament und Persönlichkeit

Während nach Fiedler (1995) die Persönlichkeit des Menschen durch charakteristische Verhaltensweisen und Interaktionsmuster definiert ist, mit denen das Individuum gesellschaftlichen und kulturellen Anforderungen zu entsprechen und seine zwischenmenschlichen Beziehungen mit Sinn zu füllen sucht, gilt nach Allport (1970) die Persönlichkeit als dynamische Organisation von psychophysischen Systemen eines Individuums, die dessen charakteristisches Verhalten und Denken determinieren. Die Persönlichkeit umfasst somit die Totalität unterschiedlicher Funktionsebenen des Individuums und kann darin vom Temperament unterschieden werden, das nur die physiologischen oder konstitutionellen Grundlagen der Persönlichkeit beschreibt: Temperament stellt wie Körperbau oder Intelligenz eine Art Rohmaterial zur Verfügung, aus dem die Persönlichkeit geformt wird. Allport (1970) spricht von einem biochemischen Klima oder inneren Wetter, in dem eine Persönlichkeit sich entwickelt. In Anlehnung an Posner und Rothbart (2000) können wir Temperament als konstitutionelle, individuelle Differenzen der Aktivität, Intentionalität, Affektregulation und Stimulussensitivität betrachten. Es ist davon auszugehen, dass Temperamentsdifferenzen – aufgrund genetischer Disposition – die Spontanaktivität und Responsivität von Individuen auf Umweltfaktoren beeinflussen. Neuere Studien bestätigen, dass auch die Temperamentssysteme der Entwicklung unterliegen (Posner u. Rothbart 2000). Alle bekannten Temperamentskonzepte gehen auf wenige basale Grundüberlegungen zurück. So wird einem Faktor »Reaktivität« mit negativer Emotionalität, Neurotizismus und Schadensvermeidung ein Faktor »soziale Annäherung« gegenübergestellt, der mit positiver Emotionalität, Extraversion und Annäherungsverhalten einhergeht. Die meisten Temperamentskonzepte beschreiben auch einen Kontrollfaktor zur Steuerung der emotionalen Intensität, dessen Vorhandensein oder Nichtvorhandensein die emotionale Regulation beeinflusst (Übersicht bei Nigg 2000). Neben solchen unmittelbar am Konzept der Emotionsregulation orientierten Temperamentsmodellen gibt es auch Modelle, die die Verhaltensorganisation und Handlungsorientierung stärker in den Fokus nehmen. Hervorzuheben

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ist die Vorstellung von Gray (1982), die insbesondere einem behavioralen Inhibitionssystem ein behaviorales Aktivierungssystem zur Verhaltensregulation gegenüberstellt. Beiden Verhaltenssystemen wird ein neurobiologisches Substrat zugeordnet. Das behaviorale Inhibitionssystem ist hoch reagibel auf Bestrafung und unbekannte Reize und drückt Eigenschaften wie Ängstlichkeit, Rückzugsneigung und Schadensvermeidung aus. Das Inhibitionssystem führt zu einem Zustand gespannter Erregung und erhöhter Aufmerksamkeit bei entsprechender Aktivierung. Es entstehen dadurch Angstaffekte, die eine Handlungstendenz zur Flucht vorbereiten. Die Amygdala und das limbische System werden dem Inhibitionssystem zugerechnet. Zentrale Überträgersubstanz dieses Systems scheint das Serotonin zu sein. Demgegenüber fördert das behaviorale Aktivierungssystem exploratorisches und zielgerichtetes Verhalten. Das behaviorale Aktivierungssystem wird durch Belohnung gesteuert und hat sein neurophysiologisches Substrat in den Basalganglien. Als zentral werden jene dopaminergen Nervenbahnen angesehen, die vom Mittelhirn zu den Basalganglien aufsteigen. Gleichzeitig sind thalamische Kerne und der präfrontale Kortex beteiligt. Behaviorale Aktivierung und behaviorale Inhibition stehen in einem dynamischen Gleichgewicht. Kinder mit erhöhter Umweltreagibilität können in der Balance von behavioraler Aktivierung und behavioraler Inhibition aus dem Gleichgewicht geraten (Resch u. Möhler 2001). Irritierbare Kinder mit vorherrschender behavioraler Aktivierung reagieren verstärkt negativ auf die Einschränkung ihrer Freiheitsgrade. Sie zeigen Wut bei Beschränkung ihres Verhaltens und können unter entsprechenden Entwicklungsbedingungen aggressive Tendenzen ausbilden. Demgegenüber zeigen irritable Kinder mit verstärkter behavioraler Inhibition vor allem Unbehagen bei neuen Reizen und Gefahren. Ihr zentraler Affekt ist Furcht, wobei sich in der Folge erhöhte Angstbereitschaft und Rückzugstendenzen entwickeln können. Unter negativen Entwicklungsbedingungen kann die Temperamentseigenschaft der Verhaltensinhibition eine Entwicklung von Angststörungen bahnen (Kagan u. Snidman 1999). Die Balance der temperamentsmäßigen Emotions- und Verhaltensregulation wird wesentlich durch Bezugspersonen beeinflusst. Grundlegende Temperamentseigenschaften entfalten sich nicht unabhängig von Um-

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welteinflüssen. Es besteht eine enge Wechselbeziehung mit elterlichen Interaktionen. Die Bedeutung der frühen Mutter-Kind-Interaktion für die spätere Entwicklung wurde von zahlreichen Autoren eingehend untersucht (Dornes 1997; Dornes 1998). Bindung als eine besondere Art einer affektiv getragenen Beziehung zwischen dem Kind und einer bevorzugten Person, die als beschützend und Halt gebend erlebt wird, wurde seit der Erstbeschreibung durch Bowlby (1969) vielfach empirisch untersucht. Während in den frühen Forschungen, die aufgrund des Trennungsexperiments von Ainsworth et al. (1978) durchgeführt wurden, mehr auf die Bindungssicherheit geachtet wurde, fokussiert das derzeitige Interesse verstärkt auf die Organisation des kindlichen Bindungsverhaltens (Green u. Goldwyn 2002). Den Bindungstypen sicherer Bindung (B), unsicher vermeidender Bindung (A) und ambivalent unsicherer Bindung (C) wurde als eigener Bindungstyp die desorganisierte Bindung (D) gegenübergestellt (Main u. Solomon 1990). Desorganisierte Bindungsstrukturen können in allen Bindungstypen auftreten. Es kommt zu Zeichen der Desorientierung und Fluktuation des Verhaltens. Dazu können Erstarren bei der Wiedervereinigung sowie bizarre Verhaltensweisen und widersprüchliche Verhaltensmuster wie Nähesuche und gleichzeitiges Wegschauen gezählt werden. Nach neuesten Befunden hat vor allem die Bindungsorganisation eine besondere Bedeutung. Während nach früheren Bindungsstudien unsichere Bindungsmuster im Kleinkindalter prädiktiv für erhöhte Scores an psychopathologischen Symptomen bei Kindern in höheren Lebensaltern sind, konnten Lyons-Ruth et al. (1997) feststellen, dass vor allem Kinder, die ein vermeidendes und desorganisiertes Bindungsverhalten in der Kindheit gezeigt hatten, später mit sieben Jahren expansive Verhaltensprobleme aufwiesen. Demgegenüber war das Risiko von Kindern mit vermeidenden Bindungsmustern ohne Verhaltensdesorganisation nicht erhöht. Desorganisierte Bindungsmuster wurden vor allem bei psychisch kranken und schwer traumatisierten Müttern beim Umgang mit ihren Kindern festgestellt. Ausgehend von einem transaktionalen Anlage-Umwelt-Modell wurde das Konzept der Passung entwickelt. Dabei wird die wechselseitige Bedeutung konstitutioneller Faktoren und der umgeben-

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den Milieubedingungen hervorgehoben. Kinder beeinflussen durch ihre Temperamentseigenschaften ihre soziale Umwelt und modifizieren damit deren Einflüsse. Es gibt Hinweise, dass negative Affektäußerungen des Kindes kurz nach der Geburt zu Veränderungen der mütterlichen Reagibilität führen können (van den Boom u. Hoeksman 1994). Demgegenüber können mütterliche Starre und Verhaltensdesorganisation beispielsweise bei psychischen Störungen nachhaltig die Interaktion mit dem Kind beeinträchtigen (Papousek et al. 2004). Die Frage, ob ein Temperamentsmerkmal einen Risikofaktor für die Entwicklung darstellt, ist also abhängig von den jeweiligen Umweltanforderungen. Genauso gut sind elterliche Verhaltensweisen und Störungen der Feinfühligkeit in ihren Auswirkungen unterschiedlich, je nachdem wie umweltempfindlich das Kind in seiner Verhaltens- und Affektregulation ist. Unter diesen Gesichtspunkten entwickelt sich pathologische Aggression dann, wenn ein Kind mit vermehrter Irritabilität eine Verringerung seiner Verhaltensinhibition zeigt. Störungen der Handlungskontrolle und Impulsivität stellen ebenso Risikofaktoren dar wie Störungen der Mentalisierung von Interaktionen mit mangelnder Selbstreflexion und mangelnder Fähigkeit zur sozialen Perspektivenübernahme. Solche Beeinträchtigungen finden sich im Entwicklungsverlauf eines gestörten Bindungskontextes zwischen Bezugspersonen und Kindern. Wo kein positiver emotionaler Dialog stattfindet, kann sich kein geeignetes mentales Modell für Beziehung entwickeln. Hervorzuheben ist die Diskussion um besondere Persönlichkeitsentwicklungsdefizite, die mit einem Mangel an Empathie, einem Mangel an Schuldgefühlen und mit Gefühlskälte einhergehen. Entsprechende Individuen zeigen kaum Angstaffekte, haben ein verstärktes Sensation-Seeking-Verhalten, sie zeigen eine reduzierte autonome Reagibilität auf Stresseinflüsse, das behaviorale Aktivierungssystem steht in der Verhaltensregulation gegenüber dem stark reduzierten behavioralen Inhibitionssystem im Vordergrund (Patrick u. Zempolich 1998). Solche Zeichen der Gefühlsarmut werden als Grundlagen einer »psychopathischen Persönlichkeitsentwicklung« angesehen. Die Entwicklung einer antisozialen Persönlichkeit kommt nicht selten durch die Interaktion von Gefühlsarmut, Aufmerksamkeitsstörungen, Impulsivität und Sozial-

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verhaltensstörungen zustande. Gerade die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern sollte aber nicht nur auf einer individuellen Betrachtungsebene abgehandelt werden. Multiple Wechselwirkungen mit der sozialen Umwelt spielen dabei eine fundamentale Rolle. Im Folgenden werden soziale und kulturelle Risikofaktoren für eine pathologische Aggressionsentwicklung benannt.

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Risikofaktoren des sozialen Umfelds

Risikofaktoren sind im Mikroklima der Familie, in den Beziehungen zu Gleichaltrigen und in allgemeinen sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen zu finden. In den familiären Beziehungsmustern ist der Einfluss einer desorganisierten Bindung zwischen Bezugsperson und Kind auf spätere aggressive Verhaltensweisen bereits angesprochen worden. Demgegenüber haben die Arbeiten von Patterson (1982) zeigen können, dass inkonsistente und gewaltbereite Erziehungsstile ebenso das Risiko für Störungen des Sozialverhaltens erhöhen. Generell abwertende, negative Grundhaltungen beeinflussen den Beziehungs- und Erziehungskontext in der Familie ungünstig (siehe Übersicht bei Resch et al. 1999). In spezifischer Weise können Gewaltübergriffe, sexueller Missbrauch und emotionale Vernachlässigung sich nicht nur ungünstig auf die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes, sondern auch auf die Entwicklung von pathologisch aggressiven Verhaltensweisen auswirken (Fergusson et al. 1996). Grundsätzlich ist festzuhalten, dass ein positives Erziehungsverhalten antisoziale Tendenzen bei Kindern reduzieren kann, während negative elterliche Einflüsse solche Verhaltensweisen begünstigen und fördern. In der Beziehung zu Gleichaltrigen finden sich bei Kindern mit aggressiven Verhaltensweisen multiple Beeinträchtigungen: Es zeigen sich mehr Konflikte zu den Mitgliedern der gleichaltrigen Gruppe, wobei in der Regel aggressive Kinder durch die normale Peergroup zurückgewiesen werden. Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder mit erhöhten Aggressionstendenzen sich devianten Peergroups mit kriminellen Tendenzen oder Suchtmittelmissbrauch anschließen. Erfahrungsgemäß ist der Eintritt in solche Gruppen niedrigschwelliger. Auch sonst abgelehnte

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Jugendliche werden akzeptiert, wenn sie sich dem Gruppenziel verpflichtet zeigen. In solchen Gruppen werden jedoch entsprechende Risikoverhaltensweisen noch verstärkt, sodass auch hier negative Entwicklungsschleifen die Folge sind. Grundsätzlich bleibt zu fragen, wo in der problematischen Beziehung von aggressiven Kindern zu ihren Gleichaltrigengruppen Ursachen oder Konsequenzen festzumachen sind. Werden Kinder aggressiv, weil sie abgelehnt werden? Oder werden sie abgelehnt, weil sie aggressiv sind? Die Tatsache eines ungünstigen Entwicklungseinflusses von negativen Interaktionen mit Gleichaltrigen auf aggressive Kinder bleibt von diesen Überlegungen unberührt. Auf eine integrative Modellbildung für die Entstehung pathologischer Aggression wird später eingegangen. Zusammenhänge zwischen gesellschaftlicher Armut, sozialer Benachteiligung und persönlicher Gewalt werden von Guerra et al. (1995) hervorgehoben. Vor allem spielt auch die Gewalt in der nächsten Wohnumgebung zur Förderung gewalttätigen Verhaltens eine Rolle. Allgemeine Förderprogramme der Regierungen wohlhabender Länder zielen auf eine Verbesserung von Armut und sozialer Benachteiligung ab, um entsprechende Risikofaktoren für Gewaltentwicklung weniger wirksam werden zu lassen. Neben allgemein humanen Überlegungen spielt die Idee der Gewaltprophylaxe hierbei sicherlich eine Rolle. Die spezielle Bedeutung des in den letzten Jahren zunehmend in politischen Krisenherden aufkommenden Suizidterrorismus weist jedoch ganz andere Rahmenbedingungen der Gefährdung aus (siehe Attran 2003). Eine entsprechende Untersuchung von Individuen, die der Gewaltbereitschaft des Suizidterrorismus zuneigen, erbrachte, dass sich keine klassische Psychopathologie der Persönlichkeit finden lässt. Auch Armut und Bildungsmangel kennzeichnen nicht das gesellschaftliche Umfeld solcher Individuen. Es handelt sich vielmehr um junge, ungebundene Männer, die durch charismatische Trainer in kleinen Gruppen stark ideologisiert wurden, wobei in den Gruppen Erfahrungen der sozialen Anerkennung, Stolz, soziale Kohäsion und religiöse Zukunfts- und Erlösungsvorstellungen entwickelt werden. Im Entwicklungsprozess dieser jungen Männer sind jedoch Gewalterfahrungen und Viktimisierungen aufgrund chronifizierter politischer Konfliktla-

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gen zu finden. Immerhin sind im Vorfeld zwei Drittel der Tatbereiten selbst verletzt oder angeschossen worden. Es handelte sich also um Personen, die selbst im Rahmen solcher Konflikte physische Verletzungen erfahren hatten. Inwieweit durch solche Mechanismen bei Kindern, die in Kriegsgebieten aufwachsen müssen, ein für die Zukunft gefährliches Aggressionspotenzial entstehen könnte, ist noch unabsehbar. Das mögliche Aggressionspotenzial der Kinder mit Kriegserfahrungen stellt eine enorme Herausforderung an westliche Länder dar, die einen Beitrag zum Weltfrieden leisten möchten.

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Eigene Untersuchungen zur Entwicklung aggressiver Verhaltensweisen

In einer epidemiologischen Studie, die die Abteilung für Kinderund Jugendpsychiatrie Heidelberg mit dem Gesundheitsamt des Rhein-Neckar-Kreises durchgeführt hat, wurden alle Einschulungskinder in Heidelberg und dem Rhein-Neckar-Kreis des Jahres 1996 zum Zeitpunkt der Einschulung und vier Jahre später in der vierten Klasse im Jahr 2000 mittels eines Fragebogens untersucht (Haffner et al. 2001). Es handelte sich dabei um eine anonyme Befragung der Eltern mittels der Child-Behaviour-Checklist (CBCL). Zum Zeitpunkt der Einschulung 1996 konnten 4.363 verwertbare Fragebögen eingeholt werden, das entsprach 64,7 Prozent aller Einschulungskinder der Region. Die Untersuchung in der vierten Klasse war an 3.981 Kindern mit vollständigen Datensätzen möglich, das entsprach 58,1 Prozent der Grundgesamtheit der Kinder in der vierten Klasse der Region. Details dieser Studie sind bei Haffner et al. (2001) nachzulesen. Sowohl bei der Einschulung als auch in der vierten Klasse zeigte sich, dass Kinder mit expansiven Störungen auch in hohem Maß emotionale Probleme im Sinne von internalisierenden Störungen aufwiesen. So war zum Einschulungszeitpunkt die Korrelation zwischen externalisierenden Problemen und internalisierenden Problemen mit einem Korrelationskoeffizienten von r = 0,524 ebenso groß wie zum Zeitpunkt der vierten Klasse, wo auch bei den Zehnjährigen die Korrelation von internalisierenden und externalisierenden Proble-

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Franz Resch und Peter Parzer

men einen Koeffizienten von r = 0,567 aufwies. Kinder mit schweren Verhaltensproblemen haben auch eine Fülle emotionaler Schwierigkeiten. Die Untersuchung von Risikofaktoren für auffällig aggressive Verhaltensweisen (PR mehr als 95) erbrachte Folgendes: In einem Gesamtmodell mit schrittweiser logistischer Regression und einem Ausschlusskriterium von p ≥ 0,05 blieben mehrere Risikofaktoren im Gesamtmodell signifikant: zum Einschulungszeitpunkt das männliche Geschlecht, Lärm im Wohnumfeld, das Faktum, dass der Vater nicht im Haushalt lebt, sowie psychische Probleme der Eltern. Die letzten drei Faktoren waren auch zum Zeitpunkt der vierten Klasse für aggressive Verhaltensweisen signifikant. Lärm im Wohnumfeld, psychische Probleme der Eltern und wieder der Vater, der nicht im Haushalt lebt, zeigten sich im Gesamtmodell mit einem signifikanten Beitrag zur Vorhersage auffällig aggressiver Verhaltensweisen. Auch aus anderen Studien wissen wir, dass Familien mit allein erziehenden Elternteilen in besonderer Weise von sozialen Risiken bedroht sind. Kinder aus solchen Familien zeigen vermehrt psychopathologische Auffälligkeiten.

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Entwicklungswege expansiver Störungen

Es gibt eine hohe Komorbidität zwischen Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom und oppositionellen Verhaltensstörungen. Diese wiederum bilden eine Risikogruppe für spätere Störungen des Sozialverhaltens (Loeber et al. 2000). Verhaltensstörungen gehen in komorbider Weise mit somatoformen Störungen und Depressionen einher. Soziale Verhaltensstörungen erhöhen das Risiko bei Aufmerksamkeitsdefizitsyndromen im Jugendalter, Substanzmissbrauch zu betreiben und andere Risikoverhaltensweisen zu übernehmen. Sozialverhaltensstörungen selbst bilden nicht selten die Voraussetzung für die Entwicklung von antisozialen Persönlichkeitsstörungen. Fergusson und Horwood (1995) zeigten, dass Kinder mit oppositionellen Verhaltensweisen, Verhaltensstörungen und Aufmerksamkeitsdefizitsyndromen zum Zeitpunkt des 15. Lebensjahres ein erhöhtes Risiko für Schulversagen und Gewalttätigkeit mit 16 Jahren aufwiesen. In dimensionaler Messung der ein-

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zelnen Verhaltensfacetten war die Prädiktion noch besser als mit kategorialen Krankheitseinheiten. Es zeigte sich ein Dosis-Wirkungs-Zusammenhang: Je mehr Probleme und Symptome aus dem Bereich expansiver Störungen Kinder mit 15 Jahren aufweisen, umso höher ist ihr Risiko für die Entwicklung pathologischer Aggression in späteren Lebensaltern. Von Moffitt et al. (1996) stammt die Einteilung in early-starters und late-starters. Diejenigen, die früh aggressive und expansive Symptome entwickeln – nämlich im Vorschulalter –, zeigen einen stärker persistierenden Verlauf der Problematik. Es handelt sich dabei um fünf bis zehn Prozent der männlichen Jugendlichen. Die late-starters haben erst im Jugendalter expansive Probleme, die Störung wird als adoleszenzlimitiert betrachtet. Es handelt sich dabei um 15 bis 20 Prozent der männlichen Jugendlichen. Earlystarters, die bereits im frühen Kindesalter expansive Störungen entwickeln, haben im Vergleich geringere Intelligenzwerte, ihre Aufmerksamkeitsleistung ist reduziert, sie zeigen eine erhöhte Impulsivität sowie generell neurobiologische Entwicklungsdefizite. Die Probleme mit Gleichaltrigen sind schon in frühen Altersstufen erkennbar. Solche Kinder wachsen vermehrt in negativen sozialen Umfeldern auf. Als Erwachsene begehen early-starters vermehrt Gewaltverbrechen, sind wiederholt in Kämpfe mit Gleichaltrigen verwickelt, sie weisen mehr Verurteilungen wegen Gewaltdelikten auf und haben in unterschiedlichen Lebensdomänen aggressive Verhaltenstendenzen. Aber auch die late-starters haben im Erwachsenenalter weiterhin Probleme. Sie haben gegenüber unauffälligen Jugendlichen häufiger Alkohol- und Drogenprobleme und zeigen vermehrt Gewalt gegenüber ihren Partnern (siehe Übersicht bei Hill 2002).

10 Modellbildung Betrachtet man alle dargestellten Risikofaktoren nun im Zusammenhang, kann man diese in additiver Weise verknüpfen. Ein solches Modell entspräche dem eines Liftes, in den immer mehr Personen einsteigen, bis schließlich ein letzter Fahrgast den Lift zum Stillstand oder gar zum Absturz bringt. In einem solchen Modell

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Franz Resch und Peter Parzer

zeigt sich, wie schwierig es sein kann, einzelne Risikofaktoren in ihrer Verursachung festzumachen. Ist der erste schwergewichtige Fahrgast aus dem Parterre schuld oder das Leichtgewicht aus dem dritten Stock, das schließlich das zulässige Gesamtgewicht überschreitet? Als Vulnerabilität könnte man den Fehler im Zugseil sehen, hinzukommende Gäste wären äußere Belastungen. In verschiedenen Untersuchungen mit der Child-Behavior-Checklist an unserer epidemiologischen Stichprobe konnten wir zeigen, dass Kinder eine umso höhere Symptombelastung aufwiesen, je mehr Probleme in ihrem psychosozialen Umfeld akkumuliert waren (Haffner et al. 2001). Trotzdem erscheint ein additives Modell der Entwicklung aggressiver Tendenzen nicht angemessen. Wir müssen ein Wechselwirkungsmodell der Entwicklung ansetzen. Die Risikofaktoren wirken von außen ein – zum Beispiel das elterliche Verhalten –, aber sie wirken auch von innen nach außen. So kann das Kind durch sein Temperament oder sein Verhalten negative elterliche Verhaltensweisen induzieren oder aggravieren. Auf diese Weise entstehen Zyklen wechselseitiger negativer Beeinflussung, bis wir schließlich eskalierenden Entwicklungszyklen gegenüberstehen. Wir sollten in der Entwicklungspsychopathologie besser nicht von Risikofaktoren, sondern von Risikoprozessen sprechen. Der empirische Nachweis einzelner Risikofaktoren gibt uns nur kurze Momentaufnahmen von eskalierenden Prozessen, die erst in der zeitlichen Auswirkung ihre fatalen Folgen nach sich ziehen (s. Abb. 1). Jede Störung der Affektregulation, die als Irritabilität oder Impulsivität zum Ausdruck kommt, kann an einer Störung des emotionalen Dialogs mit Bezugspersonen beteiligt sein. Chaotische Interaktionen mit Bezugspersonen oder Traumatisierungen in frühen Entwicklungsprozessen führen schließlich zu Beeinträchtigungen der Gedächtnisfunktion und Erlebnisverarbeitung. Dadurch kommt es zu einer Reduktion der reflexiven Funktionen; die Entwicklung mentaler Modelle wird gestört und die Fähigkeit zu Empathie und sozialer Perspektivenübernahme wird reduziert. Dadurch sinkt die Fähigkeit des Individuums, Konflikte und neue traumatische Erlebnisse zu verarbeiten. Es kommt zu einer Verstärkung der Beeinträchtigung der Affektregulation, was wiederum die Interaktion mit anderen Menschen bedroht. Auf diese Weise entstehen eskalierende Zyklen sich weiter verstär-

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kender Mangelzustände beim Individuum, die wiederum dysfunktionale Interaktionen mit der Umwelt begünstigen.

Abbildung 1: Entwicklung von Risikoprozessen in der sozialen Fehlanpassung des Individuums

Das Modell der Risikoprozesse zeigt auf, dass auch unterschiedliche Vulnerabilitäten und Risiken schließlich in einen Teufelskreis sich selbst verstärkender ungünstiger Wechselwirkungen zwischen Individualentwicklung und sozialer Umwelt münden können. Unabhängig davon, wo der Ausgangspunkt war, bleibt das Individuum in der Folge in einer beschädigten Umwelt beschädigt zurück.

11 Ausblick Jeder Versuch, die Prozesse der Entwicklung normaler und pathologischer Aggression in ihrer Komplexität darzustellen, ist ein gefährliches Wagnis. In unserem Bedürfnis nach schnellen Erklärungen müssen wir uns hüten, neurobiologischen Mechanismen, genetischen oder sozialen Risikofaktoren eine kausal-genetische Bedeutung für die Zunahme der Aggression in unserem Alltag zuzusprechen. Solch vorschnelle Erklärungen wären inhaltlich falsch, denn neurobiologische Prozesse sind bei Kindern und Jugendlichen selbst schon das Ergebnis einer Wechselwirkung angeborener

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Reaktionsbereitschaften mit Umweltbedingungen und daher bereits wesentlich umweltbestimmt. Die biographische Enkodierung und die Prozesse der neuronalen Plastizität haben aber durch die Verhaltensweisen des Individuums wiederum Auswirkungen auf die Umwelt. Wenn daraus eskalierende Entwicklungszyklen entstehen, kommt es zu vermehrter pathologischer Aggression bei der nächsten Generation. Die derzeit modische alleinige Bezugnahme auf Hirnfunktionen versucht das gesellschaftliche Problem zu individualisieren und wiegt uns in einer Scheinsicherheit, die uns in Gefahr bringen kann, die eigenen Anteile, die Auswirkungen unseres eigenen Umgangs mit der Umwelt aus dem Auge zu verlieren. Die Kriege, die wir heute führen, die Lügen, mit denen wir heute Politik machen, die Täuschungen und Tricks unseres Geschäftslebens bleiben nicht ohne Auswirkung auf die nächste Generation. Zwischen Fanatismus und Langeweile, Gewinnsucht und Menschenverachtung liegt ein verstecktes Erziehungspotenzial, das sich nicht selten unbemerkt in die familiären Kommunikationsmuster und Vorbildwirkungen einschleicht. Da nützen nicht allein pädagogische Sprüche und Präventionsprogramme. Wir können uns der transgenerationalen Verantwortung nicht entziehen. Wir sind die Lebensumwelten unserer Kinder; wir bestimmen mit, ob sie in eskalierenden Entwicklungszyklen gefangen bleiben oder nicht. Entwicklungspsychopathologie ist also nicht ein Erkenntnisgewinn im Elfenbeinturm. Systematisch ausufernde aggressive Tendenzen bei Kindern und Jugendlichen müssen uns ein Spiegel sein, unsere eigene Beziehungs- und Erziehungskultur und unsere Werte in den Fokus zu nehmen. Die frühe emotionale Differenzierung, die emotionale Kultivierung und die Zeit für Zuwendung, Verbalisierung und Teilhabe sind Bestandteile eines Präventionskonzepts, das sich von instrumenteller Kurzatmigkeit rasch befreien kann. Aggression als Verhaltensproblem ist nicht nur ein Problem einzelner disponierter Personen. Sie geht uns alle an.

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Herbert Scheithauer

Lästern, soziale Manipulation, Gerüchte verbreiten, Ausschließen – (geschlechtsspezifische) Formen aggressiven Verhaltens?

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Einleitung

Das Bild aggressiven Verhaltens im Kindes- und Jugendalter hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt. Bis zu den 1980er Jahren überwog die Meinung, dass Aggression vornehmlich ein männliches Problem darstelle. In Folge wurden oftmals ausschließlich männliche Populationen untersucht (vgl. Bandura 1979; Hyde 1986; Maccoby u. Jacklin 1974, 1980; Tieger 1980). So überwog auch in der klinisch-psychologischen Forschung lange Zeit das Bild vom »aggressiven, delinquenten Mann« und von der »nicht-« oder nur »vermindert-aggressiven Frau«. Daraus folgte, dass sich Definitionen von Aggression vornehmlich auf körperlich- oder auf verbal-aggressives Verhalten konzentrierten, welches bei Jungen und Männern häufig beobachtet und mit aggressivem Verhalten per se assoziiert worden ist. Sowohl in der Fachliteratur als auch im Alltagsdenken wurden – zum Teil bis heute – mit Aggression in der Regel nur bestimmte Verhaltensweisen assoziiert. Zu diesen prototypischen1 Verhaltensweisen zählt zum Beispiel »jemanden schlagen«, »treten« oder »beißen«, begleitet von Emotionen wie Wut oder Verärgerung. Theorien zur Entstehung aggressiven Verhaltens orientierten sich zumeist an empirischen Befunden aus Studien an männlichen Populationen, und Theorien zur Entstehung aggressiven und delinquenten Verhaltens bei Mädchen und Frauen an den bereits bestehenden Theorien, die ein solches Verhalten bei Männern zu erklären suchten (Böttger 1998; Burman et al. 2001;

1 Prototyp = Urbild.

Lästern, soziale Manipulation, Gerüchte verbreiten, Ausschließen

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Pepler u. Sedighdeilami 1998; Underwood et al. 2001; zusammenfassend Scheithauer 2003a). Seit den 1980er und 1990er Jahren rücken auch Formen aggressiven Verhaltens in den Fokus, die im Folgenden zusammenfassend als unprototypisch bezeichnet werden (Scheithauer 2003a). Es handelt sich dabei um relationale, indirekte und soziale Aggression. Zwar weist jede dieser Formen aggressiven Verhaltens jeweils eigenständige Merkmale auf, es lassen sich aber auch grundlegende Gemeinsamkeiten benennen: – sie beziehen sich darauf, eine Person indirekt oder direkt über die soziale Bezugsgruppe einer Person zu schädigen, beispielsweise mit Hilfe sozialer Manipulation, Diffamierung, Ausschluss oder durch das Verbreiten von Gerüchten (Scheithauer 2003a, S. 119). Im vorliegenden Beitrag wird ein Überblick über den Forschungsstand zu den unprototypischen Formen aggressiven Verhaltens vor dem Hintergrund der Frage gegeben, ob es sich um eine geschlechtsspezifische Form aggressiven Verhaltens handelt. Neben einer grundlegenden Definition und Abgrenzung werden Befunde zu den Folgen für die Täter und Opfer sowie zu Alters-, Entwicklungs- und Geschlechtsunterschieden zusammengefasst. Für tiefer gehende, deutschsprachige Zusammenfassungen sei an dieser Stelle auf Scheithauer (2003a), Ittel und von Salisch (2005) sowie Schäfer und Frey (1999) verwiesen.

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Was ist indirekte, relationale und soziale Aggression?

Indirekte, relationale und soziale Aggression finden zwar erst seit einigen Jahren in der Forschung vermehrt Beachtung, verschiedene Verhaltensweisen, die diesen Formen aggressiven Verhaltens zuzuordnen sind, wurden aber bereits seit Anfang der 1970er Jahre von verschiedenen Forschergruppen untersucht (z. B. Brodzinsky et al. 1979; Feshbach 1969; Feshbach u. Sones 1971). Seit Beginn der 1990er Jahre wurden diese Aggressionsformen explizit unterschieden und in Studien zum aggressiven Verhalten berücksichtigt: – Cairns et al. (1989) sehen soziale Aggression als eine »Manipula-

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Herbert Scheithauer

tion der Akzeptanz in der Gruppe durch Verleumdung, Ächtung oder Entfremdung« (S. 3232) an. Galen und Underwood (1997) erweitern diese Definition: »Soziale Aggression ist darauf ausgerichtet, das Selbstwertgefühl, den sozialen Status einer Person oder beides zu schädigen, und kann direkte Formen annehmen, wie zum Beispiel verbale Zurückweisungen, negative Gesichtsausdrücke oder Körperbewegungen, oder aber mehr indirekte Formen, wie zum Beispiel Gerüchte verbreiten oder sozialer Ausschluss« (S. 5892). – Björkqvist et al. (1992) definieren indirekte Aggression als »ein Verhalten, bei dem ein Täter versucht, Leiden auf eine Art und Weise zu verursachen, so dass es aussieht, als ob er/sie nicht mit der Intention gehandelt hat, dieses Leiden zu verursachen« (S. 1182) beziehungsweise als »soziale Manipulation, die eine Zielperson auf Umwegen attackiert« (Björkqvist et al. 2000, S. 1942), das heißt, der »Täter« vermeidet, selbst attackiert zu werden oder bleibt sogar gänzlich unentdeckt. – Relationale Aggression kennzeichnet ein Verhalten, »das die Beziehungen einer Person zu Gleichaltrigen oder die Gefühle der sozialen Zugehörigkeit und Akzeptanz beschädigt« (Werner et al. 1999, S. 154; vgl. Crick u. Grotpeter 1995; Galen u. Underwood 1997; Tomada u. Schneider 1997). Versucht eine Person über soziale Beziehungen einer anderen Person Schaden zuzufügen (z. B. Gerüchte verbreiten), so bezeichnet dies relationale oder Beziehungsaggression. Die einzelnen, von verschiedenen Forschergruppen im Schwerpunkt untersuchten Aggressionsformen weisen untereinander und zu den prototypischen Aggressionsformen große Überschneidungen auf: Körperliche und verbale beziehungsweise körperliche und soziale, relationale oder indirekte Aggression korrelieren mittelbis hochgradig miteinander und sind statistisch schwer voneinander zu trennen (vgl. Björkqvist et al. 1992; Crick 1997; Crick u. Grotpeter 1995; Kaukiainen et al. 1999; Underwood et al. 2001). Verschiedene Items der jeweils zugrunde liegenden Erhebungsverfahren beschreiben inhaltlich sowohl verbale als auch indirekte 2 Übersetzung von Scheithauer (2003a, S. 120/122).

Lästern, soziale Manipulation, Gerüchte verbreiten, Ausschließen

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oder relationale Formen aggressiven Verhaltens (vgl. Hawker u. Boulton 2000), zum Beispiel »jemanden ignorieren oder nicht mehr mit ihm sprechen« oder »jemandem sagen, dass er nicht mehr gemocht wird, bis er tut, was man verlangt«. Soziale und indirekte Aggression beziehen sich eher auf nicht konfrontatives Verhalten. Underwood et al. integrieren bei ihrem Konstrukt der sozialen Aggression darüber hinaus Items, die beispielsweise »Lästern«, »komische Gesichtsausdrücke« sowie bestimmte Formen eines ablehnenden, zurückweisenden Körperausdrucks umfassen (Paquette u. Underwood 1999). Die angeführten Verhaltensweisen werden zudem auch in Studien zum Bullying, zur Zurückweisung, Akzeptanz und Viktimisierung in der Gleichaltrigengruppe erfasst. Im Unterschied zur Aggression umfasst Bullying wiederholt ausgeführte negative Handlungen (z. B. körperliche Übergriffe, Spott, sozialer Ausschluss) einer oder mehrerer Personen gegenüber einer anderen Person über einen längeren Zeitraum, mit dem Ziel, der betreffenden Person Schaden zuzufügen. Dabei muss ein Ungleichgewicht in der Stärke zwischen Opfer und Täter/n zu Ungunsten des Opfers bestehen (Scheithauer et al. 2003, S. 17; für eine Zusammenfassung s. ebd.). Die häufigsten Formen von Bullying stellen Spotten und Beschimpfen, gefolgt von Schlagen, Bedrohen und Gerüchte verbreiten, aber auch der Ausschluss aus der Gruppe dar (Sharp u. Smith 1991). Diese oder sehr ähnliche Definitionen liegen den meisten Studien zum Bullying zugrunde (vgl. Borg 1999; Schuster 1996). Zurückweisung (rejection) umschreibt alle jene Verhaltensweisen, durch die eine Person aus der Gleichaltrigengruppe ausgeschlossen oder ihr deutlich gemacht wird, dass man sie nicht mag. Dies kann in direkter oder indirekter beziehungsweise verbaler oder nonverbaler Form geschehen (Arnold et al. 1999). Zurückweisungen durch Gleichaltrige reflektieren die Bewertung des Kindes durch seine soziale Umgebung in Form des generellen »Gemocht-« oder »Nicht-gemocht-Werdens«, nicht jedoch seine Verhaltensoder Persönlichkeitseigenschaften. Akzeptanz (popularity) durch Gleichaltrige bezieht sich auf den Status in der Gleichaltrigengruppe auf der Beziehungsebene, angezeigt durch den Grad der Beliebt-

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Herbert Scheithauer

heit oder Unbeliebtheit bei den Gleichaltrigen (vgl. Ladd 1999; Newcomb u. Bagwell 1995). Viktimisierung durch Gleichaltrige bezieht sich auf Übergriffe durch einen oder mehrere Gleichaltrige mit der Absicht, einem Opfer Verletzungen oder Schmerzen auf körperlicher oder psychischer Ebene zuzufügen (Hawker u. Boulton 2000; Vernberg et al. 1999). Deutlich wird, dass die einzelnen Konstrukte große Überschneidungen aufweisen, insbesondere Viktimisierung und Bullying, ihnen aber unterschiedliche Forschungstraditionen zugrunde liegen (Psychologie, Soziologie, Pädagogik). Zudem werden sie im Schwerpunkt von Forschern aus unterschiedlichen Regionen untersucht, wie z. B. im Fall des Bullying (eher Studien aus Europa) und der Viktimisierung (eher Studien aus den USA). Trotz der Versuche der angeführten Forschergruppen, die jeweils untersuchten und benannten Aggressionsformen (indirekte, soziale, relationale Aggression) als relativ eigenständig zu deklarieren, lassen sich auf der Itemebene große Überschneidungen ermitteln, das heißt, die jeweils entwickelten Skalen zur Erfassung der entsprechenden Aggressionsformen unterscheiden sich zum Teil nur darin, dass sich durch einzelne Items der Fokus der Betrachtung erweitert (wie z. B. im Fall der sozialen Aggression, die sich auch auf Körperbewegungen und Gesichtsausdrücke bezieht). Die Meinung, dass es sich letztlich um sehr ähnliche Bereiche handelt, wird von verschiedenen Autoren vertreten (z. B. Rys u. Bear 1997). Bisher liegen aber meines Wissens nach keine direkten empirischen Belege vor, also Studien, in denen die verschiedenen Skalen und deren Korrelation direkt miteinander verglichen wurden. In der Regel werden nur Korrelationen zwischen verbal-, körperlichsowie relational-, indirekt- oder sozial-aggressivem Verhalten dokumentiert.

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Ist es Aggression?

Nicht alle Verhaltensweisen, die im Rahmen von Studien zu den unprototypischen Formen aggressiven Verhaltens betrachtet werden, treten in einem negativen Sinn auf. Tratschen (gossip) zum

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Beispiel weist durchaus auch positive Eigenschaften auf: In der Gruppe führt Tratschen zur Erhöhung der Kohäsion, in Beziehungen erhöht Tratschen das Verständnis für Gemeinsamkeiten, auf der individuellen Ebene kann Tratschen mit einer Erhöhung des Selbst verknüpft sein (Kuttler et al. 2002). Ebenso erweisen sich nicht alle Formen des sozialen Ausschlusses (exclusion) aus der Gruppe als negativ: So gründen etwa einige Jugendliche spezifische Gruppen von Outsidern und »glorifizieren« ihren Außenseiterstatus, zum Beispiel im Rahmen jugendlicher Subkulturen, sodass ihr Status zur Identitätsbildung beiträgt (vgl. Thorkildsen et al. 2002). Das heißt, dass bestimmte Formen dieses Verhaltens, in Abhängigkeit von ihrer Funktion, durchaus als »normal« betrachtet werden müssen. Insgesamt sind weit über 200 unterschiedliche Definitionen aggressiven Verhaltens anzuführen (Underwood et al. 2001). Recht konsistent wird die Meinung vertreten, dass es sich um ein Verhalten mit Schädigungsabsicht handelt, das sich auf Personen oder Objekte bezieht, und dass das Verhalten vom Opfer als verletzend empfunden wird. Grundsätzlich umfasst Aggression (vgl. Scheithauer 2003a) – Einstellungen oder Absichten (z. B. Feindseligkeit, Schädigungsabsicht = Motivation), wodurch freiwillige (z. B. Schmerzzufügung beim Arzt im Rahmen einer Behandlung) oder unabsichtliche Handlungen ausgeschlossen werden, – Emotionen/Arousal (z. B. Ärger, Angst sowie entsprechende physiologische Begleitmerkmale) und – Verhaltensweisen (z. B. jemanden schlagen). In verschiedenen Studien wurde der Frage nachgegangen, ob es sich bei den hier beschriebenen, unprototypischen Formen der Aggression wirklich um Aggression handelt. Verschiedene Arbeitsgruppen (Crick 1995; Crick et al. 1996; Galen u. Underwood 1997) konnten nachweisen, dass die Mehrzahl der von ihnen befragten Kinder relational- und sozial-aggressive Verhaltensweisen (Verhaltensebene) als negativ, feindselig und andere Personen verletzend einschätzen (motivationale Ebene). Sie assoziierten diese mit Wut und Ärger und schätzten sie genauso negativ ein wie körperliche Aggression. Es handelt sich demnach um Verhaltens-

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weisen, die ausgeführt werden, wenn sich eine Person über andere Personen ärgert (emotionale Ebene). Somit liegt eine Schädigungsabsicht vor, und man kann – gemäß den Aggressionsdefinitionen – von einem aggressiven Verhalten sprechen. Auch die Folgen, die sich für betroffene Kinder und Jugendliche ermitteln lassen, verdeutlichen, dass es sich um ein aggressives Verhaltensmuster handelt. Inzwischen liegen verschiedene Studienergebnisse vor, die unterstreichen, dass Opfer unprototypischer Formen aggressiven Verhaltens nach wiederholten Viktimisierungen von psychischen Beeinträchtigungen berichten (z. B. Angststörungen, Depressionen; Crick u. Bigbee 1998; Crick u. Grotpeter 1996). Ungeklärt bleibt aber, ob eine emotionale Vulnerabilität das Risiko für Viktimisierungen und in der Folge für eine Verschlimmerung der psychischen Beeinträchtigungen erhöht oder aber, ob die psychischen Beeinträchtigungen infolge der relationalen Viktimisierung auftreten (Crick u. Grotpeter 1996; Hawker u. Boulton 2000). Unprototypische Viktimisierungen können sogar mit negativeren Konsequenzen verbunden sein als offene, körperliche Formen, denn ein wiederholtes Fernhalten aus der Gleichaltrigengruppe führt dazu, dass wichtige, altersentsprechende Entwicklungsaufgaben nicht bewältigt und altersentsprechende Kompetenzen nicht entwickelt werden (Rigby 1999). Auch auf der Seite der Täter konnten bei unprototypischen Formen der Aggression vermehrt psychische Beeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten ermittelt werden (z. B. somatische Beschwerden, Ängstlichkeit, Depression; Crick 1997). Besonders ausgeprägte Probleme weisen Kinder auf, die von ihren Mitschülern sowohl als offen- als auch als relational-aggressiv eingestuft werden. Sowohl offen- als auch relational-aggressives Verhalten ist verknüpft mit einem verminderten prosozialen Verhalten und einer stärkeren Zurückweisung durch Gleichaltrige (Crick et al. 1997).

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Geschlechtsunterschiede im Auftreten unprototypischer Formen aggressiven Verhaltens

Seitdem unprototypische Aggressionsformen untersucht werden, wird von verschiedenen Forschergruppen behauptet, dass es sich um ein typisch weibliches Verhaltensphänomen handelt. Während Männer und Jungen stärker zu physischen Formen aggressiven Verhaltens neigen, scheinen bei den unprototypischen Aggressionsformen Frauen und Mädchen zu überwiegen. Diese Ansicht wurde auch in interkulturellen Vergleichen untersucht. Fry (1992, 1998) fasst zusammen, dass anthropologische Studien in unterschiedlichen Kulturkreisen belegen, dass Frauen indirekte Formen der Aggression häufiger wählen als Männer. Österman und Mitarbeiter (1998) konnten in einem Vergleich von Stichproben unterschiedlicher Kulturen (Finnland, Israel, Italien und Polen) nachweisen, dass Mädchen am häufigsten indirekte Aggressionsformen wählten, im Gegensatz zu Jungen, die sich am häufigsten offen-aggressiv verhielten. Diese Befunde konnten auch in Indien unter Hindus, Moslems und Sikhs ermittelt werden (Björkqvist et al. 2001). In einem Vergleich von Stichproben (Achtjährige) aus Finnland, Schweden, Polen und den USA (mit afroamerikanischer und europäisch-amerikanischer Substichprobe) entdeckten Österman et al. (1994) trotz dieses Trends auch erhebliche Unterschiede im Ausmaß indirekter Aggression innerhalb der nationalen Subkulturen: Afroamerikanische Kinder wiesen, gefolgt von den europäischamerikanischen, die höchsten Nennungen auf (sowohl bei den Mädchen als auch bei den Jungen). In anderen Studien wurde festgestellt, dass auch relationale Aggression bei den afroamerikanischen Kindern häufiger vorkam als bei den europäisch-amerikanischen (MacDonald et al. 2000; Phillipsen et al. 1999). Frauen zeigen nach diesen Studien in unterschiedlichen Kulturen häufiger als Männer ein indirekt- beziehungsweise relational-aggressives Verhalten. In Kulturen mit hohem »Aggressionsniveau« weisen Frauen in stärkerem Ausmaß als Frauen aus anderen Kulturen ein aggressives Verhalten auf, dennoch liegt das gesamte Ausmaß ihres aggressiven Verhaltens (körperlich, verbal, unprototypisch zusammengenommen) scheinbar generell unter dem von Männern.

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Im Rahmen eines umfassenden Reviews zum Forschungsstand im Bereich unprototypischer Formen aggressiven Verhaltens im Kindes- und Jugendalter und einer eigens durchgeführten Meta-Analyse kommt Scheithauer (Scheithauer 2002a, 2002b; Scheithauer u. Petermann 2002) zu der Schlussfolgerung, dass sich hinsichtlich des Auftretens von Geschlechterunterschieden ein sehr inkonsistentes Bild ergibt. Auf der Basis einzelner Studienbefunde kann nicht entschieden werden, ob unprototypische Formen der Aggression (Täterseite) als typisch weiblich zu bezeichnen sind: Einige Untersuchungen kommen zwar zu dem Ergebnis, dass Mädchen unprototypische Formen häufiger zeigen, andere belegen aber ein Überwiegen bei den Jungen und wiederum andere Studien weisen ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis nach. Für die Opfer relationaler Aggression führte die Arbeitsgruppe um Crick den Begriff relationale Viktimisierung ein (Crick u. Grotpeter 1996; Werner et al. 1999). In einem umfassenden Überblick über Studien zur relationalen Viktimisierung gelangen Crick et al. (2001; vgl. Scheithauer 2003b) ebenso zu dem Schluss, dass sowohl Belege für ein Überwiegen von Jungen, für ein Überwiegen von Mädchen als auch für einen Geschlechterausgleich vorliegen. Diese Inkonsistenzen in den Ergebnissen begründeten die Notwendigkeit, eine Meta-Analyse zur Stärke der Geschlechtsunterschiede durchzuführen.3 In eine erste Analyse zu Geschlechtsunterschieden im Auftreten unprototypischer Aggressionsformen auf der Täterseite (Scheithauer 2002a; 2002b; Scheithauer u. Petermann 2002) flossen 65 Effektstärken für 35 unabhängige Stichproben ein, die sich insgesamt auf etwa 12.000 Kinder und Jugendliche bezogen. Die Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: – Obwohl die Gesamteffektstärke (d. = 0,04), bezogen auf alle Altersgruppen (bis zum Alter von 18 Jahren), darauf hindeutet, dass Mädchen gegenüber den Jungen bei den unprototypischen Formen der Aggression überwiegen, erweist sich dieser Gesamtgeschlechterunterschied als sehr gering. Insgesamt kann von einem Geschlechterausgleich gesprochen werden. 3 Aus Platzgründen wird an dieser Stelle auf genauere Angaben zur methodischen Vorgehensweise, zum Auffinden und zur Auswahl der Primärstudien, zu den kategorialen Moderatoranalysen und so weiter verzichtet.

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– Es existieren allerdings bemerkenswerte Altersunterschiede: Mädchen zeigen während des Vorschulalters häufiger unprototypische Aggression als Jungen. Nach einem Angleichen der Unterschiede überwiegen Mädchen im Jugendalter erneut. In einer weiteren Analyse betrachteten wir Geschlechtsunterschiede im Auftreten unprototypischer Formen der Viktimisierung (Scheithauer 2003b). Insgesamt bezogen sich die berücksichtigten Primärstudien auf über 21.000 Kinder; es flossen 58 Effektstärken aus 29 unabhängigen Stichproben ein. Die Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: – Obwohl die mittlere gewichtete Gesamteffektstärke (d. = 0,11), bezogen auf alle Altersgruppen, anzeigt, dass Mädchen unprototypische Formen der Viktimisierung insgesamt häufiger erfahren als Jungen, erweist sich der Unterschied als sehr gering; man kann auch hier eher von einem Geschlechterausgleich sprechen. – Es wurden wiederum Altersunterschiede ermittelt: Mädchen erfahren demnach in stärkerem Ausmaß als Jungen im Schulalter unprototypische Formen der Viktimisierung. Der Peak in der frühen Adoleszenz gibt einen Hinweis darauf, dass unprototypische Formen der Viktimisierung für Mädchen in diesem Alter eine besondere Rolle zu spielen scheinen und innerhalb der in der Regel gleichgeschlechtlichen Peergruppe von besonderer Bedeutung sind. Die Befunde belegen also altersabhängige Unterschiede im Auftreten unprototypischer Formen der Aggression und Viktimisierung. Zudem lässt sich, abgesehen vom Alter der Kinder und Jugendlichen, aus den jeweiligen Primärstudien eine Reihe von Faktoren ermitteln, die einen Einfluss auf die Stärke des Geschlechtsunterschieds ausüben (z. B. befragte Informationsquelle). Dabei wird deutlich, dass die Befunde zum Überwiegen in den jeweiligen Altersgruppen auch bedingt sein können durch in unterschiedlichem Maß befragte Informationsquellen (im Vorschulalter waren dies vornehmlich Erzieherinnen, im Jugendalter die Jugendlichen selbst, z. B. in Form von Peernominierungen). Weitere Analysen müssen hier noch für Klärung sorgen.

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Weiterhin belegen die Befunde, dass sich das Ausmaß aggressiven Verhaltens von Jungen und Mädchen insgesamt – schließt man intensivere Äußerungsformen aggressiven Verhaltens aus (s. Fußnote 4) – annähert, wenn unter Aggression nicht nur offen-, physisch-aggressive Handlungen, sondern auch verdeckte, indirekte und relationale Verhaltensweisen verstanden werden (vgl. Crick u. Grotpeter 1995; Lagerspetz et al. 1988; Werner et al. 1999). Ähnlich ist die Situation beim Auftreten von Bullying, unter Berücksichtigung seiner indirekten und relationalen Formen (Hayer et al. 2002; Jugert et al. 2000; Scheithauer et al. im Druck).

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Alters- und entwicklungsbedingte Unterschiede im Auftreten unprototypischer Aggressionsformen

Die von uns im Rahmen einer Meta-Analyse ermittelten Altersunterschiede im Auftreten von Geschlechtsunterschieden bei den unprototypischen Aggressionsformen belegen weitgehend eine von der Arbeitsgruppe um Kai Björkqvist (1992) auf der Basis eigener Befunde zur indirekten Aggression formulierte Entwicklungstheorie, die von anderen Wissenschaftlern in ähnlicher Weise bestätigt werden konnte (zusammenfassend Scheithauer 2003a). Demnach kann man absolut gesehen (für Mädchen und Jungen) davon ausgehen, dass sich aggressives Verhalten im frühen Kindesalter zunächst vorrangig in offener, physischer Form äußert; mit differenzierteren verbal- und sozial-kognitiven Fertigkeiten nehmen indirekt-, verbal- und sozial-manipulative Verhaltensweisen zu (Björkqvist 1994; Björkqvist et al. 1992; Crick et al. 1998; Henington et al. 1998; Kaukiainen et al. 1996; Schlossman u. Cairns 1993; Xie 1998). Offen- beziehungsweise physisch-aggressives Verhalten nimmt hingegen im Verlauf der Entwicklung ab (Österman et al. 1998), zum Beispiel weil direkte Aggressionsformen mit zunehmendem Alter der Kinder vom sozialen Umfeld weniger toleriert werden (Björkqvist et al. 1994). In der Literatur wird zudem berichtet, dass Mädchen Jungen gegenüber in unterschiedlichen Bereichen einen Entwicklungsvorsprung aufweisen, der einerseits dazu führt, dass sie in geringerem Maß körperlich-aggressives Verhalten zeigen beziehungsweise die-

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ses früher als Jungen wieder ablegen, und der andererseits bewirkt, dass sie aufgrund vermehrter sozialer Kompetenzen subtilere Verhaltensformen wählen und früher als Jungen zum Beispiel indirekte Formen der Aggression oder manipulatives Verhalten zeigen (zusammenfassend Scheithauer 2003a). Der Übergang von offenkörperlichen Formen aggressiven Verhaltens zu subtileren, unprototypischen Formen scheint besonders deutlich ab dem elften Lebensjahr, mit dem Einsetzen der Pubertät, aufzutreten (Schlossman u. Cairns 1993; Leschied et al. 2000). Ab diesem Alter nimmt die Bedeutung gegengeschlechtlicher Beziehungen (z. B. Freundschaften, romantische Beziehungen) für Jungen und Mädchen sowie insbesondere für Mädchen die Bedeutung der gleichgeschlechtlichen Altersgruppe zu (Maccoby 1990). Jungen- und Mädchengruppen weisen eine unterschiedliche Struktur und Funktion auf. Um Geschlechtsunterschiede im Auftreten unprototypischer Formen aggressiven Verhaltens zu verstehen, ist es notwendig, die Bedeutung der Gleichaltrigengruppe (peers) für Kinder und Jugendliche zu betrachten. Die Empfänglichkeit für Einflüsse durch Gleichaltrige erreicht im frühen Jugendalter, um das zwölfte Lebensjahr herum, ihren Höhepunkt (Berndt u. Murphy 2002; Gifford-Smith u. Brownell 2003; Steinberg u. Silverberg 1986). Aspekte wie die eigene Beliebtheit und Popularität (popularity) unter Gleichaltrigen erweisen sich insbesondere in diesem Altersabschnitt als bedeutsam (Fuligni et al. 2001). Freundschaften bezeichnen eine freiwillige, dyadische Form der Beziehung, die in der Regel eine positiv-affektive Verbindung beinhaltet (von Salisch u. Seiffge-Krenke 1996). Freundschaften unter Mädchen schließen im Gegensatz zu Jungen im Jugendalter weniger Gleichaltrige ein, sind dafür aber umso intensiver (Berndt u. Murphy 2002; Blyth u. Foster-Clark 1987; Buhrmester 1996; Daniels-Beirness 1989; Fabes et al. 1996; Kolip 1993; Maccoby 1990; Thorne 1993), das heißt, dass Mädchen in diesem Alter eher kleine, intime Gruppen und dyadische Freundschaften bevorzugen und häufiger sowie intensiver über Gefühle und Beziehungen reden als Jungen (vgl. Black 2000). Während Mädchen durch Gespräche und Selbstöffnung Intimität und Vertrautheit zu ihren Freundinnen aufbauen, verläuft dieser Vorgang bei Jungen vor-

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wiegend über gemeinsame Aktivitäten (McNelles u. Conolly 1999). Soziale Beziehungen in Jungengruppen sind häufiger durch Dominanzverhalten und Rangordnungen gekennzeichnet (Lever 1978; Pellegrini 1995; Thorne 1986). So ist beispielsweise bei Jungengruppen häufig von außen ein Anführer zu erkennen. Die Form aggressiven Verhaltens scheint somit für Jungen und Mädchen vor dem Hintergrund ihrer psychosozialen Entwicklung unterschiedliche Funktionen einzunehmen (vgl. Björkqvist et al. 2000; Crick et al. 1996; Galen u. Underwood 1997): Offen-aggressives Verhalten steht in einem Zusammenhang mit den Zielen, die für Jungen in ihrer Gleichaltrigengruppe von Bedeutung sind (insbesondere hinsichtlich ihres Dominanzverhaltens). Unter Jungen stellen – einer maskulinen Geschlechterrollenorientierung entsprechend – Fragen der Stärke und des Status in der Gruppe wichtige Themen dar, die eher mit körperlich- und verbal-aggressivem Verhalten einhergehen. Relational-aggressives Verhalten hingegen nimmt innerhalb der psychosozialen Entwicklung von Mädchen einen besonderen Stellenwert ein, indem es die sozialen Beziehungen innerhalb ihrer Gleichaltrigengruppe betrifft. Im frühen Jugendalter scheinen Mädchen durch die zunehmend an Bedeutung gewinnende Gleichaltrigengruppe vermehrt sozial-manipulative und damit indirekt-aggressive Verhaltensweisen zu zeigen, da sich dieses Verhalten gleichaltrigen Mädchen gegenüber als besonders schädigend erweist. Darüber hinaus ist denkbar, dass Mädchen im frühen Jugendalter nicht unbedingt in stärkerem Maß unprototypische Aggressionsformen zeigen oder erfahren, sie aber aufgrund der Bedeutung in ihrem Leben eine sensiblere Wahrnehmung für diese Verhaltensphänomene aufweisen. Christina (2001; vgl. Sippola 2004) geht davon aus, dass relationale Aggression eine wichtige Funktion innerhalb der normativen sozialen Entwicklung von Mädchen erfüllt: Mit Hilfe relationaler Aggression gelingt es Mädchen, die für sie wichtigen und intensiven Beziehungen zu gleichaltrigen Mädchen zu entwickeln und vor allem aufrechtzuerhalten. Zwar erweist sich in der Studie von Christina unter Viert- und Fünft- sowie Achtklässlerinnen relationale Aggression als Prädiktor für Zurückweisungen durch Gleichaltrige, gleichzeitig jedoch auch als Prädiktor für freundschaftliche Beziehungen zu anderen Mädchen. Hand-

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lungen wie zum Beispiel »über Dritte Lästern« (gossip) treten in der Regel im Rahmen von Freundschaftsbeziehungen auf, Ausschluss einer dritten Person erfolgt oftmals, um eine andere Freundschaft zu stärken. Lästern über Dritte im positiven Sinn erwies sich als Prädiktor für Akzeptanz unter Gleichaltrigen sowie für intensive Freundschaften. Unprototypische Aggressionsformen scheinen somit für die Bewältigung altersspezifischer Entwicklungsaufgaben von Mädchen eine wichtige Funktion einzunehmen.

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Abschließende Bemerkungen

Aus den angeführten Befunden lassen sich drei wesentliche Schlussfolgerungen ableiten: 1. Die Studien verdeutlichen, dass es sich bei den unprototypischen Formen aggressiven Verhaltens tatsächlich um eine Form der Aggression handelt. Alle Definitionsbereiche aggressiven Verhaltens sind erfüllt (emotionale, motivationale Komponente und angedrohtes bzw. ausgeführtes negatives Verhalten). Die Befunde zu den Folgen unprototypischer Aggressionsformen verdeutlichen, dass es sich um ein Verhalten handelt, das bei den Opfern sichtlich Leidensdruck erzeugen kann und gern vermieden würde. Auf Seiten der Täter lassen sich eine Reihe psychosozialer Beeinträchtigungen sowie Defizite in sozialen Fertigkeiten ermitteln. 2. Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass nicht alle Kinder, die sich beispielsweise relational-aggressiv verhalten, Defizite in ihren sozialen Fertigkeiten aufweisen. Vielmehr setzen einige Kinder und Jugendliche unprototypische Formen aggressiven Verhaltens gezielt ein, um über die sozialen Beziehungen subjektive Ziele zu erreichen oder ihren Status in der Gruppe zu erhöhen. So korrelieren auch prosoziale Fertigkeiten mit relational- oder indirekt-aggressiven, nicht jedoch mit offen- beziehungsweise körperlich-aggressiven Verhaltensweisen (Kaukiainen et al. 1999). Das heißt, man kann davon ausgehen, dass diese Kinder sehr wohl soziale Fertigkeiten besitzen, indem sie beispielsweise in kognitiver Hinsicht die Perspektive anderer Kinder einnehmen und somit die Wirkung ihres Verhaltens einschätzen kön-

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nen, sie »empfinden« jedoch nicht mit den Opfern – das heißt, sie zeigen keine empathisch-emotionalen Reaktionen (vgl. Sutton et al. 1999). Defizite in sozial-emotionalen Fertigkeiten sowie damit einhergehende psychosoziale Beeinträchtigungen hingegen weisen insbesondere jene Kinder und Jugendlichen auf, die sowohl intensivere4 prototypische als auch unprototypische Aggressionsformen zeigen. Hierin gleichen sich die Befunde mit Studien aus der Bullyingforschung zu den so genannten Bully/Victims. Dabei handelt es sich um eine kleine Gruppe von Kindern und Jugendlichen, die im Zusammenhang mit Bullying und Viktimisierungen sowohl als Opfer als auch als Täter in Erscheinung treten (vgl. Scheithauer et al. 2003). Somit scheinen auch die Intensität und die Diversifikation (betroffene Verhaltensbereiche) des gezeigten Verhaltens bedeutsam dafür zu sein, ob es sich um ein möglicherweise klinisch relevantes Verhalten handelt. In der Meta-Analyse zu Unterschieden im Auftreten unprototypischer Formen aggressiven Verhaltens auf der Täterseite ermittelten wir beispielsweise in verschiedenen Primärstudien eine kleine Subgruppe von Kindern, die eine Kombination beider Aggressionsformen (körperlich- und relational-aggressives Verhalten) – in »extremer« Form – aufwies. In dieser Gruppe überwiegen Jungen eindeutig (gewichtete Gesamtklasseneffektstärke d.j = -0,405; Scheithauer 2002a, 2002b; Scheithauer u. Petermann 2002). 3. Die angeführten Studien verdeutlichen zudem ein altersbedingtes, entwicklungsabhängiges Muster im Auftreten unprototypischer Aggressionsformen: Insbesondere im frühen Jugendalter berichten Mädchen in verschiedenen Studien von einem besonders hohen Auftreten dieses Verhaltens. Aufgrund der besonderen Struktur und Funktion der Gleichaltrigengruppe scheint es sich um ein Verhalten zu handeln, dass bei Mädchen in diesem Alter im Rahmen ihrer (angepassten) sozialen Entwicklung eine besonders wichtige Rolle spielt. Es liegt die Vermutung nahe, 4 Es handelt sich um Kinder und Jugendliche, die hinsichtlich ihrer Werte auf den zugrunde liegenden Skalen zur Erfassung aggressiven Verhaltens 1 oder 1 ½ Standardabweichungen über dem Gruppenmittelwert liegen. 5 In der Analyse steht eine positive Effektstärke für ein Überwiegen der Mädchen, eine negative Effektstärke für ein Überwiegen der Jungen.

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dass beispielsweise relationale Aggression für Mädchen zur Stabilisierung der engen dyadischen Freundschaften dient. Letztlich kann man schlussfolgern, dass somit nicht alle Formen unprototypischer Aggression pathologisch oder fehlangepasst sind, sondern in diesem Alter der Mädchen eher Normalität darstellen. Abschließend lässt sich also sagen, dass sich die oft in der öffentlichen Diskussion zu findende und vereinfachende Aussage »boys may use their fists to fight, …; girls use their tongues« (Galen u. Underwood 1997, S. 589) in dieser Form nicht aufrechterhalten lässt. Vielmehr zeigen sich absolut gesehen keine, differenziert betrachtet jedoch deutliche Geschlechtsunterschiede, wenn verschiedene Intensitäten im gezeigten Verhalten sowie Alters- und Entwicklungsunterschiede berücksichtigt werden. In weiteren Studien gilt es insbesondere zu klären, ab wann wir bei den unprototypischen Aggressionsformen von einem pathologischen Verhalten sprechen können und wann es sich noch um ein Verhalten handelt, dass im Rahmen der angepassten Sozialentwicklung von Mädchen eine wichtige Funktion einnimmt.

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Mechthild Schäfer und Stefan Korn

Gewalt fängt im Kleinen an: Zur Stabilität von Mobbing zwischen Grund- und weiterführender Schule

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Einleitung

Mobbing unter Schülern beschreibt das aggressive, systematische und wiederholte Schikanieren Schwächerer und ist über alle Klassenstufen hinweg zu beobachten (Smith et al. 1999b). Empirische Studien haben Mobbing entweder in der Grundschule oder in der weiterführenden Schule analysiert. Studien über beide Kontexte hinweg sind rar und orientieren sich zeitlich eng am Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule (Paul u. Cillessen im Druck; Pellegrini u. Bartini 2000). Der Vergleich der Befunde aus der Grundschule und der weiterführenden Schule zeigt aber substanzielle Differenzen im Ausmaß und in der Stabilität von Mobbing. Eine bisher kaum beachtete Erklärung dafür könnte in der Verschiedenartigkeit des sozialen Kontexts liegen. So gibt es zum Beispiel gute Gründe, anzunehmen, dass sich das Ausmaß an hierarchischer Strukturierung der Klassen im Grundschulalter von Klassen zu einem späteren Zeitpunkt des Schullebens deutlich unterscheidet. In der Grundschule basiert das soziale Gefüge der Klasse im Wesentlichen auf dyadischen Beziehungen (Krappmann 1999) und viele Interaktionen der Schüler sind durch ein starkes Streben nach Symmetrie gekennzeichnet (Schäfer u. Albrecht 2004). Gegenattacken sind in einem solchen Kontext weit verbreitet. Außerdem berichten Krappmann und Oswald (1995), dass Grundschulkinder die Optionen des sozial flexiblen Kontexts nutzen, indem sie stark asymmetrischen Beziehungen, in denen sie sich übervorteilt oder schlecht behandelt fühlen, ausweichen und Beziehungen suchen, in denen sie einen besseren Stand finden. Beides, die di-

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rekte Reaktion auf Aggression und das Ausweichen, wenn Beziehungen als asymmetrisch wahrgenommen werden, wirkt der Formation von hierarchischen Strukturen klar entgegen. Zwar finden Pellegrini und Bartini (2000) in den Schülerbeziehungen gegen Ende der Grundschulzeit Elemente von Dominanzstreben, was aber lediglich eine Veränderung der sozialen Organisationsstruktur in Schulklassen ankündigt. In der späten Kindheit und mit Beginn der Adoleszenz beobachtet man einen bedeutsamen Wandel in der soziokognitiven Entwicklung. Die nun entstehende individuelle Fähigkeit, über dyadische Kontexte hinaus zu interagieren, erlaubt in dieser Altersstufe die Bildung komplexerer Peernetzwerke (Cairns u. Cairns 1991), die vermehrt Kennzeichen hierarchischer Strukturierung zeigen. Bis jetzt fehlten aber die empirischen Daten, die einen Unterschied in der hierarchischen Strukturierung in den Klassen der Grundschulzeit und in den Klassen im späteren Schulleben belegen und einen Zusammenhang mit Mobbing unter Schülern herzustellen erlauben.

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Zur Prävalenz von Mobbing in der Grundschule und der weiterführenden Schule

Prävalenzraten zum Mobbing beschreiben die Häufigkeit des Auftretens von Individuen innerhalb einer Stichprobe, die von anderen Individuen gemobbt werden (Opfer) oder andere aktiv mobben respektive sich daran beteiligen (Täter). Für die Gruppe der Opfer findet man ein deutliches Absinken der Prävalenzraten von hohen Werten in der Grundschule (15-35 %) zu offenkundig niedrigeren Werten in der weiterführenden Schule (5-16 %; siehe Smith et al. 1999a im Überblick). Im Gegensatz dazu zeigen die Prävalenzraten für Täter wenig Veränderung vom Grundschulbereich (7-12 %, z. B. Olweus 1991; Whitney u. Smith 1993) zur weiterführenden Schule (rund 10 % z. B. Olweus 1991; Whitney u. Smith 1993). Smith et al. (1999) haben verschiedene Hypothesen überprüft, um die vergleichsweise hohen Prävalenzraten im Grundschulalter zu erklären. Allerdings lässt sich empirisch (Smith et al. 1999) und argumentativ (Schäfer et al. 2004) zeigen, dass sowohl ein breiteres Konzept von Mobbing bei Grundschü-

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lern, das Fehlen effektiver Strategien, sich gegen Mobbing zu wehren, als auch eine geringere Sensibilität jüngerer Schüler gegenüber sozialen Normen nur Teilerklärungen liefern. Solange also längsschnittliche Analysen fehlen, kann man nur spekulieren, dass eine substanzielle Anzahl von Opfern im Verlauf der Schulzeit längerfristiger Viktimisierung entkommen kann, während die, die andere mobben, wohl mit größerer Wahrscheinlichkeit in der Täterrolle verbleiben. Das wiederum stützt die Annahme, dass Opfer- und Täterrollen möglicherweise eine verschiedenartige Genese durchlaufen.

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Die Stabilität von Opfer- und Täterrollen in der Grundschule und der weiterführenden Schule

Die Analyse der Stabilität kann Informationen über die Ätiologie von Mobbingrollen geben und sie offenbart wie sich die Konsistenz von Rollen über längere Zeiträume verändert. Allerdings ist diese Art von Studien sowohl für den Bereich der Grundschule als auch für die daran anschließende Schulzeit rar. In der Grundschule ist die Stabilität der Opferrolle gering. Zu diesem Ergebnis führen Peerberichte (Monks et al. 2003) ebenso wie Selbstberichte (Kochenderfer u. Ladd 1996; Schäfer u. Albrecht 2004). So finden Kochenderfer-Ladd und Wardrop (2001), dass nur vier Prozent der Kinder zwischen dem Kindergarten und der dritten Klassenstufe zu allen vier Messzeitpunkten eine Opferrolle einnahmen. Monks et al. (2003) finden über einen Zeitraum von vier Monaten gar keine Stabilität der Opferrolle und Schäfer und Albrecht (2004) bestätigen auf Grundlage von bebilderten Selbstberichten (z. B. Smith u. Levan 1995) keine Stabilität der Opferrolle über drei Monate. Die Täterrollen zeigen in der Grundschulphase zumindest auf der Basis von Peerberichten etwas Stabilität: 13 Prozent der Erstklässler werden über einen Zeitraum von vier Monaten konsistent als Täter identifiziert (Monks et al. 2003). Andererseits geben Selbstberichte keinen Hinweis auf stabile Täterrollen, wenn man Dritt- oder Viertklässler im Abstand von vier Monaten wiederholt befragt (Schäfer u. Albrecht 2004). Das heißt, Opfer werden in der Grundschule weder durch eigene noch

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durch Mitschülerinformationen als stabil identifiziert, während die Täterrolle nur durch Auskunft der Mitschüler, nicht aber durch eigene Informationen als stabil erscheint. Die Diskrepanz zwischen hohen Prävalenzraten und geringer Stabilität der Opferrolle in der Grundschulzeit lässt sich auf zwei Arten erklären. Zunächst werden die Kinder, die andere attackieren, ihre Opfer eher explorativ als systematisch zur Zielscheibe ihrer Aggression machen. Diese Auswahl auf Basis der sich gerade ergebenden Möglichkeiten führt dazu, dass viele verschiedene Kinder angegriffen werden. Das resultiert auf Seiten der Opfer in hohen Prävalenzraten, während die geringe Konsistenz der Attacken durch die niedrige Stabilität der Opferrolle reflektiert wird. Darüber hinaus agieren die, die andere attackieren, in einem speziellen sozialen Umfeld: Das soziale Handeln der Kinder ist in dieser Altersstufe noch durch den festen Glauben an die Symmetrie von Beziehungen geprägt (Krappmann u. Oswald 1995). Gegenaggression liegt deshalb im Bereich der sozialen Normen, was sich zum Beispiel am hohen Anteil der Opfer/Täter ablesen lässt (Schäfer u. Albrecht 2004). Die geringe Toleranz gegenüber der Demonstration sozialer Macht fördert das Ausweichen von Opfern in angenehmere Beziehungen und damit die geringe Stabilität der Opferrolle. Die höheren Stabilitätswerte für die Täterrolle in der Grundschule bestätigen die vielfach geteilte Sichtweise der Aggression als Funktion von Persönlichkeits- und frühen Sozialisationsfaktoren (siehe im Überblick Loeber u. Hay 1997). Anzunehmen ist dabei, dass im Grundschulalter Sozialisationsfaktoren innerhalb der Klasse einen geringeren Einfluss auf die Rollenstabilität haben als die Persönlichkeit oder frühe Sozialisationsfaktoren außerhalb des Klassenkontextes. In der weiterführenden Schule ist die Stabilität von Täter- und Opferrollen deutlich höher als in der Grundschulzeit. Nach Lehrerinformationen bleiben zwei von drei Jungen als Täter und auch als Opfer über ein Jahr in ihrer Rolle und das sogar dann, wenn ein Lehrer- oder Klassenwechsel stattfindet (Olweus 1978). Ähnliche Zahlen berichten Mitschüler auch für gemischte Stichproben über ähnliche Zeiträume (Boivin et al. 1998; Hodges u. Perry 1999). Selbstberichte bestätigen zwischen der sechsten und siebten Klasse ebenfalls Stabilität für die Opferrolle (Korn et al. 2002). Für Ju-

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gendliche berichten die Mitschüler sogar bis zu 95 Prozent Übereinstimmung zwischen einer Opfer- oder Täterrolle zwischen einem und dem darauf folgenden Schuljahr (Björkqvist et al. 1982). Perry et al. (1988) schlussfolgern deshalb, dass sowohl für die Täterrolle wie für die Opferrolle mit dem 13. bis 16. Lebensjahr von einer Stabilisierung der Rollen ausgegangen werden kann. Die moderate bis hohe Stabilität von Täter- und Opferrollen paart sich in der weiterführenden Schule mit geringeren Prävalenzraten. Eine spezifischere Auswahl der Opfer durch die Täter führt zu geringeren Prävalenzraten und die höhere Konsistenz der Attacken gegen ein bestimmtes Opfer resultiert in einer höheren Stabilität der Opferrolle, als sie für die Grundschule nachweisbar ist.

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Die soziale Dynamik in Klassen der Grundschule und der weiterführenden Schule

Das Prinzip symmetrischer Beziehungen wird in der weiterführenden Schule durch ein Prinzip differentieller Macht abgelöst. Der Effekt ist eine hierarchische Struktur, die in der Gruppe/Klasse einen hohen Status gegenüber einem niedrigen Status sichtbar macht. Ein solcher sozialer Kontext erleichtert Tätern die Auswahl von Opfern mit niedrigem sozialen Status (Perry et al. 1990a), die größere Schwierigkeiten haben, ihrer Rolle zu entkommen (Pellegrini u. Bartini 2000; Egan u. Perry 1998; Salmivalli 2001), die mit höherer Wahrscheinlichkeit zum Sündenbock werden und wachsender Ablehnung ausgesetzt sind, wenn es den Mitschülern nicht gelingt, die Mobbingattacken innerhalb kurzer Zeit zu stoppen (DeRosier et al. 1994). Je hierarchischer eine Gruppenstruktur, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Opfer die niedrige Statusposition beibehalten. Die vergleichsweise schwach ausgeprägte hierarchische Organisation von Grundschulklassen beschränkt die Machtambitionen von Tätern, die im Wesentlichen in dyadischen Interaktionen ausgelebt werden und sich oft über verschiedene Kinder in der Klasse verteilen. Opfer können unter solchen Bedingungen in konstruktivere Beziehungen ausweichen. Hohe Prävalenzraten bei

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geringer Stabilität der Opferrolle sind die Konsequenz. Je ausgeprägter aber die hierarchische Strukturierung ist, umso mehr bietet sich – wie in Klassen der weiterführenden Schule – ein soziales Umfeld für die strategischen Überlegungen von Schülern, die nach Dominanz in der Klasse streben. Sozial schwache Positionen sind offenkundig und markieren die besondere »Eignung« bestimmter Schüler, die man durch konsistente Attacken leicht instrumentalisieren kann, um soziale Macht in der Klasse zu erlangen. Die schwache Position in der ausgeprägten Hierarchie macht ein Ausweichen für das Opfer unmöglich. Messbar sind deshalb gegenüber der Grundschule geringere Prävalenzraten und eine höhere Rollenstabilität für Opfer. Wir gehen also davon aus, dass die Täterrolle im Wesentlichen durch das Streben der Täter nach Dominanz determiniert ist. Deshalb ist hier Stabilität zu erwarten. Die Opferrolle hingegen scheint maßgeblich von Charakteristika des sozialen Kontextes abhängig zu sein. Damit wäre ein erhebliches Änderungspotential evident. Das Vertrauen in unsere theoretischen Annahmen würde untermauert, wenn sich empirisch nachweisen ließe, dass die Rolle derer, die andere mobben, von der Grundschule hin zur weiterführenden Schule stabil wäre und eine Opferrolle in der weiterführenden Schule nicht auf Basis einer Opferrolle in der Grundschule vorhersagbar wäre.

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Hierarchische Strukturierung und die Stabilität der Mobbingrollen

Die hierarchische Strukturierung sollte in der Grundschule weniger ausgeprägt sein als in der weiterführenden Schule, weil das sozialkognitive Entwicklungsstadium die Größe und Komplexität der sozialen Netzwerke limitiert, die wahrgenommen und bewältigt werden können. Der Verlauf der Entwicklung soziokognitiver Fähigkeiten variiert aber zwischen Individuen, und es ist damit zu rechnen, dass sich die soziokognitiven Fähigkeiten gegen Ende der Grundschulzeit so weit entwickelt haben, dass über dyadische Beziehungen hinaus zunehmend auch komplexere soziale Netzwerke repräsentiert werden (Cairns u. Cairns 1991). Deshalb wäre in ei-

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ner Stichprobe von Grundschulklassen durchaus zu erwarten, dass bestimmte Anzeichen oder Grundzüge hierarchischer Strukturierung zum Teil schon nachweisbar sind. Dazu passt, dass man einige Fälle stabiler Viktimisierung auch schon in Grundschulklassen findet (Kochenderfer-Ladd u. Wardrop 2001; Schäfer u. Kulis 2000; Schäfer et al. 2004). Allerdings wurde der Zusammenhang zwischen diesem ersten Auftreten stabiler Mobbingfälle und der Existenz oder Ausprägung hierarchischer Strukturen bisher nicht untersucht. Welche Art des Zusammenhangs wäre zwischen Viktimisierung und hierarchischer Strukturierung zu erwarten? Wenn eine schwache hierarchische Struktur vorliegt, werden Täter ein relativ breites Spektrum möglicher Opfer explorieren und viele verschiedene Kinder attackieren. Den Opfern bietet der flexible soziale Kontext die Möglichkeit auszuweichen, indem sie asymmetrischen Beziehungen »den Rücken zukehren« und sich sozial neu orientieren. Sind in der Klasse aber schon Elemente hierarchischer Strukturen vorhanden, dann werden Opfer deutlich konsistenter von den Tätern attackiert und verlieren zunehmend die Kontrolle über ihre soziale Situation, weil sie immer seltener mit der Unterstützung der Mitschüler rechnen können. Diese haben Sorge/Angst, selbst zum Opfer von Attacken zu werden, oder intervenieren nicht, weil Verantwortungsdiffusion (»die anderen machen ja auch nichts«) wirkt oder die Assoziation mit »den Stärkeren« »cooler«, angenehmer oder sicherer ist (O’Connell et al. 1999). Es wäre also zu erwarten, dass Schüler eher in einer Opferrolle verbleiben, wenn in der Klasse hierarchische Strukturierung vorliegt. Anders als Kinder, die in flexiblen sozialen Strukturen auf Mobbing reagieren müssen, werden sie seltener die Chance sehen, schikanösen Interaktionen auszuweichen. Und sie werden häufiger Verhaltensweisen zeigen, die von Tätern als willkommene Einladung für weitere Attacken aufgenommen werden – und das unabhängig davon, ob der Kontext stabil oder verändert ist. Für eine längsschnittliche Überprüfung unserer Annahmen würden wir deshalb prognostizieren, dass Kinder, die in einer Grundschulklasse, in der bereits Züge hierarchischer Strukturen erkennbar sind, zum Opfer werden, ein deutlich höheres Risiko auf eine stabile Opferrolle über die Grundschule hinaus haben als

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Kinder, die in einer Klasse mit flexiblen Strukturen (schwache Hierarchisierung) attackiert werden. Im Gegensatz dazu sollte die Entwicklung der Täterrolle gänzlich unabhängig von der Ausprägung hierarchischer Strukturen in der Klasse sein, denn das aggressive Verhalten der Täter müsste unter beiden Bedingungen gleichermaßen verstärkt werden: Verschiedene Kinder nacheinander in einem wenig hierarchischen Kontext zu schikanieren, sollte die Erfolgserwartung aggressiver Kinder ebenso erfüllen (Egan et al. 1999), wie in einem stärker hierarchischen Kontext ein bestimmtes Kind über längere Zeit konsistent zu schikanieren. Für eine längsschnittliche Überprüfung unserer Annahmen würden wir deshalb prognostizieren, dass Kinder, die andere in der Grundschulzeit aktiv schikanieren, unabhängig vom Ausmaß der Hierarchisierung in ihrer Klasse das gleiche Risiko für eine Täterrolle in der weiterführenden Schule tragen.

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Die Münchener SAMS (Soziale Aggression und Mobbing in Schulen)-Studie

Längsschnittdaten über Mobbing über einen Zeitraum von sechs Jahren zu sammeln, erscheint nahezu unmöglich und vor allem kaum finanzierbar. Deshalb muss es als ungewöhnlicher Glücksfall gewertet werden, dass uns aus der bayrischen Entwicklungsstudie 1996 die Grundschuldaten über Mobbingerfahrungen zur Followup-Untersuchung angeboten wurden, die 1992/1993 von 1522 Kindern (49 % Mädchen) aus 67 Klassen an Grundschulen in München und Südbayern erhoben worden waren (Wolke et al. 2001). Die sehr kooperative Haltung der Obersten Schulbehörde ermöglichte, mit relativ geringen Dropout-Raten (Details hierzu siehe: Schäfer et al. 2004) einen ausgewählten Teil dieser Kinder (n = 283) der Ursprungsstichprobe von der ehemaligen Grundschule hin zu ihrer jetzigen Schule zu verfolgen, um sie im Kontext ihrer neuen Klasse erneut zu befragen. Diese Teilstichprobe stellt die Basis für alle später berichteten Längsschnittbefunde dar. In der Grundschule waren die 1522 Kinder als Klassen untersucht, aber einzeln zu ihren Mobbingerfahrungen interviewt

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worden (Selbstbericht). Dabei war der soziale Status der Kinder soziometrisch erfasst worden (Peerbericht). Aus Grundschulstichproben wurden von den 1522 Kindern zur geplanten Nachuntersuchung die Schüler von uns ausgewählt, die aufgrund der berichteten Erfahrungen als ernsthafte Opfer, Täter oder Opfer/ Täter identifiziert waren. So klassifiziert wurden Kinder, die als Opfer in der Grundschule innerhalb der letzten drei Monate häufig oder sehr häufig Zielscheibe blöder Sprüche waren, denen etwas weggenommen wurde, über die Lügen verbreitet wurden, die bedroht, schlecht gemacht, geschlagen oder getreten wurden oder als Täter andere Kinder mit diesen Verhaltensweisen schikanierten. Als Opfer/Täter war klassifiziert, wer sowohl das Opfer- als auch das Täterkriterium erfüllte. Gemeinsam mit 124 Kontrollkindern, die in der Grundschule untersucht, aber als nicht in Mobbing involviert identifiziert worden waren, wurden in unserer Follow-up-Studie 1999 dann 57 Opfer, 33 Täter und 69 Opfer/Täter der Grundschulstichprobe (insgesamt also 283 Schüler) erneut und zwar mit ihrer neuen Klasse in der weiterführenden Schule untersucht. Auf diese Weise konnte eine Stigmatisierung der Fokuskinder aufgrund ihrer vorangegangenen Mobbingerfahrungen weitgehend ausgeschlossen werden. Insgesamt wurden in der SAMS-Follow-up-Studie 2958 Schüler der 7. und 8. Jahrgangsstufe per Fragebogen zu ihren Mobbingerfahrungen befragt.1 Außerdem wurde, wie schon in der Grundschule, neben den aktuellen Mobbingerfahrungen (wieder Selbstbericht) auch der soziale Status innerhalb der Klasse erfasst: Wir wollten auch in der weiterführenden Schule von allen Schülern wissen, welche Mitschüler sie besonders gern und welche sie überhaupt nicht mögen. Die Konsistenz dieser Aussagen auf Klassenebene ermöglichte dann zu bestimmen, welche Schüler besonders akzeptiert und welche abgelehnt sind. Darüber hinaus erlauben diese soziometrisch erhobenen Daten aber auch, das Ausmaß der hierarchischen Strukturierung innerhalb einer Klasse zu messen.

1 Analysen auf Basis der Gesamtstichproben zu t1 (n = 1522) und t2 (n = 2958) wurden nur als bestätigende Evidenz zur Charakterisierung von Mobbing in der Grundschule versus weiterführenden Schule verwendet.

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Abbildung 1: Darstellung der Nominierungsstrukturen »Wen magst du am liebsten?«(gestrichelte Linien) und »Wen magst du am wenigsten gern?« (durchgezogene Linien) als Grundlage der hierarchischen Strukturierung

Wie in Abbildung 1 (linker Kreis) dargestellt, ist die hierarchische Strukturierung in Klassen dann niedrig, wenn auf die Fragen »Wen magst du in deiner Klasse besonders?« und »Wen magst du in deiner Klasse am wenigsten gern?« jedes Kind jemanden anderes benennt, weil die Beziehungen noch stark dyadisch orientiert sind. Das heißt, unabhängig davon, ob es um Mögen oder Nichtmögen geht, sind in einer Klasse mit niedriger hierarchischer Strukturierung noch keine Personen erkennbar, die wegen besonderer Popularität oder Ablehnung gegenüber den anderen hervorstechen. Der soziale Einfluss aller Kinder ist weitgehend vergleichbar. Ein anderes Bild ergibt sich, wenn die Schüler bestimmte Mitschüler übereinstimmend häufig nennen, wie in Abbildung 1 (rechter Kreis) dargestellt. Hier liegt eine ausgeprägte hierarchische Strukturierung vor, weil bestimmte Schüler durch ihr Verhalten bei den Mitschülern eine verstärkt positive oder negative Haltung zu ihrer Person hervorrufen. Daraus lässt sich schließen, dass einige Kinder mehr sozialen Einfluss haben als andere und dass sich ein Gradient sozialen Einflusses in Klassen aufbaut, den wir als Index für hierarchische Strukturierung bezeichnen. Auf Basis dieser Daten zur hierarchischen Strukturierung und der Befragung zu den Mobbingerfahrungen in der Grundschule und sechs Jahre später in der weiterführenden Schule sollte die SAMS-Längsschnittstudie drei Fragen beantworten:

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1. Ist eine Opfer- oder Täterrolle in der Grundschule prädiktiv dafür, dass Schüler diese Rolle in der weiterführenden Schule wieder einnehmen? Das impliziert die Frage, ob die Rollenstabilität für Opfer- und Täterrolle gleichermaßen zutrifft. In der Praxis muss festgestellt werden, ob eine Opfer- oder Täterrolle in der Grundschule ein Entwicklungsrisiko für die sozialen Erfahrungen von Schülern in der weiterführenden Schule darstellt. 2. Um den Zusammenhang zwischen Mobbing und dem sozialen Kontext herzustellen, war es ein zweites Ziel zu überprüfen, ob sich der Grad der hierarchischen Strukturierung zwischen Grundschule und weiterführender Schule tatsächlich signifikant unterscheidet. Wenn also die geringen soziokognitiven Fähigkeiten von Grundschülern ein eher dyadisches Interaktionsverhalten und deshalb eine flexible soziale Organisationsstruktur zur Folge haben und erst die komplexeren sozialen Repräsentationen von Schülern in der weiterführenden Schule hierarchische Strukturierung fördern, müsste dieses empirisch durch einen signifikant geringeren Grad hierarchischer Strukturierung in der Grundschule bestätigt werden. 3. Die Überprüfung der ersten beiden Fragen führt zur dritten zentralen Frage: Hat der Grad der hierarchischen Strukturierung einen fördernden Einfluss auf die Stabilität der Opferrolle? Untersucht werden soll, ob für die Kinder, die schon in der Grundschule in Klassen viktimisiert wurden, in denen erste Anzeichen von hierarchischer Strukturierung nachweisbar sind, ein größeres Risiko auf eine stabile Opferrolle gegeben ist als in Klassen, in denen wenig hierarchische Strukturierung existiert und die Opfer den flexiblen sozialen Kontext zum Ausweichen aus Beziehungen nutzen können, in denen sie sich schlecht behandelt oder attackiert fühlen.

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Die Stabilität der Mobbingrollen zwischen Grund- und weiterführender Schule

Auf Basis des Forschungsstands wäre anzunehmen, dass sich die Opfer- und die Täterrolle in ihrer Stabilität über einen Zeitraum von sechs Jahren und auch in der Stabilität von der Grundschule

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zur weiterführenden Schule unterscheiden. Für die Opferrolle, die schon innerhalb der Grundschule keine oder nur minimale Stabilität zeigt, wäre kaum Stabilität zwischen Grund- und weiterführender Schule zu erwarten. Bei der Täterrolle hingegen, für die weniger der Kontext, sondern eher Persönlichkeitsmerkmale als tragend angenommen werden, wäre von einer gewissen Stabilität auszugehen. Tabelle 1: Die Verteilung der Mobbingrollen von der Grundschule zur weiterführenden Schule. Die Werte benennen den Prozentsatz von Untersuchungsteilnehmern mit Rollen in der Grundschule, die in der weiterführenden Schule erneut identifiziert wurden. In Klammern ist der Rohwert (n) angegeben. Rollen in der weiterführenden Schule Rollen in der Grundschule

Neutral

Opfer

Täter

Opfer/ Täter

Total

Neutral

59 (73)

13 (16)

20 (25)

7 (9)

100 (124)

Opfer

61 (34)

20 (11)

13 (7)

7 (4)

100 (57)

Täter

50 (17)

12 (4)

32 (11)

6 (2)

100 (33)

Opfer/Täter

63 (43)

10 (7)

15 (10)

12 (8)

100 (69)

Total

59 (167)

14 (38)

19 (53)

9 (24)

100 (283)

Die Zahlen der in Tabelle 1 dargestellten Übergangsmatrize bestätigen unsere Annahme. Bemerkenswert ist zunächst, dass – unabhängig davon, welche Rolle die Schüler in ihrer Grundschulklasse eingenommen haben – ungefähr 60 Prozent eine neutrale Rolle in der Klasse der weiterführenden Schule einnehmen (1. Spalte). Es herrscht also eine erhebliche Rollenfluktuation in Richtung einer unbeteiligten oder neutralen Position zwischen den Mobbingerfahrungen der Schüler im Grundschulalter und den sozialen Erfahrungen, die sie im neuen Kontext einer Klasse in der weiterführenden Schule machen.2 Zur Quantifizierung dieses Befundes lässt sich auf der Basis der Zahlen in Tabelle 1 das relative Risiko 2 In unserer Studie waren so selten mehrere Kinder aus der ehemaligen Grundschulklasse in der Klasse der weiterführenden Schule identifizierbar, dass man den möglichen Einfluss als empirisch bedeutungslos einstufen darf und von einem gänzlich neuen Umfeld ausgehen kann.

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einer stabilen Involvierung in Mobbing (unabhängig von der spezifischen Rolle) bestimmen. So waren in der Grundschule 159 Schüler in Mobbing involviert, die als Opfer, Täter oder Opfer/Täter identifiziert wurden, und 64 von diesen Schülern waren in der weiterführenden Schule immer noch in Mobbing involviert. Andererseits waren in der Grundschule 124 Schüler nicht in Mobbing involviert, von denen aber 50 in der weiterführenden Schule in einer der Mobbingrollen identifiziert wurden. Dividiert man den ersten Quotienten durch den zweiten Quotienten, ergibt sich ein relatives Risiko von RR = (64 / 159) / (50 / 124) = 1.00, das aber nicht signifikant ist, weil das 95-%-Konfidenzintervall zwischen 0.7 und 1.4 liegt und damit den Erwartungswert von 1 nicht übersteigt. Eine Involvierung in Mobbing in der Grundschule erlaubt also keinerlei Vorhersage auf eine Involvierung in Mobbing in der weiterführenden Schule. Es existiert keine Stabilität für den untersuchten Zeitraum von sechs Jahren von der Grundschule hin zur weiterführenden Schule. Zur Bestimmung der Stabilität der Opfer- und Täterrollen war aber eine detailliertere Analyse nötig, die auf Basis der Prozentsätze, die in der Diagonalen abgebildet sind, möglich wird. So sieht man, dass von den Kindern, die in der Grundschule Opfer waren, 20 Prozent (11 Kinder) auch in der weiterführenden Schule als Opfer identifiziert wurden. Von den Kindern, die in der Grundschule Täter waren, wird ein Anteil von 32 Prozent (11 Kinder) in der weiterführenden Schule erneut als Täter identifiziert. Das legt nahe, dass die Stabilität der Täterrolle höher ist als die der Opferrolle, gibt aber noch keinen Hinweis darauf, ob die Zahlen einen prognostischen Wert haben. Unterscheidet sich der Anteil der Schüler, die stabil eine Opferrolle beibehalten, signifikant vom Anteil derer, die unabhängig von der Rolle in der Grundschule eine Opferrolle in der weiterführenden Schule einnehmen?3 Die Risikoanalysen zeigen, dass keine Stabilität der Opferrolle vorliegt. Eine Opferrolle in der Grundschule impliziert also kein Risiko, eben diese Rolle in der weiterführenden Schule wieder einzunehmen. Andererseits zeigen die Risikoanalysen für die Täterrolle Stabilität, denn ein Kind, das in der Grundschule als Täter identifiziert ist, 3 Zur genaueren Beschreibung der Risiko-Analysen siehe Schäfer et al. (2004).

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hat ein zweifach erhöhtes Risiko, diese Rolle in der weiterführenden Schule wieder einzunehmen.

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Hierarchische Strukturierung als Moderator der Stabilität von Mobbingrollen

Um den Einfluss von hierarchischen Strukturen in der Schulklasse zu überprüfen, war die zunächst grundlegende Frage, ob sich das Ausmaß der hierarchischen Strukturierung in Grundschulklassen von dem in Klassen der weiterführenden Schule unterscheidet. Unsere Daten belegen einen signifikanten Unterschied: Die Kinder in Grundschulklassen sind sich bezüglich ihres sozialen Einflusses, der als Summe der Beliebtheits- und Unbeliebtheitsnominierungen durch die Mitschüler operationalisiert war, sehr viel ähnlicher als die Schüler in den Klassen der weiterführenden Schule. Empirisch bestätigt das ein Vergleich der Standardabweichungen des Faktors »sozialer Einfluss« pro Klasse. Dieser war in der weiterführenden Schule (Mweiterführende Schule = 2.94, SD = 0.76) signifikant höher als in der Grundschule (MGrundschule = 2.67, SD = 0.57), t 4 (1,179) = 2.74, p < .01. Weiter sind wir davon ausgegangen, dass auch zwischen Grundschulklassen schon eine gewisse Varianz besteht, dass man also in einigen Klassen schon erste Elemente hierarchischer Strukturierung finden kann und in anderen noch nicht. Als Beleg für unsere These, dass hierarchische Strukturierung die Stabilität der Opferrolle fördert, hatten wir deshalb prognostiziert, dass die wenigen Schüler, die wir tatsächlich stabil, das heißt sowohl in ihrer Grundschulklasse als auch in der Klasse der weiterführenden Schule als Opfer identifizieren konnten, aus Klassen kommen, in denen schon eine gewisse hierarchische Strukturierung vorhanden ist. Die Längsschnittdaten bestätigen diese Annahme, die Risikoanalysen zeigen jetzt – unter Einbeziehung der hierarchischen Strukturierung in der Ursprungsklasse – eine signifikante Stabilität der 4 Der Levene-Test zeigte einen signifikanten Unterschied in der Varianz (F = 6.90, p = .009). Aus diesem Grund wird hier der angepasste T-Wert (adjusted t-value) berichtet.

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Mechthild Schäfer und Stefan Korn

Opferrolle: Wer in Grundschulklassen mit Merkmalen hierarchischer Strukturierung als Opfer identifiziert wurde, trägt ein fast dreifach erhöhtes Risiko RR = (8/30) / (11/111) = 2.69 (CI: 1.28 – 6.09; p = .02), auch in der weiterführenden Klasse wieder als Opfer identifiziert zu werden. Wer hingegen in Grundschulklassen zum Opfer wird, in denen die hierarchische Strukturierung vergleichsweise gering ist, trägt keinerlei Risiko, in der weiterführenden Schule als Opfer identifiziert zu werden [RR = (3 / 26) / (16 / 113) = .82 (CI: 0 .26 – 2.59; p = .73)]. Zur Bestätigung dieses Effekts konnten wir zusätzlich zeigen, dass sich die Opferrolle in der weiterführenden Schule (ja = 1; nein = 0) durch eine Opferrolle in der Grundschule in Kombination mit der hierarchischen Strukturierung in der Grundschulklasse (ja – hoch = 1; ja – niedrig = 0; nein – hoch = 0; nein – niedrig = 0) signifikant vorhersagen lässt (Goodness of fit: Chi2 (1, 282) = 4.194, p = .04, Nagelkerke R2 = .03). Unsere Daten bestätigen auch, dass die Stabilität der Täterrolle unbeeinflusst von der hierarchischen Strukturierung in Grundschulklassen ist.

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Differentielle Charakteristika von Opfer- und Täterrolle in Grundschule und weiterführender Schule

Zur weiteren Bestätigung der Annahme, dass sich die Qualität von Mobbing in der Grundschule wesentlich von der in der weiterführenden Schule unterscheidet, wurden die Opfer- und die Täterrolle in beiden Kontexten anhand des Grades sozialer Ablehnung und sozialer Akzeptanz charakterisiert, die den jeweiligen Rollenträgern von den Mitschülern entgegengebracht wurden. Außerdem wurde exploriert, inwieweit die selbstberichtete Aggression die Opfer- und die Täterrolle in der Grundschule und der weiterführenden Schule kennzeichnet. Für diese Analysen wurden die Gesamtstichproben der Messzeitpunkte t1 (n = 1522) und t2 (n = 2958) als Datenbasis herangezogen. Wie angenommen, ist die Einstellung gegenüber Mitschülern, die sich in der Grundschule aggressiv verhalten, negativ.

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Tabelle 2: Soziale Ablehnung, soziale Akzeptanz und Aggression als Merkmale der Mobbingrollen in Grund- und weiterführender Schule F-Wert

df

Post-hoc-Tests (Scheffé, p < .05)

Grundschule soziale Ablehnung 19.89*** 3, 1462 soziale Akzeptanz 2.98* 3, 1462

Täter > Opfer, Neutrale n. s.

weiterführende Schule soziale Ablehnung 86.45*** 3, 2649 soziale Akzeptanz 33.40*** 3, 2649

Opfer > Täter, Neutrale Opfer > Täter, Neutrale

Grundschule Aggression 1306.2*** 3, 1462 weiterführende Schule Aggression 2236.8*** 3, 2647

Täter, Opfer/ Täter > Opfer > Neutrale Täter, Opfer/ Täter > Opfer, Neutrale

Anmerkung: * p < .05, *** p < .001.

Vergleicht man Täter, Opfer und neutrale Schüler (siehe Tab. 2), so zeigen sich signifikante Differenzen in der sozialen Ablehnung und der sozialen Akzeptanz. Post-hoc-Tests zeigen, dass Täter stärker abgelehnt werden als Opfer und Neutrale (wobei sich Opfer und Neutrale nicht unterscheiden), während sich die drei Rollen bezüglich sozialer Akzeptanz nicht signifikant unterscheiden. In der weiterführenden Schule sind die signifikanten Unterschiede ebenfalls zu finden. Anders als in der Grundschule zeigen die Posthoc-Tests aber, dass sich das Muster der Mitschülereinstellungen in der weiterführenden Schule umgekehrt hat: Opfer werden jetzt signifikant stärker abgelehnt und weniger akzeptiert als Täter und Neutrale (die sich jetzt nicht mehr signifikant voneinander unterscheiden). Die Daten der Längsschnittstudie SAMS bestätigen also, dass sich von der Grundschule zur weiterführenden Schule ein substanzieller Wandel in der Einstellung der Mitschüler gegenüber Opfern und Tätern vollzieht. Während es in der Grundschule die Täter sind, die von den Mitschülern abgelehnt werden, sind es in der weiterführenden Schule die Opfer. Auch bezüglich des Grades an Aggression bestätigen die Daten unserer Studie die Annahme einer unterschiedlichen Qualität von Mobbing zwischen Grund- und weiterführender Schule (siehe

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Tab. 2, unterer Teil). In der Grundschule und der weiterführenden Schule differieren der Grad selbstberichteter Aggression der Schüler, die Mobbingrollen einnehmen, und der der Neutralen. Während aber in der Grundschule Täter und Opfer/Täter signifikant mehr Aggression berichten als Opfer und Opfer nochmals mehr Aggression berichten als Neutrale, vereinfacht sich das Bild in der weiterführenden Schule. Bemerkenswert ist also, dass sich in der weiterführenden Schule Opfer und Neutrale im Ausmaß berichteter Aggression nicht unterscheiden. Nur in der Grundschule berichten Opfer tatsächlich mehr Aggression als neutrale Kinder und in der weiterführenden Schule ist Aggression für Opfer kein relevantes Verhalten mehr. Eine ähnliche Schlussfolgerung erlaubt auch ein Vergleich des Anteils von Opfer/Tätern innerhalb der Gesamtgruppe der Opfer. In der Grundschule machen Opfer/Täter 45 Prozent (N = 425) der Gruppe aller Opfer aus, während sie in der weiterführenden Schule nur noch mit 34 Prozent (N = 505) repräsentiert sind. Diese Verringerung an hoch aggressiven Opfern (Opfer/Täter) unterstützt unsere Annahme, dass aggressives Verhalten bei Opfern in der weiterführenden Schule sehr viel weniger verbreitet ist als bei Opfern in der Grundschule.

10 Zusammenfassung, Schlussfolgerungen und Ausblick Die Ergebnisse der SAMS-Längsschnittstudie zeigen eindeutig, dass eine Opferrolle in der Grundschule kein Risiko darstellt, in der weiterführenden Schule wieder zum Opfer zu werden. Eine Täterrolle in der Grundschule hingegen repräsentiert ein zweifach erhöhtes Risiko, in der weiterführenden Schule die Mitschüler wiederum als Täter zu schikanieren. Der Vergleich zwischen Grund- und weiterführender Schule bestätigt außerdem, wie erwartet, ein geringeres Ausmaß hierarchischer Strukturierung, das die Grundschulklassen von denen der weiterführenden Schule unterscheidet, wo hierarchische Strukturierung deutlich stärker ausgeprägt ist. Diese hierarchische Strukturierung moderiert die Stabilität der Opferrolle über den untersuchten Zeitraum von sechs Jahren: Die Stabilität der Opferrolle

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ist dann hoch, wenn die Schüler aus Klassen kamen, in denen schon in der Grundsschule ein erhöhter Grad an hierarchischer Strukturierung existierte. Eine solche Moderierung der Rollenstabilität konnte für die Täterrolle nicht festgestellt werden. Allerdings zeigen die Ergebnisse, dass eine Opferrolle in der Grundschule durch Gegenaggression charakterisiert ist und die Opfer signifikant weniger abgelehnt werden als die Täter. In der weiterführenden Schule hat sich dieses Bild umgekehrt: Während die Opfer sich in der Grundschule bezüglich sozialer Ablehnung nicht von neutralen Kindern unterscheiden, werden sie in der späteren Schulzeit signifikant stärker abgelehnt und signifikant weniger akzeptiert als die Täter. Eines von fünf Opfern in der Grundschule lässt sich in der weiterführenden Schule erneut als Opfer identifizieren, was sich allerdings nicht vom Anteil derer unterscheidet, die in der weiterführenden Schule erstmalig als Opfer identifiziert werden. Eine Opferrolle in der Grundschule impliziert also keinen Risikofaktor für eine Rolle als Opfer in der weiterführenden Schule. Im Gegensatz dazu verbleibt einer von drei Tätern in der Grundschule auch später in der Täterrolle. Hier finden wir einen deutlich geringeren Anteil an Schülern, die in der Grundschule keine Täter sind, aber in der weiterführenden Schule diese Rolle einnehmen. Damit ist eine Täterrolle in der Grundschule als Risikofaktor für eine Täterrolle zu einem späteren Zeitpunkt im Schulleben einzustufen. Das durch SAMS erfasste Befundmuster bestätigt und erweitert die Ergebnisse von Monks et al. (2003), die auf der Basis von Mitschüleraussagen über die Stabilität der Mobbingrollen berichten, da es zeigt, dass die Instabilität der Opferrolle und die Stabilität der Täterrolle sogar über die Grundschule hinaus bis in die weiterführende Schule gültig ist. Paul und Cillessen (2003) identifizieren die Opferrolle, und Pellegrini und Bartini (2000) sogar die Opfer- und die Täterrolle, von der Grundschule zur weiterführenden Schule hin als stabil. Diese Befunde stehen teilweise im Kontrast zu unseren Ergebnissen. Allerdings umfasst unsere Längsschnittstudie den Vergleich der Rollen über einen Zeitraum von sechs Jahren, dass heißt von der frühen Grundschulzeit (Alter: 8 Jahre) bis fast zum Beginn der Mittelstufe, während Paul und Cillessen den ersten Messzeitpunkt

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ihrer Drei-Jahresstudie erst an das Ende der Grundschulzeit legten und Pellegrinis und Bartinis Studie vom Ende der Grundschulzeit über einen Zeitraum von 18 Monaten Aussagen macht. In beiden Untersuchungen ist damit das Alter der Schüler bei Beginn der Studie deutlich höher und der Untersuchungszeitraum deutlich kürzer. Die diskrepanten Ergebnisse lassen sich deshalb gut erklären, wenn man bedenkt, dass sich zum Ende der Grundschulzeit in den Klassen bereits ein sozialer Kontext entwickelt hat, in dem Dominanzstrukturen immer gängiger werden (vgl. Pellegrini u. Bartini 2000, S. 720). Das spricht dafür, dass der soziale Kontext in diesem späten Stadium der Grundschulzeit schon mehr Züge des späteren Kontextes (in der weiterführenden Schule) vereint, als der eher »anarchische« soziale Kontext, den wir typischerweise in der Grundschule finden. Diese Deutung wird durch zwei unserer Befunde unterstützt: Wir können zeigen, dass Gruppenhierarchien in der weiterführenden Schule stärker ausgeprägt sind als in den Klassen der Grundschule. Das impliziert, dass die Interaktionen innerhalb der Klasse von der Grund- zur weiterführenden Schule zunehmend durch Dominanz- oder Statusbewusstsein beeinflusst werden. Darüber hinaus können wir zeigen, dass die Opferrolle bei Schülern, die aus Grundschulklassen mit ausgeprägter hierarchischer Strukturierung kommen, stabil ist. Verknüpft man dieses mit dem Wissen, dass eine Opferrolle in der weiterführenden Schule markante Stabilität zeigt (Boivin et al. 1998; Hodges u. Perry 1999), dann erlauben unsere Ergebnisse die Schlussfolgerung, dass die Stabilität der Opferrolle eine Funktion der hierarchischen Strukturierung innerhalb der jeweiligen Klasse ist. So gesehen erweitern unsere Ergebnisse die Befunde von Pellegrini und Bartini (2000) und Paul und Cillessen (2003) und stehen keinesfalls im Widerspruch dazu. Eine Opferrolle wird – per Definition – als nachteilige, asymmetrische Beziehung, der man möglichst zu entkommen versucht, wahrgenommen. Ein soziales System, wie es Krappmann und Oswald (1995) für die Grundschule beschrieben haben, das im Wesentlichen auf dyadischer Symmetrie (und nicht auf hierarchischen Machtverhältnissen) aufbaut, sollte den Opfern vermehrt Möglichkeiten bieten, diesem Impuls des Entweichens nachzukommen. Die Instabilität der Opferrolle erscheint als logische Fol-

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ge. Wenig hierarchische Strukturierung in Gruppen sollte also mit instabilen Opferrollen und ausgeprägte hierarchische Strukturierung mit stabilen Opferrollen verknüpft sein. Dieses Muster wird durch unsere Befunde bestätigt. Eine Täterrolle mag hingegen schon in der Grundschule von den Tätern selbst als angenehmer Part einer asymmetrischen Beziehung wahrgenommen werden, der keinen Anlass gibt, ebendieser Rolle zu entfliehen. Schon das kann erklären, dass ein Täter immer wieder aggressives Verhalten zeigt, was sich in der Stabilität der Täterrolle bestätigt. Allerdings ist es äußerst bemerkenswert, dass die Stabilität der Täterrolle offenbar ganz unbeeinflusst von dem Ausmaß hierarchischer Strukturierung in der Grundschulklasse bleibt. Schon von der ersten, noch eher anarchisch organisierten Phase in der Grundschule an begleitet die Täter ein Risiko, auch sechs Jahre später wieder in der Täterrolle identifiziert zu werden – und das, obwohl die Mitschüler die, die sich aggressiv verhalten, in der Grundschulzeit deutlich eher ablehnen als sie »cool« zu finden. Aber die negative Reaktion der Mitschüler führt nicht zu einer Destabilisierung der Täterrolle. Was also stabilisiert die Täterrolle und welche Faktoren beeinflussen die Stabilität zwischen Grundschule und der mittleren Phase der weiterführenden Schule? Das langfristige Risiko, in der Täterrolle zu verbleiben, wird immer wieder Persönlichkeitsmerkmalen zugeschrieben. Deren »Modellierung« in entwicklungsrelevanten Kontexten vor dem Eintritt in die Schule oder später außerhalb der Schule (z. B. familiäre Kontexte, Loeber u. Hay 1997) prägt eine stabile Verhaltenstendenz, andere zu attackieren. Pellegrini und Bartini (2000) argumentieren sogar, dass diese Verhaltenstendenz mehr durch das Streben nach Dominanz als durch pure Aggressionsbereitschaft angetrieben ist (siehe auch Roland u. Isdøe 2001). Ein solches Motiv wird natürlich durch einen hierarchisch strukturierten sozialen Kontext in besonderer Weise bedient. In anderen Worten: Während der soziale Kontext der frühen Grundschulzeit wenig Förderung für eine Stabilisierung von Mobbing anbietet, ist diese Eignung in der weiterführenden Schule offenkundig. In Übereinstimmung mit anderen Studien (z. B. Rigby u. Slee 1998) können wir zeigen, dass ein Täter in der weiterführenden Schule mit großer Wahrscheinlich-

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keit eher belohnt, (z. B. durchschnittliche Popularität) als sanktioniert wird (O’Connell et al. 1999) und sich im Grad der sozialen Ablehnung nicht von ganz unbeteiligten (neutralen) Mitschülern unterscheidet. Perry et al. argumentierten 1988, dass Viktimisierung und Ablehnung zwar substanziell verknüpft sind, aber dass diese Assoziation a) nicht eng genug sei, um die Äquivalenz der Konstrukte anzunehmen, und b) die Kovariation mit Aggression die Konstrukte klar unterscheide. Dass sich auch in unseren Daten das Muster der Assoziation zwischen Ablehnung und einer Opferrolle respektive eine Täterrolle nochmals zwischen Grund- und weiterführender Schule unterscheidet, wurde an früherer Stelle schon angesprochen. Darüber hinaus können wir aber zeigen, dass Aggression als differenzierendes Kriterium zwischen einer Opferrolle in der Grundschule und einer Opferrolle in der weiterführenden Schule fungiert. Der Anteil der Opfer/Täter an der Gruppe der Opfer ist in der Grundschule markant höher als in der weiterführenden Schule. Wie schon bei Roland und Isdøe (2001), illustriert das erneut, dass gemobbt werden und andere mobben in der Grundschule bei weitem nicht die Distinktheit aufweisen, wie wir sie zu späteren Zeitpunkten der Schulzeit beobachten. Das kann als weiteres Argument dafür gelten, dass die Form der sozialen Organisation (z. B. auf Basis der soziokognitiven Entwicklung) sowohl die Wahl der Täter, andere zu dominieren, beeinflusst als auch das Angebot an Optionen, aus denen die, die attackiert werden, als Reaktion wählen können. Wir vermuten, dass in der Grundschule Rollen im Sinne eines Sets an Erwartungen über das Verhalten einer Person innerhalb der Gruppe noch nicht voll ausgebildet sind. Eine Opferrolle, die in der weiterführenden Schule klar am unteren Ende der hierarchischen Rangfolge zu finden ist, ist dieses nicht, solange die hierarchischen Strukturen der Gruppe noch kaum oder gar nicht ausgebildet sind. Entsprechend finden wir hier eine geringe Stabilität der Opferrolle, unabhängig davon, ob als Informationsquelle die Mitschüler (Monks et al. 2003) oder – wie in unserer Studie – die Betroffenen selbst fungieren. Allerdings gibt es auch zwischen Grundschulklassen schon Unterschiede in der hierarchischen Strukturierung, was auch die Stabilität der Viktimisierung beeinflusst.

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Da aber weder Opfer noch stabile Opfer mehr Ablehnung erfahren als die Grundschüler, die keine Opfer sind, erscheint uns ein starker Täter oder eine Gruppe aggressiver Kinder, die fähig sind, ein Machtgefälle in der Klasse zu erzeugen, als beste Erklärung, um hierarchische Strukturierung und in deren Folge die stabile Opfererfahrung zu verstehen – vor allem deshalb, weil eine Grundschulklasse, deren soziale Organisation im Wesentlichen auf dyadischen Beziehungen beruht, leicht zu dominieren ist. Denn soziale Vernetzungen, die die Dominanz Einzelner eben auch effektiv verhindern könnten, sind noch nicht verfügbar. Kinder, die schon früh mit dem aggressiven Streben nach Dominanz konfrontiert sind, werden sich ob der konkreten Bedrohung lieber auf die Seite der »Macht« schlagen oder zumindest keinen direkten Widerstand leisten. Das wiederum entzieht dem Opfer Nischen, in die man normalerweise innerhalb des sozialen Kontextes Grundschulklasse entweichen kann. Auf der Seite eines Opfers fördert das Verhaltensweisen, die Furcht und Angst/Ängstlichkeit signalisieren und das Verhalten der aggressiven Täter verstärken (z. B. Perry et al. 1990b). Darüber hinaus verstärkt es den Stress des Opfers (Sharp et al. 2000). Es fühlt sich hilflos, was sein Selbstvertrauen in die eigenen Copingstrategien negativ beeinflusst (Smith u. Brain 2000) und insgesamt Muster erlernter Hilflosigkeit verstärkt. In der weiterführenden Schule werden weniger Schüler direkt von Tätern attackiert, da diese selektiver vorgehen. In anderen Worten: Einen Schüler zu attackieren, der sowieso schon von mehreren Schülern abgelehnt wird (geringer Status), manipuliert die sozialen Normen, da diese Aggression »im Fahrwasser« schon existierender negativer Einstellungen der Mitschüler vermutlich weniger gegen die sozialen Normen zu verstoßen scheint. Ein solcher Wandel der geltenden sozialen Norm wird gestärkt, wenn Mitschüler in dem Bemühen, gegen die Attacken zu agieren und das Opfer zu verteidigen, scheitern, wofür die Verantwortung dann ebenfalls dem Opfer zugeschrieben wird (DeRosier et al. 1994). Der vom Beginn bis zum Ende der weiterführenden Schule beobachtbare Anstieg positiver Einstellungen gegenüber Mobbing (Rigby u. Slee 1998), aber auch ein zunehmend positiver Zusammenhang zwischen offener sowie relationaler Aggression und Popularität (Vaillantcourt et al. 2001) untermauern das Argument.

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Allerdings muss nach dem experimentellen Beleg (DeRosier at al. 1994) jetzt auf der Ebene von Sequenzanalysen nachgebildet werden, wie die Opfer-Täter-Interaktion das Klassenklima so beeinflusst, dass die Mitschüler dem Opfer gegenüber zunehmend negativ und dem Täter gegenüber positiv reagieren (vgl. Crick u. Werner 1998). Es ist also eine vertiefte und differenzierte Sicht auf die Mitschülerrollen nötig (Salmivalli et al. 1996). Diese Betrachtung sollte eng verknüpft sein mit theoretischen Konzepten wie sozialer Modellierung, Verantwortungsdiffusion (z. B. O’Connell et al. 1999) oder Dissonanztheorie (z. B. Egan et al. 1999), um der Bedeutung der Mitschülerbeteiligung an einem psychologischen Prozess Rechnung zu tragen, der in seiner Kontext- oder Interaktionsabhängigkeit gesehen werden sollte, statt Lösungsansätze für Mobbing in der Analyse persönlicher Merkmalszuschreibungen auf Seiten der Opfer zu suchen.

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Barbara Gasteiger Klicpera und Christian Klicpera

Stabilität und Konsequenzen von Viktimisierung durch Mitschüler in der Kindheit

1

Einleitung

Die sozialen Beziehungen zu gleichaltrigen Schulkameraden sind nach dem Ergebnis einiger viel beachteter Studien, die teilweise schon aus den 1970er Jahren stammen, ein starker Prädiktor der längerfristigen sozialen Anpassung und des psychosozialen Wohlbefindens der Schüler (Parker u. Asher 1987). Über längere Zeit wurden vor allem aggressives Verhalten und im Zusammenhang damit die soziale Ablehnung seitens der Mitschüler als Risikofaktoren betrachtet. Eine kritische Entwicklungslinie, die diskutiert wird, bezieht sich auf den Außenseiterstatus jener, die sich durch ihr eigenes aggressives Verhalten bei den meisten Mitschülern unbeliebt machen und deshalb Anschluss an Kinder suchen und finden, die in der Gruppe ebenfalls abgelehnt werden. Durch den Zusammenschluss steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Prozess der gegenseitigen Verstärkung abweichenden Verhaltens in Gang gesetzt und damit die Gefahr erhöht wird, dass diese Kinder in illegale oder zumindest abweichende Aktivitäten, wie Alkohol- und Drogengebrauch oder unerlaubtes Fernbleiben von der Schule, involviert werden (Cairns u. Cairns 1994; Dishion u. Patterson 1997). Während es hier vor allem um eine Verstärkung externalisierender Verhaltensstörungen geht, wurden in den letzten Jahren zunehmend internalisierende Schwierigkeiten, soziale Zurückgezogenheit, Einsamkeit und Traurigkeit, als Risikofaktor für die Entwicklung von Kindern betrachtet (Rubin et al. 1990; Rubin et al. 1995). Hier stand lange Zeit die Bedeutung traumatisierender Erfahrungen im Mittelpunkt, etwa der Verlust eines Elternteils

Stabilität und Konsequenzen von Viktimisierung

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oder Misshandlung in der Kindheit. Um die Entwicklung internalisierender Verhaltensschwierigkeiten zu verstehen, mussten jedoch auch andere Entwicklungsverläufe verstanden werden, die sich stärker auf die sozialen Interaktionen mit Gleichaltrigen bezogen und damit wurde nach alternativen Erklärungen der längerfristigen negativen Folgen für die seelische Gesundheit gesucht. In diesem Rahmen mussten andere Entwicklungsverläufe verstanden werden und damit wurde nach alternativen Erklärungen der längerfristigen negativen Folgen für die seelische Gesundheit gesucht. Es wurde deutlich, dass ein nicht unerheblicher Teil der Schüler zum Opfer aggressiver Handlungen von Mitschülern wird und dass dies – wenn es über längere Zeit andauert – dazu führt, dass sich die Kinder aus den sozialen Beziehungen zurückziehen. Ein typisches Opfer wurde von Olweus bereits 1993 als sozial isoliert, zurückgezogen und ängstlich beschrieben (Olweus 1993). Es ist daher anzunehmen, dass Viktimisierung das Selbstwertgefühl der Kinder untergräbt und zur Überzeugung mangelnder Effizienz, zum Gefühl der Einsamkeit und der Depression führt. Inzwischen ist das Wissen zu dem Thema sprunghaft gestiegen. Eine Reihe an Querschnittsuntersuchungen in ganz verschiedenen Ländern konnte den Zusammenhang zwischen Viktimisierung und Gefühlen von Einsamkeit, sozialer Ängstlichkeit und depressiven Symptomen nachweisen (u. a. Roland 2002; Schwartz et al. 2002; Schwartz et al. 2001). Auch liegen nun Übersichtsarbeiten zur Viktimisierung vor (Graham u. Juvonen 1998; Perry et al. 1992; Smith u. Brain 2000; Gasteiger Klicpera u. Klicpera 2001; Hawker u. Boulton 2000). Mit großem methodischem Aufwand wurde von Hawker und Boulton (2000) eine Meta-Analyse der zwischen 1978 und 1997 publizierten Querschnittsuntersuchungen zu den Folgen von Viktimisierung durchgeführt. In den Studien, die in die Analyse eingingen, zeigten sich klare Zusammenhänge zwischen Viktimisierung und psychosozialer Anpassung. Schüler, die viktimisiert werden, erleben mehr negative Gefühle und denken negativer über sich selbst als andere Kinder. Die größten Effektstärken ließen sich bei Depression nachweisen, die geringsten bei Angst. Obwohl sich demnach im Querschnitt der Zusammenhang zwischen Viktimi-

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sierung und Schwierigkeiten in der psychosozialen Anpassung klar bestätigen ließ, bleibt die Frage nach den kausalen Beziehungen aber noch weitgehend ungeklärt. Um überhaupt Effekte nachweisen zu können, ist zunächst die Klärung zweier wichtiger Fragen notwendig: zum einen, ob es sich bei den Opfern um eine eindeutig identifizierbare und stabile Gruppe handelt, und zum anderen die damit verbundene Frage nach der Bedeutung methodischer Aspekte. Hier ist zu klären, welche Beurteilergruppe für die Einschätzung der Viktimisierung in Frage kommt, welche Verhaltensdimensionen zu beachten sind, welche Rolle das Alter und das Geschlecht der Kinder dabei spielen und so weiter. Im Folgenden sollen daher zunächst diese beiden Fragen diskutiert werden, bevor auf längsschnittliche Befunde zu den Auswirkungen der Viktimisierung eingegangen wird. Stabilität der Viktimisierung: Bereits in einer der ersten Untersuchungen fiel die hohe Stabilität der Viktimisierung auf. Über einen Zeitraum von drei Monaten wurden dieselben Kinder wieder von den Mitschülern als Opfer genannt (Perry et al. 1988), das heißt, es bestand eine Korrelation der Peer-Nominierung von .93. Eine relativ große Stabilität wurde auch in den britischen Untersuchungen beobachtet (Boulton u. Underwood 1992; Boulton u. Smith 1994). Boulton und Smith (1994) untersuchten Viktimisierung über eineinhalb Jahre und fanden bei acht- bis zehnjährigen Schülern Korrelationskoeffizienten von .15 für Mädchen und .66 für Jungen. Eine etwas höhere Stabilität fanden Boivin et al. (1995) bei neun- bis zwölfjährigen Schülern mit einer Übereinstimmung von .71 über ein Jahr in den Mitschülereinschätzungen der Viktimisierung. Auch in Beobachtungsstudien wurde die hohe Stabilität der Viktimisierung bestätigt. Bei acht- bis neunjährigen Kindern ergaben sich über fünf Monate Korrelationskoeffizienten von .75 für Mädchen und .78 für Jungen (Boulton 1999). Zusammengefasst korrelieren die Einschätzungen der Viktimisierung bei 10- bis 14-jährigen Schülern innerhalb eines Jahres von .60 bis .91, von einem Schuljahr zum nächsten jedoch deutlich geringer, nämlich um .45 für Mädchen und um .75 für Jungen. Deutlich niedriger ist die Stabilität in den ersten Grundschuljahren, nämlich zwischen .27 und .41 für aufeinander folgende Jahre. Je länger die Erhebungen auseinander liegen, desto geringer sind

Stabilität und Konsequenzen von Viktimisierung

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im Allgemeinen die Korrelationen zwischen den Einschätzungen (Kochenderfer-Ladd u. Wardrop 2001). Während die Häufigkeit von Viktimisierung mit dem Alter der Kinder kontinuierlich abnimmt (Smith et al. 2001), nimmt also die Stabilität der Viktimisierung im Allgemeinen eher zu. Es werden zwar weniger Schüler zum Opfer von Aggressionen, aber diese richten sich gegen eine stabilere Gruppe von Kindern, jedenfalls solange die Zusammensetzung der Gruppe oder Klasse gleich bleibt (Kochenderfer-Ladd u. Wardrop 2001; Gasteiger Klicpera 2001). Die Stabilität der Einschätzungen hängt also erstens vom Alter der Kinder, zweitens vom Geschlecht und drittens vom Zeitraum und der Erhebungsmethode ab. Methodische Fragen: Hier geht es um die Frage, wer als Beurteiler für Viktimisierung geeignet ist beziehungsweise welche Bedeutung verschiedenen Beurteilern zukommt und welche Vor- und Nachteile mit deren Sicht jeweils verbunden sind (vgl. dazu auch Lösel et al. in diesem Buch). Weiter geht es um die Methode der Einschätzung sowie die inhaltlichen Dimensionen, die Viktimisierung in einer bestimmten Altersstufe am besten beschreiben. Kinder leiden nicht nur unter direkten physischen und verbalen Angriffen ihrer Mitschüler. Verletzend sind auch Formen indirekter und relationaler Aggression, wie beispielsweise diskreditiert oder aus der Freundesgruppe ausgeschlossen zu werden. Gerade für Mädchen sind diese Formen von Aggression verletzender als direkte Formen (Paquette u. Underwood 1999; Crick u. Grotpeter 1996). Für die Viktimisierung können Einschätzungen verschiedener Gruppen von Beurteilern verwendet werden: Erwachsene wie Lehrer und Eltern und die Kinder in Form von Selbst- und Peereinschätzungen. Während sich bei den Erwachsenen und in der Selbstbeurteilung Ratingskalen zur Einschätzung der Viktimisierung durchgesetzt haben, werden bei den Peers neben Ratingskalen auch immer noch Nominierungen eingesetzt. Bei den Kindern kommt zudem die Altersangemessenheit der Methode hinzu. Während es sich im Kindergarten vor allem um verbale und physische Formen der Viktimisierung handelt, gewinnen im Volksschulalter zunehmend indirekte oder relationale Aspekte an Bedeutung. Im Allgemeinen ist die Übereinstimmung zwischen Außenstehenden größer als die Übereinstimmung zwischen der Einschät-

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zung Außenstehender und der Selbsteinschätzung. Mitschüler und Lehrer stimmen daher besser überein als die Selbst- und Mitschülereinschätzungen der Kinder. Olweus (1993) berichtet eine mäßige Übereinstimmung zwischen Selbst- und Mitschülereinschätzungen. Mitschüler- und Selbsteinschätzungen zur Viktimisierung korrelieren zwischen .20 und .40 (Juvonen et al. 2001). Dies bedeutet lediglich 16 Prozent erklärter Varianz. Kinder bezeichnen sich selbst häufiger als Opfer, als sie von ihren Mitschülern bezeichnet werden. Bei ähnlichen Cut-off-Scores wird die Prävalenzschätzung daher niedriger sein, wenn man sich auf die Mitschülereinschätzungen bezieht und nicht auf die Selbsteinschätzungen. Manche Autoren betrachten Selbsteinschätzungen daher als weniger valide (Perry et al. 1988; Schuster 1997). Pellegrini, der sich in mehreren Untersuchungen mit den methodischen Fragen der Erfassung von Viktimisierung und als einer der wenigen auch mit der direkten Beobachtung des Verhaltens (Pellegrini u. Bartini 2000) auseinandergesetzt hat, betont die unterschiedliche Sichtweise, die durch die verschiedenen Beurteiler gewonnen werden kann. Selbsteinschätzungen zeigen das einzigartige Erleben des Schülers aus seiner subjektiven Sicht. Einschätzungen der Viktimisierung aus Selbstsicht ergeben daher immer höhere Werte als Außenbewertungen. Mitschüler haben den Vorteil, dass sie ständig mitten im sozialen Geschehen sind. Ihre eigene Beteiligung an den sozialen Interaktionen birgt jedoch die Gefahr sozialer Erwünschtheit in den Antworten und der Verfälschung durch soziale Stereotypenbildung (Pellegrini 2001). Lehrer und Eltern hingegen sind unabhängiger von dieser Gruppensicht, allerdings erleben sie das soziale Leben in der Klasse auch distanzierter. Lehrer können nicht jede soziale Interaktion in der Klasse registrieren. Vieles entgeht ihnen. Daher sind für sie hervorstechende Verhaltensweisen, wie etwa aggressives Verhalten, leichter zu beobachten als Viktimisierung. Die Übereinstimmungen zwischen den Lehrer- und Peereinschätzungen in Bezug auf aggressives Verhalten sind daher im Allgemeinen größer als in Bezug auf Viktimisierung. Schließlich gibt es bei der Viktimisierung eine hohe Übereinstimmung zwischen den Selbst- und den Elterneinschätzungen, da die Eltern das Geschehen in der Klasse stärker durch die Augen ih-

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rer eigenen Kinder sehen. Da sie nicht direkt beteiligt sind, können sie nur aus den Erzählungen ihrer Kinder auf das soziale Leben in der Klasse schließen (Gasteiger Klicpera 2001). Zum Zusammenhang zwischen Viktimisierung und psychosozialer Anpassung: Die Effektstärken des Zusammenhangs zwischen Viktimisierung und den Ergebnisvariablen (Depression, Einsamkeit, Selbstwert, soziale Ängstlichkeit etc.), die Hawker und Boulton (2000) errechneten, erwiesen sich als deutlich größer, wenn beide Variablen durch dieselben Personen eingeschätzt wurden, wenn also sowohl die Viktimisierung als auch die psychosoziale Anpassung entweder durch die Schüler selbst, die Eltern, Lehrer oder durch Mitschüler eingeschätzt wurden. Hawker und Boulton betonen, dass diese gemeinsame Methodenvarianz kritisch zu sehen sei, weil die Effekte dadurch überbetont würden. Einheitlich wurde jedoch der Zusammenhang zwischen Viktimisierung und Schwierigkeiten in der psychosozialen Anpassung hervorgehoben, allerdings ohne Aussagen über eine kausale Beziehung zwischen den Variablen treffen zu können. Da es sich bei all diesen Studien um Querschnittsuntersuchungen handelte, ist es nicht möglich, Ursache und Wirkung auseinander zu halten. Ein bestehender Zusammenhang zwischen Viktimisierung und Einsamkeit oder Depressivität allein kann die Frage nach Ursache und Wirkung nicht klären. Viktimisierung könnte zwar zu einer Verschlechterung des Befindens und zu Depressivität führen. Andererseits könnte es aber auch sein, dass jene Kinder, die von vornherein ein geringeres Selbstwertgefühl haben, sich weniger durchsetzen können und einsamer sind, gerade deshalb auch häufiger als Opfer von Aggressionen auserkoren werden. Hier wäre die Viktimisierung eher als Folge eines Verhaltens der Kinder, das durch Zurückgezogenheit und Negativität gekennzeichnet ist, aufzufassen. Längsschnittstudien bei Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter: Die bisher einzige uns bekannte Längsschnittstudie zu den Folgen von Viktimisierung bei Kindergartenkindern führten Kochenderfer und Ladd (1996) durch. Viktimisierung erwies sich als Vorläufer von Einsamkeit und Schulvermeidung bei fünf- bis sechsjährigen Kindern. In einer Folgestudie wurden Einsamkeit und soziale Unzufriedenheit vom Kindergarten bis zur dritten Klas-

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se bei 388 Kindern beobachtet (Kochenderfer-Ladd u. Wardrop 2001). Kochenderfer-Ladd und Wardrop haben als eine der Ersten die Bedeutung der Dauer der Viktimisierung hervorgehoben. Je länger die Viktimisierung andauerte, desto größer waren die negativen Folgen für die Kinder und desto einsamer fühlten sie sich. Kritisch anzumerken ist, dass sowohl die Viktimisierung als auch die Ergebnisvariablen auf Selbsteinschätzungen der Kinder beruhten. Hanish und Guerra (2002) untersuchten fast 1500 Schüler der ersten, zweiten und vierten Klassenstufe über zwei Jahre. Nach ihren Ergebnissen sagte Viktimisierung externalisierende sowie internalisierende Verhaltensprobleme und auch soziale Probleme voraus. Im Gegensatz dazu konnten Khatri et al. (2000) zwar nachweisen, dass Viktimisierung zu einer Erhöhung externalisierender Verhaltensprobleme führte, nicht jedoch internalisierende Schwierigkeiten und Depressivität verstärkte. Es ist anzunehmen, dass dies auf den kurzen Zeitraum der Untersuchung, die nur über ein Jahr lief, sowie auf methodische Unterschiede zurückzuführen ist. Mit einem Drittel an Kindern, die ausfielen, unterschiedlichen Messungen der Ergebnisvariablen (Youth Self-Report) und nur einem Item für Viktimisierung in der Peernominierung war keine Voraussage von Depression durch Viktimisierung möglich. Es erscheint daher unbedingt notwendig, in weiteren Längsschnittuntersuchungen die Frage der Kausalität zu klären (Graham u. Juvonen 1998). Hierbei geht es jedoch nicht allein um die Frage, ob Viktimisierung dazu führt, dass sich die Kinder einsamer und trauriger fühlen, sondern auch darum, ein theoretisches Modell dafür zu entwickeln, wie der psychische Prozess aussehen könnte, der diesen Zusammenhang erklären könnte, und dieses dann auch empirisch zu prüfen. Drei Möglichkeiten zur Erklärung des Zusammenhangs zwischen Viktimisierung und einem negativen Befinden sind denkbar: – die Hypothese einer einmaligen Traumatisierung, – die Hypothese eines kumulativen und chronischen Effekts und – die Hypothese eines sensiblen oder kritischen Zeitpunkts der Viktimisierung. Eine Traumatisierung würde bedeuten, dass bereits das Erlebnis einer kurzfristigen Viktimisierung zu einer dauerhaften Krise

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führt, dass sich die Kinder davon nicht so rasch erholen können und längere Zeit darunter leiden. Die Annahme eines kumulativen oder chronischen Prozesses würde bedeuten, dass weder ein einmaliges Ereignis noch ein bestimmter Zeitpunkt dazu führt, dass das Befinden der Kinder sich dauerhaft verschlechtert, sondern dass es vor allem die Viktimisierung über eine längere Zeit ist, die die Kinder belastet und dazu führt, dass sie sich einsam und traurig fühlen. Schließlich würde die Annahme eines kritischen Zeitpunkts für Viktimisierung bedeuten, dass es im Verlauf der Entwicklung von Kindern Momente gibt, in denen sie besonders sensibel sind und in denen sie besonders darunter leiden, wenn sie von Mitschülern schlecht behandelt werden. Dies wäre beispielsweise dann möglich, wenn sich die Kinder gerade in einer unsicheren sozialen Situation befinden, etwa an Übergängen. Immer dann, wenn Kinder aufgrund von wichtigen Veränderungen in ihrem Leben (etwa beim Übergang vom Kindergarten in die Schule, von der Grundin die Sekundarschule oder vom Kindes- ins Jugendalter) größeren Unsicherheiten ausgesetzt sind, könnten sie es als besonders belastend erleben, zum Opfer von Aggressionen zu werden. Um diese Fragen zu beantworten, haben wir die im Folgenden dargestellte Studie durchgeführt. Mit dieser Untersuchung liegt zum ersten Mal eine Längsschnittuntersuchung vor, die die Auswirkungen der Viktimisierung vom Kindergarten bis zum Ende der Grundschulzeit aus der Sicht der Kinder selbst, ihrer Mitschüler und Lehrer verfolgt. Während der Schwerpunkt bisheriger Untersuchungen auf Formen direkter Viktimisierung lag, wurden hier neben der Viktimisierung durch direkt aggressives Verhalten auch Formen indirekter oder relationaler Aggression einbezogen. Drei wesentliche Fragestellungen standen im Mittelpunkt der Untersuchung: – Stabilität des aggressiven Verhaltens und der Viktimisierung: Da die hohe Stabilität aggressiven Verhaltens bekannt ist, ergab sich die Frage, ob bei den Opfern auch bei jüngeren Kindern eine ähnlich hohe Stabilität zu beobachten ist. Zudem stellte sich die Frage, ob das Verhalten trotz einer Veränderung in den Rahmenbedingungen über die Zeit gleich bleibt. Hier ist der Übergang vom Kindergarten in die Volksschule besonders zu betrachten.

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Anzunehmen ist, dass das aggressive Verhalten beim Übergang vom Kindergarten in die Grundschule gleich bleibt, wohingegen die Stabilität der Viktimisierung deutlich niedriger sein sollte. – Des Weiteren sollte die Übereinstimmung der Beurteilung durch die Lehrerin oder Kindergärtnerin und die Mitschüler erfasst werden. Hier war vor allem die Frage zu klären, ob sich in der Einschätzung der Opfer eine ähnlich hohe Übereinstimmung erzielen ließ wie in der Einschätzung aggressiven Verhaltens oder ob die Schüler und Lehrer unterschiedliche Kinder als Opfer bezeichnen. – Schließlich sollten die Auswirkungen der Viktimisierung über die Grundschuljahre untersucht werden. Es ist anzunehmen, dass es durch die Viktimisierung über die Zeit zu einer Erhöhung negativer Gefühle bei den betroffenen Kindern kommt, dass sich Kinder, die zum Opfer aggressiver Handlungen ihrer Mitschüler werden, einsamer und depressiver fühlen, wobei auch die Dauer der Viktimisierung von Bedeutung sein sollte.

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Untersuchungsmethode

2.1 Stichprobe Die Untersuchung wurde mit den Kindern aus 23 Kindergärten und einer Vorschulklasse begonnen, die im Schuljahr 1997/98 das Einschulungsalter erreicht hatten und bei denen das Einverständnis der Eltern zur Teilnahme an der Untersuchung vorlag. Alle Kindergärten waren in kleineren Ortschaften in Niederösterreich gelegen, um die Kinder im folgenden Schuljahr in einer begrenzten Anzahl von Schulen wiederzufinden. Insgesamt nahmen zu diesem Zeitpunkt 352 Kinder (196 Jungen, 156 Mädchen) aus 45 Kindergartengruppen und einer Vorschulklasse teil. Im darauf folgenden Jahr wurde die Untersuchung mit allen Kindern in 13 Grundschulen (in Österreich Volksschulen genannt) fortgesetzt, die eingeschult wurden. Insgesamt nahmen 366 Kinder aus 21 ersten Klassen teil. Davon hatten 283 bereits an der Befragung teilgenommen, 83 waren neu in die Untersuchung aufgenommen worden.

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Im folgenden Jahr (am Ende der zweiten Klasse) befragten wir 331 Kinder aus nunmehr 22 Klassen, da eine Klasse geteilt worden war. Am Ende der vierten Klasse nahmen 350 Kinder in den 22 Klassen an der Fortführung der Untersuchung teil. Davon hatten 303 Kinder bereits in der ersten Klasse teilgenommen. Zum Verständnis der unterschiedlichen Stichprobenzahlen sollte noch angemerkt werden, dass es für die Fremdeinschätzung der Mitschüler zu aggressivem Verhalten und Viktimisierung notwendig ist, alle Schüler der Klasse zu befragen, um eine valide Beurteilung zu erhalten. Jedoch konnten nicht alle Schüler zu jedem Zeitpunkt an der Befragung teilnehmen. Zu allen fünf Zeitpunkten konnten 219 Kinder teilnehmen, in der Volksschule nahmen 286 Kinder an allen Untersuchungen (erste, zweite und vierte Klasse) teil. Zu den einzelnen Kindern wurde von 45 Kindergärtnern und 22 Lehrerinnen (zu jedem Untersuchungszeitpunkt) jeweils ein Fragebogen zur Beurteilung des Sozialverhaltens ausgefüllt.

2.2 Untersuchungsdurchführung Die vorliegende Längsschnittuntersuchung umfasste somit fünf Untersuchungswellen: Kindergarten (April bis Juni 1998), Beginn der ersten Klasse (Ende Oktober bis Mitte Dezember 1998), Ende der ersten Klasse (Mai bis Juni 1999), Ende der zweiten Klasse (Mai bis Ende Juni 2000) und Ende der vierten Klasse. Zu jedem dieser fünf Untersuchungszeitpunkte wurden die Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen gebeten, Verhaltenseinschätzungen zu jedem einzelnen Kind abzugeben. Die Gespräche mit den Kindern fanden in den ersten zwei Jahren einzeln in einem ruhigen Raum des Kindergartens/der Schule statt und dauerten etwa eine halbe Stunde. Am Ende der zweiten Klasse wurden die Kinder sowohl schriftlich in der Klasse als auch im Einzelgespräch befragt. In der vierten Klasse konnten die Kinder zur Gänze schriftlich in der Klasse befragt werden.

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2.3 Untersuchungsinstrumente und Skalenbildung Kindergärtnerinnen- und Lehrerfragebogen: Er enthielt unter anderem Fragen zum Verhalten der Kinder in der Gruppe, die auf einer 5-stufigen Likertskala einzuschätzen waren. Zwei Faktoren sind relevant: – offen aggressives und störendes Verhalten in der Gruppe mit acht Items (z. B. »Er/sie streitet viel mit anderen Kindern«) (Cronbach’s Alpha = 0.94), – Viktimisierung mit drei Items (z. B. »Er/sie wird von anderen Kindern oft geschlagen oder angerempelt.«) (Cronbach’s Alpha = 0.76). In ähnlicher Weise schätzten die Lehrerinnen und Lehrer zu Beginn der ersten Klasse und zu allen späteren Untersuchungszeitpunkten (Ende der 1., 2. und 4. Klasse) das Verhalten der Kinder ein: – aggressives Verhalten (3 Items, z. B. »Das Kind beschimpft und kränkt öfters andere Kinder.«), – Viktimisierung durch direkte und indirekte Aggression (4 Items, z. B. »Das Kind wird öfter von anderen Kindern vom Spielen ausgeschlossen.«), – Niedergeschlagenheit und emotionale Labilität (2 Items, z. B. »Das Kind ist recht empfindlich und weint oft.«). Selbsteinschätzung der Befindlichkeit durch die Kinder: Am Ende der vierten Klasse wurden in vergangenen Längsschnittuntersuchungen erprobte Instrumente eingesetzt (siehe Gasteiger Klicpera 2001). Der Fragebogen enthält eine Selbsteinschätzung der sozialen Erfahrungen und des Befindens in der Schule und erfasst jeweils getrennt das eigene Verhalten und das passive »Erleben« des Verhaltens der Mitschüler sowie das emotionale Befinden in der Schule. Mitschüler-Nominierung beziehungsweise Mitschüler-Rating: Einen Schwerpunkt der Befragung bildete die Einschätzung der anderen Kinder der Gruppe oder Klasse. Diese Einschätzung bezog sich im Kindergarten nur auf jene Kinder, die ebenfalls das Einschulungsalter erreicht hatten. Ihnen wurden Fotos der anderen

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Kinder vorgelegt. Sie sollten die Kinder in Bezug auf insgesamt sieben Verhaltensweisen (zwei für aggressives Verhalten, eine für Viktimisierung und jeweils zwei für zurückgezogenes und prosoziales Verhalten) nach drei Abstufungen (die durch einen frohen bzw. positiven, neutralen und missmutigen bzw. negativen Gesichtsausdruck gekennzeichnet waren) beurteilen. Die Anzahl der Beurteilungen auf den drei Stufen, die die Kinder von den anderen Kindern erhalten hatten, wurde addiert, sodass sich ein Wert zwischen 0 und 2 ergab. In einer Faktorenanalyse ließen sich die sieben Beurteilungen drei Faktoren zuordnen, wobei das Item zur Kennzeichnung der Viktimisierung (allerdings etwas niedriger) zusammen mit den beiden Items für aggressives Verhalten auf einem gemeinsamen Faktor lud. Zu Beginn und am Ende der ersten Klasse wurde identisch vorgegangen. Die Schüler sollten für insgesamt 12 Verhaltensweisen (drei Verhaltensweisen direkten und zwei indirekten aggressiven Verhaltens, zwei für Viktimisierung, je zwei für zurückgezogenes und prosoziales Verhalten sowie eine für depressives Verhalten) mindestens zwei Schüler (mit Hilfe der Fotos) nennen, auf die diese Verhaltensweise zutraf. Hierbei wurden die Verhaltensweisen, um die es ging, möglichst oft (bei den ersten 10 Verhaltensweisen) durch Zeichnungen (leicht modifiziert nach Strätz u. Schmidt 1982) verdeutlicht. Die Anzahl der Nennungen, die die Kinder erhalten hatten, wurde addiert, durch die Anzahl der beurteilenden Kinder dividiert und mit hundert multipliziert, sodass sich ein Wert zwischen 0 und 100 ergab. Auch am Ende der zweiten und vierten Klasse wurden eine Erhebung des sozialen Status und die Verhaltenseinschätzung durch die Mitschüler durchgeführt. Die Kinder sollten für insgesamt acht Verhaltensweisen (zwei für direkt aggressives Verhaltens, zwei für Viktimisierung, je zwei für zurückgezogenes und prosoziales Verhalten) das Verhalten aller Mitschüler gleichen Geschlechts auf einer 4-stufigen Skala (nach der Häufigkeit) einstufen.

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Ergebnisse

3.1 Stabilität der Einschätzungen zu Aggression und Viktimisierung Eine erste Aufgabe, die sich bei der Einschätzung des Sozialverhaltens über einen längeren Zeitraum stellt, betrifft die Frage, wer ein geeigneter Beurteiler sein kann und wie stabil die Einschätzungen der Beurteiler sind. Einschätzungen der Kindergärtner/Lehrer: Die Stabilität des Verhaltens war von der Dimension des eingeschätzten Verhaltens abhängig, das heißt, bei aggressivem Verhalten größer als bei Viktimisierung. Beim aggressiven Verhalten war vor allem die Übereinstimmung zwischen den Testzeitpunkten in der Volksschule relativ hoch (siehe Tab. 1), auch die Einschätzungen von Kindergärtnerin und Lehrerin stimmen in dieser Dimension relativ gut überein. Deutlich schlechter sind hingegen die Korrelationen der Einschätzungen der Viktimisierung. Die geringe Übereinstimmung zwischen der Einschätzung der Kindergärtnerin und jener der Lehrerin (siehe Tab. 1) könnte zum einen damit zusammenhängen, dass es sich hier um unterschiedliche Personengruppen handelt, zum anderen damit, dass in den Einschätzungen der Lehrerinnen und Lehrer die Erfahrungen mehrerer Jahre zusammengefasst sind. Zudem lässt sich aus den Ergebnissen schließen, dass die Identifikation von Kindern mit aggressivem Verhalten den Erwachsenen (Lehrerin und Kindergärtnerin) leichter fällt als die Identifikation der Opfer. Dies erscheint verständlich, da aggressives Verhalten in diesem Alter noch sehr offen ausgetragen wird und direkt beobachtbar ist. Hinzu kommt, dass Viktimisierung stärker vom sozialen Kontext, also der Zusammensetzung der jeweiligen Gruppe, abhängig zu sein scheint, daher die geringe Übereinstimmung in dieser Dimension zwischen Lehrerin und Kindergärtnerin. Eine bestimmte Gruppenkonstellation oder eine besondere Beziehung zwischen zwei Kindern können dazu führen, dass ein Kind zur Zielscheibe aggressiver Handlungen wird. Wenn dann die Gruppe aufgelöst und neu zusammengesetzt wird, wie beim Übergang vom Kindergarten in die Volksschule, besteht die Chance für die

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Stabilität und Konsequenzen von Viktimisierung

Opfer, ihrer Rolle zu entfliehen, und die Gefahr für andere Kinder, dann in die Opferrolle zu geraten. Im Gegensatz zur Viktimisierung scheint das aggressive Verhalten stabiler und stärker vom Kontext unabhängig zu sein, es betrifft im Kindergarten und in der Volksschule häufig dieselben Kinder. Tabelle 1: Korrelationen zwischen der Beurteilung des aggressiven Verhaltens und der Viktimisierung durch die Kindergärtnerin/Lehrerin zu verschiedenen Zeitpunkten im Längsschnitt Aggressives Verhalten Anf. 1. Kl. Ende des Kindergartens .38 Anfang 1. Klasse Ende 1. Klasse Ende 2. Klasse Viktimisierung Anf. 1. Kl. Ende des Kindergartens .25 Anfang 1. Klasse Ende 1. Klasse Ende 2. Klasse

Ende 1. Kl. .33 .68

Ende 2. Kl. .32 .58 .64

Ende 1. Kl. .29 .53

Ende 2. Kl. .17 .47 .49

Ende 4. Kl. .38 .44 .52 .58 Ende 4. Kl. .15 .32 .40 .52

Einschätzung der Peers: Betrachtet man nun das Urteil der Mitschüler über das aggressive Verhalten, so war seine Stabilität mit jener der Lehrereinschätzung vergleichbar. Auch hier zeigte sich eine relativ hohe Stabilität, etwa vom Anfang zum Ende der ersten Klasse (r = .64) sowie vom Ende der zweiten bis zum Ende der vierten Klasse (r = .58). Die Einschätzung der Viktimisierung hingegen war deutlich weniger stabil. Besonders niedrig erwies sich die Übereinstimmung vom Ende des Kindergartens zum Anfang oder Ende der ersten Klasse. Diese Urteile stimmen überhaupt nicht überein (Korrelation um .0). Besser sind lediglich die Einschätzungen vom Anfang zum Ende der ersten Klasse (r= .34) und vom Ende der zweiten zum Ende der vierten Klasse (r = .57). Alle anderen Einschätzungen zeigen nur eine sehr geringe Übereinstimmung (siehe dazu auch Tab. 2). Insgesamt ließ sich also erst gegen Ende der Grundschule eine Stabilisierung im Urteil über Viktimisierung nachweisen. Es scheint für jüngere Kinder schwierig zu sein, zu einer stabilen Ein-

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Barbara Gasteiger Klicpera und Christian Klicpera

schätzung der Erfahrungen ihrer Mitschüler zu kommen, besonders in Bezug auf die Opferrolle. Tabelle 2: Zusammenhang zwischen der Beurteilung des aggressiven Verhaltens und der Viktimisierung durch die gleichaltrigen Mitschüler zu verschiedenen Zeitpunkten im Längsschnitt Aggressives Verhalten Anf. 1. Kl. Ende des Kindergartens .33 Anfang 1. Klasse Ende 1. Klasse Ende 2. Klasse Viktimisierung Anf. 1. Kl. Ende des Kindergartens .01 Anfang 1. Klasse Ende 1. Klasse Ende 2. Klasse

Ende 1. Kl. .35 .64

Ende 2. Kl. .50 .41 .40

Ende 1. Kl. .00 .34

Ende 2. Kl. .14 .09 .03

Ende 4. Kl. .39 .26 .33 .58 Ende 4. Kl. .12 -.10 .08 .57

3.2 Übereinstimmung in den Beurteilungen von Gleichaltrigen, Lehrerinnen und Kindergärtnerinnen Nachdem nun deutliche Unterschiede in der Stabilität der Einschätzungen von Viktimisierung zwischen Mitschülern und Lehrern aufgezeigt wurden, stellt sich die Frage, wie weit diese beiden Beurteiler in ihren Einschätzungen gleichzeitig und prospektiv übereinstimmen. Auch hier zeigen sich Unterschiede zwischen den Einschätzungen des aggressiven Verhaltens und jenen der Viktimisierung. Beim aggressiven Verhalten stimmen die Mitschülereinschätzungen nicht nur zum gleichen Zeitpunkt, sondern auch prospektiv im gesamten Beobachtungszeitraum recht gut mit den Einschätzungen der Lehrer überein. Die beste Übereinstimmung ist am Ende der zweiten und vierten Klasse zu beobachten (corr. = .62 bzw. .60, siehe Tab. 3). Anders ist dies bei der Viktimisierung. Hier zeigt sich erst ab der zweiten Klasse eine gewisse Übereinstimmung (Ende 2. Klasse corr. = .44; Ende 4. Klasse corr. = .53). Hier wird wieder deutlich, dass die Mitschüler erst ab der zweiten Klasse ein zuverlässiges Bild der Viktimisierung entwickeln. Auch wird deutlich, dass das

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Stabilität und Konsequenzen von Viktimisierung

Mitschülerurteil über Viktimisierung immer mehr die Perspektive der Lehrer übernimmt, die Sicht der Kinder scheint sich jener der Lehrer anzugleichen. Während ihre Einschätzung der Opfer anfangs noch wechselhaft und mehr von Sympathie und dem Status in der Gruppe abhängig ist, gleicht sie sich später stärker an die Sicht der Lehrer und somit wohl auch an die Perspektive und Normen der Schule an. Tabelle 3: Zusammenhang zwischen der Beurteilung des aggressiven Verhaltens und der Viktimisierung durch die gleichaltrigen Mitschüler (= Zeilen) und jener der Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen (= Spalten) zu verschiedenen Zeitpunkten im Längsschnitt Aggressives Verhalten

Kinderg. Anf. 1. Kl. Ende des Kindergartens .55 .42 Anfang 1. Klasse .47 Ende 1. Klasse Ende 2. Klasse Ende 4. Klasse Viktimisierung Kinderg. Anf. 1. Kl. Ende des Kindergartens .25 .00 Anfang 1. Klasse .00 Ende 1. Klasse Ende 2. Klasse Ende 4. Klasse

Ende 1. Kl. .44 .47 .45

Ende 2. Kl. .45 .44 .41 .62

Ende 1. Kl. .02 .00 .08

Ende 2. Kl. .00 .04 .11 .44

Ende 4. Kl. .38 .35 .36 .55 .60 Ende 4. Kl. .07 .04 .12 .41 .53

3.3 Längerfristige Entwicklung: Auswirkung auf Depressivität Um die längerfristige Entwicklung, die dazu führt, dass Schüler als häufiges Opfer von Aggressionen betrachtet werden, zu analysieren, wurden die Schüler nach den Ergebnissen des MitschülerRatings in der vierten Klasse in zwei Gruppen geteilt: Schüler mit einer hohen Viktimisierung, die zu den auffälligsten 15 Prozent gerechnet wurden, und die übrigen 85 Prozent, die deutlich weniger auffällig waren. Die Einschätzungen, die die Lehrer für diese beiden Gruppen zu früheren Untersuchungszeitpunkten in jeder Klassenstufe abgegeben hatten, wurden anschließend rückblickend

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Barbara Gasteiger Klicpera und Christian Klicpera

für die gesamte Schulzeit in einer Varianzanalyse mit wiederholten Messungen (über den Faktor Zeit und den Faktor Maß – aggressives Verhalten und Viktimisierung) verglichen. Dabei zeigte sich, dass sich diese beiden Gruppen in den Lehrereinschätzungen des aggressiven Verhaltens und der Viktimisierung schon von der ersten Klasse an unterschieden hatten (F(1,230) = 41.4, p