Orientalismen in Ostmitteleuropa: Diskurse, Akteure und Disziplinen vom 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg [1. Aufl.] 9783839426975

From the Baltic to Crimea, from Poland to Bosnia: The interdisciplinary contributions to this volume discuss the percept

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German Pages 356 [348] Year 2014

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Orientalismen in Ostmitteleuropa: Diskurse, Akteure und Disziplinen vom 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg [1. Aufl.]
 9783839426975

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Robert Born, Sarah Lemmen (Hg.) Orientalismen in Ostmitteleuropa

Postcolonial Studies | Band 19

Robert Born, Sarah Lemmen (Hg.)

Orientalismen in Ostmitteleuropa Diskurse, Akteure und Disziplinen vom 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg

Das dieser Publikation zugrunde liegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01UG0710 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren. Gedruckt mit Unterstützung des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e.V. an der Universität Leipzig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2697-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7 Einleitende Überlegungen zu Orientalismen in Ostmitteleuropa

Sarah Lemmen und Robert Born | 9

ORIENTALISMEN DER IMPERIALEN ZENTREN Komplexer k.u.k. Orientalismus: Akteure, Institutionen, Diskurse im 19. und 20. Jahrhundert in Österreich

Johannes Feichtinger | 31 Wo liegt das russische Morgenland? Orient-Diskurs und imperiale Herrschaft im Zarenreich

Kerstin S. Jobst | 65

DISZIPLINEN, INSTITUTIONEN UND NARRATIVE The Development of Hungarian Turcology in the Long Nineteenth Century

Ibolya Gerelyes | 87 Vienna and the Art Historical ‘Discovery’ of the Balkans

Maximilian Hartmuth | 105 „Unsere Aufgaben in der Orientalistik und im Orient“ Die Gründung und die erste Dekade des Prager Orientalischen Instituts in der Zwischenkriegszeit

Sarah Lemmen | 119

ORIENTALISMEN AUF REISEN „Die Ägypter wussten ihre Köpfe zu gebrauchen!“ Orientalische Alterität in den fiktiven Reisebeschreibungen von Václav MatČj Kramerius (1802-1808)

Lucie Storchová | 147

Edward RaczyĔskis Perzeption des osmanischen Orients in Bild und Text seines Reisetagebuchs

Sabine Jagodzinski | 187 Orientalism in Fin de Siècle Czech Society? (With a Focus on Egypt)

Hana Navrátilová | 221

ORIENTALISMEN IN LITERATUR UND KUNST Orientalismus und Ossianismus. Zu den Verschränkungen der Nord- und Orient-Diskurse in der polnischen Frühromantik

Heinrich Kirschbaum | 259 Buren und Polen. Metonymischer Manichäismus und metaphorische Autoafrikanisierung bei Henryk Sienkiewicz – zur Rhetorik interkultureller Beziehungen

Dirk Uffelmann | 285 „Unser kleiner Orient“. Balchik und die südliche Dobrudscha aus der Perspektive Rumäniens (1913-1940)

Roland Prügel | 313 Vladimir Bartol’s Alamut and Slovenian (Self-)Orientalism

Mirt Komel | 335

Autorinnen und Autoren | 351

Vorwort

Der vorliegende Band versammelt Beiträge, die mehrheitlich im September 2010 auf dem internationalen Workshop „Orientalismen in Ostmitteleuropa. Wahrnehmung und Deutung der außereuropäischen Welt im langen 19. Jahrhundert“ am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e.V. (GWZO) in Leipzig einem Fachpublikum präsentiert wurden. Der interdisziplinäre Workshop war eine gemeinsame Veranstaltung der beiden am GWZO angesiedelten Projektgruppen „Ostmitteleuropa Transnational. Positionierungsstrategien in Globalisierungsprozessen vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ und „Osmanischer Orient und Ostmitteleuropa. Vergleichende Studien zu Perzeptionen und Interaktionen in den Grenzzonen (16.-18. Jahrhundert)“. An dessen Konzeption und Durchführung wirkten federführend Sarah Lemmen und Robert Born. Die Arbeit der beiden Projektgruppen wurde zunächst (2006-2007) durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und ab 2008 durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Für die großzügige finanzielle Unterstützung des Workshops wie auch der Drucklegung des Tagungsbandes möchten wir uns an dieser Stelle herzlich bedanken. Ebenfalls danken möchten wir den Kolleginnen und Kollegen der beiden Projektgruppen sowie allen weiteren mit dem Workshop befassten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des GWZO. Eine solche Veranstaltung mit Workshopcharakter lebt von der engagierten Beteiligung der Referierenden und Gäste. Deshalb danken wir ganz besonders allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern für die lebhafte und qualifizierte Diskussion, deren Essenz sich nun hoffentlich in den hier gedruckt vorliegenden Beiträgen wiederfindet. Leipzig und Wien, im Oktober 2013 Die Herausgeber

Einleitende Überlegungen zu Orientalismen in Ostmitteleuropa S ARAH L EMMEN

UND

R OBERT B ORN

Als im Jahr 1978 die Studie Orientalism des in Jerusalem geborenen USamerikanischen Literaturwissenschaftlers palästinensischer Herkunft Edward W. Said (1935-2003) erschien, konnte niemand absehen, was für eine enorme Resonanz, aber auch Kritik dieses Werk erfahren würde.1 Anhand einer Analyse literarischer und philologischer Texte des 19. und 20. Jahrhunderts diagnostizierte Said, der lange Jahre in Kairo verbracht hatte, eine Essentialisierung des Orients durch die westliche Wissenschaft als einem Gegenbild des Westens, die dann als wichtige ideologische Komponente bei der Durchsetzung hegemonialer Ansprüche gedient habe. Diese Perspektive wurde von Said später vertieft.2 In den 35 Jahren, die seit dem Erscheinen von Orientalism vergangen sind, wurden Saids Positionen und Argumente wiederholt kritisiert.3 Unabhängig davon übte Saids Studie einen nachhaltigen Einfluss auf nahezu alle Bereiche der Kulturwissenschaften wie auch der historischen Forschung aus. Diesen besonderen Rang il1

SAID, Edward W.: Orientalism, London 1978.

2

DERS.: Culture and Imperialism, London 1993.

3

Stellvertretend für die beachtliche Zahl von kritischen Positionen: LEWIS, Bernard: The Question of Orientalism. In: The New York Review of Books 29/11,·June 24 (1982), 49-56. – CLIFFORD, James: On Orientalism. In: DERS.: The Predicament of Culture. Twentieth Century Ethnography, Literature and Art. Cambridge 1988, 255276. – HALLIDAY, Fred: Orientalism and Its Critics. In: British Journal of Middle Eastern Studies 20/2 (1993), 145-163. – OSTERHAMMEL, Jürgen: Edward W. Said und die ‚Orientalismus‘-Debatte: Ein Rückblick. In: asien afrika amerika 25 (1997), 597607. – IRWIN, Robert: For the Lust of Knowing. The Orientalists and their Enemies, London 2006. – VARISCO, Daniel Martin: Reading Orientalism. Said and the Unsaid. Seattle u.a. 2007, 93-234.

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lustriert besonders augenfällig die Einordnung des „Orientalismus“ unter die Europäischen Erinnerungsorte.4 Die besonders intensive Rezeption der Studie von Said ist sicherlich durch die in dem Werk explizit betonte Verbindung von Geisteswissenschaften und Politik befördert worden. Dies gilt sowohl für den Zeitpunkt der Entstehung und Veröffentlichung, als sich der Ausklang des nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begonnenen Prozesses der Dekolonisation abzeichnete und es gleichzeitig im Vorderen und Mittleren Osten mit dem Regimewechsel im Iran, dem ägyptisch-israelischen Friedensvertrag sowie der sowjetischen Invasion in Afghanistan zu radikalen politischen Umwälzungen in der Region im Fokus kam.5 Das gilt auch für die Zeit nach der Jahrtausendwende, als vor allem nach den Ereignissen rund um den 11. September 2001 und den militärischen Interventionen im Irak und Afghanistan eine neue Welle der Auseinandersetzung und Modifikation der Argumente Saids einsetzte.6 Sowohl Fürsprecher als auch Gegner eines solchen Orientalismus-Konzepts publizieren ungebrochen und formulieren dabei Vorschläge zu dessen Erweiterung oder Systematisierung: Dieses Konzept scheint aktueller denn je zu sein und ein Ende der Beschäftigung mit dem Thema ist nicht abzusehen.7 Auch geographisch wurde das Konzept aufgebrochen und dem Saidschen Fokus auf Großbritannien, Frankreich8 und die USA weitere Bereiche nicht nur aus Westeuropa, sondern aus dem Orient selbst hinzugefügt. Mit Blick auf den

4

SCHÄBLER, Birgit: Orientalismus. In: Europäische Erinnerungsorte. Bd. 3. Europa und die Welt. Hg. v. Pim den BOER, Heinz DURCHARDT und Georg KREIS. München 2012, 9-44.

5

Zu den konzeptionellen Wurzeln von Saids Argumentation sowie den zeitgeschichtlichen Kontext: BRENNAN, Timothy: The Illusion of a Future. Orientalism as Traveling Theory. In: Critical Inquiry 26/3 (2000), 558-568.

6

LITTLE, Douglas: American Orientalism. The United States and the Middle East Since 1945. Chapel Hill 2002. – LOCKMAN, Zachary: Contending Visions of the Middle East. The History and Politics of Orientalism. Cambridge u.a. 2004 (The Contemporary Middle East 3). – DABASHI, Hamid: Post-Orientalism. Knowledge and Power in Time of Terror. New Brunswick 2008.

7

BERNARD, Anna/ELMARSAFY, Ziad: Orientalism. Legacies of a Performance. In: Debating Orientalism. Hg. v. Ziad ELMARSAFY, Anna BERNARD und David ATTWELL. Houndmills-New York 2013, 1-19. – Edward Said’s Translocations. Essays in Secular Criticism. Hg. v. Tobias DÖRING und Mark STEIN. New York 2012.

8

Aus der unüberschaubaren Literatur sei hier hervorgehoben: LOWE, Lisa: Critical Terrains. French and British Orientalisms. Ithaca-London 1991.

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letztgenannten regionalen Fokus wies der amerikanische Arabist und Historiker Ussama Makdisi in einer vielbeachteten Studie für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts die Verbreitung von westlich geprägten Orientalismus-Konzepten unter den nicht-westlichen Eliten im Osmanischen Reich nach und stellte dabei fest: „in an age of western-dominated modernity, every nation creates its own Orient“.9 Ostmitteleuropa aber, das hier in seinem breiten Verständnis vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer begriffen wird, blieb bisher weitestgehend unberücksichtigt. Gerade diese Region weist aber eine jahrhundertealte Beziehungsgeschichte zum Orient auf, hatten doch gerade die Territorien der polnischlitauischen Adelsrepublik, Böhmens, Ungarns wie auch der benachbarten Donaufürstentümer, der Moldau und der Walachei über Jahrhunderte eine Schnittstelle zum Osmanischen Reich und dessen Vasall, dem tatarischen Khanat auf der Krim, gebildet. Darüber hinaus bildeten Bosnien, die Herzegowina und Serbien wichtige, der Hohen Pforte direkt unterstellte Territorien. Dennoch schien Ostmitteleuropa als Region ohne koloniale Vergangenheit bisher eines orientalistischen Blicks eher unverdächtig.10 Vielmehr ist Ostmitteleuropa vor allem als Objekt orientalisierender Diskurse untersucht worden.11 Die zeitliche Massierung der ersten Studien zu diesem Komplex im Umfeld der politischen Umwälzungen 1989-1990 sowie der Desintegration des jugoslawischen Staatsverbandes in der ersten Hälfte der 1990er Jahre war sicher nicht zufällig, sie bildet einen Teilaspekt der Bemühungen um eine Neuformulierung der nationalen bzw. staatlichen Identität(en) in den vormals jenseits des Eisernen Vorhangs gelegenen Ländern. In einer vieldiskutierten Studie zu den hegemonialen Diskursen zu diesem Teil des Kontinents formulierte Larry Wolff die These von der „Erfindung des östlichen Europas“ durch die westeuropäische Aufklärung. Hierbei deutete er die

9

MAKDISI, Ussama: Ottoman Orientalism. In: American Historical Review 107/3 (2002), 768-796, hier 768.

10 Eine eher ephemere Episode stellen hier die außereuropäischen Besitzungen des unter polnischer Oberherrschaft stehenden Herzogtums Kurland und Semgallen dar, das Kolonien in Amerika (Tobago, 1654-1659 und 1660-1689) und vor der afrikanischen Küste auf James Eiland 1649-1660 besetzt hatte. Siehe hierzu: MERRITT, Harry C.: The Colony of the Colonized. The Duchy of Courland’s Tobago Colony and Contemporary Latvian National Identity. In: Nationalities Papers 38/4 (2010), 491-508. Zu den kolonialen Ambitionen der Zweiten Polnischen Republik und deren Aufarbeitung aus der Perspektive der postcolonial studies siehe die Angaben weiter unten. 11 JOBST, Kerstin S.: „Orientalism“, E. W. Said und die Osteuropäische Geschichte. In: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 51/2 (2000), 250-266.

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schriftlichen Äußerungen dieser Epoche mit Blick auf Osteuropa als Teil einer Machtstrategie, die auf die Unterdrückung und Beherrschung dieses Teils des Kontinents abzielten und somit deutliche Analogien zu Saids OrientalismusKonzept aufwiesen.12 Im Rahmen der intensiven Auseinandersetzung mit Wolffs Studie wurde wiederholt gefordert, wissenschaftliche Perspektiven aus Ostmittel- und Südosteuropa wie auch aus Russland zu berücksichtigen und somit eine Binnenperspektive in die Diskussion rund um die Formung der Idee eines östlichen Europa als Gegenentwurf zum Westen einzubeziehen.13 Erste Schritte in diese Richtung unternahmen sowohl Maria Todorova als auch Milica BakiüHayden mit Robert Hayden Anfang der 1990er Jahre mit Publikationen, in denen der Balkan im Fokus stand. In mehreren Studien zeigte Todorova die unterschiedlichen Facetten des Balkanbildes aus westeuropäischer Perspektive (Frankreich, Großbritannien und Deutschland) auf. Der von ihr dabei eingeführte Begriff des Balkanismus erweckt zwar direkte Assoziationen zu Saids Orientalismus, bezieht sich jedoch im Gegensatz zu diesem auf einen Teil Europas mit einer Kultur, die sowohl durch das Christentum wie auch den Islam geprägt worden ist.14 Nahezu zeitgleich mit Todorova verwiesen Milica Bakiü-Hayden und Robert Hayden auf die Unterschiede zwischen der Wahrnehmung des Balkans und dem Orientalismus-Konzept Saidscher Prägung. Während bei letztgenanntem Fall die diskursiven Figuren mit einem System von politischer Hegemonie verbunden wurden, tauchten vergleichbare rhetorische Muster in Südosteuropa in völlig neuen Konstellationen auf, etwa als Medium zur negativen Überzeichnung einzelner südlicher Bereiche im Rahmen innerjugoslawischer Polemiken ab den späten 1980er Jahren.15 Eine vergleichbare Langlebigkeit bzw. Wiederbelebung bestimmter orientalisierender Topoi diagnostizierte Sorin An-

12 WOLFF, Larry: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization in the Mind of the Enlightenment. Stanford 1994, 8. 13 DUPCSIK, Csaba: Postcolonial Studies and the Inventing of Eastern Europe. In: East Central Europe 26 (1999), 1-14, hier 8-10. – MISHKOVA, Diana: Symbolic Geographies and Visions of Identity. A Balkan Perspective. In: European Journal of Social Theory 11/2 (2008), 237-256, hier 245. 14 TODOROVA, Maria: The Balkans. From Discovery to Invention. In: Slavic Review 53/2 (1994), 453-482. – DIES.: Imagining the Balkans. New York u. a. 1997. 15 BAKIû-HAYDEN, Milica/HAYDEN, Robert: Orientalist Variations on the Theme “Balkans”. Symbolic Geography in Recent Yugoslav Cultural Politics. In: Slavic Review 51/1 (1992), 1-15. – BAKIû-HAYDEN, Milica: Nesting Orientalisms. The Case of former Yugoslavia. In: Slavic Review 54/4 (1995), 917-931.

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tohi mit Blick auf Rumänien.16 Die mit diesen orientalisierenden Diskursen assoziierten Schlagworte wie „balkanische Mentalität“, „balkanischer Primitivismus“, „Balkanisierung“ oder „Byzantinismus“ blieben nach 1989 nicht auf die Historiographie beschränkt,17 sondern wurden vor allem in den öffentlichen Diskussion im Umfeld der beiden Phasen der Osterweiterungen der EU wiederholt von den Gegnern dieser Initiative polemisch vorgetragen. Zusätzlich zu diesen Wandlungen der imaginären Geographie Ostmittel- und Südosteuropas18 diagnostizierte man gerade in jüngster Zeit auch das Aufkommen eines orientalisierenden Diskurses mit Blick auf Regionen im Osten Polens, die gleichzeitig die Peripherie der EU bilden.19 Die hier schlaglichtartig aufgezeigten Entwicklungen zeigen die aktuelle Relevanz einer Auseinandersetzung mit dem Komplex des Orientalismus in Ostmittel- und Südosteuropa in einer vergleichenden interdisziplinären Perspektive. Die Relevanz dieser Fragestellung wird durch die besondere Rolle der Länder Ostmitteleuropas im sozio-kulturellen Beziehungsgeflecht zwischen dem Osmanischen Reich und Europa spätestens seit dem 16. Jahrhundert untermauert. Die Existenzen unter osmanischer Herrschaft, als Vasallenstaat20 oder als direkter Nachbar bilden wichtige Bestandteile der Erinnerungskulturen in dieser Region und können mit gutem Grund als ein strukturelles Merkmal dieser historischen Großregion angesprochen werden.21 Kennzeichnend für dieses besondere Ver-

16 ANTOHI, Sorin: Imaginaire culturel et réalité politique dans la Roumanie moderne. Le stigmate et l’utopie. Paris 1997 (Übersetzung der rumänischen Erstausgabe von 1994). 17 FLEMING, Katherine Elizabeth: Orientalism, the Balkans, and Balkan Historiography. In: The American Historical Review 105/4 (2000), 1218-1233. 18 ANTOHI, Sorin: Habits of the Mind. Europe’s Post-1989 Symbolic Geographies. In: Between Past and Future. The Revolutions of 1989 and Their Aftermath. Hg. v. DERS. und Vladimir TISMĂNEANU. Budapest 2000, 61-77. 19 BUCHOWSKI, Michaá: The Specter of Orientalism in Europe. From Exotic Other to Stigmatized Brother. In: Anthropological Quarterly 79/3 (2006), 463-482. 20 The European Tributary States of the Ottoman Empire in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. Hg. v. Gábor KÁRMÁN und Lovro KUNýEVIû. Leiden 2013 (The Ottoman Empire and its Heritage 53). 21 Sarmatismus versus Orientalismus in Mitteleuropa / Sarmatyzm versus Orientalizm w Europie ĝrodkowej. Hg. v. Magdalena DàUGOSZ und Piotr O. SCHOLZ. Berlin 2012. – Osmanischer Orient und Ostmitteleuropa. Perzeptionen und Interaktionen in den Grenzzonen zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert. Hg. v. Robert BORN und Andreas PUTH. Stuttgart 2014 (im Druck). Zum vielfältigen und bisweilen politisch kontrovers interpretierten Erbe des Osmanischen Reichs in Südosteuropa. Images of Imperial Le-

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hältnis ist die Kombination zweier auf den ersten Blick gegensätzlicher Perspektiven: der Bewunderung für den Orient und dessen negative Überzeichnung. So bildete der Orient spätestens in den in der Frühen Neuzeit aufkommenden nationalen Mythen der Ungarn und in Polen-Litauen einen zentralen Bezugspunkt für die Selbstidentifikation der Eliten. Im Fall der Ungarn war dies die Scythia, während Sarmatien zur Urheimat der Szlachta, des Adelsstands der polnisch-litauischen Adelsrepublik, stilisiert wurde.22 Visuelle Reflexe dieser ‚orientalischen‘ Vergangenheit stellen die orientalisch gekleideten Figuren auf dem Frontispiz der Chronica de gestis Hungarorum aus dem 14. Jahrhundert oder die Illustrationen der Brünner und Augsburger Ausgabe der Thuróczy-Chronik von 1488 dar.23 Zusätzlich zu diesen Selbstzuschreibungen an einen mythischen Orient bildete die orientalisierende Kleidung einen wichtigen Teilbereich eines ostentatious barbarism, der charakteristisch für die Repräsentationskulturen der Eliten in Ungarn und Polen war.24 Gerade mit Blick auf die orientalisch anmutende Kleidung und Waffen erscheint es verständlich, dass sowohl Polen wie auch Ungarn in den Berichten westlicher Reisender und Diplomaten seit dem Mittelalter wie auch in

gacy. Modern Discourses on the Social and Cultural Impact of Ottoman and Habsburg Rule in Southeast Europe. Hg. v. Tea SINDBAEK und Maximilian HARTMUTH. BerlinMünster 2011 (Studien zur Geschichte, Kultur und Gesellschaft Südosteuropas 10), sowie aus einer musikwissenschaftlichen Perspektive: Balkan Popular Culture and the Ottoman Ecumene. Music, Image, and Regional Political Discourse. Hg. v. Donna A. BUCHANAN. Lanham 2008 (Europea. Ethnomusicologies and Modernities 6). 22 PÉTER, Katalin: Das skythische Selbstbewußtsein des ungarischen Adels. In: La Pologne et la Hongrie aux XVIe-XVIIIe siècles. Hg. v. Vera ZIMÁNYI. Budapest 1981, 121-133. – BÖMELBURG, Hans-Jürgen: Frühneuzeitliche Nationen im östlichen Europa. Das polnische Geschichtsdenken und die Reichweite einer humanistischen Nationalgeschichte (1500-1700). Wiesbaden 2006 (Veröffentlichungen des NordostInstituts 4), 414-416. 23 MAROSI, ErnĘ: Zur Frage des Quellenwertes mittelalterlicher Darstellungen. „Orientalismus“ in der Ungarischen Bilderchronik. In: Alltag und materielle Kultur im mittelalterlichen Ungarn. Hg. v. András KUBINYI und József LASZLOVSKY. Krems 1991 (Medium Aevum Quotidianum 22), 74-107, hier 86-88. 24 KLANICZAY, Gábor: Everyday Life and the Elites in the Later Middle Ages. The Civilised and the Barbarian. In: The Medieval World. Hg. v. Peter LINEHAN und Janet L. NELSON. London-New York 2001, 671-690, hier 684-685.

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den ab der Frühen Neuzeit verbreiteten illustrierten Kostümbüchern oftmals als Orientalen dargestellt werden.25 Die manifeste Selbstorientalisierung war im Falle der Szlachta aufs engste mit dem Postulat der Verteidigung der Christenheit verzahnt.26 Der Verweis auf die Rolle als Schild (scutum) oder Vormauer (propugnaculum) der Christenheit bzw. des Abendlandes ist neben der polnisch-litauischen Adelsrepublik auch in einer Reihe von Gebieten überliefert, die an das Osmanische Reich angrenzten, wie den Donaufürstentümern, Ungarn, Kroatien oder auch Serbien.27 Diese Selbststilisierung blieb nicht auf das Mittelalter und die Frühe Neuzeit beschränkt, sondern erlebte mehrfach Renaissancen im 19. und vor allem im 20. Jahrhundert, wie etwa in Ungarn nach 1920, als der Topos des Opfers der ungarischen Nation für die Zukunft Europas vor allem von den katholischen Kreisen gegen die als ungerecht empfundene Grenzziehung durch den Friedensvertrag von Trianon instrumentalisiert wurde. Eine weitere politisch brisante Indienstnahme der Antemurale-Diskurse erfolgte in der 1990er Jahren auf dem Westbalkan vor dem Hintergrund des Auseinanderbrechens des jugoslawischen Staatsverbandes. In all diesen Fällen zielte die Stilisierung als Verteidiger des Abendlandes darauf, die eigene Zugehörigkeit zum Westen zu untermauern und gleichzeitig den Nachbarn bzw. den Anderen als Vertreter eines unzivilisierten Orients zu inszenieren.28

25 GERVERS, Veronika: The influence of Ottoman Turkish Textiles and Costume in Eastern Europe with Particular Reference to Hungary. Toronto 1982 (History, technology, and art 4), 12-14. – TOMPOS, Lilla: Oriental and Western Influences on Hungarian Attire in the 16th and 17th Centuries. In: Turkish Flowers. Studies on Ottoman Art in Hungary. Hg. v. Ibolya GERELYES. Budapest 2005, 87-100. 26 SCHNEIDERHEINZE, Klaus: Between Orient and Occident. Polish Nobility in Early Modern Times. In: Osmanischer Orient und Ostmitteleuropa (wie Anm. 21). – SCHOLZ, Piotr O.: Sarmatismus als ein Sonderweg des polnischen Orientalismus. In: Sarmatismus versus Orientalismus in Mitteleuropa (wie Anm. 21), 93-114. 27 SRODECKI, Paul: Validissima semper Christianitatis propugnacula. Zur Entstehung der Bollwerksrhetorik in Polen und Ungarn im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. In: Sarmatismus versus Orientalismus in Mitteleuropa (wie Anm. 21), 131-168. 28 KENNEWEG, Anne Cornelia: Antemurale Christianitatis. In: Europäische Erinnerungsorte, Bd. 2: Das Haus Europa. Hg. v. Pim DEN BOER u.a. München 2012, 73-81. – MANER, Hans-Christian: Das Symbol der "Türkenabwehr". Ein zentrales nationales Geschichtsbild in Südosteuropa in vergleichender Perspektive. In: Stefan der Große – Fürst der Moldau. Symbolfunktion und Bedeutungswandel eines mittelalterlichen

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Die hier exemplarisch aufgezeigten Verbindungsstränge zwischen Ostmitteleuropa und dem Orient bildeten den Ausgangspunkt für die Überlegungen, die Beziehungen zwischen diesen beiden Bereichen mit Blick auf das lange 19. Jahrhundert sowie auf die Zwischenkriegszeit aus einer interdisziplinären Perspektive in den Blick zu nehmen. Ein solcher Zugang fehlt bisher weitestgehend, ist die historiographische Forschung zu Ostmitteleuropa im 19. Jahrhundert bisher doch vorwiegend vom Diktum der National- und Nationalisierungsgeschichten bestimmt und somit vor allem auf regionale Beziehungen und Kontakte fokussiert.29 Während in der internationalen Forschung für das 19. Jahrhundert Verflechtungs- und Globalisierungsprozesse ausgemacht werden, die als die andere Seite der Medaille von Nationalisierungsprozessen gelten können, werden diese Überlegungen bisher weder theoretisch noch empirisch für Ostmitteleuropa stark gemacht: Im langen 19. Jahrhundert, in dem sich das Verhältnis von ‚Außereuropa‫ ދ‬zu ‚Europa‫ ދ‬durch den Aufbau eines deutlichen Machtgefälles radikal veränderte, verschwindet Ostmitteleuropa aus diesen Verflechtungsgeschichten bzw. aus den Globalgeschichten.30 Mit der Aufteilung der Welt in „the West and the Rest“31 findet das östliche Europa keine eindeutige Zuordnung mehr: Weder können ostmitteleuropäische Regionen als Zentren der „imperialen Westmächte“ gelten, die gemeinhin als „der Westen“ bezeichnet werden, noch sind sie einem (evtl. kolonisierten) Osten zuzurechnen. Sie sind der Osten des Westens und westlich vom Osten und fallen daher oft aus Studien zu Ost-West-Beziehungen heraus.32

Herrschers. Hg. v. Edda BINDER-IIJIMA und Vasile DUMBRAVA. Leipzig 2005, 147155. 29 Ähnlich argumentieren auch HADLER, Frank/MIDDELL, Matthias: Auf dem Weg zu einer transnationalen Geschichte Ostmitteleuropas. In: Verflochtene Geschichten: Ostmitteleuropa. Hg. v. DENS. Leipzig 2010 (= Comparativ 20/1-2), 8-29. Siehe ebenso die weiteren Aufätze in diesem Band. 30 Siehe dazu auch MOORE, David Chioni: Is the Post- in Postcolonial the Post- in PostSoviet? Toward a Global Postcolonial Critique. In: Publications of the Modern Language Association of America 116/1 (2001), 111-128. 31 HALL, Stuart: The West and the Rest. Discourse and Power. In: Formations of Modernity. Hg. v. DERS. u.a. Cambridge 1992, 275-320. 32 Auch Martin W. Lewis und Kären E. Wigen verweisen auf die begriffliche Doppeldeutigkeit des „Ostens“, die Ost(mittel)Europa keine rechte Zuordnung zukommen lässt. „Inevitably, however, the two referents of ‚East‘ tend to be conflated, implying that eastern Europe is somehow Asian in its essence.” LEWIS, Martin W./WIGEN,

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Dennoch, so die These, ist die Beschäftigung mit einem ‚Orient‘ im langen 19. Jahrhundert auch und gerade für ostmitteleuropäische Gesellschaften von Relevanz gewesen: Ausgehend von geschichtswissenschaftlichen Ansätzen, in denen die Bedeutung des ‚Orients‘ für das Selbstverständnis und die Selbstvergewisserung Europas betont werden, sollen Repräsentationen von Welt, globale Selbstverortungen und Vorstellungen des (europäischen) Eigenen versus dem ‚orientalischen‘ Anderen in ostmitteleuropäischen Gesellschaften untersucht werden. Beispiele für die Bedeutung des Außereuropäischen in ostmitteleuropäischen Nationalgeschichten können viele genannt werden. Wissenschaftler, Entdecker und Expeditionsteilnehmer wurden als Helden mit explizit nationalem Auftrag präsentiert, die den Nationen Ruhm und weltweite Ehre einbringen sollten. Zusätzlich dazu stellten die Teilnahmen an solchen Unternehmungen auch eine willkommene Gelegenheit dar, die Konkurrenzfähigkeit der eigenen Wissenschaft international zu präsentieren. Wie im Falle Polens war dies ein nicht zu unterschätzender Faktor nationaler Identifikation und internationaler Anerkennung gleichermaßen.33 Reiseberichte prägten zu einem guten Teil Vorstellungen über die außereuropäische Welt sowie über das Verhältnis der jeweiligen Nation zu ihr, indem explizit über die Rolle der Nation in der Welt reflektiert wurde. Die sich etablierenden Wissenschaften, die Völkerkunde, die Geographie, die Geschichtswissenschaft sowie die Archäologie, festigten Weltbilder, die dem „Außereuropäischen“ oder „Orientalischen“ die Rolle des „Anderen“ zuschrieben. Kolonialwaren, Völkerschauen34 und künstlerische Moden (Ägyptomanie, Japonismus)35

Kären E.: The Myth of Continents. A Critique of Metageography. Berkeley u.a. 1997, 7. 33 RHODE, Maria: Zivilisierungsmissionen und Wissenschaft. Polen kolonial? In: Geschichte und Gesellschaft 39/1 (2013), 5-34, hier 7-12. 34 SCHWARZ, Werner Michael: Anthropologische Spektakel. Zur Schaustellung „exotischer“ Menschen, Wien 1870-1910. Wien 2001. – PLENER, Peter: Völkerschauen in Österreich-Ungarn. Ashantees in Budapest und Wien, 1895-1897. In: Völkerschauen in Deutschland, Österreich, Schweiz, UK, Spanien, Italien, Japan, USA. Hg. v. Pascal BLANCHARD. Hamburg 2012 (Collection le débat), 304-312. 35 Egyiptom – magyar képeken 1842-1860. Forray Iván és Libay Károly Lajos litográfiaiból [Ägypten auf ungarischen Bildern 1842-1860. Aus den Lithografien von Iván Forray und Károly Libay]. Hg. v. György SÜMEGI. Budapest 1994. – ÇELIK, Zeynep: Displaying the Orient. Architecture of Islam at Nineteenth-century World's Fairs. Berkeley 1992, 63-67. – Der Orient auf der Wiener Weltausstellung. In: Blätter für

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wurden im ausgehenden 19. Jahrhundert in den ostmitteleuropäischen Gesellschaften unterschiedlich stark rezipiert und als Teil der eigenen Moderne verstanden. An dieser Schnittstelle setzen die Überlegungen zu Orientalismen in Ostmitteleuropa mit der Skizzierung des Forschungsfeldes an: Während sich die Studien in Anlehnung an bzw. als kritische Reaktion auf Saids Beiträge zum Orientalismus als hegemoniale Praktik36 zuerst mehrheitlich auf das britische oder das französische Imperium stützten, wurden die an Ostmitteleuropa angrenzenden oder diese Region tangierenden Imperien – das Russländische und das Deutsche Reich sowie Österreich-Ungarn – in einer zweiten Phase in die OrientalismusForschung einbezogen. Das Osmanische Reich als viertes die Region Ostmitteleuropa tangierendes Imperium nimmt eine Sonderstellung ein, da es selbst zum Objekt orientalisierender Konstrukte wurde, die jedoch gerade aufgrund der Präsenz auf dem europäischen Kontinent eine andere ideologische Einfärbung erfahren haben als die von Said thematisierten Diskurse.37 Andererseits entwickelte das Osmanische Reich seinerseits als imperiale Großmacht mit Besitzungen in der arabischen Welt hegemoniale Diskurse, die jedoch bisher nur begrenzt von der Orientalismus-Forschung in den Blick genommen wurden.38 Einzelne Positionen der Forschungen sollen gerade mit Blick auf das Russländische und das Deutsche Reich sowie Österreich-Ungarn kurz vorgestellt werden. Mit Blick auf den deutschen Orientalismus wird die Bedeutung des literarischen und wissenschaftlichen Orientalismus bei fehlenden Kolonien im Orient bereits seit dem späten 18. Jahrhundert stark gemacht und so nach Unterschieden zu Westeuropa gesucht.39 Hierbei wurden, wie im Falle der Studie von Andrea Polaschegg, die für den Orientalismus fundamentalen Konzepte der kulturellen Differenz und des Anderen auf den Prüfstand gestellt und deren Charakter als Konstrukte offengelegt. Wichtige weitere Nuancierungen wurden durch Suzanne Marchand und Todd Kontje eingebracht, die ausgehend von unterschiedlichen Quellen aufgezeigt haben, dass die deutsche Beschäftigung mit dem Orient eine

Kunstgewerbe 2 (1873), 53-54 und 61-66, hier 54, mit einer frühen Kritik an der orientalisierenden Architektur der Weltausstellung als „kindische Machwerke“. 36 SAID, Orientalism (wie Anm 1). – DERS., Culture and Imperialism (wie Anm 2). 37 BRYCE, Derek: The Absence of Ottoman, Islamic Europe in Edward W. Said’s Orientalism. In: Theory, Culture & Society 30/1 (2013), 99-121. 38 Eine Ausnahmeerscheinung bildet hier die Studie von MAKDISI (wie Anm. 9). 39 POLASCHEGG, Andrea: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin-New York 2005 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 35).

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deutliche Invektive gegen die klassisch-abendländischen Ideale beinhaltete und somit nicht primär einen hegemonialen Diskurs mit Blick auf den Osten darstellte.40 Auch die Forschung zum russländischen Orientalismus ist in den letzten zehn Jahren stark angewachsen.41 Das Zarenreich wie auch später die Sowjetunion stellen nicht zuletzt aufgrund der Ausdehnung ihres Staatsterritoriums über weite Teile Europas wie auch Asiens einen Sonderfall dar. Darüber hinaus war Russland ein imperialer Akteur, der vor allem aus westlicher Perspektive als Sinnbild eines unzivilisierten Landes wahrgenommen wurde. Vor dem Hintergrund dieser besonderen Konstellation wurde in den letzten Jahren die Frage nach der Kompatibilität der von Said entwickelten Kategorien mit der Situation in Russland verstärkt diskutiert.42 Mit Blick auf die Entwicklung der mit dem Orient befassten Disziplinen (Philologien, Religionswissenschaften, Ethnographie) verdeutlichten die Studien von Verena Tolz, dass zwischen 1870 und 1917 vor allem durch das Wirken von Spezialisten, die stark von nationalen Ideen beeinflusst waren, Maßnahmen initiiert wurden, die auf den Aufbau einer Gemeinschaft und Einheit der Bevölkerungen Zentralasiens und somit weniger auf eine

40 MARCHAND, Suzanne L.: German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship. Cambridge 2009 (Publications of the German Historical Institute). – DIES.: German Orientalism and the Decline of the West. In: Proceedings of the American Philosophical Society 145/4 (2001), 465-473. – KONTJE, Todd: German Orientalisms. Ann Arbor 2004. – Über den deutschen sowie auch einen zentral- und osteuropäischen Orientalismus reflektiert Deploying Orientalism in Culture and History. From Germany to Central and Eastern Europe. Hg. v. James HODKINSON, John WALKER, Shaswati MAZUMDAR und Johannes FEICHTINGER. Rochester, NY 2013 (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture). 41 Einen Überblick bietet JOBST, Kerstin: Ambivalenzen. Anmerkungen zum orientalistischen Diskurs im Zarenreich. In: Entführung in den Serail. Interdisziplinäre Beiträge zum Orientalismus. Hg. v. Detlev QUINTERN und Verena C. PAULUS. Berlin 2008, 165-184. 42 Stellvertretend sei hier auf die Auseinandersetzung in der Zeitschrift „Kritika“ zwischen dem Zentralasien-Historiker Adeeb Khalid und dem Russland-Spezialisten Nathaniel Knight hingewiesen. KHALID, Adeeb: Russian History and the Debate over Orientalism. In: Kritika, Explorations in Russian and Eurasian History N.S. 1/4 (2000), 691-699. – KNIGHT, Nathaniel: On Russian Orientalism: A Response to Adeeb Khalid. In: Ebd., 701-715 sowie TODOROVA, Maria: Does Russian Orientalism Have a Russian Soul? A Contribution to the Debate between Nathaniel Knight and Adeeb Khalid. In: Ebd., 717-727.

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imperiale Unterdrückung der Minderheiten abzielten.43 Neben dieser Binnenperspektive, die vor allem auf Sibirien und die Krim gerichtet war, sei auch eine Beurteilung der russischen Position gegenüber Polen oder dem Baltikum erwähnt. Dieser „Kolonialismus nach Westen“ stand zwar unter anderen Vorzeichen, verlief aber auf vielen Ebenen ähnlich und wurde retrospektiv bisweilen in den Kategorien des Orientalismus betrachtet.44 In der Forschung zu Österreich-Ungarn stehen die Untersuchungen zu Orientalismen in enger Verbindung zu der Diskussion der Übertragbarkeit der Kolonie als Analysekategorie auf die Doppelmonarchie.45 Im Fokus stand dabei neben Galizien46 vor allem die Annexion Bosniens. Die in den unterschiedlichsten Medien als eine mission civilisatrice präsentierten wirtschaftlichen und kulturellen Initiativen zur Integration dieser an der Nahtstelle zum Osmanischen Reich gelegenen Region wurde nicht zuletzt mit Blick auf die Stärkung der Position Habsburgs gegenüber den rivalisierenden slawischen Nachbarn mit besonderem Nachdruck gefördert.47 Dieses besondere Gemengelage entlang der Grenzen bil-

43 TOLZ, Vera: Russia’s Own Orient. The Politics of Identity and Oriental Studies in the Late Imperial and Early Soviet Periods. Oxford 2011 (Oxford Studies in Modern European History). 44 Vgl. hierzu die Interpretation des postsowjetischen Osteuropa als postkolonialen Raum aus einer literaturhistorischen Perspektive bei THOMSON, Ewa: Imperial Knowledge. Russian Literature and Colonialism. Westport 2000. 45 RUTHNER, Clemens: Central Europe Goes Postcolonial. New Approaches to the Habsburg Empire Around 1900. In: Cultural Studies 16 (2002), 877-883. – Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Hg. v. Johannes FEICHTINGER,

Ursula PRUTSCH und Moritz CSÁKY. Innsbruck u.a. 2003 (Gedächtnis – Er-

innerung – Identität 2). – WENDLAND, Anna Veronika: Imperiale, koloniale und postkoloniale Blicke auf die Peripherien des Habsburgerreiches. In: Kolonialgeschichten. Regionale Perspektiven auf ein globales Phänomen. Hg. v. Claudia KRAFT, Alf LÜDTKE und Jürgen MARTSCHUKAT. Frankfurt am Main-New York 2010, 211-235. 46 MANER, Hans-Christian: Galizien. Eine Grenzregion im Kalkül der Donaumonarchie im 18. und 19. Jahrhundert. München 2007. – Galicia postcolonial. Prospects and Possibilities. Hg. v. Klemens KAPS und Jan SURMAN. Kraków 2012 (= Historyka. Studia metodologiczne 42). 47 ALEKSOV, Bojan: Habsburg’s ‘Colonial Experiment’ in Bosnia and Hercegovina revisited. In: Schnittstellen. Gesellschaft, Nation, Konflikt und Erinnerung in Südosteuropa. Festschrift für Holm Sundhaussen zum 65. Geburtstag. Hg. v. Ulf BRUNNBAUER,

Andreas HELMEDACH und Stefan TROEBST. München 2007 (Südosteuropäische

Arbeiten 133), 201-216. – OKEY, Robin: Taming Balkan nationalism. The Habsburg

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dete den Ausgangspunkt für Andre Gingrichs These von der Existenz eines „Grenz-Orientalismus“ bzw. „frontier orientalism“, der zwar gewisse strukturelle Verwandtschaften zu kolonialen Orientalismen aufweist, wie diese von Said analysiert wurden, gleichzeitig aber durch die direkte Thematisierung der Grenze zum Osmanischen Reich, dem vormaligen Erzfeind und späteren Verbündeten des Habsburgerreichs, über eine spezifisch „zentraleuropäische“ Komponente verfügt.48 Diese Auseinandersetzung war ein wichtiger Bestandteil dieser Einschreibung der Erinnerung an die militärischen Auseinandersetzungen in das öffentliche Gedächtnis, das gerade in den letzten Jahren verstärkt mit Blick auf die einzelnen Bereiche der Habsburgermonarchie wie auch ihrer Nachbarn vergleichend und in einer Langzeitperspektive in den Blick genommen wurde.49 Eine weitere Facette des Orientalismus wurde schließlich am Beispiel orientalischer Figurationen in der Literatur der Doppelmonarchie an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert freigelegt und deutete den Einsatz dieser Motive als eine Form der Introspektion und Selbstkritik, die frei von hegemonialen Ansprüchen war.50 Die Verlagerung des Schwerpunkts von einer soziologischen Interpretation des Kolonialismus hin zu einer stärkeren Berücksichtigung der Kategorien der Differenz im Kontext der Diskursanalyse eröffnete eine Reihe neuer Perspektiven mit Blick auf die polyzentrische Struktur der Habsburgermonarchie.51 Diese Erwei-

‚civilizing mission‘ in Bosnia, 1878-1914. Oxford u.a. 2007. – DONIA, Robert J.: The Proximate

Colony.

Bosnia-Herzegovina

under

Austro-Hungarian

Rule.

In:

www.kakanien.ac.at (15.5.2013). 48 GINGRICH, Andre: Kulturgeschichte, Wissenschaft und Orientalismus. Zur Diskussion des „frontier orientalism“ in der Spätzeit der k.u.k. Monarchie. In: Schauplatz Kultur – Zentraleuropa. Transdisziplinäre Annäherungen. Hg. v. Johannes FEICHTINGER u.a. Innsbruck u.a. 2006 (Gedächtnis – Erinnerung – Identität 7), 279-288. 49 Vgl. hierzu die beiden von Johannes FEICHTINGER und Johann HEISS herausgegebenen Bände: Geschichtspolitik und "Türkenbelagerung". Wien 2013 (Kritische Studien zur »Türkenbelagerung« 1) und Der erinnerte Feind. Wien 2013 (Kritische Studien zur »Türkenbelagerung« 2). 50 LEMON, Robert: Imperial Messages. Orientalism as Self-Critique in the Habsburg Fin de Siècle. Rochester, NY 2011 (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture). 51 KAPS, Klemens/SURMAN, Jan: Postcolonial or Post-colonial? Post(-)colonial Perspectives on Habsburg Galicia. In: Galicia postcolonial (wie Anm. 46), 7-35, hier 12. – SIMONEK, Stefan: Möglichkeiten und Grenzen postkolonialistischer Literaturtheorie aus slawistischer Sicht. In: Habsburg postcolonial (wie Anm. 45), 129-140.

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terung erscheint gerade mit Blick auf den Fokus des vorliegenden Bandes von besonderem Interesse. Im Zuge der sich intensivierenden Rezeption der Konzepte aus den postcolonial studies in Ostmitteleuropa entstand in den vergangenen Jahren eine Reihe von Studien zu einzelnen Teilbereichen dieser historischen Großregion.52 Mit Blick auf Polen wurden neben der kolonisatorischen Tätigkeit in den östlichen Grenzregionen der frühneuzeitlichen Adelsrepublik auch die Diskurse der in der Zwischenkriegszeit zu einer Massenorganisation angewachsenen Liga Morska i Kolonialna (See- und Kolonialliga) in den Blick genommen.53 Untersuchungen zum Orientalismus in den böhmischen Ländern54 Ungarn55 und anderen Ländern Ostmitteleuropas behandeln die Darstellung des Orients in Reiseberichten56, der

52 KAPS/SURMAN, Postcolonial or Post-colonial? (wie Anm. 51), bieten entgegen dem im Titel des Beitrags genannten Fokus auf Galizien einen fundierten Einblick in die Forschung zu Ostmitteleuropa und den damit verbundenen methodischen Problemen. 53 RHODE, Zivilisierungsmissionen (wie Anm. 33). – KAPS/ SURMAN, Postcolonial or Post-colonial? (wie Anm. 51), 27-28. – BORKOWSKA-ARCHIUCH, GraĪyna: Polskie doĞwiadczenie kolonialne [Polens koloniale Erfahrungen]. In: Teksty Drugie 4 (2007), 15-24. – KOWALSKI, Marek Arpad: Dyskurs kolonialny w drugiej Rzeczypospolitej [Kolonialdiskurse in der Zweiten Polnischen Republik]. Warsawa 2010. 54 NAVRÁTILOVÁ, Hana: Egyptian Revival in Bohemia 1850-1920. Orientalism and Egyptomania in Czech Lands, Praha 2003. – LEMMEN, Sarah: Noncolonial Orientalism? Czech travel writing on Africa and Asia around 1918. In: Deploying Orientalism (wie Anm. 40), 352-383. 55 STAUD, Géza: Az orientalizmus a magyar romantikában [Der Orientalismus in der ungarischen Romantik]. Budapest 1931. – DEMETER, Gábor: Hungarian Travellers’ and Emigrants’ Images of Turkey from the 16th to the 19th Century. In: Sights and Insights. Interactive Images of Europe and the Wider World. Hg. v. Mary N. HARRIS. Pisa 2007, 123-142. – KÖVES, Margit: Modes of Orientalism in Hungarian Letters and Learning of the Nineteenth and Twentieth Centuries. In: Deploying Orientalism (wie Anm. 40), 166-189. 56 Zu Polen: REYCHMAN, Jan: PodróĪnicy polscy na Bliskim Wschodzie w XIX wieku [Polnische Reisende im Nahen Osten im 19. Jahrhundert]. Warszawa 1972. – KALINOWSKA, Izabela: Between East and West. Polish and Russian NineteenthCentury Travel to the Orient. Rochester, NY 2004 (Rochester Studies in Central Europe), sowie mit einem Fokus auf die Wahrnehmung weiblicher Reisender: Der weibliche Blick auf den Orient. Reisebeschreibungen europäischer Frauen im Vergleich. Hg. v. Mirosáawa CZARNECKA, Christa EBERT und GraĪyna Barbara SZEWCZYK. Bern u.a. 2011 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, 102), hier vor al-

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Literatur57 und in jüngster Zeit auch mit Blick auf die bildenden Künste.58 Dieses Spektrum durch weitere Fallbeispiele vergleichend zu erweitern bildet ein wichtiges Anliegen des vorliegenden Sammelbandes. Einen Aspekt von übergeordnetem Interesse in den Beiträgen bildete die Frage nach der Verortung des Orients und die damit einhergehenden Grenzziehungen auf den unterschiedlich konfigurierten mental maps. Damit aufs engste verbunden waren Überlegungen zu den Faktoren, ausgehend von denen der Orient jeweils definiert wurde, sowie implizit auch Überlegungen nach der Funktionalisierung der Oriententwürfe als Mittel zur Inklusion bzw. Exklusion bestimmter Gruppen.

lem die Beiträge von CZARNECKA, Mirosáawa: Die Reise- und Lebensbeschreibung von Regina Salomea Pilsztyn geb. Rusiecka (1718-1760), einer polnischen Orientreisenden im Kontext der Kulturgeschichte der Frauenreisen im 18. Jahrhundert, 13-30; und SZAFARZ, Jolanta: Polen zwischen Orient und Okzident. Reiseberichte polnischer Autorinnen um die Jahrhundertwende, 91-98. Ein spätes Beispiel mit Blick auf Serbien: MILUTINOVIû, Zoran: Oh, to Be a European! What Rastko Petroviü Learnt in Africa. In: Under Eastern Eyes. A Comparative Introduction to East European Travel Writing on Europe. Hg. v. Wendy BRACEWELL und Alex DRACE-FRANCIS. BudapestNew York 2008 (East Looks West Series), 267-291. 57 LECKE, Mirja/SPROEDE, Alfred: Der Weg der post-colonial studies nach und in Osteuropa. Polen, Litauen und Russland. In: Überbringen – Überformen – Überblenden. Theorietransfer im 20. Jahrhundert. Hg. v. Dietlind HÜCHTKER und Alfrun KLIEMS, Köln u.a. 2010, 27-66. – Der Osten des Ostens. Orientalismen in slavischen Kulturen und Literaturen. Hg. v. Wolfgang Stephan KISSEL und Yvonne PÖRZGEN. Frankfurt am Main u.a. 2012 (Postcolonial Perspectives on Eastern Europe 1). Siehe auch MOORE, Is the Post- in Postcolonial the Post- in Post-Soviet? (wie Anm. 30). 58 NINKOV-KOVAýEV, Olga: Životi i delo Franca Ajzenhuta (1857-1903): povodom 150. godišnjice rodenja umetnika – Kunst und Leben von Franz Eisenhut (1857-1903) 150 Jahre von dem Geburt [sic!]. Ausstellungskatalog Subotica. Subotica 2007. – Orientalizm w malarstwie, rysunku i grafice w Polsce w XIX i 1. poáowie XX wieku [Orientalismus in Malerei, Zeichnung und Druckgrafik in Polen im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts]. Ausstellungskatalog Muzeum Narodowe w Warszawie / Muzeum Narodowe w Szczecinie 2008-2009. Hg. v. Anna KOZAK und Tadeusz MAJDA.

Warszawa 2008. – Russia’s unknown Orient. Orientalist painting 1850-1920.

Ausstellungskatalog Groninger Museum, Groningen 2010-2011. Hg. v. Olga ATROSHCHENKO und Patty WAGEMAN. Rotterdam 2010. – Orient & Okzident. Österreichische Maler des 19. Jahrhunderts auf Reisen. Ausstellungskatalog Belvedere, Wien 2012. Hg. v. Agnes HUSSLEIN-ARCO und Sabine GRABNER. München-Wien 2012.

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Die grundsätzliche Frage nach der Existenz von Orientalismen in Ostmitteleuropa kann eindeutig bejaht werden. Die in diesem Band versammelten Aufsätze haben gezeigt, dass es hier angesagt ist, den Plural zu gebrauchen, unterscheiden sich doch die Perspektiven, Erfahrungen und Kontakte der unterschiedlichen hier beleuchteten Regionen mit ihrem jeweiligen Orient erheblich. Dennoch lassen sich allgemeine Aussagen treffen, die zwar nie für alle Fallbeispiele gelten, aber dennoch in ihrer Gesamtheit den hier betrachteten Raum beschreiben: Im Gegensatz zu Edward Saids am Beispiel Frankreichs, Großbritanniens sowie den USA entwickelten, kolonial ausgerichteten Orientalismus-Paradigmas stellen die in Ostmitteleuropa fehlenden kolonialen Bezüge zum ‚Orient‘ wohl einen der zentralen Gründe für die bisherige marginale Beachtung dieses Raumes im Rahmen der Orientalismus-Studien dar. Eine gewisse Ausnahme bilden für den in diesem Band in den Blick genommenen Raum die beiden imperialen Zentren, die im ersten Abschnitt (‚Orientalismen der imperialen Zentren‘) eingehender untersucht werden und für die koloniale oder kolonial-ähnliche Strukturen aufgezeigt wurden, nämlich im Falle Österreich-Ungarns in Bezug auf Bosnien sowie für das Zarenreich am Beispiel der Krim. Gleichzeitig zeigten sich in Hinsicht auf die hegemonialen Praktiken wie Diskurse auch Unterschiede zwischen den beiden Imperien. So plädiert Johannes Feichtinger (Wien) mit Blick auf die k.u.k. Monarchie für einen funktionsbezogenen Zugang und eine stärkere Historisierung und Kontextualisierung des Orientalismus, wobei der Binnendifferenzierung einzelner Räume innerhalb der Vielvölkermonarchie eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird. Für die österreichische Hälfte der Doppelmonarchie weist Feichtinger nach, dass der Orient im Wesentlichen mit dem Osmanischen Reich identifiziert wurde. Die historische Gegnerschaft bildete den Ausgangspunkt für die Konstruktion eines Feindbildes, dessen späteste Ausläufer in der Gegenwart identifiziert werden. Gleichzeitig wird die geographische Nähe der beiden Imperien als Katalysator für die Entwicklung der Orientwissenschaften in Wien dargestellt, denen ein partizipativer Zugang zum Orient attestiert wird. Eine völlig anders gelagerte Situation diagnostiziert Kerstin Jobst (Wien) für das Russländische Reich, als dessen markante Besonderheit das transkontinentale Ausgreifen des Territoriums seit dem 16. Jahrhundert zählt, das mit der Ausbildung regional unterschiedlicher Herrschaftspraktiken und Eliten einherging. Das „russische Morgenland“ war mit Blick auf die Himmelsrichtungen nicht exklusiv im Osten verortet und beinhalte ferner Territorien mit einer mehrheitlich christlichen Bevölkerung, alles Parameter, die deutlich von dem von Said etablierten Paradigma abweichen. Als ein weiteres Alleinstellungsmerkmal des Zarenreichs verweist Jobst auf die für den russischen Orientalismus zentrale Frage zum Verhältnis zwischen Russland und Asien, die eng an die Debatte zur

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Standortbestimmung Russlands innerhalb der sogenannten europäischen Zivilisation gekoppelt war. Ähnliche Debatten um die Verortung zwischen Orient und Okzident finden sich auch in weiten Teilen Ostmitteleuropas nach dem Ende der osmanischen Herrschaft.59 Sie bildeten einen bedeutenden Schwerpunkt in einer Reihe von wissenschaftlichen Disziplinen (Kapitel ‚Disziplinen, Institutionen und Narrative‘). Dies gilt insbesondere für die Turkologie, deren Genese in Ungarn im Beitrag von Ibolya Gerelyes (Budapest) nachgezeichnet wird. Das Studium der orientalischen Sprachen kann auf eine lange Tradition zurückblicken, die bis in die Frühe Neuzeit reicht. Ungarn bildete somit ausgehend von anderen Voraussetzungen einen zweiten Schwerpunkt der Orientalistik innerhalb der Habsburgermonarchie, der vor allem durch die beiden in Budapest tätigen Pioniere des Fachs, Ármin Vámbéry (1832-1913) und Ignaz Goldziher (1850-1921), überregional bekannt ist. Ergänzend hierzu präsentiert Gerelyes die Turkologie als eine Disziplin, deren besondere Relevanz in der Wissenschaftslandschaft durch das seit dem Mittelalter in der kollektiven Erinnerung verankerte Wissen über die Herkunft der Ungarn aus Asien enorm befördert wurde und die Motivation für eine Reihe von wissenschaftlichen Expeditionen nach Zentralasien darstellte. Diese wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Orient bildete somit einen wichtigen Beitrag der Festigung des Nationalgefühls und steht dadurch in einem deutlichen Gegensatz zu den westeuropäischen Expeditionen mit einer primären Ausrichtung auf die Erfassung wirtschaftlicher Ressourcen. Das Panorama der Institutionen, die sich dem Orient widmeten, wird durch die Überlegungen von Maximilian Hartmuth (Wien) zur Rolle der Kunstgeschichte bei der Erforschung des Kulturerbes in einer Reihe von Regionen beiderseits der östlichen Grenzen des Habsburgerreichs erweitert. Die junge Disziplin, deren methodisches Instrumentarium wesentlich durch die sogenannte Wiener Schule der Kunstgeschichte und die eng mit dieser verwobenen staatlichen DenkmalpflegeEinrichtungen geprägt war, hatte, so zeigen Forschungen aus jüngster Zeit, die orientalisierenden Diskurse in der Habsburgermonarchie an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert mit beeinflusst.60 Hartmuth bestätigt in seinem Beitrag einige Aspekte dieser These, wenn er die kunsthistorischen Initiativen in Dalmatien

59 MISHKOVA (wie Anm. 13), 244-248. 60 RAMPLEY, Matthew: Orientalismus und Balkanismus in der Donaumonarchie. Ein kritischer Blick auf die Wiener Schule der Kunstgeschichte. In: Die Etablierung und Entwicklung des Faches Kunstgeschichte in Deutschland, Polen und Mitteleuropa. Hg. v. Wojciech BAàUS and Joanna WOLAēSKA. Warszawa 2010 (Das Gemeinsame Kulturerbe 6/Wspólne Dziedzictwo 6), 237-254.

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oder der kurzzeitig österreichisch besetzten Walachei in den Blick nimmt. Gleichzeitig konstatiert er am Beispiel der nicht professionell kunsthistorisch ausgebildeten Forscher, aus deren Reihe eine Vielzahl von Pionierstudien zu Regionen wie der habsburgischen Bukowina oder Serbien – dem neuen Nachbarstaat im Südosten der Habsburgermonarchie – entstanden waren, eine Tendenz in Richtung einer Klassifizierung der Denkmäler als hybride Schöpfungen, bei denen östliche und westliche Stilelemente amalgamiert wurden. Eine Institution, die politisch-wirtschaftliche Überlegungen und wissenschaftliche Motivation vereint, behandelt Sarah Lemmen (Wien) in ihrem Beitrag zur Gründung und ersten Dekade des Prager Orientalischen Instituts, der die Bedeutung hervorhebt, die der Beschäftigung mit dem Orient in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit zugesprochen wurde. Sie beleuchtet den Werdegang des Instituts und dessen Bestrebungen, intensive Beziehungen mit dem Orient zu etablieren, die sich deutlich von denjenigen der westeuropäischen Mächte unterscheiden. Der Orient sollte zum einen gleichberechtigter Partner sein, zum anderen aber die Funktionen einer tschechoslowakischen Kolonie erfüllen, „die wir nicht haben, obwohl wir sie benötigen“.61 Reiseberichte, die seit Saids bahnbrechender Studie einen festen Platz in den Forschungen zu orientalistischen Diskursen einnehmen, bilden den inhaltlichen Schwerpunkt des dritten Kapitels (‚Orientalismen auf Reisen‘). Das zeitlich früheste Fallbeispiel bilden die von Lucie Storchová (Prag) untersuchten fiktiven Reisebeschreibungen des böhmischen Journalisten und Verlegers Václav MatČj Kramerius 1802-1808. Diese ermöglichten den Entwurf eines im Orient – hier vor allem das Alte Ägypten wie auch Indien – verorteten Fremden, der eine Folie zur Hervorhebung sowohl national tschechischer Eigenschaften wie auch universeller Normen darstellte, die stark durch die Reformdiskurse der Aufklärung geprägt waren. Somit fungierte er als ein Gegenentwurf zum damaligen zeitgenössischen, vor allem islamisch geprägten Orient. Die Frage nach den nationalen Kodierungen orientalistischer Diskurse steht auch im Fokus der beiden anderen Beiträge dieses Abschnitts. Sabine Jagodzinski (Berlin/Potsdam) fragt am Beispiel der opulent bebilderten Publikation zur Reise des polnischen Adligen und Patrioten Edward RaczyĔski (1786-1845) ins Osmanische Reich von 1814 nach der Existenz einer spezifisch polnischen Sicht auf den Orient. Einen vergleichbaren Ansatz, jedoch mit einem zeitlichen Fokus auf das späte 19. und das frühe 20. Jahrhundert, verfolgt auch Hana Navrátilová (Prag) anhand der Berichte böhmischer Reisender nach Ägypten. Beide Fallstudien legen offen, dass

61 MUSIL, Alois: Naše úkoly v Orientalistice a v OrientČ [Unsere Aufgaben in der Orientalistik und im Orient]. In: Zvláštní otisk z Naší doby 27/3-4 (1920), 2-20, hier 16.

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viele der orientalistischen Topoi und Motive durchaus vergleichbar oder gar identisch sind mit denen britischer oder französischer Studien. Auch das ist ein Erkenntnis dieses Bandes: dass die besonderen Beziehungen der ostmitteleuropäischen Großregion vor allem zum Osmanischen Reich nicht unbedingt besondere Formen der Wahrnehmung generierten. Somit wird Ostmitteleuropa auch im Rahmen des Orientalismus-Konzepts in eine allgemeine europäische Geschichte eingebunden, in der sie bisher vor allem als (orientalisiertes) Objekt und nicht als (orientalisierendes) Subjekt fungiert hat. Der abschließende Abschnitt dieses Bandes (‚Orientalismen in Literatur und Kunst‘) nähert sich den ostmitteleuropäischen Orientalismen vergleichend aus einer literatur- und kunstwissenschaftlichen Perspektive. Die drei literaturwissenschaftlichen Beiträge legen eine Vielzahl von Selbstorientalisierungsentwürfen frei, die sicherlich als produktive Reaktionen auf erfahrene Orientalisierungen einzelner Bereiche Ostmitteleuropas aus westlicher Perspektive angesprochen werden können. Dies illustriert einleitend Heinrich Kirschbaum (Berlin) am Beispiel des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz (1798-1855), für dessen durch das Exil in Russland geprägtes dichterisches Werk er eine Koppelung der Selbstorientalisierung an eine diskursive partielle Verwestlichung konstatiert. Polen bildet auch den Schwerpunkt des Beitrags von Dirk Uffelmann (Passau), der sich Henryk Sienkiewicz und dessen enorm erfolgreichem, in Afrika angesiedelten Abenteuerroman „W pustyni i w puszczy“ [Durch Wüste und Wildnis] (1910/11) widmet. Dieser Roman zählt zu den wichtigsten Dokumenten eines Kolonialdiskurses in Polen vor der Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit. Anhand einer Rekonstruktion der Genese dieses Romans und insbesondere durch die Berücksichtigung der Selbstzeugnisse des Autors gelingt es Uffelmann, eine breite Palette von Versatzstücken eines orientalisierenden Diskurses aufzuzeigen, die in Teilen bekannte westeuropäische Muster widerspiegeln. Gleichzeitig zeichnet sich dessen publizistische Tätigkeit durch eine deutliche Parteinahme für die Opfer der deutschen kolonialistischen Politik in Afrika ab, die mit der Politik im preußisch besetzten Teil Polens in Analogie gesetzt wurde. Eine Selbstorientalisierung als literarische Strategie zur Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit legt auch Mirt Komel (Ljubljana) für Slowenien am Beispiel von Vladimir Bartols historischem Roman Alamut aus den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts sowie der Rezeption des Buches bis heute offen. Einen anders gelagerten Fall präsentiert Roland Prügel (Nürnberg), der ausgehend von visuellen Zeugnissen wie Gemälden und Photographien sowie der Architektur den Blick aus Bukarest auf die südliche Dobrudscha – einer vormaligen Grenzregion des Osmanischen Reiches, die zwischen 1913 und 1940 zu Rumänien gehörte – analysiert. Dieser als „kleiner Orient“ charakterisierte Landstrich mit einer mehr-

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heitlich muslimischen Bevölkerung (Türken, Tataren) bildete nicht nur das Ziel staatlicher Initiativen kolonialen Charakters, sondern gleichzeitig auch einen exotisch verklärten Bereich für die künstlerische Avantgarde des Landes und fungierte somit als ein Gegenentwurf zum antiwestlichen Diskurs nationaler Kreise im Rumänen der Zwischenkriegszeit. Die in dem vorliegenden Band versammelten Fallstudien konnten nur erste Schneisen schlagen in die vielfältigen Strukturen der Orientalismen in Ostmitteleuropa, die sich als weites, aber gleichzeitig auch als sehr ergiebiges Feld erwiesen haben. Wir möchten allen an der Realisation dieses Vorhabens Beteiligten danken. Dies gilt neben den Referentinnen und Referenten auf dem Workshop vor allem für die Autorinnen und Autoren, die im Nachgang einen Beitrag beigesteuert haben und somit eine Erweiterung der Perspektive des Bandes ermöglicht haben. Hierfür möchten wir Maximilian Hartmuth, Roland Prügel, Lucie Storchová und Dirk Uffelmann unseren Dank aussprechen. Ein besonderer Dank geht an John Heath und Andreas Puth für ihre kompetente Redaktion der englischsprachigen Beiträge sowie an Heiner Grunert, Borjana Michalkova, Ewa Tomicka-Krumrey und an alle Kolleginnen und Kollegen am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e.V. (GWZO) in Leipzig für die großzügige und geduldige Unterstützung bei der Planung und Durchführung des Workshops und der Publikation.

Komplexer k.u.k. Orientalismus: Akteure, Institutionen, Diskurse im 19. und 20. Jahrhundert in Österreich J OHANNES F EICHTINGER

Österreich-Ungarn war keine klassische Kolonialmacht. War die späte Habsburgermonarchie deswegen aber frei von einem Orientalismus, den Edward W. Said (1935-2003) in seinem bahnbrechenden Werk mit Bezug auf die europäischen Kolonialmächte diagnostizierte und aufarbeitete? Unter Orientalismus verstehe ich in Anlehnung an Said den westlichen Diskurs, demzufolge Okzident und Orient als zwei wesensverschiedene Räume mit wertbezogenem Verhältnis zueinander vorgestellt werden: Der Westen wertet sich durch Abwertung des Ostens auf. Die vorgestellten Wertunterschiede werden für machtbezogene Handlungen eingesetzt. Said verfasste sein Buch „Orientalism“ (1978) als Geschichte westlicher Repräsentation, über die sich Europa vom Orient „als einer Art Behelfs- und sogar Schattenidentität abgrenzte“.1 Die Abgrenzung von dem, was als Orient vorgestellt wurde und wird, erfüllt eine Identität stiftende Funktion, die der Wiener Sozialanthropologe Johann Heiss als konstitutiv für den Orientalismus bezeichnet.2 Auch im späten Habsburgerreich erfüllte der Orientalismus die Funktion der Sicherstellung einer klaren Artikulierbarkeit von kollektiver Identität. Das Gefühl der Überlegenheit schwang immer mit; uneindeutig ist aber, von welchem Orient sich der Vielvölkerstaat abgrenzte und wer sich in ihm durch die Abwertung des Orients ein aufgewertetes Selbstgefühl erarbeitete. Wo Habsburgs Orient verortet wurde, war wesentlich davon abhängig, wer von ihm sprach. Im Allgemeinen wurde mit dem Orient der jeweilige Osten verbunden,

1 2

SAID, Edward W.: Orientalismus. Frankfurt am Main 2009, 12. Vgl. HEISS, Johann: Orientalismus. In: Lexikon der Globalisierung. Hg. v. Fernand KREFF, Eva-Maria KNOLL und Andre GINGRICH. Bielefeld 2011, 319-323, hier 319.

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im Besonderen das Osmanische Reich, wo sich so vieles noch – wie es hieß – in „verwahrlostem Zustand“ befand.3 Der Kreis der Akteure umfasste Politiker, Kirchenmänner, Historiker und andere Wissenschaftler, Kunst- und Kulturschaffende sowie Medienvertreter. Ihr zentrales Ziel war es, über Selbstaufwertung sowie über die Abwertung Anderer ein Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen oder zu stabilisieren. Der k.u.k. Orientalismus ist noch weitgehend unerforscht.4 In diesem Beitrag wird das Augenmerk vor allem auf seine Funktionen gelegt. Dafür wird die Analyseperspektive verschoben: weg von der Orientrepräsentation, d.h. von Orient-

3

Oesterreichische Monatsschrift für den Orient 1 (15. Jänner 1875), 3f.

4

Zuletzt veröffentlichte Robert Lemon die erste Monografie zur spezifischen Thematik des Orientalismus in der späten Habsburgermonarchie. LEMON, Robert: Imperial Messages. Orientalism as Self-Critique in the Habsburg Fin de Siècle. Rochester, NY 2011 (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture). Unter bestimmten Aspekten nehmen auch die Historikerin Suzanne L. Marchand und die Literaturwissenschaftlerin Andrea Polaschegg in ihren Deutschland gewidmeten Monografien auf Österreich-Ungarn Bezug: MARCHAND, Suzanne L.: German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship. Cambridge 2009 (Publications of the German Historical Institute). – POLASCHEGG, Andrea: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin-New York 2005 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 35). Zur Funktionsgeschichte des Orientalismus auf dem Gebiet der Habsburgermonarchie, zu seinen spezifischen Varianten sowie zur Ausweitung des Untersuchungsfeldes auf Zentral-, Ostmittel- und Osteuropa sind folgende Arbeiten beachtenswert: HODKINSON, James/ WALKER, John: Introduction. In: Deploying Orientalism in Culture and History. From Germany to Central and Eastern Europe. Hg. v. James HODKINSON, John WALKER, Shaswati MAZUMDAR und Johannes FEICHTINGER. Rochester, NY 2013 (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture), 1-14, hier 10f. – HEISS, Johann/ FEICHTINGER, Johannes: Distant Neighbors. Uses of Orientalism in the late nineteenth-century Austro-Hungarian Empire. In: Ebd., 148-165. – KÖVES, Margit: Modes of Orientalism in Hungarian Letters and Learning of the Nineteenth and Twentieth Centuries. In: Ebd., 166-189. – LEMMEN, Sarah: Noncolonial Orientalism? Czech Travel Writing on Africa and Asia around 1918. In: Ebd., 209-227. – JOBST, Kerstin S.: Where the Orient Ends? Orientalism and Its Function for Imperial Rule in the Russian Empire. In: Ebd., 190-208. Der Wiener Kultur- und Sozialanthropologe Andre Gingrich entwickelte u.a. am Beispiel von Zentraleuropa sein Konzept des frontier orientalism, auf das weiter unten Bezug genommen wird. Größere Synthesen aus spezifisch historisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive stehen noch aus.

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bildern, und hin zu deren Gebrauch.5 Die auf das Habsburgerreich bezogene Frage lautet lapidar: Warum werden welche Bilder von welchem Orient erzeugt? Wer konstruiert sie weshalb, zu welchem Zweck und in welchem Kontext?

S AID

UND DER METHODOLOGISCHE

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In seiner Geschichte des Wahns im Vernunftzeitalter „Folie et déraison“ schrieb Michel Foucault im Jahr 1961: „In der Universalität der abendländischen Ratio gibt es den Trennungsstrich, den der Orient darstellt.“6 Der Orient bliebe stets die Grenze, worin das Abendland sich gebildet habe, worin es aber auch eine Trennlinie gezogen habe. Der Orient sei für das Abendland all das, was es selbst nicht sei, obwohl das Abendland im Orient das suchen müsse, was seine ursprüngliche Wahrheit darstelle. Die Geschichte dieser großen Trennung oder ,Partage‘ während der Entwicklung des Abendlandes müssten wir schreiben, so Foucault, und in ihrer Kontinuität und in ihrem Wechsel verfolgen.7 Diesen Trennungsdiskurs legte Edward W. Said seiner Orientalismus-Theorie zugrunde. Der Orientalismusforscher bedurfte der Idee der Trennlinie für sein zentrales Argument, dass die Vorstellung vom Orient der Konstruktion des „Gegenbildes“ Europa genützt habe, das im Lichte dieser „ausgeprägtesten und meistvariierten Bilder ‚des Anderen‘“ seine „allen anderen Völkern und Kulturen überlegene […] Identität“ fand.8 In der Tat wurden und werden Orientbilder zur Ost-WestPolarisierung eingesetzt. Der Orient wird dabei als eine Welt für sich vorgestellt, grundverschieden vom Westen. Davon zeugen heute der sogenannte Leitkulturendiskurs und die europäische Wertedebatte, die nicht zufällig mit der Antragstellung der Türkei auf eine EU-Vollmitgliedschaft im Jahr 1989 aufflammte. Mit Diskursen dieser Art wird versucht, die Etablierung eines christlichen Europa und seine Abgrenzung von einem angeblich wesensverschiedenen, islami-

5

Zu diesem Perspektivenwechsel grundlegend POLASCHEGG, Andrea: Von chinesischen Teehäusern zu hebräischen Melodien. Parameter zu einer Gebrauchsgeschichte des deutschen Orientalismus. In: Orientdiskurse in der deutschen Literatur. Hg. v. Klaus-Michael BOGDAL. Bielefeld 2007, 49-80.

6

FOUCAULT, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt am Main 1969 (stw 37), 10 [DERS.: Folie et déraison: histoire de la folie à l’âge classique. Paris 1961, IV].

7

Vgl. Ebd.

8

SAID (wie Anm. 1), 10, 16.

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schen Orient zu begründen.9 Said beschränkte sich in seiner Theorie auf die Dekonstruktion westlicher Orientrepräsentationen; wer sich wozu ihren/seinen Orient konstruierte und wie dieser von wem gebraucht wurde, war kein vordringliches Erkenntnisziel für Said. Daher traf ihn auch der Vorwurf eines „manifesten Idealismus“. Orientrepräsentation als Ideologie, so der Kern der Kritik, „has determined nothing, however, it is just a dangerous illusion to believe that it ever has done. […] We need to understand how such representations have functioned in practice“.10 Wird die Theorie Edward W. Saids nicht um den Gebrauchsaspekt, d.h. um die Funktion der Repräsentation erweitert, so birgt sie in unserer neuen Welt der Werte und Leitkulturen die Gefahr in sich, jener Polarisierung Vorschub zu leisten, deren diskursive Erzeugung Said vor mehr als 35 Jahren zu dekonstruieren versuchte. Im 20. Jahrhundert verstrickten sich viele europäische Wissenschaftler in den sogenannten „methodologischen Nationalismus“ (Anthony D. Smith)11, da sie nationalistische Kampfbegriffe (wie z.B. „ethnische Gemeinschaft“) als Analysewerkzeuge verwendeten. Said war natürlich keineswegs ein Nationalist, durch sein Vorgehen aber – so könnte man im Rückblick besseren Wissens sagen – ein methodologischer Orientalist, denn ein „Denkstil“, der eine „ontologische Unterscheidung“ zwischen „dem Orient“ und „dem Okzident“ voraussetzt,12 ist – wie sich heute zeigt – politisch prekär. Zugleich ist auch kein neuer Erkenntnisgewinn von ihm zu erwarten: Denn die Räume, die der Orientalismus laut Said voneinander trennt, sind zum einen unbestimmt und diffus, den geteilten Räumen (shared spaces) schenkt er keine Aufmerksamkeit; zum anderen gab es die vorgestellte Trennung weder in der Vergangenheit, noch gibt es sie in der von globalisierten Räumen (scapes) und Strömen (flows) geprägten Gegenwart.13 Schließlich ist auch der vermeintliche „Reflexionsvorteil der europäischen Rati-

9

Vgl. dazu Europa – geeint durch Werte. Die europäische Wertedebatte auf dem Prüfstand der Geschichte. Hg. v. Moritz CSÁKY und Johannes FEICHTINGER. Bielefeld 2007 (Global studies).

10 RICHARDSON, Michael: Enough Said. In: Orientalism. A Reader. Hg. v. Alexander Lyon MACFIE. New York 2000, 208-216, hier 216 [Original: Anthropology Today 6 (1990), 16-19]. 11 SMITH, Anthony D.: Nationalism in the Twentieth Century. Oxford 1979. 12 SAID (wie Anm. 1), 11. 13 APPADURAI, Arjun: Modernity at large. Cultural dimensions of globalization. Minneapolis 1996 (Public worlds 1).

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onalität“14, von dem der deutsche Philosoph Niklas Luhmann vor zwei Jahrzehnten noch weitgehend gefahrlos sprechen konnte und auf den die Trennungsthese indirekt anspielt (hier Europa, das spricht; dort der Orient, der vertreten werden muss), kein angemessener Ausgangspunkt wissenschaftlicher Forschung. Trotz der bedeutenden Impulse, die Edward W. Said der Wissenschafts- und Kulturkritik durch „Orientalism“ gab,15 darf nicht übersehen werden, dass er durch seine Grundannahme einer „ontologischen und epistemologischen Unterscheidung“16 zwischen Okzident und Orient zwangsläufig den Blick auf Reziprozitäten verstellte, deren Ausblendung der Sozialanthropologe Michael Richardson schon 1990 in seinem Artikel „Enough Said“ scharf kritisierte. Der logische Schluss lautet: „Said may be accused of engaging in a power relationship similar to the one he accuses the orientalists of constructing. In denying the possibility of reciprocity between subject and object, Said effectively makes it impossible for the object to develop alternative models“.17 Als heuristisches Modell hat sich der Orientalismus (der nicht mit der Orientalistik verwechselt werden darf) längst erledigt, als diskursives Mittel der Aufspaltung ineinander verflochtener Räume, Gesellschaften und Kulturen ist er nach wie vor gebrauchsfähig. Aufgrund dieser trennenden Funktion sind seine Historisierung und Kontextualisierung heute von zentraler Bedeutung. Angezeigt ist daher ein Wechsel vom repräsentations- zum funktionsbezogenen Zugang, weil letzterer in der Definition des Analyseobjekts keine Trennlinien zwischen Europa, Asien und Afrika ziehen oder verstärken muss und somit auch keinen statischen Orient vorgibt, sondern vielmehr erkennen lässt, wann, wo, von wem und in welchem Funktionszusammenhang der Andere zum Orientalen gemacht wurde und was in den jeweiligen Kontexten als Orient definiert wurde; kurz: wie er sich veränderte. Aus dieser Perspektive repräsentiert der Orient zwar nach wie vor das Andere, jedoch kein absolut, sondern nur ein relativ Anderes, dessen zentrales Merkmal darin besteht, dass es unter sich wandelnden Machtverhältnissen ständig neu konstruiert, definiert und funktionalisiert wird.

14 LUHMANN, Niklas: Europäische Rationalität. In: DERS.: Beobachtungen der Moderne. Opladen 1992, 51-91. 15 Vgl. Orient – Orientalistik – Orientalismus. Geschichte und Aktualität einer Debatte. Hg. v. Burkhard SCHNEPEL, Gunnar BRANDS und Hanne SCHÖNIG. Bielefeld 2011 (Postcolonial Studies 6). – VARISCO, Daniel Martin: Reading Orientalism. Said and the Unsaid. Seattle-London 2007 (Publications on the Near East). 16 SAID (wie Anm. 1), 11. 17 RICHARDSON (wie Anm. 10), 208.

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Dieser dynamisierte Zugang zum Orientalismus kann einen Weg aus Saids Dilemma ebnen, das darin besteht, dass er die Trennung, die er den Orientalisten vorwarf, zur Ausführung seiner Theorie aufrechterhalten musste. Zum einen eröffnet der funktionsbezogene Zugang eine Analyseperspektive auf den Orientalismus, die verhindert, dass ihre Anwender selbst in einen methodologischen Orientalismus abdriften. Zum anderen lassen sich mit diesem differenzierten Zugang auch komplexere Varianten des Orientalismus wie z.B. jener ÖsterreichUngarns genauer erfassen. Die Geschichte Habsburgs zeigt, dass der als Orient identifizierte Raum nicht eindeutig abgrenzbar war; er erweiterte oder verengte sich ständig, und zwar je nach Diskurs und Funktion. Habsburgs Orient lag manchmal in unmittelbarer Nähe, manchmal aber auch in weiter Ferne.

H ABSBURG O RIENTAL Während der Orientalismus – Said zufolge – in den westeuropäischen Kolonialstaaten direkt mit kolonialer Machtsicherung verbunden war, erfüllte er in der Habsburgermonarchie andere wesentliche Funktionen. Da wie dort konstruierten Politiker, Schriftsteller sowie Kunst- und Kulturschaffende den Orient als einen wesensverschiedenen, statischen und minderwertigen ‚Kulturraum‘. Im kolonialistischen Kontext leistete der „Hochmut der ‚erlesenen Rasse‘“18 – ein Überlegenheitsgefühl gegenüber den unterworfenen Primitiven, das der Historiker Lucien Romier (1885-1944) ortete, – der staatsnationalen Selbstvergewisserung Vorschub. In Bezug auf die Habsburgermonarchie bedarf es einer dreifachen Perspektivenerweiterung: erstens im Hinblick auf die unterschiedlichen Räume, die jeweils als Orient identifiziert und abgewertet wurden; zweitens in Bezug auf die Subjekte/Objekte, auf welche sich die orientalistischen Zuschreibungen von Seiten unterschiedlicher Gruppen bezogen, die sich damit selbst aufwerteten; und drittens bezüglich der Funktion, die der Orientalismus in der k.u.k. Monarchie erfüllte. Trotz gravierender Unterschiede stellte der Orientalismus im Habsburgerreich wie sonst im Westen ein Mittel der Machtsicherung dar: Während er aber in Westeuropa zur Absicherung der Macht über die als absolut anders abgewerteten Subjekte in den Kolonien und zur Selbstaufwertung eingesetzt wurde, wurde er in Zentral- und Ostmitteleuropa differenzierter verwendet: Hier diente er verstärkt zur Absicherung der Macht über das relativ Andere, d.h. „Halb-Asien“ (Karl Emil Franzos), und nicht nur über das ,grundverschiedene Asien‘. Zwar diente er auch im Habsburgerreich der Selbstaufwertung, aller-

18 ROMIER, Lucien: Der Mensch von heute. Freiburg im Breisgau 1930, 18.

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dings durch Abwertung beider: des relativ und/oder absolut Anderen; und zwar je nach Akteur. Die Akteurinnen und Akteure handelten aus verschiedener Motivation und in unterschiedlichen Zusammenhängen, und zwar in staatlichen, in nationalitätenpolitischen, kirchlichen oder privaten. Manche Aktivisten nutzten den Orientalismus, um davon einen Zivilisierungsauftrag abzuleiten.19 Der k.u.k. Orientalismus entstand vor dem Hintergrund der Jahrhunderte langen Verflechtungen der Habsburgermonarchie mit dem Osmanischen Reich: vor dem Jahr 1791 durch die Türkenkriege sowie durch einen gleichzeitig lebhaften diplomatischen, kulturellen und wirtschaftlichen Austausch; ab 1878 durch die Okkupation und Annexion (1908) der osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina und während des Ersten Weltkrieges durch eine aufrichtige Freundschaft, die dennoch das Bild vom Erbfeind nicht völlig verblassen ließ.20 Wenn der Orientalismus in Österreich-Ungarn vergleichsweise weniger mit direkter kolonialer Machtsicherung als vielmehr mit machtbezogener Abgrenzung von einem vorgestellten Anderen und nationaler Identitätsstiftung verbunden war, so ist davon auszugehen, dass er sich in spezifischeren Ausformungen zeigte. Drei Spielarten scheinen mir vorläufig prägnant zu sein: erstens ein identitätsstrategischer Orientalismus; zweitens – da koloniale Ansprüche vorhanden waren – ein zivilisatorisch-missionarischer; und drittens – mehr als anderswo – eine unvoreingenommenere, d.h. partizipative Art des wissenschaftlichen Umgangs mit dem Orient. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie den Orientalen die Autorität der Selbstrepräsentation lässt, trotz wissenschaftlicher Fremdrepräsentation. Während die beiden erst genannten Spielarten Saids OrientalismusKonzept entsprechen, ist die dritte Art der Auseinandersetzung mit dem Orient eine Kategorie, der sich Said in seinem grundlegenden Werk „Orientalism“ ebenso wenig widmete wie dem zentraleuropäischen Raum. Auf diese verschiedenen Ausprägungen des Orientalismus soll im Folgenden näher eingegangen werden. Davor werden noch einige Bemerkungen zur Geschichte der Orientwahrnehmung in Wien und in der Habsburgermonarchie vorausgeschickt.

19 Zur Funktionsgeschichte des Orientalismus in der späten Habsburgermonarchie vgl. HEISS/FEICHTINGER, Distant neighbors (wie Anm. 4), 148-165. 20 Dazu ausführlich HEALY, Maureen: In aller „Freundschaft“? Österreichische „Türkenbilder“ zwischen Gegnerschaft und „Freundschaft“ vor und während des Ersten Weltkrieges. In: Glanz – Gewalt – Gehorsam. Militär und Gesellschaft in der Habsburgermonarchie (1800-1918). Hg. v. Laurence COLE, Christa HÄMMERLE und Martin SCHEUTZ. Essen 2011 (Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung 18), 268-291.

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W IEN : P ORTA O RIENTIS ET P ROPUGNACULUM O CCIDENTIS Als der Wiener Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) im Jahr 1922 Wien als „porta orientis für Europa“ bezeichnete,21 hatte er zwei Vorstellungen von der Rolle dieser Stadt im Blick: Wien war für ihn sowohl Schnittstelle zwischen Asien und Europa als auch Ausfallspforte einer Armee, die durch die Verbreitung europäischen „Kultureinflusses“ im nahen Orient eine „Mission“ erfüllt hatte und wohl noch weiter erfüllen sollte: „Wien war die porta orientis und war sich dieser Mission […] in glorreicher Weise bewußt.“22 Während des Ersten Weltkrieges hatte Hofmannsthal in seiner Kriegsessayistik auch noch die Rolle der Reichshaupt- und Residenzstadt als Wall, an dem „die asiatische Welle brandete und zurückging“,23 (propugnaculum Occidentis) in Erinnerung gerufen. Zur Zeit Hofmannsthals blickten die Wienerinnen und Wiener auf eine lange Tradition produktiver und destruktiver Auseinandersetzungen mit dem Orient zurück. In den 1921 verfassten „Bemerkungen“ erinnerte der Schriftsteller seine Leser, dass von Wien aus, „von Hammer-Purgstall und seinen ‚Fundgruben des Orients‘ […] der Anstoß aus[ging], der Goethes Orientalismus entfachte“.24 Bereits Mitte des 17. Jahrhunderts waren in dieser Stadt zwei humanistische Gelehrte hervorgetreten, die sich eingehend mit dem Studium der orientalischen Sprachen beschäftigt hatten: Der eine, Gianbattista Podestà, war von Kaiser Leopold I. (1640-1705) zum Studium der östlichen Sprachen nach Rom geschickt worden. Zurück in Wien lehrte er jungen Diplomaten die Osmanische Sprache (Osmanlica). Außerdem fungierte er als kaiserlicher Übersetzer und als Verfasser von Sprachlehrbüchern. Leibniz bezeichnete Podestà als „den größten Kenner der morgenländischen Sprachen“.25 Der andere, Franz von Mesgnien Meninski, war 1662 zum „kayl. Türkhischen Dolmatsch“ ernannt worden. In seiner

21 HOFMANNSTHAL, Hugo von: Wiener Brief [II]. In: DERS.: Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze II 1914-1924. Frankfurt am Main 1979, 185-196, hier 195. 22 HOFMANNSTHAL, Hugo von: Bemerkungen. In: DERS. (wie Anm. 21), 473-477, hier 474. 23 HOFMANNSTHAL, Hugo von: Geist der Karpathen. In: DERS. (wie Anm. 21), 411-416, hier 411. 24 Ebd., 474f. – GOETHE, Johann Wolfgang von: West-Östlicher Divan. Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-Östlichen Divans. In: DERS.: Werke. Hamburger Ausgabe. Band 2. München 2000, 126-268, hier 253f. 25 BABINGER, Franz: Die türkischen Studien in Europa bis zum Auftreten HammerPurgstalls. In: Die Welt des Islams 7/3-4 (1919), 103-129, hier 113-116.

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Druckerei vervielfältigte er sein bahnbrechendes „Arabisch-Persisch-Türkisches Wörterbuch“ (Thesaurus linguarum orientalium, 1680-1687).26 Sein Werk stellte Jahrhunderte lang den wichtigsten Lehrbehelf und zugleich die Grundlage für den Aufschwung der orientalischen Studien im Habsburgerreich vor dem Hintergrund diplomatischer Notwendigkeiten dar. Seit den 1780er Jahren wurde das Wörterbuch unter dem Titel „Lexicon arabico-persico-turcicum“ neu ediert. An der Überarbeitung hatten die Zöglinge einer Institution wesentlichen Anteil, die Maria Theresia 1754 als ,Akademie der Orientalischen Sprachen‘ in Wien errichtet hatte.27 Schon im 17. Jahrhundert hatte der Wiener Hof neben der sogenannten Internuntiatur in Konstantinopel ein ,Sprachknabeninstitut‘ zur Ausbildung von Übersetzern unterhalten. Mit der Errichtung der ‚k.k. Akademie der morgenländischen Sprachen‘ – später ‚Orientalische Akademie in Wien‘ bzw. seit 1898 ,k.u.k. Konsularakademie‘, seit 1964 ,Diplomatische Akademie Wien‘ – erhielt die Haupt- und Residenzstadt eine Anstalt, in der „fähige Jünglinge in den nötigen Sprachen des Orients wie des Okzidents“ ausgebildet wurden, „und außerdem noch in allen Wissenschaften, die zur Bewahrung der kommerziellen und politischen Interessen Österreichs im Oriente“ dienten.28 Die in Wien erzogenen „k.k. Sprachknaben“ wurden als Dolmetscher und Diplomaten nach Konstanti-

26 MENINSKI, Franciscus a Mesgnien: Lexicon arabico-persico-turcicum adjecta significatione latina. 4 Bände. Viennae 1780-1802. 27 Dazu ausführlich PETRITSCH, Ernst Dieter: Erziehung in guten Sitten, Andacht und Gehorsam. Die 1754 gegründete Orientalische Akademie in Wien. In: Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie. Akten des internationalen Kongresses zum 150-jährigen Bestehen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Wien, 22.-25. September 2004. Hg. v. Marlene KURZ, Martin SCHEUTZ, Karl VOCELKA und Thomas WINKELBAUER. München 2005 (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung; Ergänzungsband 48), 491-501. – DERS.: Die Anfänge der Orientalischen Akademie. In: 250 Jahre. Von der Orientalischen zur Diplomatischen Akademie in Wien. Hg. v. Oliver RATHKOLB. Innsbruck u.a. 2004, 47-64. – HELLMUTH,

Leopold: Franz von Dombay als Arabist. In: Vienne – porta Orientis. Hg. v.

Dieter HORNIG, Johanna BOREK und Johannes FEICHTINGER. Mont-Saint-Aignan 2013 (= Austriaca. Cahiers universitaires d’information sur l’Autriche, Rouen 74 (2012)), 79-99; hier umfassend weiterführende Literatur zur Geschichte der orientalischen Akademie in Wien. 28 BABINGER (wie Anm. 25), 123.

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nopel gesandt.29 Der Orientalischen Akademie verdankte Österreich „eine große Anzahl der hervorragendsten Kenner der Sprachen und der Verhältnisse des Orients“. Aus ihr seien „die berühmtesten Orientalisten“ hervorgegangen.30 Im Zuge der Annexion (1908) der seit 1878 von Österreich-Ungarn verwalteten osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina wurde schließlich auch der Islam nach hanefitischem Ritus im Habsburgerreich staatlich anerkannt: 1912 in der österreichischen und 1916 in der ungarischen Reichshälfte. Mit der Verabschiedung des Islamgesetzes nahm die ihrem Selbstverständnis nach ‚katholische‘ Monarchie Österreich-Ungarn im Hinblick auf die staatsrechtliche Integration ihrer muslimischen Bevölkerung europaweit eine Vorreiterrolle ein.31 Hugo von Hofmannsthal hatte Wien aber nicht nur als „porta orientis“, sondern während des Ersten Weltkrieges auch als eine Art Bollwerk bezeichnet. Beide Diskurse herrschten in der Zeit der Ersten Republik, des autoritären Ständestaats und des Nationalsozialismus vor. In diesem Sinne verwendete auch der nationalsozialistische Wiener Historiker Reinhold Lorenz im Jahr 1942 die Begriffe porta und propugnaculum: „Damals“, so schrieb er Bezug nehmend auf den Türkensieg von 1683, „ist Wien das unbezwungene, letzte große Bollwerk auf dem Wege des Großtürken in das innere Deutschland gewesen; jetzt war es das prächtige Tor Deutschlands zum Südosten, durch das Europa die Fackel der abendländischen Kultur donauabwärts in die von osmanischer Herrschaft befrei-

29 Dazu ausführlich WOLF, Michaela: Die vielsprachige Seele Kakaniens. Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie. Wien-Köln-Weimar 2012, 179-188. 30 BABINGER (wie Anm. 25), 123f. – Zur österreichischen Orientalistik des 19. Jahrhunderts ausführlich HELLMUTH, Leopold: Traditionen und Schwerpunkte der österreichischen Orientalistik im 19. Jahrhundert. In: Orient. Österreichische Malerei zwischen 1848 und 1914. Hg. v. Erika MAYR-OEHRING. Salzburg 1997, 107-127. – HUNGER, Herman: Orientalistik. In: Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Band 4: Geschichte und fremde Kulturen. Hg. v. Karl ACHAM. Wien 2002, 467-480. 31 Siehe dazu das Gesetz vom 15. Juli 1912, betreffend die Anerkennung der Anhänger des Islams [nach hanefitischem Ritus] als Religionsgesellschaft, Reichsgesetzblatt Nr. 159/1912. – ORNIG, Nikola: Diversität und Anerkennung. Die Rezeption der muslimischen Bevölkerung Österreich-Ungarns in ethnographischen Werken. In: Newsletter Moderne. Zeitschrift des SFB Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900, 6/2 (2003), 22-25. Auch das Judentum war seit 1890 (Österreich) bzw. 1895 (Ungarn) als Religion staatsrechtlich anerkannt.

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ten Gebiete bis über Belgrad hinaus weiterreichte!“32 Zuletzt hat der norwegische Attentäter Anders Behring Breivig mit seinem „Manifest 2083. A European Declaration of Independence“ wieder jene Rolle Wiens aktualisiert, die auch Hofmannsthal dieser Stadt zugeschrieben hatte. In seinen historischen Essays, die er während des Ersten Weltkriegs in Zeitungen veröffentlichte, erkannte der Wiener Schriftsteller in der „Abwehr der Türken“ 1683, dieser „große[n] Tat gegen Osten“, die sich für ihn im Jahr 1914 erneuerte, die Triebfeder für eine neue Offensivtat gegen den „asiatischen Feind“, dieses Mal Russland.33 Schon im Mai 1915, als „wir uns dem Heranfluten des größten Heeres, das die Welt gesehen hat, entgegenwarfen, um das Herz Europas gegen den tödlichen Stoß zu decken“, konnte er den Sieg in den Karpaten vermelden, „so wie einst“, als „an den Wällen Wiens die asiatische Welle brandete und zurückging“.34 In dieser „inneren Polarität“ von porta als Bollwerk und Ausfallspforte erkannte er das „Wesen“ der „österreichischen Idee“, nämlich „in der Antithese, die sie in sich schließt: zugleich Grenzmark, Grenzwall, Abschluß zu sein zwischen dem europäischen Imperium und einem, dessen Toren vorlagernden, stets chaotisch bewegten Völkergemenge Halb-Europa, Halb-Asien und zugleich fließende Grenze zu sein, Ausgangspunkt der Kolonisation, der Penetration, der sich nach Osten fortpflanzenden Kulturwellen, ja empfangend auch wieder und bereit zu empfangen die westwärts strebende Gegenwelle.“35

32 LORENZ, Reinhold: Politische Geschichte der Wiener Ringstraße. Einleitung. In: DERS.: Drei Jahrhunderte Volk, Staat und Reich. Fünfzehn Beiträge zur Neueren Deutschen Geschichte. Wien 1942, 523-591, hier 523. 33 HOFMANNSTHAL, Hugo von: Wir Österreicher und Deutschland. In: DERS. (wie Anm. 21), 390-404, hier 393. 34 HOFMANNSTHAL, Hugo von: Geist der Karpathen. In: DERS. (wie Anm. 21), 411-416, hier 411. 35 HOFMANNSTHAL, Hugo von: Die österreichische Idee. In: DERS. (wie Anm. 21), 454458, hier 456.

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I N F REUNDSCHAFT : H ABSBURG UND DAS O SMANISCHE R EICH Trotz der Türkenkriege wurden die diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Habsburgischen und dem Osmanischen Reich nahezu durchgehend aufrechterhalten. Im Jahr 1667 war die erste, 1719 die zweite „Kaiserlich privilegierte Orientalische Kompagnie“ gegründet worden.36 Im 18. Jahrhundert unterzeichnete Österreich weitere Handelsverträge, in denen schon von einer „besonderen Freundschaft der Hohen Pforte“ die Rede war.37 Mit dem ersten unbefristeten Friedensschluss von Swischtow (Svischtov/Sistowa, 1791) entspannte sich das Verhältnis beider Vielvölkerreiche zusehends. Der Kaiser erkannte 1854 und 1856 die Unabhängigkeit und Unversehrtheit des mittlerweile geschwächten Osmanischen Reiches an, der Sultan wie schon wiederholt seit 1606 die Religionsfreiheit für die römischen Katholiken unter seiner Herrschaft. Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde mit den verbesserten Verkehrsverbindungen der Handel weiter intensiviert. Zwischen Triest, Konstantinopel und Alexandria verkehrten Schiffe, die Zigtausende Orientreisende (darunter Kaiser Franz Joseph, Kronprinz Rudolf und Kaiser Karl) und Auswanderer in das Osmanische Reich brachten.38 Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkte sich

36 Dazu ausführlich DULLINGER, Josef: Die Handelskompagnien Oesterreichs nach dem Oriente und nach Ostindien in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Social- und Wirthschaftsgeschichte 7 (1900), 44-83. – MAYER, Franz Martin: Die Anfänge des Handels und der Industrie in Oesterreich und die orientalische Compagnie, Innsbruck 1882. – HASSINGER, Herbert: Die erste Wiener orientalische Handelskompagnie 1667-1883. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 35 (1942), 1-53. – KATSIARDI-HERING, Olga: The Allure of Red Cotton Yarn, and how it came to Vienna. In: Merchants in the Ottoman Empire. Hg. v. Suraiya FAROQHI

und Gilles VEINSTEIN. Paris-Louvain-Dudley 2008 (Collection Turcica 15), 97-

132. 37 ZIEGLER, Karl-Heinz: Völkerrechtliche Beziehungen zwischen der Habsburgermonarchie und der Hohen Pforte. In: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 18/3-4 (1996), 177-195, hier 187f. 38 Vgl. dazu HEALY (wie Anm. 20), 271-275. – SAMSINGER, Elmar: „Oesterreich kann mit den Sympathien des Orients zufrieden sein!“ Kaiser Franz Joseph und Kaiser Karl°I. in Konstantinopel. In: Österreich in Istanbul. K.(u.)K. Präsenz im Osmanischen Reich. Hg. v. Rudolf AGSTNER und Elmar SAMSINGER. Wien u.a. 2010 (Forschungen zur Geschichte des Österreichischen Auswärtigen Dienstes 1), 267-298. –

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der Pilgerverkehr zu den nun wieder zahlreich besuchten ,Heiligen Stätten‘ in Palästina. Das Kaisertum Österreich errichtete in Jerusalem ein Konsulat sowie das erste nationale Hospiz. Kaiser Franz Joseph, der sich – wie mehrere seiner gekrönten Vorfahren mit großem Titel – auch „König von Jerusalem“ nannte, übte eine Schutzmachtfunktion für katholische Institutionen im Osmanischen Reich aus. Dem „k.u.k. Protectorat“ unterstanden hunderte Kirchen, Pfarreien und Schulen.39 Die wichtigste Außenaktivität setzte die Monarchie durch die „Levantepost“, die seit den 1860er Jahren in nahezu hundert Städten des Osmanischen Reiches Zweigstellen unterhielt.40 Die österreichische ‚Levantepost‘ war die größte ihrer Art. 1914 setzte das Osmanische Reich als Bündnispartner diese Privilegien Österreich-Ungarns einseitig außer Kraft. Trotz des konfliktfreien Miteinanders ließen viele der im Habsburgerreich mit dem Orient befassten Akteure keinen Zweifel über vorherrschende kulturelle Wertunterschiede offen: In den Worten der Orientalisten stand ein reifer „Westkörper“ dem noch unreifen „Ost-“ bzw. „Orientkörper“ gegenüber, dessen Völker auf jeweils gleich niedriger Kulturstufe stehend erst „zur Kulturreife“ aufstiegen.41 Während das 1875 in Wien eröffnete Orientalische Museum mit dem Ziel der Intensivierung des Handels einen Missionierungsauftrag verknüpfte, nahmen andere in der Zeit des Ersten Weltkriegs errichtete Orient-Institute und Gesellschaften von der Zivilisierungsidee Abstand. Ihr Ziel war vielmehr, die Kulturunterschiede zwischen den (während des Ersten Weltkrieges) neuen „Bundesfreunden“ zu verstehen, um sich diesen weiter annähern zu können. Dieser Aufgabe widmete sich das erste Institut für Kulturforschung, das 1915 im Umfeld der Oesterreichischen Monatsschrift für den Orient vom Orientalisten Edmund Küttler (1884-1964) und vom Kulturgeografen Erwin Hanslik (18801940) in Wien errichtet wurde und Arbeiten mit so vielsagenden Titeln wie Abriß der Weltkunde zur Darstellung der Lage Wiens an der Weltkulturgrenze

FISCHER, Robert-Tarek: Österreich im Nahen Osten. Die Großmachtpolitik der Habsburgermonarchie im Arabischen Orient 1633-1918. Wien-Köln-Weimar 2006, 226. 39 Dazu ausführlich HAIDER-WILSON, Barbara: Das Kultusprotektorat der Habsburgermonarchie im Osmanischen Reich. Zu seinen Rechtsgrundlagen und seiner Instrumentalisierung im 19. Jahrhundert (unter besonderer Berücksichtigung Jerusalems). In: Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie (wie Anm. 27), 121-147. 40 Dazu ausführlich SAMSINGER, Elmar: Morgenland und Doppeladler. Eine Orientreise um 1900. Wien 2006, 93-97. 41 [HANSLIK, Erwin]: Die Kulturpflichten Wiens und Österreich-Ungarns. In: Das Institut für Kulturforschung in Wien, Wien [1914] (Schriften des Instituts 2), 6, 11.

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Mitteleuropas (1921) veröffentlichte.42 Als Ableger des Instituts für Kulturforschung entstand 1916 das Forschungsinstitut für den Osten und Orient. 1917 wurde in Wien die k.k. Österreichische Orient- und Überseegesellschaft gegründet, die für die Zukunft die Chance verstärkter wirtschaftlicher Zusammenarbeit in Freundschaft erblickte.43 In Ungarn war diese Freundschaft von langer, in Österreich von kurzer Dauer. In Ungarn, das sich nach dem sogenannten Ausgleich von 1867 zu einem magyarischen Nationalstaat entwickelt hatte, war das Türkenbild weitgehend positiv besetzt. Zum einen hatten führende Köpfe der antihabsburgischen Erhebung von 1848-49 im Osmanischen Reich Asyl gefunden, zum anderen beförderte die im ausgehenden 19. Jahrhundert aufkommende Idee des Turanismus, der zufolge Ungarn und Türken auf eine gemeinsame Abstammung zurückblickten, die freundliche Wahrnehmung des Osmanischen Reiches. Allerdings war in Ungarn mit dem Türkengedächtnis auch eine mahnende Botschaft verbunden: Haltet zusammen oder ihr werdet untergehen (so wie in der Schlacht von Mohács im Jahr 1526). Mit der Auflösung Großungarns durch den Vertrag von Trianon (1920) wurde dieser Mahnruf lauter: Allerdings kam der neue Feind, die neue Gefahr, nicht aus dem Osten, sondern aus dem Westen (waren es im 19. Jahrhundert noch die Habsburger gewesen, so waren es nun die den Staat zerstörenden Siegermächte des Ersten Weltkriegs). In Österreich verhielt es sich umgekehrt: Schon während des letzten Kriegsjahres trat hier ungeachtet der Freundschaftsbezeugungen wieder verstärkt das Türkenfeindbild hervor.44 In Zeiten äußerer und innerer Bedrohung ständig aktualisiert, wirkte es bald latent, bald manifest.45

42 Zu Hanslik ausführlich SMOLA, Franz: Vom ,Menschenbewusstsein‘ zum neuen Menschenbild – Egon Schiele und der Anthropogeograph Erwin Hanslik. In: Die ästhetische Gnosis der Moderne. Hg. v. Leander KAISER und Michael LEY. Wien 2008, 123175. 43 Vgl. Das Forschungsinstitut für Osten und Orient in Wien. Im Auftrage veröffentlicht vom Sachwalter Dr. Wolfgang SCHULTZ. Wien 1919. 44 Vgl. HEALY (wie Anm. 20), 291. 45 Dazu ausführlich FEICHTINGER, Johannes: Der erinnerte Feind und nationale Integration. Zentraleuropa im langen 19. Jahrhundert aus gedächtnishistorischer Perspektive. In: Der erinnerte Feind. Hg. v. Johann HEISS und Johannes FEICHTINGER. Wien 2013 (Kritische Studien zur »Türkenbelagerung« 2), 300-322.

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I N F EINDSCHAFT : H ABSBURG UND SEINE T ÜRKEN - UND O RIENTFEINDBILDER Die Tätigkeit des Orientalischen Museums in Wien zeigt, dass sich der Begriff des Orients in der Vorstellung und im Sprachgebrauch um 1900 sowohl auf das Osmanische Reich, den Maghreb und Ägypten als auch auf Asien bezog. Die Artikel in der in 44 Jahrgängen erschienenen Oesterreichischen Monatsschrift für den Orient46 sowie die große Wiener orientalisch-keramische Ausstellung (1884)47 zeugen aber von einer sehr differenzierten Wahrnehmung des Orients: das ferne Japan und China wurden aufgewertet,48 der nahe islamische Orient wurde im Vergleich dazu abwertend präsentiert.49 Der Wiener Sozialanthropologe Andre Gingrich erklärt diese ambivalente Annäherung zum Orient über sein Konzept des „frontier orientalism“.50 Darunter

46 Oesterreichische Monatsschrift für den Orient. Hg. v. ORIENTALISCHEN MUSEUM IN WIEN. 1. Jg./1875-44. Jg./1918. 47 Katalog der orientalisch-keramischen Ausstellung im Orientalischen Museum, Wien 1884. 48 Zu Japan, China und Siam wurden später als anderswo – und zwar im Zuge der k.k. Ostasienexpedition von 1869 – politische, wirtschaftliche und kulturelle Kontakte aufgenommen. Die in den Österreichischen Niederlanden gegründete „Ostindische Kompanie“ war 1731 wieder aufgelöst worden. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war u.a. Indien von österreichischen Forschern bereist worden. Dazu ausführlich BHATTI, Anil: Europäische Erinnerungen am Indus. Carl von Hügel als Forschungsreisender in Indien. In: Übersetzung als Repräsentation fremder Kulturen. Hg. v. Doris BACHMANN-MEDICK. Berlin 1997 (Göttinger Beiträge zur internationalen Übersetzungsforschung 12), 98-112. 49 Vgl. WIENINGER, Johannes: Das Orientalische Museum in Wien, 1874-1906. In: Vienne – porta Orientis (wie Anm. 27), 143-158. 50 Vgl. GINGRICH, Andre: Kulturgeschichte, Wissenschaft und Orientalismus. Zur Diskussion des „frontier orientalism“ in der Spätzeit der k.u.k. Monarchie. In: Schauplatz Kultur – Zentraleuropa. Transdisziplinäre Annäherungen. Hg. v. Johannes FEICHTINGER

u.a. Innsbruck u.a. 2006 (Gedächtnis – Erinnerung – Identität 7), 279-288. –

DERS.: Frontier Myths of Orientalism. The Muslim World of Public and Popular Culture in Central Europe. In: Mediterranean Ethnological Summer School, Piran/Pirano, Slovenia 1996. Hg. v. Bojan BASKAR und Borut BRUMEN. Ljubljana 1998 (MESS Vol. II), 99-127. – DERS.: Grenzmythen des Orientalismus. Die islamische Welt in Öffentlichkeit und Volkskultur Mitteleuropas. In: Orientalische Reise. Malerei und

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versteht er ein Konstrukt vorkolonialer volkstümlicher Mythen, Traditionen und Praktiken, das sich nicht auf subalterne Andere in weiter Ferne (auf sogenannte ,Exoten‘), sondern auf die nahen Orientalen bezieht; also nicht auf Hindus, Konfuzianer und Buddhisten, sondern auf Muslime und Juden, die ,unsere‘ Grenze zu überschreiten drohten und daher in der Vorstellung weiter Kreise der Bevölkerung zurückgeschlagen werden mussten. Sigmund Freud bezeichnete diese überzogene Abwehrreaktion gegenüber dem nahen Anderen als „Narzissmus der kleinen Differenzen“51: Je kleiner die Unterschiede wären, umso größer sei die Notwendigkeit sich abzugrenzen, aber auch umso schwieriger und konfliktbeladener. Freud hatte seine Theorie zwar vor dem Hintergrund des zunehmenden Antisemitismus in Österreich entwickelt, Anhaltspunkte dafür bot aber auch die ungebrochene Islamfeindlichkeit. Muslime wurden als Standardfigur des Orientalen vorgestellt. Da sie in Österreich vorwiegend mit den Türken gleichgesetzt wurden und werden,52 werden sie als Bedrohung wahrgenommen. Bedrohungsszenarien generieren Feindbilder. Die dumpfe Angst vor dem gefährlichen, weil allzu nahen Orientalen wurde und wird in Österreich laufend geschürt, aktiviert und zur Konstruktion von Juden- und Islamfeindbildern eingesetzt; ungeachtet dessen, dass Judentum und Islam – wie oben erwähnt – in Österreich seit der Spätzeit der Habsburgermonarchie zu den staatlich anerkannten Konfessionen zählen. Das Türkenfeindbild wurde u.a. durch die von Hof, Kirche, Bürgertum und von politischen Parteien zelebrierten Anniversarien und Jubiläen des Wiener Sieges von 1683 sowie durch die Gleichsetzung der Türken mit jeweils neuen

Exotik im späten 19. Jahrhundert. Katalog der Ausstellung im Wien-Museum. Hg. v. Erika MAYR-OEHRING und Elke DOPPLER. Wien 2003, 110-129. 51 Sigmund Freud versteht darunter „eine bequeme und relativ harmlose Befriedigung der Aggressionsneigung, durch die den Mitgliedern der Gemeinschaft das Zusammenhalten erleichtert wird.“ FREUD, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur (Original: 1930). In: DERS.: Gesammelte Werke XIV. Frankfurt am Main 1999, 419-506, hier 474. – DERS.: Massenpsychologie und Ich-Analyse (Original: 1921). In: DERS.: Gesammelte Werke, Bd. XIII. Frankfurt am Main 1999, 73-161, hier 110f. 52 Zur Gleichsetzung von Türken und Islam ausführlich HEISS, Johann/FEICHTINGER, Johannes: Konjunkturen einer verflochtenen Geschichte: Islam und Türken in Österreich. In: Ostarrichislam. Fragmente achthundertjähriger gemeinsamer Geschichte. Hg. v. Amena SHAKIR, Gernot Galib STANFEL und Martin M. WEINBERGER. Wien 2012, 68-76.

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Bedrohungen, die man ebenfalls zu überwinden hoffte, Jahrhunderte lang bewahrt und aktualisiert.53 Feindbilder beruhen auf Grenzziehung und Wertzuschreibung, sie dienen der „negativen Integration einer Gemeinschaft“.54 In Bezug auf das Türkenfeindbild stellte die religiöse Differenz das wichtigste Abgrenzungsmittel dar. Zwar ließ auch die Barbarisierung der Türken eine klare Grenzziehung zu, allerdings war diese Art der Abgrenzung lange Zeit unzweckmäßig, weil die Zuschreibung primitiver Merkmale nolens volens zugleich die Abwehrleistung der habsburgischen Heere geschmälert hätte. Die Türkengefahr musste nahezu überwunden sein, um das Türkenfeindbild über zivilisatorische Wertunterschiede konstruieren zu können.55 Davon legt die 1738 eingeweihte Kapistrankanzel an der Außenseite des Wiener Stephansdoms Zeugnis ab.56 Auf diesem Monument, das der Bildhauer Johann Joseph Resler (1702-1772) innerhalb weniger Monate anfertigte, wird gezeigt, wie der 1690 heiliggesprochene franziskanische Wanderprediger, Heerführer, Inquisitor, Hussiten- und Judenfeind Johannes Kapistran (Giovanni da Capistrano, 1386-1456) „auf einen Barbaren unter seinen Füßen tritt“ („sub pedibus Barbarum calcantis“, wie der Verfasser der dem Auftragswerk zugrunde liegenden Programmschrift und Prior, Archivar sowie Chronist der Franziskanerprovinz Österreich, Placidus Herzog, 1740 notierte).57

53 Dazu ausführlich HEISS, Johann/FEICHTINGER, Johannes: Wiener ,Türkengedächtnis‘ im Wandel. Historische und anthropologische Perspektiven. In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 2 (2009), 249-263. 54 WREDE, Martin: Feindbild. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Band 3. Stuttgart-Weimar 2006, 878-890, hier 878. 55 Dazu ausführlich HEISS, Johann/FEICHTINGER, Johannes: Einleitung. In: Geschichtspolitik und „Türkenbelagerung“. Hg. v. Johannes FEICHTINGER und Johann HEISS. Wien 2013 (Kritische Studien zur »Türkenbelagerung« 1), 7-21 sowie DIES.: Der erinnerte Feind (wie Anm. 45). 56 Vgl. SCHÜTZ, Ilse: Leben und Werk Johann Joseph Reslers (1702-1772). Ein Beitrag zur Geschichte der Barockplastik in Österreich. Phil. Diss. Universität Wien 1985, 1931. 57 HERZOG, Placidus: Cosmographia Austriaco-Franciscana […], Köln 1740, 193.

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Abbildung 1: Johann Joseph Resler: Kapistrankanzel an der Außenseite des Wiener Stephansdoms, 1738 eingeweiht (Foto: Sarah Lemmen 2013)

Dem ,Türkenprediger‘ Kapistran wurde ein wichtiger Anteil an der Verteidigung Belgrads durch die Truppen des ungarischen Reichsverwesers Johann Hunyadi (ung. Hunyadi János, rumän. Iancu de Hunedoara, 1407-1456) im Jahre 1456 zugesprochen. Unter der Figur befindet sich am Monument eine Widmungsinschrift, auf der Kapistran wegen seiner Heldentat mit den Worten „fulmen Turcarum“ („Blitz/Kriegsheld gegen die Türken“) verherrlicht wird. 1521 war Belgrad von den Osmanen erobert worden, 1718 aber an die Habsburger zurückgefallen. 1738, im Jahr der Errichtung der Kapistrankanzel, war die Stadt wieder gefährdet. Das Monument kann als Anrufung an den Heiligen Johannes Kapistran verstanden werden, den christlichen Mächten im wiederaufflammenden Kampf gegen den schon einmal besiegten Feind beizustehen. Die Anrufung war allerdings vergeblich: Belgrad wurde 1739 von osmanischen Truppen rückerobert.

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Auf der Kapistrankanzel wird der fallende Janitschar als Barbar dargestellt. Davon zeugen seine Nacktheit sowie Bart- und Haartracht.58 Der unterlegene, aber dennoch gefährliche Feind wird zur Verhöhnung orientalisiert; er kann damit auch als ferner Exote vorgestellt werden. Durch diese Zuschreibung lässt sich ein scharfes Bild vom Feind zeichnen, das auch in Zeiten wirkt, in denen die Türkengefahr längst überwunden ist, Drohbilder aber verwendbar bleiben müssen. Zur Feindbildpflege nutzte man in den habsburgischen Erblanden – wie schon angedeutet – Rückgriffe und Aktualisierungen. Durch die Verbildlichung wurden die Unterschiede zum Feind klar markiert. Auf diese Art und Weise wurde zweierlei erreicht: Zum einen lieferte der unterlegene Erbfeind die Schablone für erhoffte Siege über neue Feinde; zum anderen ergab sich durch die Barbarisierung der Türken ein Mittel zur Abgrenzung, das In- und Exklusionen und in späterer Folge auch Zivilisierungsmissionen zuließ. Mit dem Türkenfeindbild konnte das Zusammengehörigkeitsgefühl, d.h. die Vorstellung von nationaler, parteilicher, kultureller oder konfessioneller Identität, gestärkt werden.

I DENTITÄTSSTRATEGISCHER O RIENTALISMUS Der osmanische Großwesir Kara Mustafa (1634-1683) hatte 1683 einen Kriegszug nach Zentraleuropa geführt. Der Historiker Robert Kann stellte 1962 (also längst vor 9/11) klipp und klar fest, „dass in diesem Krieg keine Entscheidung über die Herrschaft von Kreuz oder Halbmond im östlichen Mitteleuropa“ fiel, denn weder das Habsburgerreich noch das Osmanenreich wären zu jener Zeit stark und dynamisch genug gewesen, „um in eine kreuzzugartige, weit ausgreifende ideologische Kriegsführung einzutreten.“59 Im Vordergrund der kriegerischen Auseinandersetzung stand Machtpolitik; ein wesentliches Instrument der Herrschaftssicherung war allerdings von Anfang an die Religion, d.h. das Drohbild der Islamisierung. Die Gefahr, dass sich der Islam – wie es 200 Jahre nach dem ‚Türkensieg‘ noch hieß – „wie ein verheerender Strom über das gesammte Abendland“ ergieße, wurde abgewendet.60 Das Andenken daran bewahrten aber

58 Vgl. WITZELING, Johanna/HEISS, Johann: Stephansdom, Kapistrankanzel. In: http:// www.tuerkengedaechtnis.oeaw.ac.at/ort/kapistrankanzel-an-der-ausenseite-desstephansdoms (15.5.2013). 59 KANN, Robert: Kanzel und Katheder. Studien zur österreichischen Geistesgeschichte vom Spätbarock zur Frühromantik. Wien-Freiburg-Basel 1962, 19. 60 LINHART, Joseph: Die seligste Jungfrau Maria der Morgenstern. Predigt, gehalten am Feste Mariä Geburt 1883 um 11 Uhr vormittags. In: Blätter der Erinnerung an die im

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Hof und Kirche als militärischer Verteidiger bzw. als Vermittlerin himmlischer Hilfe. Mit diesem Andenken ermahnten sie Untertanen und Kirchenvolk ständig an die Pflicht zu Dankbarkeit und Treue. In Wien bemühten sich die Bürger hartnäckig, ihren Anteil am Sieg hervorzukehren, zunächst vergebens. Dieses Ziel sollten sie – mit Ausnahmen wie z.B. dem Privileg des Bäckerumzugs oder dem Hernalser Eselsritt – erst ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert erreichen, als ihnen Joseph II. die Feierlichkeiten und Veröffentlichungen zum hundertjährigen Entsatzjubiläum 1783 widmete.61 Zugleich setzte der Kaiser diesen Aktivitäten aber ein vorläufiges Ende. Im 19. Jahrhundert griff jeder dieser Akteure auf seine Art auf die Vergangenheit zurück, um auf gegenwärtige Bedrohungen hinzuweisen.

I DENTITÄT

DURCH

R ÜCKGRIFFE

Zum zweihundertsten Jahrestag des Siegs vor Wien 1883 repräsentierte „der Feind, der unser Land einst von Außen bedrohte“, für das Bürgertum – wie Zeitungen kommentierten – „den Feind in unserer Mitte“,62 der – je nach politischem Standpunkt – in den Konservativ-Klerikalen, den Slawen oder in den Liberalen, Deutschen und Juden gesehen wurde. Das Sprachrohr deutschliberaler Politik, die Neue Freie Presse, sah im Sieg von 1683 „zuvörderst eine deutsche That“ und in diesem Vermächtnis den Auftrag, „alle Angriffe“ auf Wien als „Hort deutscher Kultur“ durch die slawenfreundlich orientierte Staatsmacht abzuwehren.63 Die konservative Zeitung Das Vaterland erblickte im Sieg von 1683 eine „staatsbildende und staatserhaltende“ Tat aller Völker der Monarchie, somit auch der Slawen.64 Dynastietreue Historiker zelebrierten wiederum das Herrscherhaus als „Bollwerk des christlichen Abendlandes gegenüber der Aggressive des Islam“65 und als Retter der „mittel-europäischen Zivilisation vor der Ueberfluthung einer neu-

September 1883 in Wien abgehaltene kirchliche Säcularfeier der Rettung Wiens aus der Türkennoth im Jahre 1683. Wien 1883, 46f. 61 HEISS, Johann: Die Ereignisse zum hundertjährigen Jubiläum 1783. In: Geschichtspolitik und „Türkenbelagerung“ (wie Anm. 55), 58-88. 62 Das Vaterland, 12.9.1883, 2. Neue Freie Presse, 11.9.1883, 1. 63 Neue Freie Presse, 11.9.1883, 1. 64 Das Vaterland, 12.9.1883, 2f. 65 KLOPP, Onno: Zur Säcularfeier. In: DERS.: Zur Zweiten Säcular-Feier des 12. September 1683, Graz 1882, 18.

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en asiatischen Barbarei“.66 Kirchlichen Akteuren gab der Sieg über den Islam 1683 Hoffnung auf einen Sieg über noch gefährlichere Angreifer, nämlich die Juden. Im Jahr 1683 „drohten erst die Sclavenketten“, predigte der Wiener Pfarrer und Antisemit Joseph Deckert 1883, „jetzt tragen wir sie schon.“ Und weiter: Der Tag, „an welchem verfassungsmäßig die Reemancipation der Juden ausgesprochen“ werde, „wird ein Tag des Sieges des Christentums sein, ebenso glorreich, wie einst der 12. September 1683.“67 Im 20. Jahrhundert wechselten die Feinde: Im Jubiläumsjahr 1933 gab der historische Sieg Hoffnung auf erneuten Sieg, nunmehr über Bolschewiken und Nationalsozialisten.68 1983 verbreiteten polnische Akteure in Wien angesichts des 1683 von König Jan III. Sobieski (1629-1696) erfochtenen Türkensieges die Zuversicht, letztlich auch das Schreckgespenst des Bolschewismus zu vertreiben. An Sobieskis Sieg ließ sich die Hoffnung auf Befreiung von der durch die Ausrufung des Kriegsrechts 1981 noch spürbareren Herrschaft der Kommunisten knüpfen.69 Die Freunde Sobieskis in Wien wollten laut geplanter Inschrift „den Rettern Wiens und der Abendländischen Kultur zum Dank“,70 der sie die ,besetzte‘ Volksrepublik Polen zurechneten, ein ‚Entsatz-Denkmal‘ stiften. Das Denkmal konnte nicht realisiert, sondern nur der Grundstein dafür gelegt werden.71 Spätestens nach dem 11. September 2001 wurden mit der Chiffre 1683 neue Ängste wachgerufen, die sich aber als die ältesten erwiesen: Schlagzeilen wie „Christus oder Mohammed. Kahlenberg 12. September 1683“ stiften Sinn.72 Während der Islam seit 1683 dreihundert Jahre lang vornehmlich der katholischen Kirche als Abgrenzungsmittel gedient hatte, rückt er seit 2001 verstärkt

66 HELFERT, [Joseph] Freiherr von: Die weltgeschichtliche Bedeutung des Wiener Siegs von 1683. Vortrag, gehalten am 2. September 1883 in der Festversammlung des katholisch-politischen Casinos der inneren Stadt. Wien 1883, 6. 67 DECKERT, Joseph: Türkennoth und Judenherrschaft. Wien-Weinhaus 1894, 17-26. 68 Vgl. SUPPANZ, Werner: An der „Kulturfront des Abendlandes“. Diskurse und Inszenierungen der ,Türkenabwehr‘ im Austrofaschismus. In: Der erinnerte Feind (wie Anm. 45), 162-184. 69 Vgl. HADLER, Simon: Politik und Erinnerung. Polnisch-österreichische Verflechtungsgeschichten 1883 und 1983. In: Der erinnerte Feind (wie Anm. 45), 244-264. 70 Die Furche, 24. August 1983, 2. 71 Vgl. DALLINGER, Silvia: Grete-Rehor-Park, Grundstein für Entsatz-Denkmal. In: http://www.tuerkengedaechtnis.oeaw.ac.at/ort/grundstein-fur-ein-entsatz-denkmalam-schmerlingplatz (15.5.2013). 72 SACHSLEHNER, Johannes: Christus oder Mohammed. Kahlenberg. 12. September 1683. In: DERS.: Schicksalsorte Österreichs. Wien-Graz-Klagenfurt 2009, 105-119.

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ins Zentrum einer populistischen Politik. Im Jahr 2002 hatte der damalige St. Pöltner Diözesanbischof Kurt Krenn den Islam als „aggressive Religion“ bezeichnet: „Zwei Türkenbelagerungen waren schon, die dritte haben wir jetzt.“73 Anlässlich seines Ausländervolksbegehrens (1993) stellte der langjährige Vorsitzende der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), Jörg Haider (1950-2008), die polemische Frage: „Wozu haben unsere Vorfahren unser Land gegen die Türken verteidigt, wenn wir sie jetzt wieder hereinlassen?“74 Im EU-Wahlkampf 2009 warb der spätere Parteivorsitzende der FPÖ H.[einz] C.[hristian] Strache mit dem letztlich gegen die in Österreich lebenden Türken und den Islam abzielenden Slogan „Abendland in Christenhand“.75 Die Wirksamkeit des Türkenfeindbildes lässt sich dadurch erklären, dass es nach wie vor Identität stiftet, und zwar durch In- und Exklusion. So wie damals erscheint auch heute ein Sieg über die Feinde und ihre Vertreibung möglich. Diese Zuversicht griff nicht zuletzt auch der erwähnte FPÖ-Politiker H.C. Strache mit seiner Devise für den Wiener Gemeinderatswahlkampf 2010 auf: „Mehr Mut für unser Wiener Blut!“76

I DENTITÄT

DURCH I N - UND

E XKLUSION

Mit der Okkupation der osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina (1878) stellte sich mit Verspätung auch die Habsburgermonarchie in die Reihe der Kolonialmächte.77 Innerhalb der beiden osmanischen Provinzen wurde zwi-

73 ERTL, Josef: Die dritte Türkenbelagerung. Interview mit Kurt Krenn. In: Oberösterreichische Rundschau, 18.8.2002. 74 GINGRICH, Frontier Myths of Orientalism (wie Anm. 50), 104. 75 Zeit online, 30.4.2009. In: http://www.zeit.de/online/2009/18/europawahl-rechtspopulismus (15.5.2013). 76 Webauftritt von H.C. Strache. In: http://www.hcstrache.at (1.9.2010). 77 Aus postkolonialer Perspektive wird das Verhältnis zwischen Österreich-Ungarn und den okkupierten osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina zunehmend als ein koloniales aufgefasst. Diese Beurteilung teilten auch schon Zeitgenossen. Die Art des Kolonialismus wird zuletzt sehr differenziert beurteilt. Bosnien und Herzegowina werden u.a. als „proximate colony“ (Donia), als „semi“ bzw. „quasi“-colony (Detrez) oder als Objekt von „colonial governmentality“ (Aleksov) bezeichnet. Vgl. ALEKSOV, Bojan: Habsburg’s ‘Colonial Experiment’ in Bosnia and Hercegovina revisited. In: Schnittstellen. Gesellschaft, Nation, Konflikt und Erinnerung in Südosteuropa. Festschrift für Holm Sundhaussen zum 65. Geburtstag. Hg. v. Ulf BRUNNBAUER, Andreas HELMEDACH und Stefan TROEBST. München 2007 (Südosteuropäische Arbeiten 133),

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schen den „Nationaltürken“ und den „muhamedanisierten Südslawen“ eine gedankliche Trennlinie gezogen. Diese Art der Trennung sah vor allem der einflussreiche katholisch-konservative Wiener Politiker, Jurist, Historiker und Publizist Joseph von Helfert (1820-1910) vor, der – wie er selbst zugab – zwar nie in Bosnien oder in der Herzegowina gewesen war, in In- und Exklusionen auf der Grundlage von vorgestellten kulturellen Unterschieden aber die Chance auf Stärkung der staatsnationalen Identität Habsburgs erkannte: Zum einen sollten die „Nationaltürken“ wieder nach Asien zurückgedrängt werden, zum anderen sollte aber der islamisierte slawische „Volksstamm“ der Bosnier und Herzegowiner integriert werden, weil er „eines Stammes mit dem katholischen und dem orthodoxen“ wäre. Er spräche „ein und dieselbe Sprache“ und würde „einen großen Theil seines Ideenkreises“ mit diesem teilen.78 Dort also der grundverschiedene Türke, der Barbar, hier der islamisierte Slawe, der edle Wilde, der zivilisierungsfähig erschien. Im Ziehen dieser Trennlinie sollten die Ungarn federführend tätig werden. Der Historiker und Politiker Benjamin von Kállay (1839-1903) verortete die Ungarn selbst an der Schwelle zum Orient. Die Magyaren waren für ihn ein „orientalisches Volk”79, das sich nach tausend Jahren der Landnahme aber in Europa integriert und andere Völker aufgesogen habe. Als europäische Nation vermochten die Magyaren beide – Ost und West – zu verstehen.80 Im Zeichen dieses Überlegenheitsgefühls verwaltete Kállay als k.u.k. Finanzminister und Ziviladministrator die neue Kolonie: Die Bewohner wurden nach konfessioneller Zugehörigkeit in Griechen (Orthodoxe), Lateiner (Katholikinnen und Katholiken) und in Türken (Musliminnen und Muslime) kategorisiert, die nationalen Ansprüche wurden durch eine Politik der Konfessionalisierung von Zusammengehörigkeitsvorstellungen zu unterlaufen versucht.81 Den Bosniern und Herzegowinern wur-

201-216. – DONIA, Robert J.: The Proximate Colony. Bosnien-Herzegovina under Austro-Hungarian Rule. In: www.kakanien.ac.at (15.5.2013). – DETREZ, Raymond: Colonialism in the Balkans. Historic Realities and Contemporary Perceptions. In: www.kakanien.ac.at (15.5.2013). 78 HELFERT, Frhr. [Joseph] von: Bosnisches. Wien 1879, 259. 79 KÁLLAY, Benjamin von: Ungarn an den Grenzen des Orients und des Occidents. Budapest 1883, 47, 51. Vgl. zu Kállay den Beitrag von Ibolya Gerelyes in diesem Band. 80 Zu den unterschiedlichen Positionierungsstrategien vgl. HOFER, Tamás: Hungarians between „East“ and „West“: three essays on national myths and symbols. Budapest 1994. 81 Dazu ausführlich OKEY, Robin: Taming Balkan Nationalism. Oxford 2007, VII-XII, 26-29, 251-258.

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de eine multikonfessionelle bosniakische Identität zugesprochen. Diese staatsnationale Vision war mit der Absicht vereinbar, durch die spätere Annexion der „von altersher uns zugehörigen Landschaften“, „trotz aller Verwahrlosung[,] in der sie das bisherige türkische Regiment gehalten, trotz der Uncultur ihrer Bewohner […] ein homogenes in sich abgeschlossenes […] Ganze[s]“ zu schaffen, um somit einen „unberechenbaren Zuwachs der Machtsphäre“ zu verbuchen.82 Die Orientalisierung Bosnien-Herzegowinas erfüllte zwei Funktionen: Zum einen konnte durch die Differenzierung von sogenannten „Nationaltürken“ und islamisierten „Serbokroaten“ ein völlig unzivilisierter asiatischer Orient konstruiert und exkludiert werden; zum anderen konnte in Abgrenzung davon der ‚halbzivilisierte‘ europäische Orient aufgrund von Ähnlichkeiten in Sprache, Kultur und Religion und nach einer vorsichtigen, „in nichts aufdringlichen“ Zivilisierung inkludiert werden.83 Damit war im Hinblick auf die nationale Integration viel erreicht: Durch die Abwertung der Türken konnte sich Österreich-Ungarn als zivilisierte Staatsnation aufwerten; und zwar auf Kosten der osmanischen Invasoren, „halbwilden Asiaten“, die das Land „überflutet“ und mit „türkischer Miswirthschaft“, „lüderlichem Schlendrian“ und „muslimischer Tyrannei“ überzogen hatten.84 Zugleich demonstrierte der Multikonfessionalismus auch die Überlegenheit der Staatsnationsidee gegenüber den sprachnationalen Ansprüchen der südslawischen Völker.85 Allerdings griffen auch sprachnationale Aktivisten auf den Orientalismus als ausgrenzendes bzw. Identität stiftendes Mittel zurück: Das, was Milica Bakiü-Hayden als „nesting orientalism“ [verschachtelter Orientalismus] bezeichnet,86 war im Vielvölkerreich im Zuge sprachnationaler Selbstvergewisserung gang und gäbe. Dabei wurde der Orient dynamisch lokalisiert und der jeweils anderen, benachbarten bzw. nächstliegenden Sprachgruppe (Nationalität) zugeschrieben. Auf diese Weise ergab sich eine strukturierte Hierarchie der Selbstauf- und Fremdabwertung: Das deutschsprachige Bürgertum und der ma-

82 HELFERT (wie Anm. 78), 172. 83 Ebd., 285. 84 Ebd., 193f., 265, 273. 85 Vgl. FEICHTINGER, Johannes: Orientalismus und Nationalismus. Abgrenzungskonzepte in der Habsburgermonarchie und in der frühen Republik Österreich. In: Zonen der Begrenzung. Aspekte kultureller und räumlicher Grenzen in der Moderne. Hg. v. Gerald LAMPRECHT, Ursula MINDLER und Heidrun ZETTELBAUER. Bielefeld 2012 (Edition Kulturwissenschaft 18), 187-202, hier 190-195. 86 BAKIû-HAYDEN, Milica: Nesting Orientalisms. The Case of former Yugoslavia. In: Slavic Review 54/4 (1995), 917-931.

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gyarische Adel orientalisierten die Slawen; In Galizien behandelten polnische Aktivisten, die für ihre Gruppe durch Verhandlungen mit der Zentralmacht die Vormachtstellung erwirkt hatten, Ruthenen, Deutsche und Juden im Sinne des „nesting orientalism“; für die machtbewussten Vertreter der letzteren verkörperten die Schtetl-Juden den Orient. Im südslawischen Raum manifestierte sich diese Abwärtsspirale in einer Abwertung der Serben durch Magyaren und Kroaten und der islamisierten Südslawen durch jeden anderen der sich in diesen drei nationalen Gruppen identitätspolitisch engagierenden Akteure. Muslime und Juden wurden von allen anderen an das untere Ende in der Abwertungsskala gesetzt, jenseits der absoluten Zivilisationsgrenze – in dem von zeitgenössischen Autoren so bezeichneten Asien – wurden die Russen und Türken als Barbaren verortet und in dieser Abwertungsspirale als „Seuche“, als „wild“ und „asiatisch“ charakterisiert.87 Die Orientalisierungsprozesse innerhalb der Monarchie beruhten auf einer asymmetrischen Machtverteilung. Die Machthierarchien wiesen eine sehr komplexe Struktur auf, da die Sprachgruppen räumlich nicht strikt getrennt, sondern ineinander verzahnt waren und somit die Mehrheitsverhältnisse oftmals von Ort zu Ort variierten. Wer an einem Ort die Mehrheit stellte, war andernorts oftmals in der Minderheit. Die vorgestellten Zivilisationsgrenzen befanden sich daher nicht allein an den Rändern, sondern es lagen zivilisatorische Grenzen oftmals auch in den vorgestellten Zentren. Im mehrheitlich deutschsprachigen Raum wurde der Slawe als unter dem Österreicher, der sich als Deutscher definierte, stehend vorgestellt. Im polnischsprachigen Galizien aber stand letzterer – gleichauf mit den Juden, Rumänen und Ruthenen – unter den Polen, die ihrerseits angeblich mit den orthodoxen Juden Allianzen schlossen; dies mit dem jeweils gleichen Ziel, wie Karl Emil Franzos (1848-1904) notierte: „Aufrechterhaltung der Barbarei innerhalb des Judentums“. Die orthodoxen Juden Galiziens hätten die liberal und deutsch gesinnten Juden in einer Art Knechtschaft gehalten und

87 WENDLAND, Anna Veronika: Imperiale, koloniale und postkoloniale Blicke auf die Peripherien des Habsburgerreiches. In: Kolonialgeschichten. Regionale Perspektiven auf ein globales Phänomen. Hg. v. Claudia KRAFT, Alf LÜDTKE und Jürgen MARTSCHUKAT.

Frankfurt am Main-New York 2010, 211-235. – KAPS, Klemens/SURMAN,

Jan: Postcolonial or post-colonial? Post(-)colonial perspectives on Habsburg Galicia. In: Post-Colonial Perspectives on Habsburg Galicia. Hg. v. DENS. Kraków 2012 (= Historyka. Studia Metodologiczne T. 42), 7-35. – ZAYARNYUK, Andriy: Empire, Peasants. National Movements – Galician Postcolonial Triangle. In: Ebd., 133-149. – KUDELA-ĝWIĄTEK, Wiktoria/ĝWIĄTEK, Adam: The trap of colonialism ... The Ukrainians of Eastern Galicia. Colonised or Colonisers? In: Ebd., 257-287.

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in ihr Ghetto zurückgejagt, berichtete der deutsch fühlende Schriftsteller jüdischer Herkunft Franzos. Darin erkannte er eine wichtige Ursache für den wachsenden Antisemitismus in Galizien.88 Unter dem Vorzeichen des „nesting orientalism“ war somit keine Gemeinschaft, ob Nationalität oder Konfession, vor Orientalisierungen gefeit.

Z IVILISATORISCH - MISSIONARISCHER O RIENTALISMUS In einer anderen Ausprägung nahm der Orientalismus des 19. Jahrhunderts in der Habsburgermonarchie von Bedrohungs- und Siegesszenarien Abschied, denn er stellte den Orient als zivilisatorisch-missionarische Herausforderung vor. Vertreter dieser Variante sprachen in Bezug auf Habsburgs Grenzräume von „Uebergangsgebilden von bunter orientalisch-occidentalischer Färbung“.89 Das analoge Bild der Brücke wurde weniger im Zeichen der Begegnung als vielmehr unter dem Aspekt der Kulturvermittlung, der mission civilisatrice, verstanden. Die Zivilisierungsmission setzte eine völlig andere Orientwahrnehmung voraus als jene der im vorigen Abschnitt behandelten Identitätsstrategen (Politiker, Kirche, Wissenschaftler, Publizisten, Schriftsteller, Künstler usw.): Als Identität stiftender Anderer musste der Orientale als unzivilisierbar, weil grundverschieden vor- und dargestellt werden: der Türke als Barbar, wir als die Zivilisierten. Aus der Sicht des identitätsstrategischen Orientalismus galten islamisierte Slawen, deren Integration erklärtes Ziel war, als zivilisierungsfähig, die Türken (und Russen), die jenseits der Zivilisationsgrenze verortet wurden, aber als unzivilisierbar. Im zivilisatorisch-missionarischen Orientalismus wurde seine Funktion der Abgrenzung zugunsten der Idee der Zivilisierbarkeit der als grundverschieden vorgestellten Orientalen aufgegeben. Zwei Beispiele können davon Zeugnis ablegen: zum einen die Reform des Kunstgewerbes in Bosnien und Herzegowina durch die Okkupationsmacht Österreich-Ungarn; zum anderen die Aktivitäten des Orientalischen Museums in Wien. Das Orientalische Museum und die Kunstgewerbereformer näherten sich dem Orient zwar wohlwollend-konstruktiv, dahinter verbarg sich aber unübersehbar eine zivilisatorisch-missionarische Selbstermächtigung. Sie zeigt sich u.a. in der öffentlichen Zurschaustellung des Orients

88 Vgl. FRANZOS, Karl Emil: Halb-Asien. Land und Leute des östlichen Europa. Band 5. Stuttgart 1888, IX-XIII, XXII. 89 SCALA, Rudolf von: Über die wichtigsten Beziehungen des Orients zum Occidente in Mittelalter und Neuzeit, gehalten im Orientalischen Museum am 26. Jänner 1887. Wien 1887, 5.

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inmitten der Stadt Wien und in der Haltung, mit der auch das offizielle Österreich dem nahen Orient begegnete. So sah u.a. der in offizieller Mission in Sarajewo weilende Wiener Archäologe Moritz Hoernes (1852-1917) die primäre Aufgabe der österreichisch-ungarischen Verwaltung von Bosnien und Herzegowina in der „materiellen und geistigen Hebung der beiden Provincen aus dumpfer Barbarei“.90 Zentrale Ansatzpunkte stellten Kunst, Kultur und Handel dar. Zunächst sollte – wie die Kulturhistorikerin Diana Reynolds gezeigt hat91 – „der Geschmack der Einheimischen gereinigt“ und der überlieferte Stil dem Bedürfnis der Wiener Abnehmer angepasst werden.92 Zur Hebung des Kunsthandwerks gründete der habsburgische Zivilverwalter Benjamin von Kállay (1839-1903) 1888 in Sarajevo das ‚Bosnisch-Hercegowinische Landesmuseum‘,93 eine Kunstgewerbeschule und ein ‚Büro zur Wiedererweckung und Entwicklung des bosnisch-hercegowinischen Kunstgewerbes‘. Der bosnische Stil wurde in Wien verfeinert, Wolle bosnischer Herkunft in der Reichshaupt- und Residenzstadt gefärbt und zur Verarbeitung durch in der Metropole geschulte Weberinnen nach Sarajevo zurückgeschickt. Die Produkte – Teppiche und Kostüme – wurden schließlich von bosnischen Mannequins in Wien als bosnische Volkskunst öffentlich zur Schau gestellt.94 Die Reform des Kunsthandwerks ist nur ein Beispiel, das davon zeugt, dass die staatliche Kolonialverwaltung die zahllosen Aufforderungen österreichischer Bosnienreisender, „geordnete Zustände herbeizuführen“, ernst nahm oder, in anderen Worten, „den rohen Culturzustand“, die

90 HOERNES, Moritz: Bosnien und die Hercegovina. Wien 1889 (Die Länder Oesterreich-Ungarns in Wort und Bild 15), 74. 91 Vgl. REYNOLDS, Diana: Kavaliere, Kostüme, Kunstgewerbe. Die Vorstellung Bosniens in Wien 1878-1900. In: Habsburg Postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Hg. v. Johannes FEICHTINGER, Ursula PRUTSCH und Moritz CSÁKY. Innsbruck u.a. 2003 (Gedächtnis – Erinnerung – Identität 2), 243-257. 92 Vgl. den von Reynolds zitierten Artikel Neuösterreichs Hausgewerbe. In: Allgemeine Kunst-Chronik XIV (1890), 353. 93 Vgl. HARTMUTH, Maximilian: The Habsburg Landesmuseum in Sarajevo in its Ideological and Architectural Contexts. A Reinterpretation. In: Centropa 12/2 (2012), 194205. Das Bosnische Landesmuseum, das erste seiner Art im südosteuropäischen Raum, überlebte die Zeit habsburgischer Herrschaft, den SHS-Staat, das Königreich Jugoslawien, Tito-Jugoslawien, den letzten Balkankrieg (1992-1995), nicht aber die Auswirkungen des Friedensvertrags von Dayton. 2013 wurde es aufgrund von Finanzierungsschwierigkeiten in der dreigeteilten Republik Bosnien-Herzegowina geschlossen. 94 REYNOLDS (wie Anm. 91), 249-251.

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„geistige Erstarrung und sociale Versumpfung“ der „Mohamedaner“ „einer langsamen Umwandlung im Sinne der abendländischen Cultur und Civilisation zu unterziehen“.95 Von einer kolonialistisch-zivilisatorisch-missionarischen Haltung zeugt auch die Programmatik des Orientalischen Museums, das im Anschluss an die Wiener Weltausstellung von 1873 in Wien eröffnet wurde. Das Museum verfolgte das Ziel, durch Wissen, d.h. durch Sichtbarmachung der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Zustände des nahen und fernen Orients, den darniederliegenden Orienthandel zu beleben.96 Zu diesem Zweck wurde der vorherrschende, angstbesetzte Bollwerkdiskurs, der Türken und Österreicher voneinander trennte, aufgelöst und in einen Brücken- und Zivilisierungsdiskurs verwandelt: „The Ottoman menace“, schreibt Maureen Healy, „had become an Ottoman opportunity.“97 Der mit der Intensivierung wirtschaftlichen Austauschs verbundene zivilisatorische Auftrag spiegelt sich in der durch das Museum herausgegebenen Oesterreichischen Monatsschrift für den Orient wider. Der Museumsdirektor und Herausgeber Arthur von Scala zeichnete in dieser Zeitschrift nicht nur ein Bild vom Orient „als einer Welt für sich“, die sich nicht mit den „allgemeinen Schablonen der Cultur des Abendlandes“ beurteilen lasse,98 er verlieh in ihr auch der erhofften Zivilisierung Anatoliens Ausdruck: „Oesterreich’s Mission als Träger europäischer Cultur und Sitte nach dem benachbarten Osten schwebt uns vor Augen.“99 Die Zurückweisung des Bollwerknarrativs zugunsten der Zivilisierungserzählung stieß unter den vorhin genannten identitätsstrategischen Orientalisten zwangsläufig auf harsche Kritik. Der stockkonservative Meinungsmacher Joseph Alexander Helfert erhob im Jahr 1883 den Vorwurf der Turkophilie und bezog

95 SCHWEIGER-LERCHENFELD, Amand Freih[err] von: Bosnien. Das Land und seine Bewohner. Geschichtlich, geographisch, ethnographisch und social-politisch geschildert. Wien 1878, 154f. und 190. – Vgl. THOEMMEL, Gustav: Geschichtliche, politische und topographisch-statistische Beschreibung des Vilajet Bosnien, das ist das eigentliche Bosnien nebst türkisch Croatien, der Hercegovina und Rascien. Wien 1867, 200. 96 Vgl. Oesterreichische Monatsschrift für den Orient 1 (15. Jänner 1875), 2. – WIENINGER

(wie Anm. 49), 143-158. – Das Orientalische Museum (1876-1885). In: Das k.k.

österreichische Handels-Museum 1875-1900. Hg. vom CURATORIUM. Wien 1900, 6188. 97 HEALY, Maureen: 1883 Vienna in the Turkish Mirror. In: Austrian History Yearbook 40 (2009), 101-113, hier 112. 98 Oesterreichische Monatsschrift für den Orient 2 (15. Februar 1875), 1. 99 Oesterreichische Monatsschrift für den Orient 1 (15. Jänner 1875), 2.

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ihn vermutlich insbesondere auf die Vertreter des Orientalischen Museums – Mäzene, Wissenschaftler, Museumsmanager, Unternehmer und Vertreter der Ministerialbürokratie. In seinen Augen verkannten diese „turkophilen“ Akteure den wahren Charakter der Türken, der sich seit fünfeinhalb Jahrhunderten nicht geändert habe: Die Türken hätten sich nach 1683 zwar ehrlich und loyal gezeigt, wenn diese Maske aber gelüftet würde, käme wieder ihr „von dem europäischen so grundverschiedene[s] asiatische[s] Wesen“ zum Vorschein, nämlich: „Wortbruch, Treulosigkeit und Verletzung der Verträge“.100

P ARTIZIPATIVE O RIENTWISSENSCHAFT Schließlich lässt sich noch eine dritte Spielart des Umgangs mit dem Orient erkennen, die sich im Besonderen in den Arbeiten mancher Orientwissenschaftler der späten Habsburgermonarchie zeigt. In ihr repräsentiert der Orient nicht die Kehrseite des überlegenen Westens, ohne Stimme und als Objekt diskursiver Zuschreibung; er ist vielmehr ein Ort partizipativer Erkundung, der Neugierde weckt. Zugespitzt gesagt versteht sich die Orientwissenschaft, von der hier die Rede ist, als eine Erfahrungswissenschaft, die dem Orient und seinen Bewohnern weitgehend vorurteilslos gegenübertrat. Unterschiede wurden nicht dramatisiert, Ähnlichkeiten und Verflechtungen als Anregung aufgenommen und wissenschaftlich produktiv verwertet. Von dieser hier als partizipativ bezeichneten Spielart des Orientalismus in der späten Habsburgermonarchie nahm Said nicht Notiz. Diese noch unzureichend erforschte Art der Befassung mit dem Orient wird sichtbar vor dem Hintergrund der Jahrhunderte langen produktiven Auseinandersetzung habsburgischer Eliten mit dem Osmanischen Reich, dem Studium von Sprachen, dem Aufbau von Handelsbeziehungen und dem Austausch von Kultur. Im Zeichen dieser Tradition wurde der Orient im 19. Jahrhundert intensiv bereist. Der Zweck der Reisen bestand nicht darin, sich über alte Feindbilder oder zivilisatorische Missionen Identität zu verschaffen, sondern neues Wissen von teilweise dauerhaftem Wert zu akkumulieren. Zu den wichtigsten Vertretern dieser partizipatorischen Orientwissenschaft können die beiden Arabienforscher Eduard Glaser (1855-1905) und Alois Musil (1868-1944) gezählt werden, die sich mit der Kultur, Geschichte und Sprache der arabischen Halbinsel auseinandersetzten: Glaser bereiste den Süden, Musil

100 HELFERT (wie Anm. 66), 28-31.

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den Norden.101 Eduard Glaser kopierte Inschriften und sammelte Handschriften zur südarabischen Kultur, Alois Musil entdeckte in der Wüste Jordaniens den Kalifenpalast von Qusair Amra mit seinen Aufsehen erregenden Wand- und Deckenmalereien. Musil untersuchte auch Sitten, Gebräuche und Anschauungen der beduinischen Bevölkerung und veröffentlichte dazu 1928 sein Hauptwerk „The Manners and Customs of the Rwala Bedouins“. Glasers aus dem Nachlass publizierte Schriften sind in der Südarabienforschung nach wie vor anerkannt, und auch Musils Werk wird zu den Klassikern gerechnet. Während Glaser zeitlebens die akademische Anerkennung verwehrt blieb, wurde Musil 1909 der für ihn gegründete Lehrstuhl für biblische Hilfswissenschaften und arabische Sprache an der Wiener Universität anvertraut. Die Republik Österreich fand für den habsburgerloyalen mährischen Wissenschaftler keine Verwendung mehr. 1920 wurde er zum o. Professor für orientalische Hilfswissenschaften und modernes Arabisch an die Universität Prag berufen. Musil war nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Politiker und Militär.102 Am Vorabend und während des Ersten Weltkrieges war er in verschiedenen Missionen vor Ort tätig. Der als „Lawrence of Moravia“ bezeichnete Musil versuchte u.a. bestimmte nordarabische Stämme von Aufständen gegen die Osmanen, dem habsburgischen Bündnispartner, abzuhalten, während sein britischer Gegenspieler T.E. Lawrence andere nordarabische Stämme dazu ermutigte. Schon vor 1914 hatte Musil militärisch wertvolle topo-, karto- und fotografische Aufnahmen gemacht, so dass im Auftrag des britischen Außenministeriums eine Grenze zwischen Ägypten und dem osmanischen Palästina gezogen werden konnte.103 Trotz der militärischen Aufgaben, die er erfüllte, sah Musil sich – wie Gingrich schreibt – „selbst aber primär als Wissenschaftler und Diplomat.“104 In einem seiner Reiseberichte schrieb er: „Mehr als die tote, interessierte mich die lebende Natur der biblischen Länder. Es handelte sich in erster Linie darum, das Fühlen und Denken und die Lebensweise der heutigen Bewohner jener Gebiete genau zu studieren.“105 Um die Jahrhundertwende wirkten in Wien auch zwei heute wohl zu Unrecht völlig vergessene Indologen, auf die Hugo von Hofmannsthal verwies und die

101 Zu Glaser und Musil vgl. GINGRICH: Kulturgeschichte, Wissenschaft und Orientalismus (wie Anm. 50), 281-285. Zu Musil s. auch die Beiträge von Lemmen und Navrátilová in diesem Band. 102 Vgl. Ebd., 284. 103 Vgl. GELLNER, Ernst: Lawrence of Moravia. In: Times Literary Supplement, 19.8.1994, 12-14. 104 GINGRICH, Kulturgeschichte, Wissenschaft und Orientalismus (wie Anm. 50), 284. 105 MUSIL, Alois: Arabia Petraea. Band 3: Ethnologischer Reisebericht. Wien 1908, V.

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auch als Orientwissenschaftler bezeichnet werden können, die ihren Gegenstand weniger repräsentierten als ihm vielmehr eine Stimme verliehen – Karl Eugen Neumann (1865-1915) und Rudolf Kassner (1873-1959): Neumann fertigte als erster eine deutschsprachige Übersetzung sämtlicher kanonischer Schriften des Buddhismus an. Hofmannsthal verlieh ihm dafür im zweiten Wiener Brief den Titel des „größten Orientalisten der deutschen Nation“.106 Die philosophische Abhandlung ‚Der indische Gedanke‘ des ebenso verkannten Rudolf Kassner bezeichnete der Wiener Schriftsteller „gewiss als das Subtilste und Konziseste an Erkenntnis, das ein Mitteleuropäer, und vielleicht ein Europäer überhaupt, je über indisches Geisteswesen geschrieben hat.“107 Schließlich bot der Orient auch für methodenkritische Wissenschaftler wie z.B. den Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl (1858-1905) ein Untersuchungsfeld, auf dem er trotz zunehmender nationaler Abschließungsprozesse transnationale Verflechtungen sichtbar machen konnte. Als Kulturhistoriker und Denkmalpfleger widersetzte sich Riegl vehement den Versuchen seines Heidelberger Kollegen Georg Dehio (18501932), die Kunst als Vehikel nationaler Identitätsstiftung zu gebrauchen. Vergebens: Einige Kunstwissenschaftler sahen rückwirkend in ihm einen Wegbereiter nationaler Kunstgeschichtsschreibung, andere identifizierten in ihm einen Anwalt übernationaler Habsburg-affiner Kunstauslegung.108 Letztlich war Riegl aber darum bemüht, die Kunstgeschichte als eine empirisch-positivistische und von nationalpolitischen Anforderungen weitgehend autonome Kulturwissenschaft zu begründen. In einer Reihe von an der Wende zum 20. Jahrhundert veröffentlichten Monografien verdeutlichte er, dass sich die Ausbildung künstlerischer Formen der Vorstellung nationaler Kulturräume widersetzt.109 Anschaulich zeigte sich sein Kulturen verschränkender Kunstbegriff in den „Stilfragen“ von 1893, indem er nachwies, dass Arabeske und Ornamentik auf antike dekorative Motivtraditionen zurückreichten und die Formenwelt der Kunst, sei es die orien-

106 HOFMANNSTHAL, Wiener Brief [II] (wie Anm. 21), 186-188. 107 Ebd., 188-192. 108 Vgl. BAKOŠ, Ján: From Universalism to Nationalism. Transformation of Vienna School Ideas in Central Europe. In: Die Kunsthistoriographien in Ostmitteleuropa und der nationale Diskurs. Hg. v. Robert BORN, Alena JANÁTKOVÁ und Adam S. LABUDA. Berlin 2004 (Humboldt-Schriften zur Kunst- und Bildgeschichte 1), 79102. 109 RIEGL, Alois: Altorientalische Teppiche. Leipzig 1891. – DERS.: Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik. Berlin 1893. – DERS.: Die spätrömische Kunstindustrie nach den Funden in Österreich-Ungarn. Wien 1901.

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talische Kunst des Mittelalters, das kleinste Ornament ebenso wie der größte Monumentalbau, somit per se als transnational einzustufen war.110 Diese Tradition einer partizipativen Orientwissenschaft verblasste zusehends mit dem Zusammenbruch der Österreichisch-Ungarischen Monarchie 1918. In der Republik Österreich wurde das vor 1914 gesammelte Material systematisch aufgearbeitet und klassifiziert. Seine Auswertung fand unter zunehmend identitätsstrategischem, d.h. nunmehr rassistischem Vorzeichen statt. Durch das Verschwinden der direkten Auseinandersetzung mit dem Orient als wichtigstem Korrektiv der Orientrepräsentation setzte sich jener Typus des Orientalismus durch, wie ihn Edward W. Said beschrieb. Daher ist es wohl auch kein Zufall, dass Said in seinem Standardwerk Orientalism einen einzigen „Österreicher“ eingehend behandelt, nämlich den vom Nationalsozialismus vertriebenen Wiener Islamwissenschaftler Gustav Edmund von Grunebaum (1909-1972), der die islamische Welt Zeit seines Lebens als defizient darstellte. Grunebaum hatte als Professor für Near Eastern History (ab 1943 in Chicago, ab 1957 in Los Angeles) wesentlichen Anteil am Aufbau der Middle East Studies in den USA. 1966 wurde er auch zum ersten Direktor der Middle East Studies Association (MESA) ernannt. Unter seiner Mitwirkung, so Said kritisch, habe sich in den Vereinigten Staaten ein völlig reduktionistisches Islambild verfestigen können, das unterfüttert wurde von der dominanten Vorstellung eines „anomalen, unterentwickelten, minderwertigen Orient […], „ewig einförmig und der Selbstdefinition unfähig“; ein Orient- und Islambild, das laut Said wesentlich dem armchair-orientalist und Österreicher Grunebaum zu verdanken sei und dessen Merkmal darin bestehe, dass „die islamische Zivilisation“ von ihm als „kulturelle Synthese“ aufgefasst wurde, die „auf bedenkenlosen Anleihen bei der jüdisch-christlichen, der hellenistischen und der austro-germanischen [Zivilisation]“ beruhe und somit „definitionsgemäß von Plagiaten“ lebe und „aus eigener Kraft nicht erneuerungsfähig“ sei.111

R ESÜMÉE Die späte Habsburgermonarchie war nicht frei von Orientalismen. Im Unterschied zu den westeuropäischen Ausprägungen des Orientalismus äußerte sich

110 Vgl. FEICHTINGER, Johannes: Wissenschaft als reflexives Projekt. Von Bolzano über Freud zu Kelsen: Österreichische Wissenschaftsgeschichte 1848-1938. Bielefeld 2010, 188-211, hier 209f. 111 Zu Grunebaum vgl. SAID (wie Anmerkung 1), 340-343, 345, 350.

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jener darin, dass er weniger die Funktion der kolonialen Machtsicherung als vielmehr der nationalen Selbstvergewisserung durch In- und Exklusion erfüllte, für die er eine Schablone darstellte. Des Weiteren leistete er Zivilisierungsmissionen Vorschub. Wie in Westeuropa manifestierte sich auch der k.u.k. Orientalismus in Abwertungen: Diese bezogen sich aber weniger auf das absolut Andere, sondern vielmehr auf das relativ, d.h. naheliegende Andere. Damit die Orientalisierung als Identität stiftende Strategie funktionierte, musste den Orientalen eine wesenhafte Andersheit zugeschrieben werden, und sie mussten als ebenbürtige Feinde oder als unterlegene Barbaren vorgestellt werden. Von diesen differenzierten Zuschreibungen leiteten sich die besonderen Ausformungen ab, die der k.u.k. Orientalismus entwickelte: eine identitätsstrategische Spielart, in der der Orientale zum Feind aufgewertet wurde, und eine zivilisatorisch-missionarische Variante, der zufolge er als unterlegener Feind bzw. als vom unzivilisierten Feind unterworfener Freund einer kulturellen Mission unterzogen werden konnte. Diese Spielarten unterscheiden sich von einem partizipativen Zugang zum Orient. Signifikant ist, dass jener Teil der Orientwissenschaft der späten Habsburgermonarchie, von dem hier zuletzt die Rede war, den Orient nicht als passives Objekt diskursiver Zuschreibungen als solchen konstruiert und zur Selbstaufwertung missbraucht, sondern ihm durch Übersetzungen, ethnografische und kulturhistorische Studien seine Stimme lässt. In diesem Punkt unterscheidet sich ein wesentlicher Teil der Orientwissenschaft der späten Habsburgermonarchie vom Orientalismus der klassischen Kolonialmächte, den Edward W. Said in seinem Werk auf eindrucksvolle Weise analysiert hat. In einem anderen Punkt gleicht er ihm haarscharf: Was Österreich betrifft, stellte der Sieg von 1683 über die Osmanen den zentralen Ansatzpunkt hierfür dar. Der Orientalismus des 19. Jahrhunderts ist noch heute wirksam: Mit dem Türkensieg ließ sich der Orient barbarisieren, er blieb unheimlich und angstbesetzt. Mit seinen Repräsentationen, sei es der Islam oder konkreter die Chiffre „Türken“, wurde – wie gezeigt – Identitätspolitik gemacht. Die Angst ist nicht verschwunden, der Slogan von der drohenden „Dritten Türkenbelagerung“ wirkt in Österreich nach wie vor. In Bezug auf den Orientalismus scheint sich Friedrich Nietzsches Wort aus seinen „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ des Jahres 1874 einmal mehr zu bewahrheiten: „Orient und Occident sind Kreidestriche, die uns jemand vor unsre Augen hinmalt, um unsre Furchtsamkeit zu narren.“112

112 NIETZSCHE, Friedrich: Schopenhauer als Erzieher. In: DERS.: Unzeitgemäße Betrachtungen. Frankfurt am Main-Leipzig 2000 [11874], 185-279, hier 187.

Wo liegt das russische Morgenland? Orient-Diskurs und imperiale Herrschaft im Zarenreich K ERSTIN S. J OBST

Edward W. Said hat 1978 in seiner für die Entwicklung der postcolonial studies grundlegenden, zugleich aber heftig kritisierten Studie „Orientalism“ die – nach seiner Lesart – Komplizenschaft der akademischen Orientalistik mit den kolonialen Projekten der britischen, französischen und US-amerikanischen Imperien in den Blick genommen. Schon einige Jahre davor begannen Osteuropahistoriker, sich des komplexen Verhältnisses des Russländischen Reiches zu den Bewohnern seiner asiatischen Kolonien anzunehmen. Ein Beispiel dafür ist der 1972 von Wayne Vucinich herausgegebene Sammelband „Russia and Asia“1; dessen Untertitel – „Essays on the Influence on the Asian Peoples“ – schien die kolonialen Beziehungen allerdings als eine Einbahnstraße in Richtung der Peripherien zu definieren, in der die wechselseitigen Einflussnahmen zwischen den Kolonisierenden und den Kolonisierten eine untergeordnete Rolle spielten.2 Tatsächlich hatten die Autoren allerdings schon „vor Said“ diese Gegenseitigkeit fest im Blick. Auch wenn das Ignorieren des ‚orientalischen‘ Blicks auf den sogenannten Westen Said selbst häufig zum Vorwurf gemacht worden ist,3 war eine solche

1

Russia and Asia. Essays on the Influence of Russia on the Asian Peoples. Hg. v.

2

Zur Ehrenrettung sei allerdings bemerkt, dass die AutorInnen der einzelnen Beiträge

3

Die Zahl der kritischen Stellungnahmen am Konzept des Orientalismus ist Legion.

Wayne S. VUCINICH. Stanford 1972. sich keinesfalls auf diese Perspektive beschränkt haben. Stellvertretend seien hier nur zwei Arbeiten genannt: CLIFFORD, James: On Orientalism. In: The Predicament of Culture. Twentieth Century Ethnography, Literature, and

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Lesart bald nach der Veröffentlichung von „Orientalism“ kaum mehr möglich. So wurden in der Folge zahlreiche Arbeiten zumeist englischsprachiger Provenienz veröffentlicht, welche die Reziprozität des russisch-asiatischen encounters untersuchten und sich zugleich an den Thesen Saids abarbeiteten.4 Keiner der AutorInnen konnte dabei der Problematik ausweichen, dass das östliche Europa seit der Aufklärung aus der westeuropäischen Perspektive vielfach selbst als Zivilisation minderer Güte galt.5 Dies traf insbesondere auf das Zarenreich zu, welches sowohl Akteur als auch Objekt orientalistischer Projektionen war.6 Hin-

Art. Hg. v. DEMS., Cambridge, Mass. 1988, 255-276, hier 266. Wohl abwegend: OSTERHAMMEL,

Jürgen: Edward W. Said und die „Orientalismus“-Debatte. Ein Rück-

blick. In: Asien Afrika Lateinamerika 25 (1997), 597-607. 4

In Auswahl seien hier genannt: KALINOWSKA, Izabela: Between East and West. Polish and Russian Nineteenth-Century Travel to the Orient. Rochester, NY 2004 (Rochester Studies in Central Europe). – LAYTON, Susan: Russian Literature and Empire. Conquest of the Caucasus from Pushkin to Tolstoy. Cambridge [11994] 2005 (Cambridge studies in Russian literature). – RAM, Harsha: The Imperial Sublime: A Russian Poetics of Empire. Madison 2003 (Publications of the Wisconsin Center for Pushkin Studies). – Russian Subjects. Empire, Nation, and the Culture of the Golden Age. Hg. v. Monika GREENLEAF und Stephen MOELLER-SALLY. Evanston, Ill. 1998 (Studies in Russian literature and theory). – Russia’s Orient. Imperial Borderlands and Peoples, 1700-1917. Hg. v. Daniel R. BROWER und Edward J. LAZZARINI. Bloomington, Ind. 1997 (Indiana-Michigan series in Russian and East European studies). Die deutschsprachige Osteuropaforschung übernahm hingegen eher zögerlich das Saidsche Konzept. Vgl. zu den Gründen JOBST, Kerstin S.: „Orientalism“, E. W. Said und die Osteuropäische Geschichte. In: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 51 (2000), II. Halbband, 250-266. Eine sich um die russisch-englische Zeitschrift „Ab Imperio“ gruppierende internationale Historikerschaft hat wesentliche Beiträge zur Neubewertung des Russländischen Imperiums geleistet und sich dabei z.T. auch des Instrumentariums der postcolonial studies bedient: Novaja Imperskaja Istorija Postsovetskogo Prostranstva, Sbornik statej [Neue Imperialgeschichte des postsowjetischen Raums. Eine Aufsatzsammlung]. Hg. v. I. V. GERASIMOV u.a. Kazan´ 2004 (Biblioteka žurnala „Ab imperio”).

5

Dazu WOLFF, Larry: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization in the Mind of the Enlightenment. Stanford 1994.

6

Dies trifft im Übrigen auch auf andere Landimperien wie die Habsburgermonarchie oder das Osmanische Reich zu. Vgl. hierzu: JOBST, Kerstin S./OBERTREIS, Julia/VULPIUS, Ricarda: Imperiumsforschung in der Osteuropäischen Geschichte. Die Habsburgermonarchie, das Russländische Reich und die Sowjetunion. In: Ostmitteleu-

W O LIEGT

DAS RUSSISCHE

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zu kam das historische Verhältnis zwischen Russen und Muslimen, das im gemeinsamen eurasischen Grenzraum doch dauerhafter, vielfältiger und enger als in den meisten anderen europäischen Regionen gewesen war. Dem in österreichischen Diensten stehenden Diplomaten Charles Joseph de Ligne (1735-1814), der mit den Verhältnissen im Russland der Katharina II. (1729-1796) bestens vertraut war, wurde das Zitat zugesprochen: „Grattez le Russe, et vouz trouverez le Tatare“, und dieses entwickelte sich geradezu zu einem bon mot der Beschreibung des ‚irgendwie‘ nicht richtig zu Europa gehörenden Imperiums im Osten. Es trifft auch den innerrussischen Kontext recht gut, hatte die enge Verbindung zwischen den muslimischen und ostchristlichen Zivilisationen doch in verschiedenen historischen Kontexten immer wieder zu autoreflexiven Stilisierungen russischer Intellektueller als einer Art russisch-asiatischer Melange bzw. einer russischen Identität sui generis geführt – nicht europäisch, aber eben auch nicht asiatisch. Heutige RussInnen sehen dies offenbar ähnlich: Einer Umfrage des wichtigsten Meinungsforschungsinstituts des Landes, dem Levada-Centr, vom Februar 2007 zufolge halten sich mehr als siebzig Prozent der Befragten nicht für Europäer.7 Somit bleibt die zuletzt vom US-amerikanischen Historiker David Schimmelpenninck van der Oye gestellte Frage „Can we speak of a Russian Orientalism?“ höchst aktuell.8 Bei grundsätzlicher Anerkennung des Zusammenhanges von Wissen und Macht bei kolonialen Unternehmungen kommt er zu dem Ergebnis, der Saidsche Orientalismus sei im russischen Kontext „not wholly relevant“.9 Diese These ist nicht wirklich neu, war doch schon Said selbst davon überzeugt, das Zarenreich zeichne sich durch eine relative Abwesenheit orientalistischer Denkweisen aus; die Gründe für diese (Fehl-)Einschätzungen werden im Folgenden einleitend diskutiert. In diesem Beitrag werden zudem die unstrittigen Unterschiede zwischen russischem und ‚westlichem‘ Orientalismus dargelegt und die Frage nach der Funktion der Denkgewohnheit eines ontologisch un-

ropa transnational. Hg. v. Peter HASLINGER. Leipzig 2008 (= Sonderheft der Zeitschrift Comparativ 18/2), 27-56, hier 29-32. 7

Tagespiegel.de (vom 09.02.2007): Große Mehrheit der Russen fühlt sich nicht als Europäer. In: http://www.tagesspiegel.de/politik/international/umfrage-grosse-mehrheitder-russen-fuehlt-sich-nicht-als-europaeer/809096.html (02.01.2012).

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SCHIMMELPENNINCK VAN DER OYE, David: Russian Orientalism. Asia in the Russian Mind from Peter the Great to the Emigration. New Haven u.a. 2010. Der Autor untersucht die von Said vorgegebenen Parameter, also das vostokovedenie (Orientalistik) als auch culture im Allgemeinen.

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Ebd., 9.

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terlegenen orientalischen other im russischen Kontext gestellt. Dies wird vor dem Hintergrund der spezifischen historischen Genese des russländischen Imperiums geschehen. Ziel ist es aber auch, die offenkundigen Parallelen zum klassischen Orientalismus, wie Said ihn gefasst hat, aufzuzeigen. Es ist dabei zu fragen, inwieweit die von ihm beschriebenen britisch-französisch-US-amerikanischen Orientalismen wirklich als ‚Normalfall‘ gelten können. Muss dieses Bild nicht zwingend revidiert werden, allein schon um der Vielgestaltigkeit des globalen Phänomens des Imperialismus bzw. der Komplexität des imperial rule gerecht zu werden?10 War nicht vor allen Dingen das British Empire mit seiner zeitweise überbordenden Dominanz, dem Postulat der Freihandelswirtschaft, seinen neu-britischen Siedlerstaaten in Übersee im Konzert der Imperialmächte im langen 19. Jahrhundert eher die historische Ausnahme?11 Und beeinflusste dessen exzeptionelle Stellung nicht auch die Diskurse über den sogenannten Orient? Was bliebe dann noch vom vermeintlichen Sonderfall des russländischen Imperiums übrig? Die Auffassung, dass es nicht nur den einen, sich besonders an dem von Said so herausgestellten britischen Beispiel herauskristallisierenden „klassischen“ Orientalismus gibt, sondern auch andere Formen, setzt sich allmählich in den historischen Wissenschaften durch. Besonders Arbeiten zu den vermeintlich rückständigen Landimperien halfen bei der Erweiterung des orientalistischen Repertoires; mittlerweile werden Kategorien wie Mikrokolonialismus,12 Grenzlandorientalismus13 oder auch ein nicht-kolonialer Orientalismus fruchtbringend diskutiert.14

10 Für diese Terminologie plädieren MILLER, Aleksej/RIEBER, Alfred J.: Introduction. In: Imperial Rule. Hg. v. DENS. Budapest 2004, 1-8, hier 1f. Für die Beschreibung stark unterschiedlicher Großreiche erscheint er ihnen prägnanter und flexibler als der Begriff des Imperialismus. 11 Darauf weist OSTERHAMMEL, Jürgen: Rußland und der Vergleich zwischen Imperien. Einige Anknüpfungspunkte. In: Ostmitteleuropa transnational (wie Anm. 6), 11-26, hier 16, hin. 12 SIMONEK, Stefan: Möglichkeiten und Grenzen postkolonialistischer Literaturtheorie aus slawistischer Sicht. In: Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Hg. v. Johannes FEICHTINGER, Ursula PRUTSCH und Moritz CSÁKY. Innsbruck u.a. 2003 (Gedächtnis – Erinnerung – Identität 2), 129-140, hier 130f. Simonek diskutiert den Fall Österreich-Ungarn. Er geht davon aus, dass kolonialisierende Impulse nicht allein von deutsch-österreichischer bzw. ungarischer Seite ausgingen, sondern gleichsam von anderen Nationalitäten. Dies bezeichnet er als Mikrokolonialismus.

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Der bereits erwähnte Schimmelpenninck van der Oye macht folgende Gebiete russischen Orientinteresses aus: vom Osmanischen Reich seit dem 18. Jahrhundert über die Krim und den Kaukasus zu Beginn und China in der Mitte des 19. Jahrhunderts, Zentralasien in den 1870er Jahren und Südostasien im imperialistischen Wettstreit mit Japan an der Wende zum 20. Jahrhundert.15 Das bereits im 16. Jahrhundert eroberte Sibirien muss gleichsam dazugerechnet werden, wird von diesem Autor aber weitgehend außen vor gelassen. Damit liegt das russische Morgenland wenig erstaunlich in den zum Zarenreich gehörenden asiatischen Regionen. Bewohnt wurden diese Gebiete bekanntlich von teils muslimischen, teils paganen Ethnien. Zum russischen Orient zählten aber gleichwohl mal Europa, mal Asien zugerechnete Gebiete.16 Das russische Morgenland umfasste zudem auch Territorien, welche nach Said als Teile des ‚guten, alten Orients‘ zu gelten haben, eines Orients also, der einst eine Blüte erlebte, dann aber einem vom sogenannten Westen ausgemachten Degenerationsprozess unterworfen wurde. Hierzu zählen etwa die bereits früh christianisierten Regionen des heutigen Armeniens bzw. Georgiens, aber auch das von den europäischen Oberschichten in der Aufklärung ‚wiederentdeckte‘ klassische Taurien, also die 1783 von Katharina II. annektierte Halbinsel Krim am Nordufer des Schwarzen Meeres. Aus der hauptstädtischen Perspektive Moskaus oder St. Petersburgs befand

13 GINGRICH, Andre: Frontier Myths of Orientalism. The Muslim World in Public and Popular Cultures of Central Europe. In: Mediterranean Ethnological Summerschool, Piran/Pirano, Slovenia 1996. Hg. v. Bojan BASKAR und Borut BRUMEN. Ljubljana 1998 (MESS 2), 99-127, sowie DERS.: Österreichische Identitäten und Orientbilder. Eine ethnologische Kritik. In: Wir und die Anderen. Islam, Literatur und Migration. Hg. v. Walter DOSTAL, Helmuth A. NIEDERLE und Karl R. WERNHART. Wien 1999 (Wiener Beiträge zur Ethnologie und Anthropologie 9), 29-34. 14 Vgl. dazu den Beitrag von LEMMEN, Sarah: Noncolonial Orientalism? Czech travel writing on Africa and Asia around 1918. In: Deploying Orientalism in Culture and History. From Germany to Central and Eastern Europe. Hg. v. James HODKINSON, John WALKER, Shaswati MAZUMDAR und Johannes FEICHTINGER. Rochester, NY 2013 (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture), 352-383. 15 SCHIMMELPENNINCK VAN DER OYE (wie Anm. 8), Klappentext. 16 Im Zarenreich wurde 1730 die Grenze zwischen Europa und Asien entlang des Urals und der Kumo-Manyþ-Senke verlaufend festgelegt. Diese beruhte auf den Vermessungen des schwedischen Geographen Philip Johan von Strahlenberg (1676-1747), wurde außerhalb Russlands aber durchaus kontrovers diskutiert.

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sich das Morgenland ergo im Osten, im sogenannten vostok, was im Russischen jene Himmelsrichtung, aber ebenso gut ‚Orient‘ bedeutet. Das russische Morgenland lag jedoch keinesfalls nur dort, sondern auch im Süden, im Südosten und im Norden. Es ist damit geographisch genauso unklar definiert wie im westeuropäischen Kontext.

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Für Said war dies eigentlich schon ein eindeutiges Symptom für das Vorhandensein orientalistischer Denkgewohnheiten, wurden nach seiner Auffassung kulturelle und geographische Entitäten doch intellektuell konstruiert.17 Davon ist auch im russischen Fall zu sprechen. Gleichwohl befasste Said sich kaum mit dem russländischen Imperium bzw. ging recht gnädig mit der russischen professionalisierten Orientalistik um – wo er sie denn überhaupt erwähnte. Auch andere europäische Mächte blieben in seiner Untersuchung weitestgehend unberücksichtigt: Bereits auf der ersten Seite seines Werkes stellte er unmissverständlich klar, dass Deutsche, Spanier, Schweizer, Portugiesen und Italiener anders als Briten oder Franzosen keine ausgeprägte orientalistische Tradition hätten.18 Besonders die ihm recht ausführlich geratene Begründung für die Ignorierung der deutschen Orientalisten – etwa wegen ihrer eher philologischen Ausrichtung sowie dem erst nach der Reichsgründung in Angriff genommenen Aufbau eines Kolonialreiches – wurde von Kritikern Saids kommentiert.19 Die deutschsprachigen Orientwissenschaften erwiesen sich übrigens für den russischen Kontext als höchst relevant, war der Einfluss deutscher bzw. deutschstämmiger Orientalisten auf die Professionalisierung dieses Faches im Zarenreich doch von großer Bedeutung. Der Literaturwissenschaftler Said ging davon aus, Engländer und Franzosen hätten weitaus länger in einem Imperium gelebt als Russen bzw. dessen imperiale Eliten. Infolgedessen seien orientalistische Denkgewohnheiten bei diesen weitaus tiefer verwurzelt gewesen als im Zarenreich. Hier zeigte sich der Autor

17 SAID, Edward W.: Orientalism. Western Conceptions of the Orient. London 31995 [11978], 4f. 18 Ebd., 1. 19 Zusammenfassend dazu LOIMEIER, Roman: Edward Said und der Deutschsprachige Orientalismus. In: Stichproben. Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien 1/2 (2001), 63-85, sowie IRWIN, Robert: Edward Said´s Shadow Legacy. In: Times Literary Supplement, 7.5.2008, der zudem auf die große Bedeutung ungarischer Orientalisten im 19. Jahrhundert hinweist.

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allerdings schlecht informiert, denn bereits in der Mitte des 16. Jahrhunderts hatte der Moskauer Staat mit der Aneignung fremder Territorien und ‚fremder‘ Gruppen begonnen: Schon 1552 und 1554 waren die Chanate von Kazan´ und Astrachan erobert worden, und bereits 1582 erfolgte das Ausgreifen in den sibirischen Raum. Die koloniale, zu diesem Zeitpunkt allerdings transkontinentale Expansion des Moskauer Staates fand somit parallel zu der anderer Imperien statt. Ob damit unmittelbar auch orientalistisch geprägte Gedankenwelten, eine Essentialisierung des Fremden bei Eroberern, Kolonisierern und Künstlern entstanden waren, ist in der Forschung freilich umstritten.20 Spätestens mit der im 18. Jahrhundert erfolgten russischen Expansion in die südlichen Steppengebiete bildeten sich jedenfalls konkrete imperiale Projektionen auf das ‚orientalisch‘ Fremde aus.21 Unzutreffend war auch Saids in seinem Buch „Culture and Imperialism“ aufgestellte Behauptung, das Zarenreich habe sich ausschließlich transkontinental ausgebreitet.22 Verwiesen sei hier nur auf den überseeischen Besitz Alaska, den das Zarenreich mehr als ein Jahrhundert (1741-1867) gehalten hat, sowie auf die Errichtung verschiedener Handelsstützpunkte an der kalifornischen Westküste sowie Hawaiis.23

20 RYWKIN, Michael: Introduction. In: Russian Colonial Expansion to 1917. Hg. v. DEMS. London-New York 1987, I-XVI, hier XII, geht davon aus, dass seit dem Ende des 16. Jahrhunderts das muslimische Fremde im russischen Diskurs als minderwertig galt. Dagegen argumentiert DICKINSON, Sara: Russia’s First “Orient”. Characterizing the Crimea in 1787. In: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 3/1 (2002), 3-25, hier 3, Asien sei bis zum Ende des 18. Jahrhunderts insgesamt nicht als fremd oder minderwertig präsentiert worden. 21 SUNDERLAND, Willard: Taming the Wild Field: Colonization and Empire on the Russian Steppe. Ithaca-New York 2004. – KHODARKOVSKY, Michael: Russia’s Steppe Frontier: The Making of a Colonial Empire, 1500-1800. Bloomington 2002 (Indiana-Michigan Series in Russian and East European Studies). 22 Hier zitiert nach der deutschen Ausgabe: SAID, Edward W.: Kultur und Imperialismus. Frankfurt am Main 1994, 45. 23 Die nördlich von San Francisco gelegene Stadt Fort Ross beispielsweise war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Zentrum russischer Siedlungstätigkeit an der kalifornischen Küste. Vgl. hierzu ALEKSEEV, Alexandr I.: The Destiny of Russian America 1741-1867. Kingston, Ont. 1990 (Alaska history 34). – The Russian American Colonies 1789-1867. Hg. v. Basil DMYTRYSHIN, E. A. P. CROWNHARTVAUGHAN und Thomas VAUGHAN. Portland 1989. – WINKLER, Martina: Another America: Russian mental discoveries of the North-west Pacific region in the eighteenth and early nineteenth centuries. In: Journal of Global History 7/1 (2012), 27-50.

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Man mag diese seine Urteile über das russländische Imperium auf Saids mangelnde Kenntnis der russischen Literatur, der Schriften russischer Orientalisten oder Proto-Ethnographen und der russischen Geschichte (und Sprache) insgesamt zurückführen und entschuldigen, war er doch ein Spezialist für westeuropäische Literaturen. Gleichwohl seien zur Beantwortung der Frage nach dem Charakter und der Funktion eines spezifischen russischen Orientalismus doch einige grundsätzliche Überlegungen erlaubt: Auch eine, wie im russischen Fall, transkontinentale Expansion und die daraus folgende Inbesitznahme fremden Gebiets begründete erst einmal und ganz grundlegend eine Herrschaftsbeziehung. Das heißt, dass sich für die in der einen oder anderen Form unter russische Herrschaft gelangten indigenen Gruppen der Gestaltungsraum der eigenen Lebenswelten reduzierte. Der bei Landimperien häufig zu konstatierende inklusivere koloniale encounter mag vielfach durch die unmittelbare, auch räumliche Präsenz der Imperialmacht sogar nachhaltiger spürbar gewesen sein als wenn die Herrschaft von einer Macht jenseits der Meere ausgeübt worden wäre.24 Die Pionierarbeit der früh professionalisierten englischen und französischen Orientalistik bei der Ausformung eines essentialisierten, westlichen Orientbildes zog Said ebenfalls als Erklärung für die Beschränkung seines Untersuchungsfeldes heran.25 Geradezu als Meilenstein galt ihm die 1795 in Paris neugegründete „École spéciale des langues orientales“. Deren Arbeit war auf das Engste mit dem für die Argumentation Saids so zentralen Wirken des Arabisten Silvestre de Sacy (1758-1838) verbunden und stand im Kontext der wissenschaftlichen Begleitung von Napoleons sogenannter Ägyptischer Unternehmung von 1798.26 Allerdings gibt es hierzu im russischen Fall durchaus eine Parallele. Bereits 1815 hatte man dort das Moskauer Lazarev-Institut für orientalische Sprachen (Lazarevskij institut vostoþnych jazykov) gegründet. Dessen Schwerpunkt lag in der Erforschung der Sprachen des Kaukasus, also der Region, auf die sich seinerzeit der Eroberungswille des Zarenreichs kaprizierte. Auch im russischen Fall stand die Professionalisierung von Ethnographie und Orientalistik also in engem Zusammenhang mit der imperialen Ausdehnung.27 Dieser Kontext wurde bereits

24 Darauf hat für das Russländische Reich nicht zuletzt KAPPELER, Andreas: Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall. München 1992, 56, nachdrücklich hingewiesen. 25 SAID, Orientalism (wie Anm. 17), 1. 26 Vgl. dazu Ebd., 83-89. 27 Zur Geschichte der russischen Orientalistik s. neben Schimmelpenninck van der Oye u.a. FRYE, Richard N.: Oriental Studies in Russia. In: VUCINICH (wie Anm. 1), 30-51 und 369-375. – BATUNSKY, Mark: Racism in Russian Islamology: Agafangel Krims-

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von russischen Forschern im Zarenreich erkannt, und es galt, ihn zum Wohl der eigenen Disziplin zu nutzen: Die Wissenschaft der Orientalistik böte konkrete Hilfe für die politischen und ökonomischen Interessen des Russländischen Reichs, so diente sich z.B. ein russischer Orientalist 1856 der Staatsmacht anlässlich der Eröffnung der St. Petersburger Orientalistischen Fakultät an.28 Das durch das geopolitische ‚Schicksal‘ Russlands determinierte transkontinentale Ausgreifen wurde von Orientalisten vielfach als ein besonderer Vorteil gedeutet, ließ sich das Morgenland doch quasi im eigenen Vaterland studieren. Dass es innerhalb der Orientalistik und ihrer benachbarten Disziplinen interne Differenzen über die Bewertung des sogenannten Orients gab, gestand Said zu.29 Und dies gilt selbstredend auch für den russischen Fall, für den Schimmelpenninck van der Oye angesichts der Vielfalt fast resignierend feststellen muss: „It is impossible to reduce Russian scholars of Asia to a single type.“30 Es gab Orientalisten, welche sich fast schwärmerisch ihrem Untersuchungsgegenstand zuwandten,31 daneben jedoch auch solche, denen man so etwas wie ein objektives Interesse an ihm zu bescheinigen vermag. Derartige Objektivität freilich

ky. In: Central Asian Survey 4 (1992), 75-84. – DERS.: Russian Clerical Islamic Studies in the Late 19th and Early 20th Centuries. In: Ebd., 6 (1994), 213-235. – WHITTAKER, Cynthia H.: The Impact of the Oriental Renaissance in Russia. The Case of Sergej Uvarov. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 26 (1978), 503-524. Vgl. auch die Arbeiten von BARTOL’D, Vasilij V.: Istorija izuþenia Vostoka v Evrope i Rossii [Geschichte der Erforschung des Orients in Europa und Russland]. Leningrad ²1925. Vgl. auch die französische und die deutsche Version: DERS.: La découverte de l’Asie. Histoire de l’orientalisme en Europe et en Russie. Paris 1947. – DERS.: Die geographische und historische Erforschung des Orients mit besonderer Berücksichtigung der russischen Arbeiten. Frankfurt am Main 1995 (Publications of the Institute for the History of Arabic-Islamic Science, Islamic Geography 242), ein Reprint der Ausgabe Leipzig 1913. 28 Reþ’ po sluþaju otkrytija v S. Peterburgskom universitete fakul’teta vostoþnych jazykov, proiznesennaja dekanom onogo, ord. prof. Kazembekom [Rede aus Anlass der Eröffnung der Fakultät der orientalischen Sprachen an der Universität St. Petersburg, gehalten von einem Dekan, dem ordentlichen Professor Kazembek], in: ŽMNP (Žurnal Ministerstva Narodnogo Prosvešþenija [Journal des Ministeriums für Volksaufklärung]) 23 (1856), Bd. 87, Teil 2, 12-22. 29 Vgl. hierzu u.a. SAID, Orientalism (wie Anm. 17), 96. 30 SCHIMMELPENNINCK VAN DER OYE (wie Anm. 8), 9. 31 Vgl. Ebd., 151, das Beispiel des orthodoxen Geistlichen und Sinologen Vater Hyacinth, welcher „was perhaps too sympathetic to those he studied.“

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durfte es nach Said gar nicht geben, konstatierte er doch mit dem ihm eigenen Hang zur Polemik: „It is […] correct that every European, in what he [sic!] could say about the Orient, was consequently a racist, an imperialist, and almost totally ethnocentric.”32 Zu den eher unvoreingenommenen russischen Orientspezialisten zählten u.a. der Turkologe Vasilij D. Smirnov (1846-1922), der ein Standardwerk zur Geschichte des Krim-Chanats verfasst hatte,33 der Linguist Nikolaj I. Il´minskij (1822-1892)34 oder der den Systemwechsel von 1917/18 recht mühelos überstanden habende deutschstämmige Islamwissenschaftler Vasilij V. Bartol´d (1869-1930), dessen Arbeiten immer wieder in westliche Sprachen übersetzt worden sind.35 Allerdings offenbart auch die Betrachtung der Werke dieser Spezialisten ein grundsätzliches Problem des Saidschen Orientalismus, veränderten sich doch deren Auffassungen über den von ihnen erforschten Orient im Verlauf ihres Lebens und der Zeitläufe: Für alle drei lässt sich nämlich feststellen, dass sie mit zunehmendem Alter deutlich islamkritischer wurden bzw. ihre Wissenschaft unumwunden in den Dienst des ‚Vaterlandes‘ und des kolonialen Projekts stellen wollten.36 Daneben gab es besonders in der von einer stark russifizierenden Politik gegenüber Nichtrussen geprägten Ära Zar Alexanders III. (ab 1881) noch Spezialisten, welche dem von Said beschriebenen klassischen Orientalisten-Typus besonders entsprachen. Diese sahen es ohne Einschränkungen und biographische Konjunkturen als die vornehmste Aufgabe ihrer Disziplin an, die russische Zivilisierungsmission gegenüber den sogenannten Fremdstämmigen (inorodcy) wissenschaftlich zu begleiten. Viele von ihnen traten für eine schnelle Russifizierung der nichtrussischen Gruppen ein und gingen von einer ontologischen Unterlegenheit des muslimischen und asiatischen Fremden aus.37

32 SAID, Orientalism (wie Anm. 17), 204. 33 SMIRNOV, Vasilij D.: Krymskoe Chanstvo pod verchovenstvom Otomanskoj Porty do naþala XVIII veka [Das Krim-Chanat unter der Oberherrschaft der Osmanischen Pforte bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts]. S-Peterburg 1887. 34 Ausführlich zu dessen Wirken SCHIMMELPENNINCK VAN DER OYE (wie Anm. 8), 129-139. 35 Auf Deutsch erschien zuletzt BARTOL´D, Vasilij V.: Das kulturelle Leben in Turkistan. Zur Geschichte des turkmenischen Volkes. Berlin 2009, dessen russische Originalausgabe 1927 erstmalig veröffentlicht worden war. 36 Zu Ill´minskij vgl. SCHIMMELPENNINCK VAN DER OYE (wie Anm. 8), 138f. Zu Bartol´d und Smirnov vgl. JOBST, Kerstin S.: Die Perle des Imperiums. Der russische Krim-Diskurs im Zarenreich. Konstanz 2007 (Historische Kulturwissenschaft 11), 178. 37 FRYE, Oriental Studies in russia (wie Anm. 27), 46.

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Said war, wie gezeigt wurde, mit seinem Urteil über die relative Abwesenheit orientalistischer Denkgewohnheiten im Zarenreich also auf dem Holzweg. Vermutlich spielten dafür unter anderem autobiographische und politische Gründe eine Rolle: Der palästinensisch-stämmige Protestant, der freilich schon seit seiner Jugend in den Vereinigten Staaten von Amerika lebte,38 war lebenslang ein teilweise recht feuriger (und zuweilen selbst von arabischer Seite nicht unumstrittener) Vorkämpfer der Rechte der Palästinenser. Die Sowjetunion ihrerseits hatte die arabischen Positionen gegenüber Israel und damit auch der USA lange Zeit unterstützt. Die UdSSR vermochte sich wenigstens bis zum Einmarsch in Afghanistan 1979/80 nicht gänzlich ohne Erfolg als dezidiert antikoloniale Macht zu stilisieren und zugleich (zumindest phasenweise) das imperiale Russland als vergleichsweise weniger rabiate Kolonialmacht propagandistisch zu inszenieren.39 Dies mag ebenfalls zu Saids gnädiger Bewertung russischer Haltungen gegenüber dem sogenannten Orient beigetragen haben.40

Ü BER DIE IMPERIALE R EICHSSTRUKTUR DES Z ARENREICHS UND ORIENTALISTISCHE T OPOI Said wurde für seine Darstellung eines westlichen, essentialisierten OrientBildes nicht ohne Berechtigung kritisiert, trug er doch weder der Vielfalt der Auffassungen in den professionalisierten Wissenschaften insgesamt noch der innerhalb des Œuvres eines Autors genügend Rechnung. Hinzu kam die Ignorierung der Bandbreite ausgeübter imperialer Herrschaft schon innerhalb eines Imperiums, vor deren Hintergrund sich die Diskurse über das Fremde entwickelten; beispielsweise ist es ein Allgemeinplatz, dass sich die britische oder französische Herrschaft über die weißen Siedlungskolonien oder Regionen, welche dem ver-

38 Vgl. hierzu auch die sich auf seine Jugendzeit beschränkenden Memoiren SAID, Edward: Out of Place. A Memoir. London 1999. 39 SHTEPPA, Konstantin F.: The Lesser Evil Formula. In: Rewriting Russian History. Hg. v. Cyril E. BLACK. New York 1956, 107-120. 40 Vgl. hierzu auch TOLZ, Vera: European, National, and (Anti-)Imperial. The Formation of Academic Oriental Studies in Later Tsarist and Early Soviet Studies. In: Orientalism and Empire in Russia. Hg. v. Michael DAVID-FOX, Peter HOLQUIST und Alexander MARTIN. Bloomington, Ind. 2006 (Critical Historical Studies 3), 107-134, hier 133f., welche sich u.a. mit den Quellen auseinandergesetzt hat, auf denen Saids Äußerungen zum russischen Orientalismus basieren.

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gangenen ‚guten‘ Orient zugerechnet wurden,41 in erheblichem Maße von der imperial rule etwa in Schwarzafrika unterschied. Gerade diese Diversität aber sollte genauer betrachtet werden. Und von diesem Befund ausgehend muss vor allem das Wechselspiel zwischen imperialer Herrschaft und Diskurs in den Blick genommen werden – und zwar nicht nur durch die Geschichtswissenschaft. Den Einfluss orientalistischer Stereotype auf koloniale Praktiken gilt es dabei genauer als bisher auszuloten. Welche Ergebnisse liegen hier bislang für das Russländische Reich vor? In welchem Maß beeinflusste die strukturelle Verfasstheit dieses Imperiums orientalistische Denkweisen oder umgekehrt? In seinem 2006 erschienenen Buch „Among Empires“ geht der US-amerikanische Historiker Charles M. Maier recht verallgemeinernd von einer einheitlichen, stark autoritären Reichsstruktur des russländischen Imperiums aus.42 Herrschaft sei dort – wie in anderen Kolonialreichen auch – mittels institutionalisierter transnationaler Eliten-Netzwerke, imperialer Grenzregime und eines teils strukturellen, teils physischen GewaltRepertoires gesichert worden. Tatsächlich bestand bis zum Auseinanderbrechen des Zarenreichs eine Vielzahl unterschiedlicher Formen der Herrschaftsausübung nebeneinander: Der rechtliche Status der Bewohner kolonialer Peripherien, das Ausmaß der Eingriffe in indigene Lebenswelten und der Grad mentaler Einvernahme der Kolonien durch die Metropole nahmen insgesamt recht unterschiedliche Ausmaße an. Regionen wie der südliche Kaukasus oder die Krim mit ihrem großen Anteil muslimischer Bewohner z.B. waren rechtlich und ökonomisch einer inklusiven Politik ausgesetzt.43 Mit dem Emirat von Buchara und dem Chanat von Chiva gab es daneben klassische Protektorate, wie sie auch aus anderen Imperien bekannt sind. Dort kontrollierte die russische Macht zwar Wirtschaft und Außenpolitik, die gesellschaftliche und kulturelle Verfasstheit

41 Als ein Beispiel nennt SAID, Orientalism (wie Anm. 17), 99, Indien, welches im British Empire eine besonders exponierte Rolle einnahm, die er auf die Anerkennung einer glorreichen Vergangenheit durch die Engländer zurückführte: „[T]he ‚good‘ Orient was invariably a classical period somewhere in a long-gone India“. 42 MAIER, Charles M.: Among Empires. American Ascendancy and its Predecessors. Cambridge, Mass. 2006, 43. 43 Dies bedeutete u.a., dass in diesen Gebieten, anders als z.B. in Zentralasien, die sogenannten Großen Reformen seit den 1860er Jahren ohne Einschränkungen umgesetzt wurden. Zur Justizreform vgl. BABEROWSKI, Jörg: Autokratie und Justiz. Zum Verhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Rückständigkeit im ausgehenden Zarenreich, 1864-1914. Frankfurt am Main 1996, 339-427.

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hingegen blieb weitgehend unangetastet.44 Im Russländischen Reich war 1822 mit dem „Statut über die Verwaltung der Fremdstämmigen“ (Ustav ob upravlenie inorodcev) eine besondere Rechtskategorie für eine große Zahl der nichtslawischen Bewohner des Zarenreichs geschaffen worden. Die muslimischen, animistischen und nomadisch wirtschaftenden Bewohner etwa Sibiriens, Zentralasiens oder des nördlichen Kaukasus fielen darunter. Sie standen außerhalb des Rechtskodex der zentralrussischen Gebiete. Ursprünglich sollte das Statut helfen, deren spezifische Lebensumstände auch administrativ zu berücksichtigen. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff des inorodec (Fremdstämmiger) allerdings zunehmend pejorativ verwendet und über dessen mangelnde Kulturfähigkeit debattiert.45 Den tatarischen Bewohnern der Halbinsel Krim oder der Wolga-Kama-Region wurde hingegen ein gewisser Zivilisationsgrad insofern nicht abgesprochen, als dass sich ihre Rechte und Pflichten nicht wesentlich von denen der russischen Untertanen unterschieden. Ihre weltlichen Eliten waren weitgehend kooptiert worden. Die Landbevölkerung war z.T. sogar besser gestellt als ihr soziales Pendant in den russischen Kernländern, wurde sie doch nicht in die bis 1861 im Zarenreich existierende Leibeigenschaft gezwungen. Darüber hinaus behielt diese – zumindest in der Theorie, nicht unbedingt immer in der Praxis – eine Reihe ihrer tradierten Privilegien gegenüber den Großgrundbesitzern.46 Dennoch ging diese im Vergleich mit anderen Imperien vergleichsweise günstige Rechtsstellung zumindest einiger indigener Gruppen keinesfalls mit der Abwesenheit orientalistischer Einschreibungen einher. Vielmehr zeigt sich, dass auch die russischen imperialen Eliten seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die klassisch gewordene Zivilisierungsmission in das Reper-

44 Vgl. hierzu grundlegend KAPPELER (wie Anm. 24). Vgl. auch im Überblick JOBST, Kerstin S.: Die transkontinentale Expansion im Zarenreich. In: Imperialkriege von 1500 bis heute. Strukturen, Akteure, Lernprozesse. Hg. v. Tanja BÜHRER, Christian STACHELBECK und Dierk WALTER. Paderborn-München 2011, 55-72. 45 SLOCUM, John W.: Who, and When, Were the Inorodtsy? The Evolution of the Category of ‘Aliens’ in Imperial Russia. In: Russian Review 57 (1998), 173-190. 46 Dies wurde von russischer Seite häufig mit Rekursen auf eine antizipierte kulturelle Rückständigkeit tatarischer Bauern beklagt. Vgl. z.B. MORDVINOV, Nikolaj S.: O povinnostjach poseljan za zemlju v Krymu [Über die Verpflichtungen der Siedler für den Boden auf der Krim], 18.11.1820. In: Archiv Grafov Mordvinovych. Predislovie i primeþanija V. A. Bil’basova [Das Archiv des Grafen Mordvinov. Vorwort und Erläuterungen von V. A. Bil’basov], Bd. 5, S-Peterburg 1902, 521-540. Vgl. die Interpretation des klassischen orientalistischen Repertoires dieses russischen Großgrundbesitzers bei JOBST, Perle (wie Anm. 36), 225-232.

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toire ihrer Legitimierungsstrategien aufgenommen hatten. Legendär ist das Zirkular des Außenministers Aleksandr M. Gorþakov (1798-1883) an die europäischen Großmächte von 1864, in dem er von der Verpflichtung Russlands als zivilisiertem Staat sprach, den „halbwilden, umherschweifenden Völkerschaften ohne feste gesellschaftliche Organisation […] ruhigere Sitten“ beibringen zu müssen.47 Unabhängig vom Rechtsstatus der eroberten Gruppen als inorodcy48 bzw. als relativ privilegierte Untertanen49 schöpfte man das orientalistische Repertoire mit seinen dichotomischen Konstruktionen voll aus: So galten nomadische Kulturen gegenüber Sesshaften als minderwertig, (orthodoxe) Christen als leistungsfähiger und loyaler als (männliche) Muslime, welche ohnehin häufig als degeneriert, unwandelbar, gefährlich, unordentlich, unsauber und schwer erziehbar beschrieben wurden.50 Daneben kursierte wie im Westen auch die Figur des ‚guten Wilden‘ durch die zeitgenössische Literatur und Publizistik,51 vor allen Dingen in der Romantik. Dieser Typus korrespondierte zuweilen mit einer odaliskengleichen oder ‚typisch orientalischen‘, d.h. bedingungslos/wild liebenden ‚Fremden‘, welcher der russische Schriftsteller Michail J. Lermontov (18141841) mit seiner Figur der Bela ein Denkmal gesetzt hat.52 In jedem Fall bleibt festzuhalten, dass der von Said ausgemachte manifeste Orientalismus im Russländischen Reich durchaus existierte und auf dem Feld des Wissens oder auch der direkten Begegnung mit dem Fremden entstand. Daneben entwickelte sich der aus der Imagination gespeiste latente Orientalismus. In den von imperialen

47 Zitiert nach TATIŠýEV, S. S.: Imperator Aleksandr II. Ego žizn´ i carstvovanie [Der Herrscher Alexander II. Sein Leben und seine Regierungszeit], Bd. 2, S-Peterburg 1903, 115f. 48 Vgl. dazu als Beispiel eines Diskurses über die sogenannten Fremdstämmigen in Kürze FRANK, Susi K.: Imperiale Aneignung. Diskursive Strategien der Kolonisation Sibiriens durch die russische Kultur. Paderborn 2013. 49 Zur ‚privilegierten‘ Krim JOBST, Perle (wie Anm. 36), besonders 117-286. 50 Es gibt zudem Beispiele für mehr oder weniger subtile Effeminisierungen des männlichen Fremden, vgl. z. B. JOBST, Kerstin S.: Bilder des indigenen Kriegers in der russischen Kultur. In: Soldaten im Einsatz. Sozialwissenschaftliche und ethische Reflexionen. Hg. v. Stefan BAYER und Matthias GILLNER. Berlin 2011 (Sozialwissenschaftliche Schriften 49), 185-201, besonders 195-197. 51 Grundlegend dazu LAYTON (wie Anm. 4), sowie DIES., Nineteenth-Century Russian Mythologies of Caucasian Savagery. In: Russia’s Orient (wie Anm. 3), 80-100. 52 Michail J. Lermontovs Roman „Ein Held unserer Zeit“ entstand zwischen 1837 und 1840. Die Orientalin Bela liebt den Protagonisten, den Russen Peþorin, aufrichtig, aber ohne Hoffnung auf eine lange und glückliche Beziehung.

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Eliten geführten Orientdebatten wurde vielfach eine asymmetrische Beziehung zwischen zivilisierten Russen/orthodoxen Gläubigen und minderentwickelten, essentialisierten ‚Orientalen‘ beschrieben – unabhängig davon, ob diese nun nomadisch wirtschafteten, der Rechtskategorie der inorodcy zugehörten oder der russischen Bevölkerung gleichgestellt waren.

Z UR S PEZIFIK

RUSSISCHER

O RIENT -D EBATTEN

Auch wenn, wie einleitend festgestellt, in diesem Beitrag eher von der Exzeptionalität des von Said beschriebenen klassischen Orientalismus ausgegangen wird, soll die Besonderheit – nicht Einzigartigkeit – des russischen Falls dennoch angesprochen werden. Diese Besonderheiten ergaben sich aus der historischen Genese und Verfasstheit des Russländischen Reiches, generierten spezifische koloniale Praktiken doch auch spezifische koloniale Diskurse. Schon die relativ seltene Verwendung des Begriffs ‚Kolonien‘ für die sukzessiv eroberten Gebiete ist auffällig: So meinte der Naturwissenschaftler und bekannte Programmatiker der panslawistischen Bewegung Nikolaj Danilevskij 1871, Russland habe nie Kolonien besessen.53 Der Admiral und Großgrundbesitzer Mordvinov zählte zumindest Georgien und die Krim wegen ihrer klimatischen Besonderheiten „zu unseren kolonialen Gebieten“.54 Letztere war zugleich für ihn der „feinste Teil unseres vaterländischen Imperiums“.55 Eine solche unklare Grenzziehung ist aber in transkontinentalen Imperien nicht unüblich, fehlt doch die „klare Differenzierung zwischen dem imperialen Zentrum bzw. der Metropole auf der einen und dem unterworfenen kolonialen Gebiet auf der anderen Seite“.56 Die Tatsache des überwiegend transkontinentalen Ausgreifens hatte in jedem Fall weitreichende Folgen für die russische Nationsbildung, erschwerte sie doch die „definitorisch

53 DANILEVSKIJ, Nikolaj J.: Rossija i Evropa. Vzgljad na kul´turnye i politiþeskoe otnošenija slavjanskogo mira k germano-romanskomu [Russland und Europa. Eine Ansicht der kulturellen und politischen Beziehungen der slawischen Welt zur germanisch-romanischen]. Moskva 1991, 24f. 54 Mordvinov, zitiert nach BIL’BASOV, V. A.: Predislovie (Vorwort), in: MORDVINOV (wie Anm. 46), viii. 55 DERS.: O povinnostjach, in: Ebd., 521-540, hier 521. 56 Vgl. dazu BASSIN, Mark: Geographien imperialer Identität. Russland im 18. und 19. Jahrhundert. In: Kolonial Geschichten. Regionale Perspektiven auf ein globales Phänomen. Hg. v. Claudia KRAFT, Alf LÜDTKE und Jürgen MARTSCHUKAT. Frankfurt am Main-New York 2010, 236-258, hier 247.

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klare Abgrenzung von Nationalstaat und Imperium“.57 Sie konfigurierte auch die Sicht auf Russland als Kolonialmacht, beförderte sie doch weithin die Vorstellung einer „natürlichen Qualität“ russischer Expansion, wie es der Historiker Vasilij O. Kljuþevskij (1842-1911) ausdrückte.58 Ganz ähnlich interpretierte übrigens der US-amerikanische Präsident Theodore Roosevelt 1903 den Vorstoß in den Westen, den er als „biologisch-natürlich“ und geradezu als leitmotivisch für die Geschichte der amerikanischen Nation bezeichnete.59 Ohnehin wurde seit Alexis de Tocqueville (1805-1859) der Vergleich zwischen dem russländischen und dem US-amerikanischen Expansionsprozess immer wieder gezogen. Beide Imperien schwankten genauso wie Österreich-Ungarn zwischen einer partiellen imperialen Amnesie und der Auffassung, genau genommen die bessere Kolonialmacht zu sein.60 Alle Mächte empfingen zuweilen ausländische Besucher in ihren „Musterkolonien“ auf der Krim,61 den Philippinen62 oder in Bosnien-Herzegowina,63 um ihr Wissen um vermeintlich gute und effektive koloniale Praktiken zu präsentieren. Vielfach waren die imperialen Eliten davon überzeugt, gar keine Kolonialmacht, sondern vielmehr ein Zivilisations- und (im amerikanischen Fall) Demokratiebringer zu sein; so weit, so klassisch orientalistisch.

57 JOBST/OBERTREIS/VULPIUS (wie Anm. 6), 39. 58 KLIUTSCHWEWSKIJ, W. (d. i. V. O. Kljuþevskij): Geschichte Rußlands, 4 Bde. Stuttgart-Berlin 1925-1926, hier Bd. 1, 19. Russisches Original: KLJUýEVSKIJ, V. O.: Kurs russkoj istorii [Kurs der russischen Geschichte], 5 Bde., hier Bd. 1. Moskva 1956, 31. 59 ROOSEVELT, Theodore: Address at the Dedication Ceremonies of the Louisiana Purchase Exposition, 30.4.1903. In: http://www.theodore-roosevelt.com/trlouisespo speech.html (12.1.2012). 60 Vgl. SCHUMACHER, Frank: Kulturtransfer und Empire. Britisches Vorbild und USamerikanische Kolonialherrschaft im frühen 20. Jahrhundert. In: Kolonial Geschichten (wie Anm. 56), 306-327. Zum Habsburgerreich vgl. die bei JOBST/OBERTREIS/ VULPIUS (wie Anm. 6), 32-38, angegebene Literatur. 61 So z.B. während der berühmten Taurischen Reise von 1787, dazu: DICKINSON, Sara: Russia’s First „Orient“. Characterizing the Crimea in 1787. In: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 3/1 (2002), 3-25. – JOBST, Kerstin S.: Die Taurische Reise von 1787 als Beginn der Mythisierung der Krim. Bemerkungen zum europäischen Krim-Diskurs des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Archiv für Kulturgeschichte 83 (2001), 121-144. 62 Dazu SCHUMACHER (wie Anm. 60), 320. 63 STACHEL, Peter: Der koloniale Blick auf Bosnien-Herzegowina in der ethnographischen Popularliteratur der Habsburgermonarchie. In: Habsburg postcolonial (wie Anm. 12), 259-276.

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Die räumliche Nähe zwischen Russen und Nichtrussen/Asiaten determinierte aber auch den gelebten kolonialen encounter, der ja immer wieder als inklusiver bezeichnet wird als in den klassischen, geradezu idealtypisch von Said beschriebenen Imperien.64 Ein Beispiel: Insbesondere in britischen Debatten spielte die Kategorie der Rasse zur Trennung zwischen eigen und fremd eine entscheidende Rolle. Dies berührte wesentlich den Komplex der Sexualität. Während das ungeregelte Konkubinat zwischen weißen Männern und indigenen Frauen als hierarchische Sexualbeziehung durchaus üblich war, blieben im britischen Imperium derartige regelrechte Eheschließungen schwierig.65 Anders im russischen Kontext, wo in Reiseberichten und der Literatur Narrationen über die Liebe zwischen indigenen muslimischen Frauen und christlichen Männern weitverbreitet gewesen sind. Nicht untypisch erscheint insofern folgender plot:66 In einem unter russischer Herrschaft stehenden ‚exotischen‘ Gebiet, in diesem Fall handelte es sich um die Krim, verliebt sich ein Christ in ein schönes Tatarenmädchen – und sie sich in ihn. Nachdem er ihr glaubhaft versichert hatte, „daß Mahomet kein Prophet sey“, verlässt sie ihr Elternhaus und die religiös gedachte Gemeinschaft aller Muslime, die sogenannte umma. Alsdann empfängt sie die orthodoxe Taufe. Das junge Glück muss mannigfachen Schwierigkeiten trotzen, welche aus der Verbindung zwischen den Religionen erwachsen. Gleichwohl werden diese mit Hilfe hochgestellter russischer Beamter oder gar des Zaren selbst überwunden. Die Orientalin wird in dieser Art von Narrationen zu einem Bindeglied zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten. Die indigene Frau wurde nicht nur durch die orthodoxe Taufe ‚zivilisatorisch erhöht‘, sie erhielt gleichsam die ‚Chance‘, den von Männern dominierten eigenen religiösen und gesellschaftlichen Ordnungen zu entfliehen. Zar Nikolaj I. (1796-1855) soll sogar Massenhochzeiten zwischen tscherkessischen Frauen und den in den aufständischen Gebieten stationierten russischen Soldaten geplant haben, wovon er nur mit Mühe abgebracht werden konnte. Seine Berater erkannten nämlich, dass dies den Widerstand eher befeuert hätte, galt doch die Heirat mit einem Ungläubigen für eine Muslima als todeswürdiges Verbrechen.67 Unabhängig davon, ob sich derlei so oder ähnlich in

64 Auch die oben bereits geschilderte feste Einbindung einiger kolonialer Erwerbungen spricht dafür. 65 Vgl. hierzu Gender and History 17/1 (2005). Themenheft: Empire, Migration, and the Fears of Interracial Sex c. 1830-1938. Hg. v. Cathleen CANNING u.a., 5-209. 66 JOBST, Perle (wie Anm. 35), 213-215. 67 Gosudar’ Nikolaj Pavloviþ v avtobiografiþeskich rasskazov byvšegokavkazskogo oficera [Herrscher Nikolaj Pavloviþ in den autobiographischen Erzählungen eines ehemaligen Kaukasus-Offiziers]. In: Russkij Archiv 19/2 (1881), 232-240.

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größerem Maßstab zugetragen hat – denn Eheschließungen zwischen Christen und Muslimen blieben in vorsowjetischer Zeit die Ausnahme – wurde im russischen kolonialen Kontext die Verbindung zwischen russischen Männern und indigenen Frauen als wünschenswert erachtet. Die Angst vor dem métissage (Rassenvermischung) ist hier nicht festzustellen. Dies galt aber auch für spanische oder holländische imperiale Eliten, welche phasenweise Heiraten zwischen indigenen Frauen und Kolonisierenden förderten, weil sie als Teil der Bündnispolitik angesehen wurden.68 Für den russischen Orient-Diskurs ist in jedem Fall zu konstatieren, dass biologistische und rassistische Auslassungen über das Fremde eine weitaus geringere Rolle spielten als im britischen oder auch deutschen Kontext. Durch eine ‚gemeinsame‘ Geschichte, geographische Nähe und als Folge russischer Siedlungsbewegungen gemeinsam ausgestalteter Lebenswelten kam es auch im Zarenreich zu Akkulturationen, Hybridisierung und Formen der Kreolisierung.69 Slawische Siedler in den Kolonien übernahmen Elemente fremder Kulturen und passten diese den Lokalitäten an. Auch darin mag man ein Spezifikum des Orientalismus im Zarenreich erkennen.

Z UR F UNKTION DES ORIENTALISTISCHEN D ISKURSES IM Z ARENREICH – S CHLUSSBETRACHTUNG Nicht wenige HistorikerInnen sehen es als ein „faszinierendes Element des russischen Denkens über Asien“ an, dass viele Angehörige der imperialen Eliten das gemeinsame russisch-asiatische Erbe hoch bewerteten70 – und damit ‚den‘ Orient als solchen positiver einschätzten, als es in den von Said betrachteten Diskursen der Fall gewesen ist. Angehörige einflussreicher Denkschulen wie jener der Sla-

68 Allgemein dazu OSTERHAMMEL, Jürgen: Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen. München 1995 (C.-H.-Beck-Wissen). Zu Batavia siehe TAYLOR, Jean Gelman: The Social World of Batavia. Madison 1983. 69 Für Beispiele aus dem russländischen Imperium: JOBST, Kerstin S.: Die Wahrnehmung von Assimilations- und Akkulturationsprozessen im russischen Krim-Diskurs vor dem Ersten Weltkrieg. In: Gemeinsam getrennt. Lebenswelten der multiethnischen bäuerlichen Bevölkerung im Schwarzmeer- und Wolgagebiet vor 1917. Hg. v. Victor HERDT und Dietmar NEUTATZ. Wiesbaden 2010, 181-194. Allgemein dazu: Hybridität – Transkulturalität – Kreolisierung. Innovation und Wandel in Kultur, Sprache und Literatur Lateinamerikas. Hg. v. Eva GUGENBERGER und Kathrin SARTINGEN.

Berlin u.a. 2011 (¡Atención! 14).

70 SCHIMMELPENNINCK VAN DER OYE (wie Anm. 8), 239.

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wophilen im 19. Jahrhundert um den bereits erwähnten Danilevskij oder auch Fedor Dostoevskij sowie die nachrevolutionären Eurasier versuchten, den – aus westeuropäischer Perspektive betrachtet – eklatanten Nachteil des asiatischen Erbes der Russen in einen Vorteil umzuwerten.71 Sie wählten damit insgesamt einen anderen Weg als die sogenannten russischen Westler (Zapadniki).72 Deren Protagonisten wie Pjotr ýaadaev, Vissarion Belinskij und Alexandr Gerzen (Alexander Herzen) wollten den von ihnen ausgemachten Entwicklungsrückstand durch die möglichst vollständige Übernahme westeuropäischer kultureller, wirtschaftlicher und sozialer Standards überwinden, einschließlich der dort obwaltenden Vorstellungen über ‚den‘ Orient. Gleichwohl gingen auch die ‚Asien‘ intellektuell zugewandten Slawophilen und Eurasier nicht von einer symmetrischen russisch-asiatischen Wechselseitigkeit aus, sondern leiteten daraus eine besondere Verantwortung, ja einen Erziehungsauftrag Russlands für diese Weltgegend ab. Dies ist zwar eine spezifische, nichtsdestoweniger eine orientalistische Denkgewohnheit. Unabhängig davon, welche dieser Denkschulen man betrachtet, so ist Folgendes festzustellen: In den russischen Orient-Debatten ging es nicht allein um das Verhältnis zwischen Russen und Asiaten oder dem kolonialen Fremden überhaupt, sondern auch um die Stellung Russlands innerhalb einer gedachten europäischen Zivilisation. Die mentale Zuwendung nach Osten, beispielsweise eines Dostoevskij, war nämlich mithin Ausdruck eines internalisierten Unterlegenheitsgefühls gegenüber ‚Europa‘ nach dem Krim-Krieg, da die Russen in Europa nur „Gnadenbrotesser und Sklaven“, in Asien aber Herren seien. „In Europa waren wir Tataren, in Asien aber sind auch wir Europäer. Unsere Mission, unsere zivilisatorische Mission in Asien, wird unseren Geist verlocken und uns dorthin ziehen, wenn nur erst einmal die Bewegung angefangen hat.“73

71 Vgl. hierzu u.a. DUNCAN, Peter J. S.: Russian Messianism, Third Rome, Revolution, Communism and After. London u.a. 2000 (Routledge advances in European politics 1). – HAUNER, Milan: What is Asia to Us? Russia’s Asian Heartland Yesterday and Today. Boston 1990. Zu den Eurasiern zuletzt WIEDERKEHR, Stefan: Die eurasische Bewegung. Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwischenkriegszeit und im postsowjetischen Russland. Wien-Köln-Weimar 2007 (Beiträge zur Geschichte Osteuropas 39). 72 Vgl. u.a. MERRILL, Margaret B.: The Westernizer Circle in Russia in the 1840s. Diss. Univ. of Washington 1982, Ann Arbor 1982. 73 DOSTOEVSKIJ, Fedor M.: Dnevnik pisatelja za 1881 god (Tagebuch eines Schriftstellers im Jahr 1881). In: Polnoe sobranie soþinenij, Bd. 27. Leningrad 1984, 33; hier zitiert nach der deutschen Ausgabe: DOSTOJEWSKI, F. M.: Tagebuch eines Schriftstel-

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Das vermeintlich Besondere des russischen Orientalismus resultierte also aus der Ambivalenz des Zarenreichs als Kolonialmacht und als koloniales Objekt. Der russische Orientalismus ist Ausdruck einer insgesamt umstrittenen kollektiven Selbstverortung russischer Eliten zwischen einem essentialisierten Osten und einem nicht minder essentialisierten Westen. Und in diesem Spannungsfeld ist die Funktion des russischen Orient-Diskurses und die weitgehende Partizipation an einem gesamteuropäischen Orientalismus zu sehen. Diese hatte im russischen Fall nicht nur die Aufgabe, eine auch intellektuelle Herrschaft über den sogenannten Orient zu befördern. Diese Debatten halfen den russischen imperialen Eliten zugleich bei einem Prozess kollektiver Selbstvergewisserung. Er sollte dem eigenen gedachten Kollektiv vermitteln, dass das russländische Imperium eine zivilisierte, europäische Macht sei, welche bei allen Eigenheiten fähig und in der Lage sei, praktisch und intellektuell sein Reich zu gestalten. Die ewige Frage nach der Anwendbarkeit des Saidschen Orientalismus auf den russischen Fall ist insofern einfach zu beantworten: Eingedenk der bislang nur partiell umgesetzten Notwendigkeit, nicht länger von dem ‚einen‘ Orientalismus à la Großbritannien oder Frankreich zu sprechen, sondern von vielgestaltigen Orientalismen, sollte sich dieses Problem bald von selbst erledigen. Darauf hat nicht zuletzt mit Jürgen Osterhammel schon vor einer Weile jemand hingewiesen, welcher wie nur wenige die Kenntnis über globale Phänomene wie Kolonialismus und Imperialismus vorangebracht hat: „Nur wenn man extreme Vergröberungen riskiert, kann man […] über Räume, Zeiten und national-kulturelle Einstellungen hinweg zu Verallgemeinerungen über die Weltsicht der Träger von Kolonialismus und Kolonialherrschaft gelangen.“74 Die vergleichende Erforschung von Orientalismen – also im Plural – steht noch am Anfang.

lers 1881. Fragen und Antworten. Übertragung und Nachwort von E. K. Rahsin. In: DERS., Sämtliche Werke in zehn Bänden, Bd. 5. München-Zürich 1977, 589-596, hier 591. 74 OSTERHAMMEL, Kolonialismus (wie Anm. 68), 112.

The Development of Hungarian Turcology in the Long Nineteenth Century I BOLYA G ERELYES

The nineteenth century was a time of searching for national identity. The Hungarians were seeking out their roots, their past, and their place in the world. Their quest was especially important in the second half of the century, after the failed revolution and war of independence of 1848-1849. The history of the Hungarians meant that it was investigations into the nation’s past and the nation’s language that inspired the birth of Turcology research in Hungary, the motivational force for this being the centuries-old tradition of origins in the East and the links to the Ottoman Empire: the 150 years of the Ottoman presence in the country. There were three fields of research of special importance in Hungary at that time: the origins of the Hungarian language, the origins of the Hungarian people, and the history of the Ottoman period in Hungary. These three aspects gave Oriental studies in Hungary a distinctive face, with Turcology becoming the chief element in this discipline. In short, we can say that in Hungary Oriental studies and within them Turcology – linguistic studies and the search for an ancient homeland first and foremost – were ‘self-regarding’: they constituted research into the origins and past of the Hungarian people and the Hungarian language themselves, research in which the Hungarians appeared both as a part of the ‘East’ and as a unit split off from it. With respect to the historical research into the Ottoman period in Hungary, the situation was different, however. In part, this, too, was selfregarding, an investigation of the Hungarian past. Here also the Hungarians were part of the East, this time not as a unit that had split off, but rather as one that had been ‘added on’. The present study deals with two branches of Turcology that came into being in the country during the second half of the nineteenth century: research into language history and research into Hungary’s Ottoman period.

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Before we enter into a detailed discussion, we should note that Orientalist research in Hungary commenced a good deal earlier. Its beginnings were connected with the Ottoman presence in the country. The earliest translations, scientific or literary works, and so on were produced by what were known as the ‘Turkish Scribes’, who served alongside envoys sent to Istanbul by the princes of Transylvania and who spent longer or shorter periods in the Ottoman capital in order to learn the language.1 Two works are worth mentioning here. The first is a Hungarian translation of a work by Yazco÷lu Ahmed Bican, a significant contribution to fifteenth-century Ottoman mystical literature, which was published in Kassa (Slovak: Košice; German: Kaschau) in 1626 by János Váradi Házi, a ‘Turkish Scribe’ employed by Gabriel Bethlen, Prince of Transylvania (16131629).2 From 1651, Jakab Harsányi Nagy (1615-1684?) spent seven years in Constantinople as a ‘Turkish Scribe’ engaged by George II Rákóczi, Prince of Transylvania (1648-1659). In 1667, he settled in Berlin at the invitation of the ‘Great Elector’, Frederick William of Brandenburg (1640-1688), as privy councillor (German: Hofrat) and adviser on Ottoman, Polish, and Muscovite affairs. He was inspired to write his much-quoted volume by Lorenz von Somnitz, Frederick William’s chancellor. The work, in Ottoman Turkish and Latin, provides, in dialogue form, information on the Ottoman Empire, its organisation, its soldiers, and its everyday life.3 The story of Orientalist research in Hungary in the years preceding and following the establishment of the Hungarian Academy of Sciences (1827) has been summarised by Gyula Németh. According to him, attempts to compare the Hungarian language with various, sometimes randomly selected, Oriental tongues began in the eighteenth century and continued in the first half of the

1

For a summary of the work of the ‘Turkish scribes’, see KÁRMÁN, Gábor: Az erdélyi török deákok. Kora újkori értelmiségiek állami szolgálatban [The Turkish Scribes from Transylvania. Early Modern Intellectuals in State Service]. In: Sic Itur ad Astra 18/1-2 (2006), 155-182.

2

VÁRADI HÁZI, János: Machumet propheta vallasan levö egy fö irastúdo doctornac irásából magyarrá fordítatot könyw, melleyet Envarul asikinnac hinac, Hazi Ianos áltál [A Book Called “Envarul Asikin”, by a Chief Literate Doctor from the Religion of Prophet Mahomet, Translated from Turkish to Hungarian]. Cassán, Sultz Daniel áltál, 1626.

3

HARSÁNYI NAGY, Jakab: Colloquia Familiaria Turcico Latina seu Status Turcicus Loquens. Cölln an der Spree 1672.

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nineteenth.4 The history of the Ottoman Empire and of the Turks appeared in the scientific literature in Latin and Hungarian in the same period, although the authors did not use Ottoman sources. The most significant work in this genre was the first Hungarian-language description of the Ottoman Empire, a work by Sámuel Decsy which was published in 1788-1789.5 András Tóth served as a page to Francis II Rákóczi, Prince of Transylvania, later entering the service of French diplomacy, acting as a link between the court of the exiled prince at Rodosto (today Tekirda÷, Turkey) and the French royal court. Based on personal experiences there, his son’s description of the Ottoman Empire and the Tatar Khanate of Crimea was later translated into many European languages.6 Seeking the early homeland of the Hungarians, Sándor KĘrösi Csoma (17841842) set out on his journey to the East in 1819. Although he did not achieve this goal, the results of his journey were nevertheless a towering scientific achievement. His works laid the foundations for a new branch of scholarship: Tibetan philology.7 Csoma served as a model for subsequent Orientalists, too. It is not uninteresting to note that, as a biographer of Csoma has pointed out, the Hungarian Turkologist Ármin Vámbéry (1832-1913) followed exactly the same route as his famous predecessor forty years later when he travelled to Bokhara in Inner Asia.8

4

NÉMETH, Gyula: Akadémiánk és a keleti filológia [The Hungarian Academy and Oriental Philology]. Budapest 1928, 5-7. A good summary of early Hungarian Orientalist research can be found in STAUD, Géza: Az orientalizmus a magyar romantikában [Orientalism in Hungarian Romanticism]. Budapest 1999.

5

DECSY, Sámuel: „Osmanografia”, az az: A török birodalom természeti, erkölcsi, egyházi, polgári s hadi állapottyának, és a magyar királyok ellen viselt nevezetesebb hadakozásainak summás leirása [‘Ottomanography’, Namely a Summary Description of the Natural, Moral, Religious, Civil, and Military Condition of the Turkish Empire, and of Its More Noteworthy Military Campaigns against the Kings of Hungary]. Bécs (Vienna) 1788-1789. In three parts with two maps.

6

TOTT, François de: Mémoires du Baron de Tott, sur les Turcs et les Tartares. Meastricht (Maastricht) 1785.

7

KėRÖSI CSOMA, Sándor: Essay Towards a Dictionary of Tibetan. Calcutta 1834. –

8

DUKA, Theodore: Life and Works of Alexander Csoma de Körös. London 1885 (M.D.

IDEM: A Grammar of the Tibetan Language in English. Calcutta 1834. Trübner’s Oriental Series).

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P HILOLOGY ,

LINGUISTICS

In the field of philology, the second half of the nineteenth century can be described as a struggle between two camps. At the risk of oversimplification, on one side in this dispute stood Ármin Vámbéry and his followers who believed that the Hungarian language and the Hungarian people were Turkic in origin, while on the other stood those researchers of Finno-Ugric languages such as Pál Hunfalvy (1810-1891), József Budenz (1836-1892), and, later on, Bernát (Bernhardt) Munkácsi (1860-1937) who maintained that Hungarian had its roots in the Finno-Ugric language family. From this struggle and from the continuous reconciliation of different approaches that accompanied it, a new branch of scholarship would eventually emerge. The battle between the two camps was watched by the entire nation. The progress of the dispute was followed by daily newspapers and scientific forums alike. A succession of emotionally-charged studies, critiques, and countercritiques appeared. Numerous lectures on the issue were delivered at the Hungarian Academy of Sciences in which representatives of both sides gave voice to their views. Public opinion was more sympathetic to the theory of TurkicHungarian kinship proclaimed by Ármin Vámbéry, who was supported by his pupil József Thúry, one of the most significant figures of Turcology in Hungary in the nineteenth century.9 All this took place in the run-up to the celebrations held to mark the Hungarian Millennium, namely the thousandth anniversary of the Hungarian Conquest, in 1896. Research into the relationships between the Turkic peoples and the Hungarians, and into the links between Turkic languages and the Hungarian language, came to the fore with the investigations conducted by Pál Hunfalvy. These began in the first half of the 1850s. In 1855, Pál Hunfalvy published a study in which he claimed that the Hungarian language occupied a position halfway between the

9

PUSZTAY, János: Az „ugor-török háború” után: Fejezetek a magyar nyelvhasonlítás történetébĘl [After the “Ugric-Turkic War”: Chapters from the History of Hungarian Comparative Linguistics]. Budapest 1977, 92-98. – THURY, József: Az ugor-magyar theoria 1-3 [The Ugric-Hungarian Theory 1-3]. In: Egyetemes Philológiai Közlöny 8 (1884), 131-158, 295-311, 416-440. – IDEM: A török szókincs apológiája [Apologia Concerning Turkic Vocabulary]. In: Egyetemes Philológiai Közlöny 9 (1885), 186199 and 265-281.

T HE D EVELOPMENT

OF

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Turkic and Finno-Ugric language groups.10 This study proved decisive for the subsequent course taken by Turcology research, and drew attention to how important the study of the Turkic languages and Turkic peoples was for the Hungarians. József Budenz, in the lecture he gave in 1862 following his election to the Hungarian Academy of Sciences (it was entitled “Comparing the Hungarian Language with the Turkic Languages”), adopted a position similar to Hunfalvy’s.11 Budenz, a linguist who had studied at the University of Göttingen, had come to Hungary at Hunfalvy’s invitation in 1858. He was appointed to a position at the University of Pest in 1868, as a privatdocent in Altaic linguistics; later on he was made a professor there in the same discipline.12 The papers of Antal Reguly (1819-1858), a linguist and ethnographer who died young, passed to the Academy’s manuscript archive in 1858. Among these papers were texts in the Vogul, Ostyak, and Cheremis languages that Reguly had brought back with him from Russia in 1849, after a study tour there.13 The studying of these texts began at a faster rate after 1862. This work was performed by Hunfalvy and Budenz. Studying the Reguly papers obliged the two scholars to reappraise their views. In 1864, Pál Hunfalvy published his book The Voguls: Land and People. In this study he made an assertion that remains valid today, namely that the Hungarian language is closely akin to the Ugric languages.14 Five years later, Ármin Vámbéry published his study entitled Correspondences Between Hungarian and

10 HUNFALVY, Pál: Török, magyar és finn szók egybehasonlítása [A Comparison of Turkic, Hungarian, and Finnish Words]. In: Akadémiai ÉrtesítĘ 1855, 61-67; 99-152; 191-246; 337-364. 11 NÉMETH, Akadémiánk (as in n. 4), 8. 12 Yet Budenz’s work proved valuable not only in the field of Finno-Ugric languages. Together with Vámbéry, he also published a collection of Chagatai Turkic words, bringing out a study on Chuvash-Turkish sound correspondences as well. BUDENZ, József: Abuska: csagatájtörök szógyĦjtemény [Abuska: A Chatagai Turkic Vocabulary]. Transl. by Ármin VÁMBÉRY with an introduction and notes by József BUDENZ. Pest 1862. – IDEM.: Csuvas közlések és tanulmányok [Chuvash Papers and Studies]. In: Nyelvtudományi Közlemények 1 (1862), 200-268; 353-433 and 2 (1863), 14-68. 13 NÉMETH, Akadémiánk (as in n. 4), 8. 14 HUNFALVY, Pál: A’ vogul föld és nép [The Voguls: Land and People]. Pest 1864 (A Magyar Tudományos Akadémia Évkönyvei 12/1). The work was written by Pál Hunfalvy using the papers of Antal Reguly.

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Turkic-Tatar Words,15 which drew a very harsh critique from József Budenz in 1871.16 It is an interesting fact that Budenz’s study has proved lasting from the perspective of Turcology. Although he rejected Vámbéry’s theory entirely, Budenz in his critique expressed the view that a significant proportion of the Turkic elements in the Hungarian language – namely loanwords deriving from the time before the Hungarian Conquest – exhibit a close connection with a Chuvash (Bulgar-Turkic) dialect. This opinion continued to be accepted by Hungarian Turcologists even in the late twentieth century.17 It is from this time that the so-called Ugric-Turkic war can be dated,18 although according to some researchers, the real fight began a decade later, with the publication of a study by Ármin Vámbéry in 1882. In this work, Vámbéry sought to prove that the basis and core of the Hungarian language and people were Turkic.19 The dispute between Vámbéry and Budenz ended with Vámbéry’s retirement from the fray. In his work At the Cradle of the Hungarian People, published posthumously, Vámbéry accepted the Finno-Ugric origins of the Hungarian language.20

15 VÁMBÉRY, Ármin: A magyar és török-tatár nyelvekbeli szóegyezések [Correspondences Between Hungarian and Turkic-Tatar Words]. In: Nyelvtudományi Közlemények 8 (1869), 109-189. 16 BUDENZ, József: Jelentés Vámbéry Ármin magyar-török szóegyezéseirĘl [A Report on Ármin Vámbéry’s Correspondences Between Hungarian and Turkic Words]. In: Nyelvtudományi Közlemények 10 (1871), 67-135. 17 LIGETI, Lajos: A magyar nyelv török kapcsolatai és ami körülöttük van [The Turkic Connections of the Hungarian Language and Their Context]. Vol. 1. Budapest 1977, 302. 18 RÓNA-TAS, András: Julius Németh. Life and Work. In: Acta Orientalia Academiae Scientiarum Hungaricae 32 (1978), 263-264. 19 VÁMBÉRY, Ármin: A magyarok eredete: ethnológiai tanulmány [The Origins of the Hungarians. A Study in Ethnology]. Budapest 1882. – PUSZTAY, Az „ugor-török háború” (as in n. 9), 96. 20 VÁMBÉRY, Ármin: A magyarság bölcsĘjénél: a magyar–török rokonság kezdete és fejlĘdése [At the Cradle of the Hungarian People: The Beginnings and Development of Hungarian-Turkic Kinship]. Budapest 1914. We should, however, draw attention to the fact that some linguistic researchers in the early twenty-first century strongly question the scientific truth of Budenz’s assertions. See MARCANTONIO, Angela/NUMMENAHO,

Pirjo/SALVAGNI, Michela: The “Ugric-Turkic Battle”: A Critical Review.

In: Linguistica Uralica 2 (2001), 81-102.

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The Vámbéry phenomenon The story of the birth of Hungarian Turcology cannot be understood without knowledge of Ármin Vámbéry’s work. His life, which was rich in experiences, was subject to a variety of evaluations by contemporaries, as were his multifarious scientific and public activities. The views of posterity regarding Vámbéry and his achievements are likewise mixed. The specialist literature dealing with him is very large and rather ambivalent.21 The brief summary which follows will attempt to highlight just some of the main elements in his rich oeuvre. With the moral support of the Academy, Ármin Vámbéry set out in 1857 on his first journey to the East, to Istanbul. In a communication sent to Baron József Eötvös (1813-1871), the president of the Academy, he described the purpose of the trip as follows: “to go to Asia, to seek out the ancient homeland and origins of the Hungarians”.22 A significant part of the four years Vámbéry spent in Istanbul he devoted to researching Turkic-language sources relating to the history of the Hungarians. He took every opportunity to speak with pilgrims from the khanates of Central Asia who were passing through Istanbul on their way to Mecca. In the discourse of these pilgrims, he tried to discover linguistic elements which revealed kinship with the Hungarian language. During his years in Istanbul, he remained in contact with the Hungarian Academy of Sciences and with Hungarian scientific circles generally. He regularly sent home studies and papers, which were published in quick succession in the country’s scientific journals.23 These years were significant, however, not merely from the perspective of his scientific research. An unknown Hungarian

21 HABER, Peter: Sprache, Rasse, Nation. Der ungarische Turkologe Ármin Vámbéry. In: Jüdische Identität und Nation. Fallbeispiele aus Mitteleuropa. Ed. by Peter HABER, Erik PETRY and Daniel WILDMANN, Köln 2006, 19-49. – VÁSÁRY, István: A tudós Vámbéry Ármin [Ármin Vámbéry the Scholar]. In: Magyar Tudomány 2013/8 (Vámbéry Ármin 1832-1913. Tanulmányok Vámbéry Ármin halálának 100. évfordulóján [Ármin Vámbéry 1832-1913. Studies to Mark the Centenary of Ármin Vámbéry’s Death]. Ed. by György HAZAI and Pál FODOR), 909-917. 22 VÁMBÉRY, Ármin: Küzdelmeim [My Struggles]. Budapest 1905, 107. English edition: The Story of My Struggles. The memoirs of Arminius Vambéry. London 1904. 23 At a meeting of the Academy in 1859, the academician and linguist Mór Ballagi read out a report sent by Vámbéry on his (Vámbéry’s) studies “relating to comparison of the Turkic-Chagatai and Hungarian languages”. During the years he spent abroad, he published a number of studies in Hungary, as well as a dictionary in Istanbul: VÁMBÉRY, Ármin:

Deutsch-türkisches Taschen-Woerterbuch. Constantinopel 1858.

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researcher without property, Vámbéry mixed with members of the Ottoman elite in Istanbul. In this, he was helped only by participants in the defeated Hungarian revolution and war of independence of 1848-1849 who had fled to the Ottoman Empire and who had been given asylum there.24 As a confidant of Foreign Minister Mehmed Emin Aali Pasha (1815-1871), he came into contact with members of the Ottoman reform movement such as Mustafa Reshid Pasha (1800-1858) and Mehmed Fuad Pasha (1814-1869). It was at this time that Vámbéry adopted the name Resid effendi, without, however, becoming a Muslim.25 Vámbéry’s second journey, which is legendary, was through Central Asia to Samarkand and lasted from 1861 until 1864. This, too, he undertook with the support of the Academy. As is well known, he made part of the journey dressed as a dervish, joining a group of pilgrims on their way home from Mecca.26 Now a corresponding member of the Hungarian Academy of Sciences, Vámbéry stated as the purpose of this trip the researching of linguistic kinship between the Hungarian language and the Turkic languages. However, the most important result of his journey was not this research, but the second part of his travelogue: his authentic account of the ethnic groups of Central Asia. This was followed by his work The Turkic Race.27 This last book may be considered the most valuable part of his oeuvre: “It was the first work by a European to break out from a narrow view of the Ottoman Turks and to examine Turkic peoples and languages in their Eurasian entirety and in their great variety.”28 However, as is well known today, the purpose of Vámbéry’s journey was not just scientific research. The observations he made and the information he gath-

24 Especially significant in this respect was the role of Dániel Szilágyi, who was on friendly terms with Vámbéry and who was in close contact with important Ottoman figures of the Tanzimat period. See CSORBA, György: Hungarian Emigrants of 184849 in the Ottoman Empire. In: The Turks. Vol. 4: Ottomans. Ed. by Hasan Celâl GÜZEL, C. Cem OöUZ and Osman KARATAY. Ankara 2002, 224-232, here 231. 25 The story of his time in Istanbul and of how he became “Resid effendi” is given by Vámbéry himself in his book Küzdelmeim (as in n. 22). 26 VÁMBÉRY, Ármin: Dervisruhában Közép-Ázsián át [Across Central Asia in Dervish Attire]. With an introduction and notes by Zsuzsa KAKUK. Budapest 1966. 27 IDEM.: A török faj ethnologiai és ethnographiai tekintetben [The Turkic Race in Respect of Ethnology and Ethnography]. Budapest 1885. 28 VÁSÁRY, A tudós Vámbéry (as in n. 21), 911.

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ered during the trip proved useful to the Ottoman and British governments alike.29 In 1861, at the beginning of the trip, Vámbéry’s position regarding the origins of the Hungarian language seemed more or less acceptable even in the linguistic circles represented by Pál Hunfalvy and József Budenz. However, on his return home in 1864, a rather cool reception awaited him. Vámbéry hurriedly left for Britain, where he was received by members of the London elite and even at the royal court. His subsequent career is well known and will not be discussed here. Nevertheless, his public and scientific oeuvre contained an aspect worth further discussion, namely the issue of Pan-Turanism or Pan-Turkism. In his book Travels in Central Asia, Vámbéry outlined the plan for a huge Pan-Turkic empire: “The Ottoman Empire could have possessed secular influence in these distant eastern parts only if Oriental life had awoken before the time of Peter the Great. As a Turkic dynasty, the House of Osman could have founded from Turkic elements, with which it was kin by way of language, religion, and history, a mightier empire, stretching from the Adriatic Sea to faraway China, than the one the great Romanov could put together from various parts by means of intrigue. The Anatolians, Azeris, Turkmans, Uzbegs, Kirgizes, and Tatars were some of the elements from which a great Turkic colossus could have arisen, and this would then have been able to contend with its northern enemy better than the present Turkey.”30

The idea of Pan-Turkism was, then, close to Vámbéry’s thinking, and although he never supported it actively, his work and his views were able to give impetus to the Pan-Turkic movement.31 It is a fact that he was an honorary president of the Turanian Society, which was formed in 1910. The society itself was a meeting place for numerous contradictory views and for their representatives. When

29 DOBROVITS, Mihály: A „Vámbéry-jelenség” [The “Vámbéry Phenomenon”]. In: Vámbéry Ármin 1832-1913 (as in n. 21), 900-908, here 901. 30 VÁMBÉRY, Ármin: Közép-Ázsiai utazás [Travels in Central Asia]. Pest, 1864, 392393. 31 VÁSÁRY, A tudós Vámbéry (as in n. 21), 915. In Turkey, a huge Turanic movement began around 1910. This, however, was entirely different from the Hungarian Turanic movement. “For the Turks, Turan meant the ancestral Turkic land, and was the watchword of a national-type transformation and of a pan-Turkic movement.” NÉMETH, Gyula: A magyar turanizmus [Hungarian Turanism]. In: Magyar Szemle 11 (1931), 132-139, here 136.

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it was set up, its aim was formulated as follows: “To research and promote, scientifically and practically, Turan, our ancient homeland, representting our great past and, perhaps, our even greater future.”32 Through the good offices of the Austro-Hungarian Monarchy’s ambassador to London, the emperor-king Francis Joseph received Vámbéry and gave him the mandate to revive the teaching of Oriental languages at the University of Pest. Discontinued since the death of János Repiczky in 1855, this teaching began again in 1866. From the ranks of those who attended the courses, a number of eminent scholars later emerged. It was Vámbéry who launched the career of Ignác Goldziher on its way. The linguist Bernát Munkácsi and the linguist and historian József Thúry were both Vámbéry’s pupils; so, too, were Ignác Kúnos, the founder of Turkic ethnographical research, and Gyula Németh, an outstanding figure in Turcology in Hungary in the twentieth century. The diplomat and historian Benjamin (Béni) Kállay learnt Turkish from Vámbéry. In this way, an account of the research conducted in the ‘long nineteenth century’ and an appraisal of Vámbéry cannot be complete without the presentation of his pupils.33 Vámbéry and Budenz each claimed the linguist and ethnographer Bernát Munkácsi (1860-1937) as his disciple. With the support of the Hungarian Academy of Sciences, Munkácsi embarked on a collecting tour in the River Kama region in 1885, among the Votyaks as well as the Chuvash people of Simbirsk. In 1888-1889, he undertook a collecting tour in western Siberia, among the Voguls. He would later manage to decipher the Vogul texts among the Antal Reguly papers. Like Budenz, Munkácsi dealt not just with issues concerning Finno-Ugric languages, but with questions of Turcology, too.34 Munkácsi was not only a scholar accomplished in many different fields of inquiry, but also a scientific organiser who did much in

32 Ibid., 132. 33 Since the aim of this paper is to present the birth of Turcology in Hungary, the work of Ignác Goldziher will not be narrated here. I shall speak about József Thúry and Béni Kállay later in the paper, when dealing with the achievements in the field of historiography. On Kállay see also the contribution of Johannes Feichtinger in this volume. 34 His principal works are: Votják népköltészeti hagyományok [Votyak Folk Poetry Traditions]. Budapest 1887. – A magyar népies halászat mĦnyelve [Hungarian Folk Terms Relating to Fishing]. Budapest 1893. – Vogul népköltési gyĦjtemény [A Collection of Vogul Folk Poetry]. Vols. I-VI. Budapest 1914. – Adalékok a magyar nyelv régi török és mongol elemeihez [Data on Old Turkic and Mongol Elements in the Hungarian Language]. Budapest 1903.

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the interests of Orientalist research in Hungary. He played a significant part in the forming (in 1904) of the Hungarian Committee of the International Association of Central and East-Asian Studies. The first chairman of this committee was Vámbéry and its first secretary Munkácsi. Together with Ignác Kúnos, Munkácsi founded the periodical Keleti Szemle (Oriental Review) in 1900; the two scholars then edited it for many years.35 The linguist and ethnographer Ignác Kúnos (1862-1945), a contemporary and friend of Bernát Munkácsi, became an internationally acknowledged authority in the field of Turcology. Like Munkácsi, he received significant support during his career not only from Ármin Vámbéry, but also from József Budenz. From 1885, he spent five years in the Ottoman Empire. It was then that he collected the Turkish folk poetry that would arouse the interest of the international scientific world.36 His work was pioneering in character, since it directed attention to the everyday language and folk culture of Anatolia; these had hitherto been pushed into the background by research into Ottoman topics.37 Ármin Vámbéry retired from his university post in 1905. Officially, this meant that he was no longer able to have pupils, although his personal contacts lived on. In 1909, Gyula Németh (1890-1976) began his university studies. Németh was the young researcher who eventually took over as head of Vámbéry’s old department (the Department of Turkic Philology and Hungarian Prehistory, later the Department of Turkic Philology), a post he occupied from 1916 until 1965.38

35 RÓNA-TAS, Julius Németh (as in n. 18), 262-263. 36 It is worth noting that like his mentor Ármin Vámbéry, Ignác Kúnos was received into the inner circles of Ottoman families after changing his name and persona, in his case to those of “Kadir effendi”. 37 Here just some works from his rich scientific legacy are given: Oszmán-török népköltési gyĦjtemény. GyĦjtötte és fordította: Kúnos Ignác [Ottoman-Turkish Folk Poetry. Collected and transl. by Ignác Kúnos]. Vol. I: Oszmán-török népmesék [Ottoman-Turkish Folk Tales]. Vol. II: Oszmán-török népmesék és népdalok [OttomanTurkish Folk Tales and Folk Songs]. Budapest 1887-89; Töröknépmesék. Eredetijét gyĦjtötte és magyarra fordította Kúnos Ignác. Vámbéry Ármin elĘszavával [Turkish Fairy Tales. Collected and transl. by Ignác Kúnos, with a foreword by Ármin Vámbéry]. Budapest 1889; Turkish Fairy Tales and Folk Tales. Collected by I. Kúnos. London 1896. 38 RÓNA-TAS, Julius Németh (as in n. 18), 265. Gyula Németh’s work belongs to the history of Hungarian Turcology in the twentieth century: it is not our task to discuss it here.

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H ISTORIOGRAPHY Research into the history of the Ottoman period in Hungary The writing of history on the scholarly level in the Hungarian language began in the second half of the century. Based on the German model, it was characterised by the collection and publication of sources. In this connection, Turkish sources relating to the time of the Ottoman presence in Hungary also came to the forefront of attention. During this work, researchers mostly used the documents and chronicles relating to Hungary at the Hofbibliothek in Vienna. To a lesser extent, they drew on surviving material in the archives of towns on Hungarian territory. As early as 1851, the Academy charged Repiczky “also with the translation of the more important Turkish chroniclers of interest to Hungary, in full or in part as necessary”.39 János Repiczky (1817-1855) studied at Tübingen and subsequently at Vienna. His interest was not focused on Turcology exclusively. He also dealt with Arabic poetry; comparative analysis of Arabic, Persian, and Turkish poetry; and with language issues such as the comparing of Persian and Sanskrit.40 Repiczky’s name is clearly linked with research into the historical sources for the Ottoman period in Hungary. His name is likewise associated with the beginnings of Oriental languages teaching at the University of Pest: he was appointed privatdocent in Oriental languages in 1851. He served in this role until his death in 1855.

39 SZEKFĥ, Gyula: Bevezetés [Introduction]. In: Török-magyarkori Történelmi Emlékek. Második Osztály: Írók Török Történetírók. Vol. 3, 1566-1659. Transl. and supplied with notes by Imre KARÁCSON. Budapest 1916, 4. As a result of this commission, Repiczky produced the following works: A zentai ütközet török írókból [The Battle of Zenta in the Words of Turkish Writers]. In: Új magyar Múzeum 1851. – A’ mohácsi ütközet török forrásokból [The Battle of Mohács According to Turkish Sources]. Magyar Történelmi Tár 1 (1855), 127-140. – Nagy-KĘrös városa török levelei [Turkish Letters from the Town of Nagy-KĘrös]. Transl. from the originals by János REPICZKY; introduced and published by Sándor SZILÁGYI. Kecskemét 1859. 40 Az arab költészet fĘvonásai [The Principal Characteristics of Arabic Poetry]. Pest 1846. – Keleti órák: költészeti, történeti és nyelvtudományi tekintetben, 1. füzet. Párhuzam az arab, perzsa és török költészet között [Oriental Studies: Lectures on Poetry, History, and Linguistics, Booklet 1. Parallels Between Arabic, Persian, and Turkish Poetry]. Selected and transl. by János REPICZKY. Szeged 1848.

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For a decade and a half beginning in the early 1850s, many shorter and longer translations presenting different historical events were published from the pens of János Repiczky and Ármin Vámbéry, not always in scientific journals. The aim was “to enlighten the Hungarian public about the events of Hungarian history”.41 The systematic publication of sources resting on scientific foundations commenced in the 1860s. It was at this time that the Academy’s Historical Committee launched its Historical Records from the Turkish Period in Hungary series of source publications. The first section in this collection was entitled “Collected Documents”.42 A great role in this work fell to Áron Szílády (1837-1922). He did not acquire his expertise at the University of Pest. In 1857-58, he visited Istanbul and travelled in Turkey, subsequently spending two years at the University of Göttingen. Similarly to Repiczky, he conducted research into literature. He also translated Persian, Turkish, and Arab poets into Hungarian. The most important result of his work in the field of Oriental studies was, however, the translation and publication of Turkish-language documents surviving in the archives of Hungarian towns (NagykĘrös, Dömsöd, Szeged, Halas), namely publication of the first two volumes in the above-mentioned “Collected Documents” series.43 One of the most significant figures in nineteenth-century Hungarian Turcology was József Thury (1861-1906). We mention him among the historians because in the Hungarian research his name is linked to the translation of Turkish chroniclers. The first two volumes of chronicles by Turkish authors appeared in Hungarian in Thury’s translation in 1893 and 1896 respectively, in the second “section” of the Historical Records from the Turkish Period in Hungary series.44

41 SZEKFĥ, Bevezetés (as in n. 39), 3. 42 Török-magyar-kori Történelmi Emlékek. ElsĘ osztály: Okmánytár [Historical Records from the Turkish Period in Hungary. First Section: Collected Documents]. Published by the Hungarian Academy of Sciences. Vol. 1-7. Budapest 1863-1874. Thirty years later, in 1893, it was followed by the translation of those parts of the chronicles by Turkish historians that were connected with Hungary. This was the “second section” of the series. 43 Okmánytár a hódoltság történetéhez Magyarországon [Collected Documents on the History of the Turkish Period in Hungary]. Collected and transl. by Áron SZILÁDY and Sándor SZILÁGYI. 2 vols. Pest 1863. 44 Török-magyarkori Történelmi Emlékek. Második osztály: Írók. Török Történetírók [Historical Records from the Turkish Period in Hungary. Second Section: Writers.

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For these volumes, József Thury translated Turkish chronicles at the Hofbibliothek used earlier by Joseph Hammer-Purgstall in his well-known opus Geschichte des Osmanischen Reiches, often criticising his famous Austrian predecessor. It is worth emphasising once again that in accordance with the Academy’s conception of 1851, Thury published only those parts of the Turkish chronicles that pertained to Hungary. Thury’s activity was, however, much broader than this. He brought out a succession of source-publishing and analytical studies on such topics as the eastern Turkic languages and a dialect of Ottoman; he also published a Chagatai dictionary. Twenty years after Thury’s death, Gyula Németh said of his work that had it been published in a world language and not in Hungarian, Thury would count among the best-known Turcologists of his age.45 With Thury, a crucial period in the publication of historical sources came to an end. In subsequent decades, the attention of researchers turned to Turkish archives and libraries. The first of these new researchers was Imre Karácson (1863-1911), who did not use material housed in Vienna, but worked in Turkish archives and in the libraries of mosques in the first decade of the twentieth century. To this scholar, who died in Istanbul in 1911 in tragic circumstances (from blood poisoning), we owe an additional volume in the Hungarian language of work by Turkish chroniclers.46 Like his predecessors, Karácson did not translate entire works into Hungarian. It is worth quoting a line written by Karácson in his

Turkish Chroniclers]. Transl. and supplied with notes by József THURY. 2 vols. Budapest, 1893 (vol. 1) and 1896 (vol. 2). 45 NÉMETH, Akadémiánk (as in n. 4), 13. Not fitting into this succession of researchers is Antal Velics (1855-1915), who trained and practised as a physician, but who studied Oriental languages – Hebrew, Arabic, and Turkish – as a ‘hobby’ while in Algiers and during travels in Egypt. It is to him that we owe one of the most-used source publications of the nineteenth century, namely the two volumes of his Turkish Treasury Records for Hungary (1886, 1890). These were likewise published by the Hungarian Academy of Sciences. Velics selected excerpts from the Viennese Hofbibliothek collection of Turkish documents seized in Buda in 1686 and subsequently taken to the Habsburg capital. VELICS, Antal/KAMMERER, ErnĘ: Magyarországi török kincstári defterek [Turkish Treasury Defters for Hungary]. 2 vols. Budapest 1886 (vol. 1) and 1890 (vol. 2). 46 Török-magyarkori Történelmi Emlékek. Második Osztály: Írók. Török Történetírók [Historical Records from the Turkish Era in Hungary. Second Section: Writers. Turkish Chroniclers]. Vol. 3, 1566-1659. Transl. and supplied with notes by Imre KARÁCSON.

Budapest 1916.

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Introduction to this volume: “From the works of these writers, I have, understandably, translated only those sections which relate to the history of the Hungarian nation or which are connected with it.” Karácson’s second posthumous volume, 401 Ottoman documents translated into Hungarian, was likewise a product of archival research in Istanbul.47 In closing this survey of the work performed in the course of the long nineteenth century, we should mention another undertaking, namely the records of the Turkish traveller Evliya Çelebi (1611-1683).48 Their publication began in 1897 in the Ottoman Empire. On the recommendation of Ármin Vámbéry, the Hungarian Academy of Sciences offered 1500 French francs in funds for the bringing out in Turkish of the manuscript’s sixth section, which for the most part deals with Hungary. The sixth and seventh sections were published in Hungarian in Imre Karácson’s translation in 1904 and 1908 respectively.49 In the second half of the nineteenth century, the political mood in Hungary with regard to the Ottoman Empire underwent a change. After the failure of the 1848-1849 Hungarian revolution and war of independence, the Ottoman Empire took in many Hungarian political refugees and subsequently refused to extradite them. As we have already seen in the case of Ármin Vámbéry, some Hungarian émigrés in the Ottoman Empire played an active role in the birth of Hungarian Turcology. Here we should mention Dániel Szilágyi (1830-1885). Szilágyi not only became a good friend of Vámbéry, but also supported Áron Szilárdy. It was Szilágyi, a collector of books and manuscripts, who called the attention of Hungarian researchers to the codices from the library of King Matthias (1458-1490)

47 Török-magyar oklevéltár: 1533-1789 [Collected Ottoman Documents Relating to Hungary: 1533-1789]. Collected and transl. by Imre KARÁCSON; ed. by Lajos THALLÓCZY, János KRCSMÁRIK, and Gyula SZEKFĥ. Budapest 1914. 48 Running to ten volumes, Evliya Çelebi’s account of his travels is, of its kind, an unequalled source regarding the Ottoman Empire. 49 Török-magyarkori Történelmi Emlékek Második Osztály: Írók. Evliya Cselebi török világutazó magyarországi utazásai 1660-1664 [Historical Records from the Turkish Period in Hungary. Second Section: Writers. Evliya Çelebi’s Travels in Hungary 1660-1664]. Budapest 1904; Török-magyarkori Történelmi Emlékek Második Osztály: Írók. Evliya Cselebi török világutazó magyarországi utazásai 1664-1666 [Historical Records from the Turkish Era in Hungary. Second Section: Writers. Evliya Çelebi’s Travels in Hungary 1664-1666]. Budapest 1908.

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that were taken from Buda in 1526.50 On behalf of the Hungarian Academy of Sciences, a committee of scholars – Ferenc Kubinyi, Imre Henszlmann, and Arnold Ipolyi – was able to travel to Constantinople in 1862 to seek out codices seized in Buda from the library earlier amassed by Matthias. Eventually, in 1877 a number of volumes identified as coming from Matthias’s library were given back to Hungary by Sultan Abdul Hamid II (1876-1909). ‘Turcophile’ public opinion was connected with the kuruc, freedom-fighter tradition of 1848-1849, hostility to the Habsburgs, as well as hostility to the Russians. The return of the Corvinian codices and the repatriation of Francis II Rákóczi’s mortal remains from the Ottoman Empire in 1906 strengthened this feeling further. However, sympathy towards the Ottoman Empire in public opinion did not always mean positive appraisal of the Ottoman period in Hungarian history in works by Hungarian historians. In 1864, Ferenc Salamon published his book Hungary under Turkish Rule, in which he also drew on the data in the work Collected Documents published one year earlier. Salamon summed up his view of this period as follows: “One may list a whole host of deleterious effects wrought by this era, the marks of which have not disappeared even today. […] What we lost in the field of culture is incalculable. The Ottoman presence put our civilisation back two centuries.”51 By 1916, then, with the publication in Hungarian of the Ottoman sources tracked down in Istanbul by Imre Karácson, all the documentary and narrative source material brought to light by the not-always systematic and sometimes source-discovering work of the long nineteenth century was in the hands of Hungarian historians. This source-publication work was aimed at HungarianOttoman relations exclusively: it did not attempt to investigate Hungary’s role in a broader context or establish the position of the Ottoman-occupied Hungarian territories within the Ottoman Empire as a whole. Utilising this source base, Gyula SzekfĦ (1883-1955) wrote a summary of Hungarian history in the seventeenth century in which he agreed with Ferenc Salamon’s view, depicting the period as one of destruction and decline.52

50 The books and Oriental manuscripts collected by Szilágyi in Turkey eventually ended up in the library of the Hungarian Academy of Sciences. See CSORBA, Hungarian Emigrants (as in n. 24), 231. 51 SALAMON, Ferenc: Magyarország a török hódítás korában. 2nd, revised, edition. Budapest 1886, 450-451. 52 SZEKFĥ, Gyula: A föld és népe a török hódítás korában [The Land and Its People in the Ottoman Occupation Period]. In: A tizehtetedik század. Magyar Történet V. Budapest 1936, 5-79. For the sources he used in this chapter, see 395-404.

T HE D EVELOPMENT

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H UNGARIAN T URCOLOGY

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Although strictly speaking it does not belong to the sphere of Turcology research, we should nevertheless mention another strand in late nineteenth-century Hungarian historiography: that of the researchers grouped around Lajos Thallóczy, who worked in the archives in Vienna. An outstanding figure in this company was Sándor Takáts (1860-1932), who – using sources in Hungarian, Latin, and German – painted a picture of the Ottoman period in Hungarian history that was different from those given by Salamon and SzekfĦ.53 His ‘turcophile’ stance was later strongly criticised by Gyula SzekfĦ.54 The leading figure in this circle of historians was the above-mentioned Lajos Thallóczy (1854-1916), the founder of Balkan and Albanian studies in Hungary. Thallóczy worked not only as a historian. From 1885, he was the director of the archive of the Austro-Hungarian Monarchy’s ‘common’ Ministry of Finance in Vienna, and an official in that ministry’s Bosnia-Herzegovina division. He was in close contact with Benjamin (Béni) Kállay (1839-1903), head of the ministry since 1882 and also governor of Bosnia-Herzegovina, which had been occupied by the Monarchy in 1878.55 Thallóczy’s career as an official and his work as a historian seem to intertwine. His research into the histories of the Balkan countries picked up after his appointment to the archive in 1885, and continued later after Kállay’s death.56 In 1916, Thallóczy was appointed governor of occupied

53 From his rich corpus of work, his four-volume collection of studies entitled Rajzok a török világból [Sketches of the Turkish World] (Budapest 1915) is especially worthy of mention. In his Introduction, he summarises his viewpoint as follows: “Earlier on, our historians saw the Turks in Hungary as none other than ruinous and destructive pagans. I have shown that the Turks in Hungary did beneficial things, too, and much in the matter of mutual understanding.” TAKÁTS, Rajzok (as above), VII-VIII. 54 See n. 52. 55 Judgments of Kállay’s political activity and scholarly work vary quite considerably. See DÁN, Károly: Kállai Béni és a magyar imperializmus [Béni Kállay and Hungarian Imperialism]. In: Aetas 15/1-2 (2000), 220-249 and ADANIR, Fikret: The Formation of a ‘Muslim’ Nation in Bosnia-Hercegovina: a Historiographic Discussion. In: The Ottomans and the Balkans. A Discussion of Historiography. Ed. by Fikret ADANIR and Suraiya FAROQHI. Leiden 2002 (The Ottoman Empire and its Heritage 25), 267-304. 56 THALLÓCZI, Lajos: Magyar-szerb történeti összeköttetések 1526-ig: bevezetés a „Magyar-szerb összeköttetések oklevéltárához” [Hungarian-Serbian Historical Connections up to 1526: An Introduction to “Collected Documents on Serbian–Hungarian Links”]. Budapest 1906. – IDEM: Jajcza bánság, vár és város története 1450-1527 [A History of the Banate, Castle, and Town of Jajce 1450-1527]. Budapest 1915. – IDEM:

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Serbia, but was killed in a railway accident that same year while returning home to attend Francis Joseph’s funeral.

C ONCLUSION The starting point of Hungarian Turcology was – in the fields of linguistics and historiography alike – research into the origins, the ancient homeland, and the history of the Hungarian people. Scientific interest in the East was deeply rooted in Hungarian national feeling, and was not characterised by colonising or imperialistic ambitions in those territories, although the work of some of those involved was supported at state level. However, whatever the starting point, the research conducted in each of our two fields constitutes part of a universal whole. Hungarian linguistic studies that deal with the investigation of Turkic loanwords comprise part of the totality of the research into the history of the Turkic languages. In the same way, research into the Ottoman period in Hungary makes up a part of scholarly enquiry relating to the Ottoman Empire as a single entity.

Bosznia története [A History of Bosnia]. Budapest 1900. – IDEM: Studien zur Geschichte Bosniens und Serbiens im Mittelalter. Leipzig 1913.

Vienna and the Art Historical ‘Discovery’ of the Balkans M AXIMILIAN H ARTMUTH

This article examines the attention paid to the cultural heritage of Southeast European societies by the academic and governmental circles of the Habsburg capital between 1848 and 1918.1 At the beginning of this period, pioneering studies were published both on regions within the monarchy such as Dalmatia, Hungary, and Bucovina, and neighbouring territories such as Serbia, Walachia, and Moldavia.2 The central role of Vienna in facilitating knowledge production on this region was retained well into the twentieth century. Recent research has repeatedly pointed out that the institutional establishment of the discipline of art history in Vienna during the second half of the nineteenth century was decisively 1

An earlier version of this paper was presented under the title “Die kunsthistorische Entdeckung des Balkans durch die Wiener Wissenschaft nach 1850” at the Don Juan Archiv Wien on November 29, 2012, as part of a lecture series on the arts in Southeast Europe. In that lecture, I also attempted to cover the period after 1918, which is omitted here. Two articles on related topics have been published since research for this study was carried out: BORN, Robert: The Vienna School of Art History and Bukovina. In: History of Art History in Central, Eastern and South-Eastern Europe. Vol. II, Ed. by Jerzy MALINOWSKI. ToruĔ 2012, 127-135, and RAMPLEY, Matthew: The Idea of a Scientific Discipline: Rudolf von Eitelberger and the Emergence of Art History in Vienna, 1847-1873. In: Art History 34/1 (2011), 54-79.

2

I have dealt with the case of Bosnia – which is somewhat different both in terms of the period at which the discourse peaks and the thematic focus of this discourse – in a separate article: HARTMUTH, Maximilian: Insufficiently Oriental? An Early Episode in the Study and Preservation of the Ottoman Architectural Heritage in the Balkans. In: Monuments, Patrons, Contexts: Papers on Ottoman Europe Presented to Machiel Kiel. Ed. by Maximilian HARTMUTH and Ayúe DILSIZ. Leiden 2010, 171-184.

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shaped by factors such as the accelerating economic modernization, the heightening tensions between the nationalities within the Habsburg Monarchy, and the onset of the monarchy’s decline following the territorial losses in Italy (1859/66). In order to counterbalance these processes by promoting the idea of a joint cultural heritage as a unifying imperial concept, research bodies such as the Institut für Österreichische Geschichtsforschung and the empire’s monuments protection office k. k. Central-Commission für die Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale (after 1873 Zentralkommission für die Erforschung und Erhaltung der Kunst- und historischen Denkmale) were set up.3 A number of publications by leading figures of the so-called Vienna School of Art History are informed by these aims of cultural policy, for – regardless of their innovative methodology – they convey notions of a mission civilisatrice to be imparted by art history with regard to specific peripheral regions of the monarchy as well as neighbouring countries. These aspects of the discourse have thus far largely been addressed in relation to publications from the Vienna School milieu dating to around 1900.4 Instead, this paper focuses on a number of mid-nineteenth century scholars who uncovered the artistic heritage of several peripheral regions and brought it to the attention of a wider European academic public for the first time. Next to the efforts of outstanding individuals, the significance of institutions, such as the imperial monuments protection office or the network of applied art schools in the region will be discussed.

3

BAKOŠ, Ján: From Universalism to Nationalism. Transformations of Vienna School Ideas in Central Europe. In: Die Kunsthistoriographien in Ostmitteleuropa und der nationale Diskurs. Ed. by Robert BORN, Alena JANATKOVÁ and Adam S. LABUDA. Berlin 2004 (Humboldt-Schriften zur Kunst- und Bildgeschichte 1), 79-101, here 79. – RAMPLEY, Matthew: Art History and the Politics of Empire. Rethinking the Vienna School. In: The Art Bulletin 91/4 (2009), 446-463, here 446.

4

RAMPLEY, Matthew: Orientalismus und Balkanismus in der Donaumonarchie: Ein kritischer Blick auf die Wiener Schule der Kunstgeschichte. In: Die Etablierung und Entwicklung des Faches Kunstgeschichte in Deutschland, Polen und Mitteleuropa. Ed. by Wojciech BAàUS and Joanna WOLAēSKA. Warszawa 2010 (Das Gemeinsame Kulturerbe 6 / Wspólne Dziedzictwo 6), 237-254, here 241-251.

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S EEKING THE FAMILIAR IN THE UNFAMILIAR : A FOUNDING FATHER IN H UNGARY AND D ALMATIA In light of the peripheral position of Southeastern Europe in today’s art historical mainstream, it may be surprising that the development of the discipline as a university subject in Vienna and the art historical ‘discovery’ of the Balkan Peninsula began at the same time. Already the first regular professor of art history in Vienna, the Olomouc-born Rudolph Eitelberger (1817-1885),5 made significant contributions to the cultural charting of areas at the monarchy’s southern and eastern margins. Prior to his appointment to this new chair in 1852, which was then attached to the Institute for Austrian Historical Research (IÖG) and yet to become an independent university department, Eitelberger still had to acquire his expertise privately. Shortly after his appointment, this first representative of the ‘Vienna School’, who is similarly considered a founder of the Museum of Applied Arts [k. k. Österreichisches Museum für Kunst und Industrie, today Österreichisches Museum für angewandte Kunst (MAK)], undertook an exploratory excursion to Hungary. The results came as a surprise to many contemporaries: Eitelberger had revealed that Hungary indeed boasted a significant architectural heritage from the medieval period. This was surprising in light of the general silence about it in travelogues. The assumption that Mongols, Ottomans, and others had completely devastated the country proved to be wrong; it was claimed that not even the Hungarians themselves were aware of these monuments.6 Research undertaken within Hungary by Eitelbergers’ contemporaries was not acknowledged.7 The reports from this excursion were published in the annual of the k. k. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale – a monuments protection office newly founded to institutionalize the study and preserva-

5

For the beginnings of the ‘Vienna School’ and Eitelberger’s part in it, see AURENHAMMER,

Hans: 150 Jahre Kunstgeschichte an der Universität Wien (1852-2002): Ei-

ne wissenschaftshistorische Chronik. In: Mitteilungen der Gesellschaft für vergleichende Kunstforschung in Wien 54 (2002), 1-15. 6

EITELBERGER v. EDELBERG, Rudolph: Bericht über einen archäologischen Ausflug nach Ungarn in den Jahren 1854 und 1855. In: Jahrbuch der Kaiserl. Königl. CentralCommission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale 1 (1856), 91-140.

7

SZENTESI, Edit: Die Anfänge der institutionellen Denkmalpflege in Ungarn (die 18501860er Jahre). In: The nineteenth-century process of “musealization” in Hungary and Europe. Ed. by ErnĘ MAROSI and Gábor KLANICZAY. Budapest 2006 (Collegium Budapest workshop series 17), 235-248. I owe this reference to Robert Born.

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tion of the monarchy’s historical monuments. Soon after Eitelberger’s Hungarian excursion, the Central-Commission sent him to chart the monuments in another Habsburg crown land, Dalmatia.8 A trained architect was sent along to accompany and aid him. The parallel development of art history as an institution in the Habsburg monarchy and the interest in, and subsequent production of knowledge on, regions to the south and east of the country’s core provinces was thus hardly entirely coincidental. The development of the discipline did not just reflect the interests of dispassionate learned gentlemen, but also echoed agendas external to academic research. Dalmatia had fallen to Austria in 1797 as a side-effect of the annexation of Venice; it long remained a place unfamiliar even in the centres of the monarchy. By the middle of the century it was still a peripheral and underdeveloped area, without streets and railways and only a few literate people. Eitelberger assumed the role of an explorer whose perceived mission was also to raise interest in this mysterious place at home. At the same time, he felt as if he had to warn his readers of the primitive conditions they would have to endure there: neither comfortable accommodation nor cultivated dining were to be expected. Beyond the coast, Italian was barely understood.9 Eitelberger, too, confined himself to the study of monuments in some coastal cities; the mountainous Slavonic-speaking hinterland remained unexplored. His works on both Hungary and Dalmatia thus remained limited to the presentation and analysis of works of art in the tradition of the Western Church. To put it in other words, Eitelberger was looking for the familiar in unfamiliar terrains. This focus had the advantage, perhaps even the purpose, of relating the heritage of the periphery to that of the distant centre rather than exoticizing it.10

8

EITELBERGER v. EDELBERG, Rudolf: Die mittelalterlichen Kunstdenkmale Dalmatiens

9

Ibid., 3-5.

in Arbe, Zara, Traù, Spalato und Ragusa. Wien 1861. 10 For an interpretation of Eitelberger’s de-emphasizing of ‘non-western’ elements in Dalmatian art as expressive of state policy, see RAMPLEY, Matthew: Dalmatia is Italian! The Politics of Art History in Austria-Hungary and South-Eastern Europe. In: Études balkaniques 4 (2008), 130-147.

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K NOWING BEFORE POSSESSING ? A T RANSYLVANIAN IN W ALACHIA More than Eitelberger, the Central-Commission was also interested in monuments in territories neighbouring the emperor’s domain. In 1857, it sent its regional representative (Landeskonservator) of southern Transylvania, Ludwig Reissenberger (1819-1895), across the Carpathians to nearby Wallachia to study the monastery church of Curtea de Argeú. This took place in a time following the Crimean War, in which Wallachia had been occupied briefly by Austrian troops. The curious exterior of the church had evidently fascinated the commander of the occupying forces, Count Johann Baptist Coronini-Cronberg (1794-1880). The early sixteenth-century building represented an original synthesis of Byzantine, Western, and Islamic elements that proved intriguing even to an educated westerner. Coronini-Cronberg ordered that its façade be photographed and copies be sent to the Central-Commission in Vienna, which he apparently thought should be informed of the existence of such a monument. Indeed, his photographs aroused interest in Vienna. The Central-Commission dispatched Reissenberger to Curtea de Argeú to document the interior – which had not been recorded by Coronini-Cronberg – and produce a comprehensive analysis of the entire monument.11 Did the Central-Commission, which must not be understood as an institution operating autonomously of the power relations that had created it, perhaps think it likely that the monument would soon fall under its jurisdiction? Reissenberger, a high-school teacher, was probably chosen for the job on account of his being close at hand;12 he was based in Sibiu, approximately 100 km from Curtea de Argeú. The monograph he wrote turned out to be a pioneering work that would long remain a standard work. When in 1867 the recently established Romanian principality was to present itself at the Paris World Fair as an

11 REISSENBERGER, Ludwig: Die bischöfliche Klosterkirche bei Kurtea de Argyisch in der Walachei. In: Jahrbuch der Kaiserl. Königl. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale 4 (1860), 175-224. It was published at the same time as an eponymous offprint monograph. 12 For Reissenberger’s interesting biography, see the obituary with a complete list of his various works: BIELZ, E. A.: Ludwig Reissenberger. In: Verhandlungen und Mitteilungen des Siebenbürgischen Vereins für Naturwissenschaften zu Hermannstadt 45 (1896), 1-11. The case of Transylvania is treated in detail in BORN, Robert: Die Kunsthistoriographie in Siebenbürgen und die Wiener Schule der Kunstgeschichte von 1850 bis 1945. In: Die Etablierung und Entwicklung des Faches Kunstgeschichte (as in n. 4), 349-380.

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independent nation, its prince commissioned a translation of Reissenberger’s book into French.13 The orientalizing architecture of Romania’s fair pavilion echoed that of the church, a wooden model of which was exhibited in its interior.14 Reissenberger had helped to turn the spotlight on a monument that came to be regarded as an embodiment of national spirit and as a site of dynastic legitimacy and continuity. Romania’s German-born prince Carol I (1866-1914) had his wife and himself buried in the church, as had its founder Neagoe Basarab (1512-1521). Carol’s successor Ferdinand I (1914-1927), also a Hohenzollern, was to follow the precedent.

H LÁVKA AND R OMSTORFER OF THE C ARPATHIANS

ON THE ‘ WRONG ’ SIDE

A similarly original work on the Orthodox Christian architecture of Austria’s trans-Carpathian province of Bucovina was produced by a contemporary of Reissenberger: Josef Hlávka (1831-1908) was one of the great architectentrepreneurs of the period of urban renewal in Vienna after 1848 (Ringstraßenzeit). He was commissioned to build a gigantic residential-administrative complex in the province’s capital Czernowitz (Chernivtsi) for use by the regional Greek-Orthodox Metropolitan.15 Hlávka made a study trip around Bukovina in search of local artistic traditions to inform his design. His findings were published in 1866 as an article on “Greek-Oriental church buildings of Bukovina.”16 The same monuments later fascinated a man that Vienna sent to teach at the State School for Applied Arts (Kunstgewerbeschule) founded in Czernowitz in 1873, Karl Romstorfer (1854-1916). In 1887 the state was generous enough to

13 REISSENBERGER, Ludwig: L’église du monastère èpiscopal de Kurtea d’Argis en Valachie. Vienna 1867. 14 For Romania’s representation at international fairs, see VLAD, LaurenĠiu: Imagini ale identităĠii naĠionale: România úi expoziĠiile universale de la Paris, 1867-1937 [Images of the National Identity: Romania at the Universal Expositions in Paris, 1867-1937]. Bucharest 2001. I owe this reference to Robert Born. 15 The complex built between 1864 and 1883 currently serves as the city’s university campus. On the personality and work of Josef Hlávka see: BAHR, Wolfgang: Josef Hlávka - ein tschechischer Architekt, Baumeister und Mäzen im alten Österreich. In: Österreich in Geschichte und Literatur 48/6 (2004), 356-374. 16 HLÁVKA, Josef: Die griechisch-orientalischen Kirchenbauten in der Bukowina. In: Österreichische Revue 4 (1866), 106-120.

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fund his research trip to neighbouring Romania, whose monuments he wanted to study so as to be able to compare and contextualize them stylistically with those in Habsburg Bukovina.17 It should be pointed out that the topographical-administrative term Bucovina was nothing but a Habsburg invention. It was coined to denote that part of the medieval heartland of Moldavia that Austria had acquired from the Ottomans in 1775. Hence, it made little sense as an art-historical regional category. Researchers had to look beyond its administrative borders in order to be able to say something meaningful about the region’s historical artistic development. Wisely, Romstofer did not write of a “Bucovinian” style, instead employing the term “Moldavian-Byzantine” to designate this provincial variant of architecture in the Orthodox Christian tradition.18 Hoping to find the origins of this idiom, he also extended his travels to Constantinople and southern Russia. When Romstorfer was eventually commissioned to write the chapter on art for the Bucovina volume of the Österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, a monumental publication project of a state challenged by the diversity found in its territories,19 he declared the study of this unfamiliar heritage to be “surprisingly fruitful.”20

K ANITZ :

RESEARCH SEQUENTIAL TO DE -O TTOMANIZATION

However, the most prolific contributor to Balkan art history in the period of midcentury Habsburg Neo-absolutism was the Budapest-born Felix Philipp Kanitz (1829-1904). Kanitz, originally lithographer and arts correspondent of the Leipziger Illustrierten Zeitung, rose to become one of the seminal Balkan scholars of the late nineteenth century, excelling in cartographic documentation and topog-

17 ROMSTORFER, Karl A.: Die moldauisch-byzantinische Baukunst. In: Allgemeine Bauzeitung 61 (1896), 82-96. 18 Ibid. 19 On this publication project, see STAGL, Justin: Das ‚Kronprinzenwerk‘: eine Darstellung des Vielvölkerreiches. In: Das entfernte Dorf: Moderne Kunst und ethnischer Artefakt. Ed. by Ákos MORAVÁNSKY. Wien 2002, 169-182. On the Bukowina volume of the “Kronprinzenwerk” see HRYABAN, Viktoriya: Der »Bukowina-Band« der Österreichisch-Ungarischen Monarchie in Wort und Bild, In: Kakanien Revisited 25.11.2005 http://www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/VHryaban1.pdf (15.10.2013). 20 ROMSTORFER, Karl A.: Bildende Kunst. In: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Vol. 20: Bukowina. Wien 1899, 409-458.

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raphic specification. Kanitz’ achievement in mapping the Balkans was seen as a crucial pre-condition for the economic development of this region, the sequence of scientific charting and subsequent economic development evoking parallels to the colonial exploitation of Africa.21 In his travelogues, Kanitz frequently drew parallels between his own explorations and those of Oriental travellers. Egypt in particular served as comparative setting for his own enterprises.22 The nexus of colonial ambition and academic research is reflected in Kanitz’s future post as curator at the Orientalisches Museum in Vienna, an institution also pursuing the aim of trade expansion.23 Kanitz’ first travels to Serbia in 1859 laid the foundations for the later arthistorical charting of that area. His concise but lavishly illustrated debut on “Serbia’s Byzantine monuments” was published in 1862. This pioneering (but soon superseded) work recorded visually and analytically six churches built as part of monastic foundations between the twelfth and fifteenth centuries by various Serbian princes along the Morava river valley south of Belgrade.24 If these monuments are traced on a map revealing the contemporary political borders, it becomes manifest that Kanitz chose these monuments not for their representativeness. Rather, his travels were restricted to the part of the future Serbian state then ruled by a Christian prince, the paúalk of Belgrade (since 1833). He did not visit those parts of what later became Serbia that were de facto and de iure under Ottoman rule at the time. This is a significant detail, because it is in fact in the surroundings of southern cities like Novi Pazar, Skopje, and Prishtina, that many of the most important monuments of Serbian medieval culture were located. Kanitz appears to have considered it too dangerous to travel there.

21 WEISS, Jakob: Felix Kanitz, ein Pionier der Balkanforschung. In: Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft in Wien 73 (1930), 5-21, here 7. 22 KIRÁLY, Edit: Die Zärtlichkeit des Kartografen. Die Reiseberichte des Felix Kanitz. In: Zentren und Peripherien in Herrschaft und Kultur Österreich-Ungarns. Ed. by Endre HÁRS et al. Tübingen-Basel 2006 (Kultur – Herrschaft – Differenz 7), 239-253, here 245. 23 FEEST, Christian F.: The Origins of Professional Anthropology in Vienna. In: Kulturwissenschaften im Vielvölkerstaat: zur Geschichte der Ethnologie und verwandter Gebiete in Österreich, ca. 1780 bis 1918 = L’anthropologie et l’état pluri-culturel: le cas de l’Autriche, de 1780 à 1918 environ. Ed. by Britta RUPP-EISENREICH and Justin STAGL. Wien 1995 (Ethnologia austriaca 1), 113-131, here 120. 24 [Kanitz], F[elix]: Serbiens byzantinische Monumente. Wien 1862. A version translated into the Serbian by Aleksandar Sandiü was published simultaneously under the title “Vizantijski spomenici po Srbiji”.

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The unintended consequence was that his work failed to detect a crucial period and region that linked the early monuments along the river Ibar (in the mountainous west of modern Serbia) and the later monuments along the Morava. Thus he missed the era during which Serbia, in terms of influence on its art, finally turned away from the Adriatic and toward Constantinople. The chief monuments from that period were located in Macedonia and Kosovo, which remained Ottoman until 1912/13. In his pioneering work half a century earlier, Kanitz had not remarked in any great detail upon the striking differences between the six buildings he studied. Both medieval Serbian architecture and fresco paintings are represented as provincial echoes of Constantinople. While Kanitz found it greatly interesting that their architecture should be reflective of these monuments’ location on the frontier between Eastern and Western Christendom, he was less enthusiastic about the frescoes. What he perceived as their comparatively close similarity was explained by him as conditioned by the unfortunate (self-imposed) limitation on the side of painters working in the Byzantine tradition. This conservatism, he regretted, diminished art to the status of a craft.25 It should be noted that Kanitz was also concerned with the impact of his research on architectural practice in Serbia. He had noticed that its people appreciated these monuments “only instinctively” and not as works of art of historic value and content. This lack of awareness of the value of this heritage with regard to contemporary design practices had led to a neo-Serbian architecture that, according to Kanitz, lacked form and style. Thus he hoped that his work could contribute to a revival of time-honoured forms in a new historicist architecture germane to Serbia.26 Last, mention should be made of a decorative leaf preceding the plates which declared the emperor’s approval of the publication of Kanitz’ work.27 Curiously, one of Francis Joseph’s many titles is highlighted in red, namely Gross-Woiwod der Serbischen Woiwodschaft. A province by the name of Woiwodschaft Serbien und Temeser Banat had been created in 1849 in southeast Hungary in the aftermath of the revolution. Encompassing what is now the north Serbian region of Vojvodina and neighbouring territories in western Romania, this province had,

25 Ibid., 16-17. 26 Ibid., 5-6. 27 It reads: “Mit Allerhöchster Genehmigung Seiner Kaiserlich-Königlich-Apostolischen Maiestät FRANZ JOSEPH I.”. Here Genehmigung probably refers not to a permit, as in today’s usage, but points to the fact that its publication was genehm to the emperor, i.e., he approved of it.

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however, been abolished again in 1860. Yet, just as the monarch continued to style himself Grand Duke of Tuscany even after its loss in 1859, or as King of Jerusalem, this title survived into the period after 1860. Why it should have been highlighted here is not entirely clear. It appears as if this was perceived as an opportunity to stress the relationship between the emperor and his Serbian subjects. To some extent, support ‘from above’ can also be inferred from the fact that the monograph was printed and published by the Hof- & Staatsdruckerei. ‘Serbiens byzantinische Monumente’ marked only the beginning of Kanitz’ life-long preoccupation with this region. In 1863 he travelled through Syrmia in southeast Hungary and discovered there, in the forest valleys of the Fruška Gora near Novi Sad, “a second period of Serbian construction activity.” A record of his findings was published four years later in a travelogue,28 which also provided him with an opportunity to hail an important victory: His earlier critique of contemporary church architecture in Serbia had been received and understood. The prince of Serbia – by then de facto an independent country – had followed his suggestions and decreed that all future buildings be designed “in the Byzantine style.”29 In the first half of the 1870s, Kanitz also visited Bulgaria, which was then still under Ottoman rule; in the late 1880s he visited Serbia’s new territories south of Niš. He apparently never travelled to Kosovo and Macedonia – two regions central to Serbian art history. A growing number of art historians following in his footprints had made it less and less likely to stumble upon virgin monuments. This, perhaps, as well as his increasing age, deterred Kanitz from venturing to those parts of medieval Serbia that were to remain under Ottoman rule almost until his death. His final statement concerning the historical development of Serbian art is found in the last, posthumously published volume of his trilogy on ‘the kingdom of Serbia and the Serb people.’30 He now suggested that three periods with definite characteristics should be discerned: 1) an early period (“byzantinische Županen-Frühperiode”), lasting from 900 to 1180; 2) a golden age under the Nemanjid dynasty, in which its oscillation between East and West was reflected in a stylistic dualism (“westliche byzantinisch-romanische Nemanjiden-Glanzepoche”, 1180-1370); and 3) a late period which he referred to as more oriental

28 KANITZ, F[elix]: Serbien: historisch-ethnographische Reisestudien aus den Jahren 1859-1868. Leipzig 1868, 726-744. 29 Ibid., 733. 30 KANITZ, Felix: Das Königreich Serbien und das Serbenvolk: von der Römerzeit bis zur Gegenwart. Vol. III. Staat und Gesellschaft. Leipzig 1914, 773-808.

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(“östliche Lazariden- und sirmische Spätzeit”).31 This periodization was soon superseded by a different one proposed by the Frenchman Gabriel Millet (18671953).32 It is only quite recently that Millet’s system has been called into question and concepts from Kanitz’s approach have been taken up again by scholarship.33

C ONCLUSION While it is more common for Balkan art histories to remember those scholars who worked around the turn of the century and whose methods may be closer to our own ones, it is a significant yet overlooked fact that a first wave of interest reflected by published research can be detected in the 1850s.34 This was the product of a commitment resulting from the interplay of various factors: the monarchy’s growing attentiveness to the cultural diversity in its own lands – seen both as a quality and a threat – and adjacent territories, many of which had remained almost unknown; the rise of art history as an academic discipline offering tools for the systematic charting of the artistic heritage, which was seen as symbolic capital in nationalist and conciliatory projects alike; and progressive institutionalization in many fields, including academic research and training as

31 Ibid., 775-784. 32 MILLET, Gabriel: L’ancien art serbe: les églises. Paris 1919. Millet, too, suggested a tripartite division, yet strictly according to stylistic criteria: a Romanesque-influenced “Raška style” was followed by an eastern-looking “Serbian-Byzantine style”, while the grand finale was the extremely decorative “Morava style”, which was celebrated as more independent from previous western and eastern models. 33 PANTELIû, Bratislav: The architecture of Deþani and the role of Archbishop Danilo II. Wiesbaden 2002. Panteliü ultimately argues that the choice of styles was not simply one of progressively changing taste, with the “Serbo-Byzantine” replacing the “Raška style” at a specific point in time. Rather, the older style carried connotations of Nemanjid sovereignty that were not simply outmoded by the Byzantinizing trend in the late thirteenth and fourteenth centuries. This claim is close to Kanitz’s view of a stylistic ‘dualism’ inherent to Nemanjid-period architecture, not just a sequence of styles. 34 Rampley similarly writes that: “The period between the 1850s and the 1880s has largely been overlooked in histories of the Vienna School. The better known achievements of the generation of Riegl, Wickhoff and their contemporaries have eclipsed the activities of their teachers and predecessors.” RAMPLEY, The idea of a scientific discipline (as in n. 1), 76.

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well as artistic practice, often with the mission of producing knowledge that was, in some measure, useful. The surprise effect of these studies on contemporary audiences should not be underestimated. In their respective prefaces, the authors themselves professed astonishment that these areas, which had been marginalized into European cultural peripheries in the early modern era, had once seen artistic output on a remarkable level. They were conscious of the fact that their own contribution stood only at the beginning of a long-term enterprise. Until World War I, Vienna was a logical centre for this project. As the empire’s capital, it concentrated scholars, patrons, readers, and institutions. Kanitz’s work, for example, benefited from the presence in Vienna of Slavic educators, philologists, and historiographers such as Vuk Karadžiü (1787-1864) and Pavel Jozef Šafárik (1795-1861). They followed his research with great interest and supplied him with information when required.35 Without the support extended to his contemporaries Eitelberger and Reissenberger by the Central-Commission, it is questionable if their studies of Dalmatia and Wallachia would ever have been undertaken. There is no doubt that Hlávka and Romstorfer were actually curious about the peculiar heritage of the lands to which they were dispatched by Vienna. However, their historic role in the study of the region was also a consequence of their incorporation in networks mediating the late monarchy’s cultural policy. It should not come as a surprise, then, that Vienna’s role changed with the demise of the empire, though certainly not abruptly. Independent states had emerged before in this region once split between the Habsburg and Ottoman domains. These newly independent states as well as their institutions of learning needed some time to consolidate, however. Among the first generation of administrators and teachers there were still many foreigners.36 The first generation of native scholars in important positions at universities, academies, and in commis-

35 This is acknowledged in KANITZ, Serbiens byzantinische Monumente (as in n. 25), 6; see also 5. 36 For the Bulgarian case, for instance, see PETKOVA-CAMPBELL, Gabriela: A place in Europe: Bulgaria and its museums in ‘new’ Europe. Oxford 2009, and BALEVA, Martina: Bulgarien im Bild: Die Erfindung von Nationen auf dem Balkan in der Kunst des 19. Jahrhunderts. Köln-Wien-Weimar 2012 (Visuelle Geschichtskultur 6), dealing with museum and monument protection officials and artists, respectively, many of whom were Czechs, Poles, and Russians. See also my reviews of both books http:// hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2013-1-165 and http://hsozkult.geschich te.hu-berlin.de/rezensionen/2012-3-163.

V IENNA

AND THE

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sions were usually still trained abroad in places like Vienna, Munich, or Paris. As late as World War I, foreign researchers such as Gabriel Millet or Josef Strzygowski (1862-1941) were still courted by the relevant officials in Serbia and Bulgaria;37 their art-historical judgments were still perceived as carrying decisive weight. This situation changed when Balkan scholars began to publish works based on continuous presence and field work in the countries in question, but also with the development of local academic media and the training of students – all resulting in the creation of new sites and centres of discourse. The languages in which the most important research was published changed, too. As a result, these new discourses were relatively marginalized, for the audience willing and able to follow and engage with ongoing research shrank significantly. While most works were indeed published with (often extensive) summaries in French, German, and English, this seems not to have helped ensure the survival of a research tradition outside the region, verifiability being key to viable research. To some degree, the emancipation from the paternalizing discourses of late imperialism has thus ultimately increased this heritage’s international invisibility.

37 See e.g. the remarks in STRZYGOWSKI, Josef: Kulturarbeit in Bulgarien. In: Oesterreichische Monatsschrift für den Orient 40/11-12 (1914), 316-322.

„Unsere Aufgaben in der Orientalistik und im Orient“ Die Gründung und die erste Dekade des Prager Orientalischen Instituts in der Zwischenkriegszeit S ARAH L EMMEN

Mit der Gründung der Tschechoslowakei am 28. Oktober 1918 stand der neue Staat vor der Aufgabe, sich in einer bereits weitgehend vernetzten Welt zu positionieren: diplomatische, wirtschaftliche und kulturelle Kontakte mussten geknüpft, Werbung in eigener Sache gemacht und Beziehungen gestärkt werden. Die Bündelung und Organisation solcher Anstrengungen wurde Ministerien sowie weiteren Institutionen anvertraut. Aus institutionsgeschichtlicher Perspektive ist auffallend, dass dem sogenannten Orient hier eine besondere Aufmerksamkeit zuteilwurde: Neben der Gründung einer Reihe von Vereinen und Gesellschaften in den 1920er und 1930er Jahren, die sich dem Orient mit unterschiedlichen thematischen und geographischen Schwerpunkten widmeten, wurde bereits kurz nach der Staatsgründung der Grundstein für ein staatlich finanziertes Orientalisches Institut [Orientální ústav] gelegt, das sich vor allem mit wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Aspekten der tschechoslowakischen Beziehungen zum Orient beschäftigen sollte. Neben einem parallel dazu gegründeten Slawischen Institut [Slovanský ústav] war es das einzige Institut dieser Größenordnung mit deutlicher regionaler Ausrichtung und verweist somit auf die besondere Aufmerksamkeit, die dem Orient gewidmet wurde. Das bereits seit 1919 geplante und 1922 gegründete Orientalische Institut hatte prominente Fürsprecher: Neben den beiden „Gründervätern“, dem tschechoslowakischen Staatspräsidenten Tomáš Garrigue Masaryk (1850-1937) sowie dem Theologen und Orientalisten Alois Musil (1868-1944), waren gleich drei Ministerien als staatliche Repräsentanten sowie maßgebliche Vertreter aus Wissenschaft, Wirtschaft und der Finanzwelt in die Gründung und Ausführung ein-

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gebunden. Trotz dieser hochrangigen Initiative dauerte es fast zehn Jahre, bis das Institut nach langjähriger Planung im Jahr 1928 endgültig mit Sitz in Prag eröffnet wurde. Schon kurze Zeit später wurde die Arbeit durch die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise stark beeinträchtigt und kam zeitweise fast gänzlich zum Erliegen. Nichtsdestotrotz verweisen die Gründungsgeschichte des Orientalischen Instituts und die großzügige finanzielle sowie politische Unterstützung, die das Institut während der gesamten Zwischenkriegszeit erhalten hat, auf die hohe Bedeutung, die der Beschäftigung mit dem Orient in der Tschechoslowakei zugesprochen wurde. Um diese Relevanz genauer zu bestimmen, werden im Folgenden zuerst die Gründungsgeschichte des Instituts (1920-1928), dann dessen Aufbau und Aktivitäten in der Zwischenkriegszeit (bis 1938) im Vordergrund stehen, wobei der Schwerpunkt auf den Einschätzungen und Überlegungen der beteiligten Akteure zu Aktionsrahmen und Tätigkeiten des Instituts liegt.

I NSTITUTIONELLE V ERANKERUNG V ERKNÜPFUNGEN

UND PERSONELLE

Das Prager Orientalische Institut war bei weitem nicht die erste Institution in den böhmischen Ländern, die sich der Auseinandersetzung mit dem Orient verschrieb. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Orient hatte in Prag (wie auch in anderen Regionen der Habsburger Monarchie)1 bereits eine lange Tradition in Form der Hebraistik, die v.a. an der Universität verankert war. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Orientalistik von der Theologischen an die Philosophische Fakultät der Prager Karl-Ferdinands-Universität transferiert, was eine wesentlich breitere Auslegung des Faches ermöglichte. Neben dem traditionellen Studium der hebräischen Sprache wurden nun auch die Indologie, die Arabistik und die Sinologie in die sich wissenschaftlich etablierende und ausfächernde Orientalistik integriert, bis sie in der Zwischenkriegszeit im Rahmen der nunmehrigen Karls-Universität ihre bis dato fruchtbarste Zeit erlebte.2 Wenn das zu

1

Siehe exemplarisch die Artikel von Johannes Feichtinger (Wien) und Ibolya Gerelyes

2

MENDEL, Miloš/OSTěANSKÝ, Bronislav/RATAJ, Tomáš: Islám v srdci Evropy. Vlivy

(Budapest) in diesem Band. islámské civilizace na dČjiny a souþasnost þeských zemí [Der Islam im Herzen Europas. Einflüsse der islamischen Zivilisation auf Geschichte und Gegenwart der böhmischen Länder]. Praha 2007, 232. Eine Einbettung der Orientalistik in die Universitätsstruktur bietet DČjiny Univerzity Karlovy, sv. IV: 1918-1990 [Geschichte der Karls-

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gründende Orientalische Institut zwar stark von dieser wissenschaftlichen Verankerung vor Ort und vor allem von den involvierten Personen profitieren sollte, hatte es dennoch andere institutionelle Vorbilder. Es waren vor allem die k.k. Österreichische Orient- und Überseegesellschaft sowie die k.k. öffentliche Lehranstalt für orientalische Sprachen in Wien, die als Blaupause für das zu gründende Orientalische Institut dienten.3 Die Gründung aller drei Institute wurde von dem Orientalisten Alois Musil initiiert und konzipiert und erfolgte mit großer staatlicher Unterstützung. Wer war dieser Mann, der die mitteleuropäischen Orientstudien derart geprägt hat? Alois Musil, im mährischen RychtáĜov (deutsch Richtersdorf) geboren, absolvierte erst ein Priesterseminar, bevor er sich neben seiner Lehrtätigkeit zu regelmäßigen Forschungsreisen in den Vorderen Orient aufmachte, wo er sich als

Universität, Bd. 4: 1918-1990]. Hg. v. Jan HAVRÁNEK und ZdenČk POUSTA. Prag 1995, 148-152. Einen kritischen Blick auf die Entstehung der Orientalistik in Prag bis 1848 liefern SEGERT, Stanislav/BERÁNEK, Karel: Orientalistik an der Prager Universität. Erster Teil: 1348-1848. Praha 1967, hier v.a. 174-175, die der universitären, zu diesem Zeitpunkt noch an der Theologischen Fakultät ansässigen Orientalistik im 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts aus wissenschaftlicher Perspektive kein gutes Zeugnis ausstellen. 1847 wurde die Hebraistik an der Philosophischen Fakultät eingeführt und damit ein Paradigmenwechsel vollzogen, der eine neue wissenschaftliche Ausrichtung des Faches erlaubte. 3

BEýKA, JiĜí: Alois Musil, duchovní otec Orientálního ústavu [Alois Musil, der geistige Vater des Orientalischen Instituts]. In: Alois Musil – þeský vČdec svČtového jména. Referáty, pĜednesené na mezinárodní konferenci, poĜádané Ústavem Blízkého východu a Afriky Univerzity Karlovy v Praze k 50. výroþí úmrtí profesora Aloise Musila, Praha 14.-16. Ĝíjna 1994. Hg. v. Rudolf VESELÝ. Praha 1995 (Rozpravy Orientalia 1), 29-32, hier 29. Die Entstehung der Orient- und Überseegesellschaft wird kursorisch behandelt in BAUER, Karl Johannes: Alois Musil. Theologe, Forscher, Gelehrter und Stammesscheich. Eine Darstellung seines Lebens im Dienste der österreichischen Forschung und der Verbindung der Monarchie mit dem türkischen und arabischen Orient. Universität Wien, Dissertationsschrift, 1984, 223-229. Über die Vorgeschichte dieses Instituts – noch unter seiner alten Bezeichnung – s. Das k. k. österreichische HandelsMuseum 1875-1900. Hg. vom CURATORIUM. Wien 1900, sowie eine weitere Publikation, die sowohl die Statuten der Orient- und Überseegesellschaft als auch Aufbau und Arbeit derselben beschreibt: Das Handelsmuseum in Wien: Darstellung seiner Gründung und Entwicklung 1874-1919. Hg. vom ÖSTERREICHISCHEN HANDELSMUSEUM. Wien 1919, 26-30 (Statuten) sowie 31-44 (Tätigkeiten).

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Geograph, Ethnograph und Kartograph betätigte.4 Diese Expeditionen, die sich über zwei Jahrzehnte erstreckten, waren schlussendlich von großem Erfolg auf mehreren Ebenen gekrönt: So verschaffte ihm seine bahnbrechende Entdeckung des Schlosses Amra (Qusair Amra) und weiterer kulturhistorischer Denkmäler die Anerkennung der etablierten Wissenschaft, indem er erst korrespondierendes Mitglied der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien wurde (1906) und schließlich eine ordentliche Professur für biblische Hilfswissenschaften und der arabischen Sprache an der Universität Wien erhielt (1909).5 Auch außerhalb der Wissenschaft waren seine Kenntnisse geschätzt. So wurden seine kartographischen Erkenntnisse im ägyptisch-türkischen Grenzstreit von 1906 auf Veranlassung Großbritanniens als Grundlage für die Neuziehung der Grenzen verwendet, während seine guten Kenntnisse und Beziehungen zu verschiedenen Stämmen Nordarabiens Musil spätestens im Ersten Weltkrieg für die Habsburger Monarchie zu einem wertvollen Vertreter eigener Interessen im Orient machten.6 Sein Versuch, im Osmanischen Reich die österreichischen gegen die britischen Interessen auszuspielen, trug ihm die Rolle des Gegenspielers des weitaus bekannteren Thomas Edward „Lawrence of Arabia“ (1888-1935) und rückwirkend auch den Spitznamen „Lawrence of Moravia“ ein.7 Sein Beschäftigungsfeld hatte sich endgültig von dem eines Bibelgelehrten hin zu einem „‚Beduinenpolitiker[ ]‘, Enzyklopädisten und Kommentator[ ] des modernen Orient“ gewandelt.8

4

Sein Werdegang wird bis 1919 ausführlich behandelt in BAUER, Alois Musil. Theologe, Forscher, Gelehrter und Stammesscheich (wie Anm. 3), die schließlich in folgender Publikation mündete: BAUER, Karl Johannes: Alois Musil: Wahrheitssucher in der Wüste. Wien 1989. In engem Kontakt mit Bauer schrieb der Journalist Erich Feigl ebenfalls eine – wenn auch tendenziöse – Biographie, die ähnliche Schwerpunkte aufweist. FEIGL, Erich: Musil von Arabien. Vorkämpfer der islamischen Welt. München 1985. Beide Autoren messen Musils Wirken in der Tschechoslowakei keine große Bedeutung mehr bei. Dagegen ŽĆÁRSKÝ, Pavel: Alois Musil jako zakladatel þeskoslovenské orientalistiky: z VídnČ do Prahy [Alois Musil als Gründer der tschechoslowakischen Orientalistik: Von Wien nach Prag]. In: Nový Orient 68/1 (2013), 50- 56.

5

BAUER, Alois Musil. Theologe, Gelehrter und Stammesscheich (wie Anm. 3), 112.

6

Ebd., 234-250.

7

Vgl. GELLNER, Ernest: Lawrence of Moravia. In: Anthropology and Politics. Revolutions in the Sacred Grove. Hg. v. Ernest GELLNER. Oxford-Cambridge 1995, 212-228. Dennoch ist sein Wirken außerhalb des deutsch- und tschechischsprachigen Raums nur wenig rezipiert worden.

8

BAUER, Alois Musil. Theologe, Gelehrter und Stammesscheich (wie Anm. 3), 77.

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Im Einklang mit diesem neuen, praktischeren Fokus waren denn auch seine Pläne für eine k.k. Österreichische Orient- und Überseegesellschaft, die – mit Unterstützung des Prinzen Sixtus von Bourbon-Parma (1886-1934) sowie der Kaiserin Zita (1892-1989) und schließlich unter dem Ehrenprotektorat von Kaiser Karl I. (1887-1922) – im Jahre 1916 gegründet wurde.9 Die Gesellschaft hatte zum Ziel, wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Beziehungen mit dem muslimischen Orient zu pflegen und dadurch die Position ÖsterreichUngarns in einer Region zu stärken, in der vorerst vor allem Engländer und Deutsche aktiv waren.10 Dabei betonte Musil hier – wie später auch beim Prager Pendant – seinen dezidiert antikolonialen Ansatz, „alle Orientalen als Gleichgestellte, Gleichberechtigte“ wahrzunehmen, und erklärte: „Diese Grundlagen schließen jede Annexions-, Kolonial- und Ausbeutungspolitik aus.“11 Schon dieses, Musils erstes Institut hatte mit widrigen Umständen zu kämpfen; nur zwei Jahre nach der Gründung ging es nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gemeinsam mit der Habsburger Monarchie unter. Die Erfahrungen bei der Gründung und Verwaltung dieser Gesellschaft nutzte Alois Musil jedoch für die Planung des Prager Instituts. Im Jahr 1919 zog Alois Musil schließlich in die Hauptstadt der neu gegründeten Tschechoslowakei – ein Schritt, der nicht ganz freiwillig geschah, sah sich Musil doch weder in Wien noch in Prag wirklich willkommen, da „er in Wien als Tscheche und Tschechenfreund“ galt, aber „in der neugegründeten Tschechoslowakischen Republik als Deutscher und Deutschenfreund“.12 Dennoch wurde Musil 1920 schließlich zum ordentlichen Professor der morgenländischen

9

Ebd., 223-229. Einen Überblick über österreichische Interessen im Orient bietet FISCHER,

Robert-Tarek: Österreich im Nahen Osten. Die Großmachtpolitik der Habs-

burgermonarchie im Arabischen Orient 1633-1918. Wien-Köln-Weimar 2006. Die Beziehungen zu Konstantinopel behandelt SAMSINGER, Elmar: „Oesterreich kann mit den Sympathien des Orients zufrieden sein!“ Kaiser Franz Joseph und Kaiser Karl I. in Konstantinopel. In: Österreich in Istanbul. K.(u.)K. Präsenz im Osmanischen Reich. Hg. v. Rudolf AGSTNER und Elmar SAMSINGER. Wien u.a. 2010 (Forschungen zur Geschichte des österreichischen Auswärtigen Dienstes 1), 267-298. 10 MENDEL/OSTěANSKÝ/RATAJ, Islám v srdci Evropy (wie Anm. 2), 67. 11 Aus dem Protokoll der konstituierenden Versammlung am 26. Juni 1916. Hier zitiert aus BAUER, Alois Musil. Theologe, Forscher, Gelehrter und Stammesscheich (wie Anm. 3), 224. 12 FEIGL (wie Anm. 4), 401. Zu seiner Übersiedelung nach Prag und den Konflikten sowohl in Wien als auch in Prag s. BAUER, Alois Musil. Theologe, Gelehrter und Stammesscheich (wie Anm. 3), 266-271.

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Hilfswissenschaften und des neueren Arabisch an der Prager Karls-Universität ernannt.13 Schon etwas früher, im Jahr 1919, erhielt er die Möglichkeit, bei dem tschechoslowakischen Staatspräsidenten Tomáš G. Masaryk vorzusprechen und ein Konzept für ein Institut vorzulegen, das dieses Mal die tschechoslowakischen Interessen im Orient im Blick haben sollte.14 Darin wurden die möglichen Aufgaben und die Finanzierung, die Struktur und der Aufbau beschrieben, vor allem aber wurde auf die Notwendigkeit einer solchen Einrichtung für die junge Tschechoslowakische Republik eingegangen. Der Präsident sicherte seine Unterstützung zu. Selbst am Orient interessiert und die Bedeutung eines solchen Instituts für den jungen Staat erkennend, förderte Masaryk nicht nur die Entwicklung dieses Instituts im Anfangsstadium, sondern gewährleistete auch dessen finanzielle Grundsicherung durch großzügige Unterstützung aus dem zu seinem 70. Geburtstag eingerichteten Jubiläumsfonds.15 Alois Musil und Tomáš G. Masaryk förderten somit das Institut jeweils auf ihre Weise. Während Alois Musil als einer von 35 Gründungsmitgliedern fungierte, wurde Masaryk zum ersten Ehrenmitglied ernannt. Die Einrichtung eines solchen Instituts passte in das Selbstbild eines selbstbewussten, weltorientierten Staates und war in Mittel- und Ostmitteleuropa nichts Ungewöhnliches: Bereits das k.k. österreichische Handels-Museum, der stark exportorientierte Vorgänger der Wiener Orient- und Überseegesellschaft und schon seit seiner Geburtsstunde mit einem Schwerpunkt auf dem Orient, hatte Nachahmer in „allen anderen Exportländern“.16 Weitere (außeruniversitäre) Einrichtungen entstanden, die wirtschaftliche, wissenschaftliche sowie strategi-

13 Ebd., 270. 14 Die Besprechung mit Präsident Masaryk, Außenminister Beneš und anderen wird beschrieben in MUSIL, Alois: Das orientalistische Institut. In: Prager Presse (MorgenAusgabe), 21.1.1922, 1. S. auch BEýKA, Alois Musil, duchovní otec Orientálního ústavu (wie Anm. 3), hier 30. 15 Eine detaillierte Auflistung der Finanzierung findet sich in: VČstník Orientálního ústavu v Praze za desetiletí 1928-1938. Hg. vom PRESIDIUM ÚSTAVU. V Praze 1938, 34. Ein kursorischer Überblick über das persönliche Interesse T. G. Masaryks am Orient findet sich in HROZNÝ, BedĜich: President Osvobitel Masaryk, jeho vztahy k orientu a k Orientálnímu ústavu v Praze [Präsident-Befreier Masaryk, seine Beziehungen zum Orient und zum Orientalischen Institut in Prag]. In: VČstník Orientálního Ústavu (wie oben in dieser Anm.), 5-8. 16 So beschreibt es zumindest das eigene Curatorium in der Jubilarschrift zum 25jährigen Bestehen. Das k. k. österreichische Handels-Museum (wie Anm. 3), v.a. 90.

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sche Ziele in Bezug auf den Orient miteinander verknüpften. So sollte das Seminar für Orientalische Sprachen in Berlin, 1887 gegründet, die sprachliche Ausbildung von Dolmetschern und Konsularbeamten sowie von Geschäftsleuten und anderen Interessierten gewährleisten – zu einer Zeit, als Deutschland durchaus ein größeres außenpolitisches Engagement im Zuge seiner Kolonialpolitik zeigte.17 Das Hamburger Kolonialinstitut, 1908 gegründet, verband mit der Ausbildung von Kolonialbeamten auch wissenschaftliche und wirtschaftliche Bestrebungen in Bezug auf deutsche Kolonien und erhielt zu diesem Zweck den ersten Lehrstuhl in Deutschland für orientalische Geschichte und Kultur.18 Stärker politische und weniger wirtschaftliche oder wissenschaftliche Interessen vertrat schließlich die in Warschau schon kurz nach der polnischen Unabhängigkeitserklärung gegründete Liga Īeglugi polskiej [Liga der polnischen Seefahrt], die ab 1930, bereits in Liga morska i kolonialna [See- und Kolonialliga] umbenannt, polnische Kolonialambitionen verfolgte.19 Dass der Tschechoslowakei hier dennoch eine Sonderrolle zugeschrieben wurde, zeigen zeitgenössische Reflektionen. So wurde rückblickend im Bericht über die zehnjährige Tätigkeit des Orientalischen Instituts aus dem Jahr 1938 die Distanzierung des neuen Staates von den Kolonialmächten explizit vermerkt und damit der Tschechoslowakei dezidiert andere Interessen in Bezug auf den Orient zugesprochen: „Die Gründer und Organisatoren des Orientalischen Instituts waren sich dessen sehr bewusst, dass sich das Interesse der Tschechoslowakei an den Ländern des Orients nicht mit den Interessen der mit umfangreichen Territorien ausgestatteten Kolonialmächte deckt, welche ihren kolonialen Instituten bereitwillig große finanzielle Mittel gewähren. Auch

17 Einen Überblick über das Berliner Seminar für Orientalische Sprachen gibt MANGOLD,

Sabine: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“ – Die deutsche Orientalistik im

19. Jahrhundert. Stuttgart 2004 (Pallas Athene 11), 226-250. 18 Ebd., 264, mit weiteren Literaturhinweisen. S. auch KLOOSTERHUIS, Jürgen: „Friedliche Imperialisten“. Deutsche Auslandsvereine und auswärtige Kulturpolitik, 19061918. Frankfurt am Main 1994, v.a. 43-57, wo das Hamburger Institut in einen gesamtdeutschen Kontext von Institutionen mit ähnlichen Zielen gestellt wird. 19 HUNCZAK, Taras: Polish Colonial Ambitions in the Inter-War Period. In: Slavic Review 26/4 (1967), 648-656. Ebenso KOWALSKI, Marek Arpad: Dyskurs kolonialny w drugiej Rzeczypospolitej [Der Kolonialdiskurs in der Zweiten Republik]. Warszawa 2010, 52-59. Vgl. auch BORKOWSKA, GraĪyna: Polskie doĞwiadczenie kolonialne [Polnische Kolonialerfahrungen]. In: Teksty drugie. teoria literatury, krytyka, interpretacja 4 (2007), 15-24, mit weiteren Literaturangaben.

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kann sich die Tschechoslowakei nicht in die Reihe derjenigen großen Staaten stellen, die keine solchen [nämlich kolonialen] Gebiete haben.“20

Man mag das Prager Orientalische Institut also, in Anlehnung an seine institutionellen Vorläufer, als ‚Kolonial-Institut ohne koloniale Ambitionen‫ ދ‬bezeichnen, das in seinem Verhältnis zum Orient einen eigenen Weg einschlug. Dieses Selbstverständnis, das sich vor allem in Abgrenzung zu den „westlichen“ Staaten äußerte, bestimmte auch, wie noch zu zeigen sein wird, die weitere Argumentation über Nutzen und Bedeutung des Instituts.

P LANUNGEN ZU EINEM P RAGER O RIENTALISCHEN I NSTITUT : Z IELE UND L EGITIMIERUNG Bereits 1919 wurden erste Pläne für ein solches Orientalisches Institut skizziert, die die möglichen Aufgaben und die Finanzierung, die Struktur und den Aufbau beschrieben. Mit dem Einverständnis von Präsident Masaryk21 entwickelte Alois Musil ein zwanzigseitiges Memorandum mit dem Titel „Naše úkoly v Orientalistice a v OrientČ“ [Unsere Aufgaben in der Orientalistik und im Orient],22 das, von Musil später als „Grundlage unseres Orientalischen Instituts“23 bezeichnet, erstmals die Ziele des Instituts skizzierte und vor allem auf die Notwendigkeit eines solchen Instituts für die Tschechoslowakei einging. Das Memorandum erfuhr eine weite Verbreitung: Neben seiner Erstveröffentlichung in der Zeitschrift „Naše doba“ [Unsere Zeit]24 im Jahr 1920 wurde es noch im selben Jahr als Sonderdruck in über tausend Exemplaren publiziert und sowohl an ausgewählte Per-

20 VČstník Orientálního Ústavu (wie Anm. 15), 34-35. Alle Übersetzungen sind, sofern nicht anders vermerkt, von der Autorin. 21 Alois Musil betonte in einem Brief an Zdenko Fafl noch einmal, dass dieses Memorandum „in völligem Einverständnis mit dem Präsidenten“ geschrieben wurde. Brief vom 12.02.1925. MasarykĤv ústav a Archiv akademie vČd ýeské republiky, v. v. i. (im Folgenden MÚA AV ýR), Fond Orientální ústav, Karton Nr. 2, Inventar-Nr. 10. 22 MUSIL, Alois: Naše úkoly v Orientalistice a v OrientČ [Unsere Aufgaben in der Orientalistik und im Orient]. In: Zvláštní otisk z Naší doby 27/3-4 (1920), 2-20. 23 Brief von Alois Musil an Zdenko Fafl vom 17.2.1925. MÚA AV ýR, Fond Orientální ústav, Karton Nr. 2. 24 Die Prager Zeitschrift „Naše doba“ trug den Untertitel „Revue pro vČdu, umČní a život sociální“ [Revue für Wissenschaft, Kunst und soziales Leben] und erschien von 18941949.

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sonen als auch an relevante Institutionen verschickt.25 Es liest sich als Plädoyer für eine grundlegende und dauerhafte Beschäftigung mit dem Orient sowohl auf wissenschaftlicher als auch auf „praktischer“ Ebene und beginnt mit der Einbettung der Tschechoslowakei in die „Weltpolitik“:26 „Unser junger Staat versucht, seine Beziehungen mit dem Ausland zu richten, und zu diesem Zweck muss er zuhause die Grundlagen dieser Beziehungen aufbauen. Ein wesentlicher Teil des für uns bedeutenden Auslandes bildet der Orient, und zwar sowohl der Nahe als auch der Ferne. Besonders der Nahe Orient hat eine große Bedeutung für uns und wird sie immer haben.“27

Diese herausgehobene Stellung des Orients für die Tschechoslowakei begründete Musil nicht nur damit, dass dort „die Wiege aller unserer Kultur“ stünde,28 sondern auch mit einer besonderen wirtschaftlichen Beziehung, von der beide Seiten profitieren könnten. So wird hier der Orient als perfektes Gegenüber der Tschechoslowakei im globalen wirtschaftlichen System dargestellt, machte Musil doch im Orient einen Überschuss an Rohstoffen und einen Bedarf an industriellen Erzeugnissen sowie das Fehlen von „theoretischen und praktischen Kenntnissen“29 aus, während die Tschechoslowakei diesem Dilemma Abhilfe verschaffen könne, da sie nicht nur dankbarer Abnehmer von Rohstoffen und Exporteur ihrer industriellen Erzeugnisse war, sondern auch über eine Vielzahl an ausgebildeten Fachkräften verfügte, „die sich gerne im Ausland ansiedeln würden, nur nicht wissen, wo und wie.“30 Somit könne in wirtschaftlicher Hinsicht, so Musil, nur der Orient „die Kolonie ersetzen, die wir nicht haben, obwohl wir sie benötigen“.31 Alois Musil steigerte die Bedeutung der tschechoslowakisch-orientalischen Beziehungen noch, wenn er betonte, dass die Tschechoslowakei momentan einer von nur sehr wenigen Staaten, vielleicht gar der einzige Staat sei, der die Be-

25 Brief von Alois Musil an Zdenko Fafl vom 17.2.1925. MÚA AV ýR, Fond Orientální ústav, Karton Nr. 2. 26 An späterer Stelle im Memorandum konkretisiert Musil noch einmal die Rolle des neuen Staates: „Als eigenständiger Staat müssen und werden wir uns mit der Weltpolitik beschäftigen […]“. MUSIL, Naše úkoly v orientalistice (wie Anm. 22), 9. 27 Ebd., 2. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Ebd., 16.

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dürfnisse des Orients erfüllen könne. Gerade der orientalische Bedarf an Facharbeitern machte die Tschechoslowakei aus Musils Perspektive zu einem sinnvollen Partner: Während nach Musils Ermessen England, Frankreich und Italien ihre Bevölkerung für die jeweils eigenen Überseegebiete brauchten, andere Länder aufgrund fehlender eigener Arbeitskräfte schon selbst Fremde in ihren Dienst aufnehmen mussten und wieder andere aus politischen Gründen nicht in der Lage waren, Arbeiter in den Orient zu schicken, war in erster Linie die Tschechoslowakei dazu berufen, den Orient zu unterstützen, denn sie habe einen „Überschuss an Menschen“.32 Indirekt bot Musil hiermit auch eine (Teil-)Lösung für die Arbeitslosigkeit im eigenen Land und die damit verbundene drohende Emigration an, die als eines der „akuten Probleme der heutigen Zeit“ wahrgenommen wurde.33 Der Vorteil einer Ansiedlung von Arbeitskräften im Orient wurde vor allem darin gesehen, dass sich die Auswanderer dort nicht – wie im Westen üblich – assimilieren, sondern, in nationalen Siedlungen organisiert, der tschechischen Nation erhalten bleiben würden.34 Nicht nur die durchaus gute wirtschaftliche Ausgangslage der Tschechoslowakei mit hoher Exportkraft (aber eben auch Exportabhängigkeit) wurde hier betont. Auch in ihrer Funktion als „kleiner Staat“ wurden ihr Aufgaben auf internationalem Parkett zugesprochen, die den imperialen Großmächten verschlossen blieben: Als Staat ohne starke Armee oder Flotte, aber vor allem ohne koloniale Vergangenheit würde die Tschechoslowakei das Vertrauen der orientalischen Staaten leicht gewinnen können. In Anspielung an und in Abgrenzung vom Verhalten der westlichen Mächte betonte Musil: „Der Orient nimmt uns sehr gerne auf, denn er weiß, dass wir weder politische noch religiöse Hintergedanken haben.“35 Die Selbstwahrnehmung als „kleiner“ Staat wird hier positiv gedeutet und dem Staat dadurch eine größere Einflussnahme zugesprochen. Diese wirtschaftlichen, aber auch kulturellen und wissenschaftlichen Verflechtungen waren für Alois Musil Grund genug, den „ständigen“ Vorhaltungen, die (wissenschaftliche) Beschäftigung mit dem Orient sei „exotisch“ und nur die

32 Ebd., 2. 33 So äußerte sich auf einer Konferenz über die Entwicklung der tschechoslowakischen Auswanderung ein Mitarbeiter des Ministeriums für Arbeit und soziale Pflege. ZAVěEL, Lev: VystČhovalectví [Auswanderung]. In: ýeskoslovenské vystČhovalectví. Jeho pĜíþiny, dĤsledky a vyhlídky. [Ohne Herausgeber]. Praha 1928 (Publikace sociálního ústavu þ. 39), 5-22, hier 5. 34 MUSIL, Naše úkoly v orientalistice a v orientČ (wie Anm. 22), 2. 35 Ebd., 3.

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„reichen Engländer und Franzosen“ könnten sich dies leisten, entgegenzutreten.36 Im Gegenteil argumentierte Musil aus diesen Überlegungen heraus: „Und es ist unsere Pflicht, eine Grundlage für die Beziehungen mit dem Orient zu schaffen, das Interesse für den Orient bei uns und für uns im Orient aufzubauen und zu pflegen, unsere sowohl akademisch als auch fachlich gebildeten Landsleute sowie Handwerker und Arbeiter systematisch im Orient anzusiedeln, das Wachstum unseres Exports und Imports zuhause und im Orient zu ermöglichen und so nicht nur im kulturellen, sondern auch im volkswirtschaftlichen Bereich zu Ansehen zu gelangen.“37

Die Dringlichkeit eines solchen Handelns betonte er deutlich: „Wir haben [jetzt] die Möglichkeit, diese Arbeit zu beginnen, und die heutigen Bedingungen sind für uns so vorteilhaft, wie sie bisher nie waren und vielleicht nie wieder sein werden“;38 und noch einmal drängte Musil auf schnelles Handeln, da „die Zeit läuft, und im Orient passiert mehr als bei uns. Es ist notwendig, jetzt zu handeln, wenn wir eine solche Gelegenheit nicht verpassen wollen, wie sie Allah nur einmal im Jahrhundert anbietet.“39 Dieses Memorandum drückt deutlich das Verständnis vom und das Verhältnis zum Orient aus, und es ist – trotz der Beteuerungen der beidseitigen Gleichwertigkeit – kein „herrschaftsfreier Diskurs“ zwischen zwei gleichberechtigten Partnern. Dafür lohnt sich der Blick auf das von Edward W. Said geprägte Konzept des Orientalismus. Zwar geht Said in seiner Studie nicht auf die Tschechoslowakei oder generell auf Ostmitteleuropa ein. In Reaktion auf Saids Beschränkung eines politisch relevanten Orientalismus auf Großbritannien, Frankreich und die USA entstand aber eine Reihe von Studien, die auf die Existenz von Orientalismen in Ländern verweisen, die Edward Said in diesem Zusammenhang für unerheblich befunden hatte (u.a. zu Deutschland, dem Russischen Reich oder Österreich-Ungarn).40 Auch im tschechoslowakischen Fall zeigt sich eine Form

36 Ebd., 6. 37 Ebd., 2. 38 Ebd., 2. 39 Ebd., 3. 40 Vor allem in Bezug auf Deutschland, aber auch auf Österreich-Ungarn, das Russische Zarenreich sowie andere Staaten argumentiert Said, dass es zwar eine relevante wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Orient gegeben habe, aber eben keine Verbindung zwischen diesen Orientalisten und einem grundlegenden nationalen Interesse im Orient. SAID, Edward W.: Orientalism. London 2003 [11978], v.a. 1 und 1722. In Reaktion darauf wurde sehr wohl ein machtorientierter Orientalismus in ande-

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des Herrschaftsdiskurses über den Orient, der sich jedoch von dem „klassischen“ Orientalismus der westeuropäischen Mächte unterscheidet: In Musils Memorandum wird der Tschechoslowakei eine eigene Beziehung zum Orient zugeschrieben, die bewusst anti-kolonial und gleichzeitig doch von einem Herrschaftsdiskurs geprägt war. So werden die Interessen der Tschechoslowakei – Reduktion der Arbeitslosigkeit, Schaffung eines Auffangbeckens für Emigrationswillige sowie Gewinnung von Rohstoffen für die heimische Wirtschaft – mit denen, die dem Orient zugeschrieben wurden – der Erwerb von Fachwissen und gelernten Arbeitskräften sowie die Suche nach Handelspartnern ohne historische Vorbelastungen –, verbunden. Der Orient liefert die Rohstoffe, während die Tschechoslowakei das raffinierte Produkt, also sowohl industriell gefertigte Güter als auch ausgebildete Fachkräfte, exportiert: Die neue Republik erhebt den Anspruch, der wirtschaftlich wie technologisch führende, gleichzeitig politisch unbelastete Partner für den Orient zu sein. In den Schriften dieses ‚Kolonial-Instituts ohne koloniale Ambitionen‘ kann also ein nicht-kolonialer orientalistischer Blick erkannt werden, der sich vor allem von den kolonialen Ambitionen westeuropäischer Mächte abgrenzt,41 jedoch eigene volkswirtschaftliche Interessen durchaus

ren Ländern belegt, zuvorderst in Studien zum deutschen Orientalismus, ebenso in Studien zum Russischen Reich und der Habsburger Monarchie bis hin zu einem osmanischen Orientalismus. Nur beispielhaft können hier genannt werden: KONTJE, Todd: German Orientalisms. Ann Arbor 2004. – MARCHAND, Suzanne L.: German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship. Cambridge 2009 (Publications of the German Historical Institute). – POLASCHEGG, Andrea: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin 2005. Zum russischen Orientalismus s. u.a. JOBST, Kerstin S.: Orientalism, E. W. Said und die Osteuropäische Geschichte. In: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 51/2 (2000), 250-266. – SCHIMMELPENNINCK VAN DER OYE, David: Russian Orientalism. Asia in the Russian Mind from Peter the Great to the Emigration. New Haven 2010. – TAKI, Victor: Orientalism on the Margins. The Ottoman Empire under Russian Eyes. In: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 12/2 (2011), 321-351. Das Osmanische Reich beleuchtet MAKDISI, Ussama: Ottoman Orientalism. In: American Historical Review 107/3 (2002), 768-796. Vgl. auch die Beiträge von Kerstin S. Jobst (Russland) und Johannes Feichtinger (Österreich) in diesem Band. 41 Die Autorin hat den Begriff „nicht-kolonialer Orientalismus“ oder „non-colonial Orientalism“ bereits in einem anderen Aufsatz eingeführt. LEMMEN, Sarah: Noncolonial Orientalism? Czech Travel Writing on Africa and Asia around 1918. In: Deploying Orientalism in Culture and History. From Germany to Central and Eastern Europe. Hg. v. James HODKINSON, John WALKER, Shaswati MAZUMDAR und Johannes

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im Auge behält in einem Gebiet, das „die Kolonie ersetz[en kann], die wir nicht haben […]“.42

V ERZÖGERUNG DER A RBEITSAUFNAHME : K ONKURRENZ UND K OMPROMISS Trotz der breiten und hochrangigen Unterstützung verzögerte sich die Arbeitsaufnahme des Orientalischen Instituts um Jahre. Zwar wurde schon 1922 ein Gesetz zur Gründung des Instituts erlassen und die ersten finanziellen Mittel bereitgestellt.43 Dennoch notierte Alois Musil skeptisch: „Wann das Orientalische Institut seine Arbeit aufnimmt, weiß nur Allah. Es ist zwar gegründet, aber es hat kein Haus, keine Räumlichkeiten und nicht genügend finanzielle Mittel.“44 Während im Rückblick von verschiedenen Beteiligten genau diese Probleme immer wieder hervorgehoben wurden,45 zeigt ein Briefwechsel zwischen Alois

FEICHTINGER. Rochester, NY 2013 (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture), 352-383. Zu einer ähnlichen Beobachtung, aber einem anderen Schluss kommt ein anderer Artikel: „Furthermore, he [Musil] created an opposing view to the traditional European understanding of Oriental society. […] Czech Orientalism is aimed not at the civilizing of the Orient and the open formation of stereotypes, but at explicitly proclaimed understanding and cooperation with this, which is already beginning to be revitalized.” (NAVRÁTILOVÁ, Hana/MÍŠEK, Roman: Alois Musil and the Rise of Czech Oriental Studies: A Perspective of a Non-classical Orientalism. In: Archiv Orientální 70/4 (2002), 558-564, hier 564). 42 MUSIL, Naše úkoly v orientalistice a v orientČ (wie Anm. 22), 16. 43 HROZNÝ, President Osvobitel Masaryk (wie Anm. 15), hier 6. Eine Auflistung der Widmung und schließlichen Nutzung des Gründungskapitals ist zu finden bei BEýKA, JiĜí/KRÁSA, Miloslav: On the History of the Oriental Institute, 1922-1952. In: The Oriental Institute Prague. Basic Information. Hg. v. JiĜí PROSECKÝ, Blahoslav HRUŠKA und Vladislav DUDÁK. Prague 1991, 18-33, hier 34. 44 Bericht von Alois Musil mit dem Titel „Orientální ústav“ [Orientalisches Institut] vom 18. Februar 1922. MÚA AV ýR, Fond Orientální ústav, Karton Nr. 2. 45 So nennt BedĜich Hrozný, Professor für Keilschrift und Geschichte des Alten Orients an der Prager Karls-Universität und Vorsitzender der Kulturabteilung des Orientalischen Instituts, im Jahr 1938 rückblickend als Hauptursache der verzögerten Gründung des Instituts „verschiedene Ursachen vor allem technischer Art, z.B. der Mangel an geeigneten Räumen“. HROZNÝ, President Osvobitel Masaryk (wie Anm. 15), hier 7. Ähnlich BEýKA/KRÁSA, On the History of the Oriental Institute (wie Anm. 43), 18-

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Musil, der sich in diesen für die Zukunft des Orientalischen Instituts so entscheidenden Jahren für längere Zeit in New York aufhielt,46 und seinem in Prag verweilenden Mitstreiter, dem Generalsekretär der Handels- und Gewerbekammer Zdenko Fafl (1881-1961), weitere Schwierigkeiten auf. Zdenko Fafl gab sich große Mühe, Alois Musil während dessen produktivem Arbeitsaufenthalt in Übersee über die Entwicklungen in Bezug auf das Institut zu informieren – auch wenn er sich immer wieder rhetorisch versichern musste, dass der Gründer und Initiator des Instituts noch Interesse zeigte am offensichtlich zermürbend langen Kampf um dessen Form, Inhalt und Finanzen.47 Noch 1927 schrieb Zdenko Fafl nach New York, dass „das Institut natürlich noch nicht gegründet ist, obwohl – wenn ich mich nicht irre – das Gesetz schon seit fünf Jahren in Kraft ist. In der letzten Zeit allerdings beginnt sich was zu bewegen, so dass trotz aller durch die

33, hier 21. Zdenko Fafl und Alois Musil sorgten sich um die finanzielle Ausstattung, als bekannt wurde, dass Gelder, die für das Reisebudget des Instituts veranschlagt waren, nun die Kosten für den das Budget sprengenden Kauf des Lobkowitz-Palais decken sollten. Brief von Zdenko Fafl an Alois Musil vom 24. November 1927. MÚA AV ýR, Fond Orientální ústav, Karton Nr. 2. 46 Im Laufe seines mehrjährigen Aufenthalts in den USA, während er an der American Geographical Society affiliiert war, äußerte er die Hoffnung, die wissenschaftlichen Ergebnisse seiner über Jahrzehnte unternommenen Forschungsreisen zu verschriftlichen. So schrieb Musil im Frühjahr 1927 aus New York von nicht weniger als 18 verschiedenen Publikationsprojekten, die er veröffentlichen wollte (Brief von Alois Musil an Zdenko Fafl vom 09. März 1927. MÚA AV ýR, Fond Orientální ústav, Karton Nr. 2). Insgesamt ist sein Oeuvre immens. Eine Zählung kommt auf insgesamt 39 Bücher und 1.240 (wissenschaftliche und populärwissenschaftliche) Artikel. VESELÝ, Rudolf: Postavení knižní Ĝady „Dnešní Orient“ ve vČdeckém odkazu profesora Aloise Musila [Die Stellung der Buchreihe „Dnešní Orient“ im wissenschaftlichen Vermächtnis von Professor Alois Musil]. In: Alois Musil – ýeský vČdec svČtového jména (wie Anm. 3), 33-38, hier 33. 47 So entschuldigte sich Fafl fast für seine ausführliche Berichterstattung, wenn er schrieb: „Ich weiß nicht, ob Sie in der Ferne Interesse an den Zuständen in der Heimat haben. Ich gehe aber davon aus, dass Ihnen zumindest ein wenig Interesse an der Frage des Orientalischen Instituts geblieben ist, dessen Initiator Sie schließlich sind.“ Brief von Zdenko Fafl an Alois Musil vom 14. April 1927. MÚA AV ýR, Fond Orientální ústav, Karton Nr. 2. Ähnlich im Brief von Zdenko Fafl an Alois Musil vom 24. November 1927. MÚA AV ýR, Fond Orientální ústav, Karton Nr. 2.

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bisherige Verzögerung ausgelösten Skepsis die Hoffnung nicht ganz ausgeschlossen ist, dass wieder ein Schritt nach vorne gemacht wird.“48 Dieser hoffnungsfrohe Schritt nach vorne war allerdings einem Konkurrenzunternehmen geschuldet: Rudolf RĤžiþka (1878-1957), Professor für semitische Philologie an der Prager Karls-Universität, hatte einen Gegenentwurf für das Orientalische Institut eingereicht, der – in Anlehnung an das Berliner Seminar für Orientalische Sprachen49 – einen stärkeren Fokus auf den Ausbildungsaspekt legte.50 Nachdem RĤžiþka schon 1925 dieses Konzept publik gemacht hatte, präzisierte er seine Vorstellungen im folgenden Jahr öffentlichkeitswirksam in einem Zeitungsartikel: „Das Orientalische Institut […] soll vor allem eine Ausbildungsstätte sein mit einem sorgfältig ausgewählten Kollegium sowohl für die Sprachkurse als auch für Vorträge zu den Realien, mit einer Fachbibliothek und mit einem Archiv, das das notwendige Material für unsere Beziehungen mit dem Orient sammelt.“51 Das Institut sollte eng mit der Philosophischen Fakultät der Prager Universität zusammenarbeiten. Das Bildungsministerium schloss sich diesem der Sprachausbildung den Vorrang gebenden Vorschlag an, während das Außen- und das Handelsministerium sowie Vertreter der Wirtschaft, unter ihnen prominent Zdenko Fafl, an dem breiter gefassten und auf die ökonomischen Beziehungen konzentrierenden Vorschlag von Alois Musil festhielten. In Reaktion auf den Gegenentwurf von RĤžiþka wehrte sich Alois Musil in einem Brief an Fafl gegen eine solche Reduzierung des Instituts auf eine reine Ausbildungsstätte und unterschied dabei deutlich zwischen den Bedürfnissen der Tschechoslowakei und denen von Kolonialmächten, die sich auch in der Ausrichtung eines solchen Orientalischen Instituts widerspiegeln sollten:

48 Brief von Zdenko Fafl an Alois Musil vom 14.04.1927. MÚA AV ýR, Fond Orientální ústav, Karton Nr. 2. 49 Rudolf RĤžiþka verwies in seinem Memorandum, das er in Auszügen auch in der Zeitung „Národní Listy“ [Volksblätter] veröffentlichte, selbst auf institutionelle Vorbilder vor allem in Berlin. RģŽIýKA, Rudolf: O organisaci Orientálního ústavu se zĜetelem k budování þeské orientalistiky vĤbec [Über die Organisation des Orientalischen Instituts mit Rücksicht auf den Aufbau der tschechischen Orientalistik überhaupt]. In: Národní Listy, 08. Februar 1925, 1. 50 Memorandum o zĜízení þeského ústavu Orientálního [Memorandum über die Gründung eines tschechischen Orientalischen Instituts] von Rudolf RĤžiþka, datiert auf den 20. November 1926. MÚA AV ýR, Fond Orientální ústav, Karton Nr. 2. 51 RģŽIýKA, Rudolf: Orientální ústav [Das Orientalische Institut]. In: Tribuna, 13.04.1926.

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„Sie schreiben zurecht, dass wir weder Kolonien noch Überseeverkehrsgesellschaften haben, die Angestellte für ihre Zweigstellen im Orient benötigen würden, noch fordert unser Außenministerium Kenntnisse orientalischer Sprachen für seine Angestellten. Ich stimme mit Ihnen völlig überein, dass wir mehr Professuren der Orientalistik haben als England sie vor dem Krieg hatte und dass es eine überflüssige Verschwendung staatlichen Eigentums ist, wenn dieses große Institut mit einem reinen Ausbildungsauftrag versehen und dem Bildungsministerium unterstellt würde.“52

Im Folgenden avancierte dieser Brief zu einem erneuten Plädoyer für eine wirtschaftliche Ausrichtung des Instituts: „Sie haben völlig Recht, wenn Sie die Interessen der Industriellen, der Exporteure und Importeure verteidigen und wenn Sie darauf hinweisen, dass wir in der Tschechoslowakischen Republik ein Institut benötigen, wie es das [Wiener] Handelsmuseum, später umbenannt in Orient- und Überseegesellschaft, oder wie es verschiedene Kolonial-Institute der Kolonialmächte sind.“53

Schließlich fasste Musil noch einmal sein Verständnis der Aufgaben eines Orientalischen Instituts zusammen: „Das Institut soll nicht für die akademische Jugend arbeiten, sondern mit Industriellen, Exporteuren, Importeuren sowie verschiedenen Fachleuten in der Heimat, und es soll Gewährsleute in verschiedenen Städten des gesamten Orients haben. Wenn das Interesse der Industriellen wächst, wenn sich unser Export erhöht, so besteht kein Zweifel, dass sowohl unsere Banken als auch verschiedene andere Unternehmen bereitwillig sowohl wirtschaftliche als auch historische und philologische Forschung unterstützen. Philologie und Geschichte sollen deshalb [zwar] aus unserem großen Institut nicht ausgeschlossen werden, aber sie sollen [auch] nicht dessen Bestimmung sein.“54

RĤžiþkas Gegenentwurf war nicht der einzige Versuch einer Umgestaltung und politischen Einflussnahme des so prominent aufgestellten Instituts.55 Letztend-

52 Brief von Alois Musil an Zdenko Fafl vom 29.04.1927. MÚA AV ýR, Fond Orientální ústav, Karton Nr. 2. 53 Ebd. 54 Ebd. 55 Auch aus dem Außenministerium wurde ein Vorschlag eingereicht, das Orientalische Institut dem Slawischen Institut unterzuordnen. BEýKA/KRÁSA, On the History of the Oriental Institute (wie Anm. 43), 20. Hierauf wird auch eingegangen in GOMBÁR,

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lich konnte sich aber keiner der Gegenvorschläge durchsetzen, obwohl Zdenko Fafl noch Ende 1927, also nur wenige Monate vor der feierlichen Eröffnung des Instituts in der Musilschen Variante im Frühjahr 1928, auf die konkrete Gefahr einer Umstrukturierung des Instituts in die von RĤžiþka geforderte „Schule der orientalischen Sprachen und Realia“ hinwies.56 In einer Hinsicht hat diese lange Verzögerung der Institutsgründung dennoch zu einem Anstieg der Beschäftigung mit dem Orient in der Tschechoslowakei geführt. Denn während dieser zweiten Phase der Institutsplanung wurden weitere Institutionen geschaffen, die sich ebenfalls mit den vor allem wirtschaftlichen Beziehungen der Tschechoslowakei zum Orient befassten. So berichtet Fafl von der anstehenden Gründung einer akciová spoleþnost pro obchodní styky s Východem [Aktiengesellschaft für Handelsbeziehungen mit dem Orient], die sich vor allem auf den Handel über die Donau und das Schwarze Meer konzentrieren sollte und an dessen Aktivitäten sich vor allem größere Firmen beteiligen wollten, um praktische Fragen des Handels und des Transports zu klären.57 Sorgen bereiteten ihm aber, wie er Musil berichtete, vor allem die Pläne für eine Spoleþnost pro kulturní a hospodáĜské styky s Orientem [Gesellschaft für kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen mit dem Orient], die die wichtigsten Aufgaben des Orientalischen Instituts bereits vorwegzunehmen drohte. Ein Gespräch mit einem der Initiatoren beruhigte ihn diesbezüglich: Diese Gesellschaft suchte sich bewusst andere Schwerpunkte als das noch in der Planung steckende „offizielle“ Orientalische Institut, um dessen Gründung nicht weiter zu gefährden. Somit beschränkte es sich explizit „auf den praktischen Bereich und auf solche Dinge, die das offizielle Institut nicht machen wird, vor allem also auf die praktische Verwendung und das Knüpfen von Beziehungen mit dem Orient.“58 Bei ihrer Gründung im Jahr 1928 war es dann diese Gesellschaft, die sich auf die

Eduard: Alois Musil a jeho role pĜi budování hospodáĜsko-politických vztahĤ k arabskému svČtu [Alois Musil und seine Rolle beim Aufbau der wirtschaftlichpolitischen Beziehungen zur arabischen Welt]. In: Alois Musil – þeský vČdec svČtového jména (wie Anm. 3), 25-28, hier 28. 56 Brief von Zdenko Fafl an Alois Musil vom 24. November 1927. MÚA AV ýR, Fond Orientální ústav, Karton Nr. 2. Ebenso im Brief Zdenko Fafl an Alois Musil vom 22. Dezember 1927. MÚA AV ýR, Fond Orientální ústav, Karton Nr. 2. 57 Brief von Zdenko Fafl an Alois Musil vom 02.06.1927. MÚA AV ýR, Fond Orientální ústav, Karton Nr. 2. 58 Ebd.

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Schwarzmeerregion konzentrierte und dies auch im Namen kundtat.59 Die Statuten bezeichneten als erste Aufgabe die Zusammenarbeit mit dem Orientalischen (und auch dem Slawischen) Institut, das gar zwei ständige Delegierte in den Vorstand der Gesellschaft entsenden konnte. Unter den Mitgliedern waren exportorientierte Wirtschaftszweige (so der Schuhfabrikant Tomáš BaĢa oder der Direktor der Škoda-Werke Jaroslav Pánek) sowie das Finanzwesen stark vertreten, mit Alois Musil und Zdenko Fafl finden sich aber auch wichtige Gründungsmitglieder des Orientalischen Instituts auf einer undatierten Vorstandsliste der Gesellschaft.60 Schließlich kann die Bedeutung, die dieser wirtschaftlich ausgerichteten Gesellschaft zugesprochen wurde, auch daran gemessen werden, dass u.a. der Außenminister Edvard Beneš (1884-1948) als Ehrenmitglied fungierte. Die Dringlichkeit, mit der eine solche hochrangig besetzte Gesellschaft gegründet wurde, um die Lücke zu schließen, die das Fehlen des „offiziellen“ Orientalischen Instituts verursacht hatte, zeigt noch einmal die Bedeutung auf, die den Beziehungen zum Orient vor allem von Seiten der Wirtschaft zugeschrieben wurde. Bei all den präzisen Aufzeichnungen ist erstaunlich, wie wenig über den Gegenstandsbereich selbst diskutiert wurde. Wo denn der Orient sei und wo die geographischen Schwerpunkte für die Tschechoslowakei liegen, wurde kaum irgendwo festgehalten. An entlegener Stelle, in einem unveröffentlichten Dokument der Wirtschaftsabteilung des Instituts, in Klammern einem Satz hintangestellt, findet sich eine Definition des Orients: „Unter den Ländern des Orients verstehen wir vor allem das gesamte asiatische Gebiet außerhalb des sowjetischen Territoriums, ganz Nord- und Zentralafrika und Ozeanien.“61 Die in den Vorträgen gesetzten thematischen Schwerpunkte wie auch die Stipendien oder die wirtschaftliche Ausrichtung verweisen in praktischer Hinsicht auf ein ähnlich

59 Bei der Gründung hieß die Gesellschaft nun Spoleþnost pro hospodáĜské a kulturní styky s ýernomoĜím a Orientem [Gesellschaft für wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen mit der Schwarzmeerregion und dem Orient]. 60 Auch andere Mitglieder sind schlussendlich in beiden Institutionen aktiv, so seien hier beispielhaft der Geograph JiĜí Daneš oder der Arzt und Orientalist Josef Aul, späteres Ehrenmitglied im Orientalischen Institut, erwähnt. FunkcionáĜi spoleþnosti pro hospodáĜské a kulturní styky s ýernomoĜím a Orientem [Funktionäre der Gesellschaft für wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen mit der Schwarzmeerregion und dem Orient], ohne Datum. MÚA AV ýR, Fond Orientální ústav, Karton Nr. 2. 61 Náþrt pro program þinnosti hospodáĜského odboru Orientálního ústavu [Entwurf für das Programm der Tätigkeiten der Wirtschaftsabteilung des Orientalischen Instituts]. Ohne Datum. MÚA AV ýR, Fond Orientální ústav, Karton Nr. 2.

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gelagertes Verständnis, wobei hier eine Schwerpunktsetzung erkennbar wird. Während die Vortragsreihen geographische Akzente auf Indien, China und die arabische Welt setzten und eine zeitliche Bandbreite von der Antike bis zur Gegenwart abdeckten, zeigen die Reisestipendien einen Fokus auf Nordafrika und den Nahen Osten, wenn auch ostasiatische Länder wie China oder das südosteuropäische Albanien hier ebenfalls vertreten waren.62

A RBEITSBEGINN

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V ERLAUF

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Nach diesen Anlaufschwierigkeiten konnte das Orientalische Institut im März 1928 endgültig seine Gründungsversammlung einberufen. Die Zusammensetzung der vom Staatspräsidenten ernannten 34 ersten Mitglieder zeigt auf, dass das Interesse am Institut weit über den Kreis spezialisierter Wissenschaftler hinausging. Es finden sich hier neben renommierten Orientalisten wie BedĜich Hrozný (1879-1952), Vincenc Lesný (1882-1953) oder František Lexa (18761960) auch Vertreter aus anderen Bereichen: Die wirtschaftlichen Belange vertrat nicht nur Zdenko Fafl als Generalsekretär der Handelskammer, sondern auch der Handelsminister Rudolf Hotowetz, der ebenfalls die Funktion des Vorstandsvorsitzenden übernahm. Neben dem Handelsministerium entsandten ebenso das Unterrichts- und das Außenministerium ihre Vertreter. Auch die Fabrikanten Jan Antonín BaĢa, zu dem Zeitpunkt Leiter des berühmten SchuhImperiums, und JindĜich Waldes, Gründer der Koh-i-noor Werke, gehörten zu den ersten Mitgliedern; Das Finanzwesen wurde von Václav Schuster, Vorsitzender des Verwaltungsrats der Böhmischen Union-Bank, vertreten. Ganz im Sinne des Initiators Alois Musil waren also schon unter den Gründungsmitgliedern Vertreter nicht nur der Wissenschaft, sondern auch und vor allem aus der Wirtschaft, der Finanzwelt sowie mehrerer Ministerien. In den Jahren bis 1938 hatte das Institut insgesamt 250 ordentliche und aktive sowie korrespondierende Mitglieder (davon fünf Frauen), die aus der Tschechoslowakei, aber auch aus

62 Des Öfteren wurde die Balkanhalbinsel unter die Zuständigkeit des Orientalischen Instituts gezählt: Zwar fielen die slawisch sprechenden Länder in die Kompetenz des Slawischen Instituts, doch regte zumindest Rudolf RĤžiþka in seinem – letztendlich gescheiterten – Konzept eines Orientalischen Instituts an, neben Arabisch, Persisch, Türkisch und anderen Sprachen auch Rumänisch und Neugriechisch zu unterrichten. Memorandum o zĜízení þeského ústavu Orientálního (wie Anm. 50), 6-7.

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Osaka und Shanghai, aus Kairo und Johannesburg, aus Bombay oder Beirut Kontakt hielten.63 Auch nach der so lange verzögerten Gründungsversammlung stand die Arbeit des Instituts unter keinem guten Stern. Der eigentliche Arbeitsbeginn ist erst auf das Jahr 1929 datiert, und auch das noch in provisorischen Räumen im Prager Messepalast. Dort war man vor allem mit vorbereitenden Maßnahmen beschäftigt, so mit der Kontaktanbahnung zu potentiellen Mitgliedern und interessierten Institutionen im Ausland sowie mit der Konzeption der Vortrags- und Publikationsreihen.64 Im Jahr 1930 erfolgte der Umzug in das Lobkowitz-Palais auf der Prager Kleinseite, wo genügend Räumlichkeiten für das Institut und vor allem für die Bibliothek mit Lesesaal zur Verfügung standen. Nach der Arbeitsaufnahme wurden geeignete Wege gesucht, um das in den Statuten festgeschriebene Ziel umzusetzen, die kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnisse des heutigen Orients kennenzulernen, Fachkräfte auszubilden und die wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen mit dem Orient zu pflegen und aufzubauen.65 Das Institut wurde in zwei Abteilungen geteilt, eine wirtschaftliche und eine kulturelle. Die Wirtschaftsabteilung, deren Ziel es war, die Handelsbeziehungen mit den Ländern des Orients zu pflegen und zu erweitern, sah ihre Aufgabe vor allem in der Information interessierter Kreise sowie in der Unterstützung von Geschäftsanbahnungen im Orient. Sie arbeitete dabei eng mit anderen Institutionen zusammen, die ähnliche Ziele verfolgten.66 Vortragsreihen zu Wirtschaftsfragen wurden organisiert und anschließend publiziert,67 In-

63 Eine vollständige Liste der Mitglieder von 1928 bis 1938 ist abgedruckt in VČstník Orientálního Ústavu (wie Anm. 15), 14-33. 64 Ebd., 38. 65 Stanovy Orientálního ústavu v Praze [Statuten des Orientalischen Instituts in Prag]. Undatiertes Dokument. MÚA AV ýR, Fond Orientální ústav, Karton Nr. 2. 66 Hier werden das Exportinstitut, die Handelskammern oder die Interessenvertretung der tschechoslowakischen Industriellen genannt. VČstník Orientálního Ústavu (wie Anm. 15), 56. 67 Unter anderem sind hier Publikationen entstanden wie CICVÁREK, Rudolf: Obchodní pomČry ve východní Asii [Handelsverhältnisse in Ostasien]. Praha 1931 (PĜednášky orientálního ústavu v Praze, serie hospodáĜská 3). – MILLNER, Vladimír: Obchodní pomČry v Siamsku a Malajsku [Wirtschaftliche Verhältnisse in Siam und Malaysia]. Praha 1932 (PĜednášky orientálního ústavu v Praze, serie hospodáĜská 6). – PENC, Antonín: Obchodní a hospodáĜské pomČry v IndoþínČ [Wirtschaftliche und Handelsverhältnisse in Indochina]. Praha 1933 (PĜednášky orientálního ústavu v Praze, serie hospodáĜská 7).

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formationsmaterial über den aktuellen Stand der wirtschaftlichen Lage im Orient wurde gesammelt und interessierten Lesern zur Verfügung gestellt.68 Ein zweites zentrales Standbein war die Stipendienvergabe an „junge Männer“ mit dem Ziel, sie auf eine Karriere als wirtschaftlicher Vertreter oder als Exporteur tschechoslowakischer Güter in den Orient vorzubereiten. Gemeinsam mit der Kulturabteilung wurden insgesamt 27 Stipendien vergeben, vor allem nach China und Südafrika sowie nach Algerien, Ägypten, Marokko und in den Senegal.69 Die Kulturabteilung widmete sich wissenschaftlichen, kulturellen und sprachlichen Belangen. Als Aufgabe verstand sie vor allem die wissenschaftliche Begleitung der wirtschaftlichen Ziele.70 Als wichtigste Initiative wurde schon 1929 die wissenschaftliche Fachzeitschrift ‚Archiv Orientální‘ [Orientalisches Archiv] gegründet, die alsbald zum Aushängeschild des Instituts werden sollte. Mit dieser Zeitschrift, die Artikel in „internationalen Sprachen“71 (nämlich auf Englisch, Französisch und Deutsch) publizierte, sollte die heimische Orientalistik in relevanten Instituten weltweit und vor allem im Orient bekannt gemacht werden.72 Das Konzept ging auf: Ende der 1930er Jahre betonte der Vorsitzende des Instituts BedĜich Hrozný, dass die Zeitschrift auch „eine wichtige Propaganda-Arbeit für unsere Republik im gesamten Orient“ mache, da dort „unsere Republik noch sehr wenig bekannt ist.“73 Im Jahr 1929 begann ein der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglicher Vortragszyklus, der in erster Linie renommierten Prager Professoren die Möglichkeit

68 Detaillierter werden die Aufgaben, vor allem die vielfältige Informationsbeschaffung beschrieben im Náþrt pro program þinnosti hospodáĜského odboru Orientálního ústavu (wie Anm. 61). 69 VČstník Orientálního Ústavu (wie Anm. 15), 57-58. 70 Návrh programu pro kulturní odbor Orientálního ústavu v Praze [Entwurf eines Programms für die Kulturabteilung des Orientalischen Instituts in Prag], verfasst von BedĜich Hrozný und datiert auf den Oktober 1928. MÚA AV ýR, Fond Orientální ústav, Karton Nr. 2. 71 Ebd. 72 Als besonderer Erfolg wurde im ersten Arbeitsbericht der Kulturabteilung betont, „dass es – bis auf eine Ausnahme – gelungen war, alle tschechoslowakischen Orientalisten ohne Unterschied der Nationalität zur Zusammenarbeit an dieser Zeitschrift zu gewinnen.“ Zpráva o zahájení þinnosti kulturního odboru Orientálního Ústavu v Praze (September 1928-Februar 1929). MÚA AV ýR, Fond Orientální ústav, Karton Nr. 2. Die Hervorhebung ist im Original durch Unterstreichung gekennzeichnet. 73 HROZNÝ, President Osvobitel Masaryk (wie Anm. 15), hier 7.

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gab, ihre Forschungsthemen einem breiteren Publikum vorzustellen, und somit der „Propaganda der Orientalistik“ im Inland diente.74 Die Bibliothek, die 1931 ihre Arbeit aufnahm, sowie die (von der Kulturund der Wirtschaftsabteilung gemeinsam organisierten) Sprachkurse, die Interessierte auf den praktischen Gebrauch von Japanisch, Chinesisch, Hindustani, Bengalisch oder Malaysisch vorbereiteten, waren weitere zentrale Einrichtungen im Bemühen, die Kenntnisse über den Orient in der Tschechoslowakei zu mehren.75 Schließlich folgten in den 1930er Jahren jeweils ein chinesischer, ein japanischer und ein indischer Verein, die innerhalb des Orientalischen Instituts eine regionale Schwerpunktarbeit erlaubten. Diese institutsinternen Vereine waren durchaus erfolgreich. Sie übernahmen eine Reihe der Vorlesungen, bestückten die Bibliothek mit Büchern aus ihrem jeweiligen Schwerpunktgebiet und übernahmen die Ausrichtung von Sprachkursen.76 Doch schon bald traf die Weltwirtschaftskrise die Tschechoslowakei und damit auch das Orientalische Institut: Die staatlichen Gelder wurden stark zurückgefahren, so dass insgesamt das Jahresbudget bis 1934 auf etwa ein Viertel der kalkulierten Summe schrumpfte. Ein Großteil der Tätigkeiten – Vortragsreihen, Publikationen oder Stipendien – mussten stark reduziert oder ganz eingestellt werden. Allein das renommierte ‚Archiv Orientální‘ wurde über die gesamte Krise hinweg publiziert. In einem Memorandum des Orientalischen Instituts aus dem Jahr 1936 wurde rückblickend zusammengefasst: „Kaum war das Orientalische Institut […] mit dem Nötigsten ausgestattet, das zu dessen Einrichtung und zur Vorbereitung seiner Tätigkeit notwendig war, zeigten sich schon die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, und in der staatlichen Wirtschaft führten sie zur Verlangsamung und in der letzten Zeit fast zur Lähmung der Tätigkeiten des Instituts.“77

74 VČstník Orientálního Ústavu (wie Anm. 15), 51. 75 Ebd., 51 und 71-78. 76 So wurde zeitweise ein Chinesisch-Sprachkurs angeboten zu einer Zeit, als an keiner Hochschule in der Tschechoslowakei solch ein Kurs angeboten wurde. In Bezug auf den Japanisch-Sprachkurs wurde mit Verweis auf Informationen des japanischen Außenministeriums berichtet, dass die Tschechoslowakei zu den drei Staaten gehöre, in denen das Interesse an Japanisch am größten sei. VČstník Orientálního Ústavu (wie Anm. 15), 64, 68. 77 Memorandum Orientálního ústavu z 26.5.1936. Hier aus: BEýKA, Alois Musil, duchovní otec Orientálního ústavu (wie Anm. 3), hier 32 (Endnote 19).

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Trotz der schwierigen Anfangsphase in den 1920ern und der verheerenden Wirtschaftslage in den 1930er Jahren galt das Orientalische Institut als Treffpunkt für den Austausch zwischen Wissenschaftlern, Industriellen und anderen und diente als Anlaufstelle für alle Belange des Orients. Die exportorientierte Wirtschaft nutzte den Informations-Service zur Vorbereitung von Auslandskontakten. Das Institut fungierte als Informationszentrum nicht nur für alle Orient-Interessierten und für Besucher aus dem Orient in der Tschechoslowakei, sondern, in seiner Funktion als „offizielles“ Institut, auch für staatliche Stellen.78 Ebenso sorgte das Institut mit der Gründung der Fachzeitschrift ‚Archiv Orientální‘ für eine internationale Vernetzung der tschechoslowakischen Orientalistik. Das Institut konnte damit letztlich und trotz aller Schwierigkeiten die tschechoslowakischen wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen Kontakte zum Orient maßgeblich prägen.79

E NTWICKLUNG

SEIT

1938

Die Weltwirtschaftskrise, die die Tschechoslowakei zwar relativ spät, dann aber durchaus heftig und lange zu spüren bekam, ebbte erst Ende der 1930er Jahre ab. Im Bericht zur zehnjährigen Existenz des Instituts wurde 1938 aufatmend vermerkt: „erst jetzt zeigen sich Zeichen einer Besserung und durch die grundlegende Erhöhung seiner Unterstützung wird das Orientalische Institut in seiner befriedigenden Durchführung seiner Aufgaben fortfahren.“80 Dieser hoffnungsfrohe Satz war schon bald wieder durch die politischen Ereignisse überholt. Das Münchner Abkommen im Herbst 1938, die Annexion der sudetendeutschen Gebiete seitens des Deutschen Reiches, der Beginn des Zweiten Weltkrieges und die Errichtung des „Protektorats Böhmen und Mähren“ waren eine Kette von politischen Ereignissen, die für das öffentliche Leben, die Wirtschaft, die Wissenschaft sowie für die Institutionen auf dem Gebiet der nun ehemaligen Tschechoslowakei einen radikalen Einschnitt und oftmals das Ende jeglicher Tätigkeiten bedeutete. Das Orientalische Institut konnte zwar auch während der deutschen Besatzungszeit formal aufrechterhalten werden: Die Bibliothek blieb Interessierten weitestgehend offen, die Zeitschrift ‚Archiv Orientální‘ wurde – mit Ausnahme

78 BEýKA, JiĜí/MENDEL, Miloš: Islám a þeské zemČ [Der Islam und die böhmischen Länder]. Praha 1998, 115. 79 The Oriental Institute Prague (wie Anm. 43). 80 VČstník Orientálního Ústavu (wie Anm. 15), 38.

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der Jahre 1940 und 1944 – durchgehend weiter publiziert, ebenso wurden Vortragsreihen gestaltet. Auch die Sprachlehrgänge fanden den gesamten Krieg hindurch großes Interesse. Dennoch griffen einschneidende Maßnahmen: Juden wurde der Zugang zum Institut untersagt. Das Institut wurde an die Prager Universität angegliedert, ein neuer Institutsdirektor ernannt und die Mitarbeiter vom Bildungsministerium bestimmt. Nach jahrelangem Ringen über den Verbleib in den Räumlichkeiten, das von 1939 bis 1944 dauerte und in Zuge dessen vor allem die Seminare mehrmals eine neue Bleibe suchen mussten, zog das Institut als Ganzes schließlich im Juni 1944 in ein Gebäude in den Prager Stadtteil Vinohrady, bis es kurz nach Kriegsende im Malteserkonvent auf der Prager Kleinseite ein neues Zuhause fand.81 Auf dem ersten Treffen nach dem Krieg, das am 28. Mai 1945 stattfand, wurden Pläne für eine Neugestaltung der Aktivitäten beschlossen. Unter dem langjährigen Mitglied Vincenc Lesný (1882-1953)82 als neuem Leiter des Instituts wurde neben einer Schule der orientalischen Sprachen auch die Zeitschrift ‚Nový Orient‘ [Der neue Orient] gegründet, die ein interessiertes Laienpublikum ansprach. Der Forderung nach einem deutlicheren Forschungsprofil wurde Anfang 1953 mit der Eingliederung in die kurz vorher gegründete Tschechoslowakische Akademie der Wissenschaften stattgegeben. Für das Institut waren schließlich die Ereignisse in der Folge des Prager Frühlings in den Jahren 19681969 als klare Zäsur spürbar: Eine Reihe bedeutender Mitarbeiter erhielt Arbeitsverbot am Institut, ein Teil von ihnen ging in die Emigration;83 die Kontakte ins Ausland wurden stark reglementiert und die Arbeit wieder stärker auf politische und wirtschaftliche Aspekte konzentriert. Trotz dieser Einschränkungen konnte das Institut seine Arbeit fortsetzen. Auch den Systemwechsel von 1989 überstand das Institut. Weiterhin unter dem Dach der Akademie der Wissenschaften konnte es schließlich im Jahr 2012 auf eine neunzigjährige, wenn auch recht holprige Geschichte zurückblicken.

81 Die Geschichte des Instituts während des Zweiten Weltkriegs wurde nach persönlichen Erinnerungen aufgezeichnet von ýIHAě, Václav: Das Orientalische Institut in Prag während der deutschen Okkupation. In: Wissenschaft in den böhmischen Ländern 1939-1945. Hg. v. Antonín KOSTLÁN. Prag 2004, 82-96. 82 Der erfolgreiche Indologe war eines der Gründungsmitglieder des Orientalischen Instituts. 83 DUDÁK, Vladimír: A Concise Survey of the History of the Oriental Institute from 1953 until the Present. In: The Oriental Institute Prague (wie Anm. 43), 34-36, hier 35-36.

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Der Fokus auf den Orient hat sich in dieser Zeit immer wieder verändert. Abgebrochen ist er aber nie.

F AZIT Gerade die Geschichte der Institutsgründung sowie der thematischen Ausrichtung in den Anfangsjahren offenbaren Verhandlungsspielraum, Zielsetzung und Umsetzung möglicher Beziehungen zum Orient. Somit hebt der Blick auf die Zwischenkriegszeit die Bedeutung hervor, die den tschechoslowakischen Beziehungen zum Orient zugesprochen wurde. Dabei wird deutlich, dass darum gerungen wurde, eine eigene Beziehung zum Orient zu entwickeln, außerhalb der kolonial geprägten Orientierungen westeuropäischer (Groß-)Mächte lag. Im Gegensatz zu diesen suchten die im Orientalischen Institut Involvierten nach einem Verhältnis zum Orient, das sie erst einmal als „gleichberechtigt“ definierten, in dem aber doch die Tschechoslowakei die Bedingungen bestimmte. Mit der deutlichen Abgrenzung von den westeuropäischen Mächten und deren kolonialen Interessen sowie mit der Deklarierung des Orients als zwar grundsätzlich gleichberechtigt, aber dennoch hilfsbedürftig (und nebenbei auch für die eigene Wirtschaft erschließbar), wurde für die Tschechoslowakei eine spezifische Rolle des „guten Europäers“ beschrieben, der wirtschaftlich über dem Orient und moralisch über dem Westen Europas steht.

„Die Ägypter wussten ihre Köpfe zu gebrauchen!“ Orientalische Alterität in den fiktiven Reisebeschreibungen von Václav MatČj Kramerius (1802-1808) L UCIE S TORCHOVÁ 1

Edward Saids bahnbrechendes Werk Orientalism von 1978 erweckt möglicherweise schon lange nicht mehr den Eindruck eines „Partisanenbuchs“, wie es der Autor selbst einmal bezeichnete,2 aber es besitzt immer noch das nicht wegzudiskutierende Potential, eine Konzeptdebatte auszulösen und neue Forschungsfragen zu profilieren. Saids Ausgangsthesen zum konstruierten Charakter des Orients als imaginären Raum und zum reziproken Verhältnis zwischen Wissen und Macht sind immer noch aktuell. Auf konkreter Ebene können sich Sozialwissenschaftler von Saids Analyse der Rollen inspirieren lassen, welche die verschiedenen Varianten der europäischen Orientdiskurse als Spiegelbild in der Produktion der europäischen Identitäten und in den konkreten Praktiken der Ausübung der Kolonialhegemonie spielten. Das Orientalismus-Konzept erfasste nach Said die wissensproduzierenden „akademischen Institutionen“, die allgemein geteilten europäischen Mentalitäts- und kognitiven Muster, die Ost und West als ontologisch verschiedene Kategorien auffassten, sowie die die Ausübung der Kolonialmacht ermöglichenden corporate institutions. An ein derart breites Verständnis des Orientalismus knüpft die vorliegende Studie allerdings nicht an.

1

Die Entstehung der Studie wurde durch das Entwicklungsprojekt des Bildungsministeriums der Tschechischen Republik an der Fakultät für geisteswissenschaftliche Studien gefördert (FHS UK, Karls-Universität, 2012).

2

SAID, Edward W.: Orientalism. London 1995 [11978], 340.

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Im Folgenden sollen Repräsentationen des (orientalischen) Fremden in einer Serie von fiktiven Reisebeschreibungen von Václav MatČj Kramerius (17531808), dem erfolgreichsten Verleger und Autor tschechischsprachiger Literatur um 1800, untersucht werden. Diese boten den Lesern komplexe Alteritätskonstruktionen an, die an zeitgenössische Reformdiskurse und Biopolitik anknüpften (im Sinne der Foucaultschen Machttechniken, die auf „Verbesserung“ der gesamten Bevölkerung durch die Regulierung ihrer Gesundheit, der hygienischen Niveaus oder der Fortpflanzung zielten3). Wie gezeigt werden soll, produzierte Kramerius Orient-Diskurse als eine (meistens positiv konnotierte, wie im Falle des alten Ägyptens) Folie, vor der er eine normative, oft sogar moralisierende, mit Dichotomien operierende Vision einer idealen gesellschaftlichen Ordnung sowie von idealen „tschechischen Eigenschaften“ inszenierte. Im weiterem wird dann die Frage gestellt, welche Diskurse und Ideologien an diesen Alteritätskonstruktionen partizipierten. Einige Aufmerksamkeit wird auch der Fiktionalität der Reisebeschreibungen von Kramerius geschenkt: Diese Gattungsspezifität ermöglichte es, das Wissen von „Anderen“ im Namen des eigenen gesellschaftlichen Systems und der tschechischen nationalen Gemeinschaft besonders zu entwickeln. Eine solche Analyse muss von einer modifizierten Lesart des Orientalismus ausgehen, der als ein relationaler und situativer Aussageprozess betrachtet wird, in dem sich mehrere Diskurse verflechten.

M ODIFIZIERUNGEN

DES

S AID ’ SCHEN O RIENTALISMUS

Mein Ansatz wird auf allgemeiner Ebene an die dezentrierte Lesart des Orientalismus anknüpfen,4 die im Verlauf der 1990er Jahre vor allem von feministischen

3

FOUCAULT, Michel: Naissance de la biopolitique: Cours au collège de France (19781979). Hg. v. François EWALD, Alessandro FONTANA und Michel SENELLART. Paris 2004.

4

Aus feministischer Perspektive vgl. vor allem: MILLS, Sara: Discourses of Difference. An Analysis of Women’s Travel Writing and Colonialism. London-New York 1991. – LOWE, Lisa: Critical Terrains. French and British Orientalism. Ithaca 1991. – PRATT, Mary L.: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation. London-New York 1992. – MELMAN, Billie: Women’s Orients. English Women and the Middle East 1717-1918. Sexuality, Religion and Work. London-New York 1995. – LEWIS, Reina: Gendering Orientalism. Race, Feminity and Representation. London-New York 1996. – YEöENOöLU, Meyda: Colonial Fantasies. Towards a Feminist Reading of Orientalism. Cambridge 1998 (Cambridge cultural social studies). – LEWIS, Reina: Rethinking

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Standpunkten aus die Vorstellungen von der Einheitlichkeit der modernen europäischen Orient-Diskurse respektive der orientalisierenden Archive (als präexistenter Aussagesysteme im Sinne Michel Foucaults) ebenso in Frage stellten wie die Vorstellung von der Homogenität europäischer Identitäten,5 die die Imagination des Orients mitgeprägt hatte. Auch die humanistischen Werte, deren Fehlen im westlichen Bild des Orients Said kritisiert hatte, erscheinen aus dieser Sicht als eine problematische Kategorie. Europäische Reisende, Schriftsteller und Künstler konnten den Orient außerdem nicht ‚authentisch‘ beschreiben, so sehr Said gerade für eine ‚genauere‘ Beschreibung plädiert haben mag.6 Der Orientalismus ist vielfältig, heterogen und mehrstimmig.7 Es wäre analytisch nicht tragfähig, ihn gezielt zu entpolitisieren, wie dies beispielsweise MacKenzie tat,8 da es sich um eine komplexe Wissensform handelt, die verschiedene Typen von Machtpolitik produzieren kann. Wie die postkoloniale Kritik der letzten beiden Jahrzehnte zeigte, darf man auch – besonders beim „klassischen“ Orientalismus der Kolonialmächte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – erwarten, dass der Orient selbst wie auch dessen Bewohner bei der Formierung des Orientalismus eine aktive Rolle spielten, indem sie Vorstellungen vom ‚Fremden‘ hybridisierten und so die Definitions- und Machthegemonie der Kolonisatoren störten. Die zeitgenössischen Imaginationen des Orients sind HistorikerInnen nicht auf die gleiche Weise zugänglich; sie können auch mit anderen Diskursen verflochten oder von vielfältigen älteren Texten und literarischen bzw. künstlerischen Konventionen beeinflusst sein. Dies stellt jedoch kein Problem dar, wenn wir den Orientalismus als situativen Aussageprozess verstehen. Der Orientalismus könnte nämlich nicht nur als gesamtgesellschaftlich relevanter Vorstellungskomplex untersucht werden, der zeitgleich von verschiedenen Gruppen, auf vielen Ebenen und mit Folgen für eine ganze Bandbreite von Identitäten und Politiken produziert wird – obwohl eine solche Variante besonders im Fall des „klassischen“ Orientalismus in den westeuropäischen, an der Kolonialexpansion

Orientalism: Women, Travel and the Ottoman Harem. London 2004. Zur Orientalismus-Debatte im Allgemeinen: MACFIE, Alexander L.: Orientalism. London u.a. 2002, 50f. – IRWIN, Robert: Dangerous Knowledge: Orientalism and its Discontents. Woodstock-New York 2006, 299f. 5

SARDAR, Ziauddin: Der fremde Orient. Geschichte eines Vorurteils. Berlin 2002, 110.

6

SAID, Orientalism (wie Anm. 2), 21.

7

LEWIS, Gendering Orientalism (wie Anm. 4), 4. – LOWE, Critical Terrains (wie

8

MACKENZIE, John M.: Orientalism. History, Theory and the Arts. Manchester u.a.

Anm. 4), 5. – SARDAR, Der fremde Orient (wie Anm. 5), 107. 1995.

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beteiligten Staaten sehr verlockend wäre. Die Repräsentationen des Orients sowie die Mechanismen und Konsequenzen ihrer Produktion können ebenso einer Analyse aus der Mikroperspektive unterzogen werden: mit Rücksicht zum einen auf die ausgewählte soziale Teilgruppe, die sie produziert (so – wie in unserem Fall – die Elite der entstehenden tschechischen Nationalbewegung), sowie zum anderen auf die einzigartige intellektuelle Konstellation und in Bezug auf den spezifischen Typ der Identitätsformierung. Als fundamental für die Analyse der Repräsentationen des Orients bieten sich die folgenden Schritte an: (i.) Zunächst sollte untersucht werden, wie sich im Rahmen eines konkreten Repräsentationskomplexes das situative Wissen über den Orient formierte. Gerade an einem beschränkten Komplex von Aussagen kann versucht werden, die ihnen vorausgehenden Interpretations- und Symbolsysteme sowie ihre weiteren (von den Akteuren überwiegend nicht reflektierten) Voraussetzungen zu dekodieren. Man kann ihre textuellen Elemente, die Übertragungsmedien der Aussagen, ihre partikularen gesellschaftlichen Funktionen und die identitätsbildenden und performativen Effekte benennen. (ii.) Des Weiteren soll Saids Konzept im Hinblick auf die Tatsache modifiziert werden, dass die Imagination des Orients relational zu Vorstellungskomplexen über andere imaginäre geographische Regionen entstanden ist. Eine von Saids Hauptthesen lautete, dass der Nahe Osten nicht nur ein Ziel der kolonialen Expansion, ein Ort des ständigen kulturellen Zusammenstoßes zwischen den westlichen und östlichen Kulturen und Regionen des Kulturtransfers gewesen sei, sondern auch „one of its deepest and most recurring images of the Other“, die Europa anhand seiner Gegensätzlichkeit definierten.9 Wir dürfen zwar zu Recht erwarten, dass die Imagination des (orientalischen) Anderen in der Vergangenheit mit Hilfe binärer Oppositionen geschaffen wurde, also ganz im Sinne der westlichen Metaphysik einschließlich ihres Potentials zur Bildung von Machthierarchien. Diese Polarität ‚Europäer‘ – ‚Orientale‘ lässt sich allerdings dadurch dynamisieren, dass man Aussagen zum Beispiel über den Nahen Osten, vor allem aber die Mechanismen ihrer Produktion, ihre Argumente, figurative Sprache und identitätsbildenden Folgen mit den Aussagen über andere außereuropäische Territorien vergleicht. Es geht also nicht um das dichotome Schema von „the West and the Rest“, da hier auch die Repräsentation des „nichtwestlichen Restes der Welt“ als heterogene Gruppe verstanden wird.10

9

SAID, Orientalism (wie Anm. 2), 1.

10 HALL, Stuart: The West and the Rest: Discourse and Power. In: Formations of Modernity. Hg. v. Stuart HALL und Bram GIEBEN. Cambridge 1992, 275-320.

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(iii.) Ebenso überlegenswert ist die Möglichkeit anderer als rein negativer Kontrastierungen der Alterität und ihres Verhältnisses zu den westlichen Selbstidentifikationen. Die Hauptfrage lautet dann, wie im System der Wissensproduktion über den Orient positiv, oder anders: ambivalenter konnotierte Vorstellungen funktionierten. (iv.) Wenn der zentrale dichotome Bauplan des Saidschen Orientalismus aufgehoben werden soll, muss schließlich auch die Frage gestellt werden, welche Diskurse und Ideologien den Prozess der begrifflichen Codierung beeinflussten, in denen dem Orient Bedeutungen verliehen wurden. Bei einem solchen Vorgehen geht es nicht nur darum, die einzelnen Schnittpunkte zu benennen, sondern auch darum, darüber nachzudenken, welches die dominanten Weltvorstellungen waren und wie sie sich gegenseitig bedingten und aktivierten. Bezugnehmend darauf wird vor allem gefragt, welche Motive und Themenkomplexe in Kramerius’ fiktiven Reisebeschreibungen zur Geltung kommen. Welche normativen Rahmen und Ideologien verflechten sich in der Repräsentation des (orientalischen) ‚Anderen‘? Welche sind dominant und welche tauchen eher verknüpft mit anderen auf? Von Bedeutung ist weiter auch die Frage, ob die Repräsentationen des islamischen Orients Kramerius die Möglichkeit gaben, die bestehende Gesellschaftsordnung in den böhmischen Ländern zu kritisieren oder sie aber zu stabilisieren. Wie wurde in diesem Zusammenhang die Kolonialpolitik reflektiert? Es wird auch nach dem Verhältnis zwischen Aussagen über den Nahen Osten und anderen außereuropäischen imaginären geographischen Regionen gefragt, und zwar auf der Ebene der Argumentation, der Weltanschauung und der figurativen Vorgehensweisen. Nehmen die Repräsentationen des Nahen Ostens unter den Alteritätsdiskursen eine besondere Position ein? Schließlich wird näher darauf einzugehen sein, wie in Kramerius’ fiktiven Reisebeschreibungen die Vorstellung von der Gemeinschaft der „guten Tschechen“ produziert wird bzw. was diese Gemeinschaft charakterisieren sollte und wen sie umfasst.

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F IKTIONALITÄT UND D IALOGIZITÄT IN K RAMERIUS ’ R EISEBESCHREIBUNGEN Václav MatČj Kramerius stand seit Anfang der 1790er Jahre im Mittelpunkt eines sozialen Netzes von tschechischen Autoren, er bemühte sich, tschechische Leser in Prag und im Umland zu werben, und kümmerte sich um das kontinuierliche Erscheinen tschechischsprachiger Drucksachen in Böhmen und teilweise auch in Mähren. Neben einer Zeitung gab er in seinem Verlag „ýeská expedice“ [Tschechische Expedition] seit 1795 eine Vielzahl von tschechischen Büchern heraus und wurde zum einflussreichsten Verleger und Autor der sich formierenden tschechischen Nationalbewegung. Somit hatte er ein Monopol auf einen großen Teil der zeitgenössischen Wissensproduktion auf Tschechisch. Dies alles organisierte er von Prag aus und verließ wahrscheinlich niemals die Region Mittelböhmen. Im Verlagsprogramm der „ýeská expedice“, das ansonsten vor allem sogenannte Trivialliteratur (neben Leipzig und Frankfurt war zu jener Zeit gerade Prag einer der Hauptverlagsorte)11 sowie Fachliteratur beispielsweise zur Wirtschaftsführung umfasste, nehmen die fiktiven Reisebeschreibungen eine gewisse Sonderrolle ein.12 Sie stellen einen homogenen Korpus von Texten dar, die sich in formaler Hinsicht ähnelten und der älteren Forschung zufolge getreu die Bände imitierten, die in Nürnberg und Weimar in der Reihe „Bibliothek der neuesten Reisebeschreibungen“ erschienen.13 Außer auf Gewinn zielte Kramerius’ Publikationsprojekt wohl darauf ab, den tschechischen Lesern enzyklopädisch alle Weltteile vorzustellen.14 Neben eigenständig publizierten Reiseberichten erschienen in Kramerius’ Sammlungen von Geschichten und kurzen Beiträgen auch als Überblick angelegte, geographisch orientierte Artikel zu Australien, Afrika und Europa. Im Folgenden werden doch nur die eigenständig herausgegebe-

11 KRAMERIUS, Václav MatČj u.a.: ZazdČná sleþna a jiné pĜíhody pro vyražení [Ein eingemauertes Fräulein und andere Geschichten zum Vergnügen]. Praha 1980, 9. 12 Zu den Reisebeschreibungen von Kramerius: OSVALD, Václav: Vychovatel lidu M. V. Kramerius [Der Volkserzieher M. V. Kramerius]. Praha 1943, 23f. – NOVOTNÝ, Jan: MatČj Václav Kramerius. Praha 1973, 196f. Kramerius hatte bereits zuvor einige ältere Reisebeschreibungen herausgegeben, zum Beispiel John Mandevilles Cesta po swČtČ [Reise um die Welt] (1796) und Jana Smita, kapitána anglického, Prawdiwé PĜjhody po cestách [Die wahrhaften Reisegeschichten des englischen Kapitäns John Smith] (1798). 13 NOVOTNÝ (vgl. Anm. 12), 198. 14 Ebd., 199.

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nen fiktiven Reisebeschreibungen analysiert, die von Kramerius selbst im Zeitraum von 1802-1808 verfasst worden sind. Sie beschreiben Ägypten („Auplné Wypsánj Egypta“ [Vollständige Beschreibung Ägyptens]), Arabien und Palästina („Cesta do Arabie“ [Reise nach Arabien]), Länder des indischen Subkontinents („Wypsánj welikého Mogolského cýsaĜstwj“ [Historische Beschreibung des großen Mogulkaiserreichs] und „Druhý Djl Indye“ [Zweiter Teil Indiens]) sowie die Geschichte der Eroberung Amerikas („Hystorycké Wypsánj, kterak þtwrtý djl swČta, Ameryka od Kolumbusa wynalezena byla“ [Historische Beschreibung, wie der vierte Weltteil Amerika von Columbus entdeckt wurde]).15

15 KRAMERIUS, MatČj Václav: Auplné Wypsánj Egypta, genž ležj w tĜetím djlu swČta, Afryce; w nČmž se wypisuge wsse co gest pamČtihodného a podiwného w té weliké zemi [Vollständige Beschreibung Ägyptens, das im dritten Weltteil Afrika liegt; in der alles beschrieben wird, was in diesem großen Land denk- und merkwürdig ist]. W Praze 1816 [11802]. Diese zweite Auflage der sogenannten Kramerius-Erben ist der älteren Literatur zufolge mit der ersten Auflage identisch; sie enthält zusätzlich nur noch ein lobendes Vorwort über Kramerius selbst (NOVOTNÝ (wie Anm. 12), 198). KRAMERIUS, MatČj Václav: Hystorycké Wypsánj, kterak þtwrtý djl swČta, Ameryka od Kolumbusa wynalezena byla [Historische Beschreibung, wie der vierte Weltteil Amerika von Columbus entdeckt wurde]. W Praze 1803. – DERS.: Hystorycké Wypsánj welikého Mogolského cýsaĜstwj w druhém djlu swČta Azyi. PĜi þemž se mnozí rozliþní národowé, mrawowé, obyþegowé, zwyklosti, práwa a náboženstwj gegich, gakož i giné mnohé pamČti hodné wČcy pĜipomjnagj [Historische Beschreibung des großen Mogulkaiserreichs im zweiten Weltteil Asien. Wobei viele unterschiedliche Völker, deren Sitten, Riten, Gebräuche, Rechte und Religion sowie auch viele andere denkwürdige Dinge Erwähnung finden]. W Praze 1803. – DERS.: Druhý Djl Indye. To gest: Hystorycké wypsánj mnohých králowstwj a kragin, genž na druhém Indyckém polauostrowČ w Azyi ležj; pĜi þemž se také rozliþnj národowé, powahy, mrawowé, obyþegowé, zwyklosti, práwa, wáleþnj Ĝádowé a náboženstwj gegich, gakož i giné mnohé pamČti hodné wČcy pĜipomjnagj [Zweiter Teil Indiens. Das ist: Die historische Beschreibung vieler Königreiche und Landschaften, die auf der zweiten Indischen Halbinsel in Asien liegen; wobei auch die unterschiedlichen Nationen, ihre Charakterzüge, Sitten, Riten, Gebräuche, Rechte, Kriegsordnungen und Religion sowie auch andere denkwürdige Dinge Erwähnung finden]. W Praze 1804. – DERS.: Cesta do Arabie, a do zemČ swaté, ginak Palestyny; w kteréž se wssecka mjsta swatá, obywatelé, gegich powahy, mrawowé, obyþegowé, Ĝádowé a náboženstwj gakož y giné mnohé pamČti hodné wČcy wedlé uloženého poĜádku wypisugj [Reise nach Arabien und in das Heilige Land, ansonsten Palästina; in der alle heiligen Orte, die Bewohner, ihre Charakterzüge, Sitten, Rituale, Ordnungen und Religion sowie auch vie-

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Gerade sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sie eine durchdachte Darstellung des außereuropäischen Fremden enthalten. Alle fiktiven Reisebeschreibungen besitzen eine identische formale Struktur, auf die wir auch in anderen nach 1802 von der „ýeská expedice“ publizierten Schriften stoßen. Es handelt sich um eine Serie von wöchentlich gedruckten Gesprächen zwischen dem „Boten“ (d.h. dem Postboten, der jede Woche am Freitag die neue Nummer der „Vlastenské noviny“ [Patriotische Zeitung] aus Prag brachte) und dem Dörfler „Lipan“, der in diesen Gesprächen lobend als „perfekter tschechischer Hauswirt“ bezeichnet wird.16 Der Bote bringt also nicht nur die Zeitung, sondern auch die Leserbeilage (die später als eigenständiger Band herausgegeben wurde). Die Dialoge sind recht stereotyp strukturiert: Nach der anfänglichen Begrüßung und einer exemplarischen höflichen Konversation informiert der Bote in der Regel über die Buchneuheiten der „ýeská expedice“, und zu diesem Thema kehren die beiden Gesprächspartner in verschiedenen Zusammenhängen auch im weiteren Verlauf immer wieder zurück. Im einleitenden Teil des Gesprächs erwähnt der Bote auch weitere (vor allem außenpolitische) Neuigkeiten; in den folgenden Abschnitten belehrt der Bote dann den Dörfler über fremde Länder, stellt ihm leitende Fragen und korrigiert seine fehlerhaften Informationen und Urteile. Der Gesamtinhalt des Gesprächs ist also von stark informativem Charakter, obwohl der Dörfler diesen Texttyp als einen unterhaltsamen deklariert.17 Die jeweilige Ausgabe schließt dann mit Annoncen über die Aktivitäten der „ýeská expedice“. Zwar wird an vielen Stellen der Dialoge der „Nachbarschaftscharakter“ der Beziehung zwischen dem Boten und dem Dörfler betont (sie sprechen sich beispielsweise ausnahmslos als „Herr Nachbar“ an), dennoch kann die starke Machtasymmetrie nicht unbemerkt bleiben. Der Bote bringt nicht nur Informationen, sondern er belehrt und erklärt; wenn er sich in Ausnahmefällen nicht sicher ist, verweist er auf die Ansichten „unserer gelehrten Männer in Prag“18. Die Hierarchie ist also zugleich durch die Beziehung zwischen Zentrum und Periphe-

le andere denkwürdige Dinge nach der richtigen Reihenfolge beschrieben werden]. W Praze 1804. 16 KRAMERIUS, Auplné Wypsánj Egypta (wie Anm. 15), 52: „dokonalý þeský hospodáĜ“. Vgl. auch NAVRÁTILOVÁ, Hana: Venceslaus Kramerius and Bookworm Travelling in the Early 1800s. In: Egypt and Austria I. Proceedings of the symposium. Hg. v. Johanna HOLAUBEK und Hana NAVRÁTILOVÁ, Prague 2005, 95-104, hier 97. 17 KRAMERIUS, Cesta do Arabie (wie Anm. 15), 4. 18 DERS., Hystorycké Wypsánj, kterak þtwrtý djl swČta, Ameryka od Kolumbusa wynalezena byla (wie Anm. 15), 5.

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rie der nationalen Gemeinschaft gegeben. Wie die Einleitung zu „Auplné wypsánj Egypta“ andeutet, forderte Kramerius zur öffentlichen Verlesung seiner Texte auf. Jede der oben erwähnten fiktiven Reisebeschreibungen hat also eine reine „Konversationsform“ – es handelt sich um einen umfangreichen Dialog zwischen Lipan und dem Boten, dessen Sätze in mündlicher Form wiedergegeben sind. Entsprechend eines Hinweises des tschechischen Historikers Jan Novotný bot gerade die dialogische Form der fiktiven Reisebeschreibungen Kramerius ein unerwartet breites Feld auktorialer Möglichkeiten.19 Noch mehr als um die Intention des Autors geht es doch darum, dass fiktive Reisebeschreibungen – und vor allem die hier zugrunde liegende Dialogizität als ihre stilistische Hauptachse – es offensichtlich ermöglichten, die zeitgenössischen Gattungsspezifika eines Reiseberichtes zu überschreiten. Kramerius war nicht durch die Anforderung gebunden, die Erzählstruktur ausschließlich dem geographischen und chronologischen Reiseverlauf folgen zu lassen. Die Erzählung des Boten über fremde Länder folgt zwar einer gewissen geographischen Logik, ist jedoch fragmentiert. Sie konnte jederzeit um einen anderen mehr oder weniger umfangreichen Textkomplex erweitert werden, beispielsweise um Erklärungen, die auf die Fragen des Dörflers reagierten. Solche Elemente konnten auch in andere, sich durch festere Gattungskonventionen auszeichnende Textsorten einverleibt werden, um die gleiche Funktion in Bezug auf den Modell-Leser (hier „Freunde der tschechischen Bücher“) zu erfüllen. Gerade diese fiktiven Reisebeschreibungen schufen doch symptomatisch einen textuellen Raum für die Inszenierung des Fremden, der im damaligen Böhmen einzigartig war.20

19 NOVOTNÝ (wie Anm. 12), 199. Der Einfluss der Genreregel auf die Repräsentation des Orients wird in der Post-Said-Forschung eher unterschätzt, obwohl in letzter Zeit bereits Arbeiten entstehen, in denen die Gattungsbesonderheit der aufgeklärten und romantischen Formen des Orientalismus Berücksichtigung findet (z. B. KRUG, Christian: Das Eigene im Fremden: Orientalismen im englischen Melodrama, 1790-1840. Trier 2001). 20 Die dialogische Form unterscheidet sich deutlich von den Reisebeschreibungen, die von den sogenannten Kramerius-Erben nach 1807 publiziert wurden. Kramerius’ Sohn Václav Rodomil und seine Mitarbeiter setzten die Verlegertätigkeit noch einige Jahre fort und veröffentlichten ebenfalls einige Reisebeschreibungen, die MatČj Václav Kramerius noch zu seinen Lebzeiten vorbereitet hatte. Dazu gehören Jan Rulíks zweiteilige Hystorye Turecká [Geschichte der Türkei] (1809 und 1810), ZpĤsoby, Mrawy a MjnČnj ýinĤ a Kochin-ýinĤ [Verhalten, Sitten und Ansichten der Chinesen und Cochinchinesen] (1810) sowie die zweiteilige Übersetzung von John Hawkes-

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Die Dialogizität ermöglicht es ferner, stark normative Wertungsrahmen, Vergleiche mit der tschechischen Situation sowie Appelle an die „wahren Tschechen“ [prawj ýechowé] in die Reisebeschreibung einzufügen. Alteritätskonstruktionen dienten dann als eine (im Sinne des postaufklärerischen Logozentrismus) stark dichotome Folie, an der angeblich universal geltende Normative belegt wurden, um das ‚Eigene‘ positiv hervorzuheben oder mit Hilfe der Fremddarstellungen zur Besserung anzuregen. Kramerius hielt den in seinen Reisebeschreibungen operationalisierten normativen Rahmen für universal gültig und verbindlich. Gleichzeitig ist der Modell-Leser in seiner Auffassung sehr wichtig, weil Fremddarstellungen gute „tschechische Eigenschaften“ etablieren und somit die tschechische nationale Gemeinschaft mit anderen „zivilisierten“ Nationen vergleichbar machen sollen. Der Bote und der Dörfler führen so im Rahmen einer „fiktiven Reise“ Diskussionen, in denen sie bestimmte außereuropäische Gesellschaftspraktiken und Institutionen, denen sie auf ihrer „Reise“ begegnen, loben oder aber kritisieren. Allmählich ordnen sie diese in „universal gültige“ normative Raster ein und verwenden sie in positiv oder negativ konnotierter Gestalt, um die „wahren Tschechen“ zur Nachahmung aufzufordern oder ihnen im Gegenteil davon abzuraten.21 Ein bezeichnendes Beispiel ist die Be-

worths Reisebschreibung Zbjrka cest wypsánj po moĜi, k užiteþnému a obweselugjcjmu þtenj pro wsseobecný lid [Gesammelte Beschreibung der Seereisen, zur nützlichen und vergnüglichen Lektüre für das gemeine Volk] (1812). In diesen Texten finden wir zwar einige Alteritätsmotive, die aus den älteren Reisebeschreibungen von Kramerius bekannt sind, insgesamt gesehen handelt es sich jedoch um systematische, manchmal sogar enzyklopädische Überblicke, in denen im Vergleich zu Kramerius’ älterer Produktion offensichtlich jene Ebenen fehlen, die gerade dank der Dialogform artikuliert wurden – so die polarisierten Bewertungen und der Vergleich mit der Situation in Böhmen oder die Appelle an die „wahren Tschechen“. 21 Diese Auffassung steht den elitären Formen des frühen deutschen Orientalismus, wie sie in der älteren Forschung beschrieben werden, recht fern. Kramerius’ Auffassung ist deutlich weniger ausgefeilt und sophistisch als die Interpretationen in den Werken der bekanntesten Deutsch schreibenden Autoren der zweiten Hälfte des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts – d. h. Heines poetischer Orientalismus, der eine eigene kulturelle Alterität artikuliert, der Orient in Herders Kulturtheorie oder in Goethes Universalismus. Dazu vgl. die jüngsten Studien von W. Daniel Wilson, Yomb May sowie James Hodkinson im Band: Encounters with Islam in German Literature and Culture. Hg. v. James HODKINSON und Jeff MORRISON, Rochester, NY 2009 (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture); sowie Studien von Andrea Polaschegg, Michael Hofmann, Norbert Mecklenburg, Axel Dunker und Joseph A. Kruse

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schreibung Ägyptens, wo sich mit der altägyptischen Zivilisation zahlreiche positiv konnotierte Phänomene verbinden lassen (technische Innovation, Fleiß, eine geregelte Sozialordnung, Einheit, Rationalität, Pragmatismus usw.), die zur Nachahmung empfohlen werden, während mit dem gegenwärtigen „Niedergang“ des arabischen Ägypten negative Beispiele wie Faulheit, Schmutz, Verödung oder Leibeigenschaftsverhältnisse der Untertanen verknüpft werden, die ein „wahrer Tscheche“ natürlich abzulehnen hatte. In den bereits erwähnten Reisebeschreibungen „Auplné Wypsánj Egypta“ und „Cesta do Arabie“ sind diese normativen Raster für Ägypten und Palästina besonders detailliert ausgearbeitet.22 Auch die Beschreibungen der meisten Länder des indischen Subkontinents verfügen über einen exemplarischen Aufbau, wo mit Ausnahme der Religion viele der Bräuche und Eigenschaften der dortigen Bewohner gelobt werden. Diese normativen Zuschreibungen wiederholen sich dann in allen fiktiven Reisebeschreibungen und korrespondieren nicht nur mit Kramerius’ didaktischen Bü-

im Band: Der Deutschen Morgenland. Bilder des Orients in der deutschen Literatur und Kultur von 1770 bis 1850. Hg. v. Charis GOER und Michael HOFMANN. München 2008; Siehe ebenfalls MARCHAND, Suzanne L.: German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race and Scholarship, Cambridge 2009 (Publications of the German Historical Institute), 21-53. – WEBER, Mirjam: Der „wahre Poesie-Orient“. Eine Untersuchung zur Orientalismus-Theorie Edward Saids am Beispiel von Goethes „West-östlichem Divan“ und der Lyrik Heines. Wiesbaden 2001. – BELL, David: „Orientalizing the Orient“ or „Orientalizing Ourselves“? The Meeting of West and East in Goethe’s West-Östlicher Divan. In: „Wenn die Rosenhimmel tanzen“. Orientalische Motivik in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Hg. v. Rüdiger GÖRNE und Nima MINA. München 2006, 52-66. – KOCZISZKY, Eva: Hölderlins Orient. Würzburg 2009. Auf die nationale Dimension des frühen deutschen Orientalismus, der eine gewisse Parallele zu Kramerius’ Reisebeschreibungen darstellt, verwies KONTJE, Todd: German Orientalisms, Ann Arbor 2004. 22 Die Repräsentationen Ägyptens und des Heiligen Landes unterscheiden sich von Kramerius’ sonstigen Reisebeschreibungen vor allem darin, dass sie in enger intertextueller Bindung an die Bibel und an tschechische (in der Nationalgemeinschaft mit positiven Werten konnotierte) Literatur aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und den ersten zwei Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts (also aus dem sogenannten „goldenen Zeitalter“ der tschechischen Sprache) geschaffen werden konnte. So wurden aus dem kanonischen Werk von Kryštof Harant Putowánj aneb Cesta … do ZemČ Swaté [Die Pilgerfahrt oder die Reise … ins Heilige Land] sogar mehrfach umfangreiche Passagen mit Verweisen auf die Seiten der Erstausgabe (1608) zitiert. Dazu auch NAVRÁTILOVÁ, Venceslaus Kramerius (wie Anm. 16), 100.

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chern, sondern auch mit seiner Publizistik aus den späten 1780er Jahren, in denen er die josephinischen Reformen verteidigte, vor allem mit den Schriften „Kniha Jozefova“ [Das Buch Joseph] (1784) und „KĜesĢanská domownj postila“ [Die christliche Hauspostille] (1785).

D ER „ ERSTE TSCHECHISCHE J OURNALIST “ UND DIE F ORMIERUNG EINER NATIONALEN G EMEINSCHAFT In den Biographien über Kramerius wird bereits im 19. Jahrhundert vor allem sein vielseitiges Engagement in der sich formierenden tschechischen Nationalbewegung betont.23 Später konzentrierten sich die Biographen auf seine altruistischen Volksbildungsbemühungen für die tschechische Landbevölkerung im Namen der aufklärerischen Ideale.24 Die Bedeutung von Kramerius’ intellektuellen Aktivitäten beruhte allerdings vor allem auf seiner Rolle als Organisator des tschechischen Literaturbetriebs. Nach dem Studium der Philosophie und der Rechte sowie einer kurzen Zeit als Verwalter einer Adelsbibliothek publizierte er seine ersten literarischen Versuche und arbeitete als Redakteur der tschechischen Zeitung „Schönfeldské císaĜské a královské poštovní noviny“ [Schönfelds Kaiserlich-königliche Postzeitung]. 1789 begann Kramerius mit der Herausgabe einer tschechischen Zeitung,25 ein Jahr später gründete er die bereits erwähnte „ýeská expedice“, ein Verlag verbunden mit einer Lager- und Verkaufsstelle nicht nur für Zeitungen, sondern vor allem für zeitgenössische tschechische Bücher. Diese gab Kramerius seit 1795 in einer eigenen Buchdruckerei heraus und sicherte mit Hilfe von Briefbestellungen, regelmäßigen Subskriptionen und einem Verkäufernetz deren Vertrieb auch außerhalb Prags. Neben seinen eigenen Übersetzungen oder Kompilationen, die er als hinreichend interessant und informativ für das tschechische Publikum ansah und die zugleich einen befriedigenden Verkauf versprachen, publizierte Kramerius vor allem Übersetzungen, Adaptionen und Originalwerke jüngerer, tschechisch schreibender Autoren – ei-

23 Siehe z.B. RYBIýKA, Antonín: Život a pĤsobení Václava MatČje Krameriusa [Václav MatČj Kramerius’ Leben und Werk]. Praha 1859. 24 HERBEN, Jan: MatČj V. Kramérius, osvícenský novináĜ a buditel [Kramerius, ein aufklärerischer Journalist und Erwecker]. Praha 1926. – OSVALD (wie Anm. 12). – NOVOTNÝ

(wie Anm. 12).

25 „Pražské poštovské noviny“ [Prager Postzeitung], später „Krameriusovy c.k. vlastenecké noviny“ [Kramerius’ k. k. patriotische Zeitung].

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ner damals recht kleinen Gruppe.26 Kramerius beteiligte sich von Anfang bis Ende an der Vorbereitung der Publikationen – er redigierte die Texte, versah sie mit Vorworten, druckte sie und brachte sie vor allem zu den Lesern. Ein Netzwerk von mit ihm kooperierenden Verkäufern spannte sich über alle größeren böhmischen Städte. Dieses Netz ergänzten dann gelegentlich Kommissionäre, die die Exemplare auch an entlegenere Orte bringen konnten; insgesamt handelte es sich um ein sehr funktionsfähiges System organisierter Literaturproduktion, das zugleich neben der Formierung der tschechischen nationalen Gemeinschaft auf ihre Art auch das Monopol für die Errichtung sprachlicher und kommunikativer Standards sowie der Inhalte besaß, die die Nationalgemeinschaft teilen sollte. Dazu gehörten unter anderem auch die Repräsentationen des „Anderen“. Die Lektüre der von der „ýeská expedice“ herausgegebenen Bücher wurde als symbolischer Bekenntnisakt zur tschechischen Nationalbewegung verstanden.27 Dieser symbolische Wert war jedoch auch auf das ökonomische Kapital übertragbar; die Herausgabe von Zeitungen und tschechischen Büchern sowie deren Verkauf war gleichermaßen eine kommerzielle Aktivität. Dabei handelte es sich um ein Risikogeschäft. Darauf weist bereits die Tatsache hin, dass Kramerius 1802 mit der Herausgabe fiktiver Reisebeschreibungen als Zeitungsbeilage begann, um den Verkauf zu erhöhen. Der „erste tschechische Journalist“ kam also mit seinen Herausgeber- und Buchhändlerunternehmungen niemals zu Reichtum; es handelte sich eher um eine Quelle annehmbarer, wenn auch kaum planbarer Einkünfte, die es Kramerius zwei Jahre vor seinem Tod sogar ermöglichten, für die „ýeská expedice“ ein Haus in der Prager Altstadt zu kaufen. Jan Novotný zufolge gehörten die fiktiven Reisebeschreibungen zu den erfolgreichsten Titeln, die in der „ýeská expedice“ erschienen.28 Für den Erfolg bei den Lesern dürfte auch die Schnelligkeit sprechen, mit der die Schriften hintereinander erschienen. Wie groß war das Publikum für diese Schriften? Es wird geschätzt, dass die erfolgreichsten Titel hunderte von Lesern erreichten.29 Die in diesem Rahmen produzierten Alteritätsdiskurse lösten also in der tschechischen Nationalbewegung ein breites Echo aus und hatten wohl auch konkrete identitätsstiftende Wirkung.

26 NOVOTNÝ (wie Anm. 12), 219-220. 27 Dazu auch, NAVRÁTILOVÁ, Venceslaus Kramerius (wie Anm. 16), 102. 28 NOVOTNÝ (wie Anm. 12), 200. 29 Ebd., 221-222.

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Nach den Konzepten besonders der deutschen Alteritätsforschung30 wird mittels der Diskurse kognitiv und sozial ein Zugehörigkeitsgefühl hergestellt; Identität generiert sich also in der Beziehung zum „Anderen“ mit allen Folgen für das weitere menschliche Handeln. Kramerius konstruiert im Hinblick auf den Orient eine anscheinend unproblematische Gruppe: „my Cžechowé“ [wir Tschechen] oder „nássj Cžechowé“ [unsere Tschechen].31 Berücksichtigt man die älteren nationalistischen Interpretationen der publizistischen Aktivitäten von Kramerius, bietet sich die scheinbar selbstverständliche These an, dass es sich um eine komplexe ethnische Gemeinschaft handelt. Die Vorstellung einer homogenen Gemeinschaft wird schon damit unterlaufen, dass sie konsequent in „prawj“, „dobĜj“ oder „upĜjmnj Cžechowé“ [wahre, gute, ehrliche Tschechen] und „pĜewrhlj Cžechowé [falsche Tschechen]“ unterteilt wird.32 Diese Dichotomie wurde – unter anderem – auf Grund orientalischer Alterität produziert. Die „wahren Tschechen“ definierten sich im Verhältnis zur Sprache, konkret durch Lektüre und Schreiben in einer bestimmten Version der tschechischen Sprache. Die in der „ýeská expedice“ publizierenden Autoren produzierten also eine verbindliche Sprachnorm – nicht nur auf der Ebene der Begrifflichkeit, sondern auch bei konkreten Wendungen, bei kommunikativen Phrasen oder Zitaten kanonischer Autoren. Der Bote und der Dörfler Lipan führen mehrfach eine Dis-

30 Zum Forschungsparadigma Alterität – Interkulturalität in der Germanistik und Literaturwissenschaft vgl. z. B. das Heft 110 der Zeitschrift LiLi aus dem Jahre 1998; sehr überzeugend operationalisiert z. B. in HOLDENRIED, Michaela: Künstliche Horizonte. Alterität in literarischen Repräsentationen Südamerikas. Berlin 2004. 31 KRAMERIUS, Václav MatČj: Arabské pohádky. Prwnj Swazek [Arabische Märchen. Erster Band]. W Praze 1795, Fol. A1a. – DERS., Hystorycké Wypsánj, kterak þtwrtý djl swČta, Ameryka od Kolumbusa wynalezena byla (wie Anm. 15), 3, 33. – DERS., Druhý Djl Indye (wie Anm. 15), 43. – DERS., Auplné Wypsánj Egypta (wie Anm. 15), 16. 32 KRAMERIUS, Hystorycké Wypsánj welikého Mogolského cýsaĜstwj (wie Anm. 15), 3. – DERS., Hystorycké Wypsánj, kterak þtwrtý djl swČta, Ameryka od Kolumbusa wynalezena byla (wie Anm. 15), 3, 106. – DERS., Druhý Djl Indye (wie Anm. 15), 102. – DERS., Weþernj ShromáždČnj Dobrowické Obce. Aneb: ProspČssná Nauþenj, wedlé kterýchž gedenkaždý wssemu dobrému se pouþiti, pĜed mnohau sskodau se wystĜjhati, y také o rozliþných na swČtČ pamČti hodných wČcech známosti nabyti mĤže [Abendversammlung des Dorfes Dobrovice, oder Nützliche Belehrungen, dank derer jeder alles Gute erlernen, viel Schaden vermeiden und sich mit verschiedenen denkwürdigen Ereignissen, die in der Welt geschehen sind, vertraut machen kann]. W Praze 1801, Fol. A2a.

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kussion über die korrekte tschechische Terminologie, die in den Reisebeschreibungen auch dank der enzyklopädischen Exkurse fixiert wird. Der Kollektivbegriff wird also durch die damaligen Monopolaktivitäten der „ýeská expedice“ mitgeformt. Allein die Pflege der heimischen Sprache und des entsprechenden literarischen Schaffens ist eine der normativen Ebenen, die eine zivilisierte, „aufgeklärte Nation“ charakterisiert. Wie Kramerius betont, „schätzen selbst die barbarischen Völker ihre Muttersprache über alles“.33 Die idealen Charakterisierungen der „wahren Tschechen“ decken sich weiter mit dem Knäuel der Ideologien, die an den Beispielen orientalischer Institutionen und sozialer Praktiken artikuliert und zugleich naturalisiert werden. Wenn wir nur die Passagen berücksichtigen, in denen direkt von den „wahren Tschechen“ gesprochen wird, dann wünscht der Bote dieser Kollektiveinheit beispielsweise, dass sie „wie andere aufgeklärte Völker von Tag zu Tag verständiger werde“.34 Im Vergleich zu außereuropäischer Landwirtschaft lobt er wiederum die tschechische „Strebsamkeit [pĜiþinlivost]“ und Liebe zu Innovationen. Auf der Grundlage eines Vergleichs mit den alten Ägyptern beschreibt Kramerius dann den Niedergang der ehemaligen Einheit, der es den heutigen böhmischen Patrioten unmöglich macht, ebenso viel für das Gemeinwohl zu tun wie die alten Ägypter, und er appelliert, die Einheit zu erneuern.35 Im folgenden Kapitel sollen die mit diesen Motiven verbundenen Weltanschauungen benannt sowie danach gefragt werden, wie sie an der Produktion der orientalischen und außereuropäischen Alterität partizipierten.

33 KRAMERIUS, Václav MatČj: Ferdynand a Kalista. Sspanyelská hystorye, kteráž mnohé truchliwé i podiwné pĜjhody po zemi y po moĜi wyprawuge [Ferdinand und Kalista. Eine spanische Geschichte, in der viele traurige und sonderbare Ereignisse auf See sowie auf dem Festland erzählt werden]. Praha 1799, 44: „y ti barbasstj národowé swého mateĜského gazyka nadewssecko sobČ wážj“. 34 KRAMERIUS, Hystorycké Wypsánj welikého Mogolského cýsaĜstwj (wie Anm. 15), 3: „gako ginj osvjcenj národowé, den po dni rozumnČgssj byli“. 35 DERS., Auplné Wypsánj Egypta (wie Anm. 15), 48.

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I DEOLOGIEN UND NORMATIVE R ASTER IN K RAMERIUS ’ R EPRÄSENTATIONEN DES ( ORIENTALISCHEN ) A NDEREN In allen fiktiven Reisebeschreibungen von Kramerius verflechten sich identische normative Raster und die mit ihnen verbundenen konkreten Themenkomplexe (als Beispiel sei etwa der Diskurs der „Gesellschaftsordnung“ gewählt). Die Wertungsraster, die Kramerius an den Nahen Osten anlegt, entsprechen also nicht dem System der binären Oppositionen, in dem laut Said im „klassischen“ Orientalismus den Orientalen miteinander zusammenhängende Eigenschaften zugeschrieben wurden, die einen scharfen Kontrast zum idealtypischen Europäer bildeten: Faulheit, Submission, Hinterlist, Irrationalität, Infantilität, die Unfähigkeit, sich selbst zu verwalten und die eigene Sexualität zu beherrschen, sowie Melancholie oder Grausamkeit.36 Die positive Inszenierung des alten Ägypten sowie der meisten außereuropäischen imaginären Gegenden bedeutet jedoch keinesfalls, dass hiermit die Dualität des Orientalismus aufgebrochen ist. Es handelt sich um ein System von Dichotomien, das gleichzeitig an außereuropäische Regionen und deren Bewohner wie auch an die Bevölkerung Europas und die tschechische Nationalgemeinschaft angelegt wird und als ein Grund der gesellschaftlichen Exklusionsmechanismen und der Disziplinierung dienen konnte. An diesen binär gegründeten Benennungsprozessen beteiligen sich dann immer beide Extrempositionen – der Kontrast wird im Verhältnis „zu etwas“ gebildet, das so zum untrennbaren Bestandteil dieser Definition wird. Die Bedeutung des Fremden wird auch dadurch produziert, dass in den Aussagen eine größere Zahl von Ideologien und Wertungsrahmen interagiert. Wenn wir zu der „Gesellschaftsordnung“ zurückkehren, zum Beispiel zu der Beschreibung der „Leibeigenen“-Position der arabischen Landwirte in Folge der schlechten Verwaltung, werden auch andere Weltvorstellungen aktiviert: hier konkret die mangelnde Effektivität der Arbeitsleistung arabischer Landwirte, geringer Hygienestandard und Krankheiten, die Unfähigkeit zu technologischer Innovation, Aberglaube usw. Die folgende Analyse konzentriert sich gerade auf diese Verflechtungen sowie auf die Beziehung zwischen Alteritätskonstruktionen des islamischen Orients und anderer imaginären Gebiete.

36 SAID (wie Anm. 2), 46, 38, 150.

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Der Zivilisationsniedergang des Nahen Ostens Das grundlegende Raster, das Kramerius bei seiner Lesart des Nahen Ostens anlegt, ist der Zivilisationsniedergang. Diese Interpretation entspricht einer der Charakteristika des Orientalismus, auf die bereits Edward Said aufmerksam machte – danach hatten die Reiche des Nahen Ostens ihre Zivilisationsaufgabe bereits im Altertum erfüllt und der zeitgenössische Orient trage kein Körnchen des ehemaligen Ruhms mehr in sich, sondern werde im Gegenteil zum Objekt einer neuen „Zivilisierungsmission“ von Seiten der reiferen europäischen Staaten.37 Auf spezifische Weise applizierte Kramerius die Geschichte des Zivilisationsniedergangs auf das Heilige Land. In die Beschreibungen drang die biblische Alterität ein, die auch in den frühneuzeitlichen tschechischen Pilgerberichten, mit denen Kramerius arbeitete, das zentrale Aussageraster zum Heiligen Land bildete.38 Die einzelnen Orte werden eher im biblischen als im zeitgenössischen Kontext beschrieben und liefern häufig direkte Verweise auf die Bibel. Die „gegenwärtige Realität“ Palästinas dient als Kontrastfläche, die den Niedergang des Landes seit den biblischen Zeiten illustriert. Das Heilige Land wird dann mit Hilfe der Topik des Niedergangs dargestellt, bei den einzelnen, aus der biblischen Tradition bekannten Orten wiederholen sich Verbindungen vom Typ „welmi spustlé“ [sehr verlassen], „wČtssj djlem poboĜené“ [zum größten Teil zerstört], „wssecko k zanedbánj pĜisslo“ [alles wurde vernachlässigt], „leží na gedné hromadČ“ [liegt auf einem Haufen] oder „nic než zĜjceniny“ [nichts als Ruinen].39 Diese Destruktionstopik und der gesamte Interpretationsrahmen kommen in geringerer Frequenz auch bei den Beschreibungen der umliegenden Länder zur Anwendung. Ohne direkte biblische Vergleiche schildert Kramerius den Niedergang beispielsweise der syrischen Städte, an denen der Bote und der Dörfler auf

37 Siehe hierzu auch OSTERHAMMEL, Jürgen: „The Great Work of Uplifting Mankind.“ Zivilisierungsmission und Moderne. In: Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert. Hg. v. Boris BARTH und Jürgen OSTERHAMMEL. Konstanz 2005 (Historische Kulturwissenschaft 6), 381-386. 38 Vgl. STORCHOVÁ, Lucie: Biblische Topographie versus frühneuzeitlichen Orientalismus? Konstruktionen der orientalischen Alterität in böhmischen späthumanistischen Reiseberichten. In: Egypt and Austria IV. Hg. v. Johanna HOLAUBEK, Hana NAVRÁTILOVÁ

und Wolf B. OERTER. Prague 2008, 185-214.

39 KRAMERIUS, Cesta do Arabie, a do zemČ swaté, ginak Palestyny (wie Anm. 15), 25, 34, 38, 161, 169, 174, 198.

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ihrer Reise ins Heilige Land „vorbeiziehen“ – als Kontrastfläche zum gegenwärtigen Zustand dienen hier vage definierte „alte Zeiten“.40 Nur ganz ausnahmsweise stößt man auf Beschreibungen von Luxus, die zum Repertoire des „klassischen“ Orientalismus der Kolonialgroßmächte des 19. Jahrhunderts gehören und die in den Repräsentationen des Heiligen Landes bei Kramerius überhaupt nicht zur Anwendung kommen. Dazu gehört etwa die Erwähnung der Feierlichkeiten des jemenitischen Königs und die Ausstattung des Statthalterhauses in Aden,41 zu dem Kramerius jedoch gleich hinzufügte, dass „es in anderen Städten mit der Kunst ganz anders aussah und aus anderen Städten alles sogar so gänzlich vertrieben wurde, dass die Dummheit und große Ungebildetheit der [dortigen] Leute mit nichts verglichen werden kann“.42 Diese Absenz rekurriert wahrscheinlich gerade auf die kontrastierende Funktion der Repräsentationen des zeitgenössischen Ägypten und Arabien – in Bezug auf die biblische Zeit sowie auf angeblich universell geltende Normative der gesellschaftlichen Ordnung, die auch für die tschechische Nationalgemeinschaft verbindlich seien. Gerade deswegen tauchen hier auch negativ konnotierte Themenkomplexe wie Schmutz, Mangel an Innovationen, Faulheit, Armut oder Krankheiten so häufig auf. Auf das Zivilisationsniveau des Heiligen Landes in biblischen Zeiten verweisen neben den blühenden Städten auch der damalige Bevölkerungsreichtum und die Fruchtbarkeit der Region, die Kramerius mit dem Fleiß der alttestamentarischen Israeliten erklärt. Der Niedergang des Heiligen Landes und der benachbarten Regionen, die im biblischen intertextuellen Gedächtnis fixiert sind, wurde mit der nicht funktionierenden Verwaltung und vor allem mit der angeblichen Faulheit und Unfähigkeit der heutigen Bevölkerung, eine effektive Landwirtschaft zu betreiben, begründet.43 Die an der Imagination des Niedergangs beteiligten normativen Schlüsselkategorien sind also „Landesordnung“, „Arbeitsfleiß“ und „wirtschaftliche Tüchtigkeit“. Ägypten ist in Kramerius’ fiktiven Reisebeschreibungen ein statisches Beobachtungsobjekt, bei dem der Autor zwei historische Phasen zu unterscheiden weiß, die keine innere Dynamik aufweisen, nämlich das monolithisch verstande-

40 Ebd., 43. 41 Ebd., 109. 42 Ebd., 109-110: „w giných mČstech s umČnjm daleko gináþ [to] wyhljžj a z giných dokonce wssecko tak wyptyleno gest, že tuposti toho lidu a weliké neumČlost nic pĜirownati se nemĤže.“ 43 Ebd., 58, 193.

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ne Alte Ägypten gegen das zeitgenössische islamische Ägypten.44 Das Vergleichsprinzip wird also analog zum Heiligen Land angewandt, wobei das Motiv des Zivilisationsniedergangs zugleich unter Bezug auf andere normative Rahmen ausgearbeitet wurde. „In alten Zeiten“ war Ägypten ähnlich wie das biblische Palästina stark bevölkert und der Boden bestellt, hier gab es „ganz andere Städte, andere Menschen, was deren Fähigkeiten anbelangt, andere Ordnungen und Rechte, in einem Wort hatte alles anders ausgesehen als heute“.45 Kramerius repräsentierte das Alte Ägypten als Wiege der Weltzivilisation, die alten Ägypter, „verständige und rechtschaffene Menschen“,46 erfanden de facto alle grundlegenden Innovationen. Sie waren also Innovationen zugeneigt und zeichneten sich zudem durch ungewöhnlichen Arbeitseifer aus. „Als die Menschen in vielen anderen Gegenden und Ländern noch in Höhlen wohnten, nichts vom Feuer wussten, den Ackerbau und anderen nützliche Dinge überhaupt nicht kannten“, schrieb Kramerius, „hatten die Ägypter bereits herrliche Bauten, verstanden den Ackerbau, lebten in einer städtischen Gesellschaft, beschäftigten sich mit verschiedenen nützlichen Dingen und waren ansonsten sittsame Menschen.“47 Die zeitgenössische Situation in Ägypten wird dabei als das genaue Gegenteil des ehemaligen Zivilisationsniveaus und glücklichen Zusammenlebens dargestellt. Das Einzige, was aus jener Zeit blieb, in der Theben laut Kramerius das Paris der antiken Welt war, ist neben den Resten der atemberaubenden Denkmäler die Gestalt der zeitgenössischen Kopten. Diese trügen noch alle physischen Züge der Einwohner, die in der altägyptischen Kunst dargestellt wurden.48 Wenn bis heute direkte Nachfahren der alten Ägypter lebten, so Kramerius, zeigt dies, dass der zivilisatorische Niedergang dieser Region nicht so sehr mit der Migration, sondern vielmehr mit dem Wechsel der herrschenden „Völker“ (Perser, Rö-

44 Zur statischen Wahrnehmung des Orients im zeitgenössischen deutschen Orientalismus vgl. LOOP, Jan: Timelessness. Early German Orientalism and Its Concept of an Un-Historical Orient. In: „Wenn die Rosenhimmel tanzen“ (wie Anm. 21), 11-25. 45 KRAMERIUS, Auplné Wypsánj Egypta (wie Anm. 15), 55: „… docela giná mČsta, giní lidé co se schopnosti dotýþe, giná ustanowenj a práwa, a slowem wssecko gináþ wyhljželo, nežli za tČchto nynČgssjch þasĤ“. 46 Ebd., 94: „lidé rozumnj a rozssafnj“. 47 Ebd., 44. „Když lidé w mnohých giných kraginách a zemjch gesstČ gen w dČrách bydleli, o ohni nic newČdČli, o worbČ a giných mnohých užiteþných wČcech žádné známosti nemČli, tehdáž Egyptþané giž krásná stawenj mČli, worbČ rozumČli, w mČstské spoleþnosti žiwi byli, rozliþnými užiteþnými wČcmi se objrali a ginak mrawnj lidé byli.“ 48 Ebd., 43.

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mer, Araber, Osmanen) und des Verwaltungssystems zusammenhängt. Die Herrscher unterstützten im Unterschied zu den alten Ägyptern nicht genügend die Feldwirtschaft oder den Unternehmergeist der Bevölkerung; es gelang ihnen nicht, die Faulheit und das „Vagabundieren“ einzuschränken, sie hielten die Bewohner in strikter Untertanenschaft („Sklaverei“) und kümmerten sich nicht um die Entfaltung der Bildung und der Künste.49 Wesentlich ist hier, dass der zivilisatorische Niedergang Ägyptens mit Hilfe bestimmter narrativer Strategien naturalisiert und zugleich als final inszeniert wird. Seine Unumkehrbarkeit und „Natürlichkeit“ wird durch Vergleiche, Metaphern und andere Figuren suggeriert, die der Dörfler Lipan verwendet; er macht die gegenwärtige Situation Ägyptens so auch für die breiteren Schichten der tschechischen Leserschaft kulturell verständlich. So vergleicht er beispielsweise den ägyptischen Niedergang mit einer unheilbaren Krankheit50 oder – noch markanter – mit dem am Ende eines langen Menschenlebens unabwendbar eintretenden Alter: „[…] mir kommt das Land vor wie ein Mensch, der von einem Kind zu einem hübschen Jungen heranwächst, und wenn der schönste Frühling seines Lebens vorbeigeht, kommt er nie wieder zurück“.51 Das Paradigma des zivilisatorischen Niedergangs schafft in den fiktiven Reisebeschreibungen auch Raum für Hinweise auf den Niedergang der tschechischen Literatur und Sprache seit dem frühen 17. Jahrhundert; eventuelle Analogien werden jedoch nicht weiter entfaltet – möglicherweise gerade weil die Beschreibungen des zivilisatorischen Niedergangs des Nahen Ostens dessen Endgültigkeit suggerieren, während die literarischen Aktivitäten der „wahren Tschechen“ und deren Legitimität von der entgegengesetzten Prämisse ausgehen, d.h. von der Möglichkeit, das „goldene Zeitalter“ der tschechischen Literatur um 1600 wieder einzuführen. Der zivilisatorische Regress des Nahen Ostens verweist endlich auf allgemeiner Ebene auf Kramerius’ Auffassung des Zivilisationsfortschritts, der auf „wachsendem Verstand“ [narĤstagjcj rozum] basiert. Die Bewohner aller Territorien lebten zunächst nomadisch als „wildes Volk“ und ernährten sich von gesammelten Wurzeln, dann „nahmen sie Verstand an“, wurden sesshaft und begannen sich der Landwirtschaft und Viehzucht zu widmen, die Gesetze zu ach-

49 Ebd., 189-192, 197-198. 50 Ebd., 154. 51 Ebd., 154: „mnČ ta kragina pĜicházý gako þlowČk, který z pacholete sswarným gonákem býwá, a když gednau garo geho neypČknČgssjho wČku pĜegde, tak se mu potom wjc newrátj“.

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ten und die Götter zu verehren.52 Der zivilisatorische Niedergang des Nahen Ostens ist eigentlich das Beispiel einer Situation, in der sich die bisher mustergültige Entwicklung einer Zivilisation an einem bestimmten Punkt in die entgegengesetzte Richtung kehrt und beginnt sich wieder zum Ausgangspunkt zurückzuentwickeln. Gerade die Kategorie des Verstandes, in Kramerius’ Worten das „Verstand annehmen“, verflicht sich in diesen fiktiven Reisebeschreibungen auch mit allen anderen thematischen Produktionsachsen der orientalischen außereuropäischen Alterität. Aberglauben und religiöse Alterität Eine weitere Ebene der normativ verankerten Repräsentationen des Nahen Ostens bilden die Aussagen über Aberglauben und unkritischen Glauben bzw. allzu großen religiösen Eifer. In den meisten Fällen sind gerade religiöse Dogmen und Praktiken Gegenstand negativer Fremddarstellung, was nicht nur für den islamischen Orient gilt, sondern beispielsweise auch für den imaginären geographischen Raum des indischen Subkontinents. Gerade die Religion ist das Hauptfeld, auf dem die nichtchristliche Bevölkerung „zu Verstand kommen“ sollte.53 Zumeist werden diese Religionen als „törichte Erfindungen“ [pošetilé smyšlenky], „Verzögerung“ [zpozdilost], „Blindheit“ [slepota], oder „finstere Fabeln“ [zatmČlé bájky] bezeichnet.54 Über die Nichtchristen äußern sich der Bote und der Dörfler vor allem bedauernd und wünschen, dass das „verzögerte abergläubische Volk“ sich „zum Licht des Verstandes, das in unseren Jahren hell leuchtet“, wenden und somit dem verwirrten Denken ein „festes Ziel“ setzen.55 Auch in der oben erwähnten Auflistung von Synonymen taucht übrigens der Gegensatz zwischen religiöser Finsternis und dem Licht der christlichen Wahrheit und Bildung

52 KRAMERIUS, Hystorycké Wypsánj, kterak þtwrtý djl swČta, Ameryka od Kolumbusa wynalezena byla (wie Anm. 14), 74. – DERS., Hystorycké Wypsánj welikého Mogolského cýsaĜstwj (wie Anm. 15), 57. 53 KRAMERIUS,

Hystorycké

Wypsánj

welikého

Mogolského

cýsaĜstwj

(wie

Anm. 15), 79. 54 DERS., Auplné Wypsánj Egypta (wie Anm. 15), 36, 136. – DERS., Hystorycké Wypsánj welikého Mogolského cýsaĜstwj (wie Anm. 15), 69. – DERS., Druhý Djl Indye (wie Anm. 15), 66f. 55 DERS., Druhý Djl Indye (wie Anm. 14), 63. – DERS., Hystorycké Wypsánj welikého Mogolského cýsaĜstwj (wie Anm. 15), 80. – DERS., Auplné Wypsánj Egypta (wie Anm. 15), 105: „k swČtlu rozumu, které za našich let dosti swjtj“.

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auf. Detailliert arbeitet Kramerius dieses Motiv in der Juxtaposition der Bibliothek von Alexandria und der altägyptischen (und sekundär auch muslimischen) Tempel aus, die innerhalb der Mauern der gleichen Stadt standen: „Der heidnische Tempel und die Bibliothek lassen sich allerdings, würde ich sagen, miteinander vergleichen wie Licht und Finsternis; als ob man diesen beiden Gebäuden mitteilen wollte, dass das Licht mit der Zeit die Finsternis überwindet und vertreibt. Leider geschah dies in Ägypten nicht, sondern dort blieb die Finsternis und das Licht verschwand.“56 Auch im Fall der alten Ägypter, deren Zivilisation als erste Durchsetzung der universal gültigen Zivilisationsnormative präsentiert wird, geriet also gerade die Verehrung von Tieren und leblosen Objekten in den Mittelpunkt von Kramerius’ Kritik und Ironisierung (z.B. wenn er behauptet, dass die alten Ägypter lieber dem Kannibalismus gehuldigt als eine Katze gegessen hätten).57 Aufgrund seiner hohen Wertschätzung der ägyptischen Zivilisation lässt Kramerius jedoch eine Alternative zu und erwähnt die Ansicht mancher Gelehrter, dass die altägyptischen Priester nur einen einzigen Gott verehrten, diesen jedoch vor dem einfachen Volk allzu allegorisch präsentiert hätten. Der Glaube an die Seelenwanderung (Kramerius nutzt übrigens das klassische Argument der doctrina orientalis, d.h. er nimmt einen Zusammenhang zwischen dieser Lehre in Ägypten und Indien an) sowie die intensive Verehrung und Barmherzigkeit gegenüber Tieren wird auch bei den Religionen des indischen Subkontinents ironisiert; es wird beispielsweise die Verehrung von Papageien in Gujarat oder von Kühen seitens der Hindus erwähnt.58 Kramerius bemüht sich, „mit gesünderem Verstand“ die Gründe für einige nichtchristliche religiöse Praktiken zu erklären59 – beispielsweise führt an, dass die alten Ägypter und die Hindus bestimmte Tiere wegen ihrer Nützlichkeit verehrten. Ebenso wurde die Verbrennung der indischen Witwen nach dem Tod des Ehemannes als anschauliches Beispiel für die Rationalisierung religiöser Praktiken gewertet, die sich der Dörfler Lipan als Akt der Verzweiflung aufgrund feh-

56 DERS., Auplné Wypsánj Egypta (wie Anm. 15), 163: „Ten pohanský chrám owssem a ta knihárna srownáwali se dohromady, tak gako bych Ĝekl swČtlo a tma; gestli snad tjm obogjm stawenjm nechtČlo se dáti k wyrozumČnj, že þasem swČtlo tmu pĜemĤže a zapudj. PohĜíchu ale w EgyptČ se to nestalo, neboĢ tam tma zĤstala a swČtlo zmizelo.“ 57 DERS., Auplné Wypsánj Egypta (wie Anm. 15), 134-135. 58 DERS., Hystorycké Wypsánj welikého Mogolského cýsaĜstwj (wie Anm. 15), 36, 70. 59 DERS., Auplné Wypsánj Egypta (wie Anm. 15), 116. – DERS., Hystorycké Wypsánj welikého Mogolského cýsaĜstwj (wie Anm. 15), 71. Vgl. auch DERS., Auplné Wypsánj Egypta (wie Anm. 15), 102.

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lender Alternativen erklärt, da es den Witwen verboten war, sich einen „ordnungsgemäßen Lebensunterhalt“ zu sichern.60 Eine analoge Rationalisierung applizierte er allerdings auch auf einige Elemente der christlichen Tradition und sogar auf den Text der Bibel, wenn er beispielsweise die sieben unfruchtbaren Jahre aus der Josephs-Geschichte mit den Hungersnöten in Zusammenhang bringt, die durch das ausbleibende Nilhochwasser ausgelöst wurden.61 Weiterhin rationalisiert Kramerius die Tatsache, dass die Angehörigen nichtchristlicher Religionen Pilgerfahrten durchführen, und reduziert sie auf die Kategorie des Nutzens.62 Für Indien wird die Verehrung falscher Götzen mit einem anderen wesentlichen Punkt in direkte Verbindung gesetzt: mit der Kritik des Ordenslebens, in der sich auch das Stereotyp der Arbeitsleistung und des gesellschaftlichen Nutzens zu Wort meldet. So berichtet der Bote ebenso kritisch über Brahmanen und deren Geschichten über den Fußabdruck Adams, die „nur des Gewinns wegen ausgedacht wurden, damit noch mehr Volk hierher pilgere und Brahma noch mehr Spenden brächte,“63 wie auch über Mönchsgemeinschaften in anderen Gegenden, die er als „Nichtstuer und Faulpelze“64 bezeichnet, die auf Kosten der Bauern und Handwerker schmarotzen. Die indischen Fakire und arabischen Derwische werden außerdem durch Charakterisierungen repräsentiert, die Kramerius’ Auffassung von Zivilisiertheit fundamental widersprechen – sie gehen nackt, vagabundieren und betteln.65 Im Zusammenhang mit den Fakiren bezeichnet Kramerius diese Situation mit dieselben Wortverbindung wie bei der nomadischen Bevölkerung: „dem Volk zur Last fallen“.66 Ein echter Christ solle nämlich nicht nur beten, sondern vor allem arbeiten. Wenn der Bote von den frühchristlichen Eremiten in der ägyptischen Wüste berichtet, kann der Dörfler

60 DERS, Hystorycké Wypsánj welikého Mogolského cýsaĜstwj (wie Anm. 15), 111. 61 Zur bibelerklärenden Literatur am Ende des 18. Jahrhunderts: LANG, Bernhard: Der Orientreisende als Exeget, oder Turban und Taubenmist: Beiträge der Reiseliteratur zum Verständnis der Bibel im 18. und 19. Jahrhundert. In: In Spuren Reisen. VorBilder und Vor-Schriften in der Reiseliteratur. Hg. v. Gisela ECKER und Susanne RÖHL. Berlin 2006, 31-61. 62 DERS., Hystorycké Wypsánj welikého Mogolského cýsaĜstwj (wie Anm. 15), 185. 63 DERS., Druhý Djl Indye (wie Anm. 15), 66: „pauze pro zisk smysslené, aby sem wjce lidu se táhlo, a Braminowi gesstČ hognČgi obČtj pĜinásseli“. 64 DERS., Hystorycké Wypsánj welikého Mogolského cýsaĜstwj (wie Anm. 15), 96, 97. – DERS., Cesta do Arabie, a do zemČ swaté, ginak Palestyny (wie Anm. 15), 71. 65 DERS., Hystorycké Wypsánj welikého Mogolského cýsaĜstwj (wie Anm. 15), 97, 186. 66 DERS., Hystorycké Wypsánj welikého Mogolského cýsaĜstwj (wie Anm. 15), 100: „lidem za bĜemeno býti“.

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erfreut kontern, dass die dortigen Bewohner mittlerweile verständiger seien und sich nicht mehr dem Eremitenleben widmeten, da „es genauso ein, ja sogar ein größeres Verdienst ist, wenn sie sich bemühen, der menschlichen Gesellschaft nützlich zu sein, anstatt sich in die Wüste zurückzuziehen und sich in Höhlen einzumauern“.67 Vor allem sei es jedoch die Aufgabe eines guten Herrschers, den gesellschaftlichen Einfluss der Mönchsgemeinschaften einzuschränken oder diese aufzulösen und ihnen so die Möglichkeit zu geben, sich an „nützlicheren“ Aktivitäten als Beten und Fasten zu beteiligen. In diesem Punkt bestätigt sich eindeutig, dass Kramerius auf der Ebene der normativen und ideologischen Rahmenbedingungen, aber auch auf der Ebene der konkreten Argumente und rhetorischen Figuren seine mehr als zehn Jahre älteren Ideen einarbeitete, die er in den Schriften zur Verteidigung der josephinischen Reformen entwickelt hatte. Mit der Kritik am „Aberglauben“ beschäftigte sich Kramerius vor allem in den Schriften „Kniha Jozefova“ [Das Buch Joseph] (1784) und „KĜesĢanská domownj postila“ [Die christliche Hauspostille] (1785). Besonders das zuerst genannte Werk, Kramerius’ tschechische Adaption der Schrift „Das Buch Joseph“ aus der Feder Augustin Zittes, verteidigt die josephinischen Reformen mit Hilfe einer durchdachten alttestamentarischen Rhetorik und der Metaphorik der weichenden Finsternis und des künftigen, lichtdurchfluteten Morgens gerade im Bereich der Religion. Neben dem Feldzug gegen Aberglauben, Feiertage, Bruderschaften, Prozessionen und Kerzen feiert Kramerius auch das Toleranzpatent und die Aufhebung der Klöster, die ein Ort des Müßiggangs und der Faulheit seien. „So war in unseren Tagen die unendliche Zahl der Mönche und Nonnen eine Plage und eine Last für die Länder; denn ein unnützer Bürger, der isst und nicht arbeitet, fällt dem Land zur Last.“68 Die orientalische Folie ermöglicht also auch in diesem Fall,

67 DERS., Cesta do Arabie, a do zemČ swaté, ginak Palestyny (wie Anm. 15), 71; „rownČ takowá, ano y wČtssj zásluha gest, když se wynasnažj, aby lidskému towarydžstwu užiteþnj byli, než aby na pausstČ zalezli, a w geskynjch se zabednili“; siehe auch DERS., Auplné Wypsánj Egypta (wie Anm. 15), 169. 68 Kniha Josefova. Sepsaná od jistého spatĜujícího 18. století. Dílem již stalé vČci a dílem proroctví. Vydaná od M. V. Krameriusa v Praze roku 1784 [Das Buch Joseph. Verfasst von einem Augenzeugen des 18. Jahrhunderts. Zum Teil von Dingen, die schon geschehen sind, zum Teil eine Weissagung. Herausgegeben von M. V. Kramerius in Prag im Jahre 1784]. Hg. v. Vácslav ěEZNÍýEK. Praha 1900, 26: „I bylo za dnĤ našich mnichĤ a jeptišek poþet neþíslný, soužení a bĜemeno zemím; nebo neužiteþný mČšĢan, kterýž jí a nepracuje, jest zemi za bĜemeno“. Zur Resonanz des Reformdis-

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das Normativ der Arbeitsleistung im Namen der gesellschaftlichen Einheit hervorzuheben sowie die Exklusion bzw. Disziplinierung aller heimischen „Faulen“ und „Nichtsesshaften“ zu legitimieren. Kramerius zeichnet den Islam als hybride Lehre, die dank der schlechten persönlichen Eigenschaften des Propheten entstanden sei, vor allem aufgrund von dessen Machtgier, Verlogenheit, Gefallsucht, aber auch von dessen Unverstand.69 Der Islam zerrüttete die alte Ordnung, konnte jedoch kein neues länger existierendes Reich mit funktionierender Verwaltung und ohne innere Streitigkeiten schaffen. Außerdem basierte der Erfolg des Islam nach Kramerius in den ersten Jahrzehnten ausschließlich auf Gewalt.70 Von ein paar Andeutungen abgesehen, vermeidet es Kramerius jedoch auffällig, den Islam im Hinblick auf die Glaubenslehre zu beschreiben. Auf Lipans Fragen antwortet der Bote, dass er mit der Aufzählung aller muslimischen „Aberglauben“ und „Irrlehren“71 nicht dessen Ehrbarkeit verletzen wolle; dem tschechischen Bauern muss daher die Versicherung genügen, dass „es keinen schändlicheren und vertrackteren Menschen gab als Mohammed“.72 In den Passagen, in denen Kramerius einige muslimische heilige Orte in Palästina erwähnt, betonte Kramerius, wie irrational und nicht nachweisbar die Gründe für die fromme Verehrung seien.73 Weiter kritisiert dieser den „dummen Religionseifer“74 in den Momenten, in denen die Muslime sich nicht mehr vom „guten Verstand“ leiten ließen – wie etwa Kalif Omar, der angeblich die Bibliothek von Alexandria niederbrennen ließ (Kramerius erinnert in diesem Zusammenhang an die Verbrennung „tschechischer“ Bücher in Böhmen im 17. und 18. Jahrhundert, ein Thema mit einem großen identitätsstiftenden Potenzial für die zeitgenössische Nationalbewegung).75 Ein besonderer Akzent wird auf solche Ausdrucksformen des Religionseifers gelegt, die zu gesundheitlichen Schäden oder zur Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit führen; in diesem

kurses in Reisebeschreibungen von Kramerius s. auch NAVRÁTILOVÁ, Venceslaus Kramerius (wie Anm. 16), 100-101. 69 KRAMERIUS, Cesta do Arabie, a do zemČ swaté, ginak Palestyny (wie Anm. 15), 83f. – DERS., Auplné Wypsánj Egypta (wie Anm. 15), 172f. 70 DERS., Cesta do Arabie, a do zemČ swaté, ginak Palestyny (wie Anm. 15), 98. 71 DERS., Hystorycké Wypsánj welikého Mogolského cýsaĜstwj (wie Anm. 15), 174. 72 Ebd., 104: „nad Mahometa hanebnČgssjho a ossemetnČgssjho þlowČka nebylo.“ 73 Ebd., 26, 40. – KRAMERIUS, Auplné Wypsánj Egypta (wie Anm. 15), 207. 74 Ebd., 201: „zpozdilá horliwost pro náboženstwj“. – KRAMERIUS, Cesta do Arabie, a do zemČ swaté, ginak Palestyny (wie Anm. 15), 98, 141. 75 DERS., Auplné Wypsánj Egypta (wie Anm. 15), 200-201.

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Punkt verknüpft sich also die Repräsentation des Fanatismus mit einer vagen biopolitischen Ideologie. Ein Beispiel, das bereits in frühneuzeitlichen Reiseberichten auftaucht, ist die Selbstschädigung der Schiiten, die in diesem Zusammenhang noch markanter mit dem Unverstand verbunden ist: „sie hüpfen wie verrückt, andere fechten mit nacktem Degen, und noch andere ritzen sich Gesicht und Hände, bis das Blut spritzt.“76 Die Repräsentation des Aberglaubens dient als Kontrastfläche für die Kritik am Wunderglauben und an abergläubischen religiösen Praktiken des Volkes, das noch zu der Zeit, „wo das Licht der Vernunft schon recht hell leuchtet, […] sich kaum vom Morast der abergläubischen Erfindungen befreien kann“.77 Konkret erwähnt Kramerius den Aberglauben der tschechischen „Dummköpfe“, die noch unlängst an Hexen glaubten und die Zukunft nach meteorologischen und astronomischen Zeichen vorhersagten. Ein Christ solle sich zwar immer auf Gottes Hilfe verlassen, ohne die er nichts bewirken könne, zugleich solle er aber aktiv nach einer rationalen Lösung suchen – nicht wie die Einwohner Zyperns, die Kramerius bei seiner Beschreibung der Reise ins Heilige Land erwähnt: Sie verwendeten gegen die Heuschreckenplage keine „wirksamen Mittel“ wie Schießpulver, sondern „sie [ergeben] sich dem Gebet, nehmen an Prozessionen teil und [wollen] so erzwingen, dass Gott ihnen gleich ein Wunder vollbringe.“78 „Und ich denke,“ reagiert der Dörfler Lipan auf dieses Beispiel, „dass Gott uns auch deshalb Verstand verlieh, damit wir mit seiner Hilfe nach Mitteln suchen und nicht so lange warten, bis uns das Wasser bis zum Halse steht oder bis es Gott gefällt, für uns Wunder zu vollbringen.“79 Gerade die Kompetenz, sich in den

76 DERS., Hystorycké Wypsánj welikého Mogolského cýsaĜstwj (wie Anm. 15), 146: „skáþj gako ssjlenj, gjnj ssermugj s obnaženými kordy, a gesstČ ginj twáĜ a ruce sobČ Ĝežj, až krew z nich chlipj“. Vgl. auch DERS., Druhý Djl Indye (wie Anm. 15), 19. – DERS., Cesta do Arabie, a do zemČ swaté, ginak Palestyny (wie Anm. 15), 141. 77 DERS., Hystorycké Wypsánj, kterak þtwrtý djl swČta, Ameryka od Kolumbusa wynalezena byla (wie Anm. 15), 19: „kdežto pĜedce swČtlo rozumu giž dosti gasnČ swjtj, lid z bahna babských smysslinek wybĜjsti nemĤže.“ 78 DERS., Cesta do Arabie, a do zemČ swaté, ginak Palestyny (wie Anm. 15), 20: „[oddají] se na modlenj, chodj s processý a [chtČjí] tudy wymocy, aby gim BĤh hnedle zázrak uþinil.“ 79 Ebd., 21: „že nám BĤh proto taky rozum dal, abychom pomocí geho prostĜedkĤ pohledali, a neþkali tak dlauho, až nám woda do huby poteþe, nebo až se Bohu zljbj, aby s námi zázraky þinil.“

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schwierigsten Situationen „verständig Rat zu wissen“, ist gleich in mehreren Schriften von Kramerius das Hauptthema.80 Der letzte, stärker mit Kramerius’ älterer pro-josephinischer Publizistik verbundene Themenbereich ist das Lob für das tolerante Vorgehen der Obrigkeit gegenüber den unterschiedlichen Religionen, das zum gelungenen Funktionieren des gesellschaftlichen Ganzen beiträgt. Die Toleranz erklärt Kramerius als Prinzip, „wonach einer den anderen bei seinem Glauben belasse“.81 Als Vorbild nennt er die osmanische Verwaltung, die nach Kramerius die Religion in die Privatsphäre verweist und vor allem die Loyalität der Einwohner gegenüber den Verwaltungsorganen berücksichtigt. „Mohammedaner sind überhaupt tolerant“, fasst Kramerius zusammen, „und kümmern sich überhaupt nicht darum, wer sich zu welcher Religion bekennt, wenn dieser sich sonst ordnungsgemäß verhält und seine Steuern abführt“.82 Wenn eine religiöse Gruppe ausgeschlossen wird, ist die Gesellschaftsordnung beschädigt. Intoleranz wird explizit auch bei den europäischen Christen kritisiert, und zwar transkonfessionell, was wieder die angebliche universale Gültigkeit von Kramerius’ normativen Rastern akzentuiert – zum Beispiel bei den „unverständigen“ Jesuitenmissionaren oder den Mitgliedern der holländischen reformierten Kirche, die auf Ceylon tätig waren.83 Trotz des Versuches, religiöse Praktiken zu rationalisieren, stellen diese den einzigen thematischen Bereich dar, wo Alteritätskonstruktionen stark negativ konnotiert werden. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Kategorie der „gesunden Vernunft“, die eng mit Vorstellungen über Gesundheit oder Arbeitsleis-

80 So z. B. in den Werken Mladssj Robinson [Robinson der Jüngere], einer sehr erfolgreichen tschechischen Adaption der Geschichte des berühmten Schiffbrüchigen Robinson Crusoe für Kinder von Joachim Heinrich Campe, die Kramerius 1808 herausgab; in Dobrá rada w potĜebČ [Guter Rat im Notfall], einer 1803 publizierten Adaption der deutschen Vorlage von Christian Gotthilf Salzmann über das Leben des David Opatrný, der vom Bettler zum erfolgreichen Hauswirt wird, und die oben genannte Hystorycké Wypsánj, wo Columbus als Ideal eines vorsichtigen und verständigen Mannes präsentiert wird. Vgl. KRAMERIUS, Hystorycké Wypsánj, kterak þtwrtý djl swČta, Ameryka od Kolumbusa wynalezena byla (wie Anm. 15), 41. 81 DERS., Auplné Wypsánj Egypta (wie Anm. 15), 159: „aby geden druhého pĜi wjĜe geho nechal.“ 82 DERS., Cesta do Arabie, a do zemČ swaté, ginak Palestyny (wie Anm. 15), 19: „a nemagj naprosto žádného ohledu, k gakému se kdo náboženstwj hlásj, gestli gen ginak ĜádnČ se chowá a swé danČ wybýwá“. – DERS., Hystorycké Wypsánj welikého Mogolského cýsaĜstwj (wie Anm. 15), 125. 83 DERS., Druhý Djl Indye (wie Anm. 15), 90.

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tung zusammenhängt; im Rekurs darauf sowie mit Hilfe der Metaphorik des Lichtes werden „fanatisches“ Verhalten, Gewalt und Aberglaube kritisiert und verspottet. Die religiöse Motivik verfügt auch über das Potential, bestimmte Praktiken und soziale Gruppen zu marginalisieren – im Falle Böhmens sind das verschiedene Formen des Aberglaubens sowie verschiedene Lebensformen, die dem „Volk zur Last fallen“,84 einschließlich der Klostergemeinschaften. Auch hier tauchen Motive wie Toleranz oder der rationalisierte (vielleicht sogar entzauberte) Glaube auf, die mit Hilfe der orientalischen Folie als ein Vorbild für die tschechische Nationalgemeinschaft und als ein Element des funktionierenden gesellschaftlichen Ganzen inszeniert werden. Hygiene und Gesundheit der Bevölkerung Kramerius nahm zahlreiche recht stereotype Aussagen über die Gesundheit und den hygienischen Standard der nichteuropäischen Bevölkerung auf. „Schmutz“ wird im gesamten Korpus der fiktiven Reisebeschreibungen nur im Kontext des Nahen Ostens thematisiert, nicht in Bezug auf andere Gegenden. Kramerius verweist auf das Nilwasser – „verschlammt“ und „voller Insekten“85 –, auf die vielen Heuschrecken, Mücken und Fliegen86 sowie auf den allgegenwärtigen Dreck und Gestank, der dem Pilger bereits Meilen zuvor erkennen lässt, dass er sich Kairo nähert. „Herr Nachbar! wenn wir nach Kairo gingen, würden wir uns Nase und Mund zu halten“, erzählt der Bote, „damit wir den Gestank aus den Gräbern und von den Aasstätten nicht einatmen, denn je näher man der Stadt kommt, desto mehr steigt einem davon in die Nase.“87 Die Kategorie des Schmutzes ist von entscheidender Bedeutung, weil sie als eine kontrastierende Fläche der Imagination der individuellen sowie kollektiven Gesundheit bzw. Produktivität (im Sinne der Anatomo- und Biopolitik) funktioniert und gleichzeitig ein ordentliches gesellschaftliches System und seine rationale Politik mitdefiniert. Die Repräsentationen des Nahen Ostens nehmen unter den Alteritätsdiskursen eine besondere Position ein, weil im Gegensatz dazu sowohl die

84 Vgl. Anm. 66. 85 DERS., Auplné Wypsánj Egypta (wie Anm. 15), 13-14: „bahnitá“, „plná hmyzu“. 86 Ebd., 42. 87 Ebd., 204.: „Pane sausede! kdybychom ssli k Kairu, tu bychom sobČ nosy a huby drželi, abychom se puchu a smradu z hrobĤ a mrchowissĢat nenaljkali; neboĢ þjm kdo bljže k mČstu pĜicházý, tjm toho wjc pod nos dostáwá“.

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anderen imaginären außereuropäischen Gegenden als auch das Alte Ägypten eher als Vorbild der „Reinheit“ dienen. „Gesundheit“ als Kategorie verbindet sich nicht nur mit Reinheit, sondern mit Mäßigung und Arbeitsfleiß.88 Bei der Artikulation dieses Themas verflechten sich also die Aussagen über die Reinheit mit der Ideologie der Arbeitsleistung; weiteren Anteil an der Bedeutungsproduktion haben ebenso Vorstellungen einer funktionierenden Verwaltung (Hygienestandards werden nämlich von Herrschern, Stadtverwaltung oder Obrigkeit eingeführt und kontrolliert) sowie der Rationalisierung religiöser Alterität. In zahlreichen Passagen belehrt der Bote darüber, dass häufiges Waschen notwendig sei, und der Dörfler identifiziert sich dann gerade mit jener außereuropäischen Bevölkerung, die besonders um Reinheit bemüht sein soll. „Herr Nachbar! was das Waschen und Reinigen des Körpers anbelangt, so bin ich ein echter Hindu“, behauptet er, „denn seit ich Sie kennengelernt und von Ihnen immer das Lob der Reinheit gehört habe, halte ich mich sehr daran, jedoch mit dem Unterschied, dass sie es wegen der Religion tun und ich wegen der Gesundheit.“89 Von den Hygienethemen, die sich auf das „Gemeinwohl“ und den „gesunden Verstand“ beziehen und der josephinischen Reformen des Bestattungswesens entsprechen, werden in den Reisebeschreibungen wiederholt die Beseitigung von Aas aus dem öffentlichen Raum und vor allem die Einrichtung der Friedhöfe in hinreichender Entfernung von den menschlichen Siedlungen erwähnt.90 In diesem Fall handelt es sich also nicht mehr um individuelle Gesundheit, sondern um Biopolitik des kollektiven Körpers. So Kramerius über altägyptische Bestattungsanlagen: „solche Orte sind, wenn sie in der Nähe von Gemeinden liegen, für die Lebenden gefährlich, die sich durch die Dämpfe, die von diesen Orten aufsteigen, leicht und besonders mit gefährlichen Krankheiten anste-

88 Dieser Problematik widmen sich auch andere Schriften der „ýeská expedice“ umfassend, so „Mladssj Robinson“ [Robinson der Jüngere] oder „Dobrá rada w potĜebČ“ [Guter Rat im Notfall]. Vgl. auch Anm. 80. 89 DERS., Hystorycké Wypsánj welikého Mogolského cýsaĜstwj (wie Anm. 15), 87: „Pane sausede! co se tkne mytj a þisstČnj tČla, to gsem gá celý Banján, neboĢ co gsem se s wámi seznámil, a þistotu od wás wždycky chwálit slyssel, tak od té doby mnoho na tom držjm, wssak ale s tjm rozdílem, že to oni þinj z náboženstwj, a gá pro zdrawj“. 90 Ebd., 52, 123. – KRAMERIUS, Auplné Wypsánj Egypta (wie Anm. 15), 112, 113.

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cken können“.91 Die altägyptische Mumifizierung wird von dem Dörfler Lipan als Folge einer vorbildlichen obrigkeitlichen Hygienevorsorge rationalisiert. Sesshaftigkeit und Arbeitsleistung Arbeit und Arbeitsleistung hängen aber nicht nur mit der Gesundheit zusammen, sondern werden in den Reisebeschreibungen sehr viel häufiger als Alteritätsraster im Kontext der funktionierenden Gesellschaftsordnung thematisiert; in diesem Fall verbinden sie sich oft mit der Imagination von Sesshaftigkeit, wirtschaftlicher Innovation und ökonomischer Tüchtigkeit allgemein. „Die Arbeit, wenn sie nicht zu übermäßig ist, ist von allem das Beste, was wir auf der Welt haben“, sagt der Bote im Hinblick auf die Gründung der ersten Siedlungen der spanischen Kolonisatoren in der Neuen Welt.92 Neben der religiösen Alterität stellt gerade die Dichotomie „arbeitsam“ – „faul“ den wesentlichen normativen Rahmen für die Organisation der Aussagen über die außereuropäische Bevölkerung und besonders über den islamischen Orient dar. Die Arbeitsleistung drückt sich in allen fiktiven Reisebeschreibungen von Kramerius durch Wendungen wie „sich ehrlich ernähren“ oder „sich sein Brot verdienen“ aus;93 die Kategorie „Arbeit“ bezieht sich in dieser Auffassung primär auf die Landwirtschaft, erst danach auf das Handwerk. Die Feldwirtschaft bildet ein allgemeines Raster der Fremddarstellung. Die Landschaft wird nach der Fruchtbarkeit, der Anzahl der Ernten pro Jahr oder der verwendeten landwirtschaftlichen Technik bewertet, Fauna und Flora mit Rücksicht auf Nützlichkeit, Ertrag und Preis beschrieben. Neben Nacktheit, Kannibalismus, der Unkenntnis Gottes, dem Genuss rohen Fleisches und einem nomadenhaften Leben stellt das Fehlen von Landwirtschaft somit eines der Schlüsselcharakteristika der „wilden Völker“ dar, d.h. der auf niedrigstem Zivilisationsniveau lebenden Nichteuropäer.94 Das Alteritätsraster der Arbeitsleistung legt Kramerius nahezu allen beschriebenen außereuropäischen Ethnien an; vor allem die positiven Aussagen

91 Ebd., 97: „takowá mjsta, ležjli bljzko u obcý, pro žiwé nebezpeþná gsau, a gak od par, které z tČch míst wystupugj, snadnČ, a obzwlásstnČ w nebezpeþných nemocech, nakazyti se mohau.“ 92 KRAMERIUS, Hystorycké Wypsánj, kterak þtwrtý djl swČta, Ameryka od Kolumbusa wynalezena byla (wie Anm. 15), 70: „Práce, nenjli pĜjlissná, gest ze wsseho neylepssj, což na swČtČ máme.“ 93 DERS., Hystorycké Wypsánj welikého Mogolského cýsaĜstwj (wie Anm. 15), 12. 94 Dazu DERS., Mladssj Robinson (wie Anm. 80), 36.

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über den Fleiß sind recht stereotyp und enthalten nicht selten einige Elemente oder Wendungen der folgenden Zitate, die sich auf die Inder beziehen: „Aber, Herr Nachbar! Da haben Sie Einsatz, Strebsamkeit und Arbeitsfleiß bei diesem Volk! Mann und Frau, herangewachsene Kinder, alle arbeiten strebsam.“95 Kramerius schätzte an den alten Ägyptern neben ihrem Erfindungsreichtum und deren Achtung vor gesellschaftlichen Institutionen wie die Ehe und die Familie gerade, dass sie „gerne für ihren Vorteil arbeiteten“.96 Pyramiden und andere überlieferte altägyptische Denkmäler werden als Beweis ihres unglaublichen Fleißes interpretiert, denn – wie der Bote betont – beim damaligen Stand der Technik musste es sehr kompliziert gewesen sein, jeden einzelnen Baustein herzustellen.97 Obwohl Ägypten als Ort bezeichnet wird, der fruchtbar und infolgedessen auch recht leicht zu bewirtschaften sei, kritisiert Kramerius die gegenwärtige arabische Bevölkerung wegen ihrer Faulheit und Nachlässigkeit.98 Als eine besondere Folge von Fleiß und „gesundem Verstand“ werden die wirtschaftlichen und technischen Innovationen konzeptualisiert, die Hauptgegenstand der anderen Publikationen der „ýeská expedice“ sind, vor allem des oben erwähnten Werks „Dobrá rada w potĜebČ“. Das Alte Ägypten wird dann als erste und bedeutendste innovative Zivilisation beschrieben; gerade dieses Raster begründet mit der Einhaltung der Gesellschaftsordnung ein ausgesprochen positives Bild Ägyptens in seinem (längst vergangenen) geschichtsbildenden Zeitraum. Die alten Ägypter erfanden nach Kramerius verschiedene Handwerke, so das Pflügen, Brotbacken und die Metallverhüttung, das Spinnen und Weben, das Bierbrauen und Ölpressen sowie die „nützlichen Künste“ wie Geometrie, Astronomie oder Medizin.99 Hier bot sich also ein Beispiel des „gesunden Verstands“, der zur Erforschung und Verbesserung der Welt genutzt wurde. „Und wenn die Ägypter ihre Köpfe zu gebrauchen wussten“, appelliert der Bote an den Dörfler Lipan, „wozu haben wir dann den Kopf, wenn wir ihn nicht auch zu etwas nut-

95 DERS., Hystorycké Wypsánj welikého Mogolského cýsaĜstwj (wie Anm. 15), 115: „Ale, pane sausede! to máte snažnost, pĜiþinliwost a pracowitost u toho lidu! Muž a žena dorostlé dČti wssecko gako o záwod pracuge“. 96 DERS., Auplné Wypsánj Egypta (wie Anm. 15) 47: „rádi pro swé dobré pracowali“. 97 Ebd., 79, 86f. 98 Ebd., 29. – KRAMERIUS, Cesta do Arabie, a do zemČ swaté, ginak Palestyny (wie Anm. 15), 115. 99 Siehe dazu auch NAVRÁTILOVÁ, Venceslaus Kramerius (wie Anm. 16), 98f.

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zen wollen?“100 Die positiv konnotierte Beschreibung der altägyptischen Zivilisation bildet wieder einen Kontrast zum oben erwähnten Konzept des zivilisatorischen Niedergangs und der Faulheit der gegenwärtigen „Araber“, die das gleiche Gebiet bewohnen, und dient zugleich als ein Vorbild für die sich formierende tschechische Nationalgesellschaft. Mit der Kategorie „Arbeit“ ist auch das Normativ der Sesshaftigkeit verbunden. Die außereuropäische Bevölkerung wird ebenso wie die Bewohner Böhmens danach beurteilt, ob es sich um fleißige Landwirte oder um Vagabunden handelt, die „anderen arbeitsamen Menschen zur Last“ fallen.101 Diese Opposition wird auch auf den Nahen Osten angewandt, wenn Kramerius wiederholt den Unterschied zwischen den sittsamen, in der Stadt arbeitenden Handwerkern und der darbenden Landbevölkerung auf der einen und den „vagabundierenden und räuberischen Arabern“ auf der anderen Seite betont.102 Die nomadische Lebensweise verbindet Kramerius automatisch mit der Bettelei, also der Unfähigkeit, seine Existenz auf „ehrliche Weise“ zu sichern. Das normative Raster der Sesshaftigkeit spielt dabei eine grundlegende Rolle bei der Imagination der Sozialordnung sowie der Bewertung der Kolonialpolitik. Die Gesellschaft wird als Körper präsentiert, der das Zusammenwirken aller Glieder benötigt – die nichtsesshafte Bevölkerung erhält ähnlich wie die „Faulenzer und Müßiggänger“ in den böhmischen Ländern die Bezeichnung „gemeinschädliche Glieder“.103 Das Motiv der Sesshaftigkeit entfaltet Kramerius also mit Hilfe der gleichen Argumente und rhetorischen Figuren wie die Kritik der Klostergemeinschaften und legitimiert so die staatliche Disziplinierungs- und Exklusionspolitik. Ähnlich wie bei den Ordensmännern und -frauen bietet er auch hier den Obrigkeiten und den Kolonisatoren eine eindeutige Lösung an, die er bereits in einigen Sachbüchern der „ýeská expedice“ eingeführt hatte: Bettelei bestrafen, die nichtsesshafte Bevölkerung zu ehrlicher Arbeit zwingen und sie einer „anständigen Ordnung“ unterwerfen.

100 KRAMERIUS, Auplné Wypsánj Egypta (wie Anm. 15), 72: „A wČdČlili Egyptþané swé hlawy gak potĜebowati, proþ medle my hlawu máme, nechcemeli gj také k nČþemu užjti.“ 101 DERS., Cesta do Arabie, a do zemČ swaté, ginak Palestyny (wie Anm. 15), 96: „giným pracowitým lidem za bĜemeno“. 102 Ebd., 125. Vgl. auch Kramerius, Druhý Djl Indye (wie Anm. 15), 55. 103 DERS., Hystorycké Wypsánj welikého Mogolského cýsaĜstwj (wie Anm. 15), 116: „zahaleþi a povaleþi“, „obcy sskodnj audowé“.

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Die orientalische Gesellschaftsordnung Die Serie fiktiver Reisebeschreibungen enthält eine unendliche Vielzahl von dichotomen Aussagen über die (nicht-)funktionierende Gesellschaftsordnung, den guten/schlechten Herrscher oder die gute/schlechte obrigkeitliche und städtische Verwaltung. Als Parallele zum europäischen Modell der aufgeklärten Monarchie wird das Alte Ägypten inszeniert: Die weisen alten Ägypter lebten in gegenseitiger Eintracht und Achtung, verhielten sich höflich, gerecht und ehrlich zueinander, respektierten die Gesetze, schätzten die Ehe und achteten ihre Eltern. Der zeitgenössische Nahe Osten fungiert dagegen fast ausschließlich als Negativfolie für die Beschreibung einer idealen westeuropäischen Monarchie. Eine „schön geordnete Landesverwaltung“ existiert in jenem Raum schon lange nicht mehr. Die muslimische Oberherrschaft wurde von Anfang an nur mit Gewalt durchgesetzt, was übrigens dazu führte, dass sie nur sehr kurze Zeit die territoriale Ausdehnung der ersten Expansion halten konnte. Selbst die Verwaltung Ägyptens kennt bis zum heutigen Tag „die Rechte der Völker nicht und weiß nichts von Barmherzigkeit“.104 Die orientalischen Herrscher werden mit Ausnahme des jemenitischen Königs als Despoten präsentiert, die ihre Untertanen unterdrücken. In diesem Kontext verwendet Kramerius den semantisch heterogenen Begriff „otrocký“ [sklavisch]. Seltener handelt es sich um eine direkte Kritik der Sklaverei im Sinne des Menschenhandels und der Ausbeutung von Menschen.105 In der Regel ist „Sklaverei“ für Kramerius ein Synonym der europäischen Leibeigenschaft oder vielmehr der Situation, in der Bauern nicht auf eigenem Boden arbeiten, da der Staat alle Grundstücke sein eigen nennt (eines der Zentralthemen des josephinischen Reformdiskurses also). An diesem Beispiel ist das Anlegen eines europäischen Bedeutungsrasters klar erkennbar, das der „Realität“ des Nahen Ostens überhaupt nicht entspricht. Ganz im Geist der pro-josephinischen Publikationen, die Kramerius fünfzehn Jahre zuvor veröffentlicht hatte, ermöglicht dieses Raster jedoch eine Erklärung, warum die ägyptischen Landwirte nicht mehr Getreide produzieren können, warum sie unter „schlechten hygienischen Bedingungen“ leben und an Krankheiten leiden, warum Europa Nachrichten über Hungersnöte erreichen. Zentral sind dabei gerade die Kategorien „Privateigentum“ und „Recht auf freie Besitzverfügung“. Die Unmöglichkeit, selbst Eigentum zu be-

104 DERS., Cesta do Arabie, a do zemČ swaté, ginak Palestyny (wie Anm. 15), 17: „práw národĤ nezná, a o milosrdenstwj nic newj.“ 105 DERS., Druhý Djl Indye (wie Anm. 15), 173-174. Die Kritik vgl. auch in: DERS., Mladssj Robinson (wie Anm. 80), 284.

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sitzen, bringt Kramerius mit dem Niedergang von Handwerk und Wissenschaft sowie mit lokalen Gewaltausbrüchen unter den Dorfbewohnern in Verbindung. Die orientalischen Herrscher können sich wegen der „Sklaverei“ nicht auf die Unterstützung der Untertanen verlassen.106 Ein Ausdruck von Sklaverei bzw. Leibeigenschaft sind nach Kramerius auch die Fälle, in denen innerhalb der Familien oder einer größeren Gesellschaftsgruppe Berufe vererbt werden und der Einzelne seine Beschäftigung nicht nach eigenen Wünschen und Talenten wählen kann. Kramerius kritisiert daher die „Zunftordnung“ in Indien und auf Sri Lanka, die neben der Vererbung des Berufs107 beispielsweise auch feste Preise für Produkte und geleistete Arbeit vorschreibt. Hier bewirkt, so Kramerius, das schlechte Verwaltungssystem ebenfalls Elend und vergrößert die Reihen der Bettler. Der Vorteil der osmanischen Verwaltung besteht in der genau entgegengesetzten Strategie – nämlich dass eine gesellschaftliche Stellung nur durch Verdienste erworben werden kann und Familienprivilegien hier nichts gelten.108 Die Beziehung zwischen der Imagination der Gesellschaftsordnung und der orientalischen Alterität in Kramerius’ Reisebeschreibungen kann Michael Harbsmeiers These über die orientalischen Gegenwelten nicht bestätigen.109 Harbsmeier zufolge setzte sich ab dem 17. Jahrhundert ein neuer Typ der Reisebeschreibung über den Nahen Osten durch. Darin wurde der Orient als Ort beschrieben, der die europäische Gesellschafts- und später auch die politische Ordnung bedrohte, was politische Veränderungen in den westeuropäischen Gesellschaften zur Zeit der Aufklärung beschleunigt haben soll. Kramerius’ Schriften zeigen jedoch, dass die Kritik von Verwaltung und Gesellschaftsordnung im Nahen Osten mit einer positiven Bewertung der obrigkeitlichen wie der zentralen Verwaltung in den böhmischen Ländern sowie der bestehenden gesellschaftlichen Hierarchien einherging und zu Appellen führte, den gegenwärtigen Zustand zu bewahren. Jeder Einzelne kann zwar durch eigenen Fleiß und Verstand seine Stellung verbessern, jedoch immer nur im Rahmen der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse. „Wir bleiben lieber in Böhmen, wo wir eine gerechte und ordentliche Verwaltung haben; wo wir unter einer so berühmten und besonnenen Herrschaft leben, dass wir des Lebens und unseres bescheidenen Besitzes immer sicher sein können“, äußert sich der Dörfler Lipan, nachdem er die Nachrichten

106 Vgl. auch DERS., Druhý Djl Indye (wie Anm. 15), 70. 107 DERS., Druhý Djl Indye (wie Anm. 15), 76. 108 DERS., Hystorycké Wypsánj welikého Mogolského cýsaĜstwj (wie Anm. 15), 143. 109 HARBSMEIER, Michael: Wilde Völkerkunde. Andere Welten in deutschen Reiseberichten der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main-New York 1994, 123f.

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über die „Sklaverei“ der ägyptischen Bauern vernommen hat, und verweist auch auf das spezifische Potential des fiktiven Dialogs, das „Eigene“ mit einer expressiven Rhetorik positiv hervorzuheben. „Seht, Herr Nachbar! So eine schöne Ordnung findet man nirgendwo, die so ist wie bei uns, eine ordentliche und richtige Landesordnung, wo die Verwalter des Volkes rechtschaffene und gerechte Männer sind. Dies alles gibt es in Ägypten nicht und daher dürfen wir mit gutem Recht behaupten, dass das arme Volk dort elend und sehr unglücklich ist.“110 Bezeichnenderweise stößt man in den fiktiven Reisebeschreibungen nicht auf das Bild des „edlen Wilden“. Das niedrigere Zivilisationsniveau ist nämlich in Kramerius’ Auffassung allein ein Zeichen eines „schwachen Verstands“, nicht etwa einer ursprünglichen Unverdorbenheit und Reinheit. Dieses Motiv kommt nur im Werk „Hystorycké Wypsánj“ zur Anwendung, wo Grausamkeit und Gewalt der spanischen Konquistadoren gegenüber den „guten Amerikanern“ thematisiert werden. Die spanische Kolonisationspolitik wird dann eindeutig verurteilt: Kolumbus konnte trotz seiner persönlichen Qualitäten wie Vernunft und Fleiß die Gewalttaten an der indigenen Bevölkerung und die Unterdrückung durch die spanische „Obrigkeit“ (z.B. bei der Steuereintreibung) nicht verhindern. Diese Schuld wiegt noch schwerer, wenn die angebliche zivilisatorische Asymmetrie in Kleidung und Waffen berücksichtigt wird.111 Anstelle einer Zivilisierungsmission, dank der die ursprünglichen Einwohner Amerikas „zu Verstand gekommen“ wären, wurde in den Kolonien eine vollkommen ungerechte Gesellschaftsordnung errichtet, die zur „Verleibeigenschaftung“ der Bevölkerung führte.112 Kramerius’ Kritik richtete sich also gegen Handlungen, die gegen die normativen Rahmenbedingungen verstießen, für die er eine universale Gültigkeit beanspruchte, nicht etwa gegen den Kolonialismus als solcher. Sofern die Kolonialpolitik auf die Durchsetzung der vom „gesunden Verstand“ geleiteten zivilisato-

110 KRAMERIUS, Auplné Wypsánj Egypta (wie Anm. 15), 193: „My zĤstaneme radČgi w ýechách, kdež dpráwné a Ĝádné zĜjzenj máme; kdež pod tak slawným a opatrným panowánjm gsme, že gak žiwotem tak nassjm skrowným gmČnjm wždycky bezpeþni býti mĤžeme.“; „Widjte, pane sausede! tak pČkného Ĝádu nikde se þlowČk nenadČge, leþ kde gest tak gako u nás, Ĝádné a zprávné zemské Ĝízenj, a kde gsau zpráwcj lidu rozssafní a sprawedliwj muži. Toho tedy wsseho nenj w EgyptČ a protož mĤžeme Ĝícy dobrým práwem, že tam ten nebohý lid bjdný a pĜenessĢastný gest.“ 111 DERS., Hystorycké Wypsánj, kterak þtwrtý djl swČta, Ameryka od Kolumbusa wynalezena byla (wie Anm. 15), 84. 112 Siehe die heftige Kritik in DERS., Hystorycké Wypsánj, kterak þtwrtý djl swČta, Ameryka od Kolumbusa wynalezena byla (wie Anm. 15), 85.

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rischen Werte gerichtet war, wurde sie nicht nur nicht verurteilt, sondern vom Autor mit hoffnungsvoller Erwartung begleitet. Kramerius beschreibt unter anderem, wie französische Einheiten im ägyptischen Bulak Ordnung schafften – unter anderem auch, indem sie „diese nichtsnutzige Bande, die Bettler, Vagabunden, Stromer, Müßiggänger, Herumtreiber, alle auseinandertrieben und aus der Stadt verscheuchten. Und sie taten gut daran und jede rechte Ordnung sollte dasselbe tun.“113 Von den Franzosen erwartete er auch, dass sie dem mameluckischen „Druck“ auf die örtlichen Bauern in Leibeigenschaft Einhalt gebieten. Oder dass sie endlich für die europäischen Leser jene Denkmäler erfassen, die die Fortschrittlichkeit der altägyptischen Zivilisation beweisen und die von den „abergläubischen Arabern“ bisher geschützt werden. Diese Aussagen über Sklaverei und Kolonialpolitik demonstrieren erneut die Vorstellung einer universalen Gültigkeit dieser gesellschaftlichen Ordnung, die auf die orientalisierende Folie projiziert wurde. In Bezug auf die böhmische Kontextualisierung scheint vor allem die Kritik der Leibeigenschaft von Bedeutung zu sein, die mit dem Eigentum von Boden eng verbunden war. Jeder böhmische Bauer sollte das Recht haben, „sein schwer erarbeitetes Gut sicher und in Frieden zu nutzen“.114 Gegenderter und sexualisierter Orient? Die letzte Achse, anhand derer sich normative Alteritätsdichotomien bilden, ist die der Geschlechterordnung. Zwar legen Kramerius’ Reisebeschreibungen an den Orient keine direkten feminin gegenderten Bedeutungen in dem Sinn an, dass etwa dessen Jungfräulichkeit, Sinnlichkeit, Fertilität oder die Notwendigkeit zu seiner Eroberung betont würden. Nur im Zusammenhang mit der Wallfahrt nach Mekka wird die orientalische Sexualität angedeutet115; die Einzigartigkeit dieses Hinweises zeigt, in welchem Maß sich Kramerius’ Repräsentation des Nahen Ostens von den klassischen orientalischen Klischees „Harem“ und „Odalisken“ unterscheidet. Im Unterschied zum „klassischen“, westeuropäischen Orientalismus der nachfolgenden Jahrzehnte, in dem die Vorstellungen über die ganze imaginäre Region und ihre Bewohner stark sexualisiert sind, steht die Se-

113 DERS., Auplné Wypsánj Egypta (wie Anm. 15), 202: „tu niþemnau zbČĜ, žebráky, tuláky, powaleþe a bČhauny wssecky rozehnali a z mČsta wyptýlili. A udČlali dobĜe a každé zprávné zĜjzenj mČlo by též uþiniti.“ 114 Ebd., 195: „swého krwawČ sobČ nabytého stateþku bezpeþnČ a s pokogem užiti.“ 115 KRAMERIUS, Cesta do Arabie, a do zemČ swaté, ginak Palestyny (wie Anm. 15), 142.

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xualität in Kramerius’ fiktiven Reisebeschreibungen an der Grenze des Sagbaren. Gut illustriert wird dies durch Beispiele aus den Reisebeschreibungen über Indien, wo Kramerius zwar über die Existenz einer „Zunft unzüchtiger Frauen“ bei den Einwohnern der Region um Golkonda schreibt; allerdings artikuliert er nicht explizit, dass die Frauen nackt tanzten und sangen; stattdessen verwendet er die Andeutung: „celé –hé gsau“ [sie sind vollkommen –ckt].116 Zum anderen betont er – was noch bedeutsamer ist – soziale Institutionen, die mit Hinweisen auf ideale Feminität und feminines Verhalten beschrieben werden.117 Damit entsprechen Kramerius’ Schriften genau dem Trend, die Feminität und ihre „biologischen Voraussetzungen“ im bourgeoisen Modell der „Geschlechtscharaktere“ mit Haushalt, Familie und Privatsphäre zu verbinden. In Bezug auf alle außereuropäischen Gesellschaften wird nämlich die Institution der Ehe als untrennbarer Bestandteil der Gesellschaftsordnung thematisiert – auf der Ebene der Hochzeitsrituale, der Stellung der Frau in der Ehe, der Grenzen ihrer unabhängigen wirtschaftlichen Tätigkeit oder der Möglichkeiten einer ehelichen Trennung bzw. der Erbpraktiken. Im Fall des Nahen Ostens verweist Kramerius kritisch auf das „geringe Ansehen“, das die Ehe bei den Muslimen genießen soll; dies beweise allein schon die Vielweiberei und die einfache Trennung. Die „unordentliche“ muslimische Ehe kontrastiert scharf mit dem Respekt, den die alten Ägypter der Institution „Ehe“ entgegengebracht hätten. „Um Ihnen aber die Wahrheit zu sagen“, erklärt der Bote dem Dörfler, „so ist der Stand der einen wie der anderen dieser elenden Frauen bei den Muselmanen geradezu sklavisch, und ihr Eheversprechen ist auch nicht viel wert; denn wenn es einem unvernünftigen und harten Mann gefällt, kann er die Ehefrau sogar ohne jede Ursache verstoßen, und auch eine Beischlä-

116 DERS., Druhý Djl Indye (wie Anm. 15), 17. – DERS., Hystorycké Wypsánj welikého Mogolského cýsaĜstwj (wie Anm. 15), 45. Ebenso unmöglich ist es, die Prostitution oder den sexuellen Missbrauch ausdrücklich zu thematisieren. DERS., Hystorycké Wypsánj welikého Mogolského cýsaĜstwj (wie Anm. 15), 110. – DERS., Druhý Djl Indye (wie Anm. 15), 175. 117 Vgl. zur Polarisierung der Genderideologie in den damaligen böhmischen Ländern: RATAJOVÁ, Jana/STORCHOVÁ, Lucie: Žádná ženská þlovČk není. Polarizace genderĤ v þeskojazyþné literatuĜe druhé poloviny 18. století [Keine Frau ist ein Mensch! Genderpolarisierung in der tschechischsprachigen Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts], Praha 2010. – TINKOVÁ, Daniela: TČlo, vláda, stát. Zrození porodnice v osvícenské EvropČ [Körper, Macht, Staat. Geburt der Gebärklinik im aufklärerischen Europa]. Praha 2010.

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ferin, die ohne Kinder bleibt, als Sklavin wohin und an wen er nur will verkaufen“.118 Ein weiteres Kennzeichen des Zivilisationsniveaus ist das Maß, in dem nichteuropäische Frauen tugendhaft leben, und besonders der Fleiß, mit dem sie sich um den Haushalt kümmern. Hier konstatiert Kramerius bei den gewöhnlichen Nichteuropäerinnen zumeist nur, dass sie bemühte Hausfrauen seien. Dieses Lob erfolgt in allen fiktiven Reisebeschreibungen erneut recht stereotyp – so behauptet der Bote, dass etwa die indischen Frauen „sich für keine Arbeit zu schade und in ihrem Haushalt so fleißig, wachsam und bemüht sind, dass ich sie fast unseren Hausfrauen zum Vorbild geben kann.“119 Auch auf der Ebene der geschlechtlich markierten sozialen Institutionen bestätigt sich die These von der Vorbildlichkeit der Darstellungen des altägyptischen sowie außereuropäischen Fremden (mit der Ausnahme des zeitgenössischen Nahen Ostens) für die Vorstellungen über die idealen „tschechischen Eigenschaften“.

F AZIT Wie gezeigt wurde, funktionieren die fiktiven Reisebeschreibungen als ein textueller Raum, der es ermöglichte, die Imagination des (orientalischen) Fremden als eine Folie für die Hervorhebung der angeblich universal verbindlichen gesellschaftlichen und individuellen Normative sowie der idealen „tschechischen Eigenschaften“ bis ins Detail auszuarbeiten. Die thematischen sowie normativen Rahmenbedingungen sind in erheblichem Maße vorhersehbar und in einem System von Dichotomien verankert; als solche wurden sie auch in anderen in der „ýeská expedice“ veröffentlichten Werken thematisiert. Mit Ausnahme der religiösen Alterität, die trotz aller Versuche sie zu rationalisieren, in allen imaginären Gegenden (einschließlich der böhmischen Länder selbst) negativ konnotiert wird, funktionieren die Alteritätskonstruktionen in

118 DERS., Cesta do Arabie, a do zemČ swaté, ginak Palestyny (wie Anm. 15), 53: „tČch nebohých žen gednČch i druhých u tČch MusulmanĤ staw práwČ otrocký gest, a ten manželský záwazek gegich také hrubČ za mnoho nestogj; neboĢ když se nČkterému newážnému a twrdému mužĤ zlíbj, mĤže manželku, a byĢ k ní dokonce žádné pĜjþiny nemČl, od sebe zapuditi, a sauložnicy též, jestli bez dČtj, gako otrokyni kam a komu chce prodati.“ 119 DERS., Druhý Djl Indye (wie Anm. 15), 74: „se za žádnau prácy nestydj, a w swém hospodáĜstwj gsau tak pilné, bedliwé a pĜiþinliwé, že je skoro nassim hospodynČm pĜedložiti mohu.“

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Kramerius’ fiktiven Reisebeschreibungen dem folgenden Schema nach: Das Alte Ägypten und die Bevölkerung der außereuropäischen Länder (vor allem Indiens), die schon „Verstand angenommen“ haben, dienen als Vorbild für die sich formende tschechische Nationalgemeinschaft, und zwar mit Rekurs auf ihre Rationalität, Arbeitsleistung, auf die Geschlechter- sowie gesamtgesellschaftliche Ordnung, auf die Toleranz oder die funktionierende Staatsverwaltung. Damit kontrastieren Alteritätszeichen des zeitgenössischen islamischen Orients, vor allem Ägyptens und Palästinas. In diesen Repräsentationen wird besonders das Deutungsmuster des zivilisatorischen Niedergangs, der (mangelnden) Arbeitsleistung und der (nicht-)funktionierenden Verwaltung entwickelt. Diese Diskurse aktivieren dann andere Themenfelder, beispielsweise zu Hygienestandard, Gesundheit oder „Sklaverei“ der arabischen Bauern. Das Lob der sesshaften Bauern und die Kritik an „Vagabunden“ entfaltet Kramerius mit Hilfe der gleichen Argumente und rhetorischen Figuren (z.B. mit der Metapher der „Last“) wie die Kritik an Klostergemeinschaften und legitimiert so die staatliche Disziplinierungs- und Exklusionspolitik. Dies betrifft vor allem die Beschreibungen der außereuropäischen nichtsesshaften Bevölkerung, deren Gefährlichkeit mit der der „ägyptischen Araber“ verglichen wird.120 Nur ganz am Rande finden sich dagegen in den fiktiven Reisebeschreibungen Aussagen über den orientalischen Luxus und die orientalische Sensualität, die für die späteren Formen des Orientalismus bei den europäischen Kolonialmächten charakteristisch sind. Die böhmischen Länder waren zwar keine Kolonialmacht, was meistens eine individuelle direkte Erfahrung des Orients für die böhmische Bevölkerung verhinderte. Die fiktiven Reisebeschreibungen zeigen jedoch klar, dass die Produktion der orientalischen Alterität sehr stark von präexistenten, miteinander interagierenden Ideologien, aber auch von älteren Texten, Vorstellungen über den „nationalen literarischen“ Kanon usw. beeinflusst wurde. Natürlich bleibt die Frage bestehen, ob gerade diese Ebenen auch in Reisebeschreibungen funktionierten, die nicht fiktiven Charakters sind, sondern die – zumindest ihrem Anspruch nach – authentische Beobachtererfahrungen ihrer Autoren darstellen. Das Fehlen einer direkten Kolonialerfahrung beeinflusste nicht direkt die Darstellung des Fremden in den hier vorgestellten fiktiven Reiseberichten – es wurden „universell gültige“ Werte an sie angelegt. Es ist dennoch symptomatisch, dass die Kolonialexpansion sich auf die Lesernachfrage auswirkte und damit auch auf die Tatsache, dass „der erste tschechische Journalist“ 1802 überhaupt mit der Veröffentlichung von fiktiven Reisebeschreibungen begann. Seine Repräsentationen fallen in die Zeit kurz vor Erscheinen des ersten Bandes der im Rahmen von Na-

120 DERS., Hystorycké Wypsánj welikého Mogolského cýsaĜstwj (wie Anm. 15), 53, 57.

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poléon Bonapartes Ägyptischer Expedition (1798-1801) entstandenen „Description de l’Égypte“, die nach Said einen fundamentalen Wendepunkt in der modernen europäischen Erfahrung mit dem islamischen Orient darstellte. Sie sind jedoch ein Ergebnis der Intersektionen älterer aufgeklärter Reformdiskurse, die es Kramerius ermöglichten, den Nahen Osten und andere außereuropäische Bereiche durch das Prisma eines konkreten Komplexes normativer Vorstellungen zu lesen, für die eine universale Gültigkeit beansprucht wird, die zugleich auch ideale „tschechische Eigenschaften“ der entstehenden Nationalgemeinschaft artikulieren.

Edward RaczyĔskis Perzeption des osmanischen Orients in Bild und Text seines Reisetagebuchs S ABINE J AGODZINSKI

R EISE

UND

R EISEBUCH

Am 17. Juli des Jahres 1814 brach der 28 jährige polnische Adlige Edward RaczyĔski (1786-1845) zusammen mit dem Maler Ludwig Fuhrmann (1783-1829) zu einer fünfmonatigen Reise auf. Sie führte ihn von Warschau über Puáawy, Marynka, Krasnystaw, Wáodzimierz WoáyĔski, àuck, Ostróg, Sofiówka, Dubno, HumaĔ, Bohopol an der polnisch-russisch-türkischen Grenze entlang zunächst nach Odessa, wo er sich am 8. August nach Konstantinopel einschiffte.1 Nach

1

Witold Molik meint, RaczyĔski habe die Reise zusammen mit zwei Gefährten unternommen: seinem Diener und dem Maler Ludwig Fuhrmann. Jan Reychman hingegen vertritt die Ansicht, dass Edward RaczyĔski mit einer recht zahlreichen Gesellschaft gereist sei. RaczyĔski selbst äußert sich nicht zur genauen Zahl seiner Mitreisenden. MOLIK, Witold: Edward RaczyĔski 1786-1845. PoznaĔ 1999 (Biblioteka „Kroniki Wielkopolski”), 48 sowie REYCHMAN, Jan: PodróĪnicy polscy na Bliskim Wschodzie w XIX wieku [Polnische Reisende im Nahen Osten im 19. Jahrhundert]. Warszawa 1972, 11. Zur Biographie Ludwig Fuhrmanns vgl. àUKASZEWICZ, Piotr: Fuhrmann, Ludwig: In: Saur Allgemeines Künstlerlexikon. Die Bildenden Künstler aller Zeiten und Völker. Bd. 46, Frydl-Gabo. München u.a. 2005, 200-201. – Neues allgemeines Künstler-Lexicon oder Nachrichten von dem Leben und den Werken der Maler, Bildhauer, Baumeister, Kupferstecher, Formschneider, Lithographen, Zeichner, Medailleure, Elfenbeinarbeiter, etc. Bearb. von Dr. Georg Kaspar NAGLER, Bd. 4, DumetGallimard. München 1837, 530-532. – DOBRZYCKA, Anna: Polonica w Ğwiecie. Nieznany Fuhrmann w Chile [Polonica in der Welt. Ein unbekannter Fuhrmann in Chile].

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einigen Wochen in der Hauptstadt des Osmanischen Reiches und ihrer Umgebung erkundete er die griechischen Altertümer Ioniens. Im Oktober hielt er sich erneut in Konstantinopel auf, bevor er – von einer plötzlichen Sehnsucht nach der Heimat erfasst – aufbrach und diese Anfang Dezember 1814 erreichte.2 Seine Erlebnisse schrieb RaczyĔski größtenteils nach seiner Rückkehr nieder. Dabei arbeitete er viele Hintergründe und Belege in den Text und zahlreiche Fußnoten ein. Diese zusätzlich eingefügten historischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Informationen waren der Grund für eine Verzögerung der Publikation; veröffentlicht wurde das Werk erstmals 1821 in Breslau (Wrocáaw) als „Dziennik podróĪy do Turcyi“ [Tagebuch einer Reise in die Türkei].3 Der prächtige Großfolio-Band wurde mit 89 Kupferstichen versehen.4 Sie zeigen die Sehenswürdigkeiten der besuchten Orte und ihre Einwohner sowie diverse Karten. Die Zeichnungen dazu wurden u.a. von Fuhrmann und RaczyĔski selbst angefertigt und von verschiedenen Künstlern gestochen und gedruckt.5 1824 wurde im selben Verlag eine deutsche Übersetzung durch den Breslauer Germanisten – und Freund von Edwards Bruder Atanazy RaczyĔski (1788-1874) – Friedrich Heinrich von der Hagen (1780-1856) herausgegeben. Der Titel lautete nun: „Malerische Reise in einigen Provinzen des Osmanischen Reichs“.6 Nicht nur auf-

In: Marmur dziejowy. Hg. v. Ewa CHOJECKA. PoznaĔ 2002 (Studia z historii sztuki, Prace Komisji Historii Sztuki 32), 399-401. 2

Den etwas plötzlichen Aufbruch erklärt er so: „Dzieliáem i ia z nimi radosne ich uczucia. Bandery okrĊtowe, które miáy powiewaá wietrzyk, ku póánocy, ku Polszce zwrócone, zdawaáy mi siĊ byü skazówką, na któréy lĞniącemi wyryte literami czytaáem sáowa: d o o y c z y z n y ! d o s w o i c h ! ” [Sperrung im Text, SJ]. RACZYēSKI, Edward: Dziennik podróĪy do Turcyi odbytey w roku MDCCCXIV przez Edwarda RaczyĔskiego [Tagebuch der Türkeireise unternommen im Jahr 1814 von Edward RaczyĔski]. Wrocáaw 1821, 197-198.

3

MOLIK (wie Anm. 1), 57. – BURKOT, Stanisáaw: Polskie podróĪopisarstwo roman-

4

Anm. 1 der Neuausgabe spricht irrtümlich von insgesamt 95 Stichen: RACZYēSKI,

tyczne [Polnische romantische Reiseschriftstellerei]. Warszawa 1988, 64. Eduard Graf: Malerische Reise in einigen Provinzen des Osmanischen Reiches. Hg. und mit einem Nachwort versehen v. Peter ZIEME. Budapest 1997, 171. 5

Eine Auflistung der Namen findet man bei WOJTKOWSKI, Andrzej: Edward RaczyĔski i jego dzieáo [Edward RaczyĔski und sein Werk]. PoznaĔ 1929 (Bibljoteka RaczyĔskich), 72.

6

Der vollständige Titel lautet: RACZYēSKI, Edward: Malerische Reise in einigen Provinzen des Osmanischen Reichs aus dem Polnischen des Herrn Grafen Eduard RaczyĔski übersetzt. Hg. v. Friedrich Heinrich VON DER HAGEN, Breslau 1824. Friedrich

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grund des Titels sollte man allerdings besser von einer Übertragung als von einer Übersetzung sprechen, denn die sprachliche und inhaltliche Wiedergabe ist zuweilen sehr frei,7 was von der Hagen übrigens einen heftigen Streit mit den Brüdern Grimm wegen seiner sorglosen editorischen Praxis einbrachte. In der Widmung des Reisebuches drückt der Übersetzer seinen Wunsch aus, dass das Werk, in die deutsche Sprache übertragen, die alten deutsch-polnischen Nachbarschaftsbeziehungen erneuern und verbessern helfen solle,8 und im Vorwort schreibt er weiter, das Werk sei ein schönes Beispiel für die Verbindung einerseits von Kunst und Wissen und andererseits der Vaterländer Fuhrmanns, von der Hagens und RaczyĔskis.9 Dies zeigt die grenzüberschreitende Vernetzung und freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Brüdern RaczyĔski und dem deutschen Künstler bzw. Wissenschaftler. Die beiden großen Ausgaben waren aufgrund der ganzseitigen Drucke sowohl für den Verfasser als auch für den Käufer äußerst kostspielig und nur für

Heinrich von der Hagen war ursprünglich Jurist und machte seine Passion zur altdeutschen Literatur in Berlin und Breslau zum Beruf. Zu Biographie und Stellung von der Hagens in der deutschen Literaturwissenschaft s. JESSEN, Hans: Friedrich Heinrich von der Hagen. In: Schlesische Lebensbilder. Bd. 4. Hg. v. Friedrich ANDREAE. Breslau 1931 (Neuausgabe, 2. Auflage Sigmaringen 1985), 280-288. – WEIMAR, Klaus: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Paderborn 2003. 7

Womöglich war das genauso intendiert, denn das Vorwort spricht von der Erstübersetzung als „eine damit an Form und Ausstattung ganz übereinstimmende treue deutsche Übersetzung, ebenfalls auf Kosten des Herrn Verfassers.“ RACZYēSKI, Edward: Malerische Reise in einigen Provinzen des Osmanischen Reichs aus dem Polnischen des Herrn Grafen Eduard RaczyĔski übersetzt. Hg. v. Friedrich Heinrich VON DER

HAGEN. Mit zwei Kupfern und zwei Steindrücken, Breslau 1825.Vorwort, n.p.

[Kursivierung SJ]. Es sagt also noch nichts über die Zielsetzung in Bezug auf die Texttreue aus. Die – im Ganzen nicht gravierenden, aber teilweise doch auffallenden – Unterschiede zwischen der polnischen und der deutschen Ausgabe stellen ein Problem bei der Bearbeitung der Quelle bzw. der Fragestellung dar. Dies konnte ich, obgleich ich beide Versionen benutzt habe, nur anreißen. Zu Fragen nach der oder den Rezeptionsabsichten sowie der Interaktion zwischen Autor und Übersetzer lohnte sich eine gesonderte Untersuchung. 8

„[P]rzyczyniáo siĊ, do odnowienia i umocnienia piĊknego prawa goĞcinoĞci miĊdzy dwoma starymi sąsiadami, Polakami i Niemcami.“ Zitiert nach WOJTKOWSKI (wie Anm. 5), 76.

9

Ebd., 76.

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wenige Leser erschwinglich.10 Daher entschloss sich Edward RaczyĔski, 1825 und 1828 zusätzlich Oktavausgaben mit nur jeweils sechs Abbildungen herauszubringen.11 Der Erlös sollte – wie bei vielen Unternehmungen Edward RaczyĔskis – wohltätigen Zwecken zugeführt werden.12 Mit den kleinen Ausgaben

10 Atanazy RaczyĔski vermerkt zu dem Band seines Bruders in seinem Tagebuch: „Dieses Werk kostete ihn 106.000 Gulden, 30 ohne die Kosten der Reise. Sechs Jahre Arbeit und Mühen widmete er ihm, bereicherte es durch viele sachkundige Anmerkungen.“ Tagebucheintrag vom 23. Juni 1817, in: RACZYēSKI, Athanasius: Der Weg nach Berlin. Aus den Tagebüchern des Athanasius RaczyĔski 1819-1836. Hg. u. übers. v. Joseph A. Graf Raczynski, als Manuskript vervielfältigt. München 1986, 94-95. Zitiert nach TRINKS, Stefan: Dioskuren einer kunstvollen Wissenschaft. Die Gebrüder RaczyĔski und Humboldt im strukturellen Vergleich [Dioskurowie nauki i sztuki – bracia RaczyĔscy i Humboldtowie w ujĊciu porównawczo-strukturalnym]. In: Edward i Atanazy RaczyĔscy. Dzieáa – OsobowoĞci – Wybory – Epoka / Eduard und Athanasius RaczyĔski. Persönlichkeiten – Werke – Bekenntnisse – Epoche. Hg. v. Adam S. LABUDA, Michaá MENCFEL und Wojciech SUCHOCKI. PoznaĔ 2010, 51-87, hier 57. Im selben Konferenzband erschien auch eine erste und kürzere Fassung des vorliegenden Beitrags: JAGODZINSKI, Sabine: Ein polnischer Blick? Eduard RaczyĔskis Tagebuch der Reise ins Osmanische Reich im Jahr 1814 [Polskie spojrzenie? Dziennik podróĪy Edwarda RaczyĔskiego do imperium osmaĔskiego w 1814 roku]. In: EBD., 181-203. 11 Die eine „Mit zwei Kupfern und zwei Steindrücken. Breslau 1825“, die andere „Mit zwei Kupfern und drei Steindrücken. Breslau 1828“. Vgl. Titelblatt und „Vorwort der Herausgeber“ der deutschen Ausgabe von RACZYēSKI E., Malerische Reise 1825 (wie Anm. 7), n.p. Im Jahr 1843 kam noch ein Auszug in französischer Sprache heraus – auf 27(!) Seiten verkürzt und fehlerhaft, da er z.B. die Brüder RaczyĔski verwechselt. Katalog biblioteki RaczyĔskich w Poznaniu [Katalog der RaczyĔskischen Bibliothek in Posen]. Erarbeitet v. Maksymilian Edward SOSNOWSKI und Ludwig KURTZMANN, Bd 1, 2, PoznaĔ 1885, 5. – WOJTKOWSKI (wie Anm. 5), 76. Im Jahr 1980 schließlich erschien eine türkische Übersetzung des Reiseberichts: TURAN, Kemal: 1814’de østanbul ve Çanakkale’ye seyahat [Die Reise nach Istanbul und Çanakkale im Jahr 1814]. Istanbul 1980. Zitiert nach RACZYēSKI E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 172, Anmerkungen. 12 Nachwort in RACZYēSKI E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4) und erneut Atanazy RaczyĔski: „Um das Lob abzuschließen, muß ich noch erwähnen, daß er dieses Werk zugunsten der Armen verkaufen läßt. Kaiser Alexander zahlte 500 Dukaten für ein Exemplar, das Madame Zamóyska ihm sandte. Der Erziehungsminister sprach meinem Bruder den Dank der Armen und den der Literatur aus. Mein Herz und mein

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war ein größerer Leserkreis zu erreichen. In ihnen sind die Anmerkungen von der Hagens einem knappen „Vorwort der Herausgeber“ gewichen. Was die Verknüpfung von Bild und Text, von Reisebericht, persönlichen Tagebuchnotizen und historisch-landeskundlichen Beschreibungen mit den motivisch vielfältigen Kupferstichen anbelangt, so klafft hier noch eine Forschungslücke. Dem Text hat sich die polnische Forschung bereits gewidmet.13 Den Bildern hingegen und gar der Art des Zusammenwirkens der beiden Gattungen ist viel weniger Beachtung zuteil geworden. Nicht zuletzt diesem Aspekt möchte der vorliegende Beitrag einige neue Erkenntnisse hinzufügen. Gerade bei einem Tagebuch und Bildern, die sich dem Autor nach auf den eigenen Augenschein stützen, wird das Spannungsfeld zwischen einem „Ego-Dokument“ und einem künstlerischen, narrativen Medium, das bestimmte Inhalte auf bestimmte Weise transportieren will, besonders deutlich. Zumal, wenn das Tagebuch von vornherein mit dem Ziel der Veröffentlichung geschrieben wurde, wie es bei RaczyĔski erklärtermaßen der Fall war. In der Einleitung der polnischen Ausgabe des Reisebuches erklärt RaczyĔski nämlich als einen seiner Beweggründe, dass im Gegensatz zu anderen Nationen Polen bisher nicht mit illustrierten Reiseberichten aufwarten könne und er mit diesem seinem Werk die heimatliche Literatur befördern wolle: „Während Frankreich sich seit vielen Jahren der mit Illustrationen geschmückten Reisebeschreibungen von P.P. Choiseul Gouffier, Saint Non, Zurlauben, Denon und anderen rühmt, während England, Italien, Deutschland zu ebendiesem Zwecke erhebliche Summen ausgeben, haben wir Polen bisher kein vergleichbares Werk. Der Wille, sich um die heimatliche Literatur verdient zu machen, veranlasste mich, die vor Ort durch den mir befreundeten Maler Herrn Fuhrmann gezeichneten antiken Denkmäler, Ansichten, Bauwerke und Trachten bei den geschicktesten Stechern in Rom, Wien, Dresden und Berlin zur Ausführung in Auftrag zu geben.“14 Im gleichen Zusammenhang bittet er den Leser zu

Selbstbewußtsein sind stolz, ihn meinen Bruder nennen zu können.“ Tagebucheintrag vom 23. Juni 1817, in: RACZYēSKI A., Der Weg nach Berlin (wie Anm. 10), 94-95. Zitiert nach TRINKS (wie Anm. 10), 57. 13 Es seien hier stellvertretend genannt: SINKO, Tadeusz: Polscy podróĪnicy w Grecji i Troi [Polnische Reisende in Griechenland und Troja]. Kraków 1925 (Z historji i literatury 27). – WOJTKOWSKI (wie Anm. 5). – REYCHMAN, Jan: ĩycie polskie w Stambule w XVIII wieku [Das polnische Leben in Konstantinopel im 18. Jahrhundert]. Warszawa 1959. – REYCHMAN 1972 (wie Anm. 1). – BURKOT (wie Anm. 3) und MOLIK (wie Anm. 1). 14 „Kiedy Francya od wielu lat pyszni siĊ opisów podróĪ rycinami ozdobionych P.P. Choiseul Gouffier, Saint Non, Zurlauben, Denon i innych, kiedy Anglicy, Wáochy,

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beachten, dass dies das erste Werk dieser Art sei, das in der polnischen Muttersprache herauskäme, und daher Ungenauigkeiten zu entschuldigen.15 RaczyĔskis Aussage führt zu der Frage, ob und inwieweit man innerhalb der „Malerischen Reise“ eine spezifisch polnische – gegenüber einer „allgemein europäischen“ – Perspektive des frühen 19. Jahrhunderts auf den osmanischen Orient feststellen kann, zumal illustrierte Reisebeschreibungen in dem entsprechenden Zeitraum sich großen Zuspruchs erfreuten, was einen Vergleich mit anderen Publikationen ermöglicht und nahelegt. Die Frage erscheint auch gerade angesichts der gängigen Auffassung interessant, dass unter den Brüdern RaczyĔski Edward als derjenige gilt, der sich zu einer nationalen Haltung bekannte. Außerdem soll der unterschiedlichen Qualität und Wirkungsweise der beiden Quellengattungen in verstärktem Maße Rechnung getragen werden, wenn dies in diesem Rahmen auch nur exemplarisch möglich ist. Gehen Bild und Text eine Wechselwirkung ein? Haben beide Medien eigenständige, gleichberechtigte Aussagen – insbesondere mit dem Augenmerk auf der Vermittlung von Aussagen über „den Orient“ – oder illustrieren die Bilder nur, was bereits im Text gesagt wird? Seit Edward Saids These vom europäisch konstruierten Orient16, die in letzter Zeit grundlegende Revisionen erfahren hat, wurden die Diskurse um Orientalismus und Alterität mehrfach interdisziplinär angeregt.17 Sie brachten auch

Niemcy w tymĪe celu znaczne summy áoĪyli, my Polacy podobnego dotąd nie mamy dzieáa. ChĊü przysáuĪenia siĊ literaturze oyczystey powodowaáa miĊ, Īe rysowane na mieyscu przez towarzyszącego mi malarza J. P. Fuhrmana, zabytki staroĪytnosci, widoki, budynki, ubiory, powierzyáem do wyrycia naybiegleyszym w Rzymie, Wiedniu, DreĨnie i Berlinie sztychrzom.“ RACZYēSKI E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), VIVII. 15 „Czytelnik pomniąc, Īe to jest pierwsze w tym rodzaiu pismo, w oyczystym wychodzące iĊzyku, niedokáadnioĞciom iego wybaczyü raczy.” RACZYēSKI E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), VI-VII. 16 SAID, Edward W.: Orientalism. New York 1979; deutsch: Orientalismus. Frankfurt am Main u.a. 1981. 17 Aus der mittlerweile umfangreichen Literatur vgl. z.B. KURZ, Isolde: Vom Umgang mit dem anderen. Die Orientalismus-Debatte zwischen Alteritätsdiskurs und interkultureller Kommunikation. Würzburg 2000 (Bibliotheca academica, Reihe Orientalistik, 5,1). – Reisen, Entdecken, Utopien. Untersuchungen zum Alteritätsdiskurs im Kontext von Kolonialismus und Kulturkritik. Hg. v. Anil BHATTI und Horst TURK. Bern u.a. 1998 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, Kongressberichte 48). – MACKENZIE, John M.: Orientalism. History, theory and the arts. Manchester u.a. 2004

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Bildprägungen anderer Regionen ins Spiel, wie etwa Larry Wolff am Beispiel Polens und Russlands oder Maria Todorova am Beispiel des Balkans gezeigt haben.18 Vor einem solchen theoretischen Hintergrund werde ich im Folgenden Art und Absicht von RaczyĔskis Blick auf „das Andere“ in Bild und Text an ausgewählten Beispielen untersuchen.

D AS O SMANISCHE R EICH

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F OKUS

Zunächst einmal soll auf ein grundsätzliches Problem der Alteritätsforschung hingewiesen werden: Die häufig verwendete Opposition von „Eigenem“ und „Fremdem“ ist eigentlich eine Verschmelzung zweier unterschiedlicher Paare, nämlich dem ‚Eigenen‘ und dem ‚Anderen‘ einerseits sowie dem ‚Vertrauten‘ und dem ‚Fremden‘ andererseits. Das erste bestimmt sich über das Kriterium der Differenz und bedeutet eine Identitätskonstitution, das zweite hingegen definiert sich über das Kriterium der Distanz und kennzeichnet einen Verstehensprozess.19 D.h. wenn das Fremde auch durch das Verstehen vertraut werden kann und wird, muss es nicht zwangsläufig als Eigenes vereinnahmt werden, wie das etwa der griechischen Antike in dem Johann Joachim Winckelmann (1717-1768) folgenden Klassizismus ergangen ist: „Nicht nur die Hellenozentrik dieses Klassizismus bedeute eine fatale Verengung gegenüber der kulturellen Vielfalt der europäischen Völker. Mit der tausendfach propagierten Winckelmannschen ‚edlen Einfalt‘ und ‚stillen Größe‘ werde in lähmender Konsequenz etwas hervorgekehrt, das ‚den Griechen selbst‘ zutiefst fremd gewesen sei.“20 Insbesondere der deutschen Affinität zum Griechentum („impertinente Familiarität“ – Nietzsche)

(Reprint der Ausgabe 1995). – Zu der Thematik insbesondere in der Literatur der Klassik siehe etwa: Begegnung mit dem ‚Fremden‘. Grenzen, Traditionen, Vergleiche. Hg. v. Eijirǀ IWASAKI. München 1991 (Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Tokyo 1990, Bd. 7, Sektion 12: Klassik – Konstruktion und Rezeption, Sektion 13: Orientalismus, Exotismus, koloniale Diskurse). 18 TODOROVA, Maria: Imagining the Balkans. New York 1997. 19 POLASCHEGG, Andrea: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin-New York 2005 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 35), 2. 20 BARNER, Wilfried: Das „Fremde“ des „griechischen Geschmacks“. Zu Winckelmanns ‚Gedancken über die Nachahmung‘. In: Begegnung mit dem ‚Fremden‘ (wie Anm. 17), 133-128, hier 122.

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wurde mangelnde „Anerkenntnis des ‚Anderen‘, ja ‚Fremden‘ vorgeworfen“.21 Dass Alteritäten also positiv gedacht werden können (sollen?) und zudem immer im Plural gedacht werden müssen und sich dabei mehrdimensional verflechten,22 erlebte auch ein Orientreisender des frühen 19. Jahrhunderts wie Edward RaczyĔski. Ihm begegneten gleich drei verschiedene „Andere“: die griechische Antike, das zeitgenössische Griechentum und der osmanische Orient.23 Für jedes dieser „Anderen“ stellt sich die Frage, was positiv oder negativ und in welchem Maße als fremd wahrgenommen wurde. Der vorliegende Beitrag wird sich auf die Betrachtung des Osmanischen beschränken. Die allgemeine Antikenbegeisterung des 19. Jahrhunderts ignorierte das zeitgenössische Griechenland bis zum Ausbruch des Freiheitskampfes im April 1821 weitgehend.24 Auch RaczyĔski konnte dem – für seine Reise ohnedies zu spät – aufkommenden populären und kurzlebigen Philhellenismus,25 der sich aus einem Gefühl der Dankesschuld und „christlichen Beistandspflicht“ gegenüber den Erben der alten Griechen speiste, nichts abgewinnen.26 Dass RaczyĔskis Interesse und Sympathie trotz seiner Antikenbegeisterung tatsächlich mehr auf dem osmanischen Orient lag, hat die For-

21 Ebd., 122. 22 Die angelsächsische Gender-Forschung hat hierfür den Begriff der Intersektionalität geprägt. Vgl. das Projekt „Literatur der Alterität. Alterität der Literatur. Das Eigene und das Andere in den skandinavischen Literaturen seit 1800“, http://www2.huberlin.de/alteritaet/menue/zusammen.html (07.07.08). 23 Auf die Ende des 18. Jahrhunderts verbreitete Orientalisierung Griechenlands in der europäischen Wahrnehmung aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Osmanischen Reich weist Jenny Gaschke hin: GASCHKE, Jenny: Hellas... in one living picture. Britische Reisende und die visuelle Aneignung Griechenlands im frühen 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main u.a. 2006 (Europäische Hochschulschriften, 28, 422), 121. 24 Infolge des Aufstands gab es eine Flut von Griechendichtungen, z.B. von Lord Byron (auch sein persönlicher Einsatz und tragischer Tod 1826 wurden legendär in der Philhellenen-Bewegung), Chateaubriand, Wilhelm Müller u.a. Vgl. GÜNTHER, Erika: Die Faszination des Fremden. Der malerische Orientalismus in Deutschland. MünsterHamburg 1990 (Kunstgeschichte 29), 28. 25 GASCHKE (wie Anm. 23), 210. 26 Der Philhellenismus äußerte sich darin, dass sich Griechen-Vereine aus allen Schichten rekrutierten. Sie sammelten Geld, Waffen und Medikamente. Etwa 1000 freiwillige Männer verschiedener Nationalität zogen zwischen 1821 und 1829 nach Griechenland, das sie aber sehr schnell ernüchterte, da das moderne Griechenland weit von ihren romantischen Vorstellungen entfernt war und sie selbst in der griechischen Guerillataktik recht nutzlos waren. GÜNTHER (wie Anm. 24), 29.

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schung zwar schon bemerkt – und aufgrund seiner positiven Einstellung als „Turkophilie“ bezeichnet –, aber dennoch in der Regel seine Aussagen über die Antike in seinem Reisebuch stärker beachtet.27 Dabei offenbart sich der osmanische Interessenschwerpunkt nicht nur in der Gestaltung der Reise, bei welcher Konstantinopel und Umgebung mehrere Wochen zugemessen werden, sondern bereits anhand der Gliederung des Bandes. In der Kapitelstruktur und im Verhältnis der Abbildungen spiegelt sich inhaltlich wie quantitativ der breite Raum, den RaczyĔski dem Osmanischen Reich und seiner Hauptstadt zumisst. Im Gegensatz zu den vielen Kapiteln zu Konstantinopel und Umgebung wird etwa Troja und dem Ida-Gebirge nur ein Kapitel gewidmet. Dieses sechste Kapitel konzentriert sich jedoch auf einen einzigen Tag, weshalb man hier eventuell von einer höheren Intensität der vermittelten Eindrücke sprechen kann, was das Ungleichgewicht ein wenig mildert. Insgesamt zeigen die Kupferstiche etwa 29 Bildmotive mit griechischen Altertümern; neuzeitlich-türkische Motive gibt es dagegen um die 44 und polnisch-ukrainische Motive etwa acht. Die stark reduzierte Bildauswahl, die in die kleine deutsche Ausgabe von 1828 übernommen wurde, lässt ebenfalls den visuellen Fokus auf das Osmanische Reich erkennen. Wir finden hier eine repräsentative Auswahl versammelt: ein osmanisches Baudenkmal, eine Landschaft und eine Alltagsszene, den als Siegel geltenden Namenszug des Sultans (tughra) sowie sein Bildnis, demgegenüber aber nur eine antike Ruine.28 Insofern ist die in der Forschung vertretene Aussage, Edward

27 So z.B. SINKO (wie Anm. 13) oder ähnlich Burkot, der RaczyĔskis Beschreibung von Konstantinopel für am uninteressantesten („najmniej ciekawą czĊĞcią“) und die Antikenbeschreibungen der Küsten des Bosporus und griechischen Inseln für am interessantesten hält. BURKOT (wie Anm. 3), 67. 28 Es handelt sich im Einzelnen um das Bild Mahmud IV. (als Frontispiz), den Namenszug des Großherrn Mahmuds IV. (vor dem ersten Kapitel), die Sophien-Moschee (S. 34-35), ein öffentliches Bad zu Konstantinopel (S. 58-59), eine Ansicht der zerstörten Bühne in Assos (S. 162-163) und den Fluss Kiahat-Su, von den Europäern die „süßen Gewässer“ genannt (S. 248-249). RACZYēSKI E. 1828 (wie Anm. 11). In der Ausgabe RACZYēSKI E., Malerische Reise 1825 (wie Anm. 7) fehlt das Porträt Mahmuds IV., stattdessen dienen die „süßen Wasser“ als Frontispiz. In einer polnischen Ausgabe von 1923 wurde zusätzlich die Tafel 17, die Konstantinopel aus der Vogelperspektive mit zahlreichen Minaretten, der Solimanmoschee und dem Turm des Janitscharen-Aga im Vordergrund zeigt – übrigens nach einer Zeichnung des Bruders Atanazy – als Titelblatt verwendet. Die letzte Abbildung findet sich bei REYCHMAN 1959 (wie Anm. 13), 12.

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RaczyĔski schaue auf die türkischen Lande lediglich „durch das Prisma der Ilias“, etwas zu relativieren.29

P OLONICA Der Feuilletonist Marceli Motty schrieb Ende des 19. Jahrhunderts, dass RaczyĔskis Bericht nichts Außergewöhnliches – „nic nadzwyczajny“ – biete, außer dass er auf Polnisch geschrieben sei.30 Nun war das Verfassen in polnischer Sprache allein kein unwichtiges Moment, da ja im geteilten Polen der Erhalt der Muttersprache nicht zwingend gewährleistet und eines der wesentlichen Ziele der polnischen Nationalbewegung war. Dessen ungeachtet stieß diese pauschale Aussage auf Widerstand von Seiten der polnischen Reiseliteraturforschung, die Mottys Auffassung nicht teilt.31 Eine ähnlich kritische These formuliert jedoch Izabela Kalinowska 2004, wenn sie sich auch in erster Linie auf die fiktionale Orientreiseliteratur beruft: Polnische Schriftsteller seien zuweilen in den Orient gereist, um ihre eigene Westlichkeit zu bestätigen und hätten sich aus diesem Grunde oft westlichen Mustern unterworfen. Sie stellt darüber hinaus fest, dass trotz unterschiedlicher politischer Situationen in West- und Ost(mittel)europa eine ähnliche Orientalismus-Mode herrschte.32 Es wird also im Folgenden für

29 REYCHMAN 1972 (wie Anm. 1), 19. 30 MOTTY, Marceli: Przechadzki po mieĞcie. Dziennik PoznaĔski, 1888-1891 [Stadtspaziergänge. Posener Tagebuch 1888-1891]. Bearb. v. Zdzisáaw GROT. Bd. 1. PoznaĔ 1957, ohne Seitenangabe. Zitiert nach MOLIK (wie Anm. 1), 58. Interessant für die Übersetzung ist, dass auch von der Hagen die Mitwirkung an der Entstehung eines – in seinem Fall deutschen – Nationalbewusstseins zugeschrieben wurde. JESSEN (wie Anm. 6), 287. So wäre eingehender zu untersuchen, ob und inwieweit die beiden bei der Publikation zusammengearbeitet haben bzw. haben können. Einen Anhaltspunkt dafür könnte das Auftauchen zweier neuer Fußnoten in der Übersetzung geben, die den deutschen Leser über die Bedeutung von Puáawy und die Person Józef Poniatowskis aufklärt. RACZYēSKI E., Malerische Reise 1825 (wie Anm. 7), 1-2. – RACZYēSKI

E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 7 bzw. 172, Anmerkungen. Sie

wurden vermutlich von RaczyĔski in Zusammenarbeit mit von der Hagen eingefügt. 31 Molik etwa verweist auf die alltäglichen Kontakte RaczyĔskis im Osmanischen Reich. MOLIK (wie Anm. 1), 58. 32 KALINOWSKA, Izabela: Between East and West. Polish and Russian nineteenthcentury travel to the Orient. Rochester, NY 2004 (Rochester Studies in Central Europe), 68.

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RaczyĔski zu prüfen sein, ob und wenn ja, aus welchen Beweggründen er westlichen Mustern folgt. Als Motivation für seine Reise wurden sowohl die Bereitschaft zur Reform der Gesellschaftsstrukturen im Osmanischen Reich als auch die Notwendigkeit, Sprache und Kultur im geteilten Polen zu verteidigen angeführt.33 Er sei „[e]nttäuscht über die politischen Entwicklungen und im Verlust der Hoffnung auf eine Wiederherstellung Polens“34 zu dieser Reise aufgebrochen. Es wäre also denkbar, dass RaczyĔski es als seine vaterländische Aufgabe verstand, vom Osmanischen Reich für eine Zukunft Polens zu lernen. Explizit im Band geäußert wird dies von ihm jedoch nicht.35 Liest man das Reisetagebuch mit Blick auf direkte, vordergründige Hinweise auf seine polnische Heimat, so fallen hauptsächlich historische Begebenheiten ins Gewicht. Am Anfang seiner Reise durch Wolhynien und Podolien kontrastiert er in knappen Beschreibungen mehrfach den Ruhm der Vergangenheit mit der Öde der Gegenwart. Am deutlichsten wird dies in Wáodzimierz, wo die „schmutzige[n] Hütten planlos neben den Trümmern prächtiger Kirchen und Schlösser hingestreut, einen traurigen Kontrast bilden gegen die Vergangenheit, die ebenso glänzend war, als der jetzige Zustand bedauernswürdig ist.“36 Sein Kommentar zu Ostróg (Abb. 1) lautet ähnlich: „Dieses elende Städtchen war ehemals befestigt. Das Schloß selbst, einst ein Sitz des Wohlstands und des Glanzes, ist jetzt dermaßen verfallen, dass man kaum einige Spuren davon findet […].“37 Der dazugehörige Kupferstich jedoch bildet mit der bewachsenen Ruine des Schlosses Ostróg auf einem Hügel im Hinter-

33 „W Dzienniku podróĪy do Turcji ukryte są juĪ podstawowe idee, które decydowaü miaáy o losach Wielkopolski w XIX wieku: przede wszystkim przeĞwiadczenie o potrzebnie pracy, obrony jĊzyka i kultury.“ BURKOT (wie Anm. 3), 65 [Kursivierung im Text, SJ]. 34 TRINKS (wie Anm. 10), 56. 35 Er beklagt lediglich die verpasste Polonisierung der wolhynischen Einwohner: RACZYēSKI

E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), 3 bzw.: „Diese Menschen, ohne alle Er-

ziehung, sind unreinlich und düster […]. Es fiel mir schwer, ihre Sprache zu verstehen. Unsere Voreltern haben einen großen politischen Fehler begangen, daß sie nicht alle Mühe angewendet haben, diese fremdartige, der russischen so ähnlichen Sprache bei diesem Volke umzuändern.“ RACZYēSKI E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 9. 36 RACZYēSKI E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 7 bzw. RACZYēSKI E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), 2. 37 RACZYēSKI E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 9 bzw. RACZYēSKI E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), 4.

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grund, umgeben von Katen, Fluss und Mühle sowie beschäftigten Fischern im Vordergrund, eine ausgewogene und geradezu idyllische Komposition. Der verlorene Glanz der Vergangenheit zeigt sich im Bild also weit weniger drastisch, sondern stattdessen vielmehr romantisiert. Daneben lobt RaczyĔski auch die nutzbringende Naturschönheit dieser Landschaft, die nicht nur den Maler, sondern auch den rational auf die Fruchtbarkeit des Bodens bedachten Menschen anspreche.38 Auf diese Doppelfunktion von Schönem und Nützlichem wird später noch zurückzukommen sein. Die in den Beschreibungen des Südosten Polens bzw. der Ukraine zutage kommende örtlich und zeitlich nebeneinander existierende Mischung von Zivilisation und Verfall, oder drastischer mit Larry Wolff ausgedrückt: Barbarei, ist es übrigens, die westeuropäischen Reisenden des 18. Jahrhunderts in Polen und Russland – umgekehrt aber auch in Frankreich – signifikant erschien.39

38 „Kray miĊdzy àuckiem i Dubnem zdawaá mi siĊ nader piĊknym, wszystkie niemal wzgorki przyiemniemi karmią oko widoki. [...] Wzgórki w tych okolicach dosyü wyniosáe, dobrze uprawne i obfitym okryte plonem, powabnieyszy w oczach moich wystawiaią obraz, niĪeli ogromny skaá granitowych lub marmurowych, które zachwycaią malarza, lubo ie przyrodzenie na wieczną niepáodnoĞü skazaáo. Patrząc na tĊ ziemiĊ tak Īyzną, na tĊ áąki tak zielone, na te liczne trzody, na te rzeczki i stawy, w krainĊ Gessnera wstĊpowaü mniemaáem.” RACZYēSKI E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), S. 3. Die deutsche Übertragung lautet etwas abweichend: „Die Landschaft zwischen Luck und Dubno ist höchst malerisch; fast jeder Hügel bietet dem Auge eine eben so ausgebreitete als reizende Aussicht dar. […] Sanft erhobene Hügel, wohl angebaut, und mit üppig wachsenden Saaten bedeckt, gewähren, meiner Meinung nach, dem Auge ein gefälligeres Bild, als Massen von Marmor und Granit-Felsen, über welchen die Natur gleichsam einen Fluch ewiger Unfruchtbarkeit ausgesprochen hat, und welche in einem Maler selbst, höchstens nur den Maler, nicht den Menschen zugleich, ansprechen können. Der fruchtbare Boden dieses Landes, das frische Grün der Wiesen, zahlreiche Herden eines bekanntlich ausgezeichneten Hornviehs, anmutige Haine, klare Gewässer stellen ein Bild zusammen, welches meinen Geist plötzlich in jene arkadischen Gefilde versetzte, die ein Theokrit und Geßner so glücklich gedichtet und besungen haben.“ RACZYēSKI E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 8. 39 Wolff verweist auch auf Balzacs „Comédie humaine“, die die Slaven als Verbindungsglied zwischen beidem nennt. WOLFF, Larry: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment. Stanford 1994,13, 22. Wolffs Ansatz ist allerdings bereits mehrfach als einseitig kritisiert worden. So stellte etwa Bernhard Struck sehr ähnliche Rückständigkeitstopoi auch für die Wahrnehmung

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Abbildung 1: Die Ruinen des Schlosses Ostróg (Zeichnung: Professor Vogel, Warschau, Stich: Hammer, Dresden), RaczyĔski E. 1821, Tafel 2.

Während allerdings Edward RaczyĔski 1814 immer noch etwas Schönes, z.B. die Landschaft oder die Vergangenheit, nennt, nahmen die Reisenden aus dem westeuropäischen Ausland wie etwa John Coxe 1785 offenbar nur Armut und Elend wahr.40 Interessant ist im selben Zusammenhang auch der Hinweis Coxes auf die „eher asiatische als europäische“ Kleidung der Bewohner Ostmitteleuropas, die er auch als „tatarisch“ oder „skythisch“ beeinflusst beschreibt – die also, unabhängig von der tatsächlichen Übereinstimmung im Aussehen der Kleidung

deutscher Reisender in Frankreich fest: STRUCK, Bernhard: Nicht West – nicht Ost: Frankreich und Polen in der Wahrnehmung deutscher Reisender zwischen 1750 und 1850. Göttingen 2006, 92 Anm. 134 sowie kurz SCHENK, Frithjof Benjamin: Das Paradigma des Raumes in der Osteuropäischen Geschichte. In: zeitenblicke 6/2 (2007), 8-9, http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html. 40 WOLFF (wie Anm. 39), 13, 28.

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der genannten Völker, nach der Bezeichnung zu urteilen zumindest sehr „exotisch“ wirken mussten.41 Nach seiner Ankunft in Konstantinopel scheinen RaczyĔskis heimatliche Gefühle an mehreren Stellen auf. Mit augenscheinlichem Stolz, aber dennoch lediglich in den Fußnoten seines polnischen Textes weist RaczyĔski auf die Beteiligung der Vorfahren der Polen bei Kreuzzügen im 12. Jahrhundert und auf die Verbindungen zwischen den Königen Polens und Zyperns im 16. Jahrhundert hin.42 Durch die Stadt wandernd, bemerkt er weiter, dass in einem inzwischen zerstörten Palast des Sultans im Jahr 1701 der Großbotschafter Rafaá LeszczyĔski (1650-1703) gewohnt habe. Üblicherweise wohnten die Gesandten in Galata oder Pera, aber dem polnischen Gesandten sei die Ehre zugekommen, direkt in Konstantinopel und noch dazu in einem Sultanspalast Wohnung zu nehmen. Des prachtvollen Einzugs LeszczyĔskis mit einem aus 700 Menschen bestehenden Gefolge – nach der deutschen Version sollen es sogar 900 gewesen sein – gedächten die Türken noch immer.43 Weiterhin erzählt RaczyĔski von dem polnischen Rudersklaven Marek Jakimowski, dessen abenteuerliche Geschichte er passenderweise auf einer Schiffsfahrt zwischen Lesbos und Kleinasien wiedergibt.44 Jakimowski war nach seiner Gefangennahme infolge der polnisch-osmanischen Schlacht bei Cecora (rum. ğuĠora) 1620, die mit einer vernichtenden Niederlage Polens endete und erst im Folgejahr revanchiert werden konnte, auf einer osmanischen Galeere gefangen gehalten worden. 1627 hatte er sich diese Galeere erobert, war damit gen Rom gesegelt und hatte die Schiffsflagge dem Papst sowie eine weitere dem polnischen Nationalheiligen, dem heiligen Stanislaus in Krakau gestiftet.45 Stolz

41 Ebd., 29. 42 RACZYēSKI E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), 76-77 und 43-44. Beides fehlt in der deutschen Ausgabe. 43 RACZYēSKI E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 21 bzw.: „W paáacu tym mieszkaá LeszczyĔski, Woiewoda àĊczycki, od Augusta II. Króla Polskiego do Stambuáu wysáany dla potwierdzenia pokoiu Karáowitzkiego. Turcy wspominaią dotąd Ğwietne iego poselstwo z siedmiuset osób záoĪone, i szczególnym mienią to byü wzglĊdem, Īe Porta Posáowi Polskiemu, nie w Pera lub Gaáacie, lecz w samym Stambule i w paáacu Cesarskim wyznaczyáa mieszkanie.“ RACZYēSKI E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), 22. 44 RACZYēSKI E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), 21, 84-85. 45 Der Hinweis, dass Jakimowski 1620 bei Cecora in osmanische Gefangenschaft geraten war, findet sich dabei nur im polnischen Original. RACZYēSKI E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), 105.

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möchte RaczyĔski diesem Helden des 17. Jahrhunderts ein Siegeszeichen errichten. Im Original spricht er von einem Denkmal mit dem polnischen Adler, der in der deutschen Übersetzung fehlt. Stattdessen wird dort Jakimowski als „Lehide“ bezeichnet.46 Lehistan war im 17. Jahrhundert die türkische Bezeichnung für Polen, abgeleitet von dem legendären Urvater Lech. In beiden Fällen bemerkenswert erscheinen in dieser Begebenheit die Parallelen zum einen zu den Fahnenvotivgaben des polnischen Königs Jan III. Sobieski (1629-1696) in Rom und Krakau, die bekanntlich nach Siegen über die Osmanen erfolgten, welche ihn – zum anderen – auch respektvoll als „Löwen von Lehistan“ bezeichneten.47 Trotz RaczyĔskis von der Forschung attestierter „Turkophilie“ überwiegt also an diesen Stellen seine Vaterlandsliebe. Keine der geschilderten Begebenheiten fand, was zunächst überraschen mag, Niederschlag in einer Druckgraphik, obwohl das zweifellos einen patriotischen Habitus des Werkes unterstrichen hätte. Auf der Bildebene beschränkten sich RaczyĔski und Fuhrmann vollends auf die Wiedergabe der selbst in Augenschein genommenen Dinge.

46 „PrzeiĊty uszanowaniem dla walecznego Polaka, pragnąáem wznieĞü mu T r o p h e u m , czyli znak zwyciĊstwa, Polskim ozdobiony oráem, na tych skaáach, które mĊztwa iego Ğwiadkiem byáy.“ RACZYēSKI E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), 106 [Sperrung im Text, SJ]. Vgl. dazu auf Deutsch: „Stolz auf die echt männliche Tat des Lehiden, wie gern hätte ich ihm, vom Altertum die begeisternde Sitte entlehnend, auf diesem Felsen ein Siegeszeichen errichtet, dem mutigen Krieger auf dem klassischen Boden des Heldenmuts!“ RACZYēSKI E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 85. Die noch 1627 in Italien verbreitete Begebenheit um Jakimowski wurde 1628 auf Polnisch in Krakau veröffentlicht und RaczyĔski durch Graf Tytus von DziaáyĔski zugänglich gemacht: „rzadkie to dzieáko znayduje siĊ w zbiorze Tytusa Hr. DziaáyĔskiego.“ RACZYēSKI E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), 105, Anmerkungen. Die Übersetzung ergänzt: „ein[em] um die vaterländische Geschichte wohlverdiente[n] Sammler“, RACZYēSKI E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 181, Anmerkungen. 47 Zu den ambivalenten Beziehungen zwischen der Rzeczpospolita und dem Osmanischen Reich in der kriegreichen Epoche des 16. und 17. bis in das ausgehende 18. Jahrhundert hinein und dem Niederschlag des Verhältnisses in den Erinnerungskulturen des polnisch-litauischen Adels vgl. die Dissertation der Verfasserin: JAGODZINSKI,

Sabine: Die Türkenkriege im Spiegel der polnisch-litauischen Adelskultur.

Kommemoration und Repräsentation bei ĩóákiewski, Sobieski und Radziwiáá. Ostfildern 2013 (Studia Jagellonica Lipsiensia 13), im Druck.

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E IN

EUROPÄISCHER

B LICK

Um die Charakteristik des Reiseberichts und der Reisebilder im europäischen Kontext genauer zu positionieren, werden sie im Folgenden mit einigen typischen Merkmalen von Orientreisen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts verglichen.48 Als charakteristische Interessenschwerpunkte können gelten: die literarische Vorbereitung der Reise und die Orientierung an bewährten Routen, das Interesse für insbesondere antike Architektur und andere Sehenswürdigkeiten, aber auch für den von Geheimnissen und Erotik umwitterten Serail, und schließlich für die Einwohnerschaft des fremden Landes. Besonders letztere wurden gern unter dem Gesichtspunkt des Pittoresken betrachtet. Reiseberichte jener Zeit befinden sich auf der Schwelle zu einer neuen Entwicklungsstufe. Sie führen zwei mentalitätsgeschichtliche Traditionen aus dem 18. Jahrhundert fort: die Tradition des aufgeklärt-statistischen sowie die des romantisch-empfindsamen Werkes. Deren Suche nach dem völkerverbindenden Allgemeinmenschlichen verschob sich dann in der Restaurationszeit immer stärker zum ‚nationellen‘ Detail.49 Als Ausgangspunkt für Reisen in den Orient diente zumeist Griechenland mit Konstantinopel. Als vorrangiges Ziel galt jedoch Ägypten, gefolgt von Pa-

48 Vgl. dazu aus der mittlerweile reichen Forschung zur Reiseliteratur u.a.: Reisen und Reisebeschreibungen im 18. und 19. Jahrhundert als Quellen der Kulturbeziehungsforschung. Hg. v. Boris I. KRASNOBAEV, Gert ROBEL und Herbert ZEMAN. Essen 1987 (Studien zur Geschichte der Kulturbeziehungen in Mittel- und Osteuropa 6). – Einen Schwerpunkt auf Russland setzt: KALINOWSKA (wie Anm. 32). – Dagegen Griechenland in den Blick nimmt GASCHKE (wie Anm. 23). Besonders für deutschsprachige Reiseliteratur wichtig ist: Der Deutschen Morgenland. Bilder des Orients in der deutschen Literatur und Kultur von 1770 bis 1850. Hg. v. Cahris GOER und Michael HOFMANN. Paderborn 2008. Ferner DRACE-FRANCIS, Alex: Towards a Natural History of East European Travel Writing. In: Under Eastern Eyes. A Comparative Introduction to East European Travel Writing on Europe. Ed. by Wendy BRACEWELL and Alex DRACE-FRANCIS. Budapest-New York 2008, 1-26. 49 ALLOM, Thomas: Istanbul und der Bosporus. Die Metropole am Goldenen Horn und ihre Nachbarorte nach Stahlstichen von den Zeichnungen Thomas Alloms. Mit einer Einführung zur Orientreiseliteratur des 19. Jahrhunderts von Karin Hörner. Hamburg 1986, 13.

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lästina.50 RaczyĔskis Reiseziel fand sich demnach durchaus in der Tradition, war aber zusätzlich von seinem rein persönlichen Interesse gekennzeichnet. Ein wichtiges Merkmal der Reisen war wie oben erwähnt die penible historische und literarische Vorbereitung. Dies geschah vornehmlich anhand klassischer Literatur und älterer Reiseberichte. Letztere stammten vor dem 19. Jahrhundert besonders von Franzosen, im 19. Jahrhundert selbst mehr von Engländern und Deutschen.51 Neben Homer, Strabon und Pausanias zur Antike ist die wichtigste Referenzgröße der Reiseberichte für RaczyĔski die 1776 unternommene „Voyage pittoresque dans l’Empire Ottoman, en Grèce, dans la Troade, les îles de l’Archipel et sur les cotes de l’Asie-Mineure“ des Grafen Choiseul-Gouffier.52 Sosnowski und Kurtzmann formulieren dieses Phänomen 1885 in Bezug auf RaczyĔski so: „[W]ir finden ihn […] literarisch so vorzüglich darauf vorbereitet, als wenn die Reise selbst nur die Controle und die praktische Bestätigung des seinem Geiste vorschwebenden Reisebildes und des ungemein reichen Materials, das er in seinem Gedächtnisse bereits angehäuft hatte, bilden sollte.“53 Dies ist natürlich vom heutigen Standpunkt aus ein etwas zweifelhaftes Lob und eine problematische Aussage, denn sie zeigt die Gefahr, dass gerade inhaltlich gründlich präpariertes Reisen zu Erlebnisblindheit und der bildlichen Wiedergabe bereits „vorgefilterter“ Eindrücke führen kann.54 Zweifellos macht sich ein jeder Reisender – da-

50 Das ergab die Analyse Erika Günthers, die ihre Untersuchung über deutsche Maler im Orient entsprechend eines fiktiven, aber typischen Reiseweges aufgebaut hat. GÜNTHER

(wie Anm. 24), 9.

51 ALLOM (wie Anm. 49), 23. Vgl. auch das Vorwort, das RaczyĔski als „der so belesene und kenntnissreiche Reisende“ bezeichnet. RACZYēSKI E., Malerische Reise 1825 (wie Anm. 7), n.p. Dieser Umstand trifft natürlich in besonderem Maße auf die Besuche griechischer Altertümer zu, die man gleichsam mit „Strabon und Homer unterm Arm“ aufsuchte und vor Ort mit der Literatur abglich, was auch RaczyĔski ausgiebig praktizierte. 52 RACZYNSKI E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), 106, 113 und CHOISEUL-GOUFFIER, Marie Gabriel Florent Auguste, Comte de: Voyage pittoresque dans l’Empire Ottoman, en Grèce, dans la Troade, les îles de l’Archipel et sur les cotes de l’AsieMineure. 2. éd. augm. de notices historiques d’après les voyageurs modernes les plus célèbres, vol. 1-4, Paris 1842 (1. Aufl. ersch. Paris 1782, 1809, 1822, 1824). 53 SOSNOWSKI/KURTZMANN (wie Anm. 11), 5. Dessen ungeachtet sah sich Edward RaczyĔski dem Vorwurf seines Bruders Atanazy ausgesetzt, die Reise überstürzt angetreten und zu kurz bemessen zu haben – so MOLIK (wie Anm. 1), 58. 54 Oder wie Rainer S. Elkar schreibt, dass die Problematik der Reisen in der Spannung zwischen „der radikalen Aufforderung zu einer Selbstbildung, die offen gegenüber der

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mals wie heute – zuerst Bilder im Kopf, wenn er sich mit dem Ziel seiner Reise auseinandersetzt. Wenn Bilder von der Antike dann vor Ort mit der vermeintlichen Realität verglichen werden, um „nach der Natur“ – aber beeinflusst von Wissen und Vorstellungen des Reisenden – Bilder zu zeichnen, findet er sich mit einer Art irrealen Realität konfrontiert, da die „Natur“ aus Ruinen und Fragmenten besteht, die weiterhin mit Leben aus dem Bilderfundus im Kopf gefüllt werden müssen.55 Bei der Beschäftigung mit der osmanischen Lebenswelt ist der Kontrast nicht so extrem, da der Reisende in die lebendige Realität hineinkommt. Wie die vor Ort entstehenden materiellen Bilder dann schließlich aussehen, soll ein Blick auf Konstantinopel mit RaczyĔskis und Fuhrmanns Augen zeigen.

S EHENSWÜRDIGKEITEN – B AUTEN

UND

L ANDSCHAFTEN

Ganz traditionell erfolgte auch RaczyĔskis Einfahrt nach Konstantinopel per Schiff.56 Er ist erwartungsgemäß zunächst einmal überwältigt und rühmt die begünstigte Lage der Stadt sowohl aus der Sicht eines Malers als auch aus der eines Statistikers („statystik“), was in der deutschen Ausgabe allerdings mit „Staatsmann“ wiedergegeben wird.57 Dementsprechend zeigt er als erste Abbildungen eine Ansicht des Serails sowie eine große und detaillierte, ausklappbare Karte der Stadt (Abb. 2). Auf diese Weise wird er gleichsam beiden Blickwinkeln gerecht: dem des Künstlers, der sich von jeher für die geheimnisvolle Pracht

Welt sein sollte, und dem Maß an Vorbereitungen und Vorinformationen, die auf ein vorbedachtes, weit weniger spontanes Reisen abzielten“, besteht. ELKAR, Rainer S.: Reisen bildet. Überlegungen zur Sozial- und Bildungsgeschichte des Reisens während des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Reisen und Reisebeschreibungen (wie Anm. 48), 5182, hier 60. 55 SINKO (wie Anm. 13), 36. Besonders RaczyĔskis sechstes Kapitel über das IdaGebirge veranschaulicht dieses antike Leben, das auch vor Ort vor dem geistigen Auge erweckt wird bzw. werden muss. RACZYēSKI E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), 116-143, RACZYēSKI E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 93-116. 56 ALLOM (wie Anm. 49), 40. 57 RACZYēSKI E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), 16, RACZYēSKI E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 16-17.

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des Serails interessierte, und dem des nüchternen Staatsmannes, der vor allem die topographischen Vorteile der Stadt schätzt.58 Abbildung 2: Karte von Stambul (Stich: Agreleski, Rogalin), RaczyĔski E., Dziennik podróĪy 1821, Tafel 8.

Im Inneren Konstantinopels ist er dann – wie viele Reisende vor ihm – ob der engen und schlechten Straßen enttäuscht.59 Diesmal ist es der ostmitteleuropäische Reisende, dem an seinem Reiseziel die Mischung von Zivilisation und „Barbarei“ auffällt. Dennoch bemüht er sich immer um ein objektives Urteil: „Die Reise von Gelibolu nach Konstantinopel gab mir einen neuen Beweis, wie irrig die in Europa allgemeine Meinung ist, von dem verwahrlosten Zustand der osmanischen Provinzen.“60 Im Folgenden besichtigt er die typischen Sehenswür58 Für den Staatsmann sind auch die von RaczyĔski breit geschilderten militärischen Gegebenheiten wie z.B. die Geschichte der Janitscharen interessant, der er fast ein ganzes Kapitel widmet und die er ebenso wissensreich wie kritisch betrachtet. RACZYēSKI

E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 46, 66, 117ff., 8. Kapitel, 137ff.

59 RACZYēSKI E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), 20. 60 RACZYēSKI E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 128.

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digkeiten der Stadt. Er zeigt lediglich im Vergleich zu anderen Reisebeschreibungen etwas mehr architektonische Pläne – wobei er aber womöglich seinem französischen Vorbild Marie Gabriel Florent Auguste Comte de ChoiseulGouffier (1752-1817) folgt, der ebenfalls diesen Schwerpunkt setzte. Insbesondere für die Moscheenbaukunst und die schönen öffentlichen Plätze Konstantinopels zeigt RaczyĔski viel Sachverstand und Bewunderung. So findet er die Sultan-Ahmed-Moschee (Blaue Moschee) (Abb. 3) aufgrund ihrer ausgewogenen Verhältnisse viel gelungener als die Hagia Sophia (Abb. 4).61 Er wählt für die Darstellung eine gewissermaßen aus dem Stadtbild herausgelöste, verhältnismäßig nüchterne Architekturstudie der Hauptansicht der Sultan-AhmedMoschee und schreibt dazu: „Sehr geschickt wußten […] Sultan Ahmets Baumeister einen Hauptfehler zu vermeiden, welcher in meinen Augen die Sophien-Kirche verunziert. Die Hauptkuppel dieses kolossalen Gebäudes ist ungemein flach; sie mag also für ein Meisterstück in der Ausführung gelten, doch schön ist sie darum nicht. Die Hauptkuppel der Alt Minareli [Kursivierung SJ] auf dem Hippodrom ist weit höher und entspricht viel besser den Verhältnissen des Ganzen. Die leichten Minares oder Türme dieser Moschee und die kleineren Seitenkuppeln, welche sich stufenartig übereinander wölben, dürften jeden Bauverständigen befriedigen, der bei der Beurteilung dieses Tempels die Grundsätze der griechischen oder römischen Baukunst auf einen Augenblick außer Acht lassen will. Harmonie und Größe machen die Schönheit der Baukunst aus, und beide sind, glaube ich, in diesem edlen Gebäude unverkennbar. Die Moschee […] ist von herrlichen Platanen beschattet, welche die Türken neben ihren Prachtgebäuden vorzugsweise anzupflanzen pflegen. Ein Palladio dürfte diese Sitte missbilligen, indem dadurch einzelne Teile für den Beschauer verloren gehen, doch ist dieses bei den Türken weniger zu berücksichtigen, weil ihre Baukunst nicht so reich an äußeren Verzierungen ist. Überdem gewährt das herrliche frische Grün der Platanen, durch welches die großen Baumassen hervorschauen, eine so malerische Wirkung, daß dabei jede Kritik verstummen dürfte.“62

An seinem Lob der Moscheenarchitektur fällt auf, dass RaczyĔski die griechisch-römische Antike nicht als Maß aller Dinge begreift, sondern gerade auch die Formen einer davon verschiedenen Schönheit und Ästhetik (an-)erkennt. Die reine Architektur wird zudem in der Realität und in der Bilddarstellung belebt

61 RACZYēSKI E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), 21, RACZYēSKI E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 21. 62 RACZYēSKI E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 21. RACZYēSKI E., Dziennik podróĪy 1821 (wie Anm. 2), 22.

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und erhält ihren „malerischen“ Charakter durch die Natur und die die Bauten bevölkernden osmanischen Einwohner. Diese entscheidende Kategorie des aus der Distanz gesehenen Ästhetischen und Malerischen Konstantinopels tritt auch in Reisebeschreibungen britischer Zeitgenossen zutage.63 Abbildung 3: Sultan-Ahmed-Moschee (Blaue Moschee) (Skizze: L. Fuhrmann, Stich: Hammer, Dresden), RaczyĔski E. 1821, Tafel 11.

63 SCHIFFER, Reinhold: Oriental Panorama: British Travellers in 19th Century Turkey, Amsterdam [u.a.] 1999 (Internationale Forschungen zur allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft 33), 135-149.

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Abbildung 4: Moschee Hagia Sophia, RaczyĔski E. 1821, S. 58.

Einen besonderen Schwerpunkt in RaczyĔskis Interesse bilden sämtliche Bauten, die mit der Wasserversorgung zu tun haben und Konstantinopels Umgebung prägen (Abb. 5).64 RaczyĔski bewundert den ebenso praktischen wie malerischen Charakter dieser Bauwerke. An diesem Punkt zeigt sich erneut die bereits zu Beginn erwähnte, von RaczyĔski äußerst geschätzte Verbindung von Nützlichem und Schönem. RaczyĔski lobt auch die privaten und öffentlichen Initiativen, die die Pflege alter und die Errichtung neuer Wasserkünste betreiben.65 Insgesamt betrachtet befinden sich jedoch seine Besichtigungstouren durch die Stadt bereits im Einklang mit den Besichtigungspfaden und „touristischen“ Motiven, die sich nach 1820 für nahezu jeden Besucher einbürgern sollten.66

64 Weitere Beispiele sind die Zisterne Kaiser Konstantins (Tafel 18), die Wasserleitung Kaiser Vales (Tafel 19), Die Wasserleitung in Bahcekoy (Bahçeköy) (Tafel 35), eine hydraulische Anlage (Tafel 40), der überwölbte Springbrunnen im Dorf Beykos (Beykoz) (Tafel 41) oder die öffentlichen Brunnen (Tafel 76 und 77). 65 Z.B. RACZYēSKI E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 55-57, 61. 66 Vgl. GASCHKE (wie Anm. 23), 109, 170-175.

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Abbildung 5: Brunnen in Tophane, gezeichnet von der Gräfin Konstancja Potocka (Skizze: L. Fuhrmann, Stich: Hammer, Dresden), RaczyĔski E. 1821, Tafel 27.

M ENSCHEN

UND

G ENRESZENEN

Die literarische Vorbildung der europäischen Reisenden schloss häufig genug Kenntnisse über die türkische Bevölkerung oder gar anderer, kleinerer Bevölkerungsgruppen des Osmanischen Reiches aus oder war stark stereotypenbehaftet, insofern als die meisten Reisenden im 19. Jahrhundert vollkommen unter sich blieben. Im Gegensatz dazu ist bei Edward RaczyĔski tatsächlich eine Kontaktsuche zu beobachten. Zwar wohnt auch er in dem von Europäern bevorzugten Stadtteil Pera, kritisiert aber zugleich diese teils freiwillige, teils aufgezwungene Abgrenzung der Gesandten, Nationalitäten und Ethnien, da er persönlich sich an dem Völkergemisch in der Stadt erfreue.67 Mit einem osmanischen Artillerieoffi-

67 RACZYēSKI E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), 184-187, RACZYēSKI E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 37ff., 150.

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zier68 besichtigt er Kasernen und Zeughaus – was RaczyĔski als ehemaligen Militär besonders interessiert.69 Über einen polnischen Landsmann namens Ludwik Axak (Aksak)70 lernt er zudem verschiedene Würdenträger kennen, so z.B. Abdulkadir Bey, den Sohn eines Großwesirs; Hasan Bey, den Befehlshaber von Gallipoli (Gelibolu) und Yusuf Paúa, einen verbannten Großwesir.71 Bei diesen Männern zu Gast erweist sich RaczyĔski als aufmerksamer Beobachter, der deren Gastfreundschaft und unkomplizierte Hilfeleistung auf seiner Reise lobt,72 jedoch gegenüber dem übermäßigen Bekehrungseifer einer der Muslime merklich auf Distanz geht.73 Neben der hier vorwiegend auftretenden Oberschicht begegnet RaczyĔski aber auch ganz gewöhnlichen Einwohnern des Reiches, etwa wenn er unterwegs in Herbergen (sog. hans) oder Kaffeehäusern Rast macht. (Abb. 6) Das Kaffeehaus in Gallipoli zeigt eine solche Situation. Dargestellt wird ein offener Innenraum, der sich mittig zu einem weiteren Raum dahinter öffnet und damit das

68 Auf Türkisch „Topci-Baszi“. RACZYēSKI E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), 52 bzw. „Topçubaúi“. RACZYēSKI E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 46. 69 RACZYēSKI E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), 52; RACZYēSKI E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 46. 70 Es handelt sich um den wolhynischen Abgeordneten zum vierjährigen Sejm (17881792), Ludwik Aksak, der nach seiner Auswanderung 1795 den osmanischen Titel „Ehrengast der Pforte“ bekommen habe. RaczyĔski selbst spricht davon als „Mussafir“. RACZYēSKI E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), 57. Die deutsche Neuausgabe spricht korrekter von „müsafir“, RACZYēSKI E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 50 und Burkot etwas irrtümlich von „mussafita“. BURKOT 1988 (wie Anm. 3), 56. 71 RACZYēSKI E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), 57, 154-156, RACZYēSKI E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 50, 124-126. 72 Die Rückreise RaczyĔskis nach Konstantinopel sollte eigentlich über den Seeweg gehen, was aber aufgrund von ungünstigen Windverhältnissen verhindert wurde. Hasan Bey in Gallipoli überzeugte ihn daraufhin, auf dem unüblicheren Landweg zu reisen, was RaczyĔski nicht bereute, und gab ihm aus freien Stücken Begleitschutz mit. RACZYēSKI

E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), 155-156, RACZYēSKI E., Malerische

Reise 1997 (wie Anm. 4), 124-126. 73 „[E]r erwiderte mit einem bedeutenden Lächeln: ‚Wie ich sehe, mißfällt dir unser Land nicht, seine Einwohner haben dich liebevoll aufgenommen: bleibe doch hier, du sollst uns ein Landsmann, ein Bruder werden.’ Ich glaubte hier die Unterredung abbrechen zu müssen und verließ alsbald den wohlmeinenden Proselytenmacher.“ RACZYēSKI

E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 125 bzw. RACZYēSKI E., Dziennik

podróĪy (wie Anm. 2), 155.

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Bild in zwei Hälften teilt. Das lebhaft agierende Publikum besteht aus verschiedenen anonymen – ausschließlich männlichen – Gästen in mannigfaltigen orientalischen Trachten beim Rauchen, Diskutieren und Kartenspielen. Auffällig ist der zentral positionierte junge Mann in europäischer Kleidung, der mit verschränkten Armen beim Kartenspiel zusieht. Es handelt sich höchstwahrscheinlich um RaczyĔski selbst. Durch seine Stellung und die auf ihn gerichtete Rückenfigur am rechten Bildrand wird er gleichzeitig hervorgehoben und von den Einheimischen abgesondert. Abbildung 6: Kaffeehaus in Gallipoli (Gelibolu) (Stich: L. Fuhrmann, beendet: Wolf, Berlin), RaczyĔski E. 1821, Tafel 75.

Im Text beschreibt der Autor eine Rast nahe Gallipoli nach einer kurzen Schilderung des einfachen, mehrzweckartig genutzten Raumes so: „Ich traf in diesem Rasthaus einen Derwisch aus Rodosto, mehrere Matrosen und einen aus Gelibolu nach Konstantinopel zurückkehrenden Kaufmann. Die verschiedenartigen Beschäftigungen dieser Menschen, deren einige ihre Pferde versorgten, andere ihr Abendessen zubereiteten, noch andere Kaufmannsgüter, Ballen und Kisten ordneten, stellten ein Bild zusammen, welches dem einsamen Ort viel Leben mitteilte und dem unbeschäftigten Fremdling eine angenehme Unterhaltung gewährte. […] Nach einem Abendessen, das eben so einfach war als die uns angewiesene Wohnung, brachte unser geschäftiger Wirt

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das zum Kaffeekochen nötige Gerät herbei und bereitete das Getränk auf einem kleinen Herd […].“74

Der sich selbst etwas kokettierend „Fremdling“ nennende RaczyĔski ist in der geschilderten Szene zwar „unbeschäftigt“, aber nicht unbeteiligt, da er offensichtlich Gespräche anknüpfen konnte. Der Kontakt zu den flüchtigen Reisebekanntschaften bleibt (natürlich) oberflächlich, aber hinterlässt bei RaczyĔski einen positiven Grundeindruck. Er bemüht sich in der Regel um eine differenzierte Meinungsbildung, selbst wenn er schließlich – ganz in der Tradition bisheriger Reiseberichte75 – einen „Nationalcharakter der Türken“ zu formulieren sucht, der allerdings ihre, seiner Meinung nach in Europa verkannten, positiven Charakterzüge hervorhebt. Demzufolge seien die türkischen Einwohner des Osmanischen Reiches redlich und treu, karitativ und familienbewusst, gastfreundlich, geschäftstüchtig, aber auch abergläubisch. Er lobt die breite Alphabetisierung, betont den lebhaften Eifer der Osmanen für Glauben und Vaterland, bedauert aber die Veraltung ihrer einst ruhmreichen Militärstrukturen.76 In der deutschen Ausgabe wird diese konzentrierte Charakterisierung noch ausgeweitet durch die erstaunliche Bemerkung, dass, wenn die Türken auch keine klassische Bildung im abendländischen Sinne besäßen, sie doch über eigene Dichtung und Geschichtsschreiber verfügten. Daher könne keiner, der Europäer und der Türke, den anderen als Barbaren bezeichnen.77 Den schriftlichen Aussagen gegenüber tritt im Bild die Dichotomie Europäer – Orientale stärker hervor, da sie die Szene auf eine der Leservorstellung entsprechend „typischen“ Kaffeehausszene beschränkt. Die Gäste des hans und andere Figurenstudien bleiben vergleichsweise stark typisiert und älteren Trachtenbüchern verhaftet. Das „Bild“ des Orientalen im wörtlichen Sinne scheint doch durch das soziale Gedächtnis relativ fest vorgeprägt zu sein.78 Nicht zuletzt ist die „allgemeineuropäische“ Darstellungsweise sicher auch der Publikationsabsicht geschuldet.

74 RACZYēSKI E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 127. 75 STRUCK, Bernhard: Vom historisch-klimatischen Raum zum politischen Raum. Europas mentale Geografien um 1800. In: Themenportal Europäische Geschichte 2007, URL: http://www.europa.clio-online.de/2007/Article=186 (12.08.2008). 76 RACZYēSKI E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), 129-131, 160-161. 77 RACZYēSKI E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 130. 78 Das lange Überdauern von „imagines“ im sozialen Gedächtnis stellt fest: JAHODA, Gustav: Das Überdauern der Bilder: Zur Kontinuität der Imagines vom Anderen. In: Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hg. v. Harald WELZER. Hamburg 2001, 260-275.

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Abbildung 7: Ansicht des ersten Hofes des Serails (Skizze: L. Fuhrmann, Zeichung: Duvivier, Wien, Stich: Frenzel, Dresden), RaczyĔski E. 1821, Tafel 21.

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Sowohl bei den landschaftlichen als auch bei den figürlichen Motiven in RaczyĔskis Reisetagebuch berühren und überschneiden sich zwei Begriffe, die in den Reiseberichten des 18. und 19. Jahrhunderts immer wieder thematisiert werden: das Orientalische und das Malerische. Etwas, das als Inbegriff des Osmanischen Reichs in keiner Reisebeschreibung fehlen darf, ist der Serail. Dem Reiz dieses typischsten Gegenstands der Neugier eines jeden Orientreisenden kann sich auch Edward RaczyĔski nicht entziehen. Als charakteristisch dafür sei die Szene genannt, in der er beschreibt, wie es dem Maler Fuhrmann trotz des ausdrücklichen Verbots eines wachhabenden Janitscharen gelingt, den ersten Hof des Serails (Abb. 7) zu zeichnen.79 RaczyĔski empfindet hier durchaus gemischte Gefühle. Er beschreibt den Serail als zwar freundlich-anmutig von außen, aber düster und beklemmend, in der deutschen Übersetzung sogar als schauerlich, von innen: 79 RACZYēSKI E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), 32-33.

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„Die Ansicht des Serails von der See her ist außerordentlich reizend. Leichte Moscheentürme (die Minares), vergoldete Kuppeln und hohe Zypressen stellen ein anmutiges Bild zusammen. Wie verschieden ist aber der Eindruck, den der Reisende beim Eintritt in das Tor des so freundlich scheinenden Ortes empfängt! Düstere Gesichter der schwarzen und weißen Verschnittenen, hohe Mauern, zahlreiche Wächter, drohende Gitter, ja, ich möchte sagen, die zürnenden Schatten der hier Gemordeten umgeben ihn von allen Seiten. Alle Täuschung ist zerronnen.“80

RaczyĔski erkundigt sich zwar – vor Ort, aber vor allem in der Literatur – nach den Gepflogenheiten im Serail, wie z.B. der Anzahl der dort lebenden Frauen, dem Phänomen der „sapphischen Liebe“, der Gruppe der Eunuchen usw., um sie seinen daran zweifellos interessierten Lesern mitteilen zu können,81 verzichtet aber auf eine bildliche Innendarstellung, wie sie später z.B. Thomas Allom präsentierte.82 Diese hätte zwangsläufig erfunden sein müssen, da RaczyĔski keinen Zugang zum Serail erhalten hat, und was deshalb – urteilt man nach den übrigen Kupferstichen – seinem Grundsatz, nur selbst Gesehenes zu skizzieren, widersprochen hätte. Zudem benutzt RaczyĔski in den entsprechenden Passagen häufig unpersönliche Formulierungen, etwa mit Hilfe der dritten Person Singular und der Verwendung von „man“ und „es“, was stark darauf hindeutet, dass er bereits überlieferte Ansichten wiedergibt.83 Selbst wenn er die Rede auf Geschlechterbeziehungen bringt und über die unterschiedlichen Geschlechterbezie-

80 RACZYēSKI E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 28. Vgl. Dagegen die polnische Version: „Widok Seraiu z morza szczególniey iest piĊknym. Lekkie minarety, wyzáacane kopuáy, wysokie cyprysowe drzewa, skáadaią obraz powaĪny i wesoáy. WraĪenie to przyiemne w przykre siĊ zamieniáo, skoro tylko w pierwszą bramĊ paáacu Wielkiego Suátana wstąpiáem. Rozkoszne to zdaleka mieysce, iest w istocie wiĊzieniem i ĞciĞle strzeĪoną twierdzą, a posĊpne mieszkaĔców i stróĪów iego twarze, srogoĞci i trwogi są obrazem.” RACZYēSKI E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), 32. 81 Er fügt außerdem die „Blumensprache“ nach Lady Montagu als Anhang hinzu. RACZYēSKI

E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 30-32, 165.

82 ALLOM, Thomas: Tscherkessische Sklavinnen im Harem, 1834. In: ALLOM (wie Anm. 49), Tafel 22. 83 Z.B. „Man behauptet“, RACZYēSKI E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 32, „Es scheint“, „Bekanntlich werden nicht alle muslimischen Frauen eingeschlossen“, RACZYēSKI

E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 43. Im Polnischen wird dies mit

der 3. Person Singular oder dem Hilfsverb „haben” – „miec“ –, z.B. „upowszechniáo“, „zdaie siĊ“, RACZYēSKI E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), 35, „znaydowaü siĊ mają kobiety“, Ebd., 36 ausgedrückt.

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hungen sowie das Aussehen der Frauen in Europa und im Osmanischen Reich berichtet,84 bleibt die Emotionalität seiner Sprache gewohnt zurückhaltend. Er stellt den erotischen Aspekt des Serails noch nicht voyeuristisch heraus, wie es späteren Reisebildern häufig eigen wird. Abbildung 8: Gefolge des Sultans in Beylerbeyi (Üsküdar) (Zeichnung: L. Fuhrmann, Stich: Kretlow, Warschau), RaczyĔski E. 1821, Tafel 43.

Was den Herrscher über Serail und Reich, den Sultan, angeht, so zeigt auch RaczyĔski an dessen Person ein gesteigertes Interesse. So bemüht er sich erfolgreich um das Erlebnis, anlässlich seines öffentlichen Gebets den osmanischen Herrscher persönlich zu sehen, und beschreibt ausführlich dessen Gesichtszüge. Es ist jedoch zu bezweifeln, dass er tatsächlich so nah an ihn herangekommen ist, wie die entsprechenden Abbildungen suggerieren (Abb. 8 und Abb. 9). Sie sind viel wahrscheinlicher später unter Zuhilfenahme eines öffentlich zugänglichen, gemalten Porträts und einzelner Figurenstudien komponiert worden, um den Eindruck größerer Nähe zu erzielen, als in Wirklichkeit erzielt werden konnte. Man darf also anhand der in diesen Passagen doch geballt auftretenden Ste-

84 Z.B. RACZYēSKI E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), 32, 34-36, 42, 48-49, RACZYēSKI

165.

E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 30-32, 36, 42-43, 81-82, 145-150,

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reotype konstatieren, dass die Eigenheiten des Serail RaczyĔski tatsächlich in letzter Konsequenz fremd bleiben. Abbildung 9: Porträt des Sultans Mahmud IV., abgezeichnet von dem Bild, das sich beim Moskauer Gesandten in Büyükdere befindet (Zeichnung: L. Fuhrmann, Stich: Krüger, Dresden), RaczyĔski E. 1821, Tafel 42.

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D IE

MALERISCHE W IRKUNG – DAS P ITTORESKE DES O RIENTS Die Kategorie des „Malerischen“ oder „Pittoresken“ ist zentral in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts.85 Sie erkennt Objekten Qualitäten zu, die „übertragen in ein Kunstwerk, dem Betrachter Genuss verschaffen oder dies tun, indem sie selbst wie ein Kunstwerk erscheinen“86, und spielte bei Reisenden eine besonders große Rolle. RaczyĔski und noch mehr der Übersetzer von der Hagen verwenden das Attribut „malerisch“ oder „wie ein Bild“ ziemlich häufig, insbesondere für Ensembles von Bauwerken mit Bäumen bzw. Landschaften. Neben der bereits genannten Passage zur Blauen Moschee ist ein besonders schönes Bildbeispiel die Ansicht des Tales Hünkâr øskelesi (Abb. 10). Das Malerische entsteht hier aus dem Zusammenspiel der abwechslungsreichen Gegend, den Trachten und Gerätschaften der Einwohner, die als Staffagefiguren fungieren, und der Stimmung, die der Betrachter empfindet und die er vermitteln will. Wie bei vielen zeitgleichen Künstlern dominieren auch in den Bildern Fuhrmanns Ansichten, in denen „griechische Hirten und türkische Emire und Janitscharen den Bildvorder- und Mittelgrund [bevölkern], deren Posen einem klaren Kanon entstammen und die vor allem der Szene Lokalkolorit verleihen und sie beleben sollen.“87 Gleichsam als ob er die Kupferstiche Fuhrmanns noch mit Farbe versehen will, verweist RaczyĔski mehrfach auf die Landschaftsmalerei des von ihm sichtlich bewunderten Claude Lorrain (1600-1682), etwa wenn er auf das Phänomen eingeht, dass ein verblauter Hintergrund im südlichen Klima „azurblau“

85 Z.B. TOWNSEND, Dabney: The picturesque. In: The journal of aesthetics and art criticism 55 (1997), 365-376. – MOHR, Hans-Ulrich: The picturesque. A key concept of the eighteenth-century. In: The romantic imagination. Literature and art in England and Germany. Hg. v. Frederick BURWICK. Amsterdam 1996 (Textxet 6), 240-268. – CRAWFORD, Donald W.: The picturesque as an aesthetic category. In: Die Ästhetik, das tägliche Leben und die Künste. Ausgewählte Vorträge. Hg. v. Gerd WOLANDT. Bonn 1984, 113-115. 86 GASCHKE (wie Anm. 23), 74. Sie beruft sich auf die wesentlichen Definitionen des Begriffes pittoresk von William Gilpin, Richard Payne Knight und Uvedale Price. Ebd., 75. 87 Dies stellt Gaschke als Gegensatz zu den Bildern William Gells (1777-1836) heraus. GASCHKE 2006 (wie Anm. 23), 79.

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und „durchsichtig“ wirke.88 An anderer Stelle bemerkt er, dass ihm der Blick auf den Konstantinopler Stadtteil Büyükdere unter einem Aquädukt „eingefasst wie ein Gemälde von Claude Lorrain oder Ruysdal in seinem Rahmen“ erscheine.89 Auch die Figurenverteilung in den Landschaften geht allem Anschein nach auf Lorrains Vorbild zurück. Die deutsche Übersetzung hat – augenscheinlich von RaczyĔskis französischem Vorbild „Voyage pittoresque dans l’Empire ottoman…“ (1776-1824) von Choiseul-Gouffier – den Begriff des „Malerischen“ sogar in den Titel aufgenommen und damit das bildkünstlerische Element des Buches noch betont. Ob diese Entscheidung auf von der Hagen oder RaczyĔski zurückging, ist jedoch leider nicht zu klären gewesen. Abbildung 10: Ansicht des Tales Hünkâr øskelesi in Asien am Bosporus gelegen (Skizze: L. Fuhrmann, Stich: Hammer, Dresden), RaczyĔski E. 1821, Tafel 31.

88 RACZYēSKI E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 67. bzw. RACZYēSKI E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), 98. 89 RACZYēSKI E., Malerische Reise 1997 (wie Anm. 4), 55. In der polnischen Version ist hier allerdings nur von Ruysdal die Rede: „Postzregáem przez obáąk teyĪe arkady, iakby piĊkny obraz Ruisdala, caáą dolinĊ od Buiukdere […]“. RACZYēSKI E., Dziennik podróĪy (wie Anm. 2), 62.

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Vergleicht man rückblickend die osmanischen mit den polnisch-ukrainischen Bildmotiven, so liegt eine wichtige Gemeinsamkeit in der gleichen malerischen Anlage der Kompositionen vor, die einen Bruch in der Wahrnehmung verhindert. Auf diese Weise erscheint die eigentlich verhältnismäßig fremdartige Umgebung und Bevölkerung des osmanischen Orients nicht allzu fremd, was sicherlich in RaczyĔskis Sinne der Vermittlung war. Paradoxerweise würde dies allerdings zugleich den Wahrnehmungsmodus der „Östlichkeit“, ja zuweilen sogar des „Exotismus“ Polens, die bei den westeuropäischen Reisenden nach Ostmitteleuropa zu beobachten war, bekräftigen.

F AZIT Wie ist nach dieser exemplarischen Analyse die Frage nach einem polnischen oder doch schlicht europäischen Blick zu beantworten? Ich glaube gezeigt zu haben, dass bei RaczyĔskis Reisebericht trotz der historischen, auf Polen bezogenen Einschübe im Text, keine grundsätzlich herkunftsbezogene, ostmitteleuropäische Sichtweise vorliegt. RaczyĔski versteht sich als allseitig humanistisch gebildeter Europäer und vor allem als europäischer Adliger, der – wie die adligen Reisenden aus anderen europäischen Ländern auch – während seiner Reise vor allem mit Persönlichkeiten der gleichen Ebene kommuniziert. Dies impliziert einen länderübergreifenden Austausch ähnlicher Vorhaben. Da er sein Vaterland und seine Nation liebt, will er diesen mit seinem Buch etwas den Veröffentlichungen anderer Nationen Ebenbürtiges zur Seite stellen. Dem Workshop, der diesem Band vorausging, lag die These zugrunde, dass die Beschäftigung mit Außereuropa für die Nationalbildung in Ostmitteleuropa wichtig war. Dies zu bestätigen oder zu widerlegen ist für das hier untersuchte einzelne Fallbeispiel von RaczyĔskis Orientreisetagebuch nur schwer möglich. Er selbst geht bis auf die dafür sprechende, oben genannte Andeutung, die das polnische Selbstbewusstsein stärken konnte, nicht explizit darauf ein. Wenn ihm auch die Wichtigkeit nationaler Unabhängigkeit bewusst war, so scheint die Beschäftigung mit dem Osmanischen Reich ihm dafür nicht wichtiger gewesen zu sein als seine zahlreichen anderen Projekte. Zum Verhältnis von Reisebericht und Abbildungen ist zusammenfassend festzuhalten, dass Reisebericht und Kupferstiche sich in verschiedenen Graden unterscheiden und ergänzen, wobei es durchaus zu Abweichungen in den Aussagen kommt. So muss man sehr wohl historische, literarische und bildliche Authentizität jeweils voneinander abgrenzen. Der Text ist zumeist differenziert und eher nüchtern gehalten, während die Bilder oft glättend wirken. Grundsätzlich

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aber harmonieren die bildlichen und schriftlichen Beschreibungen bzw. die Blicke Fuhrmanns und RaczyĔskis durchaus miteinander. Ausgangspunkt ist zweifellos jeweils der vor Ort erlebte, persönliche Eindruck, der jedoch in der Darstellung mit bereits bekannten Vorbildern und der narrativen und künstlerischen Vermittlungsabsicht amalgamiert wird. Insofern sind auch die „Orientalismen“, die in den beiden Medien auftauchen, nicht grundsätzlich, sondern nur im Detail voneinander verschieden. Da insgesamt die Merkmale überwiegen, die die Forschung auch für Reisende anderer Nationen und deren Reiseberichte als charakteristisch konstatiert hat, steht zu vermuten, dass RaczyĔski als seine Aufgabe tatsächlich „nur“ die Verbreitung in der Muttersprache sah, den Inhalt aber bewusst in der Tradition bekannter Berichte belassen hat. Sowohl örtlich als auch zeitlich erweist sich Edward RaczyĔski als Grenzgänger zwischen den Gepflogenheiten des 18. und 19. Jahrhunderts.90 In seinem wohlwollenden Verständnis gegenüber den Osmanen und dem wissensreichen, meist sachlichen Stil ist er den Reiseberichten des späten 18. Jahrhunderts verhaftet. Nationale oder religiöse Eigentümlichkeiten behandelt er noch nicht mit der offensiven Neugier, die sich im 19. Jahrhunderts durchsetzen sollte. Das Anlehnen an frühere Reiseberichte ist nicht zuletzt seiner Publikationsabsicht geschuldet. Als Problem ergab sich jedoch dann die verzögerte Herausgabe, so dass das Erscheinen des Werks in die neue Mode romantischabenteuerlicher Reiseberichte fiel und somit womöglich sogleich als altmodisch galt und daher nicht den erhofften Erfolg hatte.91 Wenn RaczyĔski sich im Verfassen also westlichen Mustern unterwirft, dann nicht, wie Kalinowskas These vermuten ließ, um sich seiner Westlichkeit zu versichern, da seine Reise ins Osmanische Reich von wirklichem Interesse geprägt war. Bei RaczyĔski kommen deshalb auch verschiedenste „Alteritäten“ zur Sprache und erfahren unterschiedliche Urteile. Politische Missstände werden negativ, soziale Bindungen positiv beurteilt, während die ethnisch-kulturelle Beschreibung neutral bleibt. Er war von dem Wunsch beseelt, dieses Fremde zu verstehen, sich mit ihm vertraut zu machen.

Abbildungsnachweis: Abb. 1-10: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. (Alle Fotografien: Sabine Jagodzinski 2008).

90 ALLOM (wie Anm. 49), 13. 91 Das erstaunt umso mehr, als Goethe das Werk 1826 sehr positiv rezensierte. TRINKS (wie Anm. 10), 56.

Orientalism in Fin de Siècle Czech Society? (With a Focus on Egypt) H ANA N AVRÁTILOVÁ 1 “Labels [...] are no more than starting points, which, if followed into actual experience for only a moment, are quickly left behind.”2

This paper originally set out to present some aspects of ‘Czech Orientalism’ by focussing on case studies based on the interaction of Czech travellers with Egypt in the nineteenth and the first half of the twentieth century.3 However, the very concept of Orientalism has been increasingly problematized and, while it is not 1

This article covers a young and recently rather dynamic research field. New publications have appeared since the first draft of this article was presented at the workshop in Leipzig. They will be referred to, but could not be included in the analysis. The work already relies heavily on team research, and the author is indebted to Robert Born, Ernst Czerny, Hana HavlĤjová, Johanna Holaubek, Libor JĤn, Adéla JĤnová Macková, Sarah Lemmen, Miloš Mendel, Tomáš Rataj, Lucie Storchová and other scholars interested in Bohemian and related Austrian encounters with the Orient. Any mistakes or inaccuracies remain the sole responsibility of the author.

2

SAID, Edward W.: Culture and Imperialism. London 1994, 408.

3

That the case studies focus on Egypt is largely the result of the quantity and complexity of the available sources. Future studies concerned with e.g. Turkey, Palestine, but also the Balkans are highly desirable. Compare the research focus in studies on German Orientalism, e.g. by POLASCHEGG, Andrea: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin-New York 2005 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 35); or MARCHAND, Suzanne L.: German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship. Cambridge 2009 (Publications of the German Historical Institute).

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avoided in this paper, its practicality is questioned. Consequently, this contribution is rather a shop window for aspects of Czech encounters with the Orient. One of the problematic aspects is the changing meaning of the term ‘Czech’. Until 1918, there had been the Kingdom of Bohemia, part of the Habsburg Empire; after 1918 it was Czechoslovakia. If observed from the perspective of the history of individual states and their nominal presentation, ‘Czech’ is an ambivalent term, used retrospectively and out of convenience for inhabitants of said kingdom and its successor states. It has, however, an evident historical place as a national self-definition promoted by nineteenth-century Bohemian nationalists, who used ‘Czech’ (þeský, or tschechisch) as an equivalent for Czech-speaking, and hence promoted a specific ‘Czech’ culture. As for the subsequent use of ‘Czech’ in this text, it denotes authors who produced their texts prevalently or at least in large part in the Czech language and who lived mostly within the borders of the historical Kingdom of Bohemia and later in Czechoslovakia. Another awkward aspect is the ‘Orient’ in ‘Orientalism’, for several reasons. The first problem is the complexity of what the ‘Orient’ is: West Africa, Greece, the Balkans, the Levant, Egypt, India or China, Korea and Japan have all been subsumed under the label ‘Orient’ in travelogues and didactic literature. A further problematic issue is the very idea of ‘nationalising’ individual Orientalisms.4 Edward Said, who is usually, albeit not entirely accurately, considered the man “behind Orientalism”, viewed, as the British literary historian Andrew Hammond put it, “binaristic constructs not as empirically grounded but as an institutionalized, cumulative tradition of textual statements, which have channelled and controlled Western knowledge of the Orient from the eighteenth century onwards.“5 What, then, is the ‘West’? If we understand the whole of Britain, France, and possibly the area of modern Germany (not to mention Spain, Portugal, Italy, the Netherlands and Belgium) as the ‘West’, then there was no such systematic and uniform tradition in opinions and statements, either nationally, or

4

It has been noted repeatedly that the concept, as used by Edward Said, made several rather categorical and hence oversimplified claims about the “colonial” or “imperial” cultures of France and the British Empire. Compare e.g. TURNER, Bryan S.: Orientalism, Postmodernism and Globalism. London 1994. However, Edward W. Said commented several times on over-interpretations of his theory, e.g. in the 1994 and 2003 afterwords to his study on Orientalism.

5

HAMMOND, Andrew: Typologies of the East: On Distinguishing Balkanism and Orientalism. In: Nineteenth-century contexts 29/2-3 (2007), 201-218, here 201.

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socially.6 It may be said, however, that the British or French encounter with the Orient shared the influence of colonial rule, and that certain opinions were used for example as a convenient explanation for why a colonial rule was necessary, or, vice-versa, why such statements actually made colonial policies acceptable and possible.7 The Czech lands did not undergo a fully comparable colonial development and hence the specific historical situation may be described with the help of a national or a regional adjective. The most troubled part of ‘Czech Orientalism’ as a proposed focus of research, however, is ‘Orientalism’ itself, if seen as a historical concept8 and not only as a stimulant for more generic intellectual debates.9 Orientalism is supposed to be an institutionalized, cumulative tradition of textual statements (frequently with a political agenda, see Hammond above), which is commonly said to have permeated most aspects of the encounters with the East. As stated above, the statements are sought most often in scholarship, travel literature and in politics, and, read together, conclusions are extrapolated to testify to the discourse of otherness, Western hegemony and other, more detailed and nuanced characteristics, at times disregarding contemporaneous statements that might not add up to any such concept.10

6

Even within the British imperialist era of the late nineteenth century there are widely different opinions and textual representations. We may want to remind ourselves of Wilfrid Scawen Blunt or Evelyn Baring, otherwise known as Lord Cromer.

7

A political-historical perspective is offered by LOCKMAN, Zachary: Contending Visions of the Middle East: The History and Politics of Orientalism. Cambridge 2004 (The Contemporary Middle East 3).

8

It has also been suggested that historians should actually refrain from commenting extensively on Orientalism, as Orientalism may be seen mainly as a political issue with too many current vested interests. TAHERI, Amir: For Lust of Knowing: the Orientalists and their Enemies. Asharq Al-Awsat, 15.05.2006.

9

Critiques of Orientalism are presented foremostly by B. Lewis (across several publications, e.g. LEWIS, Bernard: Islam and the West, Oxford 1994, especially 99-118, with a solid and detailed listing of major fallacies of Said’s work), R. Irwin and D. M. Varisco. See MACFIE, Alexander L.: Orientalism: A Reader. London-New York 2002. – IRWIN, Robert: For Lust of Knowing: The Orientalists and Their Enemies. London 2007. – VARISCO, Daniel Martin: Reading Orientalism: Said and the Unsaid. Seattle 2007. See also HALLIDAY, Fred: ‘Orientalism’ and its critics. In: British Journal of Middle Eastern Studies 20/2 (1993), 145-163.

10 As noted e.g. by Fred Halliday (see above) or FITZENREITER, Martin: Der Fall Ägyptologie. In: Exotisch, Weisheitlich, Uralt. Europäische Konstruktionen Altägyptens.

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Some of the approaches of historical anthropology (Historische Anthropologie) could help to establish a more nuanced approach.11 Historical anthropology seeks to bridge “the chasm between narrative and analysis as well as individual cases and the broader context […], making the reader more aware of the problems and their interpretations throughout history […] and able to recognize structural relationships within the context of potential fields of action.”12 This cleft between narrative and analysis seems to express our problems with Orientalism quite well. This is not an aspirational paper seeking to finally clear up the methodology or the terminology or even enumerate all options in the study of ‘Czech’ encounters with the East, but it will try to build one potential bridge across the chasm. It first portrays select travellers and travel groups visiting the Eastern Mediterranean, and describes some so-called discursive objects. Subsequently, the classification is problematized by describing an additional context of travel practices and individual travellers’ motives and personalities. The study hopes to demonstrate that the creation of the Orientalist discourse – based on texts and supposed discursive practices, but ignoring the actual practices of travel and scholarship – may also lead to somewhat problematic results in the case of Czech Orientalism.13 Hence, the article is intended to offer more general suggestions for the study of Czech encounters with the Orient. It is by

Ed. by Thomas GLÜCK and Ludwig MORENZ. Hamburg 2007 (Geschichte 73), 323347. 11 DÜLMEN, Richard van: Historische Anthropologie: Entwicklung, Probleme, Aufgaben. Köln-Wien-Weimar 2000, esp. 36-64. 12 “[…] die Kluft zwischen Erzählung und Analyse wie zwischen Einzelfall und Gesamtzusammenhang […], daß der Leser sensibilisiert wird für die Probleme und ihre Interpretation in der Geschichte […] und lernt, strukturelle Zusammenhänge unter Berücksichtigung möglicher Handlungsräume zu erkennen.” Ibid., 53. Additionally, anthropological or cognitive approaches may be used in a critique of Orientalism. Robert Born kindly pointed out arguments by MARCUS, George E./FISCHER Michael M. J.: Anthropology as Cultural Critique: An Experimental Moment in the Human Sciences, Chicago-London 1986. 13 This problem has of course been observed before, and in a more general context – see TOSH, John: The Pursuit of History. London et al. 52010, 290-296. However, readings of early ‘Orientalism’ (its 1970s version) are still used as interpretational frameworks, and are indeed expanded by application of constructionist interpretations of travel writing and of scholarship.

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definition an attempt at listing loose ends, with the anticipation that they will be gradually tied up by others.14

P REVIOUS R ESEARCH There is a large body of material concerning Czech encounters with the Orient.15 The theme of Czech encounters with the Orient, and of Orientalism, was explored chiefly in texts and in the visual arts (both directly and indirectly related to said encounters), and has been discussed in lively fashion for decades, chiefly by Czech scholars.16 The following overview summarizes the trends in current research.

14 Existing studies include the excellent factographic outline MENDEL, Miloš/ OSTěANSKÝ, Bronislav/RATAJ, Tomáš: Islám v srdci Evropy [Islam in the Heart of Europe]. Praha 2008. A focus on art and pop culture is offered by RAKUŠANOVÁ, Marie: Bytosti odnikud. Metamorfózy akademických principĤ v malbČ první poloviny 20. století [Coming from Nowhere – Academic Painting Metamorphoses in the First Half of the Twentieth Century]. Praha 2008. 15 Both the primary and secondary sources are appropriately large. For instance, for the history of travel and residents alone, the following periodicals are relevant: ýechoslovák [Czechoslovak], ýeskoslovenská emigrace [Czechoslovak Emigration], ýeský svČt [Czech World], Emigrant [Emigrant], Krajan [Compatriot], Lidé a zemČ [People and Country], NárodohospodáĜský obzor [National Economic Horizon], Oasa [Oasis], PrĤmyslový VČstník [Industrial Journal], Sborník þeské spoleþnosti zemČpisné [Proceedings of the Czech Geographical Society], SvČtový obchod [The World Trade], SvČtozor [Worldview], Širým svČtem [The Wide World], Uþitelské noviny [Teachers’ Paper], Výroþní zprávy Komise pro vystČhovalectví a kolonisaci [Annual Reports of the Emigration and Colonisation Board], VystČhovalec [The Émigré], VystČhovalecký zpravodaj Ministerstva sociální péþe [the Social Care Ministry Emigrants’ Newsletter], Zahraniþní politika [Foreign Politics Newsletter]. For further references see „Krásný bájeþný nešĢastný Egypt!“ ýeští cestovatelé konce 19. a první poloviny 20. století [“The Beauty and Pain that is Egypt!” Czech Travellers of the Late Nineteenth and Early Twentieth Century]. Ed. by Adéla JģNOVÁ-MACKOVÁ et al. Praha 2009; and ýeskoslovenští vČdci v Orientu [Czechoslovak Scientists in the Orient]. Vol. 1-2. Ed. by Adéla JģNOVÁ-MACKOVÁ et al. Praha 2012-2013. 16 MENDEL/OSTěANSKÝ/RATAJ (as in n. 14). – RATAJ, Tomáš: ýeské zemČ ve stínu pĤlmČsíce. Obraz Turka v ranČ novovČké literatuĜe z þeských zemí [Czech lands in the shadow of the Crescent.The image of Turks in the early modern literature in the Czech

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Significant studies in historical research have covered a possible pre-modern Orientalism (from the fifteenth to the eighteenth century). These studies focus on early travellers and missionaries to the Orient, as well as their representations of countries visited.17 Central Europe, its Ottoman neighbour too close for comfort,18 provides ample sources.19 Further studies and some compendia offer descriptive surveys and lists of travellers.20

lands]. Praha 2002. – STORCHOVÁ, Lucie: Mezi houfy lotrĤv se pustiti … ýeské cestopisy o EgyptČ 15.-17. století [Among the savage hordes … Czech travellers’ reports on Egypt in the fifteenth to seventeenth centuries]. Praha 2005. – BARSA, Pavel: Orientálcova vzpoura [The Oriental’s rebellion]. Praha 2011. 17 FÖRSTER, Josef: Sine experientis nihil sufficienter sciri potest. In: Listy filologické 128/1-2 (2005), 65-73. – PRUTKÝ, Remedius OFM: O EgyptČ, Arábii, PalestinČ a Galileji [On Egypt, Arabia, Palestine, and Galilee]. Vol. 1. Ed. by Josef FÖRSTER. Praha 2009. – DOSPċL, Marek: Fr Remedius Prutký OFM and the Holy Roman Emperor Francis I. Stephen. In: Egypt and Austria III. The Danube Monarchy and the Orient. Ed. by Johanna HOLAUBEK, Hana NAVRÁTILOVÁ and Wolf B. OERTER. Prague 2007, 51-63. – DOSPċL, Marek: The annotations in Aegyptum (c. 1799): A manuscript penned by a Czech Franciscan missionary. In: Archivum Franciscanum Historicum 104/1-2 (2011), 285-297. – DOSPċL, Marek: Františkáni ěímaĜ, Prutký a Schneider – zdroje a možnosti interpretace jejich zpráv (nejen) o EgyptČ 18. století [The Franciscan friars ěímaĜ, Prutký and Schneider – Sources and interpretative possibilities of their accounts (not only) of 18th century Egypt]. In: Pražské egyptologické studie 3 (2004), 25-37. 18 RATAJ (as in n. 16). 19 Ibid. – STORCHOVÁ (as in n. 16). – DRACE-FRANCIS, Alex: Towards a Natural History of East European Travel Writing. In: Under Eastern Eyes. A comparative Introduction to East European Travel Writing on Europe. Ed. by Wendy BRACEWELL and Alex DRACE-FRANCIS. Budapest-New York 2008, 1-26, here 19: “The preponderance of ‘Eastern’ destinations in early east European travel writing is particularly striking. It is true that the rise of print and vernacular languages coincided temporally with the encounter with the ‘Turkish menace’, and this may perhaps tempt us to mistake a timely fascination with the Eastern other for a permanent characteristic of east European cultures. But curiosity about the Ottoman world was certainly higher on the agenda in the sixteenth and seventeenth centuries than fascination with Western culture.” 20 Such as the encyclopaedic MARTÍNEK, JiĜí/MARTÍNEK, Miloslav: Kdo byl kdo. Naši cestovatelé a geografové [Who is Who. Our travellers and geographers]. Praha 1998, with comprehensive references.

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The presence of Oriental themes in the modern culture of the Bohemian lands from the nineteenth century onwards has been recognised first with a view to the arts,21 and later also to photography.22 The richness and variety of evidence is remarkable. Studies in the area of art history recognise Orientalism as a source of inspiration for Romantic literary, visual and applied arts,23 as well as Art Nouveau.24 Art Nouveau’s Orientalising motifs were often an interesting mixture of Far Eastern, Middle Eastern and (occasionally) ancient Near Eastern motifs.25 The applied arts with orientalising motifs proved to be increasingly popular, and the ‘Orient’ was synonymous with the opulent, the exotic, the intoxicating, the distant and yet familiar; familiar not only through the geographical proximity to the Balkans or indeed the Ottoman Empire, but also through the eyes of the travellers. On a different conceptual level, the Orient was also the world of the Bible, and especially Egypt and the Levant were seen as very close, indeed almost domesticated.26 Further studies focus on the growing political and economic contacts and interests of Czechs from the Habsburg monarchy and later Czechs from Czechoslovakia. The increase of contacts was again accompanied by an increase in the

21 MŽYKOVÁ, Marie: KĜídla slávy. VojtČch Hynais, þeští PaĜížané a Francie [Wings of Glory. VojtČch Hynais, Czech Parisians and France]. Praha 2000. 22 JģN, Libor: Egypt, Czechoslovakia and cinematography. In: Crossroads of Egyptology. The Worlds of Jaroslav ýerný. Ed. by Adéla JģNOVÁ MACKOVÁ and Pavel ONDERKA.

Prague 2010, 85-94.

23 MENDEL/OSTěANSKÝ/RATAJ (as in n. 14). 24 FABELOVÁ, Karolína: Karel VítČzslav Mašek. Praha 2002, esp. oriental inspiration based on Jaroslav ýermák and India on p. 101, and homage to Vrchlický, where the writer Vrchlický looks toward the pyramids (p. 97, fig. 1032). 25 As an example, see KUPKA, František: Kupka – Waldes. MalíĜ a jeho sbČratel. Dílo Františka Kupky ve sbírce JindĜicha Waldesa [Kupka – Waldes. A Painter and his Collector. Works of Františka Kupka in the JindĜich Waldes Collection]. Praha 1999, passim, esp. 258-261, 380-384. 26 HAVLģJOVÁ, Hana: Ludmila Matiegková, þeská soukromá badatelka a její studijní pobyty v EgyptČ ve 20. letech 20. století [Ludmila Matiegková, A Czech Independent Scholar and her Study Trips to Egypt in the 1920s]. In: „Krásný, bájeþný, nešĢastný Egypt!“ (as in n. 15), 386-400.

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production of Orient-related texts, ranging from fiction to travelogues, reports, and specialised literature.27 ‘Orientalism’ is on occasion used as an explanatory lens to scrutinise these Czech–‘Oriental’ encounters, texts and works of art in the same fashion as it was used previously for British, French or German material, with related advantages and disadvantages.28 Theoretical models currently used in the Czech debate are often those based on Edward Said (sometimes read selectively), alongside Reina Lewis, Billie Melman, and others.29 Currently, there are Czech translations of Said’s Orientalism as well as of works of some of his critics, such as Bernard

27 Concerning the history of Oriental studies, there was a long tradition of Orientalist disciplines at the Charles University in Prague and it continued after the split of the university into a Czech and a German part in 1882, as described in MENDEL/ OSTěANSKÝ/RATAJ (as in n. 14). Alongside studies in Arabic and other Oriental languages, there was growing interest in the ancient Near East and in Egypt (NAVRÁTILOVÁ,

Hana: Egyptian Revival in Bohemia 1850-1920. Praha 2003, 97-106), whilst

specific research attention centres on the founding fathers of Czech Oriental Studies, Rudolf DvoĜák (1860-1920), Alois Musil, and František Lexa. These men (until the 1920s there was no significant female figure) were trained under the AustroHungarian monarchy, but proved to be of valuable service to Czechoslovakia in the Interwar years. This was particularly the case with Alois Musil, whose activities connected the scholarly and economic interests of the monarchy and later of the republic. JģNOVÁ MACKOVÁ, Adéla: ýeskoslovenské pronikání do Egypta, zastupitelské úĜady, orientální a exportní ústav [Czechoslovak presence in Egypt: legations, The Oriental Institute and the Export Institute]. In: ýasopis národního muzea 177/3-4 (2008), 194205. 28 Compare the critical use of different models by NANTCHA, Sylvie: Interdisziplinarität – Kulturtransfer – Literatur. Afrika-Fremdwahrnehmung in ausgewählten deutschsprachigen Reisewerken von der Kolonialzeit bis zur Gegenwart. Würzburg 2009 (Epistemata, Würzburger Wissenschaftliche Schrift, Reihe Literaturwissenschaft 672). 29 LEWIS, Reina: Gendering Orientalism: Race, Feminity and Representation. LondonNew York 1996. – MELMAN, Billie: Women’s Orients: English Women and the Middle East, 1718-1918. Ann Arbor 1992. Compare bibliographies in STORCHOVÁ, Lucie: Mezi orientalismem a orientalistikou [Between Orientalism and Oriental Studies]. In: Našinec v Oriente Ed. by Martin SLOBODNÍK. Bratislava 2009, 35-56. – „Krásný bájeþný nešĢastný Egypt!” (as in n. 15). – MENDEL/OSTěANSKÝ/RATAJ (as in n. 14).

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Lewis.30 The debate concerning a possible Czech Orientalism is growing in quantity and in a variety of paradigms.31 The last decades of the debate are also influenced by approaches further derived from Michel Foucault (Said’s precursor) and applied especially to Oriental studies and literature, in particular to travelogues. The intensive use of discursive models, per se no doubt inspiring, also caused, however, a kind of “fear of knowledge”32 – a hypercritical presentation of Western scholarship or indeed any Western engagement with the East – seen in strong constructionist terms.33 Some of these developments in research

30 Said in Czech as SAID, Edward: Orientalismus. Praha-Litomyšl 2006. LEWIS, Bernard: What Went Wrong? Western Impact and Middle Eastern Response. Oxford 2002, in Czech as Kde se stala chyba? Praha 2003. 31 See MENDEL/OSTěANSKÝ/RATAJ (as in n. 14), 90-92. See also ýeskoslovenští vČdci v Orientu I (as in n. 15). Almost ten years ago, it was noted on a related issue of Egyptomania that “the place of Egyptian Antiquity within the system of values important for Czech historical identity [of the late nineteenth and early twentieth century] was not important enough for it to manifest itself very profoundly in historical consciousness, but neither was it unimportant enough to be totally lacking.” NAVRÁTILOVÁ, Egyptian Revival (as in n. 27), 222. Since this observation was made, we have come across further travellers, visitors and collectors, as well as further approaches of Austrian, Bohemian (i.e. multilingual aristocratic and upper class in Bohemia) and Czech (Czech in Bohemia) culture to Egypt. The history of Egyptology in Bohemia proved to have many more cosmopolitan links to the international history of the subject than previously acknowledged (OERTER, Wolf B.: Die Ägyptologie an den Prager Universitäten 1882-1945, Prag 2010). Concerning Orientalist art (a label used here for convenience to define European art inspired by the East, not necessarily European art expressing programmatically, and intentionally, a European evaluation of the East), in 1999, Arno PaĜík noted that “[t]he harvest of Romantic Orientalism was rather poor in Bohemia.” (PAěÍK, Arno: Cesty do Svaté zemČ a do Egypta [Travels to the Holy Land and to Egypt]. In: Cesta na jih, inspirace þeského umČní 19. a 20. století. Ed. by Josef KROUTVOR et al. Praha 1999, 262-270, here 262). His observation is still valid in many respects. However, soon more works inspired by the East were gradually revealed, see MŽYKOVÁ, KĜídla slávy (as in n. 21). 32 As suggested by Paul Boghossian. Compare a philosophical analysis of related aspects of philosophy including its postmodern variety by BOGHOSSIAN, Paul Artin: Fear of Knowledge: Against Relativism and Constructivism. Oxford 2006. A balanced critique is found in TOSH (as in n. 13), 203-207. 33 For Czech Oriental studies, this is represented chiefly by STORCHOVÁ, Lucie: “Seznat bezprostĜednČ pĜedmČt svých vČdeckých studií”. Orientální alterita v cestopisných

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depended on larger paradigm changes. Providing new evidence or reinterpreting existing evidence for Central Europe’s extra-European interests is still useful, as the area has somewhat escaped the attention of international research.34 It is possible to form an impression of ‘Czech Orientalism’ from diaries, letters and published travelogues.35 The travelogues contained some of the discourses present in British or French travelogues. However, although some motives and clichés were recurrent, the variability is remarkable – as can be said of their Western European counterparts. Some travellers were content with popular clichés, and enjoyed themselves in Egypt as if in a variety club, while others were more discerning, or more interested, or simply not content merely to equate Egypt allegorically with “a treacherous, but immensely seductive beauty”.36 The two following subchapters will show representations of Egypt and the context of travels during which these representations were conceived.

R EPRESENTATIONS

OF

E GYPT

AND THE

O RIENT

The Czech interest in Oriental travel and subsequently in travelogues is a tenacious phenomenon in modern history, i.e. from the sixteenth century onwards. The noble and curious gentlemen Kryštof Harant and Bohuslav Hasištejnský, as well as the pilgrim Martin Kabátník, were followed by missionaries such as Remedius Prutký, Jakub ěímaĜ and Christian Schneider.37 The popularity of a Renaissance travelogue by Kryštof Harant survived well into the nineteenth century and probably inspired an “armchair” travelogue by the bookseller, publisher and writer Václav MatČj Kramerius (1753-1808), who compiled a text based on Harant mixed with news from his own time to recreate an image of Egypt in the early 1800s.38 In doing so, Kramerius happily com-

relacích þeských vČdcĤ první poloviny 20. století [“To Understand Directly the Topic of one’s Study”. Oriental Alterities in Czech Scholarly Travelogues of the Early Twentieth Century]. In: ýeskoslovenští vČdci v Orientu (as in n. 15), Vol. II. (forthcoming). 34 Although not entirely, see Under Eastern Eyes (as in n. 11). 35 See below. 36 JIěÍK, Viktor: K pyramidám. Zápisky z cesty [The Road to the Pyramids. A Traveller’s Notebook]. Praha 1913, 74-76. 37 See the above publications by J. Förster and Marek DospČl (as in n. 17). 38 NAVRÁTILOVÁ, Hana: Venceslas Kramerius and Bookworm Travelling in the early 1800s. In: Egypt and Austria I – Proceedings of the Symposium. Ed. by Johanna

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bined a Humanist reinterpretation of Egypt with tendentious observations made by his own contemporaries, responding to an interest of his contemporaries fostered by then current world news: the Napoleonic campaign in Egypt. As the Czechs were part of the cultural continuum of the Habsburg monarchy, it is not surprising that the first half of the nineteenth century also saw translations of travelogues by German-speaking authors such as Anton Prokesch von Osten (1795-1876) and Ida Pfeiffer (1797-1858), two notable Austrian travellers who visited Egypt and the Holy Land.39 At the same time a Czech traveller, or rather resident, in the Orient, Jan Žvejkal (1782-1854), lived and worked in several provinces of the Ottoman Empire and left a published account, in this instance in Czech.40 It is hence adequate to say that in the Czech-speaking parts of the Habsburg monarchy, reading matter on the Orient was popular and the readers consumed travel-related fiction, both translations and local fare.41

HOLAUBEK and Hana NAVRÁTILOVÁ. Praha 2005. The fictional travelogue by Václav MatČj KRAMERIUS was entitled Ouplné vypsání Egypta, jež leží ve tĜetím dílu svČta, Afryce, v nČmž se vypisuje vše, co jest pamČtihodného a podivného v té veliké zemi [The Complete Description of Egypt, Located on the Third Continent of the World, Africa, Encompassing Every Memorable and Curious Thing which Adorns that Great Country]. Prague 1816. On Kramerius see also the contribution of Lucie Storchová in the present volume. 39 Anton von Prokesch published his Erinnerungen aus Ägypten und Kleinasien in Vienna 1829-1831 in 3 volumes. The Czech translation appeared as PROKESS, Antonjn: Cesta do swaté zemČ roku 1829. ýesky wydána skrze Jana Tomáše Nowáþka. W JindĜichowu Hradci 1836. Ida Pfeiffer published her Reise einer Wienerin in das Heilige Land in Vienna in 1843 in two volumes, the Czech translation appeared as PFEIFFER, Ida: Putowánj do Swaté zemČ: totiž z WjdnČ do Konstantinopole, do Brusy, Bairutu, Joppen, Jerusaléma, k Jordánu a mrtwému moĜi, do Nazaréta, Damassku, Bálbeku a na Libán, do Alexandrie, Kaira, po paussti k þerwenému moĜi a zpátky pĜes Melitu, Sicilii, Neapoli, ějm a t.d. [original title Reise einer Wienerin]. W Hradci Králowé 1846. 40 ŽVEJKAL, Jan: Popsání trojích cest po pevné zemi a po moĜi v EvropČ, Asii a Africe r. 1818-33 vykonaných [Three journeys on land and sea in Europe, Asia and Africa, undertaken in 1818-1833]. Praha 1844. 41 For the Austrian travelogue production see also BERNARD, Veronika: Österreicher im Orient. Eine Bestandsaufnahme österreichischer Reiseliteratur im 19. Jahrhundert. Wien 1996 (Literarhistorische Studien 9). Our outline omits guidebooks, varied travel-unrelated Orientalising fiction, as well as Orientalising motives in emerging pop culture and pornography – some examples of the latter two areas can be found in:

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While the popularity of both reading and writing Oriental travelogues was steady throughout the nineteenth century; the number of travellers and writers grew in the second half of the nineteenth and further in the early twentieth century. The text corpus of their production has by no means been researched in its entirety – neither by quantitative nor by qualitative methods. Yet, within travel accounts of Egypt produced by travellers and residents of Bohemian/Czech origin in the late nineteenth and early twentieth century,42 we may identify several areas of interest. Ancient Monuments It was, first of all, the ancient history of Egypt and especially the ancient monuments that attracted most, if not all visitors. Some fin de siècle and 1920s Czechs were interested in Biblical places (a specific category) and most showed some interest in historical places of ancient origin as seen and recommended in guidebooks of choice (most often the Baedeker series, until a Czech guidebook became available in 1930).43 Their itinerary often, but not always, followed the “beaten track”, or rather a beaten track of their respective travels – a pilgrim’s beaten track was different from a tourist’s, though not necessarily largely different: the pyramids, especially those of Heliopolis and Saqqara, were on everyone’s menu.44 Travellers with exploratory tendencies, teachers on study trips and later specifically Egyptologists chose a different emphasis compared to an aristocratic hunter or a bourgeois would-be rake, but most of them presented their observations concerning these ancient monuments.

PETRBOK, Václav: Sex a tabu v þeské kultuĜe 19. století [Sex and taboo in 19th century Czech culture]. Praha 1999. – See also RAKUŠANOVÁ (as in n. 14). Both guidebooks and fiction, and probably also pornography, were consumed by some travellers. See further example of Viktor JIěÍK (as in n. 36). 42 Using a selection of travellers including Jan Neruda, Hans Mayer, Josef Wünsch, Viktor JiĜík, and also entrepreneur Vilém NČmec, and later (post WW I) Egyptologists František Lexa, Jaroslav ýerný, the Orientalist Václav Zelenka. For a complete list see „Krásný bájeþný nešĢastný Egypt!” (as in n. 15). 43 For an introduction to the history of the guidebook see PARSON, Nicholas T.: Worth the Detour: A History of the Guidebook. Stroud 2007. On the first Czech guidebooks see “Krásný bájeþný nešĢastný Egypt!” (as in n. 15), 285-305. 44 NAVRÁTILOVÁ, Hana: Modern Pilgrims in Egypt and the Holy Land. A Case Study. In: Saddling the Dogs. Journeys through Egypt and the Near East. Ed. by Diane FORTENBERRY et al. Oxford 2009, 119-128.

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The travellers’ impressions are often coined in terms that suggest an emotional rollercoaster ride from admiration of monumentality and ancient technical skills, to ahistorical Romantic impressions, to an equally ahistorical image of toiling slaves. Not every visitor was mesmerized: The well-known writer and journalist Jan Neruda (1834-1891), for example, considered the pyramids of Giza a “grand folly” and a “miraculous heap of stupidity”45, while another – fairly unknown – tourist, Hans Mayer, answered as if in reply to Neruda: “no folly, but a monument to ancient science”.46 The pyramids aside, much was written on the Bulaq museum, the Valley of the Kings, and other monuments of ancient Egypt. Keywords include “monumentality”, “stunning”, “toil”, “pain” and “eternity”. The travellers were also usually prepared by pre-travel reading, which may have contributed in various ways to their (mis)understanding. The Egyptologist František Lexa (1876-1960) noted in the 1930s: “I always imagined them great and was afraid I could be disappointed – however, they are even larger than I ever imagined. A man without the advantage of an education in mathematics, geometry and physics cannot be as astonished as someone who understands the knowledge and effort that were necessary for such an undertaking. It would indeed be a sin to go to Egypt without preparation. It would rob one of the satisfactions.”47

Occasionally, the monumental imagery is spoilt by a quite modern phenomenon – the locals and their demands for baksheesh (as it was for Neruda, and many early twentieth-century visitors). This is quite ubiquitous in European travelogues, and were we to compare selected quotations, the response of a Czech would be quite undistinguishable from that of a Briton.48 The same, however, can be said concerning their more positive comments.

45 Translated by Renata Landgráfová for NAVRÁTILOVÁ, Egyptian Revival (as in n. 27), 71. – After NERUDA, Jan: Masr el Kahira. In: IDEM: Obrazy z ciziny. Praha 1872, 174. 46 „Krásný bájeþný nešĢastný Egypt!” (as in n. 15), 528. 47 Letter by František Lexa to Irena Lexová, January 1, 1931, in Cairo. AAVýR [Archive of the Czech Academy of Sciences, Prague], personal papers of František Lexa, box 2, n. 27. 48 Some comments of notable British travellers were mapped by GREGORY, Derek: Between the Book and the Lamp: Imaginative Geographies of Egypt, 1849-50. In: Transactions of the Institute of British geographers, New series 20/1 (1995), 29-57. The contribution covers chiefly material dedicated to ancient monuments versus modern inhabitants of Egypt.

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Europeanization and National Identities The observations on specific issues of modernisation and/or Europeanization, however, also tend to be both rather judgmental and positive, depending on the selection of travelogues. For Neruda or Mayer the industrial monuments of their age were of prime importance. However, as modernisation was closely connected to Europeanization, other comments surfaced. Ismail Pasha, the Khedive of Egypt, was portrayed as a catalyst of modernisation, and a spendthrift,49 quite in accordance with other European comments. The European presence and influence was commented upon, sometimes negatively.50 The Austrian (by V. NČmec)51 and later Czechoslovak presence was, unsurprisingly, handled with particular care.52 The range of opinions included supporters of Lord Cromer and his politics, represented by Hans Mayer.53 A more critical voice was that of Jan Neruda, aiming his typically venomous and highbrow remarks at any person of means: For the travelling Neruda, a rich person was nearly always mean, and mostly a snob.54 The principal declared identity of the Czech traveller, rich or poor, was usually a European one.55 Despite the fact that Czech society was influenced by a national movement, most visitors to Egypt did not recognise the Egyptian struggle for national emancipation. National issues that were at play in the travelogues were usually tensions between varied European nations. There were further exceptions later in the 1920s, notably diplomatic residents or specialists in Oriental studies.56 Vlasta Kálalová (later married Di Lotti, 1896-1971), for example, recognised some of the difficulties of the new state of Iraq. However, some of her opposition to the mandate was probably a reflection of her strong

49 Ismail’s policies and modernisation seen critically e.g. by Hans MAYER in his travelogue Egypt – obrázky z cest [Egypt – Traveller’s impressions]. Praha 1908, 163-180. 50 NERUDA, Jan: PrĤplav suesský [The Suez Canal]. In: IDEM: Obrazy z ciziny, Praha 1872, 142-154. 51 „Krásný bájeþný nešĢastný Egypt!” (as in n. 15), 532. 52 Ibid., 142-146. 53 Ibid., 532. 54 Ibid., 542-543. 55 See also Under Eastern Eyes (as in n. 19). 56 Among those who recognised – albeit on different levels – changes in Egyptian society, such as national emancipation, were Alois Musil, Ludmila Matiegková, or – at least partially – Jaroslav ýerný.

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anti-Austrianism; she probably projected an identification of pre-war Austria with mandate-enforcing Britain.57 Open admissions of the limited nature of one’s own knowledge concerning the modern Orient, in particular Egypt, are rather rare: for example, much later, in the 1930s, the Egyptologist Jaroslav ýerný (1898-1970) did not pretend to have a specialised insight into the situation and living conditions of modern Egyptians, and mentioned this fact in his public lecture.58 Islamic Egypt The Islamic culture of Egypt enjoyed recognition as a source of exceptional works of art. Hans Mayer, otherwise a very critical observer of anything Islamic, was enraptured by the Islamic monuments of Cairo. The mosques of Cairo were “venerable abodes of eternal peace. A great style and a deep understanding of art are embodied in the buildings, creations of an age of Arab glory”.59 The fascination with medieval Cairo often centred on Mamluk monuments.60 The buildings were charming in many ways and perhaps fulfilled the expectations of what an Islamic monument should look like. The Mamluk art and architecture was viewed positively by European historians and by the Egyptians themselves, whereas the Ottoman period was mostly, though inaccurately, seen as a model of decline both in Egypt and in the West.61 The Mamluk architecture of Cairo came to represent Egypt at World Exhibitions from the 1860s at the latest, alongside

57 JģNOVÁ MACKOVÁ, Adéla/NAVRÁTILOVÁ, Hana/PěEBINDA, PETR/HAVLģJOVÁ, Hana/STORCHOVÁ, Lucie: Vlasta Kálalová Di-Lotti, þeská lékaĜka v Bagdádu (19251932). ýeskoslovenské zájmy v Iráku v meziváleþné dobČ [Vlasta Kálalová Di-Lotti, a Czech physician in Baghdad (1925-1932). Czechoslovak interests in Iraq in the Interwar years], Praha 2012 (edited and typeset manuscript, at present not accessible to the general public due to the decision of Dr Kálalová’s family). 58 Jaroslav ýerný’s lecture presented at the Czechoslovak Embassy in Cairo in April 1932 – transcript by Pavel Onderka, translated by Renata Landgráfová. ONDERKA, Pavel: ýeskoslovenský egyptolog Jaroslav ýerný [The Czechoslovak Egyptologist Jaroslav ýerný]. In: Théby. MČsto bohĤ a faraonĤ – Thebes. City of Gods and Pharaohs. Ed. by Pavel ONDERKA and Jana MYNÁěOVÁ. Praha 2007, 21-25. 59 „Krásný bájeþný nešĢastný Egypt!” (as in n. 15), 531. 60 Ibid., 531f. 61 SANDERS, Paul: Creating Medieval Cairo. Empire, Religion, and Architectural Preservation in Nineteenth-Century Egypt. Cairo 2008, 36, 39-45.

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the country’s ancient past.62 The attraction was thus complex – nineteenthcentury Egyptians and Europeans alike were fascinated by the ancient and medieval past as a factor in their cultural identities. Nature and Local Inhabitants The natural world of Egypt usually did not fail to attract the visiting Czechs, unless a topos of general decline set in. Jan Neruda noted: “[Egypt’s] nature is debased. Famous rose gardens are limited to the Fayyum, papyrus and lotus are almost gone […].” He was an exception, however. Despite the climatic conditions that must have been trying to European visitors unaccustomed to heat and dust, the enchanted moments of a Nile sunset, moonlit pyramids or simply the lushness of vegetation, and the accessibility of flowers and fruits throughout the year made a positive impression.63 Against the backdrop of monuments and lush flora, the locals and their abodes, however, frequently made a different impression. Two cities usually received the most attention – Cairo and Alexandria. Alexandria was the port of arrival, and was a new experience for the senses. Most travellers describe chaos and a deafening uproar. The attack on the senses should not be underestimated;64 the typical features of a noisy port are often extended to the character of the ‘Oriental’, and further supported by other observations. The deafening level of street noise figures in almost every Czech travelogue between the 1870s and 1930s. Possibly only the sea sickness is a comparably permanent fixture. Cairo itself is an onslaught on the European senses, both positive and negative.65 The locals appeared to some of their Central European observers as unwelcome modern additions to a glorious past, quite in the same way as they appeared to other European travellers in the nineteenth century. An exception might be the – limited – admiration for Egyptian villages, occasionally regarded as unchanged since “Biblical times”.66

62 Ibid., 54f. The architect responsible for the pavilion at the Vienna World Exhibition 1873 was the Czech František Schmoranz jr. See NEMECEK, Milan: František Schmoranz le Jeune (1845-1892). In: Le Caire dessiné et photographié au XIXe siècle. Ed. by Mercedes VOLAIT, Paris 2013, 117-138. 63 „Krásný bájeþný nešĢastný Egypt!” (as in n. 15), 538, with further references. 64 See also individual aspects in NANTCHA (as in n. 28), 63-71. 65 „Krásný bájeþný nešĢastný Egypt!” (as in n. 15), 540-547, with further references. 66 GREGORY (as in n. 48), 29-57.

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There were also three further specific areas of interest – the Oriental body, hygiene and dress; the Oriental woman and sexuality (connected thus by the travelogue authors); and the Oriental character and psyche. The Oriental body was partly observed and partly imagined. Both observations and constructions were then represented textually as a rich picture which contrasted the dust, flies, dirt and torn rags of the fellaheen and the silken cloaks of the rich women of Cairo and Alexandria. The female Oriental was usually depicted either as a rich, spoilt harem lady “galloping on her donkey with silly pride”67 or as a country woman with her children, living in poverty and in dirt.68 The Czech imagery is on a par with its Western European counterparts. However, it remains to be seen to what extent this portrait of an Oriental woman as shallow, decorative and unpractical or lecherous, dirty and dim-witted, was a portrait of the Oriental, or that of a woman. Especially for Jan Neruda and Hans Mayer, and generally for male observers up to the 1920s, a suspicion of generic misogyny is perhaps not entirely unfounded.69

67 NERUDA, Masr el-Kahira (as in n. 45), 161. 68 „Krásný bájeþný nešĢastný Egypt!” (as in n. 15), 554. 69 The longevity and persistence of Czech stereotypes regarding women as weak and limited is quite strong. See Žena v þeských zemích [The woman in the Bohemian lands]. Ed. by Milena LENDEROVÁ. Praha 2008. Comments to that effect by educated women abound throughout the period studied – in the 1880s, Karolína SvČtlá commented that Czech men expected women to be “their playthings when young and their maidservants when old”, and earlier still a Polish noblewoman who married into the Bohemian bourgeoisie, Honorata Zapová, observed that it was a surprise to discover that “in Bohemia, men do not require the company of educated women.” Referred to by LENDEROVÁ, Milena: K hĜíchu i k modlitbČ [Sin and Piety]. Praha 1999, 179. Later, one of the few professional female artists of the time, the painter Zdenka Braunerová (1858-1934), said in the 1930s that “in Bohemia, women are disdained […]” (LENDEROVÁ, Milena: Zdenka Braunerová. Praha 2000, 218). During the same period, Karel ýapek (1890-1938), otherwise one of the most gifted writers of the Interwar period, was somewhat unable to consider female professionals seriously; to him a woman was foremost a carer, a housekeeper, and a mother – a sentimental, endlessly patient and nurturing, caring, but nonetheless entirely unheroic being. Other ambitions were seen as secondary; women in his opinion were unable to have humour, hobbies or other signs of strength of mind and character. This view was repeatedly hinted at in varied feuilletons and can be found in ýAPEK, Karel: Na bĜehu dnĤ [At the Shores of Time], Prague 1978, 54-55, 95-96, 150, 224, 263, 350.

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We find further demonstrations of a strong feeling of European superiority in areas of education and the resulting national character.70 However, some travellers offer a kinder look (Jan Neruda or Josef Wünsch). A travelling teacher, Wünsch was interested in sharing a third-class carriage with the locals, and it was he, not they, who was the object of much observation as an exotic and unexpected passenger.71 He also noted prosaically that if the fellaheen were jampacked in the train and trying to get on board with much ado, it was not their fault, but the railways’; after all, railway officials should have provided enough carriages to enable every paying passenger a comfortable journey.72 A Prague teacher and the Egyptian fellaheen were united in their struggle to have at least a decent ride for their money. Other Westerners Two further areas of interest may be identified in most travelogues: religion and meetings with other Westerners. In terms of looking for specific Czech characteristics, the last category is of some importance. A Czech might have strengthened his identity by comparison with other Westerners. Still, there is no universal structure governing, for instance, assessment of certain nations. The Germans are often not mentioned, as if off the radar, and some favourable comments are made concerning the French (by Neruda). The British are quite often seen (by Jan Neruda or Pavla Dušková, the wife of the first Czechoslovak Consul General in Cairo) as a “merchant nation”, with ungainly females to boot.73 However, this may well be the other face of envy – the British lifestyle was considered desirable and indeed emulated. Other travellers, such as Hans Mayer, were in favour of the British and the British presence in Egypt. A less anecdotal and more specific comment on other Westerners was later provided in Iraq by Vlasta Kálalová.74 Nevertheless, any comments on nations, Oriental or Western, may be a part not so much of a specific discourse of Orientalism, or (anti-)Westernism, but that

70 „Krásný bájeþný nešĢastný Egypt!” (as in n. 15), 547, 559. 71 Ibid., 198-199. 72 Josef WÜNSCH published his Egyptian travels in: Mimochodem [By the Way]. Praha 1891, for the train ride impressions see 100-107. 73 It may be noted that the Anglo-Saxon world was not so readily accessible to Czechs (apart from the aristocracy and selected business people) as the Francophone or German-speaking world. 74 Cf. n. 57.

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of a struggle for national identity of the part of the Czechs themselves,75 which might have influenced Czech observations concerning other nationalities. There was no need to portray solely an Oriental as the bearer of (un-)desirable qualities. Other European nations were used as representatives of characteristics to be avoided, or, on the other hand, as representatives of desirable qualities. A Case for Orientalism? At first glance, Czechs were as capable of producing simplified or stereotyped observations of the Egyptian past and present as any other European of the same era. An idea of ‘Czech Orientalism’ full of self-respecting and self-serving haughtiness could easily be born and placed firmly alongside other ‘Orientalisms’, with its discursive objects and practices that supposedly shaped the imagined world of the Orient. Concluding, we find an unmitigated feeling of European superiority, superiority dictated allegedly by religion, overall cultural development and perhaps some racial prejudices. The “locals” of Egypt were occasionally seen as a disturbing element – a nondescript or deteriorated apparition present alongside a glorious past. The Oriental past – which was seen as a part of the European past – was altogether of more interest for many travellers. The modern face of the Orient was recognised as simultaneously marked by stable “biblical” features and by change. The modernisation may have been seen as positive – resulting from the European civilising mission – or negative – the original “Orient” as corrupted by modernisation, which resulted neither in a sophisticated Western society, nor in a noble, if archaic Oriental society. An absence of direct colonial activities on the part of Austria-Hungary (there were ambitions and plans which form an important research topic in its own right) or the later Czechoslovakia was no barrier to the spread of similar ideas.76 However, we also suspect that many of these concepts were formed without a specific opinion on the Orient. Stereotyped, pre-fabricated opinions, or, in a more sophisticated form, discursive practices, were formed about anything or

75 Under Eastern Eyes (as in n. 19). 76 On the discussion about the existence of an interior Orientalism in the multi-ethnic Habsburg Empire: GINGRICH, Andre: Frontier Myths of Orientalism. The Muslim World of Public and Popular Culture in Central Europe. In: Mediterranean Ethnological Summer School, Piran/Pirano, Slovenia 1996. Ed. by Bojan BASKAR and Borut BRUMEN. Ljubljana 1998 (MESS 2), 99-127. See also the contribution of Johannes Feichtinger in the present volume.

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anyone foreign, or ‘other’. For instance, Oriental women may have been simply women observed by men, and hence seen as both alluring and ridiculous, like their European counterparts. Any nation could have been the ‘other’, exhibiting undesirable qualities. For Neruda, if the Oriental allegedly lacked hygiene, the Briton lacked cuisine and manners.77 The Czech impressions of the Orient were consequently a conglomerate of fascination versus repulsion, complicated by the Czech struggle with identity, demonstrated in both covert and overt comparisons of different nationalities.

S OME A SPECTS OF C ZECH E NCOUNTERS WITH THE O RIENT . T URN - OF - THE -C ENTURY T OURISTS , T RAVELLERS , THEIR P REDECESSORS AND F OLLOWERS The travelogues from the period of the 1870s to the 1930s may provide a shop window for Czech Eastern encounters, but what was happening behind the scenes? A wide array of travellers and later tourists visited Egypt in this period. They were of different social classes and had different aims and interests, as well as different travel preparations. The education or social standing of the traveller usually appears not to have played any straightforward role in mitigating or sharpening the comments, i.e. a role that could be qualified or quantified in social terms. Individual interest, training and disposition seem to have played a larger role than class, for example. Teachers, for instance, could produce comments full of respect for the local culture just as well as remarks which might have been considered offensive. Some groups nonetheless stand out, but only in certain respects: Egyptologists, notwithstanding their professional interest, were rather more careful in their assessment of Egyptian society.78 On occasion, the combination of education, personal disposition and individual circumstances produced outstanding observations. Knowledge of the Arabic language might have made a difference, unsurprisingly. Europeans who were not equipped with sufficient Arabic, and on occasion seen as a cheap source of income by the local entrepreneurs in the tourist industry, felt lost, annoyed and out-of-place, and were not prepared to handle particular social situations. Last but not least, the representation of their respective journeys was influenced by the varied individual conditions of those journeys.

77 Mainly in NERUDA, PrĤplav suesský (as in n. 50), passim. 78 ýeskoslovenští vČdci (as in n. 15). Vol. 1-2.

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They also offer an array of different personalities, and may display some aspects of van Dülmen’s individual fields of action.79 The following paragraphs will present evidence from the end of the nineteenth and the beginning of the twentieth century and a specific concept of a Czechoslovak approach to the Orient as applied after 1918. It is in this era that ‘Czech’ as a category has its most logical historical legitimation, as the nationalist movement formulated national and political aims. After 1918, it is also possible to expect and to prove a combination of political and cultural interests of the new Czechoslovakia, although with one strong caveat – there are nearly always Austrian precedents, contexts and connections predating 1918. The case studies are intended to illustrate the sheer range of personalities, circumstances and motivations behind the travel-writing pen or type-writer. Case 1: A Francophile and an Anglophile Perspective with an Industrial Focus from the Period between 1870 and 1900 Different perspectives can be illustrated with the example of two visitors, Jan Neruda and Hans Mayer, who were both attracted to industrial monuments of their age, but their overall preparation and intentions for writing differed. We have already encountered their varied comments on Egypt. Jan Neruda visited Egypt in 1870 and one of his primary motivations was a trip to the Suez Canal. As the first Czech to translate and propagate the works of Jules Verne, and interested as he was in French culture, he was clearly fascinated by an industrial monument of such grandeur as the Suez Canal – the “greatest triumph of our age”.80 Interestingly, he did not seem to notice the contribution of the railway engineer and architect Alois von Negrelli (1799-1858), and hence the direct relation of his homeland (where Negrelli built major railway connections and viaducts in Prague) to the project, but only its French roots.81 It was the first

79 Also compare NANTCHA (as in n. 28) and BURKE, Peter J.: Introduction. In: Advances in Identity Theory and Research. Ed. by Peter J. BURKE et al. New York 2003, 1-7. 80 NERUDA, PrĤplav suesský (as in n. 50), 142. 81 The Austrian engineer and railroad pioneer Alois Negrelli, Ritter von Moldelbe, was responsible for the construction of different railway sections within the Habsburg Empire and Switzerland. Among his most famous buildings was the Negrelli Viaduct in Prague, built between 1846 and 1849, the longest bridge in Europe at the end of the nineteenth century. From 1847 until his death he participated in the planning of the Suez Canal. See also NEGRELLI, Alois: Die gegenwärtigen Transport- und Kommuni-

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monument Neruda saw in Egypt, and the chief object of his admiration. His comments show clearly that he preferred the French and Francophile milieu to any other.82 His language and expressions were those of an experienced journalist with a considerable propensity for venomous remarks.83 Neruda was also more focused on a national and social agenda, but apparently had limited knowledge of Egyptian nationalism. His observations were often focused on fellow Europeans; he was prepared to call the British “a merchant nation”, and despised them openly, with use of very simplistic stereotypes of bad cuisine and ugly women, whereas the French represented for him high culture, elegance and a chance for Egypt, a country in dire need of further education, oppressed by hard work and poverty.84 Neruda’s publications were published in Czech only and had a wide reception from contemporary audiences. He was also notorious for his aggressive writing style, which annoyed the elites of his own society. However, Neruda’s attacks occasionally displayed a tabloid style.85 Concerning his social graces, his record of behaviour towards women was not particularly impressive.86 To interpret his travel writing as venomous, if occasionally intelligent and pertinent, remarks by a misogynist know-it-all (recall his description of travelling Cairene ladies as “galloping with silly pride”) may be to exaggerate, but it is perhaps no exaggeration to assume that Neruda’s usual standards of caustic writing were applied to Egyptian society not because it was Egyptian or Oriental, but because it was part of the columnist’s style and agenda. Three decades after Neruda, a tourist, Hans (in a Czech version of his book, Hanuš) Mayer visited Egypt and was fascinated by another industrial monument

kationsmittel Egyptens mit Beziehung auf die beantragte Durchstechung der Landenge von Suez. In: Austria, Wochenschrift für Volkswirtschaft und Statistik 8/3 (1856), 1-18. 82 „Krásný bájeþný nešĢastný Egypt!” (as in n. 15), 147-167. 83 On the conflict between an important politician, František Ladislav Rieger, and Jan Neruda see SAK, Robert: Rieger. Konzervativec nebo liberál? [Rieger. A Conservative or a Liberal?]. Praha 2003, 206-207. Neruda’s behaviour in the case was typical of him. 84 As seen above. 85 See among others SAK (as in n. 83), 258-260. 86 On Neruda’s behaviour towards the talented writer Karolína SvČtlá in the context of the Prague social scene of their time see LENDEROVÁ, K hĜíchu i k modlitbČ (as in n. 69), 100, with further references.

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– the (British-built) first High Dam at Aswan.87 When writing his travelogue, he copied a report by Amédée Baillot de Guerville, a French journalist, including the Frenchman’s observations on European high society wintering in Egypt. Mayer devoted a considerable amount of pages of his travelogue to both Egyptian monuments and the glamorous Western visitors to Cairo. He was an admirer of Lord Cromer and his policy in Egypt and focused on the technocrat Cromer and his success in leading Egypt out of a debt trap and developing her infrastructure. Mayer aspired, at least in theory, to enter into Western high society company, and the locals are usually treated rather condescendingly. Mayer’s book was published both in Czech and in German; nothing is known about its reception. The travelogues of these two writers diverge in terms of Francophile versus Anglophile tendencies as well as their written style and political agendas. The observations on Egypt, and by extension the Orient, seem therefore to have been directed rather by the individual preferences and interests of the two travellers than by a shared discourse on the East. Case 2: Visitors of all classes between the 1880s and the 1930s The three decades between Neruda and Mayer were filled with a growing stream of middle class to aristocratic visitors, from grammar school teachers to archdukes.88 The 1870s to 1900s saw an increase in the number of visitors from Central Europe. Teachers on a study tour as well as tourists on a winter sojourn were attracted to Egypt as a historical place, an exotic location and a glamorous seat of colonial high society. A distinct group was formed by Czech Catholic priests, either travelling on their own or as a part of a pilgrimage. Their comments on Egyptian society sometimes included critical (occasionally downright venomous) notes not on Islam, as one might perhaps expect, but on the Orthodox and Coptic churches.89 As may be seen from the travellers’ remarks, there was also a

87 „Krásný bájeþný nešĢastný Egypt!” (as in n. 15), 168-185. 88 „Krásný bájeþný nešĢastný Egypt!” (as in n. 16), 186-253, 254-260. – LEMMEN, Sarah: “We were enchanted, Cairo is like our Prague”. Travelogues on Egypt as a mirror of Czech self-perception around 1918. In: Egypt and Austria III (as in n. 17), 167176. 89 NAVRÁTILOVÁ, Modern Pilgrims (as in n. 44). Father Josef Chmelíþek set out on his journey in the 1860s, in the 1870s Anton Dolák decided to visit the Eastern Mediterranean, and in the 1900s Father Josef Sedláþek wrote a travel guide for other devout travellers based on his own journey. Their routes were almost the same, with only

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burgeoning Austrian (Austro-Hungarian) community living in Egypt, chiefly in Alexandria and Cairo.90 This was fertile ground for travel experiences and shorter or longer travelogues of varying content. Two further examples may show the extent of this variety: the grammar-schoolteacher Josef Wünsch, already described above as a compassionate fellow passenger of Egyptian locals, visited Egypt in 1881-1882. He planned a longer study trip to Egypt and Sudan. His plans did not come to fruition because of political changes in both countries.91 Wünsch was a keen observer of nature as well as of other people, and his chief characteristic as a traveller was probably sheer curiosity and an insatiable interest in everything he saw on his travels (in the Orient and elsewhere). Another traveller, Viktor JiĜík, was a rather different visitor. He visited Egypt as a tourist in or shortly before 1913 and his visit was for leisure. Leisure trips were quite popular at that point. His travelogue focused more on the dancers and brothels of Cairo than on the pyramids or indeed on any monuments at all.92 In short, visits from the Bohemian lands were quite frequent in pre-World War I Egypt. Even though they included various social groups (clergy, teachers, or clerks, as seen in preceding examples), they usually had a stable financial background (irresponsible leisure travellers of JiĜík’s type excepted93). After World War I, visitors streaming from the new Czechoslovak republic included budget travellers, students and boy scouts. Occasionally they chose itineraries identical to those of their predecessors from the Habsburg era, but also travelled

slight variations. DOLÁK, Anton: Reise ins heilige Land im Jahre 1870 nebst einem Ausfluge nach Aegypten und Constantinopel. Olmütz 1872. 90 For example DOLÁK (as in n. 90), 42-43. On its later development see JģNOVÁ MACKOVÁ, Adéla: ýechoslováci v KáhiĜe. Manželé Haisovi [Czechoslovaks in Cairo. The Hais Family]. In: Krajané ve starém Orientu. Ed. by ďubica OBUCHOVÁ. Praha 2008, 62-68. See also FISCHER, Robert-Tarek: Österreich im Nahen Osten. Die Großmachtpolitik der Habsburgermonarchie im Arabischen Orient 1633-1918, WienKöln-Weimar 2006. On the communities before 1914, see AGSTNER, Rudolf: Die österreichisch-ungarische Kolonie in Kairo vor dem Ersten Weltkrieg. Kairo 1994. 91 „Krásný bájeþný nešĢastný Egypt!” (as in n. 15), 187-201. 92 However, it is hardly possible to suggest that his fascination with the women of Cairo was inspired by specific erotically charged images of the Orient. He was also enthusiastic about various entertainment visits en route, e.g. in Trieste. See JIěÍK (as in n. 36), 10-14. 93 Ibid.

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via the Balkans, Greece and Turkey (and were an embarrassment for some Czechoslovak diplomats).94 Less affluent travellers and, increasingly, tourists nonetheless helped to further promote travel to Egypt as an accessible adventurous leisure activity providing a trip to be remembered.95 On a different note, the promotion of Czechoslovak trade in the Middle East bred a different type of traveller and later resident in Egypt and elsewhere in the region. There was a continuity of a formerly Austrian and now Czechoslovak trade presence underpinning an inflow of residents.96 The 1920s and 1930s brought Czechoslovak Egyptologists to Egypt and Orientalist scholars to other parts of the Middle East, especially after the establishment of the Oriental Institute. The Egyptologists František Lexa, Jaroslav ýerný (1889-1970) or Ludmila Matiegková (1889-1960) and the Orientalist Felix Tauer (1893-1981)97 left widely differing accounts of their sojourns. A physician as well as an Orientalist, Vlasta Kálalová lived in Iraq, and provided her specific observations on Iraqi society as well as on the Czechoslovak involvement with the East (as shown in case 3 below). The travellers’ and residents’ professional training (or its absence), as well as their ages and possibly their gender and family situations, and the changing international situation toward the late 1930s were all reflected in their descriptions of travel, but not necessarily in any predictable pattern. This is best seen in examples of residents who lived in the Orient after 1918, and is presented in the following case. Case 3: Representing a New National Identity in the Orient – A Scholar, a Physician, and a Diplomatic Housewife A New Republic As the new Czechoslovak republic was established in 1918, it sought international recognition and connections. The development of Oriental studies at the Charles University and the establishment of the Oriental Institute in the 1920s made full use of a generation of Orientalists such as Alois Musil (1868-1944). He was a prominent figure in the field of politics as well as scholarship. The struggle for modernisation in the ‘East’ (or, as Musil said generically, the Orient) were recognised aptly by Musil – and his exhortation was to understand the East and to offer a helping hand. Furthermore, the Orientalist provided the impetus

94 „Krásný bájeþný nešĢastný Egypt!” (as in n. 15), 361-385. 95 Further see LEMMEN (as in n. 89), 167-176. 96 „Krásný bájeþný nešĢastný Egypt!” (as in n. 15), 134-146. 97 See STORCHOVÁ (as in n. 33).

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for furthering the complex interests of the Czechoslovak republic in the Middle East, although this interest was a continuation of the preceding Austrian engagement.98 Musil propagated the idea that Czechoslovakia was the country to supply the Orient with specialists, such as teachers and physicians, as well as skilled artisans, craftsmen and industrial specialists. Germany, Musil argued, could not do so, being discredited by the war. The British Empire, as well as France and Italy, had in his opinion “enough to do in [their own] colonies for [their] own people”.99 In Musil’s words, it was the “opportunity of the century” to help the burgeoning new states of the Orient and to promote the success of a new Central European state. It is still both a “civilising” and a trade mission, but Musil suggests a partnership and mutual benefits. It also promoted a “rather romantic, but still often well-informed Orientalism” in Czechoslovakia.100 Significantly, the very ability to deal sensitively with otherness was deemed a desirable quality, e.g. Jan Antonín BaĢa (1898-1965) offered an exhortation which could be seen as a tradesman’s version of Musil’s comments: “We are unsure, assuming that other nations are different, other than ourselves, despite seeing quite clearly they are flesh and blood like us. […] We desire a splendid isolation, where everything would be ‘tiny but familiar’. However, the wide world is all around us and forces us to play – to play on a world stage directing ourselves or to be directed by another. The modern world does not tolerate splendid isolation, and still less where it concerns a small nation.”101 His rather sharp comment certainly seems to have overlooked some successes of Czech businesses in the Orient,102 successes which would hardly have been possible without at least some sort of adaptability. Whether a tradesman’s skill was always related to an intercultural “literacy” is a different question altogether. Musil found the approval of President Tomáš Garrigue Masaryk (18501937), both for the development of Oriental studies in Czechoslovakia and for

98

On Musil’s career see also the contributions of Johannes Feichtinger and Sarah Lemmen in the present volume.

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Musil, Alois: Naše úkoly v orientalistice a v orientČ [Our Tasks in Oriental Studies and in the Orient]. In: Zvláštní otisk z Naší doby 27/3-4 (1920), 2-20.

100 MENDEL/OSTěANSKÝ/RATAJ (as in n. 14), 137. 101 BAġA, Jan Antonín: Za Obchodem kolem svČta [Trading Around the World]. Zlín 1937, 128-129. 102 Compare e.g. JģNOVÁ MACKOVÁ, Adéla: ýeskoslovenké vztahy s Íránem v letech 1918-1938 [Czechoslovak Relations with Iran in the Years 1918-1938]. Disertaþní práce, FF UK 2012.

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the support of economic activities. As a result, the Oriental Institute was established in Prague and included a research department and a department for economic relations.103 The Scholar An eminent member of the Oriental Institute, the Egyptologist Jaroslav ýerný primarily travelled to study ancient Egypt. He could not (nor did he intend to) avoid meeting other Egyptologists as well as modern Egyptians. ýerný did not pretend to have a specialised insight into the situation and living conditions of modern Egyptians. His area of expertise was Egyptology, and whenever his daily routine met that of his contemporary Egyptians, he was inevitably inclined to view them in the context of a dig and its necessities. This was nothing exceptional and as such cannot always be seen as a condescending ‘Orientalist’ view.104 We also know of ýerný’s wish to learn Arabic with an Egyptian conservation specialist in the Cairo Museum, so he certainly was not universally “condescending” toward the Egyptians. Once he burst into a desperate fury when a large stela was destroyed by the workmen during the Institut français d’archéologie orientale (IFAO) excavations in Medinet Habu: in March 1926, the IFAO-expedition had to cut the number of workers. Shortly after this decision was taken, the stela, recently uncovered, was smashed into pieces overnight. He further commented on some tombs on the West bank of Luxor: “Such is the way local inhabitants deal with the monuments; their source of earnings [...] this event also shows how important it is to save whatever we can. [...] Some are so defaced and burnt (out of the malice and destructivity exhibited by modern Egyptians), that to see them makes one weep. ... Forgive me that I write so confusedly, we [i.e. the Egyptologists Bernard Bruyère and Jaroslav ýerný] are both very upset by the event, and do not talk about anything else.” 105

While he was certainly very upset about the defaced monuments (note that his focus is the monuments, and that he does not present his views as an observer’s

103 On the Oriental Institute in Prague, see also the contribution of Sarah Lemmen in the present volume. 104 Although this has been claimed. See COLLA, Elliott: Conflicted Antiquities. Durham 2007, 15. 105 A letter by ýerný to Lexa, March 3, 1926, Archive of the Czech Academy of Sciences, papers of F. Lexa, box 2, call number 69.

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comment but as an outburst), he did not use this ‘opportunity’ to start any particular digression on the superiority or inferiority of a nation.106 The Physician Alois Musil found unexpected followers, such as Vlasta Kálalová, whose aim was the establishment of a hospital (ideally also a Tropical Diseases Research Institute) in Baghdad. Kálalová left for the Orient in 1924. What she saw as a “mission”, though not to propagate a superior civilization or to serve trade, but to provide (medical) help, inspired her.107 It was she, however, who doubted the right of Westerners to enter the East, although she felt she could do so as a representative of a democratic country supposedly without a colonial agenda. Kálalová first settled in Istanbul and practised in a local hospital and later moved to Baghdad. Her Baghdad impressions were of course varied. Some related to the founding of the hospital. She met with the European community, and one of her first official visits led her to the English traveller, political officer and archaeologist Getrude Bell (1868-1928). She found the local British community of physicians supportive, although her overall view of the British presence in Iraq was undecided or leaning towards the negative. Moreover, she expressed an ambivalent view concerning the impact of a European presence in the East.108 Kálalová was also wary of indicating directly any opinion on Islam or on local customs. She saw herself as a guest in the country, albeit a guest who was convinced she had things to offer and to contribute to the local society. As a physician, she was confronted with the seclusion of women, which often led to the neglect of their health. And she could not disguise her disapproval of this situation. Kálalová, however, used her gender as well as her language knowledge (Turkish and Arabic, principally colloquial Arabic) to the advantage of her patients as well as her business. She established a hospital and repaid a loan provided to her by President Masaryk.109

106 NAVRÁTILOVÁ, Hana/RģŽOVÁ, JiĜina: Jaroslav ýerný (1898-1970): Egyptologist, Diplomat and Traveller. In: Crossroads of Egyptology, Worlds of Jaroslav ýerný. Ed. by Adéla JģNOVÁ MACKOVÁ and Pavel ONDERKA. Prague 2010, 9-35. 107 JģNOVÁ MACKOVÁ, Adéla: The Road to Baghdad: Vlasta Kálalová Di-Lotti – a Woman and a Physician in Baghdad in 1925-1932 and Her Journey from Istanbul to Baghdad in 1925. In: My Things Changed Things. Ed. by Petra MAěÍKOVÁ VLýKOVÁ, Jana MYNÁěOVÁ and Martin TOMÁŠEK. Praha 2009, 100-110, with further references. 108 As analysed in the unpublished Vlasta Kálalová Di-Lotti (as in n. 57). 109 Ibid.

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She enjoyed living in Baghdad, the “City of Thousand and One Nights”, and her social contacts included the royal court of the Iraqi king Faisal I (1885-1933) as well as her first Iraqi landlady’s family and household, and many of her patients. In her manuscript she often related stories of her female friends and acquaintances. Her profession, gender and personal qualities clearly contributed to shaping her Oriental experience.110 The Housewife At the same time, some representatives of Czechoslovakia found it difficult to reconcile their intended democratic mission and their actual encounter with the East. In 1922, the year in which Egypt obtained independence, the Czechoslovak state appointed its first Consul General to Cairo, sent to establish a legation in Egypt, thus elevating the status of consular representation to a regular legation. Cyril Dušek (1881-1924), the new Chargé d´Affaires, travelled with his wife Pavla and their niece Marie. The letters of Pavla Dušková provide a useful insight into the establishment of the new legation, into diplomatic life and her reflections on the Egypt of her day. Her representations of Egypt reflected her husband’s profession and her expectations as a woman of a certain social standing.111 She lived in Cairo from 1922 to 1924, staying in the city, with occasional trips to the surrounding region and as far afield as Luxor. Her impressions upon arrival encapsulate some of her characteristic, multilevel perceptions. Upon arriving in Alexandria, Pavla Dušková was impressed by the sea voyage and at first she was overwhelmed by the crowds of the big port city. Not all of her impressions were favourable, and her expressions tended to be rather judgemental. She was obviously interested in the city and its attractions, but no more so than a tourist of her time (when package tours were already prevalent) might have been. Touring Alexandria, like many others she was witness to other local “attractions”, such as a funeral. “Surrounding this sad and curious spectacle, there are cars and coaches of Alexandrine fine ladies, having a ride on the Corniche. There are their lapdogs looking out of the carriage windows. A military carriage passes by, and no one pays the slightest attention to the

110 Ibid. 111 See HAVLģJOVÁ, Hana: Na okraji zájmu? ýeské moderní ženy a Orient [On the Fringe? Czech Modern Women and the Orient]. Disertaþní práce. Pedagogická fakulta Univerzity Karlovy, Praha 2011.

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funeral cortège. [...] The poor dirty suffering pack of people means much less to them than their own obese overfed lapdog.”112

This was Mrs. Dušková’s reaction as a “socialist”, for which she was then criticised by her husband. They did not stay in Alexandria for long and continued to Cairo. Her first impressions of Cairo in the letters read like a catalogue of Cairene monuments – seen as most impressive and beautiful from the balcony of the Semiramis Hotel. The pyramids of Giza were “overwhelming”, but seen from a distance. She found society amiable: “British and other very rich people”. Later, she sharply modified her impressions of Alexandria when it came to the “locals”: “In Alexandria, there I felt that one is doing wrong to these poor natives. That was my first impression. Here however, in Cairo, I see it differently. One cannot treat them otherwise. Their poverty is their own fault, caused by their laziness and lackadaisical behaviour. Europeans are working [...] whereas an Arab might just sleep on a pavement wrapped up in his dirty cloak, unwashed for at least a century.”113

And to continue: “[...] we must procure a veil for my niece [...] so many flies here. [...] Arabs have [...] them like crust on faces and festering eyes, one never knows when such a fly might land on one of us.”114

Mrs. Dušková involuntarily created a textbook example of ‘them and us’, with no less textbook-like characteristics of the ‘Arabs’ as lazy, dirty and unfit for work. Her letters further continue with details of a search for decent apartments, which preceded the official establishment of the legation residence with offices and lodgings for the minister. Cairo society, dances, dinners and trips to the pyramids alternate in a lively procession. She studied and practised her English,

112 The 1922-1924 letters of Pavla Dušková, unpublished corpus. Archive of the National Museum in Prague, bequest of Cyril Dušek (commented edition is in preparation by Hana HavlĤjová). Letters were addressed to her family in Prague. A letter by Dušková from Alexandria, January 11, 1922. 113 Ibid. 114 The 1922-1924 letters of Pavla Dušková, unpublished corpus. Archive of the National Museum in Prague, bequest of Cyril Dušek. A letter by Dušková from Cairo, January 25, 1922.

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and conversed in French without difficulty. There was one significant language barrier however – her knowledge of Arabic was nonexistent at the beginning, and probably still very basic at the end of her stay. Her knowledge of Arabic or lack of it should be noted again – the difference between those who know a local language and those who do not is quite logical and yet sometimes overlooked.115 In terms of practical everyday existence, the ability to communicate efficiently obviously creates a different perspective. Dušková too felt she was a representative of a new state, although she sought to impress in Cairo’s milieu of diplomats and Western residents and thus adopted the standards she felt helpful to this mission. Her letters were probably meant to present her in her role as the wife of an important man, but also as an educated woman-manager of a diplomatic household.116 In this context, Cairo was a stage for these roles. However, she was occasionally enraptured by the different world she was taking part in (unwillingly, out of her wifely duty): “It is life in here, it is brimming with life, from those animals and children, dirty as they may be, up to the sinewy touristy ladies […] I would not exchange this dirt of Cairo for a spotless Berne […]”.117 We may treat this comment as a sentimental outburst, or as a dutiful homage to a discourse of the escapist dream of the Orientalist fantasy. However, outside of these categories it may also be a comment by someone who, though never having truly adapted to her new environment, still noted that there were dimensions to this world that she found worthy of admiration, if not quite of understanding.

115 Compare the categories of cultural adaptation and shock by NANTCHA (as in n. 28), 66, who stresses that knowing a local language significantly changes one’s perception. 116 HAVLģJOVÁ (as in n. 111), 114-115, on identity roles and women. 117 The 1922-1924 letters of Pavla Dušková, unpublished corpus. Archive of the National Museum in Prague, bequest of Cyril Dušek, A letter by Dušková from Cairo, February 1, 1922.

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P ERSISTING D ILEMMAS It is too early to pronounce judgement upon Czech Orientalism. Did it exist? Do we find “binaristic constructs not as empirically grounded but as an institutionalized, cumulative tradition of textual statements, which have channelled and controlled knowledge of the Orient?”118 Such a binaristic construct does not seem to have existed as a concept in Czech politics or culture before 1918, even though actual encounters were numerous (and the resulting conceptualizations varied). The importance of a concept of relations with the Orient might well have been rather limited for Czech society before 1918, as issues relating to the internal national struggle were powerful enough to overshadow other discourses in public opinion. Not until the existence of the Czechoslovak republic after 1918 does there seem to be a rise of politically and economically motivated and conceptualised interest in the Orient. Alois Musil offered a consistent concept of a Czechoslovak policy in the Levant, with an intention of forming a public discourse. Even so, the Orient was always described, conceptualized and imagined in multiple ways, without a single dominant practice. Czech Orientalism certainly exists as a contemporary research object, as a selection of textual statements, and as such it certainly shared many characteristics, as well as many inconsistencies and variables, with British Orientalism or other West European variants, should we want to use this categorisation. Is it at all useful to study ‘Orientalism’ without the context of a respective country’s or region’s relations to the Orient? The aforementioned research paradigms, if employed in isolation, do not offer an answer which would present Central European interests in the Orient in their full plasticity and colourfulness. The answer of a strict follower of earlier Foucauldian systems might be that this is not his/her focus, as the aim is to see the Orient as being “talked about”, as being constructed in a “way of speaking”.119 This is no doubt interesting, but is it really enough?

118 HAMMOND (see n. 5), 201. 119 Compare, for instance, Foucault’s “Archaeology of Knowledge” and the critical reception of his work. The Cambridge Companion to Foucault. Ed by Gary GUTTING, Cambridge 22006. – also Foucault. A critical reader. Ed. by David Couzens HOY. Oxford 1996.

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Without context, studies of Orientalism, if relevant at all, might become easy prey for “research looping”;120 in short, we find the Orient being “talked about” in a certain manner, because that is what we are looking for. If we decided we wanted to find an affirmative construction of the Orient, we would also succeed.121 The travellers from Bohemia (we dealt in some detail almost exclusively with those who wrote and published in Czech) had many different foci. Their interests were part of a wider picture of Austrian/Czechoslovakian relations to the East, with the additional occasional display of the specificity of their national interests. Anglophile or Francophile interests may have influenced individual testimonies of the Austrian Czechs (or Czech Austrians). A Francophile Neruda was rather anti-British (and occasionally pro-Egyptian, or rather pro-peasant), while an Anglophile Mayer was quite the opposite. Czech(oslovak) society, though living in states without extensive or indeed any colonies (the case of Bosnia-Herzegovina notwithstanding), exhibited a presence of certain stereotypes concerning otherness and exoticism. Stereotypes appeared in literary production, public opinion, news, and art. They were not stereotypes without settings – clichés as well as judgements were a by-product of actual uneasy encounters, of curiosity, accompanied by scholarship and politics.122 Although superficiality and stereotypes (including complex ones) undoubtedly influenced some of the travellers’ comments, the issues at stake were more complicated. For instance, travellers’ problems, especially those of hygiene (a recent obsession of the early twentieth century),123 were presented in such a way

120 HACKING, Ian: The Social Construction of What? Cambridge, Mass. 1999. Compare the analysis by LEWIS (as in n. 9), 120-130. 121 “ist [...] prinzipiell festzustellen, dass die von ihm [Said] betonte negative Konnotation des als Gegenbild zu Europa entworfenen ‚Orients‘ nur eine Seite der Medaille ist. Parallel zu dieser Bewertung existierte immer auch das Konstrukt des ‚Orients‘ als das positive Gegenbild zur europäischen Realität [...].“ FITZENREITER (as in n. 10), 337. 122 The complexity of scholarship in the Western political context is illustrated in: Science across the European Empires, 1800-1950. Ed. by Benedikt STUCHTEY, Oxford 2005 (Studies of the German Historical Institute London). A related topic – science’s social responsibilities as well as the wonder of human curiosity and inventiveness – is sympathetically described in HOLMES, Richard: The Age of Wonder. How the Romantic Generation Discovered the Beauty and Terror of Science, London 2008. 123 SMITH, Virginia: Clean. A History of Personal Hygiene and Purity. Oxford 2007.

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that the reader should not have doubted the high standards of civilization practised by the writer. However, some observations might have been coloured by personal limits of tolerance rather than by any intentional or unintentional representation of the host country and culture, especially where personal hygiene was concerned. Not everyone who found it hard to cope with a Cairo tram or hygiene standards was a brutal colonial racist. He or she might have found it hard to cope with said hygiene standards in a different European country (and some travellers did).124 The travellers might have occasionally failed not in terms of multicultural understanding, but in terms of their personal adaptability, even though such adaptability was claimed to be part of the travellers’ mental luggage, as the Western “art of travel” required considerable flexibility.125 Ultimately, it is a case of individuals in individual situations, which were often shaped by influences well beyond a single concept or practice. Modern studies in human psychology suggest a remarkable complexity of human behaviour, and this complexity is even more pronounced in situations of intercultural contact.126 Individual conditions of travel as well as nuances of character, if given sufficient attention, can certainly alter our perception of historical processes, which are much less coherent than we may initially imagine.127 For Orientalism, Billie Melman’s suggestion is very helpful and perhaps needs a more widespread application: “The discourse on the Orient […] may be characterised by a plurality of voices and idioms, reflecting the proliferation […] of experience of individuals and groups, of gender and class. There is not one authority ordering the experience, reconstructing the information gathered and shaping the discourse, but a few, equally significant models of perception and action, which moulded actual encounter with alien people and places and, in turn, were modulated by that encounter. There is not one literary canon […]. There is not one focus of power and knowledge about ‘things oriental’.”128

124 LENDEROVÁ, Milena/JIRÁNEK, Tomáš/MACKOVÁ, Marie: Z dČjin þeské každodennosti [From Czech Everyday History]. Praha 2009, 129f. 125 See GUTH-JARKOVSKÝ, JiĜí: Turistika [Tourism]. Praha 1917. 126 An analysis of textual representation along those lines is attempted in NANTCHA (as in n. 28). – Compare also ADLER, Judith: Travel as Performed Art. In: The American Journal of Sociology 94/6 (1989), 1366-1391. 127 MEGILL, Alan: Historical Knowledge, Historical Error. Chicago-London 2007, 206 and 214-215. 128 MELMAN (as in n. 29), 315.

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Does a Czech case study of the “encounters with the East” help us in defining “Orientalism”? As we follow the multiple ways in which a European region encountered a non-European region, we may want to understand “Orientalism” as an increasingly expanding complex of statements and representations, but without one dominant concept. The uniformity is lacking, and recreating a connecting concept is deceptive. The statements and representations may have had various roots, ranging from collective imagination to a specific political or scholarly discourse to an individual situation. While this hardly seems to be a groundbreaking solution, it is still worth recalling, as it allows for “structural relationships within the context of potential fields of action”, to quote Richard van Dülmen once more. Or has “Orientalism” as a category lost its usefulness in the long run?

Orientalismus und Ossianismus. Zu den Verschränkungen der Nord- und OrientDiskurse in der polnischen Frühromantik H EINRICH K IRSCHBAUM

D OPPELGÄNGERTUM DER D ISKURSE UND P ARTIALITÄTSSCHREIBEN Eine der Besonderheiten der europäischen kulturellen und politischen Diskurse Ende des 18. bzw. Anfang des 19. Jahrhunderts bestand unter anderem in der beschleunigten Konzeptualisierung des geographischen Raumes und des Klimas des Landes;1 Die zentrale Rolle bei solchen Geokulturosophemen, die man auch

1

Entscheidend hat zur Etablierung geopoetologischer Fragestellungen Susi Frank in ihren diversen Publikationen beigetragen (Grundlegendes bei FRANK, Susi: Überlegungen zum Ansatz einer historischen Geokulturologie. In: Zeit-Räume. Neue Tendenzen in der historischen Kulturwissenschaft aus der Perspektive der Slavistik. Hg. v. DERS. Wien 2002 (= Wiener Slawistischer Almanach 49, 2002), 55-75 und DIES.: Geokulturologie und Geopoetik: Definitions- und Abgrenzungsvorschläge. In: Geopoetiken: Geographische Entwürfe in den mittel- und osteuropäischen Literaturen. Hg. v. Magdalena MARSZAàEK und Sylvia SASSE. Berlin 2010 (Literaturforschung 10; TopographieForschung 1), 19-43). Von dem wachsenden Interesse für die ostslawischen Geound Klima-Diskurse zeugen neben dem oben erwähnten Sammelband von MARSZAàEK

und SASSE eine Reihe von Artikeln in der Zeitschrift „Novoe literaturnoe

obozrenie“ (Nr. 99, 2009): ANISIMOV, Kirill: Klimat kak „zakosnelyj separatist“. Simvoliþeskie i politiþeskie metamorfozy sibirskogo moroza [Das Klima als „steifer Separatist“. Symbolische und politische Metamorphosen des sibirischen Frosts]. In: Novoe literaturnoe obozrenie 99 (2009), 98-114. – BOGDANOV, Konstantin: Klimatologija russkoj kul’tury. Prolegomen [Klimatologie der russischen Kultur. Prolegome-

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als Nationalisierungen des Geographischen im Allgemeinen und der Himmelsrichtungen im Besonderen bezeichnen könnte, kommt dem Norden und dem Osten bzw. dem Orient zu. Den wichtigsten rhetorisch-poetischen Raum für die Konstruktionen der nationalen Geoidentität bildete dabei die Dichtung. In den Literaturen der jeweiligen Länder, die sich nun zunehmend als Nationalliteraturen selbst definieren, erhält der Diskurs des Nationalen mitsamt seiner geohistorischen und geopolitischen Komponente seine Prägung. Dabei kommt es zu paradox anmutenden Erscheinungen: Zum einen wandern romantische Topoi und Motive, welche zu Mythologemen und Ideologemen werden, von Land zu Land, von einer (poetischen) Kultur in die andere. Zum anderen aber wird dieses interkulturelle und interliterarische Gemeingut zur Selbstspezifizierung eingesetzt, was eine Abgrenzung von den Literaturen und Kulturen der Nachbarländer impliziert. Einen der relevantesten Diskurse, in denen sich die europäischen (Literatur-) Kulturen definieren, bildet zu Beginn des 19. Jahrhunderts der poetische Orientalismus, hier auch im postkolonialistischen, Saidschen Sinne interpretiert. Im Falle Mickiewicz’ wird das poetische und zugleich politische Konstrukt Litauen zu einer solchen Orientalisierungs- und Selbstorientalisierungsfläche. Dirk Uffelmann, der in einem Artikel die Beschreibungen der (anti-)kolonialen Doppelstimmigkeitsstrategien in Mickiewicz’ „Konrad Wallenrod“ (1828) untersucht, vertritt die Auffassung, dass der Befund, Litauen bleibe für den sich gewaltsam relithuanisierenden Verräter [Konrad – H.K.] ein unerreichbares, hybrides Gebilde, das über den Helden hinausreiche. Mit Adam Mickiewicz (1798-1855) haben wir es, so Uffelmann, mit einem in Litauen geborenen, in der polnischen Kultur sozialisierten, nach Russland verbannten Schriftsteller zu tun, der später, im Pariser Exil, das Werk („Pan Tadeusz“) schreiben würde, das Litauen zum hybriden Ort der polnischen Seele erhebt. Das Litauische habe – als eigenes Fremdes – einen festen Platz auf der mental map der polnischen Kultur. Die Überlegung, warum Mickiewicz Konrad von Wallenrode nicht auch eine polnische Herkunft andichten konnte und warum das eigene Fremde der polnischen Kultur das Litauische sein musste, beantwortete Dirk Uffelmann damit, dass Litauen die Funktion eines eigenen ‚Orients‘ der polnischen Kultur übernehmen konnte. Fern und doch vertraut, mit dem Eigenen (Katholischen) verbunden und doch – im 14. Jahrhundert – noch heidnisch und fremd. Die dosierte Fremdheit prädestiniere Litauen als polnisches eigenes Fremdes für das doppelstimmige

non“]. In: Ebd., 60-97. – KELLI, Katriona: Sorok sorokov doždej: kak delali „peterburgskuju pogodu“ [Vierzig mal vierzig Regen: Wie wurde das „Petersburger Wetter“ konstruiert]. In: Ebd, 115-138.

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Sprachrohr des Verräters, der innen sei und zugleich außen, in zivilisierte Gewänder gekleidet und doch gleichzeitig ein wild kämpfendes Tier.2 Wie uns scheint, bedürfen die zutreffenden Analysen und Schlussfolgerungen Uffelmanns, der Mickiewicz’ Litauen die Funktion des Orients attestiert, einiger kleiner Nuancierungen bzw. Ergänzungen. Die Besonderheit der Situation Polens bestand darin, dass es nach 1795 keine Eigenstaatlichkeit mehr besaß und zwischen Preußen, Österreich und Russland aufgeteilt war. In der Literatur des geteilten und somit auch in gewissem Sinne entgeographisierten Polen entsteht ein romantisch geprägtes, poetisch-politisches Konstrukt ‚Polen‘, das in das geokulturosophische und geopolitische Koordinatensystem Europas neu eingeschrieben wird. Dabei verschränken sich die diese Konstruktionen tragenden Diktionen mit den aktuellen europäischen und somit auch von der polnischen (literarischen) Kultur zu rezipierenden poetischen und kulturellen Diskursen. Das Bewusstsein dieser geteilten (Spalt-)Lage Polens bestimmt maßgeblich die Modi der Fremd- und Selbstdefinitionen Polens. Sowohl innere polnische Diskurse der polskoĞü als auch fremde (bzw. feindliche) Polen-Konstrukte imaginieren (und/oder diskreditieren) die vergangene (,historische‘) und potenziellprovidenzielle, künftige Integrität Polens über seine Partialität. Die entscheidende Rolle kommt bei diesen Pars-pro-toto-Narrativen, die man auch ‚äsopisches Partialitätsschreiben‘ nennen könnte, diversen Metonymien bzw. Antimetonymien Polens (z.B. in den Kreuzritternarrativen) zu.3 Die damit verbundenen komplexen und oft widersprüchlichen Orientalismen und Selbstorientalisierun-

2

UFFELMANN, Dirk: „Litwo! Wschodzie mój!“ [Litauen! Mein Orient!] In: Sáupskie

3

Zum negativen Deutschenbild, entstanden durch die romantische Thematisierung der

Prace Filologiczne. Seria Filologia Polska 8 (2010), 165-188. Kreuzritterthematik, vgl. ZYBURA, Marek: KrzyĪak. Zur Entstehung des negativen Deutschenbildes in der polnischen Romantik. In: Narrative des Nationalen. Deutsche und polnische Nationsdiskurse im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Izabela SURYNT und Marek ZYBURA. Osnabrück 2010 (Studia Brandtiana 2), 147-158. Zu den Kreuzritternarrativen in Preußen vgl. SURYNT, Izabela: Sendungsbewusstsein und Kolonialräume. Die Kreuzritter im preußisch-deutschen Diskurs der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Ebd. 181-206. Zum polnischen und deutschen Erinnerungsort Tannenberg vgl. PRZYBUàA, Piotr: 1410, „gedächtnisfrisch“. Deutsche und polnische Tannenberg-/Grunwald-Imaginationen zwischen Geschichte und Gedächtnis. In: Ebd., 159-180. Zu Tannenberg als Erinnerungsort vgl. auch: SCHENK, Benjamin Frithjof: Tannenberg/Grunwald. In: Deutsche Erinnerungsorte. Hg. v. Etienne FRANÇOIS und Hagen SCHULZE. Bd. 1, Berlin 2005, 438-454.

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gen (seien es Selbstukrainisierungen oder Selbstlithuanisierungen wie in „Konrad Wallenrod“) geraten ihrerseits in den Kontext der aktuellen europäischen und amerikanischen literarischen Mode- und Modelldiskurse (wie der Indianer-, der Janitscharendiskurs u.a.), in die nun die polnischen Konstellationen projiziert werden. Mickiewicz’ Litauen wird demnach nicht nur zu dem poetisch und politisch (antiimperial, antikolonial) ersuchten Geokulturosophem, in dem Selbstorientalisierungsstrategien Polens verhandelt werden. Bei der Konstruktion Litauens als der besseren Metonymie Polens (sowohl historisch-revisionistisch als Teil der Rzecz Pospolita als auch ahistorisch-nostalgisch als verlorenes, heidnisches und somit natürlicheres Eigenes) haben wir es auch mit den Konstruktionen zu tun, die man hier provisorisch ‚Nordismen‘ nennen könnte. Der Begriff ‚Nordismus‘ ist zwar belegt und ist etwa gleichbedeutend mit dem Panskandinawismus, dieser selbst scheint aber ein späteres Nebenprodukt der im 19. Jahrhundert stattfindenden Politisierung früherer Nord-Diskurse zu sein, die in der Literatur des 18. Jahrhunderts ausgetragen wurden. Für die (prä-)romantische Literatur scheint dabei vor allem James MacPhersons (1736-1796) Ossian-Dichtung Muster und Modelle entwickelt zu haben. Die englische Dichtung konstruiert mit der Feder des Schotten MacPherson das verfremdende und verfremdete Eigene in der erdachten gälischen bzw. keltischen Kultur. Man kann den Einfluss der Dichtung des „Homer des Nordens“ sowohl auf die für die slawische Selbst(er-)findung paradigmatischen Volkstümlichkeits- und Slawenkonzepte von Herder als auch auf die für die slawischen poetischen Kulturen ebenfalls einflussreichen Nord-Konstrukte von Madame de Staël kaum überschätzen.4 Bei den hier interessierenden Mechanismen handelt es sich nicht nur um die Motive der ossianischen Poetik5 – auch wenn diese für

4

Vgl. zur Ossian-Rezeption in Europa: The Reception of Ossian in Europe. Hg. v. Howard GASKILL. London 2004 (The Athlone critical traditions series 5); speziell zur französischen Rezeption VAN TIEGHEM, Paul: Ossian en France. 2 Bde, Genève 1967 (Nachdruck der Ausgabe Paris 1917), zum deutschen Ossianismus vgl. TOMBO, Rudolf: Ossian in Germany: bibliography, general survey, Ossian's influence upon Klopstock and the bards. New York 1966 (Columbia University germanic studies 2) [Nachdruck der Ausgabe New York 1901]; zum russischen Fall vgl. LEVIN, Jurij: Ossian v russkoj literature [Ossian in der russischen Literatur]. Leningrad 1980. Zur Rezeption des Ossian-Stoffes in der Kunst vgl.: Ossian und die Kunst um 1800. Ausstellungs-Katalog Kunsthalle Hamburg 1974. München 1974.

5

Vgl. hier aber auch die Konstrukte des Wilden bzw. der Wildheit. Zur Topik des erhabenen Wilden in den Ossian-Liedern MacPhersons vgl. STAFFORD, Fiona J.: The Sub-

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Jahrzehnte zu den Topoi der gesamteuropäischen Literatur werden –, sondern auch um das Prinzip der Erfindung der gesuchten ‚authentischeren‘ poetischen und kulturellen (Ur-)Heimat in der nahen, ja nächsten Nachbarkultur selbst. Dieses Prinzip könnte man in Analogie zum Orientalismus ‚Ossianismus‘ nennen. Nach dem ,ossianischen‘, englisch-schottischen Muster suchen die anderen europäischen Literaturen nach ihrem wieder zu entdeckenden Eigenen im Allgemeinen und nach ihrem eigenen ossianischen Norden im Besonderen. Bei der Sehnsucht nach dem Norden handelt es sich zudem um eine Art geopoetisch umgedrehte neoklassizistische Sehnsucht nach dem seligen Süden, den man, der terminologischen Poetik der Ismen folgend, auch ‚Mediterranismus‘ bezeichnen könnte. Mediterranismus und Ossianismus existieren und behaupten sich in Interaktion und in reziproker diskursiver Dependenz voneinander; dabei überlappen sie sich auch mit denjenigen des Orientalismus. Viele Topoi und Heterostereotype des Mediterranismus werden zum einen auf den Orient übertragen, zum anderen beinhaltet der Orientalismus historisch und aktuell-politisch die griechische und somit auch eine (anti-)osmanische, d.h. (anti-)orientale Komponente (man denke dabei an die Blütezeit des Philhellenismus sowie auch an die hier zur Debatte stehenden 1810er und 1820er Jahre). Mediterranismus, Ossianismus und Orientalismus interferieren und konkurrieren, sie ahmen gegenseitig ihre rhetorisch-diskursiven Schemata nach und sie trans- und deformieren sie zugleich auch. Zusammen bilden sie ein komplexes interdiskursives Feld, dessen Diktionen, Argumentationsfiguren und motivisch-metaphorische Strukturen einander sowohl komplimentieren als auch herausfordern. Dabei kommt es zu entsprechenden Verschränkungen, Verschiebungen und Umkodierungen, welche von den anderen Diskursen rezipiert und in diversen Revisionsverfahren aufs Neue adaptiert werden. Der Kampf bzw. Wettlauf um die eigene Autonomie und rhetorische Souveränität der einzelnen Diskurse, sei es Orientalismus, Ossianismus oder Mediterranismus, setzt auch den Einsatz fremder diskursiver Mittel voraus. Bei diesen reziproken Nachahmungen kommt es zu einem Phänomen, das man als Doppelgängertum der Diskurse bezeichnen würde und bei dem das Original sich schwer herausfinden bzw. unterscheiden lässt. ‚Doppelgänger‘ ist hier natürlich eine Metapher; der Zugriff auf das metaphorische Feld des Doppelgängertums scheint allerdings legitim und zeitgerecht zu sein, nicht nur weil dieses Thema und seine Variationen zu den Topoi der romantischen Literatur im All-

lime Savage. A Study of James Macpherson and the Poems of Ossian. Edinburgh 1988. Diese Topik wird in der Romantik weitergeführt und an die ,eigenen‘, ,einheimischen‘ historischen und geokulturosophischen Mythen angepasst.

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gemeinen und der Texte Mickiewicz’ im Einzelnen gehören,6 sondern auch weil es indirekt das hier interessierende Phänomen der Spaltung bzw. des Verlustes der romantischen Identität beinhaltet. Das Doppelgängertum von Diskursen und diskursiven Praktiken zeugt von demselben Problem auf der Ebene der nationalen Identitätsbildung dieser Zeit, im polnischen Fall korrespondiert es zudem mit dem oben angesprochenen Phänomen der nationalen (Persönlichkeits-)Spaltung (,drei Polen‘) und des Partialitätsschreibens. In diesem Doppelgängerdialog der Diskurse gehört dem Ossianismus die erste Stimme. In den slawischen Literaturen werden ossianische Muster und ossianistische Verfahren unterschiedlich einverleibt. So wird in der russischen Literatur, etwa bei Konstantin Batjuškov (1787-1855), zunächst die Handlung der neo-ossianischen Elegie noch im skandinavischen Norden bzw. in Deutschland verortet,7 während die nachfolgende Generation bereits, etwa in Evgenij Baratynskijs (1800-1844) „Finlandija“ [Finnland], ihren eigenen Norden entwirft.8 Im nächsten Schritt erfolgt die Nordisierung des Eigenen. Hierbei konkurrierten germanische und slawische (russische und polnische) Literaturen darum, der

6

Vgl. in dieser Hinsicht nicht nur die Variationen des Doppelgängermotivs in der Figur bzw. in den Figuren des Hauptprotagonisten von „Konrad Wallenrod“, sondern auch das ihm semantisch angrenzende balladeske Leitmotiv von Mickiewicz’ Frühwerk: das des Vampirs/Gespenstes, das zwischen Lebenden und Toten wandert und wandelt und nicht zur Ruhe kommt.

7

Vgl. Batjuškovs „schwedische“ Elegie „Na razvalinach zamka v Švecii“ [Auf den Ruinen eines Schlosses in Schweden] und die „germanische“ „Perechod þerez Rejn“ [Die Überquerung des Rheins] (BATJUŠKOV, Konstantin N.: Opyty v stichach i proze [Versuche in Vers und Prosa]. Moskva 1978, 202-205, 320-324). Charakteristisch ist, dass der überzeugte Italophile Batjuškov auch stark mediterranistisch inspirierte Gedichte verfasste bzw. deren Topoi in seine nordistischen Meditationen einbaute. Die Sehnsucht nach dem ‚seligen Süden‘ wird in seinem Werk (und später im 20. Jahrhundert bei Osip Mandel’štam) zur untrennbaren Komponente der Selbstnordisierung, und zwar sowohl als deren Ergänzung, als auch als deren Neutralisierung und Ausgleich.

8

Vgl. BARATYNSKIJ, Evgenij A.: Stichotvorenija. Poơmy [Gedichte. Poeme]. Moskva 1982, 7-10. Die russische Dichtung entdeckt das kurze Zeit davor in Folge des Russisch-Schwedischen Krieges von 1808-09 von Schweden übernommene Finnland als ein ossianisches bzw. ossianisierbares poetisches Nachbarland. Bei russischen Finnland-Poetisierungen wird dabei eine andere, für die Selbstossianisierungsstrategien relevante metonymische Verbindung aufgebaut: Finnland – Skandinavien – Schottland.

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einzig wahre Norden oder zumindest ein untrennbarer Teil dieses mit positiven poetischen Konnotationen aufgeladenen Nordens zu sein. An dieser Auseinandersetzung war auch Adam Mickiewicz beteiligt, der sich sowohl der litauischen Geschichte (die Auseinandersetzung mit dem Deutschen Orden in „Konrad Wallenrod“) als auch der programmatisch ahistorischen, nicht zivilisierten, legendären litauischen Vergangenheit annimmt. Eine solche Erschaffung des fremden Eigenen, des eigenen Polnischen in der nächsten kulturellen Metonymie musste nicht unbedingt im direkten Norden sein. In der sogenannten Ukrainischen Schule der polnischen Poesie (Antoni Malczewski, Seweryn GoszczyĔski, Aleksander Groza, Józef Bohdan Zaleski, Michaá Czajkowski, Tomasz Padurra, Wacáaw Seweryn Rzewuski) wird dieses ‚wahre Polen‘ nach dem gleichen Prinzip des Ossianismus, allerdings zusätzlich geprägt durch die präpanslawistische Rhetorik, in der imaginierten Ukraine verortet.9 In den 1820er Jahren beginnen die Diskursdoppelgänger des ersehnten Polentums zu interferieren und zu konkurrieren. Mickiewicz, der sich in seinem ,nordistischen‘, ,litauischen‘ Schreiben u.a. auch indirekt gegen die in den 1820er Jahren aufsteigende Ukrainische Schule wendet, versucht, sich selbst als MacPherson bzw. Ossian Litauens zu etablieren und somit für sich den Lorbeerkranz des polnischen Nationaldichters zu beanspruchen. Das zu orientalisierende und zugleich zu ossianisierende (nordisierende) Litauen wird dabei zum multifunktionalen diskursiven Feld, auf dem neben der Selbstbehauptung der eigenen, polnischen Romantik im gesamteuropäischen Kontext auch die Schlacht um den Titel eines polnischen Homers bzw. Ossians ausgetragen und – wenn man sich den Stellen-

9

Vgl. KIRýIV, Roman F.: Ukraïns’kyj fol’klor u pol’s’kij literaturi [Die ukrainische Folklore in der polnischen Literatur]. Kiiv 1971. Vgl. in diesem Kontext auch Michaá Kuziaks Überlegungen zum Alteritätsdiskurs in der polnischen Literaturkritik am Beispiel BrodziĔskis, Mickiewicz’ und Mochnackis. In seinem Beitrag geht Kuziak der Kategorie der Differenz in der polnischen Romantik nach. Alterität werde im Paradigma der historischen Nationalcharaktere entwickelt. Dabei komme es zu oxymoral anmutenden Versuchen, Pluralisierung und Differenzierung mit innerer Einheit zu verbinden. So wird die Konzeption des Idyllischen bei BrodziĔski mit slawischen Mythen verknüpft, während Mochnacki mit der nordischen Mythologie argumentiert und Mickiewicz nach einer Ausbalancierung zwischen den romantischen Süden- und Osten-Selbsteinschreibungen sucht (KUZIAK, Michaá: BrodziĔski, Mickiewicz, Mochnacki: Der Alteritätsdiskurs der polnischen romantischen Kritik. In: Romantik und Geschichte. Polnisches Paradigma, europäischer Kontext, deutsch-polnische Perspektive. Hg. v. Alfred GALL u.a. Wiesbaden 2007 (Veröffentlichungen des NordostInstituts 8), 173-183, hier 176-179).

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wert Mickiewicz’ in der Rezeption der polnischen Literatur vergegenwärtigt – schließlich für letzteren entschieden wird. Freilich bestimmten die ossianistischen Verfahren bereits das poetische Verhalten vor Mickiewicz. Ein Beispiel dafür stellt die Literaturgeschichte des sogenannten duma-Genres in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts dar. Die Tradition der polnischen duma entsteht ebenfalls maßgeblich durch Übernahmen und Übertragungen ossianistischer Muster. Direkte Assoziationen mit den ähnlichen Gattungen aus dem 17. Jahrhundert führen eher in die Irre. Laut Zgorzelski wurde die Gesangstradition von Kochanowski, SzarzyĔski und anderen Dichtern des 16. und 17. Jahrhundert in dieser Zeit offensichtlich als zu schwach empfunden, so dass weder Niemcewicz noch ein anderer zeitgenössischer Dichter an sie anknüpft. Es ginge um etwas Anderes, um das Lied, das die heroischen Motive mit denjenigen der Liebe vereinen würde: um das populäre Volkslied nach dem Ossian-Muster. Auf dieser Plattform berührten die ersten dumy Niemcewicz’ die Tradition der ukrainischen dumy, die im 17. Jahrhundert so populär an den Höfen des (Klein-)Adels waren.10 Die Erschaffung der eigenen, einheimischen, nostalgisch kolonialen dumaSujets geht in der polnischen Literatur am Anfang des 19. Jahrhunderts Hand in Hand mit der Übernahme bzw. Nachahmung europäischer (poetischer) Muster und Motive. Die Gattung der duma bietet im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts Raum für direkte bzw. offene Übertragungen ossianistischer Balladen. So nennt Julian Ursyn Niemcewicz (1757-1841) seine Nachdichtung der Ballade „Alonzo the Brave and Fair Imogine“ von Matthew Gregory Lewis (1775-1818) noch „Alondzo i Helena. Duma naĞladowana z angielskiego“ [Alonzo und Helene. Duma, nachgedichtet (nachgeahmt) aus dem Englischen].11 Die Tatsache, dass Niemcewicz des Englischen mächtig war, begünstigte den direkten Kontakt mit dem englischen Post-Ossianismus unter Auslassung der deutschen Zwischenstation (obwohl Lewis’ „Alonzo“ in Wirklichkeit eine Variation bzw. Nachdichtung von Gottfried August Bürgers „Lenore“ darstellt), zumindest in der Wahrnehmung Niemcewicz’.12 Ossianistische motivische Spuren (Abschied

10 ZGORZELSKI, Czesáaw: Duma popredniczka ballady [Duma als Vorläuferin der Ballade]. ToruĔ 1949, 32. 11 NIEMCEWICZ, Julian Ursyn: Pisma róĪne wierszem i prozą [Diverse Schriften in Versen und Prosa]. Tom I. Warszawa 1803, 491. Vgl. auch Niemcewicz’ duma „Sen Marysy“ (DERS.: Bajki i powieĞci. [Fabeln und Erzählungen] Bd. 1. Warszawa 1820, 173f.). 12 Zum Einfluss der deutschen Literatur auf Lewis vgl. CONGER, Syndy M.: Matthew G. Lewis, Charles Robert Maturin and the Germans. An interpretative study of the influ-

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der Verliebten in Folge eines Krieges, Klage über den Tod des/der Geliebten am Grabe etc.) lassen sich auch in Bruno KiciĔskis (1794-1844) duma „Ludmila w Ojcowje“13 nachweisen, hier allerdings lokalisiert bereits im slawischen Kontext.14 Rudimente dieser Topik sind auch im orientalistischen Schreiben Mickiewicz’ zu finden, wie z.B. im Krimsonett „Grób Potockiej“ [Potockas Grab] (1826), in dem der verbannte polnische Dichter sich mit der im Harem gefangengehaltenen Maria Potocka identifiziert und in einer neo-ossianistischen Pose sein und pars pro toto auch das gesamtpolnische Schicksal des/der Gefangenen beweint. Dabei vermischen sich post-ossianische Selbstnordisierungen mit Orientalismen und Selbstorientalisierungsstrategien. Mickiewicz’ romantische Erfindung Litauens, sei es in „Ballady i romanse“ [„Balladen und Romanzen“] (1822-23) oder in den „Dziady“ II und IV, vollzieht sich über die ossianistische Selbst-Metonymisierungsroute. Dabei mag Mickiewicz auf die Bezeichnung duma nicht nur verzichtet haben, weil er die für die polnische Literatur neuere,

ence of German literature on two gothic novels. Salzburg 1977 (Salzburg studies in English literature. Romantic reassessment 67). Zum Verhältnis zwischen Lewis’ Original und Niemcewicz’ Nachdichtung s. KLEINER, Juliusz: Sentymentalizm i preromantyzm. [Sentimentalismus und Präromantik]. Kraków 1975, 37-46. 13 KICIēSKI, Bruno: Ludmila w Ojcowje. Duma [Ludmila in Ojców. Duma]. In: Tygodnik Polski i zagraniczny 35 (1818), 193-196. 14 Vgl. auch WĉĩYK, Franciszek: Duma o Wandzie [Duma über Wanda]. In: Pszczóáka Krakowska 48/13 (1820), 201-205. WĊĪyk hat auch 1810, inspiriert nicht zuletzt durch Niemcewicz’ GliĔski-duma, das Drama „GliĔski“ geschrieben (DERS.: 1821. GliĔski. Kraków 1821). Eine slawische Kontextualisierung konnte auch russische Konnotationen beinhalten. Vgl. die Übertragung der ossianischen Topik in den russischen Kontext in Niemcewicz’ „Okropna Puszcza“ [Schrecklicher Urwald] (NIEMCEWICZ,

Bajki, 1820 (wie Anm. 11), 199f.). Vgl. die Klassifikation der Multifunktio-

nalität der Bezeichnung duma und deren poetischer Inhalte in der polnischen Literatur der 1800-1820er Jahre im Allgemeinen und bei Niemcewicz im Besonderen bei ZGORZELSKI (wie Anm. 10), 35-38. Dass Niemcewicz die Bezeichnung der ,alten neuen‘ Gattung und deren Topoi noch inkonsequent gebraucht, bezeugt die Tatsache, dass er in seine „Pisma roĪne wierszem i prozą“ auch „Romans o miáoĞciach Medzuna Leili“ [Romanze über Me÷nnjn-LailƗs Liebschaften] aufnimmt, die Romanze, die er duma perska nennt (vgl. NIEMCEWICZ, Julian Ursyn: Pisma róĪne wierszem i prozą [Diverse Schriften in Vers und Prosa]. Bd. 2. Warszawa 1805, 336-348). Dabei dichtete Niemcewicz die persische duma nach einer französischen Vorlage nach. Vgl. ZGORZELSKI (wie Anm. 10), 37.

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aktuellere und europäischere Bezeichnung Ballade wählte (und sich somit als europäischer Dichter postulieren konnte),15 sondern auch, weil die Bezeichnung duma zu sehr polnisch-ukrainische Assoziationen hervorgerufen hätte, während er vor der Aufgabe stand, eine polnisch-litauische poetische Identität zu kreieren. Die direkt aus dem Ossianismus stammende, „nordische“, d.h. auch selbstnordisierende Ballade passte dazu viel besser.16 Außerdem war die Bezeichnung duma zu sehr mit Niemcewicz konnotiert, aus dessen Schatten Mickiewicz heraustreten wollte. Den polonozentrischen identitätsstiftenden Schreibstrategien Niemcewicz’ (z.B. bei der Wahl der slawischen Bezeichnung duma anstelle der Ballade)17 setzte Mickiewicz eine selbst-europäisierende und zugleich selbstnordisierende entgegen. Die Selbst-Nordisierung bzw. Selbst-Ossianisierung, die auch Selbst-Orientalisierung bedeutet, implizierte dabei auch eine Selbsteuropäisierung. Der anscheinende Umweg über die litauische Metonymie erwies sich schließlich als effektiverer Zugang zum Polentum als der in der poetischen Generation vor Mickiewicz propagierte direkte Weg. Eine ganz andere Revision des Einflusses Niemcewicz’ gab es bei den Vertretern der sogenannten Ukrainischen Schule. Auf die Bezeichnung duma und die ukrainische Verortung literarischer Konstrukte wird nicht verzichtet, aber es kommt zu einer zunehmenden Eliminierung der ossianistisch-sentimentalistischen und somit fremden, europäischen Note der dumy. An ihre Stelle tritt die ,orientalische‘ ,Janitscharenbrutalität‘ der Kosakenbilder, angefangen mit Malczewskis „Maria“ und fortgesetzt bei Zaleski, GoszczyĔski u.a. Die SelbstUkrainisierung bzw. Selbstkosakisierung nimmt dabei viel explizitere selbsto-

15 Zur Krise der Bezeichnung duma wegen des Aufkommens der Bezeichnung ballada vgl. ZGORZELSKI (wie Anm. 10), 63f. 16 Dumy über Litauen sind rar. Eine Ausnahme bildet Dumanie u rozwalin zamku Giedyminu von Mickiewicz’ Wilnaer Freund und Philomaten Onufry Pietraszkiewicz (1793-1863), der zusammen mit Mickiewicz nach Russland verbannt wurde (vgl. den Text des Dumanie in: CZUBEK, Jan: Poezja filomatów. Bd. 1. Kraków 1922, 156160). Hier tritt aber dumanie in der Bedeutung ossianistischer Meditation bei der Betrachtung der Ruinen alter Schlösser und Burgen auf. Diese ossianistische Topik durchdringt nicht nur die dumy mit der Krakauer Kulisse, sondern auch einige „ukrainische“ Texte der Epoche. Vgl. das Gedicht Duma na gruzach Ojczyzny [Duma auf den Trümmern des Vaterlandes] von Seweryn GoszczyĔski (vgl. ZGORZELSKI (wie Anm. 10), 57f.). 17 Zur Wahl der Bezeichnung duma anstelle der Ballade bei Niemcewicz vgl. auch ZGORZELSKI (wie Anm. 10), 35f.

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rientalisierende Züge an als es in den Poetisierungen der Nord-Metonymien Polens der Fall ist. Ein Paradebeispiel für ossianistisch-orientalistische (anti-)koloniale Umkodierungen stellen in diesem Kontext polnische und russische Nachdichtungen der postossianistischen deutschen Ballade dar. Die neue (Wilnaer) Dichtergeneration, der auch Mickiewicz angehört, eignet sich die postossianistischen Verfahren über die deutschen Kanäle an. Zum Schlüsseltext dieser Aneignungen wird Bürgers „Lenore“. Während Niemcewicz in „Malwina“ „Lenore“ über ihre englische Variante (Lewis) adoptiert18, rezipieren die jungen Wilnaer Literaten den Kulttext Bürgers zunächst über eine russische Zwischenstation – über Vasilij Žukovskijs Nachdichtung –, was entsprechende essentielle Revisions- und Rivalitätseffekte in der Rezeption nach sich zieht. Es gehört zu den brisanten, wenn auch der Logik des Streites um neue und alte poetische und kulturelle Identitäten nicht widersprechenden Beispielen der reziproken Etablierung der russischpolnischen Romantik, dass die polnische Begeisterung für die Ballade durch die Lektüre eines russischen Textes ausgelöst wurde.19 Edward Odyniec, der zwei-

18 Vgl. auch die sich bereits auf die deutsche Vorlage stützenden Nachdichtungen von Krystyn Lach Szyrma (SZYRMA, Krystyn Lach: Kamilla i Leon. NaĞladowanie Leonory Bürgera [Kamilla und Leon. Nachahmung (Nachdichtung) von Bürgers Lenore]. In: PamiĊtnik Naukowy sáuĪący za ciąg dalszy üwieczeĔ naukowych. Oddziaá literatury. Bd. 1. Warszawa 1819, 358-366) und Julian Bogucki (BOGUCKI, Julian: Halina (Ballada z Bürgera) [Halina. Ballade nach Bürger]. In: RozmaitoĞci, Nr. 40, 06.10.1824, 315-317). 19 Vgl. DERNAàOWICZ, Maria/KOSTENICZ, Ksenia/MAKOWIECKA, Zofia: Kronika Īycia i twórczoĞci Mickiewicza: Lata 1898-1824. Warszawa 1957, 120; oder KOĝNY, Witold: Adam Mickiewicz und Gottfried August Bürger. In: Mickiewicz und die Deutschen. Hg. v. Eva MAZUR-KEBLOWSKI. Wiesbaden 2000 (Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt 13), 67-87, hier 69f. Zu polnischen und russischen Bürgerübersetzungen vgl. ZGORZELSKI (wie Anm. 10), 78-79. – KOĝNY, Witold: Die polnischen Übersetzungen von G. A. Bürgers „Lenore“ vor dem Erscheinen der Ballade „Ucieczka“ von Adam Mickiewicz. In: MiĊdzy oĞwieceniem i romantyzmem. Kultura polska okoáo 1800 roku. Hg. v. Zdzisáaw LICHAēSKI. Warszawa 1997, 255-272; und SUCHANEK, Lucjan: Wątek Lenory w balladzie polskiej i rosyjskiej (Mickiewicz, ĩukowski, Katienin) [Das Lenore-Motiv in der polnischen und russischen Ballade (Mickiewicz, Žukovskij, Katenin]. In: Spotkania literackie: z dziejów powiązaĔ polsko-rosyjskich w dobie romantyzmu i neoromantyzmu. Hg. v. Bohdan GALSTER. Wrocáaw 1973, 45-59.

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malige Übersetzer von Bürgers „Lenore“20 und zugleich Übersetzer von Žukovskijs Bürger-Variationen, erinnerte sich gerne an den Abend, an dem Žukovskijs Ballade im Wilnaer Literatenkreis vorgelesen und kurz darauf zum Objekt zahlreicher Nachahmungen wurde.21 Žukovskij selbst übersetzte „Lenore“ dreimal: 1808 verfasste er seine Lenore-Nachdichtung unter dem Titel „Ljudmila“, 1808-12 unter dem Titel „Svetlana“, und schließlich 1831 als „Lenora“. In Bürgers „Lenore“ spielt die Handlung in „Deutschland“ bzw. in der deutsch-böhmischen Geschichte: Er war mit König Friedrich’s Macht Gezogen in die Prager Schlacht.22

In seiner Nachdichtung russifiziert und nordisiert bzw. ossianisiert Žukovskij nicht nur den Namen der Hauptprotagonistin (Lenore wird zu Ljudmila), sondern auch den Handlungsort. Das Grab des Helden befindet sich im polnischen Litauen, am Narew: „Ȼɥɢɡ ɇɚɪɟɜɵ ɞɨɦ ɦɨɣ ɬɟɫɧɵɣ [...]“ „Ƚɞɟ ɠ, cɤɚɠɢ, ɬɜɨɣ ɬɟɫɧɵɣ ɞɨɦ?“ — „Ɍɚɦ, ɜ Ʌɢɬɜɟ, ɤɪɚɸ ɱɭɠɨɦ...“.23 [„Nicht weit vom Narew ist mein enges Haus“ [...] // „Wo, sag mir, ist dein enges Haus?“ „Dort, in Litauen, in der Fremde...“]

Es ist dabei anzunehmen, dass Odyniec, Mickiewicz und deren Freunde nicht nur von der brandaktuellen und neuen romantischen Poetik von Žukovskijs Nachdichtung und von der Möglichkeit eines solchen romantischen Schreibens in einer slawischen Sprache fasziniert waren, sondern nicht zuletzt auch von der „litauischen“ Verortung der Erzählung. Das Bürger’sche Sujet wurde von Žu-

20 Vgl. Odyniec’ Bürger-Übertragungen (ODYNIEC, Edward: Adela. Ballada z Bürgera [Adela. Ballade nach Bürger]. In: Dziennik WileĔski 19.06.1822, II, Nr. 6, 213-223 und DERS: Poezje. Bd. 1. Wilno 1825, 3-16). 21 DERS.: Listy z podróĪy. Bd. 1. Warszawa 1961, 265f. 22 BÜRGER, Gottfried August: Lenore. London 1796, 1. 23 ŽUKOVSKIJ, Vasilij: Soþinenija v trech tomach [Werke in drei Bänden] Bd. 2. Moskva 1980, 10f. Die Übersetzungen ins Deutsche sind, wenn nicht anders angegeben, von Heinrich Kirschbaum.

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kovskij im Kontext der polnisch(-litauisch)-russischen Kriege lokalisiert.24 Das Paradigma wurde vorgegeben, außerdem klang die litauische Färbung der Ballade wie eine indirekte Herausforderung an die polnische Dichtung, ihre LitauenPoetisierungen zu intensivieren, wenn sie will, dass Litauen, das bereits politisch zu Russland gehört, nun auch als poetisches Thema nicht zur Domäne der russischen Literatur wird. In seinem Gedicht „Lilie“, das eine freie Variation der „Lenore“ darstellt, übernimmt Mickiewicz Žukovskijs Verfahren, verschiebt jedoch die geohistorische Achse. Der Held der Geschichte zieht mit Bolesáaw gegen die Kiewer (Metonymie für Russland) in den Krieg: MąĪ z królem Bolesáawem Poszedá na Kijowiany.25 [Mein Mann ist mit dem König Bolesáaw / Gegen die Kiewer gezogen.]

In Mickiewicz’ Nachdichtung „Ucieczka“ wird das Bürgersche Sujet, ähnlich zu Tomasz Zans Neryna, ebenfalls lithuanisiert. Inspiriert von der deutschen, Bürgerschen Ballade und deren russischen Adaptation legen die Wilnaer Literaten das Fundament, worauf in den nächsten Jahren der polnische poetische Lithuano-Ossianismus aufbauen wird. Währenddessen arbeitet die russische Dichtung weiter an den litauischen Lokalisierungen der balladesken Sujets. Eine Variation der Bürger-Žukovskijschen Ballade und eine Art Nachdichtung aus dem ,Russischen ins Russische‘ bildet das Fragment gebliebene Gedicht Kondratij Ryleevs „Ljudmila“, in dem der Hauptheld Milovid seinen Tod im fernen Litauen voraussagt: Ɍɚɦ ɞɚɥɺɤɨ, ɡɚ Ⱦɧɟɩɪɨɦ, ȼ Ʌɢɬɜɟ, ɧɚ ɱɭɠɛɢɧɟ, Ʉɨɧɱɭ ɜ ɛɨɟ ɹ ɫ ɜɪɚɝɨɦ Ⱦɧɢ ɫɜɨɢ ɜ ɤɪɭɱɢɧɟ.26

24 Žukovskijs Opponent in der Diskussion um die Ballade, Pavel Katenin, lokalisiert die Bürgersche Geschichte im Nordischen Krieg: KATENIN, Pavel A.: Izbrannye proizvedenija [Ausgewählte Werke]. Moskva-Leningrad 1965, 91. 25 MICKIEWICZ, Adam: Dzieáa [Werke]. Bd. 1. Warszawa 1955, 157. 26 RYLEEV, Kondratij F.: Polnoe sobranie stichotvorenij [Vollständige Gedichtsammlung]. Leningrad 1971, 300.

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[Dort, weit weg, hinter dem Dniepr, / In Litauen, in der Fremde, beende ich im Kampf gegen den Feind / meine Tage in Trauer.]

Ryleev schreibt seinen Text nach dem Paradigma von Žukovskij. Bezeichnend ist die Polonisierung der Betonung: ɜ Ʌɢɬɜɟ [in Litauen].27 Charakteristisch ist auch die hier wie auch im polnischen (u.a. Mickiewicz’schen) Kontext vorhandene (ukrainische) Achse Dniepr – Litauen. Ryleev, der künftige Freund Mickiewicz’ in der Zeit der Verbannung des letzteren in Russland, begeisterte sich für Mickiewicz’ Poesie bereits Anfang der 1820er Jahre. Mickiewicz’ BürgerVariation „Lilie“ kannte er sehr gut und versuchte sie sogar nachzudichten.28 In seinem ebenfalls nicht vollendeten Übersetzungsentwurf verzichtet Ryleev allerdings auf die Übersetzung der Mickiewicz’schen legendär-historischen Verortung der Erzählung in russisch-litauischen Kriegen. Auch der Hauptprotagonist heißt bei Ryleev, abweichend von Mickiewicz, russifiziert Dem’jan.29 Die russische Dichtung (genauso wie die polnische) kämpft im post- bzw. neoossianistischen Genre- und Themenkomplex nicht nur um Litauen, sondern auch direkt und indirekt um die Ukraine als politische und poetische Kolonie bzw. Metonymie Russlands (oder Polens). Schließlich wird „Litauen“ von der russischen Dichtung aufgegeben und dem poetischen „Feind“ überlassen. Die russische Literatur der 1820-30er Jahre (von Ryleevs „Dumy“ bis Gogol’s „Ta-

27 Hier mag Ryleevs Bekanntschaft mit der polnischen Sprache während seines Aufenthaltes im polnisch-litauischen NieĞwiĪ eine Rolle gespielt haben. 28 Vgl. RYLEEV (wie Anm. 26), 339-341. 29 War Mickiewicz’ Verortung des Sujets im Kontext der russisch-polnischen Kriege ein Grund dafür, dass Ryleev die Übertragung des Textes unterbrochen hat? In jedem Fall steht Ryleevs Mickiewicz-Übertragung am Anfang seines widersprüchlichen Verhältnisses zu Polen und zur polnischen Literatur. Zur polnischen Komponente in Ryleevs Leben und Werk vgl. BERNDT, Margarethe: J. Niemcewicz und K. Ryleev. Berlin 1961. – DVOJýENKO-MARKOVA, E. M.: Nemceviþ i Ryleev [Niemcewicz und Ryleev]. In: Pol’sko-russkie literaturnye svjazi [Polnisch-russische literarische Relationen]. Hg. v. Nikolaj BALAŠOV u.a. Moskva 1970, 129-155. – GALSTER, Bohdan: TwórczoĞü Rylejewa na tle prądów epoki [Ryleevs Werk vor dem Hintergrund der Epoche]. Wrocáaw u.a. 1962, 54-59. – KIRSCHBAUM, Heinrich: Verrat, Revolte, Revision: Zu polnischen Komponenten in K. Ryleevs Werk. In: Die Welt der Slaven LVI/2 (2011), 335-359. – KOTLJAREVSKIJ, Nestor: Ryleev. Sankt-Petersburg 1908, 80-82. – MASLOV, Vasilij I.: Literaturnaja dejatel’nost’ K. F. Ryleeva [K. F. Ryleevs literarische Tätigkeit]. Kiev 1912, 172-183; und SIROTININ, Andrej N: Ryleev i Nemceviþ [Ryleev und Niemcewicz]. In: Russkij archiv 1 (1898), 67-82.

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ras Bul’ba“) wird sich nun auf die literarische Einverleibung der Ukraine konzentrieren. Für uns ist bei diesen Übertragungen und den sie begleitenden geopoetischen bzw. geohistorischen Umkodierungen nicht nur die Lokalisierung in der einheimischen und zugleich nordischen (wenn auch legendären) Geschichte von Relevanz, sondern auch die Wahl der Sujets aus den russisch-polnischen Kriegen, die den (para-)historischen Hintergrund der jeweiligen Erzählungen ausmachen und eine Art Umschreibung des russisch-polnischen literarischen Kampfes um neue poetische Themen und ihre geopoetischen Koordinaten bilden. Im Sujetrahmen der russisch-polnischen Kriege findet die Selbstreflexion der poetisch-thematischen und politischen Rivalität der beiden Literaturen und Kulturen statt. Die Selbstorientalisierungs- und Selbstnordisierungsdiskurse sowie Geokulturosopheme mitsamt ihrer Topoi und Sujetik werden nicht zuletzt zu den thematischen Flächen, in denen die jeweilige Literatur sich selbst diskursiviert. Die Metaebene der Literatur passt sich und knüpft an die jeweilige Dominante der Literatur an, in unserem Falle an die Themen und Topoi, die in den frühen 1820er Jahren, d.h. im Vorfeld des Dekabristen- bzw. Novemberaufstands – und diese gleichzeitig auch poetisch-ideologisch mit vorbereitend – eine zunehmende Politisierung erfahren. Für den hier interessierenden literaturhistorischen Abschnitt würde das Folgendes bedeuten: Einerseits vollzieht sich in der Literatur eine Ästhetisierung des Politischen, andererseits ist das Politische nur Material. Beim Eintreten in die Literatur gerät es in ein anderes Funktionalitätsnetz, es wird zu einem Metaverfahren der Literatur: Politisch-ideologisch motivierte und konnotierte poetische Geosopheme und Kulturosopheme werden von bzw. in der Literatur für eigene, auch metaliterarische Zwecke benutzt.30 In den genetisch internationalen und evolutionär nun nationale Identität stiftenden Narrativen beschreibt die (pol-

30 Vgl. KLINKERT, Thomas: Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe. Untersuchungen zur Liebessemantik bei Rousseau und in der europäischen Romantik (Hölderlin, Foscolo, Madame de Staël und Leopardi). Freiburg im Breisgau 2002 (Rombach-Wissenschaften/Reihe Litterae 92). Für die slawischen Kulturen, die mit Verspätung die Romantik rezipieren und domestizieren, findet diese Selbstreflexion bereits im Medium der politisierten bzw. zu politisierenden Diskurse statt. Zur Verstrickung des Poetischen und des Politischen in der Literatur vor den beiden Rebellionen (Dekabristen- und Novemberaufstand) vgl. auch GROB, Thomas: Literatur, Macht und politisches Ereignis. Der Dekabristenaufstand, der Polenaufstand und die ,Romantik‘. In: Imperium und Intelligencija. Fallstudien zur russischen Kultur im frühen 19. Jahrhundert. Hg. v. Jochen-Ulrich PETERS und Ulrich SCHMID. Zürich 2004 (Basler Studien zur Kulturgeschichte Osteuropas 9), 139-169.

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nische/russische romantische) Literatur sich selbst und ihren Kampf um den Platz unter der Sonne der europäischen Literaturen und, natürlich, den Kampf jedes einzelnen Schriftstellers um seine eigene souveräne Stellung in der jeweiligen Literatur.

D ANDYS , P ASCHAS , R ENEGATEN . O SSIANISTISCH - ORIENTALISTISCHE D IKTIONEN IM F RÜHWERK A DAM M ICKIEWICZ ’ Der zweite Teil des vorliegenden Aufsatzes ist drei nicht ‚klassischen‘ Texten aus dem Frühwerk Adam Mickiewicz’ (vor den „Krimsonetten“) gewidmet, in denen die Verschränkung von Nord- und Orient-Diskursen erfolgte. Erste Ansätze der orientalistischen bzw. selbstorientalisierenden Diktion verbunden mit der Selbstverortung im Norden lassen sich noch vor der oben angesprochenen expliziten romantischen Phase, bereits im ersten publizierten Gedicht Mickiewicz’, „Zima miejska“ [Der Stadtwinter] (1818) finden. Mickiewicz’ Wintergedicht beginnt mit einer Absage an die anderen Jahreszeiten, d.h. indirekt auch an die anderen poetisch und geokulturosophisch konnotierten Himmelsrichtungen.31 Nach dieser Abgrenzung beginnt die odische und zugleich elegisch meditative Kontemplation des Winters: Witaj! narodom miejskim pora báoga, JuĪ i NiemeĔców, i sąsiednich Lechów Tu szuka ciĪba, tysiącami mnoga, Zbiegáych Dryjadom i Faunom uĞmiechów. Tu wszystko czerstwi, weseli, zachwyca, Czy ciągnĊ tchnienie, co siĊ zimnem czyĞci, Czy na niebieskie zmysá podniosĊ lica, Czyli siĊ ĞnieĪnej przypatrujĊ kiĞci [...]32 [Willkommen! Den Stadtvölkern eine glückselige Zeit, / Sowohl den Memel-Leuten als auch den Nachbarlechen / Sucht hier bereits das Gewimmel auf, mit Tausend / Lächeln von Driaden und Frauen. // Alles hier erheitert, erfreut, begeistert, / Entweder ziehe ich

31 MICKIEWICZ (wie Anm. 25), Bd. 1, 15. 32 Ebd.

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den Hauch, gereinigt durch die Kälte / Oder ich erhebe die Sinne auf die himmlischen Antlitze auf das Blaue/ Oder ich betrachte die Schneetrauben...]

Charakteristisch ist, dass der Winter bzw. die Winteridylle hier zwar lokalisiert, aber noch nicht explizit nationalisiert wird; sie gehört sowohl den Litauern bzw. Litvinen (NiemeĔcy), als auch den Polen (Lechi), die – der Ideologie des polnisch-litauischen metonymischen Partialitätsschreibens entsprechend – komplementär und zugleich synonym auftreten. Nicht zu überhören ist auch die leicht ironische Intonation des Gedichts, die im Reim Lechów – uĞmiechów entblößt wird.33 Eine andere, mit einem heiteren Humor unterstützte Abgrenzung vollzieht sich im weiteren Verlauf des Gedichts; der Monotonie des Winters auf dem Land wird die städtische Winteridylle gegenübergestellt;34 dabei werden die Topoi der neoklassizistischen mediterranistischen (Winter-)Pastorale wiedergegeben und zugleich ironisiert. Der Held des Gedichts, der auch für den neuen bzw. noch zu schaffenden Helden der neuen Literatur steht, flieht in die Stadt. Metaliterarisch gelesen, umschreibt diese Flucht des Erzählers Mickiewicz’ eine Abkehr von den automatisierten neoklassizistischen Formeln und Diktionen, die in den Strophen zuvor artikuliert wurden (Plutos, Ceres, Chariten). Dieser programmatische Verzicht geschieht zugunsten eines neuen Themas, nämlich des orientalischen. Für die Verschränkung der sich einerseits selbst nordisierenden

33 Man kann nur vermuten bzw. spekulieren, dass (ob) Mickiewicz, der zur Zeit der Niederschrift des Gedichts Deutsch gelernt hat, von der im Deutschen vorhandenen Paronymie Lächeln (uĞmiech) zu Lech zu seinem Reim inspiriert wurde. 34 In der in „Zima miejska“ zentralen Gegenüberstellung von Stadt und Land sind im Rahmen des Wintersujets die ersten Ansätze der Spaltung bzw. der Differenzierung unterschiedlicher Winterbilder zu beobachten, die Mickiewicz später bei seiner Dekonstruktion des russischen Winters im „UstĊp“ [Exkurs, Digression] zum III. Teil des Poems „Dziady“ autotextuell zu Hilfe kommen. Vgl. postkolonialistische Interpretationen des Russlandbildes in Mickiewicz’ „UstĊp“ bei GALL, Alfred: Konfrontation mit dem Imperium: Die literarische Auseinandersetzung zwischen Adam Mickiewicz („Dziady“) und Aleksandr S. Puškin („Mednyj vsadnik“ [Eherner Reiter]). In: Die Slaven und Europa. Hg. v. Gerhard RESSEL und Henrieke STAHL. Frankfurt am Main u.a. 2008 (Trierer Abhandlungen zur Slavistik 8), 79-103 und KIRSCHBAUM, Heinrich: Die Staatsgrenzen der Romantik: Zur Funktion des ‚grenzenlosen Russlands’ bei Adam Mickiewicz. In: Grenzen. Konstruktionen und Bedeutungen. Hg. v. Dennis GRÄF und Verena SCHMÖLLER. Passau 2009 (Medien, Texte, Semiotik Passau 2), 211-234.

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Diktion (polnisch-litauische Winteridylle) und den zu dekonstruierenden neoklassizistisch-mediterranistischen Topoi mit den orientalistischen ist von Relevanz, dass bei der Beschreibung des Tagesablaufes des lyrischen Helden – des jungen Wilnaer Dandys – zunehmend orientalische bzw. asiatische Realia erscheinen.35 Chinesische Objekte – nankin (Nanking-Schlafrock), chiĔskie zioáa (chinesische Kräuter) – stehen neben den türkischen – stambulskie gorycze (Istanbuler Bitterkeiten [Tabak]) und dem orientalischen Balsam (wschodni balsam). Hier differenziert Mickiewicz noch nicht zwischen den unterschiedlichen östlichen Realia, wichtig ist nur, dass sie aus dem Osten kommen. Das Besingen des Winters und des Nordens schließt Orientalismen und Selbstorientalisierungen nicht aus, wobei diese Selbstorientalisierungen Teil der eigenen SelbstUrbanisierungs- und somit Selbsteuropäisierungs- und Selbstzivilisierungsstrategien des aus der Provinz stammenden Dichters (und seines autobiographischen Helden) bedeutet. Die Exotismen des orientalisierten Morgenalltags eines neuen Stadtdandys gehen harmonisch, ja idyllisch in die Beschreibungen des Stadtwinters über.36 Nach dem Besuch eines Salons bzw. eines Klubs (Mickiewicz konstruiert eine Sammelbeschreibung des städtischen Alltags der Wilnaer Junggesellen) fährt man nach Hause. Die schönen Winterbilder, mit denen das Gedicht begann, schließen es auch ab37. Der Winter dient Mickiewicz nicht nur als (Nord-)Kulisse, sondern auch als Verkörperung der Jugend im Allgemeinen und der poetischen Jugend im Einzelnen. Die Selbstnordisierung bildet in „Zima miejska“ nicht nur die Leitdiktion des Gedichts (vgl. das quantitativ und qualitativ dominierende semantische Feld des Winters: Schnee, Eis, Kälte etc.), sondern auch dessen Rahmenkonstruktion, innerhalb derer eine Wende vom neoklassizistisch-mediterranistischen Schreiben zum orientalistischen symbolisch beschrieben wird. Zur Intensivierung der Beschäftigung mit dem Orient bei Mickiewicz kommt es noch vor seiner Verbannung nach Russland und noch vor seiner Reise auf die Krim. Im September 1824 schreibt bzw. improvisiert Mickiewicz im Wilnaer Gefängnis die „türkische Ballade“ (ballada turecka) „Renegat“.38 Die Auftaktverse der Ballade klingen metapoetisch: Es ist für den Erzähler Zeit, über die Ereignisse im Iran zu berichten und für Mickiewicz ist es Zeit, sich des orientalischen Themas zu bedienen:

35 MICKIEWICZ (wie Anm. 25), Bd. 1, 16. 36 Ebd. 37 MICKIEWICZ (wie Anm. 25), Bd. 1, 17. 38 „Renegat“ und „Zima miejska“ weisen direkte autotextuelle Konvergenzen auf: Vgl. das in den beiden Texten vorhandene Motiv des Kaschmirteppichs.

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Co siĊ niedawno staáo w Iranie, Opowiem Ğwiatu caáemu: Na kaszemirskim usiadá dywanie Basza poĞrodku haremu.39 [Was neuerlich im Iran geschah, / Erzähle ich der ganzen Welt: / Auf dem Kaschmirteppich / Saß der Pascha inmitten des Harems.]

Mickiewicz schafft in seinem Gedicht ein orientalistisches Super- und Metasujet. Das Gedicht ist beinahe überfüllt von orientalischen Exotismen, hier in der Reihenfolge ihres Erscheinens (einige erscheinen mehrmals): Iran, kaszemirski dywan (Kaschmir-Teppich), harem (Harem), padiszach (Padischah), Czerkieski (Tscherkessinnen), Kirgis (Kirgise), Eblis (Iblis bzw. Azazil), basza (Pascha), turban (Turban), cybuch (Tabakpfeife), Kyzlar-Aga, Effendy (Effendi), Stambul (Istanbul), janczary (Janitschar), Nazaretka (Nazaretherin), Hassan, tygrys (Tiger), DĪurdĪistan (Dschurdistan [Georgien]), hurysa (Huris), Chan (Khan), Chagan (Kaghan), gazel (Gazelle), bej (Bej), etc. Für ein solches orientalistisches Sammelbild eignete sich am besten das damals populäre Haremsujet, in dem per definitionem unterschiedliche Personen und Realien aus der ganzen (orientalischen) Welt vertreten sein müssen. Sogar Polen (bzw. Litauen) wird türkisch und somit selbst-orientalisierend als Lehistan bezeichnet.40 Die übertriebene Konzentriertheit der orientalischen Realia wirkt ironisch, was der ganzen Ballade einen leicht parodistischen Ton verleiht. Der Ort der Parodie wird allerdings zum Experimentierfeld für spätere Poetisierungen bereits jenseits des Parodistischen (wie in „Sonety Krymskie“ [Krimsonette] von 1826). Zwar wird Polen orientalisiert, zugleich aber in Opposition zum Orient gestellt. Der Mehrdeutigkeit und Multifunktionalität seiner Selbstorientalisierungen bleibt Mickiewicz auch in seinem Spätwerk treu. Basza nie widzi, basza nie sáucha, Turban zawiesiá nad okiem, Drzemie i dymy ciągnąc z cybucha Okryá siĊ wonnym obáokiem.41

39 MICKIEWICZ (wie Anm. 25), Bd. 1, 195. 40 Ebd. 41 Ebd.

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[Der Pascha sieht nicht, der Pascha hört nicht, / Der Turban über dem Auge gehängt, / Schlummert er, und den Rauch aus der Pfeife ziehend, / Bedeckte er sich mit einer Wolke.]

Der Pascha, der hier symbolisch, metaliterarisch gelesen, für den Orientalismus steht, ist der alten orientalischen (und metaliterarisch gelesen orientalistischen) Schönheiten überdrüssig geworden. Dem Pascha wird eine neue Gefangene vorgeführt, nämlich eine Polin, die wie der Pascha selbst aus kalten Ländern kommt („Ona jest rodem z zimnej krainy“) und aus denen auch der Pascha stammt. Nicht einmal der Padischah habe in seinem Garten der Pracht in Istanbul („w sadzie rozkoszy w Stambule“) eine solche Schönheit.42 Der Pascha selbst ist in Wirklichkeit ein Renegat, der einst die Fronten bzw. die Religion gewechselt hat; die Geschichte des Überlaufens wird allerdings nicht erzählt: Mickiewicz mag sich darunter auch einen Janitscharen im kulturhistorischen Sinne des Wortes vorgestellt haben.43 Die nordische, polnische (litauische) Schönheit kommt aus dem Heimatland des Überläufers, aus dem Land, das er einmal verlassen (verraten) hat und an das er oft zärtlich dachte.44 Metaliterarisch gelesen stellt eine solche Einführung des Einheimischen und Europäischen in Einem (beim Motiv des Renegatentums und in der Figur der entführten schönen Polin, der Vorläuferin der Maria Potocka aus den „Sonety Krymskie“) eine Europäisierung und zugleich Polonisierung des orientalistischen Sujets dar, die jedoch auch eine Selbstorientalisierung des Europäischen/Nordischen/Polnischen/Litauischen mit sich bringt. Das Europäische, das sich beim ‚traditionellen‘ Orientalismus als maskulin präsentiert, wird nun feminisiert. Die aktuelle Stufe des Orientalismus – diejenige der Faszination – verlangt nach neuen Konstellationen und Verteilungen der (Geschlechter-)Rollen. Somit wird das Haremsujet des europäischen Orientalismus entautomatisiert und erneuert, und zwar durch dessen Polonisierung. In „Renegat“ finden die diskursiven Verquickungen des polnischen und orientalischen Sujets noch in spielerisch-parodistisch anmu-

42 MICKIEWICZ (wie Anm. 25), Bd. 1, 196. 43 Das Wort Janitschar (janczar) taucht in „Renegat“ auch auf (vgl. die erste Strophe des Teils II), allerdings wohl in der damals geläufigeren Reduzierung der Wortbedeutung auf „grausamer Angehöriger aus der Garde“. 44 Die Tatsache, dass der Pascha zärtlich melancholisch an seine Heimat dachte, bringt näher, das es sich beim Renegaten wohl kaum um einen kaltblütigen Verräter handelt, sondern um einen, der mehr oder weniger wegen äußeren Umständen (Entführung) seine Heimat verlassen musste, d.h. eher für einen Janitscharen.

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tendem Ton statt. Der Pascha, der Renegat stirbt beim Anblick der neuen Schönheit aus den Mitternachtsländern.45 Die Polin als Vertreterin des Nordens bringt sowohl Unruhe in den Harem als auch etwas Neues, einen neuen (thematischen) Zauber (czary), etwas bzw. jemand, den der Pascha, hier stellvertretend für den Orientalismus, bisher nicht gesehen hat. Die alte, ,rein‘ orientalische Welt des europäischen Orientalismus reicht nicht mehr aus. Der Pascha (lies: der (europäische) Orientalismus) erliegt dieser neuen Strömung. Die Schlange (Īmija) des polnischen Sujets schleicht sich darin ein.46 Indirekt wird auch das Polnische als Bestandteil des Orientalismus behauptet und als dessen integraler Teil proklamiert. Mehr noch: Durch die Einführung der polnischen Komponente behauptet Mickiewicz sein Recht bzw. das Recht der polnischen Literatur auf poetische, romantische Orientalismen, das Recht, das in deren Sujets selbst angelegt ist. So meistert Mickiewicz das Hauptdilemma der einzelnen, nationalen bzw. sich selbst als national zu behauptenden europäischen Literaturen: Er schreibt sich in das Paradigma der europäischen literarischen Orientalismen ein, behauptet jedoch zugleich seine eigene Originalität. In „Renegat“ geschieht die Selbstbehauptung zum einen durch die Hypertrophie der europäischen romantisch-orientalischen Sujets, zum anderen durch deren ,Polonisierung‘. Es kommt dabei zur Verschränkung von orientalistischer Diktion eines neuen europäischen und zugleich polnischen Romantikers und seiner Selbstorientalisierung, die den ,Preis‘ für die Polonisierung des orientalischen Sujets ausmacht. Zugleich vollzieht sich eine Übertragung des orientalischen Sujets in den Norden, der dadurch zum festen Bestandteil des Orientalismus wird. Die polnische Schönheit flieht in der Begleitung eines bej nach Polen.47 Eine solche Entwicklung der Erzählung ermöglicht auch eine weitere Interpretation. Der Renegat erliegt der polnischen, einheimischen Schönheit, die er vielleicht auch früher gekannt hat: Man soll dem zu exotischen Orientalismus den Rücken kehren und eigene, nordische Sujets entwickeln. Im dritten Teil des Gedichts kommt es zu einer weiteren Umschreibung dieser Verschiebung des orientalen Sujets. Die Polin kehrt nach Hause zurück, kann aber ohne ihren Geliebten nicht mehr leben, stirbt und wird begraben. Bei der Trauermesse erscheint allerdings ein Türke und bringt die Botschaft vom verstorbenen Pascha: Sein letzte Wille war, dass er neben seiner Liebe begraben werde und dass die Ringe der beiden ausgetauscht werden. Dass der Pascha ein paar Strophen früher

45 MICKIEWICZ (wie Anm. 25), Bd. 1, 196. 46 Ebd, 197. 47 Ebd.

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plötzlich verstorben ist, fällt hier nicht mehr ins Gewicht. Es kommt zu einer – nicht ohne parodistische Züge – Hypertrophierung und Forcierung unterschiedlicher romantischer Schemata. Es soll nach dem Tode des Paschas zur Vermählung der beiden kommen. Der katholische Priester weigert sich allerdings, den Willen des Paschas zu erfüllen, da dieser ein Renegat ist. Der Türke setzt trotzdem den Ring auf den Finger der Verstorbenen; vergeblich versucht der Priester ihn ihr zu nehmen, die tote Schönheit drückt ihre Hand fest zusammen. Die Rückkehr des Renegaten nach Polen ist als thematische Rückkehr in den heimischen Norden zu interpretieren. Mickiewicz verschiebt die Achse des orientalischen Sujets nach Norden und behauptet im gleichen Schritt die reziproke Abhängigkeit und Verwobenheit der beiden literarischen Diskurse (Orientalismus und Nordismus). Wenn man die autotextuelle Zukunft dieses Gedichts in Mickiewicz’ Werk in Betracht zieht, denkt man neben den „Krimsonetten“, in denen zahlreiche Motive des „Renegat“ weiter verfolgt werden, u.a. an die Entwicklung der Renegatenfigur selbst. In diesem Gedicht wird, obgleich in einer humoresken Form, das Phänomen des Renegatentums angesprochen, das in Mickiewicz’ Werk eine der magistralsten Rollen spielen wird und schließlich in die Gestalt des litauischen ,Janitscharen‘ Konrad Wallenrod münden wird. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass „Renegat“ im Gefängnis geschrieben wurde: Es trägt somit zumindest in seiner Entstehungsgeschichte eine bittere Ironie in sich. In „Konrad Wallenrod“ wird der heitere Galgenhumor des „Renegat“ ins sardonische Lachen des Hauptprotagonisten wechseln. Das Gedicht „Renegat“, wie auch „Zima miejska“ und andere „unschuldige“, ironische und selbstironische Texte des frühen Mickiewicz, in denen das neoossianistische und orientalistische Schreiben karikierend protokolliert wird, werden zum autotextuellen Laboratorium, aus dem Mickiewicz später seine Bilder und Diktionen, diese umkodierend, neu einsetzen wird. In Folge der zunehmenden Politisierung von Mickiewicz’ Diktionen in der zweiten Hälfte der 1820er Jahre werden diese autotextuellen Fertigteile aufgegriffen, zum Teil enthumorisiert und (politisch) ernst eingesetzt. Die Tatsache, dass mit dem Orientalismus in den beiden besprochenen Texten noch spielerisch umgegangen wird, soll nicht über die zunehmende Intensität der Beschäftigung Mickiewicz’ mit dem orientalischen Thema hinwegtäuschen. Bereits während seiner Wilnaer Zeit freundete sich Mickiewicz mit vielen Polen an, die in den folgenden Jahren zu Leitfiguren der russisch-polnischen Orientalistik wurden (Aleksander ChodĨko, Józef Szczepan Kowalewski, Józef SĊkows-

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ki, Jan Nepomucen Wiernikowski u.a.).48 Im November 1824 kommt Mickiewicz in Sankt Petersburg an. Dort begegnet er dem Orientalisten Józef Julian SĊkowski (1800-1858).49 SĊkowski gehörte dabei zu den wenigen Polen, denen der polnische Dichter skeptisch gegenüberstand.50 Im Winter 1824/25 besuchte Mickiewicz SĊkowskis Haus und schrieb in das Album seiner Frau das Gedicht „Wschód i póánoc“ [Der Osten und der Norden], in dem er bereits im Titel die hier interessierende geokulturelle Verbindung zwischen dem Orient und dem Norden artikuliert: Porzuceni na Ğwiata lodowatym koĔcu, Nie zazdroĞümy krainom sąsiedniejszym sáoĔcu: Ich ląd kaszemirskiego ma barwĊ kobierca, Kwiat z jedwabiu jutrzenki, z páomienia ich serca; Lecz niech bulbul zabáyĞnie – i wnet oko zmruĪy; Wnet znikną w ziemi liĞcie, w sercach pamiĊü róĪy. A nasze lądy zimnym dochowują áonem PamiĊü istot straconych przed lat milijonem. JeĞli ziemia tak dáugo chowa martwy szczątek, JekieĪ są nasze serca – dla Īywych pamiątek!51

48 Zu den Beziehungen Mickiewicz’ zu seinen Freunden aus den Wilna-Petersburger orientalistischen Kreisen vgl. ZAJĄCZKOWSKI, Ananiasz: Orient jako Ĩródáo inspiracji w literaturze romantycznej doby Mickiewiczowskiej [Der schöpferische Einfluss des Orients auf die romantische Literatur zur Zeit Mickiewicz’]. Warszawa 1955. 49 Zum Stellenwert SĊkowskis in der russischen (bzw. russisch-polnischen) Osmanistik und Iranistik vgl. Istorija oteþestvennogo vostokovedenija do serediny XIX veka [Geschichte der russischen Asienkunde bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts]. Hg. v. Georgij KIM. Moskva 1990, 202-206, 209, 212f. Zu den Identitätsstrategien SĊkowskis vgl. auch GROB, Thomas: Metafiktionalität, Nullpunkt und Melancholie. Osip Senkovskijs „Phantastische Reisen des Baron Brambeus“ am ‚Ende‘ der Romantik. In: Romantik, Moderne, Postmoderne: Beiträge zum ersten Kolloquium des Jungen Forums Slavistische Literaturwissenschaft. Hg. v. Christine GÖLZ u.a. Frankfurt am Main 1998 (Slavische Literaturen 15), 66-97 und GROB, Thomas: Autormystifikation, kommunikatives Framing und gespaltener Diskurs. Baron Brambeus als ,postromantische‘ metadiskursive Konstruktion. In: Mystifikation – Autorschaft – Original. Hg. v. Susi FRANK u.a. Tübingen 2001 (Literatur und Anthropologie 9), 107-134. 50 Vgl. MICKIEWICZ (wie Anm. 25), Bd. 4, 452. 51 MICKIEWICZ (wie Anm. 25), Bd. 1, 209.

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[Verlassen am Ende der eisigen Welt, / Beneiden wir nicht die Nachbarländer der Sonne: / Ihr Land hat die Farbe des Kaschmirteppichs, / Die Blume aus der Seide der Morgenröte, aus der Flamme seines [des Landes – H.K.] Herzens; / Blitzt jedoch der Bülbül auf – und gleich schließt er das Auge; / Gleich verschwinden in der Erde die Blätter, in den Herzen das Gedächtnis der Rose. / Und unser Eis wahrt mit seinem kalten Schoß / Das Gedächtnis der verlorenen Geschöpfe vor Millionen Jahren. / Wenn die Erde schon so lange tote Trümmer aufbewahrt, / Sind unsere Herzen – für lebendige Erinnerungen].

Die Metonymie Orient – Norden polarisiert sich hier in eine Dichotomie. Über das Bild des Kaschmirteppichs (kaszemirski kobierzec) schlägt Mickiewicz eine explizite autotextuelle Verbindung zu seinem wenige Monate zuvor geschriebenem Gedicht „Renegat“ (kaszemirski dywan). Im Gegensatz zu „Renegat“ unterstreichen die orientalischen Fremdwörter und Exotismen jedoch in „Wschód i póánoc“ die Fremdheit der hinter ihnen stehenden (poetischen) Realien. Das Gedicht erhält eine zusätzliche poetologische, metaliterarische Dimension durch die Einführung des Motivs der Nachtigall – bulbul. Dem ‚klassischen‘ orientalistischen Motiv (Nachtigall – Rose) wird das Gedächtnis der Erde gegenüber gestellt. In „Wschód i póánoc“ nimmt Mickiewicz Abstand sowohl zu seinen marginalen, dekorativen Exotismen des europäischen Städteralltags in „Zima miejska“ als auch zu dem hypertrophierten Orientalismus in dem orientalistischnordistischen Programm von „Renegat“. Die Argumentation dieser Abgrenzung, ‚biographisch‘ motiviert durch die Abneigung gegenüber dem ,Renegaten‘, dem Orientalisten SĊkowski, der in den Augen Mickiewicz’ den Orient gegen den Norden (d.h. Polen bzw. Polentum) getauscht habe, ist folgende: Hinter dem Norden steht im Gegensatz zum fremden exotischen Orient das Historische im Allgemeinen und das kulturelle Gedächtnis des eigenen Volkes im Besonderen. Nur zur Erinnerung: Seinen Eid gegenüber dem kalten winterlichen Norden schwört ein Dichter, der kurz zuvor nicht nur an seinen litauischen Balladen, sondern auch an seinem Poem „Dziady“ gearbeitet hat, in dem bereits im Titel der Ahnenkult und die Vorfahrenfeier zum Programm wird. In der Topik der Erinnerung an die Ahnen verschränken sich bei Mickiewicz das politische Pathos des kulturellen Gedächtnisses der gespaltenen Nation und die post-ossianistischen Sujets vom Getrennt- und Gespalten-sein, ja vom postkolonialistisch zu verstehenden Dazwischen (inbetweenness) des noch nicht Toten und noch nicht und zugleich nicht mehr Lebendigen in der (Traum-)Wirklichkeit der Erinnerung. Das Historisch-Patriotische fehlt dem Orientalismus trotz all seiner (literarischen) Attraktivität: Später wird Mickiewicz dieses Dilemma lösen, indem er das Nordisch-Litauische und das Orientalische, mal kontrastiv, mal interferierend in

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Relation zu einander bringen und sich selbst orientalisierend und nordisierend, von der Trennung des polnischen Dichters von seiner litauischen Heimat (Geliebten) berichten wird. Auf der Reise durch den ukrainischen, vormalig polnischen Süden Russlands wird der „Litauer“ Mickiewicz persönlich – ja biographisch bzw. seine eigene romantische Biographie kreierend – dem Orient begegnen und anschließend vor der intertextuellen Folie von Puškins „Bachþisarajskij fontan“ seine „Sonety Krymskie“ schreiben, in denen er eine im Vergleich zu den oben besprochenen Gedichten komplexere antiimperiale und zugleich koloniale Metonymie Litauen (Polen) – Orient konstruieren und somit eine neue orientalistisch-ossianistische und zugleich sich selbst orientalisierende poetischpolitische Identität entwerfen wird.52 Orientalismus und Ossianismus, die beiden Diskursdoppelgänger, werden später, Anfang der 1830er Jahre, nach der Enttäuschung über die Folgen des Novemberaufstandes – auf einem neuen Niveau – zu ihrem dritten diskursiven Doppelgänger, ja zum ‚Original‘ zurückkehren, von dem in „Zima miejska“ Abschied genommen wurde: zur neoklassizistischen mediterranistischen Idylle, und zwar in der mit Humor und bitterer, aber zugleich heiterer Selbstironie entworfenen Halb-Ballade, Halb-Pastorale von „Pan Tadeusz“ (1834). Dort wird Mickiewicz, seine Erfahrungen des nordistisch-orientalistischen Schreibens summierend, dem gespaltenen und voneinander (und, wenn man so sagen darf, miteinander) getrennten polnischen Volk, zugleich jedoch seiner eigenen literarischen Jugend ein poetisches Mahnmal errichten, das die Wege der polnischen (Literatur-)Geschichte für Jahrzehnte maßgeblich mit bestimmen sollte.

52 Vgl. dazu ausführlicher KIRSCHBAUM, Heinrich: Im Harem des Imperiums. „Bachþisarajskij fontan“, „Sonety Krymskie“ und der russisch-polnische Orientalismus. In: Zeitschrift für slavische Philologie 66/2 (2009-2010), 287-316.

Buren und Polen. Metonymischer Manichäismus und metaphorische Autoafrikanisierung bei Henryk Sienkiewicz – zur Rhetorik interkultureller Beziehungen1 D IRK U FFELMANN „Er sprach zu uns das ‚Kisuaheli‘; wir antworteten polnisch […].“2

D IE

AFRIKANISCHE

P ROVOKATION

1988 brachte der Glasgower Polonist Donald Pirie Polen und Somalia in eine metaphorische Relation zueinander: „It might seem that there are few parallels to the partition of the Poles which was the coincidental environment in which Romanticism developed, for the Poles maintain that their

1

Dieser Beitrag geht auf einen Vortrag bei der Akademiekonferenz „Another Africa? (Post-)Koloniale Afrikaimaginationen in der russischen, polnischen und deutschen Kultur“ an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vom 7. bis 9. März 2012 zurück. Die englische Vortragsfassung erscheint im Tagungsband, herausgegeben von Jana DOMDEY, Gesine DREWS-SYLLA und Justyna GOàĄBEK.

2

„On mówiá do nas w jĊzyku ki-suahili, my odpowiadaliĞmy po polsku“ (SIENKIEWICZ,

Henryk: Listy z Afryki. W dwóch tomach. Z licznemi ilustracjami w tekĞcie

[Briefe aus Afrika. In zwei Bänden. Mit zahlreichen Illustrationen im Text]. Bd. I. Warszawa 1893, 113; dt. SIENKIEWICZ, Henryk: Reisebriefe aus Afrika und Amerika. A. d. Poln. v. Sonja PLACZEK. Regensburg [1920], 90).

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experience was and is unique. […] A useful parallel might be that of the Somalis, who are divided to this day as a result of the Berlin Conference that parcelled out Africa’s territories among the European powers in 1888.“3

Derartige Parallelisierungen Polens mit einer afrikanischen Kultur lösen noch immer regelmäßig Ärger aus.4 Solche Negativwahrnehmungen von afrikanischen (und anderen außereuropäischen) Metaphern sind, folgt man dem Postkolonialismus-Theoretiker David Chioni Moore, für die verspätete Rezeption der postcolonial studies in der Ost-, Ostmittel- und Südosteuropakunde mit verantwortlich. In seinem wegweisenden Aufsatz „Is the Post- in Post-Soviet the Postin Post-Colonial?“ von 2001 beklagt Moore das Versagen von „[…] scholars specializing in the formerly Soviet-controlled lands to think of their regions in the useful if by no means perfect postcolonial terms developed by, say, scholars of, say, Indonesia and Gabon.“5 Man möchte meinen, dass Moores Diagnose im Verlaufe der 2000er Jahre an Brisanz verloren hat, wenn man die jüngste Welle von Afrika-bezogenen Forschungen und Veranstaltungen zum polnischen Schriftsteller Henryk Sienkiewicz (1846-1916) betrachtet, der 1891 Somalia passierte. Da wäre beispielsweise die Ausstellung „Na czarnym lązdie“ [Auf schwarzem Land] zu nennen, die von Mai bis Juli 2011 im Museum „Paáacyk H. Sienkiewicza“ in OblĊgorek bei Kielce zu sehen war. Im Zusammenhang mit Sienkiewicz und Afrika hat das Augenmerk vor allem seinem Abenteuerroman „W pustyni i w puszczy“ [Durch Wüste und Wildnis] (1910/11 abschnittsweise in Zeitungen vorabgedruckt, 1911 als Buch publiziert) gegolten, dem einzigen ausdrücklich für Kinder geschriebenen Werk des

3

PIRIE, Donald: The Agony in the Garden: Polish Romanticism. In: Romanticism in National Context. Hg. v. Roy PORTER and Mikuláš TEICH. Cambridge 1988, 317-344, hier 338.

4

Vgl. UFFELMANN, Dirk: „Ich würde meine Nation als lebendiges Lied erschaffen“. Romantik-Lektüre unter Vorzeichen des Postkolonialismus. In: Romantik und Geschichte. Polnisches Paradigma, europäischer Kontext, deutsch-polnische Perspektive. Hg. v. Alfred GALL, Thomas GROB, Andreas LAWATY u. German RITZ. Wiesbaden 2007 (Veröffentlichungen des Nordost-Instituts 8), 90-107, hier 90f.

5

MOORE, David Chioni: Is the Post- in Postcolonial the Post- in Post-Soviet? In: Publications of the Modern Language Association of America 116/1 (2001), 111-128, hier 115.

B UREN

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P OLEN

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Autors.6 Nicht allein die ältere, auch die jüngere Forschung zu diesem Roman ist, abgesehen von Anna Klobuckas Anlegen eines postkolonialen Maßstabs an den Kinderroman7 und von Anna CichoĔs Lektüre des Romans als eines Stücks „Kolonialliteratur“,8 meistenteils konventionell.9 Weit weniger populär als der Kinderroman ist Sienkiewicz’ Reisebericht „Listy z Afryki“ [Briefe aus Afrika] (1891/92). Die geringere Popularität lässt sich klar an der Marketingidee ablesen, den bekannteren Titel des Abenteuerromans zu benutzen, um eine gekürzte Ausgabe des Reiseberichts 2001 unter dem Titel „Listy z pustyni i z puszczy“ [Briefe aus Wüste und Wildnis]10 zu bewerben. Der Sienkiewicz-Biograf Tadeusz ĩabski suggeriert sogar, dass der fast 20 Jahre nach dem Reisebericht geschriebene Abenteuerroman als späte Kompensation für den unspektakulären Ausgang von Sienkiewicz’ Afrikareise gedient habe:11

6

KULICZKOWSKA, Krystyna: Wielcy pisarze – dzieciom (Sienkiewicz i Konopnicka) [Bedeutende Schriftsteller schreiben für Kinder (Sienkiewicz und Konopnicka)]. Warszawa 1964.

7

KLOBUCKA, Anna: ‚Desert and Wilderness‘ Revisited: Sienkiewicz’s Africa in the Polish Imagination. In: The Slavic and East European Journal 45/2 (2001), 243-259, hier 243.

8

„literatura kolonialna“ (CICHOē, Anna: W krĊgu zagadnieĔ literatury kolonialnej – „W pustyni i w puszczy“ Henryka Sienkiewicza [Zum Problemkreis Kolonialliteratur – Henryk Sienkiewicz’ „Durch Wüste und Wildnis“]. In: Er(r)go 8 (2004), 91-108).

9

KLOMINEK, Andrzej: Ogniem i mieczem w pustyni i w puszczy [Mit Feuer und Schwert durch Wüste und Wildnis]. Wrocáaw 1991. – RUSZAàA, Jadwiga: W krainie egzotyki i przygody. O „W pustyni i w puszczy“ Henryka Sienkiewicza [Im Land von Exotik und Abenteuer. Über Henryk Sienkiewicz’ „Durch Wüste und Wildnis“]. Sáupsk 1995. – KIELAK, Dorota: Europejczyk w Afryce. „W pustyni i w puszczy“ [Ein Europäer in Afrika. „Durch Wüste und Wildnis“]. In: Sienkiewicz i epoki. Powinowactwa. Hg. v. Ewa IHNATOWICZ. Warszawa 1999, 63-72. – KOT, Wiesáaw: „W pustyni i w puszczy“ – prawda i legenda [„Durch Wüste und Wildnis“ – Wahrheit und Legende]. PoznaĔ 2001. – BàOēSKI, Jan: StaĞ i Nel [StaĞ und Nel]. In: Tygodnik Powszechny 37 (2775), 15.09.2002. – KOSOWSKA, Ewa: Negocjacje i kompromisy. Antropologia polskoĞci Henryka Sienkiewicza [Aushandlungen und Kompromisse. Henryk Sienkiewicz’ Anthropologie des Polentums]. Katowice 2002, 189-207.

10 SIENKIEWICZ, Henryk: Listy z pustyni i z puszczy [Briefe aus Wüste und Wildnis]. PoznaĔ 2001. 11 SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. II, 192, dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 285f.

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„Er berichtete alle Details in seinen ‚Briefen aus Afrika‘ und füllte diese mit aus Büchern geschöpftem Wissen auf. Letzten Endes war die Sache also wenig attraktiv, wenn man berücksichtigt, dass zu dieser Zeit in großer Zahl Reportagen über riskante Expeditionen von Geografen, Biologen, Missionaren, Sklaven- und Elfenbeinhändlern geschrieben wurden und auch viele faszinierende literarische Werke entstanden. Angesichts von so viel Ungemach [zu Ende seiner Reise] konnte Sienkiewicz seinerzeit kein vergleichbar faszinierender Text gelingen; erst nach vielen Jahren, als Autor eines afrikanischen Abenteuerromans für Kinder, zeigte er echte Löwenkrallen.“12

Wojciech Piotrowski entschied sich 1984 für die Gegenrichtung beim Vergleich: Er benutzte die „Briefe“, um den Roman zu beurteilen. Das allerdings führte ihn vom Roman her zu Fehlschlüssen über den Reisebericht, beispielsweise was das Afrikaner-Bild anging.13 Eine ähnlich irreführende Herleitung vom Roman zum Reisebericht unternahm 1995 auch die Kinderliteraturforscherin Jadwiga Ruszaáa.14 In den 1990er und 2000er Jahren erfuhr Sienkiewicz’ Reisebericht dann für sich genommen wachsende Beachtung,15 was als Indikator für ein verändertes

12 „Wszystkie szczegóáy przekazaá w ‚Listach z Afryki‘, uzupeániá je obficie wiadomoĞciami ksiąĪkowymi, rzecz wiĊc w ostatecznym rozrachunku byáa maáo atrakcyjna, jeĞli siĊ zwaĪy, Īe w tym czasie napisano mnóstwo reportaĪy o ryzykownych wyprawach uczonych geografów, biologów, misjonarzy, handlarzy niewolników i koĞci sáoniowej, powstaáo teĪ wiele fascynujących utworów literackich. Sienkiewicza nie staü byáo teraz, wobec tylu przykroĞci, na tak fascynujący tekst; dopiero po wielu latach pokazaá prawdziwy lwi pazur jako autor przygodowej powieĞci afrykaĔskiej dla máodzieĪy.“ (ĩABSKI, Tadeusz: Sienkiewicz. Wrocáaw 1999 (A to Polska wáaĞnie), 208f.), dt. Übers v. Vf. 13 PIOTROWSKI, Wojciech: „W pustyni i w puszczy“ Henryka Sienkiewicza. Analiza wartoĞci literackich, poznawczych i wychowawczych powieĞci w konfrontacji z „Listami z Afryki“ Henryka Sienkiewicza i reportaĪem Mariana Brandysa „ĝladami Stasia i Nel“ [„Durch Wüste und Wildnis“ von Henryk Sienkiewicz. Eine Analyse der literarischen, kognitiven und pädagogischen Qualitäten des Textes im Vergleich mit Henryk Sienkiewicz’ „Briefen aus Afrika“ und Marian Brandys’ Reportage „Auf den Spuren von StaĞ und Nel“]. Koszalin 1984, 25 und 37. 14 RUSZAàA (wie Anm. 9), 10 u. 123. 15 MALINOWSKA, ElĪbieta: PodróĪe Prusa i Sienkiewicza [Prus’ und Sienkiewicz’ Reisen]. Kielce 1997 (Spotkania z literaturą 21), 53f. – PACàAWSKI, Jan: „Listy z Ameryki i Afryki“ Henryka Sienkiewicza jako reportaĪe [Henryk Sienkiewicz’ „Briefe aus Amerika und Afrika“ als Reportagen]. In: Spotkanie Sienkiewiczowskie.

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kulturwissenschaftliches Erkenntnisinteresse genommen werden kann. Allerdings bewegt sich lediglich Dariusz TrzeĞniowski dabei in Richtung postcolonial studies,16 obgleich sich doch der Reisebericht bestens in das OrientalismusRegister einfügen lässt;17 schließlich heißt es gleich in Sienkiewicz’ zweitem Brief über Port Said: „Hier ist schon der Orient.“18 Ist also das, was wir hier lesen, ein polnischer Kolonialdiskurs analog zu dem von Edward Said19 für England und Frankreich beschriebenen? Ein orientalistischer Diskurs, der europäische Überlegenheit gegenüber einem vermeintlich essenziell anderen Orient konstruiert? Auch wenn das plausibel erscheint, gilt es zu berücksichtigen, dass polnische Kolonialphantasien im klassischen, auf Afrika bezogenen Sinne nicht allein im 19. Jahrhundert (Stefan Szolc-RogoziĔskis polnische Insel-‚Kolonie‘ vor der Küste Kameruns 1882-8420), sondern auch nach dem Ende der Teilungszeit 1918 folgenlose Episoden blieben.21

Opole, 24-25 X 1996. Hg. v. Zdzisáaw PIASECKI. Opole 1997, 41-62, hier 54-62. – WITEK, Halina: Wizerunek obcego. Kultury afrykaĔskie w relacjach Henryka Sienkiewicza, Mariana Brandysa i Marcina KydryĔskiego [Das Bild des Fremden. Afrikanische Kulturen in Reiseberichten von Henryk Sienkiewicz, Marian Brandys und Marcin KydryĔski]. Warszawa 2009. 16 TRZEĝNIOWSKI, Dariusz: „Listy z Afryki“ Henryka Sienkiewicza w Ğwietle dyskursu postkolonialnego [Henryk Sienkiewicz’ „Briefe aus Afrika“ im Lichte des postkolonialen Diskurses]. In: PodróĪ i literatura. Hg. v. Ewa IHNATOWICZ. Warszawa 2008, 357-369. 17 TrzeĞniowski simplifiziert Saids Diagnose über Konfrontationen mit dem Orient als Mittel europäischer Selbstdefinition zu einer „unowoczeĞniona podróĪ sentymentalna w gáąb samego siebie“ [modernisierten sentimentalen Reise ins eigene Innere] (TRZEĝNIOWSKI (wie Anm. 16), 359). Der Forscher zählt vor allem die Defizite von Sienkiewicz’ Wahrnehmung auf (Ebd., 361f.) und attestiert dem Polen „dyskomfort psychiczny w roli biaáego kolonizatora w Afryce“ [psychisches Unbehagen in der Rolle des weißen Kolonisators in Afrika] (Ebd., 364). Dies bedinge bei ihm eine „ĞwiadomoĞü schizofrenika“ [schizophrenes Bewusstsein] (Ebd., 368), was sich aber am Text nicht ablesen lässt. 18 „[…] jednakĪe to Wschód!“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 17, dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 19). 19 SAID, Edward: Orientalism. London u.a. 2003 [11978]. 20 Zu Sienkiewicz’ RogoziĔski-Rezeption s. KULICZKOWSKA (wie Anm. 6), 41. 21 BUJKIEWICZ, Zbigniew: Aspiracje kolonialne w polityce zagranicznej Polski [Koloniale Ambitionen in Polens Außenpolitik]. Zielona Góra 1998. – BORKOWSKA, Gra-

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Will man also ein postkolonialistisches Prisma auf Sienkiewicz’ AfrikaTexte richten, so lohnt es zu untersuchen, ob das jüngste populäre wie auch akademische Interesse an Sienkiewicz’ noch während der Teilungszeit entstandenen Afrikatexten auch metaphorische Identifikationen mit Afrika um eines besseren Verständnisses aktueller polnischer Angelegenheiten einschließt. Dies scheint auf den ersten Blick der Fall zu sein, wenn man den Titel einer Warschauer Konferenz am Instytut BadaĔ Interdyscyplinarnych [Institut für Interdisziplinäre Forschung] „Artes Liberales“ an der Universität Warschau vom 26. bis 29. November 200822 betrachtet, der so etwas wie Aneignung suggeriert: „Czyja Afryka? Wokóá ‚W pustyni i w puszczy‘ Henryka Sienkiewicza“ [Wessen Afrika? Henryk Sienkiewicz’ „Durch Wüste und Wildnis“]. Besagte Warschauer Konferenz begann mit einem Diskussionspanel unter der Überschrift „Polish and South African Nobel Prizes“. Wie ist in diesem Paneltitel das ‚und‘ zu verstehen? Konstruiert es eine logische Analogie oder ein Nebeneinander auf Distanz? Oder, in rhetorischen Begriffen reformuliert: Etabliert das ‚und‘ eine Relation von metonymischer Kontiguität, die sowohl semantische Antithesen als auch feindliche Begegnungen einschließen würde, oder von metaphorischer Similarität, die Identifikation zumindest einmal denkbar macht? Im Sinne eines solchen Nachfragens nach der Semantik der Konjunktion ‚und‘ liegt auch im Titel des vorliegenden Aufsatzes „Buren und Polen“ das Hauptaugenmerk auf dem ‚und‘; nachfolgend werden polnisch-afrikanische ‚und‘Relationen analysiert. Dabei wird chronologisch vorgegangen und mit Sienkiewicz’ Reisebericht von 1891/92 begonnen. Weiter werden Afrika-Bezüge in der Publizistik des Schriftstellers um das Jahr 1900 in den Blick genommen. Den Abschluss bildet ein – nurmehr kursorischer – Ausblick auf den Abenteuerroman von 1910/11.

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MANICHÄISCHE

B LICK . S IENKIEWICZ ’ A FRIKA -R EISE

Henryk Sienkiewicz brach als Abenteuer-Tourist am 8. Dezember 1890 zu einer lang ersehnten,23 aber schlecht vorbereiteten24 Afrika-Reise auf. Am 25. Dezember 1890 ging er in Neapel an Bord eines Dampfers und fuhr zusammen mit sei-

Īyna: Polskie doĞwiadczenie kolonialne [Die polnische Kolonialerfahrung]. In: teksty drugie 4 (2007), 15-24. 22 http://www.ial.org.pl/oldmsh/zdjecia/sesja08_11afry/index.html (22. Februar 2012). 23 Vgl. KLOMINEK (wie Anm. 9), 30-34. 24 KOT (wie Anm. 9), 22f.

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nem Reisegefährten Baron Jan Tyszkiewicz (1867-1903)25 die Ostküste Afrikas entlang, mit Landung in Suez, Aden, Sansibar und Bagamoyo. Eine Fieberinfektion, die eventuell auf Malaria zurückgeht,26 zwang ihn zum überstürzten Abbruch seiner Expedition ins Landesinnere und zur Rückkehr nach Polen, wo er bereits im April 1891 wieder eintraf.27 Die erste Begegnung des Reisenden mit Afrika findet statt, als das Schiff im Hafen von Port Said eintrifft und der europäische Tourist ein Chaos unter den „Araber[n], Beduinen, Sudanesen“28 beobachtet, die sich dem Dampfer mit ihren winzigen Booten nähern, um den Passagieren beim Landgang zu helfen. Ihre Annäherung wird von Sienkiewicz als Invasion erlebt: „[…] und wenn endlich die Eingeborenen wie blutgierige Seeräuber oder Dämonen das Schiff erstürmt haben […]“.29 Auch der europäisch-afrikanische Kulturkontakt in Suez hat unangenehme Nebeneffekte: „Man findet, daß die hiesigen Araber und Neger noch schmutziger, lärmender und zudringlicher sind als in anderen Städten Ägyptens.“30 Im weiteren Reiseverlauf beginnt der Europäer, zwischen Ägypten und dem Orient als einer afro-europäischen Kontaktzone auf der einen Seite und dem „echte[n] Afrika“31 auf der anderen zu unterscheiden, wo, wie er es sich erhofft,

25 Mehr über Tyszkiewicz als Sienkiewicz’ Reisegefährten hat KLOMINEK (wie Anm. 9), 41f. 26 KLOMINEK (wie Anm. 9), 58. 27 Zur Datierung siehe PACàAWSKI (wie Anm. 15), 56f. und 61, sowie WITEK, Halina: Sienkiewicz i afrykaĔskie targowisko róĪnoĞci [Sienkiewicz und der afrikanische Markt der Differenzen]. In: Henryk Sienkiewicz. Polak i Europejczyk. Hg. v. Zdzisáawa MOKRANOWSKA. Sosnowiec 2004, 55-64, hier 58. 28 „Arabowie, Beduini, SudaĔczycy, […]“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 17; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 19). 29 „A gdy wreszcie wpadną na pomost naksztaát krwioĪerczych korsarzy lub záych duchów, […]“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 18; dt. SIENKIEWICZ,

Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 20).

30 „Táum Arabów i murzynów jeszcze brudniejszy, wrzaskliwszy i wiĊcej natrĊtny, niĪ w innych miastach egipskich.“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 47; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 42). Vgl. auch ZĄBEK, Maciej: Biali i Czarni. Postawy Polaków wobec Afryki i Afrykanów [Weiße und Schwarze: Die Haltungen von Polen gegenüber Afrika und den Afrikanern]. Warszawa 2007 (Studia Ethnologica), 170. 31 „jeszcze prawdziwsza Afryka“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 42; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 37).

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„eine andere – die wahrhaft exotische Welt beginnt“.32 Und in der Tat: Sienkiewicz’ Beschreibungen dieses exotischen Afrikas verraten einen positiv orientalisierenden Blick, etwa wenn er lobt, dort finde sich „ein eigenartiger, exotischer Reiz, ein Reichtum und eine überquellende Freigebigkeit der südlichen Natur.“33 Vor dem Hintergrund eines farbenreichen Obstmarktes34 erscheinen dann auch schwarze Menschen als „schokoladenfarbene Eingeborene“.35 Dieser partiell positive orientalisierende Blick reduziert jedoch die alles übertünchende Abscheu des Reisenden vor Afrika im Ganzen kaum – seien es tropische Insekten, Feuchtigkeit, Gestank, Hitze oder Trockenheit, auf die Sienkiewicz physisch mit Fieber reagiert,36 worauf er Hals über Kopf nach Europa zurückkehrt. Manches Kapitel von Sienkiewicz’ „Briefen aus Afrika“ würde sich nahtlos einfügen in den Afrika-Abschnitt von Hans Magnus Enzensbergers Sammlung „Nie wieder! Die schlimmsten Reisen der Welt“.37 Der Widerwille des Polen ist so stark, dass Frantz Fanons – an Nordafrika entwickelte – 50 Jahre alte Beschreibung des kolonialen Bewusstseins als eines manichäischen Denkens38 im Weiteren als Richtschnur zur Strukturierung von Sienkiewicz’ Urteilen über Afrika herhalten kann: „Comme pour illustrer le caractère totalitaire de l’exploitation coloniale, le colon fait du colonisé une sorte de quintessence du mal. […] L’indigène est déclaré imperméable à l’éthique, absence des valeurs, mais aussi négation des valeurs. Il est, osons l’avouer, l’ennemi de valeurs. En ce sens, il est le mal absolu. Elément corrosif, détruisant tout ce qui l’approche, élément déformant, défigurant tout ce qui a trait à l’esthétique ou à la mo-

32 „inny Ğwiat, prawdziwie egzotyczny“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 71; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 60). 33 „odrĊbna, czysto egzotyczna ozdobnoĞü, jakieĞ bogactwo i zapamiĊtaáa hojnoĞü natury poáudniowej“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 206; dt. SIENKIEWICZ,

Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 157).

34 SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 141; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 110. 35 „krajowcy czekoladowego koloru“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 107; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 86). 36 SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. II, 179; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 280. 37 Nie wieder! Die schlimmsten Reisen der Welt. Hg. v. Hans Magnus ENZENSBERGER. Übersetzt von Matthias Fienbork u.a. Frankfurt am Main 1995, 229-297. 38 „Le monde colonial est un monde manichéiste“, FANON, Frantz: Les damnés de la terre. Paris 1991 [11961], hier 71.

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rale, dépositaire de forces maléfiques, instrument inconscient et irrécupérable de forces aveugles.“39

Fanons Beobachtung, dass den Kolonisierten Wertbewusstsein abgesprochen werde, findet Bestätigung in Sienkiewicz’ Verdikt von der „Schwäche des menschlichen Charakters, insbesondere des Negers“.40 Die Korrosionsdiagnose des französischen Theoretikers echot Sienkiewicz’ Beschreibung der irregulären Armee des Sultans. Ihm zufolge sind „diese bewaffneten Neger“ alle „Strolche“ – „[…] ich sah bisher in meinem Leben noch nie so etwas Irreguläres“.41 Somalis werden als verschlagene und grausame Mörder hingestellt,42 und selbst harmlose Händler verdienten es nicht anders, als vom Reisenden die Treppe hinuntergeworfen zu werden43 und die „Peitsche“44 zu spüren. Lässigere Sünden des Erzählers sind da schon die Behauptung von der Dummheit der Schwarzen, die Edward Said als Standardzuschreibung an die Orientalen aufführt:45 Während der Expedition ins Landesinnere etwa müssen alle Dosen von Weißen geöffnet werden, „[…] denn, wenn man einen Schwarzen damit betraut, läßt er sicher den Inhalt mit Soße zu Boden fallen.“46 Nähe zu Eingeborenen wirkt kontagiös, besonders wenn physische Berührung unvermeidbar wird, zum Beispiel wenn sich die Weißen auf den Rücken ihrer schwar-

39 Ebd., 71f. 40 „sáaboĞü natury ludzkiej, a zwáaszcza murzyĔskiej“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. II, 96; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 236). 41 „zbrojni murzyni“, „drapichrusty“, „nic podobnie nieregularnego nie widziaáem nigdy w Īyciu.“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 169; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 131). 42 SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 75; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 63. 43 SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 76; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 64. 44 „bat“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 80; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 68). 45 SAID (wie Anm. 19), 38. 46 „bo jeĞli to powierzysz murzynowi, wyciĞnie ci na ziemiĊ caáą zawartoĞü, wraz z sosem.“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. II, 159; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 270).

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zen Diener durch Flüsse tragen lassen.47 An dieser Stelle kommen Sienkiewicz leichte Zweifel am eigenen orientalisierenden Diskurs, wenn er seine Befürchtungen als irrational eingesteht: „Mir kam unwillkürlich der Gedanke, ich würde meinen weißen Anzug an seinem schwarzen Rücken beschmutzen.“48 Schließlich bestätigt Sienkiewicz’ Einschätzung, dass Schwarze zu einem Leben unter kolonialer Herrschaft prädestiniert seien – „Das Gefühl der Sklavenuntertänigkeit steckt nun einmal im afrikanischen Blute.“49 –, Fanons These von der stabilisierenden Funktion des kolonialen Manichäismus. Wie steht es mit Fanons Argument, dass kolonialer Manichäismus mit Animalisierung der Kolonisierten einhergehe?50 Wiederum ist das Dampfboot der erste Schauplatz für eine derartige Aussage in Sienkiewicz’ Reisebeschreibung: Der Beobachter auf dem sicheren Deck blickt auf im Meer tauchende schwarze Jungen hinab, welche die sie schonenden Haie „für anverwandte Wesen zu halten“51 scheinen. An Land geraten ihm die animalisierenden Metaphern noch übler: Die Bewegung einer Menge schwarzer Menschen wird verglichen mit „sich windende[n] und zusammenballende[n] Würmer[n]“.52 Schwarze Kinder werden als „zweibeinige[] Negerflöhe“53 wahrgenommen. Selbst wenn sich der Erzähler bemüht, eine positive Wertung einfließen zu lassen, hat er schnell animalisierende Tropen zur Hand: „Bewegungen und Blick“ eines „prächtige[n] Typs eines

47 SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. II, 29; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 192. 48 „WyznajĊ, iĪ miaáem mimowolną obawĊ, czy nie posmolĊ o jego czarną skórĊ mego biaáego ubrania.“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 224; dt. SIENKIEWICZ,

Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 168).

49 „Jeszcze dziĞ poczucie prawowitoĞci niewoli tkwi w krwi afrykaĔskiej.“ (SIENKIEWICZ,

Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 151; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afri-

ka und Amerika (wie Anm. 2), 117). 50 „Parfois ce manichéisme va jusqu’au bout de sa logique et déshumanise le colonisé. A proprement parler, il l’animalise.“ (Fanon (wie Anm. 38), 73). 51 „widocznie jednak uwaĪają one [rekiny] tych czarnych pauprów za jakieĞ pokrewne istoty“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 73; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 61). 52 „káĊbienie siĊ robaków“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 78; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 66). 53 „maáe dwunoĪne pcheáki“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 80; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 67).

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Negerjägers“ haben für Sienkiewicz „etwas vom Panther und Luchs an sich“.54 Und was für Individuen gilt, wird verallgemeinert und auf ganze afrikanische Gemeinschaften bezogen: Für Sienkiewicz „[…] führen die verschiedenen Stämme ein zweckloses Leben von heute auf morgen, gerade wie das liebe Vieh.“55 Wie an diesen Beispielen für einen animalisierenden Diskurs deutlich wird, verwendet Sienkiewicz einen hoch metaphorischen Stil zur Beschreibung afrikanischer Menschen. Diese werden jedoch metaphorisch mit Tieren in Verbindung gebracht, nicht mit anderen Menschen. Die Angst des Reisenden vor Kontaktinfektion illustriert die Tatsache, dass Mensch-Tier-Metaphern von metonymischen Mensch-Mensch-Relationen komplettiert werden. Unglücklicherweise sind diese Mensch-Mensch-Metonymien nicht weniger negativ als die MenschTier-Metaphern; sie beziehen sich auf Infektionen, konfligierende Eigentumsbegriffe, asymmetrische interethnische Gewalt (Mord oder Peitsche) oder militärische Auseinandersetzungen. Im afrikanischen Kontext bezieht sich die drastischste Mensch-MenschMetonymie auf afrikanische Kannibalen, die Europäer ‚essen‘. Sienkiewicz hat von Kannibalismus gehört und imaginiert, dass die Zähne seines schwarzen Dieners Thomas sich zu diesem Zweck eignen würden.56 Die historische Kannibalismus-Praxis wird einer wilden Spekulation unterworfen und mit innereuropäischer Ironie unterfüttert: „Vielleicht haben sie einmal einen Journalisten verzehrt, der ihnen wie ein Knochen im Halse stecken blieb, vielleicht auch einen Professor oder gar einen Dichter, nach dessen Genuß allgemeine Übelkeit herrschte.“57

54 „pyszny typ murzyna-myĞliwca […] miaá w sobie coĞ z rysia albo pantery“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. II, 154; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 268). 55 „rozmaite szczepy prowadzą Īycie páonne, z dnia na dzieĔ, niemal jak Īerujące zwierzĊta.“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 237-238; dt. SIENKIEWICZ,

Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 175). Weitere Beispiele lie-

fert WITEK (wie Anm. 15), 28. 56 SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. II, 37; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 196. 57 „MoĪe niegdyĞ zjedli, naprzykáad, jakiegoĞ dziennikarza, który im stanąá koĞcią w gardle; moĪe uczonego, po którego spoĪyciu wszystkie miejscowe Ğrodki okazaáy siĊ bezskuteczne, a moĪe poetĊ, po którym panowaáy powszechne mdáoĞci…“ (SIENKIEWICZ,

Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. II, 123; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Af-

rika und Amerika (wie Anm. 2), 250).

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Sienkiewicz’ afrikanischer Reisebericht ist daher vergleichbar eurozentrisch voreingenommen wie die knapp 15 Jahre zuvor entstandenen „Listy z Ameryki“ [Briefe aus Amerika] (1876-78).58 Die Metonymien sind hier mit den feindlichen metonymischen Beziehungen vergleichbar, die in Sienkiewicz’ amerikanischen Geschichten vorkommen („Orso“, „Latarnik“ [Der Leuchtturmwärter]).59

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IRRITIERENDE

R OLLE

DES

D RITTEN

Bislang kam der pan-europäische Eurozentrismus, der sich an Sienkiewicz’ Text diagnostizieren ließ, ohne intra-europäische Unterscheidungen aus, geschweige denn, dass er spezifisch polnische Dimensionen gehabt hätte. Schließt der global europäische Blick aber auch Binnenunterscheidungen innerhalb Afrikas aus? Fanon vermittelt den irreführenden Eindruck, dass der „manichéisme primitif du colon: les Blancs et les Noirs, les Arabes et les Roumis“ immer gleich sei.60 Wie bereits gesehen, macht Sienkiewicz aber sehr wohl einen Unterschied zwischen der „orientalischen Kontaktzone“ (Ägypten) und dem „wahren Afrika“. In seiner Reisebeschreibung fallen die laut Sienkiewicz miteinander verflochtenen61 Gruppen der Inder und Araber aus der binären Opposition von schwarz und weiß heraus. Weder ganz afrikanisch noch ganz europäisch, sind sie ihm verdächtig wie der Dolmetscher, der Bhabhasche „mimic man“,62 den Sienkiewicz „mit schwarzem, schelmischem Gesicht“63 ausstattet. Inder wie Araber treten hier in der Rolle des Dritten auf, der Albrecht Koschorke zufolge die bloß

58 Vgl. DESZCZ, Justyna: On Henryk Sienkiewicz’s Native American Experience. In: The American Transcendental Quarterly 16/1 (2002), 43-52, hier 45. 59 Strukturell analog spielt der Name des im afrikanischen Exil lebenden Polen Lazarewicz, eines Hotelbesitzers in Sansibar, auf den serbischen Fürsten Lazar Hrebeljanoviü an, der den Osmanen, also Orientalen, im Jahr 1389 auf dem Kosovo polje (dt. Amselfeld) unterlag (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 117; dt. SIENKIEWICZ,

Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 93).

60 Fanon (wie Anm. 38), 182. 61 SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 133-139; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 104-109. 62 Siehe BHABHA, Homi K.: The Location of Culture. London 1994, 85-92. 63 „o twarzy czarnej i szelmowskiej“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 172; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 132).

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scheinbar stabile binäre Wahrnehmung stört und ein „Irritationspotential“64 in sich birgt. Das gilt insbesondere für den kolonialen Diskurs mit seiner binären Unterscheidung von eigen und fremd,65 wenn diese mit postkolonialen dritten Räumen als „defigurierendes […] Element“66 konfrontiert werden. Die Tatsache, dass Sienkiewicz in der Tat eine ternäre Unterscheidung aufmacht, wird numerisch dokumentiert durch die Ordinalzahlen, die er drei Gruppen von Menschen in Abhängigkeit von der von ihnen gebuchten Passagierklasse auf dem Dampfer anheftet: „die Reisenden zweiter und dritter Klasse; es sind unter ihnen Araber, Hindus und Somalis aus Obok.“67 Besonders negativ ist das Bild der hybriden „halbnackte[n] Araber“, die von den „nackte[n] Schwarze[n]“68 abgehoben werden. Einerseits bildet die Art und Weise, wie Sienkiewicz die Interaktion von Arabern und Schwarzafrikanern schildert, den ersten Ansatz zu einer Ausbeutungskritik: Die Araber werden negativ als Sklavenhalter der Schwarzen porträtiert.69 In metonymischen Relationen zu Europäern jedoch sind die Araber bei Sienkiewicz nicht in der Position, sich Sympathie als Opfer einer überlegenen Macht zu verdienen, wie es den Schwarzen in Bezug auf die Araber zugesprochen wird. Im Gegenteil, Sienkiewicz identifiziert sich restlos mit den christlichen Missionaren und ihrem Kampf gegen den arabischen Islam: „Sie kämpfen gegen den

64 KOSCHORKE, Albrecht: Vermittlung und Unterbrechung. Das Dritte als Institution. In: Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München 2004. CD. Hg. v. Karl-Siegbert REHBERG. Frankfurt am Main-New York 2005, 3737. 65 KOSCHORKE, Albrecht: Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften. In: Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Hg. v. Eva EßLINGER, Tobias SCHLECHTRIEMEN, Doris SCHWEITZER und Alexander ZONS. Frankfurt am Main 2010 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1971), 9-31, hier 12. 66 Ebd., 19, Hervorh. i. Orig.; siehe auch RATH, Gudrun: „Hybridität“ und „Dritter Raum“. Displacements postkolonialer Modelle. In: Die Figur des Dritten (wie Anm. 65), 137-149. 67 „podróĪni drugiej i trzeciej klasy, miĊdzy którymi są Arabowie, Indusi a nawet Somalisy z Obok.“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. II, 223; dt. SIENKIEWICZ,

Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 297f.).

68 „nadzy murzyni lub nawpóá nadzy Arabowie“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. II, 140; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 260). 69 SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 216; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 163.

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Islam, die größte Plage Afrikas, der den Neger zum Mörder des Negers macht, von dem alles Böse herrührt, sowohl die Knechtschaft wie die blutigen Kriege, das Durcheinander der Verhältnisse, das Verderben ganzer Völker.“70 Im Gegenzug sind die christlichen Missionare im Reisebericht die mit Abstand positivsten Figuren, allen voran „Frère Oskar“.71 Das Gelände der Mission wird gepriesen als „andere Welt“ voll „klösterliche[r] Stille“.72 Indem sie die Schwarzafrikaner beeinflussen, wird von den Missionaren gesagt: „[…] sie machen aus diesen Wilden eine zivilisierte Gesellschaft“73 und „aus dem Negertier einen Negermenschen“.74 Nur wenn sie christianisiert sind, können auch Schwarze für Sienkiewicz als „Kulturträger“ der Zivilisation fungieren; die jungen Eingeborenen, die in der Mission erzogen werden, „[…] werden dann in ihre Heimat geschickt, damit sie dort Bäume pflanzen, die Früchte tragen, welche vor Hunger schützen[,] und vor allem von dem Gotte erzählen, der auch die Schwarzen liebt.“75 Der letzte Relativsatz macht deutlich, dass Sienkiewicz die Kirche

70 „[…] walczą z islamem, tą najwiĊkszą plagą Afryki, która […] czyni murzyna murzynowi wilkiem, i z której páynie wszystko záe, bo i samo niewolnictwo i krwawe razye i chaos stosunków i zaguba caáych narodów.“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 236; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 174). Vgl. ebenfalls WITEK (wie Anm. 15), 27. Die Darstellung des Islams in Sienkiewicz’ fiktionalen Texten diskutiert KORZIēSKA, Anna: Obraz islamu w twórczoĞci Sienkiewicza. Obcy oswojony i obcy wrogi na przykáadzie „Hani“ i „Niewoli tatarskiej“ [Das Bild des Islams in Sienkiewicz’ Werk. Der angeeignete Fremde und der feindliche Fremde am Beispiel von „Hania“ und „Die Tatarenknechtschaft“]. In: Henryk Sienkiewicz w kulturze polskiej. Hg. v. Krzysztof STĉPNIK and Tadeusz BUJNICKI (Reihe: Obrazy Kultury Polskiej). Lublin 2007, 129-138. 71 SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 188; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 144; siehe dazu auch KOT (wie Anm. 9), 32f. 72 „Ğwiat inny“, „klasztorne zacisze“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 179f.; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 139f.). 73 „z dziczy zupeánej tworzą ucywilizowane spoáeczeĔstwo“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 234; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 173). 74 „murzyna-zwierzĊ zmieniają w murzyna-czáowieka“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 239; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 176). 75 „zostaną odesáani kaĪdy w swoje strony, by tam sadzili broniące od gáodu drzewa i opowiadali o Bogu, który kocha i czarnych.“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm.

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als genuin weiß denkt. Nochmals Fanon: „L’Église aux colonies est une Église de Blancs, une église d’étrangers. Elle n’appelle pas l’homme colonisé dans la voie de Dieu mais bien dans la voie du Blanc, dans la voie du maître, dans la voie de l’oppresseur.“76 Während die Negativdarstellung der Araber und die Positivschilderung der christlichen Missionare wenig verwundern kann, überrascht Sienkiewicz’ positive Identifikation mit Deutschen in Afrika, wenn man die verheerende Rolle Preußens und des Habsburgerreiches bei den Teilungen Polens und die stark antipreußische Stoßrichtung in Sienkiewicz’ Œuvre (insbesondere in den „KrzyĪacy“ [Die Kreuzritter], 1900) in Rechnung stellt. Die Vorerwartung einer Negativwertung der deutschen Präsenz in Afrika durch Sienkiewicz hat polnische Forscher wie Wojciech Piotrowski irregeführt, die es lieber gesehen hätten, wenn Sienkiewicz britischen und deutschen Kolonialismus einander gegenübergestellt hätte (insofern das Vereinigte Königreich Polens Wunsch nach Unabhängigkeit von Preußen unterstützte): „Während er die britische Kolonisation in Afrika befürwortet, schaut Sienkiewicz widerwillig auf die deutsche Kolonisation, die er zu hart findet.“77 Von Anfang an aber positioniert sich Sienkiewicz in Afrika nicht als Pole, sondern als „Europäer“.78 Er staunt, wie er und andere Europäer in Afrika durch ‚weiße Solidarität‘ derart ‚entnationalisiert‘ werden: „Eine solche freundschaftliche Übereinstimmung unter Gleichfarbigen findet man nur in Afrika; sogar die Deutschen und die Franzosen betrachten sich hier als Brüder […]“.79 Hier greift wieder der manichäische Binarismus: In der dualen Opposition zu den Schwarzen ist kein Platz für binneneuropäische Differenzierung.

2), Bd. I, 182; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 140f.). 76 FANON (wie Anm. 38), 72. 77 „Popierając kolonizacjĊ Anglii w Afryce, Sienkiewicz niechĊtnie patrzy na kolonizacjĊ niemiecką na tym obszarze, uwaĪając ją za zbyt twardą.“ (PIOTROWSKI (wie Anm. 13), 35). 78 „Europejczyk“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 26; dt. SIENKIEWICZ,

Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 26); vgl. auch KOSOWSKA

(wie Anm. 9), 189-191. 79 „Taką solidarnoĞü miĊdzy ludĨmi jednakiej cery widzi siĊ tylko w Afryce. Nawet Niemcy i Francuzi uwaĪają siĊ tu za braci, […]“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 229; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 171). Vgl. auch KULICZKOWSKA (wie Anm. 6), 41, und WITEK (wie Anm. 27), 59.

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Der polnische Schriftsteller bereist die Ostküste Afrikas mit keinem anderen Ziel als Deutsch-Ostafrika. Während dieser Dampferreise fühlt sich Sienkiewicz an Bord des deutschen Schiffes „Bundesrath“, einem schwimmenden Eiland europäischer Zivilisation, „geborgen“.80 Er isst „am Äquator Leberwurst, Sauerkraut und Kalbsbrust mit Kartoffelsalat. Auch das ist gut“81, – das Polnische des Erzähldiskurses wechselt hier ins Deutsche. Ja mehr als das, ein gewisser deutscher Baron von Redwitz ist Sienkiewicz dabei behilflich, die Erlaubnis zum Tragen von Schusswaffen zu erhalten, weil es in Sansibar keinen russischen Konsul gibt,82 den der Pole aus Warschau, im damaligen russisch besetzten Gebiet Polens, in dieser Sache hätte kontaktieren können. Bei anderen Gelegenheiten weist sich Sienkiewicz mit „Berliner Empfehlungen“83 aus. Wie sich herausstellt, werden in Afrika selbst die Staaten, die Polen gegen Ende des 18. Jahrhunderts untereinander aufteilten, für den polnischen Intellektuellen und russischen Staatsbürger Sienkiewicz als hilfreich angesehen. Wie aber steht es um Interaktionen zwischen Deutschen und Schwarzafrikanern? Ergreift Sienkiewicz in solchen metonymischen Konstellationen etwa auch unzweideutig Partei für die deutsche Seite? Als er von einem antikolonialen Aufstand der Massai gegen die deutschen Kolonialherren berichtet, identifiziert sich der Erzähler um seiner eignen Unversehrtheit willen eindeutig mit den Deutschen.84 Er weist sogar antideutsche Ressentiments zurück, die ein alter Schwarzer äußert („‚Daki akuna msuri! akuna msuri!‘ (Die Deutschen sind nicht gut! nicht gut!“),85 indem er hinzufügt, dass „ohne die deutsche Nachbarschaft

80 „zagospodarowani“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 54; dt. SIENKIEWICZ,

Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 49).

81 „jadá Leberwurst, Sauerkraut i Kalbsbrust mit Kartoffel-salat [!]. NiechĪe i tak bĊdzie!“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 46; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 41f.). 82 SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 156; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 122. 83 „listy berliĔskie“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. II, 10; dt. SIENKIEWICZ,

Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 185). Hier ist wichtig

festzuhalten, dass diese Empfehlungsbriefe eben nicht aus England, Frankreich oder Italien kommen, wie TrzeĞniowski fälschlich behauptet (TRZEĝNIOWSKI (wie Anm. 16), 359). 84 SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 195f.; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 150. 85 „‚Daki akuna msuri! akuna msuri!‘ (Niemcy nie dobrzy, nie dobrzy!)“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. II, 87; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und

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von Bagamoyo die Hyänen wahrscheinlich schon längst seine Gebeine aus dem Grabe gescharrt und auf dem Felde verstreut hätten […].“86 Man kann höchstens einen gewissen Unwillen herauslesen, wenn der Erzähler die positiven Errungenschaften der deutschen Kolonisatoren konzediert: „[…] die Deutschen – man muß ihnen dies zum Ruhme nachsagen – haben zu viel Verstand, [um] den Missionaren ihre Aufgabe zu erschweren.”87 Es gibt allerdings auch einige Hinweise auf gewaltsame koloniale Unterdrückung: „Ich hörte mehrfach vom grausamen Umgang der Deutschen mit den Schwarzen.“88 Doch das deutsche Unterdrückungsregiment wird ausbalanciert durch ein allgemeines Los des Kolonialismus (wie es sich Sienkiewicz darstellt): „Die Deutschen nahmen sich ihren Teil mit keinem schlechteren noch besseren Recht als die anderen – und verwalten ihn nicht schlechter als die anderen.“89 Dieses besonders bezeichnende Zitat unterstreicht den Befund, dass, obwohl Sienkiewicz’ „Briefe aus Afrika“ auch zaghafte Ansätze für eine Kritik an Kolonialherrschaft enthalten, diese sich nicht zielgerichtet auf die deutsche Kolonialmacht, sondern auf europäische Kolonialherrschaft in Afrika im Allgemeinen bezieht. Man könnte sagen, dass es bei Sienkiewicz einen antieuropäischen Antikolonialismus in statu nascendi gibt, dem es an einer wiedererkennbar polnischen Perspektive fehlt, trotz der Tatsache, dass er aus der Feder eines Schriftstellers aus dem seinerzeit nicht kolonialistisch aktiven Polen stammt. Indem ihre koloniale Gewalt durch den paneuropäischen Kontext exkulpiert wird, befinden sich die Deutschen in den „Briefen aus Afrika“ nicht in der Rolle des irritierenden Dritten. Sie bleiben unbestreitbar zivilisierte Europäer, mit de-

Amerika (wie Anm. 2), 230). Vgl. zu Sienkiewicz’ Inszenierungen von interkulturellen Verständigungsproblemen auch das Motto dieses Beitrags. 86 „gdyby nie [niemieckie] sąsiedztwo o parĊ dni od Bagamoyo, toby moĪe jego koĞci juĪ dawno hyjeny rozniosáy po polach“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. II, 87; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 230). 87 „Niemcy zaĞ, naleĪy im oddaü tĊ sprawiedliwoĞü, mają zbyt duĪo rozumu, by je [zadanie misjonarzy] utrudniaü.“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 242f.; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 178). 88 „sáyszaáem i czytaáem nieraz o okrutnem obchodzeniu siĊ Niemców z czarnymi“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. II, 14). Dieser deutschkritische Passus wurde wie der nachfolgende und einige weitere in der deutschen Übersetzung von 1920 gegenüber der polnischen Ausgabe von 1893 ausgelassen. 89 „[…] Niemcy wziĊli swoją czĊĞü prawem nie gorszem, ani nie lepszem, niĪ inni – i rządzą teĪ nie gorzej, niĪ inni.“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. II, 16).

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nen sich der polnische Tourist identifiziert. Dies ist möglicherweise der verblüffendste Befund an Sienkiewicz’ Reisebericht: Im Gegensatz zu anderen, recht vorhersagbar negativen metonymischen Relationen zwischen Europäern, Schwarzen und Arabern ist die zwischen Polen und Deutschen (so sich diese in Afrika treffen) konstruierte Beziehung im Großen und Ganzen positiv.

R EVISION

DER

M ETAPHER -M ETONYMIE -D ICHOTOMIE

Ist die Beobachtung von negativen europäisch-afrikanischen Kontiguitäten (Kontaktinfektion, Kannibalismus) und positiven polnisch-deutschen Similaritäten (weiß, zivilisiert, europäisch, christlich), wie wir sie in Sienkiewicz’ „Briefen aus Afrika“ vorfinden, eine zufällige Distribution? Oder gibt es eine generelle Disposition von rhetorischen Tropen wie Metonymien und Metaphern für bestimmte interkulturelle Haltungen? Um diese Frage zu beantworten, lohnt es, zur kanonischen Definition der Metapher-Metonymie-Dichotomie von Roman Jakobson und Maurice Halle aus dem Kapitel „Two Aspects of Language and Two Types of Aphasic Disturbances“ ihrer grundlegenden Schrift „Fundamentals of Language“90 zurückzugehen. Besagtes Kapitel eröffnet mit der berühmt gewordenen Unterscheidung von Kontiguität und Similarität: „The constituents of a context are in a status of contiguity, while in a substitution set signs are linked by various degrees of similarity which fluctuate between the equivalence of synonyms and the common core of antonyms.“91 Den beiden Theoretikern zufolge kann diese Unterscheidung zu Zwecken der Texttypologie eingesetzt werden: „The development of a discourse may take place along two different semantic lines: one topic may lead to another either through their similarity or through their contiguity. The metaphoric way would be the most appropriate term for the first case and the metonymic way for the second, since they find their most condensed expression in metaphor.“92 Jakobson und Halle erkennen zudem variable Verteilungen von metaphorischen und metonymischen Sprechweisen in unterschiedlichen individuellen, kulturellen und Gattungskontexten: „[…] under the influence of a cultural pattern, personality, and verbal style, preference is given to one of the two proces-

90 JAKOBSON, Roman O./HALLE, Morris: Fundamentals of Language. ‘S-Gravenhage 1956 (Janua Linguarum 1), 53-82. 91 Ebd., 61, Hervorh. i. Orig. 92 Ebd., 76.

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ses over the other.“93 Als Beispiel für einen erweiterten Einsatz des MetapherMetonymie-Binarismus nennen sie Freuds „Traumdeutung“.94 Auch der Literaturtheoretiker Edward Jayne, der sich auf Jakobson und Halle beruft, bringt Freudsche Begriffe ins Spiel95 und behauptet, dass „[…] the metaphor/metonymy binarism mapped on coordinate axes by Saussure and Jakobson can be appropriated for critical purposes beyond its essentially conservative intra-referential use at the expense of history, psychology, etc. […]“.96 In Kapitel 5 seiner „Negative Poetics“, die um die hier nicht weiter interessierende heuristische Analogie von Paranoia und Fiktion kreist,97 unterscheidet Jayne zunächst zwischen Metapher und Plot, führt dann aber auch den Metonymie-Begriff ein; er sagt: „plot actually takes on the role of metonymy that designifies metaphor“,98 während „metaphor tends to expand the range of experience signified“.99 Es erscheint lohnend, Jaynes Appell für eine nicht-konservative Aneignung der Dichotomie zu radikalisieren und Jakobsons kanonische Unterscheidung zur Untersuchung interkultureller Stereotypien und Transkulturation zu verwenden. Die hier im Weiteren vertretene These lautet, dass in diesem Kontext negative koloniale Metonymien positiven, identifikatorischen anti-kolonialen Metaphern gegenübergestellt werden können. Gibt es irgendwelche Hinweise in Jaynes Monografie, die in interkulturelle Richtung weisen? Höchstens implizit: Wie der amerikanische Literaturtheoretiker feststellt, tendieren metonymische Narrative dazu, sich auf stereotype Konventionen zu stützen, während Metaphern individuelle Innovation einbringen.100 Jayne zufolge geschieht positive Identifikation geradezu durch Metaphern, während negative Distanz metonymisch ausgedrückt werde: „Our conscious and unconscious ability to identify with characters as represented by the vertical [me-

93 Ebd., 76. 94 Ebd., 81. 95 JAYNE, Edward: Negative Poetics. Iowa City, IA 1992, 131-157. 96 JAYNE, Edward: The Metaphor-Metonymy Binarism. http://www.edwardjayne.com/ critical/metonymy/html (2. März 2012). 97 JAYNE, Negative Poetics (wie Anm. 95), 139-142. 98 Ebd., 147, Hervorh. i. Orig. 99 Ebd., 149. 100 „Usually, but not always, metaphor provides the medium for personal expressiveness, while metonymy absorbs and designifies this expressiveness by means of conventional expectations.“ (Ebd., 150).

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taphorical] axis is counterbalanced by the horizontal capacity for producing denial on a sequential basis.“101 Diese Beobachtung enthält ein bis dato noch nicht gesehenes Potenzial für interkulturelle Forschung. In bisherigen interkulturell ausgerichteten Arbeiten wurde höchstens fallweise auf banale Metaphern rekurriert, um „easily and quickly“ die vermeintliche Spezifik einer Kultur oder gar eines halben Kontinents wie Afrika südlich der Sahara herauszudestillieren,102 womit automatisch Differenz über Vergleichbarkeit oder gar Identifikation gestellt wird. Bislang scheint es auch in postkolonialen Diskussionen keine vollgültig konzeptuelle Verwendung der Metapher-Metonymie-Dichotomie (und nicht bloß eines der beiden Pole) zu geben. So zählt Homi K. Bhabha in seinem Aufsatz „Representation and the Colonial Text: A Critical Exploration of Some Forms of Mimeticism“ von 1984 unter „many wondrous tongues“ die Merkmale „overdetermined, metaphoric, displaced, metonymic“103 auf. Er stellt die Hausmetapher in V.S. Naipauls Roman „A House for Mr Biswas“ mit ihrer „ability […] to heal“ eher unsystematisch der metonymischen Struktur der Erzählung von wiederholten Verlusten gegenüber.104 Im Bereich der polonistischen postcolonial studies schließlich schlägt Franciszek Wasyl eine kritische Lektüre des polnischen geschichtswissenschaftlichen Diskurses über die ehemaligen östlichen Grenzgebiete Polens (kresy) als einer „colonial metaphor“105 vor, ohne dabei allerdings auf die Metapher-Metonymie-Dichotomie zu rekurrieren. Wenn hier auf einer konzeptuellen Verwendung des Binarismus beharrt wird, geht damit (und sei es auch nur in diesem Einzelfall) eine Distanzierung von der postmodernen generalistischen (und damit selbstwidersprüchlichen)

101 Ebd., 151. 102 GANNON, Martin J./PILLAI, Rajnandini: Understanding Global Cultures: Metaphorical Journeys through 29 Nations, Clusters of Nations, Continents, and Diversity. Los Angeles u.a. 2010 [11994], 8, 15 und 553-568. 103 BHABHA, Homi K.: Representation and the Colonial Text: A Critical Exploration of Some Forms of Mimeticism. In: The Theory of Reading. Hg. v. Frank GLOVERSMITH.

Brighton-Totowa, N.J. 1984, 93-122, hier 111.

104 Ebd., 115. 105 WASYL, Franciszek: Kresy wschodnie jako kolonialna metafora historiografii polskiej: Postkolonialna perspektywa badaĔ historiografii narodowej [Die östlichen Grenzgebiete als Kolonialmetapher der polnischen Historiografie. Der postkoloniale Blickwinkel in Forschungen zur nationalen Geschichtsschreibung]. In: Obcy – Obecny. Literatura, sztuka i kultura wobec innoĞci. BadaniaLiterackie.pl [2008], 7378. http://www.badanialiterackie.pl/obcy/073-078_Wasyl.pdf (3. März 2012).

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Skepsis gegenüber dualen Oppositionen einher. Die Hypothese lautet, dass zur Beantwortung der Frage, ob in einem Textdokument oder einer kulturellen Praxis koloniale oder antikoloniale Haltungen überwiegen, der Binarismus von Metapher und Metonymie als wertvoller Indikator herhalten kann. Im vorliegenden Beitrag gilt es konkret, das, was Jakobson und Halle die „competition between both devices, metonymic and metaphoric“ nennen, welche sie „in any symbolic process, either intrapersonal or social“ manifestiert sehen,106 auf Sienkiewicz’ wechselnde Attitüden gegenüber Afrika zu projizieren.

M ETAPHORISCHE A UTOAFRIKANISIERUNG ? S IENKIEWICZ ’ OFFENER B RIEF AN B ERTHA VON S UTTNER (1900) In Sienkiewicz’ „Briefen aus Afrika“ gibt es selbst in den Mäulern von Krokodilen keine Ähnlichkeit von Schwarzen und Weißen, „[…] denn allgemein ziehen sie schwarzes Fleisch dem weißen vor“.107 Kann angesichts einer derart rassistischen Gegenüberstellung in Sienkiewicz’ Text überhaupt Raum sein für polnisch-afrikanische Identifikationen? Dariusz TrzeĞniowski behauptet, dass Sienkiewicz „halb bewusst“ die „Unangemessenheit seiner eigenen unkritischen Billigung der Vision einer europäischen hegemonialen Ordnung“108 bemerkt habe, und suggeriert, dass dies polnisch-afrikanische Analogien eingeschlossen haben müsse: „Die polnisch-afrikanische Analogie muss ihm allzu offensichtlich erschienen sein – waren es doch gerade die Polen, denen im 19. Jahrhundert das Recht auf Unabhängigkeit verweigert wurde, indem ihre quasi-negroiden und quasi-arabischen Merkmale wie die Neigung zu Unordnung und Anarchie in den Vordergrund gerückt wurden […]“.109 Ohne textuellen Beleg fügt TrzeĞniowski hinzu: „Polen nahm er [Sienkiewicz] ein wenig wie eine innereuropäische Kolonie, ein Afrika-Fragment

106 JAKOBSON/HALLE (wie Anm. 90), 80. 107 „czują wiĊkszy pociąg do czarnego miĊsa, niĪ do biaáego.“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. II, 134; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 256). 108 „na w póá [!] Ğwiadomie“ – „niestosownoĞü wáasnej bezkrytycznej aprobaty dla wizji europejskiego, mocarstwowego áadu“ (TRZEĝNIOWSKI (wie Anm. 16), 365). 109 „Analogia polsko-afrykaĔska wydawaü mu siĊ musiaáa aĪ nadto czytelna – to Polakom odmawiano w XIX wieku prawa do niepodlegáoĞci, eksponując ich quasimurzyĔskie i quasi-arabskie cechy: skáonnoĞü do nieporządku, anarchii […]“ (TRZEĝNIOWSKI (wie Anm. 16), 365).

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wahr.“110 Auch wenn der polnische Forscher uns das Gegenteil glauben machen möchte, indem er diverse Assoziationen von Afrika mit Polen insinuiert, auch in Bezug auf Kolonisierung, zieht Sienkiewicz’ Reisebeschreibung selbst nur wenige Vergleiche zwischen Polen und Afrika. Das betrifft einmal die negative Provinzialität „in unserer Waldeinöde von Bialowies“,111 die er mit der von wilden Schwarzen in abgelegenen Regionen vergleicht, zum anderen eine singuläre positive Assoziation Afrikas mit einem schönen Sommertag in litauischer Natur.112 Während sowohl seine amerikanische als auch seine afrikanische Reisebeschreibung typische Beispiele eines eurozentrischen orientalisierenden Blicks darstellen, gibt es andere Genres in Sienkiewicz’ Œuvre, in denen sich sehr wohl polnisch-indianische und polnisch-afrikanische metaphorische Relationen finden lassen. In einem früheren Artikel wurde dies an einigen von Sienkiewicz’ amerikanischen Kurzgeschichten gezeigt, die in der Tat eine metaphorische und positive Identifikation mit außereuropäischen Ureinwohnern beinhalten.113 Etwas Ähnliches gilt, wie hier gezeigt werden soll, für einen noch weniger bekannten Teil von Sienkiewicz’ Werk, für seine publizistischen Arbeiten, deren explizite Kritik an preußischer (kolonialistischer) Politik gegenüber Polen hier analysiert werden soll. Sienkiewicz’ antikoloniale Haltung tritt in diesen antipreußischen Artikeln unverblümt deutlich hervor. Zu Sienkiewicz’ antipreußischer Publizistik zählt ein offener Brief an Bertha von Suttner vom 1. März 1900, in dem auch Afrika vorkommt. Da Sienkiewicz

110 „PolskĊ [Sienkiewicz] postrzegaá trochĊ jak wewnątrzeuropejską koloniĊ, fragment Afryki.“ (TRZEĝNIOWSKI (wie Anm. 16), 367). 111 „puszcza Biaáowieska“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. II, 83; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 227). 112 SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. II, 93; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 234. 113 Vgl. DESZCZ (wie Anm. 58), 50. Sienkiewicz zitiert eine dieser Erzählungen in seinen „Briefen aus Afrika“: den „Leuchtturmwärter“ (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 66; dt. Sienkiewicz, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 56), wo der Protagonist SkawiĔski positiv mit indianischer Geduld metaphorisiert wird (UFFELMANN, Dirk: Indianisches Mimikry im deutschen Zirkus. Sienkiewicz’ „Sachem“ als Dokument polnischer ‚Kolonialliteratur‘. In: Konfliktszenarien um 1900: politisch – sozial – kulturell. Österreich-Ungarn und das Russische Reich im Vergleich. Scenarii konfliktov na rubeže XIX-XX vekov: politiþeskie – social’nye – kul’turnye. Avstro-Vengerskaja i Rossijskaja imperii. Hg. v. Peter DEUTSCHMANN, Volker MUNZ u. Ol’ga PAVLENKO. Graz 2011, 343-365, hier 352).

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in diesem offenen Brief sowohl europäische als auch nicht-europäische Opfer von Kolonialismus in den Blick nimmt, steht dieses Dokument hier im Weiteren exemplarisch im Zentrum des Interesses. Der Brief hat in der bisherigen Forschung kaum Beachtung gefunden, außer dass er in den weiteren Kontext von Sienkiewicz’ antipreußischer Publizistik gestellt wurde.114 Der fragliche Brief ist Sienkiewicz’ Antwort auf Bertha von Suttners Appell an ihn, eine Petition gegen den Burenkrieg zu unterzeichnen. In seiner auf den 1. März 1900 datierten Antwort beschuldigt Sienkiewicz die in Afrika engagierte von Suttner, die später den Friedensnobelpreis erhalten sollte, die Unterdrückung Polens in Preußen auszublenden, während sie zur gleichen Zeit gegen Kolonialismus im entfernten Afrika kämpfe. Er argumentiert, dass ihr humanitäres Engagement für die Opfer von Kolonialismus apotreptisch auf eine externe (die afrikanische) Arena verschoben sei: „[…] die Ausrichtung humanitärer Ideen und der Zustand der edelsten Gemüter, bei denen Erscheinungsformen von Gewalt am Südpol derart brennend verdammt werden und so weit entferntes Unglück von ganzem Herzen empfunden wird, während man das allernächste und allertiefste Unglück weder hört noch sieht, scheint mir eine unerhörte Ironie bzw. ein abscheulicher Schwindel. Meine Dame! Ihre Arbeit und ihre Aufgabe liegen näher bei Ihnen.“115 Mit dem „allernächsten und allertiefsten Unglück“ zielt Sienkiewicz auf den preußischen Hakatismus des Polen-feindlichen Deutschen Ostmarkenvereins, der Polen im „Posener Gebiet, in Schlesien und Westpreußen“116 angreife.

114 Antypruska publicystyka Henryka Sienkiewicza [Henryk Sienkiewicz’ antipreußische Publizistik]. Hg. v. Lech LUDOROWSKI. Lublin 1996. Der Brief wurde, dem Programm zufolge, in einer Präsentation bei der oben erwähnten Warschauer Konferenz 2008 analysiert und ist für den immer noch nicht erschienen Konferenzband zur Publikation angekündigt. – In seinen „Briefen aus Afrika“ bezieht sich Sienkiewicz auch auf seine antipreußische Erzählung „Bartek ZwyciĊzca“ [„Bartek der Sieger“] (SIENKIEWICZ, Listy z Afryki (wie Anm. 2), Bd. I, 103; dt. SIENKIEWICZ, Reisebriefe aus Afrika und Amerika (wie Anm. 2), 84). 115 „[…] wydaje mi siĊ jakąĞ niesáychaną ironią, czy teĪ jakimĞ potwornym baáamuctwem taki kierunek humanitarnych idei i taki stan najszlachetniejszych nawet umysáów, w którym potĊpia siĊ tak gorąco objawy przemocy pod biegunem poáudniowym i odczuwa siĊ caáym sercem nieszczĊĞcie tak odlegáe, a nie widzi siĊ i nie sáyszy o najbliĪszych i najgáĊbszych. Pani! Praca Wasza i zadanie Wasze leĪy bliĪej Was.“ (Antypruska publicystyka (wie Anm. 114), 34). 116 „hakatyzm“, „PoznaĔskie, ĝląsk i Prusy Zachodnie“ (Antypruska publicystyka (wie Anm. 114), 34f.).

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Sienkiewicz’ Argumentation vollzieht hier eine Pendelbewegung zwischen Afrika und Polen, wenn er fordert, „[…] dieses [afrikanische] Leid und das uns nähere Leid nebeneinander zu stellen“.117 Doch das Nebeneinanderstellen impliziert eine (zumindest zeitliche) Hierarchie; Sienkiewicz rät von Suttner: „Bevor Sie anfangen, sich um Afrika zu kümmern, kümmern Sie sich um Europa.“118 Die Buren erscheinen Sienkiewicz in ihrer Rolle als Opfer (britischer) kolonialer Gewalt eingeschränkt, insofern sie selbst (frühere) „Kolonisten“119 seien, „aus Übersee gekommene Okkupanten“,120 während Sienkiewicz zufolge das jetzt von Preußen okkupierte Land „seit jeher“121 polnisch gewesen sei. Der zeitliche und räumliche Komparativ steigert sich zum Superlativ, wenn Sienkiewicz (im italienischen Original) Dantes „Nessun maggior dolore“122 zitiert – es gebe kein größeres Leid auf Erden, als was der bloß zivilisiert scheinende preußische Staat Polen antue.123 Dieses Nebeneinanderstellen funktioniert metaphorisch; es macht die koloniale Gewalt, die in Afrika verübt wird, vergleichbar mit ähnlicher Gewalt innerhalb Europas. Die frühere europäisch-rassische weißhäutige Solidarität in Afrika,124 wie wir sie in den „Briefen“ beobachtet haben, ist dahin. Jetzt, von außerhalb Afrikas, identifiziert sich Sienkiewicz nicht mit den kolonialen Tätern in Afrika (den Deutschen oder Briten), sondern mit den Opfern, in diesem Fall den Buren – ein erster Schritt von Autoafrikanisierung. Er tut diesen Schritt als Pole, konfrontiert mit der (quasi-)kolonialen Unterdrückung durch Russland und Preußen. Man könnte so weit gehen und eine binäre Gleichung riskieren: Briten vs. Buren = Preußen/Russen vs. Polen. Doch Analogie meint hier noch nicht praktische Solidarität; während Sienkiewicz einen innereuropäischen Vergleich zwischen Polen und dem „geschä-

117 „zestawiü tĊ niedolĊ [afrykaĔską] z niedolą bliĪszą nam.“ (Antypruska publicystyka (wie Anm. 114), 34). 118 „Zanim zaczniecie siĊ zajmowaü Afryką, zajmijcie siĊ Europą.“ (Antypruska publicystyka (wie Anm. 114), 35). 119 „koloniĞci“ (LUDOROWSKI (wie Anm. 114), 36). Dies stammt aus Sienkiewicz’ „OdpowiedĨ na ankietĊ w sprawie przyszáoĞci Boerów“ [Antwort auf einen Fragebogen zur Zukunft der Buren] von 1902. 120 „przybyli zza morzy osadnicy“ (Antypruska publicystyka (wie Anm. 114), 35) 121 „odwieczny“ (Antypruska publicystyka (wie Anm. 114), 35). 122 Inferno 5, 121. 123 Antypruska publicystyka (wie Anm. 114), 35. 124 TRZEĝNIOWSKI (wie Anm. 16), 360.

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digten Irland“125 (unter britischer Herrschaft) zieht, geht die transkontinentale Perspektive nicht so weit, als dass interrassische Identifikation möglich würde, denn die Buren sind „weiße Afrikaner“. Indem er die innerafrikanische Perspektive Buren vs. Briten nicht auf andere koloniale Konfliktszenarien ausdehnt – für das geteilte Polen zum Beispiel auf das zwischen europäischen Mächten aufgeteilte Somalia – stoppt Sienkiewicz kurz vor der Identifikation mit Schwarzafrikanern. Nichtsdestotrotz bedeutet Sienkiewicz’ Brief an Bertha von Suttner eine Abwendung von den früheren feindlichen Metonymien im Reisebericht in Bezug auf Nicht-Europäer und Hinwendung zu metaphorischer Identifikation, und zwar in früher am „Leuchtturmwärter“ beobachteten Art und Weise. In Sienkiewicz’ offenem Brief von 1900 werden Polen und Buren in ein Verhältnis metaphorischer Similarität gebracht – wie Indianer und Polen in Sienkiewicz’ amerikanischer Erzählung „Sachem“ über den letzten Nachfahren der Häuptlinge eines von deutschen Kolonisten ausgelöschten Stammes von 1883.126 Doch nochmals: Was genau bedeutet hier ‚und‘?

Z WEI A RTEN VON METAPHORISCHEN B EZIEHUNGEN – S OLIDARITÄT VS . W ETTSTREIT Bertha von Suttner erinnerte sich später in ihren „Memoiren“ an ihren offenen Briefwechsel127 mit Henryk Sienkiewicz, „[…] daß ich darauf hingewiesen habe, man möge niemand, der etwas Nützliches, Hilfeleistendes unternehme, sagen: Tue lieber dies als das. Wenn sowohl ‚dies‘ als ‚das‘ zum gleichen Ziele: Befreiung, Aufhebung von Unrecht und Leiden führt – so tue man beides; besser aber als das räumlich Nähere ist das allgemein Umfassendere, denn mit der Verteidigung eines allgemeinen Prinzips dient man seiner Anwendung auf die übrigen lokalen Fälle.“128

Aus ihrer Perspektive ist die metaphorische europäisch-afrikanische Relation, die Sienkiewicz benutzte, unzureichend. Von Suttner plädiert für volle Analogie,

125 „skrzywdzona Irlandia“ (Antypruska publicystyka (wie Anm. 114), 35). 126 UFFELMANN, Indianisches Mimikry (wie Anm. 113). 127 VON SUTTNER, Bertha: Memoiren. Stuttgart-Leipzig 1909, 503f. 128 Ebd., 504.

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nicht bloß für metaphorische Austauschbarkeit von A anstelle von B: „so tue man beides“!129 Die Entwicklung von Sienkiewicz’ Afrika-Bild führt damit von seinem früheren totalisierenden Blick auf die Kontinente Europa vs. Afrika von 1891, die als meistenteils feindlich-metonymisch konzeptualisiert wurden, zur theoretischen Gleichsetzung von (quasi-)kolonialen Konflikten innerhalb der Kontinente im Jahr 1900. Letztere erlaubt ihm, Ähnlichkeiten zu entdecken und metaphorische Relationen zwischen Gruppen in Afrika und Gruppen in Europa zu konstruieren. Nur ist er nicht bereit, so weit zu gehen wie von Suttner und an allen Fronten gleichzeitig zu kämpfen. Im Gegensatz dazu plädiert von Suttner für etwas, das man „multidirektionale“ Gedankenbewegung und soziales Engagement im Sinne von Michael Rothbergs „multidirectional memory“ nennen könnte – eine noetische Bewegung, „subject to ongoing negotiation, cross-referencing, and borrowing; as productive and not privative.“130 Bei seinem Keynote-Vortrag auf der Konferenz „Postcolonial Approaches to Postsocialist Experiences“ in Cambridge am 24. Februar 2012 entwickelte Rothberg seine Multidirektionalitätstheorie weiter, indem er eine Unterscheidung von zwei Modi von Multidirektionalität oder – in der hiesigen Terminologie – metaphorischen Relationen vorschlug: „competition vs. solidarity“.131

129 Justyna Goáąbek beobachtet etwas Vergleichbares an Helena Boguska Pajzderskas (Hajotas) Roman „àadunek palmowego oleju“ [„Eine Fracht Palmöl“], der zwei Jahre nach Sienkiewicz’ Reisebeschreibung und sieben Jahre vor der Sienkiewicz-von Suttner-Debatte publiziert wurde, im Hinblick auf Kubaner und Polen. Goáąbek zufolge bringt die „Ähnlichkeit oder sogar Identität der polnischen und kubanischen nationalen Erfahrungen […] zwei Systeme zusammen: Zarismus und Kolonialismus“ (GOàĄBEK, Justyna: Sibirien in Afrika? Sibirienimagination und nationaler Diskurs in der Afrika-Erzählung „àadunek palmowego oleju“ von Helena Boguska Pajzderska (Hajota). In: Texturen – Identitäten – Theorien. Ergebnisse des Arbeitstreffens des Jungen Forums Slavistische Literaturwissenschaft in Trier 2010. Hg. v. Nina FRIEß, Inna GANSCHOW, Irina GRADINARI und Marion RUTZ. Potsdam 2011, 289-300, hier 299). Hier soll noch ein Schritt weiter gegangen werden und (die Wahrnehmungen von) Zarismus sowie europäischer Kolonialismus (bzw. dessen Interpretationen) analog gesetzt werden. 130 ROTHBERG, Michael: Multidirectional Memory: Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Stanford, CA 2009 (Cultural Memory in the Present), 3. 131 Veranstaltet von Alexander Etkind und Dirk Uffelmann, King’s College, University of Cambridge, 23.-26. Februar 2012.

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In Rothbergs Begriffen lässt sich der Gegensatz zwischen von Suttners und Sienkiewicz’ Auffassungen folgendermaßen reformulieren: Suttner benutzt den Solidaritätstyp von multidirektionalem Engagement, während Sienkiewicz die innerafrikanische und die innereuropäische Konstellation in ein Wettbewerbsverhältnis setzt. Sienkiewicz’ Argumentation ist damit um nichts weniger metaphorisch als die von Suttnersche, aber privativ im Sinne von Rothberg. Wenn wir von der Rhetorik politischer Argumentation zur Literaturgeschichte zurückkehren, was lässt sich dann aus Sienkiewicz’ Schwenk von feindlichen Afrika-Metonymien zu metaphorischer Ersetzung lernen? Bekanntlich identifizieren Jakobson und Halle bestimmte Epochenpoetiken mit „the metaphoric way“ bzw. „the metonymic way“: „The primacy of the metaphoric process in the literary schools of romanticism and symbolism has been repeatedly acknowledged, but it is still insufficiently realized that it is the predominance of metonymy which underlies and actually predetermines the so-called ‚realistic‘ trend […].“132 Wenn das zumindest teilweise zutrifft, was folgt dann aus der Tatsache, dass der Positivist Sienkiewicz sich von Metonymien abwendet und Metaphern zu verwenden beginnt, für die literarische Epochenzuordnung? Es bedeutet einen Schwenk von realistischer Metonymie zu neoromantischer Metapher, eine ästhetische und gleichzeitig politische Neuorientierung, wie sie für Sienkiewicz’ Œuvre schon eingehend beschrieben wurde.133 Im Sinne von Rothbergs Unterscheidung gehört die neoromantische interkulturelle Metapher, so wie sie Sienkiewicz vertritt, zum kompetitiven Typus multidirektionaler Perspektivierung.

K URZER A USBLICK

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Dass sich in „Durch Wüste und Wildnis“ eine analoge Verschiebung und erweiterte Autoafrikanisierung abzeichnet, kann hier nur noch angedeutet werden. In diesem Abenteuerroman tötet der 14-jährige polnische Junge StaĞ seine arabischen Peiniger und befreit sich, das englische Mädchen Nel Rawlison und zwei Negersklaven namens Kali und Mea (einen jungen Mann und eine junge Frau, gendermäßig gleich verteilt wie die europäischen Kinder).134 Hier scheint zu-

132 JAKOBSON/HALLE (wie Anm. 90), 77f. 133 Siehe UFFELMANN, Indianisches Mimikry (wie Anm. 113). 134 SIENKIEWICZ, Henryk: W pustyni i w puszczy [Durch Wüste und Wildnis] (Pisma wybrane XVII). Warszawa 1978, dt. SIENKIEWICZ, Henryk: Durch Wüste und Wildnis. O. Übers. Balve/Sauerland 1978.

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nächst erneut die innereuropäische Solidarität auf, wie wir sie von den „Briefen aus Afrika“ kennen, diesmal in Form einer anglo-polnischen Allianz (im Kampf gegen die erneut rein negativ entworfenen Araber135). Es gibt aber – und das ist neu – auch Solidarität und analoge Distribution zwischen Schwarzafrikanern und Europäern. Die stärkste Identifikation vollzieht Kali, der Häuptling eines schwarzafrikanischen Stamms, der aus Dankbarkeit gegenüber seinem polnischen Befreier zusammen mit seinem Stamm zum Christentum konvertiert und sich damit ‚autoeuropäisiert‘. Mit der analogen Verteilung der schwarzafrikanischen und der europäischen Aktanten wendet sich Sienkiewicz nun ebenfalls in Richtung Multidirektionalität; die Metaphorisierung von Schwarzen und Weißen, welche der Roman auf das Syntagma der Handlung projiziert, folgt dem Solidaritätsmuster von interkulturellen Beziehungen.136 Die Interaktion von StaĞ und Kali ist nicht frei von metonymischen Aspekten; sie kämpfen zusammen, und StaĞ rettet wiederholt sich selbst und Kali.137 In diesem Roman wird die positive militärische Metonymie (Waffenbrüderschaft) des repetitiven Befreiungsgeschehens ‚vertikalisiert‘ zu einer metaphorischen Relation zwischen Weißen und Schwarzen, einer Relation vom Solidaritätstypus. In diesem Fall ist es im Gegensatz zu Jakobsons kanonischer Definition der poetischen Funktion literarischer Texte aus seinen „Closing Statements: Linguistics and Poetics“ nicht das „principle of [metaphorical] equivalence“, das „from the axis of selection into the axis of combination [metonymy]“138 projiziert wird, sondern umgekehrt: Der metonymische Plot produziert eine metaphorische Relation. Eine eingehendere Analyse der interkulturellen Rhetorik von „Durch Wüste und Wildnis“ muss einem weiteren Aufsatz vorbehalten bleiben.139

135 Vgl. KOSOWSKA (wie Anm. 9), 194f. 136 Es ist allerdings bezeichnend, dass hier europäische Kinder und afrikanische Erwachsene gleichgestellt werden, ja letztlich der Heros StaĞ männlich-europäisch allüberlegen erscheint. 137 Vgl. Bhabha’s Konzept von Metonymie als Wiederholung (BHABHA, Representation and the Colonial Text (wie Anm. 103)). 138 JAKOBSON, Roman O.: Closing Statements: Linguistics and Poetics. In: Style in Language. Hg. v. Thomas A. SEBEOK, Cambridge, MA 1960, 350-377, hier 358, Hervorh. i. Orig. 139 Erste postkolonialistisch inspirierte, allerdings nicht rhetorisch gewendete Hinweise zu afrikanisch-polnischen Metaphorisierungen liefert KLOBUCKA (wie Anm. 7), 250 und 255f.

„Unser kleiner Orient“. Balchik und die südliche Dobrudscha aus der Perspektive Rumäniens (1913-1940) R OLAND P RÜGEL

Der östliche Abschnitt der rumänisch-bulgarischen Grenze teilt die Region Dobrudscha (rumänisch: Dobrogea, bulgarisch: Ⱦɨɛɪɭɞɠɚ) in zwei unterschiedlich große Teile. Während das nördliche, zu Rumänien gehörende Segment mehr als zwei Drittel der Gesamtfläche ausmacht, ist die Süd-Dobrudscha mit ihren knapp 7.700 Quadratkilometern ein verhältnismäßig überschaubarer Landstrich am Unterlauf der Donau. Das aufgrund seiner viereckigen Form als Cadrilater bezeichnete Territorium, das sich von der Stadt Tutrakan (bulgarisch: Ɍɭɬɪɚɤɚɧ, rumänisch: Turtucaia) im Nordwesten bis ins Hinterland von Varna im Südosten erstreckt, wurde während des Zweiten Balkankriegs 1913 von Rumänien annektiert.1 Die Herrschaft Bukarests über die Süd-Dobrudscha währte nur 27 Jahre; im September 1940 kam Rumänien dem Ultimatum Bulgariens nach und räumte das Gebiet. Dieses knappe Intermezzo der staatlichen Zugehörigkeit mag auf den ersten Blick wie eine ephemere Episode erscheinen; im kollektiven Gedächtnis Rumäniens hinterließ sie aber langlebige Spuren. Der hohe emotionale Stellenwert, den die Süd-Dobrudscha in Rumänien selbst heute noch einnimmt, ist der intensiven orientalisierenden Vereinnahmung jener Region geschuldet, die sich sowohl in geographischer als auch in ethnischer Hinsicht vom rumänischen Kernland unterschied. Die starke Präsenz einer türkisch-tatarischen Minderheit

1

BASCIANI, Alberto: Un conflitto balcanico. La contesa fra Romania e Bulgaria in Dobrugia del sud, 1918-1940. Cosenza 2001 (Collana di studi e ricerche 17). Zur Rolle Rumäniens in den Balkankriegen siehe ZBUCHEA, Gheorghe: România úi războaiele balcanice 1912-1913. Pagini de istorie sud-est-europeană [Rumänien und die Balkankriege 1912-1913. Seiten aus der Geschichte Südosteuropas]. Bucureúti 1999.

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in jener Provinz verleitete die neuen Machthaber zu einer Konstruktion eines Orientalismus, im Zuge dessen die Süd-Dobrudscha zu einem nahöstlichmediterranen Garten Eden verklärt wurde. Die nach 1940 einsetzende nostalgische Sicht auf das „verlorene“ Territorium ist ein Stück weit auch der gescheiterten Kolonisierungspolitik Rumäniens geschuldet, die (ethnisch) rumänische Neubürger aus dem jugoslawischen Banat, aus Siebenbürgen, vor allem aber aus den aromunischen Sprachgebieten ins Cadrilater ansiedelte, um sie nur zwei Jahrzehnte später erneut umzusiedeln.2 Doch nicht nur aus der Perspektive ehemaliger Kolonisten verkörperte die Süd-Dobrudscha einen zeitlosen, atemberaubend schönen Landstrich an der Schnittstelle zwischen Mittelmeer und Orient. Massiv verbreitet wurde dieses Bild vor allem von der kulturellen Elite Rumäniens, die in den Zwischenkriegsjahren die Süd-Dobrudscha für sich entdeckte. Dreh- und Angelpunkt dieser Traumwelt war das Küstenstädtchen Balchik (rumänisch: Balcic, bulgarisch: Ȼɚɥɱɢɤ) an der Südgrenze des Cadrilater (Abb. 1). Der malerische, am Fuß eines Kreidefelsens gelegene Ort avancierte in den 1920er und 1930er Jahren zum beliebtesten Treffpunkt der rumänischen Kulturszene. Entsprechend stark ist Balchik in der rumänischen Literatur, insbesondere aber in der bildenden Kunst präsent. Idyllische Szenen aus der Stadt oder aus ihrer Umgebung wurden auf unzählige Leinwände gebannt. Sie verstetigten das Bild einer arkadisch-entrückten Landschaft, indem sie aus dem lokalen, „exotischen“ Motivfundus schöpften und die einheimische türkische und tatarische Bevölkerung in einer mit Moscheen, Palmen und Packeseln ausstaffierten Landschaft oder in orientalisch anmutenden Interieurs darstellten. Dieser Beitrag widmet sich jener äußerst produktiven Malerei, die von Künstlern aus Rumänien zwischen 1913 und 1940 in einer ehemaligen Kontakt- und Grenzregion zum Osmanischen Reich geschaffen wurde, und untersucht Beweggründe und Intentionen jener orientalisierenden künstlerischen Praxis. Eine imagologische Untersuchung der rumänischen Perspektive auf die SüdDobrudscha muss in den Kontext einer umfassenderen Betrachtung gestellt werden, die sich dem kulturellen Stellenwert der gesamten Dobrudscha im kollektiven Gedächtnis Rumäniens widmet. Letzteres kann hier nur ansatzweise geleistet werden, um in dem hier skizzierten Rahmen den Fokus auf die regen künstlerischen Aktivitäten in Balchik zu legen. Sie wären kaum in dem Maße zustande gekommen, hätte nicht die als oberste Schutzherrin der Künste sich inszenierende rumänische Königin Maria (1875-1938) ein Paradebeispiel orientalisierender

2

Ein Beispiel für die bis heute anhaltende mythische Verklärung der Süd-Dobrudscha in aromunischen Kreisen: VULPE, Ion: Vlahuria – Ġara din vis [Vlahuria – das Land der Träume], 2 Bde. Bucureúti 2005.

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Vereinnahmung in Balchik geliefert, das hier ebenfalls zur Sprache kommen soll. Abbildung 1: Ansicht von Balchik, Fotografie, ca. 1920-1940, Bukarest, Muzeul Naìional de Istorie a României.

Quelle: Mit freundlicher Genehmigung des Muzeul NaĠional de Istorie a României.

D IE D OBRUDSCHA , R UMÄNIENS

UNGELIEBTE

P ROVINZ

Nach dem russisch-türkischen Krieg von 1877-1878 und dem daraus resultierenden Interessenausgleich der Großmächte auf dem Berliner Kongress erhielt Rumänien als Belohnung für seine Kriegsteilnahme den nördlichen Teil der Dobrudscha, bis dato integraler Bestandteil des Osmanischen Reiches. Dennoch wurde dieser territoriale Zugewinn in Bukarest als Verlustgeschäft empfunden, musste das Fürstentum dafür doch den südlichen Teil von Bessarabien an das Russische Reich abtreten.3 Dieser „Geburtsfehler“, der den erweiterten Zugang Rumäniens zum Schwarzen Meer begleitete, bestimmte für lange Zeit die Perspektive der Zentralregierung auf die neu erworbene östliche Provinz, die als karges, dünn besiedeltes und weitgehend unerschlossenes Territorium in Bukarest wenige Fürsprecher hatte. Die Erschließung der Dobrudscha, die nach Westen und Norden durch die Donauarme eine natürliche, schwer zu überwindende

3

IORDACHI, Constantin: Citizenship, Nation and State-building. The Integration of Northern Dobrogea into Romania, 1878-1913. Pittsburgh 2002 (The Carl Beck papers in Russian & East European studies 1607).

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Grenze besaß, kam nur langsam voran.4 1895 wurde bei Cernavodă die erste Brücke über die Donau auf rumänischem Territorium fertiggestellt, die eine Eisenbahnverbindung zwischen Bukarest und ConstanĠa ermöglichte. Dennoch kam der Ausbau der größten rumänischen Hafenstadt in den Folgejahren nur schleppend voran. Trotz der schwierigen infrastrukturellen Erschließung förderten Bukarester Stellen die Ansiedlung von Rumänen als Kolonisten in der Dobrudscha. Während zu Beginn des russisch-türkischen Krieges die Region mehrheitlich von Türken und von Nachfolgern der Krim-Tataren bevölkert war, wandelte sich die ethnische Zusammensetzung nach 1878 erheblich, bedingt durch den massiven Rückgang der muslimischen Bewohner, die ins Osmanische Reich auswanderten.5 Zu dem Zeitpunkt, als die Dobrudscha ihren Stellenwert im nationalen Selbstverständnis Rumäniens behaupten konnte, waren Türken und Tataren weitgehend an den Rand geschoben. Stellten sie 1880 noch 40% der Bevölkerung in der Nord-Dobrudscha, waren sie zu Beginn der Balkankriege auf gut 10% geschrumpft.6 Mit der Annektierung der Süd-Dobrudscha 1913 änderte sich sowohl die infrastrukturelle Situation als auch die politische Gewichtung der südöstlichen Provinz. Anders als ihr nördliches Pendant bot die Süd-Dobrudscha mit Städten

4

Zur Erschließung der Dobrudscha vgl. auch IORDACHI, Constantin: Internal Colonialism. The Expansion of Romania’s Frontier into Northern Dobrogea after 1878. In: National Borders and Economic Disintegration in Modern East Central Europe. Hg. v. Uwe MÜLLER und Helga SCHULTZ. Berlin 2002 (Frankfurter Studien zur Grenzregion; 8), 77-108. – DERS., „La Californie des Roumains". L’intégration de la Dobroudja du Nord à la Roumanie, 1878-1913. In: Balkanologie 6/1-2 (2002), 167-197.

5

Zu den Minderheiten in der Dobrudscha, insbesondere der muslimischen Gruppen s. MUNTEANU, Ana Maria: Armonia etnică în regiunea de Sud-Est a României. BalanĠa interculturală, coabitare úi climat [Harmonie der Ethnien in der südöstlichen Region Rumäniens. Interkultureller Ausgleich, Zusammenleben und Stimmung]. ConstanĠa 2010. – COSSUTO, Giuseppe: Breve storia dei Turchi di Dobrugia. Istanbul 2001 (Quaderni del Bosforo 1). – NUREDIN, Ibram: Comunitatea musulmană din Dobrogea, repere de viaĠă spirituală. [Die muslimische Gemeinde in der Dobrudscha. Fixpunkte des spirituellen Lebens]. ConstanĠa 1998.

6

RĂDULESCU, Alexandru/BITOLEANU, Ion: Istoria Dobrogei [Geschichte der Dobrudscha]. ConstanĠa 1998, 333. Diese Zahlen, wie auch sämtliche prozentuellen Angaben zu den Bevölkerungsgruppen in der Dobrudscha, stehen unter Vorbehalt, da sie auf Berechnungen zurückgehen, die bereits in dem 1979 erschienenen Buch der beiden Autoren zur Geschichte der Dobrudscha publiziert wurden.

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wie Tutrakan, Silistra, Bazargic oder Cavarna ein dichteres urbanes Gefüge und eine vergleichsweise stärkere ökonomische Kraft. Im Osmanischen Reich hatte die Hafenstadt Balchik eine wirtschaftliche Schlüsselrolle gespielt, da sie über einen ausgebauten Hafen verfügte, in dem das in der südlichen Donautiefebene kultivierte Getreide verladen wurde.7 Zu den vorteilhaften ökonomischen Faktoren der 1913 erworbenen Provinz gehörte auch ihr touristisches Potential. Die sandreichen Strände entlang des als Coasta de Argint („Silberküste“) bezeichneten Abschnitts bei Kap Caliacra lockten zahlreiche rumänische Badegäste in die Gegend. Städte wie Balchik verfügten aufgrund des Kreidefelsens, der sie vor den rauen Nordwinden schützte, über ein mediterranes Mikroklima, in dem Zypressen und Feigenbäume gediehen. Dank dieser Faktoren avancierte Balchik binnen kürzester Zeit zum mondänen Badeort der rumänischen Mittelschicht. Sie kam dort mit der einheimischen Bevölkerung in Kontakt, die sich in ihrer ethnischen Zusammensetzung deutlich von derjenigen unterschied, die weiter nördlich an der Schwarzmeerküste anzutreffen war. In Städten wie Balchik oder Cavarna stellten muslimische Türken und Tataren die mehrheitliche Bevölkerungsgruppe. Somit gab die Süd-Dobrudscha für die in den Sommermonaten anreisenden rumänischen Touristen ein ungewohntes Bild ab, was Land und Leute betraf. Sie wurde nicht als „organische“ Ergänzung der nördlichen Nachbarprovinz wahrgenommen, sondern als das völlig andere, exotisch anmutende Grenzland. Der „fremdartige“ Charme, den die Region auf rumänische Besucher ausübte, beförderte zweifellos ihre rasche Vereinnahmung sowohl in touristischer als auch in kultureller Hinsicht. In den 1920er Jahren verbrachte so gut wie jeder bekannte Schriftsteller und Künstler Rumäniens die Sommermonate in jener entlegenen südöstlichen Ecke. Für die zumeist aus Bukarest stammenden Besucher entpuppte sich die Süd-Dobrudscha nicht nur als Erholungsgebiet, sondern auch als Inspirationsquelle für die eigene Kulturarbeit. Insbesondere Balchik wurde von den intellektuellen Kreisen Bukarests als privater Rückzugsort und schöpferische Arbeitsstätte gleichermaßen genutzt. Ein erheblicher Teil der kulturellen Produktion Rumäniens in der Zwischenkriegszeit ist in jenem Küstenstädtchen entstanden.

7

Mit dem Ausbau der Eisenbahnstrecke Ruse-Varna (1866 fertiggestellt) verlor der Hafen von Balchik zunehmend an wirtschaftlicher Bedeutung, während Varna als Endund Verladestation einen Aufschwung erlebte. Zur ökonomischen Lage der Region s. PENAKOV, Ivan St.: Le problème de la Dobroudja de Sud. Un aspect économique et social. Sofia 1940.

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Die Umwidmung Balchiks zum exotisch angehauchten Künstlertreff wurde durch ein politisch-repräsentatives Bauvorhaben eingeläutet, das den Ort auch innerhalb der Süd-Dobrudscha fundamental aufwertete. Auf Initiative der rumänischen Königin Maria entstand in Balchik eine Sommerresidenz, die von der Regentin wesentlich mitgeplant und gestaltet wurde. Ihr „Traumhaus“ ließ Maria in osmanisch inspirierten Bauformen errichten und lieferte so einen eindrücklichen Beweis für den orientalisierenden Blick, den die Regentin der SüdDobrudscha gegenüber einnahm.

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FÜR DIE RUMÄNISCHE

K ÖNIGIN

Anders als der zurückhaltende und als entscheidungsschwach geltende König von Rumänien Ferdinand von Hohenzollern-Sigmaringen (1865-1927) war dessen Ehefrau Maria, eine Enkelin der britischen Königin Victoria und vormalige Princess of Edinburgh, dank ihres entschlossenen Auftretens und der von ihr auf den Weg gebrachten karitativen Initiativen in der Bevölkerung sehr beliebt.8 Sie galt als eigentliche Identifikationsfigur aller rumänischen Bürger, insbesondere der zahlreichen ethnischen Minderheiten in dem nach 1918 territorial vergrößerten Staat. Um ihren herrschaftlichen Anspruch zu bekräftigen, bereiste das Königspaar die neu erworbenen Landesteile. Noch vor 1916 besuchte Maria zum ersten Mal die Süd-Dobrudscha; ihre Präsenz milderte einigen Aussagen zufolge die Anfeindungen, die der neuen rumänischen Administration vor allem seitens der bulgarischen Bevölkerung entgegenschlug.9 In ihren Tagebuchaufzeichnungen zeigte sich Maria von den Leuten, die ihr in der Süd-Dobrudscha mit Ehrfurcht begegneten, ebenso betört wie von der wundervollen Landschaft.10 Neben ihrem politischen Engagement entfaltete die rumänische Regentin auch umfassende künstlerische Ambitionen. Maria war Schirmherrin der um die Jahrhundertwende in Bukarest gegründeten Vereinigung Tinerimea artistică (rumänisch: Künstler-Jugend), einer Reformbewegung, die neue Strömungen

8

Über ihre Person geben zahlreiche in den letzten Jahren erschienene Biographien Aufschluss. Grundlegend bleibt immer noch PAKULA, Hannah: The Last Romantic. A Biography of Queen Marie of Romania. New York 1984.

9

CONSTANTINESCU, RomaniĠa: Paúi pe graniĠă. Studii despre imaginarul românesc al frontierei [Die Grenze entlang. Studien zum rumänischen Konzept des Grenzlandes]. Iaúi 2009, 48.

10 Ebd.

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wie Symbolismus und Jugendstil in Rumänien einzuführen versuchte.11 Eines der Mitglieder dieser Vereinigung, der Maler Alexandru Satmari (1872-1933), gilt als „Entdecker“ von Balchik. Dieser hatte die Hafenstadt bereits im Herbst 1913, kurz nach der Besetzung der Süd-Dobrudscha durch rumänische Truppen, besucht und zeigte sich entzückt von dem, was er als idyllisch-exotischen Landstrich empfand.12 Seinem enthusiastischen Bericht und der guten Verbindung zum rumänischen Königshaus ist es wohl zu verdanken, dass Maria auf Empfehlung des Malers im Oktober 1924 Balchik erneut besuchte. Während dieses Aufenthalts muss die Entscheidung der Regentin gefallen sein, eine Residenz in dem Ort zu errichten. Dieses Vorhaben scheint im Kontext anderer Baumaßnahmen auch in weiteren neuen rumänischen Provinzen zu stehen, mit denen der Machtanspruch des rumänischen Königshauses symbolisch markiert werden sollte.13 Doch die Tagebuchaufzeichnungen und weitere schriftliche Dokumente Marias geben deutlich zu erkennen, dass die Residenz in Balchik keine herrschaftliche Pflichtübung, sondern eine Herzensangelegenheit war.14 Satmaris Empfehlung und die damit verbundene Hoffnung, Maria möge sich öfter in Balchik aufhalten, bot der Regentin die Gelegenheit, ihrer künstlerischen Seite freien Lauf zu las-

11 VIDA, Mariana: La société „Tinerimea artistică“ de Bucarest et le symbolisme tardif entre 1902-1910. In: Revue roumaine d’histoire de l’art 44 (2007), 55-66, hier 55. 12 Dies behauptet MILIAN, Claudia: Plimbări prin Caliacra [Spaziergänge durch Caliacra]. In: Cuvântul liber II/43, 30. August 1935, 7. 13 Beispielhaft sei hier die Inbesitznahme des Schlosses von Bran in Siebenbürgen genannt, das zwar kein Neubau war, das aber auf politischen Druck von den städtischen Behörden von Braúov (deutsch Kronstadt; ungar. Brasso) dem Königspaar „geschenkt“ wurde. Ausführlich hierzu PEPENE, Nicolae: ReúedinĠa particulară din Bran a Reginei Maria a României [Die Privatresidenz der Königin Maria von Rumänien in Bran]. In: ğara Bârsei N.S. 2003/2, 77-86. 14 REGINA MARIA: Casele mele de vis [Meine Traumhäuser]. In: Boabe de grâu I/2, April 1930. Die starke emotionale Verbundenheit der Königin mit Balchik ist auch in ihrem Testament festgehalten, in dem sie verfügte, dass ihr Herz in Balchik bestattet werden soll, was dann auch geschah. 1940, im Zuge der Evakuierung der SüdDobrudscha durch die rumänische Armee, wurde die Herz-Urne aus Balchik entfernt und zunächst auf das Schloss Bran in Siebenbürgen gebracht, von wo sie 1970 an das Rumänische Nationalmuseum nach Bukarest transferiert wurde.

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sen. Die Residenz sollte Marias „Künstlernest“ werden, wie sie selbst notierte; ein Refugium, in dem sie ihren musischen Aktivitäten nachgehen wollte.15 Wie bei den anderen Um- und Neubauten königlicher Residenzen in Rumänien hatte Königin Maria auch in Balchik klare Vorstellungen über das Aussehen ihres künftigen Sommerlandsitzes.16 Die Regentin entschied sich für ein markant orientalisches Erscheinungsbild – ein unmissverständlicher Beleg der Vorstellung, die sie mit diesem Ort verband. Während eines Besuchs bei ihrer Tochter Maria (1900-1961), zu jener Zeit Königin von Jugoslawien, hatte sie im Herbst 1924 ein im „osmanischen Stil“ errichtetes Haus in Dubrovnik fotografiert. Nach diesem fotografischen Vorbild sollte auch ihre Residenz gebaut werden. Mit der Durchführung beauftragte sie ebenjenen Maler Alexandru Satmari, der ihr auch Balchik nahegelegt hatte. Satmaris Entwürfe wurden ihr mehrfach vorgelegt und nach den Wünschen der Königin verändert, um sie anschließend an den Militärarchitekten Emil Guneú zur praktischen Umsetzung weiterzuleiten.17 Ein Jahr später war der Bau fertiggestellt (Abb. 2). 1926 ging Maria dazu über, die Räume nach ihrem Geschmack einzurichten. Das Hauptgebäude bestand aus einem schlichten einstöckigen Kubus mit rustiziertem Erdgeschoss und einem für osmanische Bauten typischen, erkerartig vorkragenden oberen Raum (türkisch: „úahniúin“, rumänisch: „sacnisiu“). Über dem Villeneingang ragt ein großzügiger, mit geschnitzten Holzelementen verzierter Balkon hervor – ein architektonisches Element, dessen Vorbild wiederum im rumänischen Profanbau zu finden ist. Um die orientalische Erscheinung der Residenz zu vervollständigen, ließ Maria an der Südwestseite des Gebäudes einen minarettförmigen, funktionslosen Turm errichten. Auch im Innern sind die Referenzen an orientalische Architekturformen unverkennbar. Das im Grundriss oktogonale Bad ist eine exakte Kopie des alten türkischen Bades in Balchik, und durch die Ausstattung des Schlafzimmers mit riesigen Diwanen war die atmosphärische Umsetzung eines imaginären orientalischen Schlafgemachs nahezu perfekt. Hinter dem Hauptgebäude, auf dem hügeligen Terrain oberhalb der Villa, ließ Maria weitere, kleinere Gebäude sowie einen imposanten Terrassengar-

15 Zitiert nach KALLESTRUP, Shona: Art and design in Romania (1866-1927). Local and international aspects of the search for national expression. Boulder, Colo. 2006 (East European monographs 684), 181. 16 Ebd., 43-68 und 172-186 mit einem Überblick über die von Maria initiierte Bautätigkeit in Rumänien. 17 Ebd., 180-185 mit den Details zu den Planänderungen und Bauphasen.

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ten anlegen.18 Als krönender Abschluss dieser Anlage kam etwas später (19291930) die Kapelle Stella Maris hinzu. Sie wurde von den Malern Anastase Demian und Tache Papatriandafil mit Freskobildern der königlichen Familie ausgestattet. Abbildung 2: Kurt Hielscher: Die Sommerresidenz „Tenha Juva“ in Balcic, Fotografie, um 1938.

Quelle: Kurt Hielscher: Rumänien Landschaft, Bauten, Volksleben. Leipzig 1933.

Um den gesuchten orientalisierenden Gestus, aber auch den Aspekt des künstlerischen hortus conclusus zu betonen, gab Maria ihrer Sommervilla die Bezeichnung Tenha Juva (osmanisch: „einsames Nest“). Die Wahl einer exotisch klingenden Bezeichnung in der Sprache der lokalen Mehrheit entsprach der romanti-

18 Aufgeführt sind diese Bauten mit ihren teilweise türkischen Namen bei PĂULEANU, Doina: Pictori români la Balcic [Rumänische Maler in Balchik]. Bucureúti 2008, 51.

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sierenden, zuweilen auch ins Exaltierte neigenden Sicht der Königin auf „ihr“ Land. Im gleichen gedanklichen Kontext stehen auch die zahllosen fotografischen Inszenierungen, mit denen Maria sich abwechselnd als byzantinische Prinzessin, als volksnahe Regentin oder als engelsgleiche Helferin der Armen inszenierte.19 Auch für diese „vergessene Ecke des Orients“, wie Balchik von einem zeitgenössischen Autor bezeichnet wurde,20 entwarf die Königin eine eigenwillige symbolische Selbstinszenierung. In einem eigens kreierten, der traditionellen Kleidung muslimischer Frauen nachempfundenen Kostüm posierte Maria vor der Kulisse von Tenha Juva (Abb. 3). Verträumt in die Ferne schauend, inszeniert die Fotografie Maria als unnahbare Schönheit aus dem Morgenland.21 Aufnahmen wie diese wurden als Postkarte in großer Auflage vertrieben und verbreiteten so eine der zahlreichen Facetten, mit welchen die Regentin sich als „Mutter der Nation“ inszenierte.22 Die seit dem 18. Jahrhundert in Europa verbreitete Praxis, orientalische Formen für „exotische“ Bauvorhaben zu verwenden,23 wurde in Balchik nicht nur mit Tenha Juva, sondern auch mit weiteren Gebäuden angewendet, die man

19 PRÜGEL, Roland: „König aller Rumänen“: Visualisierung der Monarchie unter Ferdinand und Maria in Groß-Rumänien. In: Neue Staaten – neue Bilder? Visuelle Kultur im Dienst staatlicher Selbstdarstellung in Zentral- und Osteuropa seit 1918. Hg. v. Arnold BARTETZKY, Marina DMITRIEVA und Stefan TROEBST. Köln-Weimar-Wien 2005 (Visuelle Kulturen 1), 87-98. 20 BUSUIOCEANU, Alexandru: De la Grigorescu la pictorii Balcicului [Von Grigorescu zu den Malern von Balchik]. In: România 1/40, 11. Juli 1938, wiedergedruckt in: DERS.: Scrieri despre artă [Schriften zur Kunst]. Bucureúti 1980, 89-92, hier 89. 21 Gut möglich, dass die Begeisterung der Regentin Maria für orientalische Kleider und Bauformen, wie überhaupt für den Orient, durch den zu jenem Zeitpunkt stattgefundenen Übertritt der Regentin zur Glaubensgemeinschaft der Bahá’í begünstigt, wenn nicht sogar ausgelöst wurde. 22 Wie hartnäckig sich das orientalische Klischee in den Köpfen der (bis vor einigen Jahren überwiegend rumänischen) Besucher von Balchik hält, zeigt auch die vor Ort gerne kolportierte Legende von einem Liebhaber aus Nahost, für den Maria sich mit Tenha Juva ein „Liebesnest“ erbaut hätte, eine Legende, die untergründig den Topos vom orientalischen Harem evoziert. 23 Zum architektonischen Orientalismus s. KOPPELKAMM, Stefan: Der imaginäre Orient. Exotische Bauten des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts in Europa. Berlin 1987.

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während der rumänischen Verwaltung in Balchik errichtete.24 So stattete der bereits erwähnte Maler Alexandru Satmari sein Haus mit persischen Kacheln aus, und die von der Künstlerin Cecilia CuĠescu-Storck (1879-1969) errichtete Villa, ein im Grunde klassizistischer Bau, erhielt einen „türkischen Pavillon“. Diese, dem „maurischen“ Baustil verpflichteten Bauten standen im bemerkenswerten Kontrast zu den als ärmlich beschriebenen Lehmhütten, in denen die muslimischen Bewohner von Balchik lebten. Freilich wurden die verwinkelten Straßenzüge der türkisch-tatarischen mahala (osmanisch: „Quartier“) mit ihren windschiefen Häusern auf den Leinwänden der rumänischen Maler ins Pittoreske verkehrt (Abb. 4). Was die rumänische Künstlerbohème in Balchik schuf, ist die Exotisierung ihrer unmittelbaren Umgebung, die als märchenhaft entrückte, quasi geschichtslose Gegend wiedergegeben wurde. Auf diese Sichtweise und auf die damit verbundene stereotype Wahrnehmung der türkisch-tatarischen Minderheit jener Region soll im Folgenden eingegangen werden. Abbildung 3: unbekannt: Königin Maria von Rumänien im Garten ihrer Residenz von Balchik, Fotografie, um 1925-1938.

Quelle: Privatsammlung, mit freundlicher Genehmigung.

24 POPESCU, Carmen: Modernitatea în context [Die Modernität im Kontext]. In: (Dis)continuităĠi. Fragmente de modernitate românească în prima jumătate a secolului al 20-lea. Hg. v. DERS. Bucureúti 2010, 11-86, hier 62-69.

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„B ALCHIK -M ANIE “ Schon früh wurde die zentrale Rolle Balchiks für die rumänische Kultur der Zwischenkriegszeit erkannt.25 In seinem 1928 erschienenen Werk bezeichnete der französische Kunsthistoriker Henri Focillon (1881-1943) den Ort als ebenbürtiges Pendant zu den Künstlerkolonien von Worpswede und Dachau.26 Der Vergleich, so schmeichelhaft er wohl gemeint war, ist nicht ganz zutreffend, denn Balchik war keine Künstlerkolonie im eigentlichen Sinne des Wortes. Vielmehr muss das Städtchen als institutionalisierte Sommerresidenz der rumänischen, genauer noch der Bukarester Künstlerschaft betrachtet werden. Von einigen bereits erwähnten Ausnahmen abgesehen ließen sich rumänische Künstler nicht dauerhaft in Balchik nieder, sie bezogen lediglich in den Sommer- und Herbstmonaten ein Quartier, das sie mit Beginn der kalten Jahreszeit wieder verließen. Ein Stück weit übernahm der Aufenthalt in Balchik die Funktion einer Orientreise, die unter rumänischen Malern um die Jahrhundertwende durchaus verbreitet war.27 Die Strapazen einer Fahrt in den Osten konnte sich derjenige sparen, der „unseren kleinen Orient“ besuchte, wie Balchik vom Literaturkritiker Pompiliu Constantinescu genannt wurde.28

25 BUCUTA, Emanoil: Balcic. Oraúe úi locuri de artă româneúti [Balchik. Städte und Plätze rumänischer Kunst]. Craiova 1931. – Zum Stellenwert Balchiks in der rumänischen Literatur vgl. COSTANTINESCU, RomaniĠa: Investissements imaginaires roumains en Quadrilatère: La ville de Balchik. In: Les cultures des Balkans. Hg. v. Efstratia OKTAPODA. Cluj 2010 (=Caietele Echinox 2010/1), 68-82. 26 "Une colonie d’independants s’est etablie aux rives de la Mer Noire, en vieux pays turc à Balcic, et l’on y peint mieux qu’on ne peignis jamais à Neu-Dachau ou à Worpswede." FOCILLON, Henri: La peinture aux XIXe et XXe siècles. Du réalisme à nos jours. Paris 1928, 427. 27 Eine konzise Untersuchung der Reisen rumänischer Künstler – überliefert sind zum Beispiel die Fahrten von Stefan Popescu oder von Theodor Pallady nach Istanbul – in Nahost steht noch an. Zur Thematik der im 19. Jahrhundert massiv zunehmenden mitteleuropäischen Orientreisen siehe GRABNER, Sabine: Orient und Okzident – eine Einstimmung. In: Orient & Okzident. Österreichische Maler des 19. Jahrhunderts auf Reisen. Hg. v. Agnes HUSSLEIN-ARCO und Sabine GRABNER. Wien 2012, 9-17. – WIMMER, Günther: Orientreisen und Orientbilder. In: Orientalische Reise: Malerei und Exotik im späten 19. Jh. Hg. v. Erika MAYR-OEHRING und Elke DOPPLER. Wien 2003, 18-28. 28 Zitiert nach CONSTANTINESCU, Paúi pe graniĠă (wie Anm. 9), 32, Fußnote 6.

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Abbildung 4: ùtefan Constantinescu: Rote Dächer – Balchik, nicht datiert (ca. 1920-1940), Öl auf Leinwand, 81 x 55,8 cm, Constanìa, Muzeul de Artă.

Quelle: Mit freundlicher Genehmigung des Muzeul de Artă, ConstanĠa.

Die Anreise nach Balchik war zunächst aber alles andere als komfortabel. Es galt, beträchtliche Distanzen in einer Region mit kaum vorhandener Infrastruktur zu überwinden. Auf Betreiben der rumänischen Königin beschloss das Bukarester Ministerium für staatliche Bauvorhaben, die Straße zwischen Bazargic (die heutige Stadt Dobritsch/Ⱦɨɛɪɢɱ in Bulgarien) und Balchik auszubauen. Aus dem gleichen Grund wurde 1928 der Bau einer Schnellzugverbindung zwischen Bukarest und Bazargic angekündigt, nachdem bereits einige Jahre zuvor eine

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Fähre zwischen ConstanĠa und Balchik ihren Betrieb aufgenommen hatte.29 Zu den Verbindungen auf dem Land- und Wasserweg kam zu Beginn der 1930er Jahre der Luftweg hinzu: Nach einem weiteren persönlichen Vorsprechen der Königin richtete die rumänische Luftfahrtgesellschaft LARES einen Flugplatz bei Balchik ein, der bis 1940 Bukarest sowie die zweitgrößte rumänische Stadt Iaúi mit diesem, etwas mehr als 6000 Einwohner zählenden Ort verband.30 Auch an dieser verkehrstechnischen Maßnahme, für die sich offensichtlich genügend zahlende Fluggäste fanden, lässt sich die herausragende Bedeutung von Balchik für die rumänische Tourismusbranche sowie für die Kulturszene ermessen. Letztere markierte ihre Präsenz in Balchik durch ein umfassendes kulturelles Programm. Auf Initiative des Bürgermeisters Octav Moúescu wurde in der Stadt eine Sommeruniversität eingerichtet. Als Vorbild diente die 1908 von dem Historiker und Politiker Nicolae Iorga (1871-1940) in Vălenii de Munte initiierte, nationalkonservative sogenannte „Volks-Universität“ (Universitatea Populară).31 An der als Universitatea Coasta de Argint bezeichneten Einrichtung hielten die anwesenden rumänischen Schriftsteller in den Sommermonaten Vorlesungen und Kurse ab. Die Institution gab außerdem eine Zeitschrift mit dem Titel Coasta de Argint heraus, die sich für die regionale Völkerverständigung einsetzte und literarische und essayistische Beiträge in rumänischer, bulgarischer und türkischer Sprache publizierte.32

29 ROTARU, Marina-Cristiana: Balcic – Un exemplu de dezvoltare durabilă avant la lettre [Balchik – ein Beispiel von nachhaltiger Entwicklung avant la lettre]. In: Buletinul UniversităĠii Petrol-Gaze din Ploieúti 2010/2, 107-112, hier 109. 30 Zu den Einwohnerzahlen von Balchik s. http://romaniainterbelica.memoria.ro/judete/ caliacra/index.html (6.9.2013). 31 Für eine frühe Selbstdarstellung der Einrichtung s. Un sfert de veac de la întemeierea UniversităĠii Populare "N. Iorga" din Vălenii-de-Munte [Ein Vierteljahrhundert seit der Gründung der Volksuniversität „Nicolae Iorga“ in Vălenii-de-Munte]. Hg. v. der LIGA CULTURALĂ. Vălenii de Munte 1934. Eine dokumentarische Aufarbeitung der gehaltenen Vorlesungen liefert ğURLEA, Petre: Nicolae Iorga la Vălenii de Munte [Nicolae Iorga in Vălenii de Munte]. Bucureúti 2008. Die kritische Aufarbeitung dieser Institution steht noch aus. 32 Die Zeitschrift erschien zuerst 1928. Näheres hierzu sowie zu der Sommeruniversität bei CONSTANTINESCU, Paúi pe graniĠă (wie Anm. 9), 40.

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Abbildung 5: Ion Theodorescu-Sion: Balchik, Öl auf Leinwand, 1927, 80 x 62 cm, Constanìa, Muzeul de Artă.

Quelle: Mit freundlicher Genehmigung des Muzeul de Artă, ConstanĠa.

Einen gleichrangigen, wenn nicht gar dominierenden Anteil am sommerlichen Kulturgeschehen in Balchik hatten jedoch die bildenden Künstler. Deren Interessenvertretung Sindicatul Artelor Frumoase (Gewerkschaft Bildender Künstler) erwarb 1931 ein Haus in dem Ort und stellte es ihren Mitgliedern als Übernachtungsmöglichkeit zur Verfügung. Auf Initiative dieser Vereinigung geht auch die Einrichtung einer Gemäldegalerie um das Jahr 1935 zurück, in der die vor Ort angefertigten Bilder ausgestellt wurden.33 Die Zahl der in Balchik entstandenen gemalten und gezeichneten Werke war schlichtweg überbordend; das Wort von der rumänischen „Balchik-Manie“ (balcicomania) machte die Runde. Der überwiegende Teil dieser Bilder waren Landschaftsdarstellungen. Mit Recht ist da-

33 Nach der Rückgabe der Süd-Dobrudscha an Bulgarien 1940 wurden ihre Bestände teilweise ins Museum von ConstanĠa überführt, ein weiterer Komplex ist in der heute noch existierenden Kunstgalerie in Balchik vorhanden. CONSTANTINESCU, Paúi pe graniĠă (wie Anm. 9), 85, 98, insbesondere Fußnote 1.

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rauf hingewiesen worden, dass das Seestück als Bildgattung erst mit und durch Balchik Eingang in die rumänische Malerei fand.34 Darüber hinaus und mindestens genauso wichtig waren Genreszenen, die sich in den engen Gassen oder vor den zahlreichen öffentlichen Brunnen abspielten und die lokale Bevölkerung bei alltäglichen Verrichtungen zeigten. Schließlich sind die vielen Interieurszenen zu erwähnen, die zumeist weibliche sitzende oder liegende Personen in traditioneller tatarischer oder türkischer Bekleidung, gelegentlich auch in Phantasiekostümen zeigten und so bestimmte, realitätsferne Denkmuster bedienten, auf die noch eingegangen werden soll. Abbildung 6: Iosif Iser: Tatarenfamilie, um 1921, Öl auf Leinwand, 197 x 252 cm, sign., Bukarest, Muzeul Natǜional de ArtaǍ al României.

Quelle: Mit freundlicher Genehmigung des Muzeul NaĠional de Artă al României.

34 Ebd., 69.

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Die in Balchik tätigen rumänischen Maler35 tragen keine gemeinsame künstlerische Handschrift; es eint sie lediglich die Tatsache, dass sie ihre Bildmotive aus dem lokalen Fundus schöpften. Die weitgehende Ähnlichkeit der so entstandenen Bilder (Abb. 5) ist nicht auf eine gemeinsame „Schule“ zurückzuführen, sondern auf ein weitgehend ähnliches Interesse für eine postimpressionistische, moderat-moderne Freiluftmalerei, welche die sommerliche Atmosphäre des Ortes wiederzugeben suchte und sich vorrangig mit Fragen des „stimmungsvollen“ Kolorits beschäftigte. Eine Ausnahme hiervon stellen die frühen Arbeiten von Iosif Iser (18811958) dar, der zu den frühesten und wichtigsten in Balchik tätigen Malern zählt. Als Soldat hatte der in Ploieúti aufgewachsene Iser am Zweiten Balkankrieg teilgenommen und diesen Landstrich kennengelernt, der ihn so schnell nicht wieder loslassen sollte. Zwischen 1901 und 1904 absolvierte er ein Studium in München an der Kunstakademie sowie bei Anton Ažbe und vervollständigte seine Ausbildung von 1908 bis 1909 an der Academie Ranson in Paris.36 Die Jahre in der französischen Hauptstadt, in denen er unter anderem mit André Derain in Verbindung trat, prägten ihn entscheidend. Die von Cézanne ausgehende analytische Behandlung des Bildsujets als formstrukturelle Aufgabe übertrug Iser auf Motive, die er überwiegend in Balchik, aber auch an anderen Orten in der Dobrudscha vorfand. In majestätisch-monumentalen Kompositionen zeigen die Arbeiten des Malers aus den 1910er Jahren sitzende tatarische Frauen in langen dunklen Gewändern (Abb. 6). Ihre maskenhaften, entpersonalisierten Gesichtszüge verstärken das Befremdliche dieser Bilder. Anders als die zumeist ins Genrehafte tendierende Darstellung der lokalen Bevölkerung in den Bildern seiner Kollegen suchte Iser mit seinen tatarischen und türkischen Frauendarstellungen weniger das pittoreske Motiv, als vielmehr die von Cézanne geforderte „réalisation“ einzulösen. Seine Figuren wirken oft unpersönlich; das exotische Moment (Kleidung, Habitus, Gesichtszüge) ist nicht als „Pointe“ im Bild hervorgehoben, son-

35 Genannt seien hier nur die bekanntesten rumänischen Künstler der Zwischenkriegszeit wie Alexandru Satmari, Jean Alexandru Steriadi, Ion Teodorescu Sion, Marius Bunescu, Paul Miracovici, Leon Biju, Kimon Loghi, Micaela Eleutheriade, Sabin Popp, Henri Catargi, ùtefan Popescu, Petre Yorgulescu-Yor, Hrandt Avakian, Samuel Mützner, Cecilia CuĠescu-Storck, Rodica Maniu, Nicolae Dărăscu, Gheorghe Petraúcu, Iosif Iser oder Nicolae Tonitza. 36 Eine neuere Untersuchung und kritische Befragung seines Werkes ist bisher nicht unternommen worden. Für eine umfassendere Würdigung aus früherer Zeit s. Iser – expoziĠie retrospectivă [Iser-Retrospektive], Ausstellungskatalog Muzeul de Artă Bucureúti. Hg. v. Radu BERCEA und Paraschiva GLAUBER-POJAR. Bucureúti 1983.

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dern dient vielmehr der gesuchten Distanzierung vom Dargestellten, um zur eigentlichen Aufgabe, der formbetonten Modellierung der Bildfläche, mit Hilfe von Farbe zu kommen. Diesen Ansatz suchte Iser in seinen frühen Bildern nachzukommen; zu Beginn der 1920er Jahre gab er dieses Vorhaben aber wieder auf. Die späteren Arbeiten Isers, der trotz seines nach Frankreich verlagerten Wohnsitzes in den Sommermonaten nach Balchik zurückkehrte, unterscheiden sich zwar wenig in der Wahl des Bildmotivs, dafür aber umso mehr in der künstlerischen Umsetzung von seinen Gemälden der 1910er Jahre. Aus der formbetonten Cézanneschen Aufgabenstellung, die hinter seinen frühen Porträts standen, sind nun intime Genrebilder geworden, in denen kaum verhüllte „Odalisken“ in orientalisch anmutenden Interieurs gezeigt werden.37 Gerade im Kontrast zu seinen frühen Arbeiten enthüllt das Spätwerk Isers, das die orientalisierende Attitüde so vieler in Balchik tätiger Maler annimmt, jenen zwar positiv konnotierten, gleichwohl aber klischeehaften Blick rumänischer Maler auf die lokale türkischtatarische Mehrheit.

D ER „ GUTE T ÜRKE “:

ORIENTALISIERENDE IN DER RUMÄNISCHEN M ALEREI

S TEREOTYPEN

Nach dem territorialen Zugewinn im Ersten Weltkrieg war aus dem ethnisch homogenen Rumänien ein Vielvölkerstaat geworden. Die neu erworbenen Provinzen wie Siebenbürgen oder die Bukowina stellten für den rumänischen Staat eine große Herausforderung dar, insbesondere was den Umgang mit den Minderheiten betraf.38 Auch in der Süd-Dobrudscha verhielt es sich so: Die größte

37 Wie realitätsfern die von den Malern geschaffenen Odalisken vom Alltag der Frauen in der muslimischen Gemeinde von Balchik waren, erhellt eine vom Maler Nicolae Tonitza in seinem Tagebuch notierte Anekdote. Sie beschreibt seine mühsame Suche in Balchik nach einem passenden Modell für ein „Odaliskenbild“. Schließlich erklärt sich eine Tatarin namens Gevrié bereit, für den Maler zu posieren. Zum verabredeten Zeitpunkt erscheint sie jedoch im Atelier des Malers in „städtischer“ Kleidung und nicht in dem gewünschten Schleiergewand. Als Tonitza der Frau zu verstehen gibt, dass er sie in landestypischer Tracht malen will und sie zum Umziehen nach Hause schickt, bleibt Gevrié verschwunden und ist auch auf hartnäckige Bitten des Malers nicht mehr bereit, ihm Modell zu stehen. Die Anekdote ist überliefert bei CONSTANTINESCU, Paúi

pe graniĠă (wie Anm. 9), 96.

38 LIVEZEANU, Irina: Cultural politics in Greater Romania. Regionalism, nation building and ethnic struggle. Ithaca 1995.

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nationale Minderheit dieser Provinz, die Bulgaren, nahmen der rumänischen Staatsmacht gegenüber eine überwiegend skeptische bis offen ablehnende Haltung ein.39 Die einzige Minderheit, die in der ethnischen Gemengelage jener Provinz keine territorialen oder weitreichende politische Forderungen stellte, war die türkisch-tatarische Gemeinde. Dieser Umstand erklärt zumindest teilweise, warum Rumänien seiner muslimischen Minderheit mit einer gewissen Sympathie begegnete.40 Die schleichende Auflösung des Osmanischen Reichs, die für Rumänien spätestens im Krieg von 1877-1878 manifest geworden war, hatte wie überall auf der Balkanhalbinsel das alte Feindbild gemildert. Dieser vom politischen Geschehen bedingte Mentalitätswechsel wurde von orientalisierenden Tendenzen in Kunst und Architektur begleitet. Dass der in Europa seit dem 18. Jahrhundert manifeste Orientalismus nicht ohne weiteres auf Länder übertragen werden kann, die bis 1878 unter osmanischer Herrschaft standen, dürfte einleuchtend sein. Westeuropäische Orientmaler, die in pittoresk-exotischen Szenen ein imaginäres „Morgenland“ entwarfen, können nur bedingt etwa mit einem rumänischen Künstler verglichen werden, der in der Wiedergabe seiner unmittelbaren Umgebung auch die materiellen und kulturellen Relikte der osmanischen Herrschaft zeigte. Für die Wahrnehmung des Orients in den zum mitteleuropäischen Raum gehörenden Ländern ist das Konzept des „frontier orientalism“ in Diskussion gestellt worden.41 Als kognitives Modell, das sich von dem klassischen, von

39 LIMONA, Răzvan: PopulaĠia Dobrogei în perioada interbelică [Die Bevölkerung der Dobrudscha in der Zwischenkriegszeit]. o.O. 2009. 40 Zum Bild des guten Türken in der Literatur s. CONSTANTINESCU, RomaniĠa: The Picturesque Image of the Turk in Romanian Culture. In: Balkan literatures in the era of nationalism. Hg. v. Murat BELGE und Jale PARLA. Istanbul 2009 (Istanbul Bilgi University 245: Language and literature 6), 383-398. 41 GINGRICH, Andre: Frontier Myths of Orientalism. The Muslim World of Public and Popular Culture in Central Europe. In: Mediterranean Ethnological Summer School, Piran/Pirano, Slovenia 1996. Hg. v. Bojan BASKAR und Borut BRUMEN. Ljubljana 1998 (MESS. Vol. II), 99-127. – Eine aktualisierte, gleichwohl gekürzte Version dieses Essays erschien auf Deutsch: GINGRICH, Andre: Grenzmythen des Orientalismus – Die islamische Welt in Öffentlichkeit und Volkskultur Mitteleuropas. In: Orientalische Reise: Malerei und Exotik im späten 19. Jahrhundert. Ausst. Katalog Wien Museum 2003. Hg. v. Erika MAYR-OEHRING und Elke DOPPLER. Wien 2003, 110-129. – DERS.: Kulturgeschichte, Wissenschaft und Orientalismus. Zur Diskussion des „frontier orientalism” in der Spätzeit der k. u. k. Monarchie. In: Schauplatz Kultur – Zent-

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Edward Said aufgestellten Orientalismus-Konzept unterscheidet, greift der Grenz-Orientalismus überall dort, wo ein Land „einen gewissen kolonialen Einfluss in den nahen Gebieten der islamischen Peripherie“42 zu verzeichnen hatte. Kennzeichnend für diese Form des Orientalismus sei, dass er die osmanische Bevölkerung „als janusköpfige metaphorische Figur“ konzipiert und neben dem „bösen Türken“, der eine äußere Bedrohung darstellt, auch einen „guten“, sprich politisch gefahrlosen Türken setzt. Beide Wahrnehmungsmuster werden von mittel- und osteuropäischen Staaten bemüht, um ihren eigenen Nationalismus zu untermauern. Beispiele für diesen opportunen Wechsel zwischen „guten“ und „bösen Türken“ finden sich auch in der rumänischen Malerei, lange vor der „Balchik-Manie“. Zu erwähnen seien hier nur einige Arbeiten des rumänischen Künstlers Nicolae Grigorescu (1838-1907). 1877 als Kriegsmaler an der Front eingesetzt, porträtierte er unter anderem auch in Gefangenschaft geratene türkische Soldaten. Im Kontext des staatlich-propagandistischen Auftrags, der hinter diesen Arbeiten stand, wäre ein triumphal-herabwürdigender Blick auf den alten Feind nicht weiter verwunderlich gewesen. Umso bemerkenswerter, dass Grigorescu die Gefangenen mit einer gewissen Empathie wiedergab.43 Diese Haltung entsprach sicher nicht dem Bild, das noch die Generation rumänischer Maler vor Grigorescu von „dem Türken“ entworfen hatte. Wie es scheint, änderte der sich abzeichnende politische Machtverlust des Osmanischen Reichs auch die Geisteshaltung einer kulturellen Elite, die im Bewusstsein, eine im Niedergang begriffene Kultur bildlich zu fixieren, diese nun exotisierte und mit dem positiven Stereotyp des „guten Türken“ belegte. Diese Haltung lässt sich auch an den in Balchik entstandenen Bildern beobachten. Den rumänischen Künstlern, die türkische Fischer am Meer oder verschleierte tatarische Frauen wiedergaben, war die zugleich stattfindende massive Auswanderung der muslimischen Bevölkerung durchaus bewusst. Wie in der Nord-Dobrudscha nach 1878, ging der 1912 eingeläutete Rückzug des Osmanischen Reichs vom Balkan mit dem Exodus der türkisch-tatarischen Minderheit, diesmal in den jungen kemalistischen Staat, einher. Das Bewusstsein, eine vom Aussterben bedrohte ländliche Kultur wiederzugeben, wird in den Bildern von Balchik durch den massiven Einsatz des Pittoresken verdrängt und gewissermaßen auch kompensiert.

raleuropa. Transdisziplinäre Annäherungen. Hg. Johannes FEICHTINGER. Innsbruck 2006 (Gedächtnis – Erinnerungen – Identität 7), 279-288. 42 GINGRICH, Grenzmythen des Orientalismus (wie Anm. 41), 111. 43 Deutlich etwa in dem Bild „Prizonierii turci“ (Die türkischen Gefangenen), ca. 18771878, Öl auf Leinwand, Muzeul der Artă Cluj [Kunstmuseum Klausenburg].

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Für den nostalgischen Grundton, sofern er nicht Teil einer exotisierenden Perspektive auf das Fremde ist, dürfte es im Falle der Arbeiten aus Balchik auch eine weitere Erklärung geben. Die orientalisierenden Porträts der rumänischen Neubürger aus der Südost-Provinz können im übertragenen Sinn auch als Reminiszenz an die eigene, vergangene Zeit gelesen werden. Balchik verkörpert nicht nur – im topographischen Sinne – Rumäniens Tor zum Orient, es steht auch für die Reise in die eigene Vergangenheit. Die exotisierenden Bilder evozieren gewissermaßen die eigenen orientalischen Wurzeln, die in Rumäniens Selbstbild „zwischen Orient und Okzident“ ihren Platz haben. Der in Balchik eingefangene Orientzauber könnte also nicht nur als pittoreske Vereinnahmung des fremden Anderen gelesen werden, sondern auch als Sehnsuchtsbild der eigenen, vermeintlich glücklichen Vergangenheit. Sichtweisen wie diese wurden in den 1930er Jahren von einer ablehnend-kritischen Haltung rumänischer Intellektueller westlichen Geistesströmungen gegenüber befeuert. Dem „Rationalismus“ des Westens suchten sie eine „spezifisch rumänische“ Nationalkultur entgegenzuhalten, die (auch) im orientalischen Denken und Fühlen verwurzelt sei.44

F AZIT Mit der Annektierung der Süd-Dobrudscha 1913 kam Rumänien in den Besitz einer ehemaligen Grenzregion des Osmanischen Reiches, dessen Spuren in der ethnischen Zusammensetzung und religiösen Ausrichtung ihrer Bewohner deutlich präsent waren. Im Umgang mit dieser multiethnischen, gleichwohl muslimisch geprägten Region nahm Rumänien eine orientalisierende Perspektive auf die südöstliche Provinz ein. Bis zu einem bestimmten Grad kann das Modell des Grenz-Orientalismus auf das pseudo-koloniale Expansionsabenteuer Rumäniens in der Süd-Dobrudscha übertragen werden, die nach 1913 zum „kleinen Orient“ stilisiert wurde. Deutlich wird dies an den unter rumänischer Regentschaft entstandenen Bauvorhaben, die den „genius loci“ für sich beanspruchen und folgerichtig mit maurischen Bauformen eine architektonische Orientalisierung in Gang setzen. Doch nicht nur die Baukultur, auch die in den Zwischenkriegsjahren entstandene künstlerische Produktion ist von der orientalisierenden Perspektive rumänischer Künstler auf die Region geprägt. Der rasante Aufstieg Balchiks zu der Künstlerstadt Rumäniens verdankt sich größtenteils ihrer exotischen Ver-

44 Zur kulturellen Debatte um das rumänische Nationalspezifikum in der Zwischenkriegszeit s. PRÜGEL, Roland: Im Zeichen der Stadt. Avantgarde in Rumänien 19201938. Wien-Köln-Weimar 2008, 158-194.

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klärung. Die durchweg positive Konnotation, mit der die Süd-Dobrudscha im Allgemeinen und die Bewohner Balchiks im Besonderen betrachtet werden, entspricht zum einen dem nach 1878 zunehmend verbreiteten Stereotyp des „guten Türken“. Zum anderen steht die positive Konnotation des „Orientalen“ im Kontext der in Rumänien grassierenden anti-westeuropäischen Reflexhaltung. Die muslimischen Bewohner der Süd-Dobrudscha wurden in ihrer „exotischen“ Differenz gezeigt, nicht aber als das „radikal Andere“ zur Schau gestellt. Man begegnete den Einheimischen wie den Relikten einer längst vergangenen, gleichwohl einst gemeinsamen Welt. Die Bilder von Balchik praktizieren nicht die Ausgrenzung von Fremden, sondern die von Sympathie bestimmte Annäherung an eine dem Untergang geweihte Kultur, der man sich aber noch verbunden fühlte.

Vladimir Bartol’s Alamut and Slovenian (Self-)Orientalism M IRT K OMEL

I NTRODUCTION Vladimir Bartol’s (1903-1967) Alamut, written in the interwar period and published in 1938 just before the outbreak of World War II, presents a rare and curious case of Orientalism in Slovenian literature. If Slovenian literature from the end of the nineteenth and the beginning of the twentieth century is characterized either by its nation-building function or by its more autonomous modernist endeavours, then Bartol’s Alamut does not fit the general picture. Vladimir Bartol was a Triestine author who remained at the margins of Slovene literary circles, partly because he remained in his hometown for most of his life, and partly because he did not belong to any established literary movement or camp. Unlike his other works, the novel Alamut is saturated with Orientalist themes, as it is set in eleventh-century Persia and tells the story of Hasan Sabbah, the founding father of the legendary Assassins who fights against the Seljuk Empire, and of Ibn Tahir, a young Ismaili who comes to the castle of Alamut in order to become an assassin himself. Although far from being an isolated case of Orientalism, the novel presents a distinctive self-orientalising trait that is unique for the period in question and can thus be regarded as a paradigmatic turning point in the Slovenian tradition of representing the Oriental Other with literary means.

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V LADIMIR B ARTOL

AND HIS

W ORK

Vladimir Bartol was born in 1903 into a well-situated middle-class family from Trieste, where he received a good education. Very early in life his father, a post office clerk, taught him biology, while his mother, a teacher and renowned feminist author, introduced him to painting. Later he was interested in a variety of sciences and fields of art and knowledge: biology and philosophy, psychology, and the arts in general, but especially literature, poetry and theatre. Bartol’s early schooling began in Trieste and concluded in Ljubljana with the study of biology and philosophy. Dr. Klemen Jug (1898-1924), an alpinist, writer and philosopher, was a charismatic and controversial Nietzschean figure of the period, who – as the young Vladimir’s friend, teacher and mentor – introduced him to philosophy in general and the works of Friedrich Nietzsche in particular.1 Bartol showed great interest in Nietzsche’s philosophy, combined with readings of Descartes, Kant, Schopenhauer and others, all of which are interwoven in his literary writings (Alamut included). He also engaged with Sigmund Freud’s psychoanalysis, writing several critical essays on the subject.2 After graduating in 1925, he spent the next two years studying at the Sorbonne in Paris, where in 1927 Josip Vidmar (1895-1992), a renowned Slovenian critic and essayist as well as a politician, talked to him about the motif of the “Old Man of the Mountain” from The Travels of Marco Polo as material for a short story or novel, which was the spark that lit the idea for his Alamut, as we can read in Bartol’s autobiography: “Josip Vidmar, around whom we grouped at the time, said to me after hearing my reading: ‘Bartol, I know of a topic that might interest you. Marco Polo tells a story in his travelogues about an Oriental despot that invented a terrifying system for turning his believers into blind means for his plans.’”3

The next year, in 1928, Bartol moved to Petrovaradin (in present-day Serbia), where he served in the army. In the years 1933-1934, he lived in Belgrade and

1

VIRK, Tomo: Lik Klementa Juga v delu Vladimirja Bartola [Klemen Jug in the Works of Vladimir Bartol]. In: Pogledi na Bartola. Ed. Igor BRATOŽ. Ljubljana 1991, 67-75, here 73.

2

BARTOL, Vladimir: Zakrinkani Trubadur. Izbrani þlanki in eseji [A Disguised Troubadour. Selected Articles and Essays]. Ljubljana 1993.

3

IDEM.: Mladost pri Sv. Ivanu. Romantika in Platonika sredi vojne [My Youth at St. Ivan’s. Romanticism and Platonicism in the Middle of the War]. Ljubljana 2006, 215.

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worked as the editor of the Slovenian Belgrade Weekly, but soon returned to Ljubljana and worked as a freelance writer until 1941. All the while he was preparing his novel. It took these ten years for Bartol to study the wealth of historical material (especially German and French nineteenth-century Orientalists such as Gustav Weil, Friedrich Spiegel, Gustav Leberecht Flügel, Joseph François Michaud and John Malcom), write down schemes and drafts and produce four versions of Alamut before the final publication. During the war he was invited by the same Vidmar to join the resistance movement, actively participating in the Yugoslav Front, known as the Yugoslav People’s Liberation War or NOB (Narodnoosvobodilni boj), fighting against the National Socialist occupation. It is also known that Bartol sympathized with the anti-Fascist underground organization TIGR (the abbreviation for the contested territories: Trieste-Istria-Gorizia-Rijeka), which was active in the 1920s and 1930s in the northeastern Italian region; it was regarded as a terrorist organization and at least partially inspired Bartol’s portrayal of the infamous secret order of the Assassins. After the war he moved back to his hometown Trieste, where he spent ten years mainly writing essays and his autobiography, My Youth at St. Ivan’s. When he was elected as an associate member of the Slovenian Academy of Sciences and Arts (SAZU), he moved to Ljubljana, where he worked for the Academy until his death in 1967. During his life up until Alamut, Bartol’s literary work was not recognized by the Slovene writer’s community and general reading public, at least not as much as he would have liked;4 the author’s bitterness in regard to the lack of success of his work is forcefully expressed in his literary diaries, written in the years 19301933 and published in 1982-83 by the journal Dialogi.5 While his contemporaries disliked his work, a part of the younger generation nevertheless looked at him

4

The reception of Bartol’s most relevant works (excluding Alamut) can be summarized as follows: his first piece of theatre, Lopez, was published in 1932 (BARTOL, Vladimir: Lopez. Ljubljana 1932), but on stage it was a fiasco. In 1935 he published Al Araf (BARTOL, Vladimir: Al Araf. Ljubljana 1935), a collection of short stories with an Orientalistic title, already reflecting the thrust of Alamut. After the war he published Tržaške humoreske in 1957 (BARTOL, Vladimir: Tržaške humoreske [Triestine Humoresques]. Ljubljana 1957), a collection of humoristic short stories. Much of his work was published only after his death, for example his pre-war novel Don Lorenzo de Spadoni in 1985 (BARTOL, Vladimir: Don Lorenzo de Spadoni. Ljubljana 1985), but none of them brought him success comparable to the later reception of Alamut.

5

BARTOL, Vladimir: Literarni zapiski 1930-33 [Literary Notes 1930-33]. Dialogi 7/410 (2006), 364-390, 505-528, 620-637, 748-782, 827-834.

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as a cosmopolitan writer, a judgment that would later be shared abroad.6 From the perspective of his Slovenian literary colleagues, his works were seen as cynical and nihilistic, too feuilletonistic to be taken seriously, stylistically poor, and at best an essayistic philosophy disguised as literature.7 The geopolitical ideological atmosphere of the time, that is, before and after the Second World War, did not favour Bartol’s ideas, which fitted neither of the regimes he lived under: neither the Kingdom of Yugoslavia (1918-1941, first called the Kingdom of Serbs, Croats and Slovenes), for it was not in tune with the common nationbuilding ideology in vogue with Slovenian writers, nor did it fit the mainstream socialist-realistic current of the later socialist Yugoslavia (1946-1991, founded as the Democratic Federal Yugoslavia, in 1946 renamed the Federal People’s Republic of Yugoslavia, and finally, in 1961, the Socialist Federal Republic of Yugoslavia). In such an environment, perhaps regarded a little exaggeratedly as hostile to his work, Bartol held the highest of hopes for Alamut, which was finally published in 1938. Nevertheless, the established Slovenian aesthetical canon regarded Bartol’s Orientalist novel as too removed from the real problems of the Slovenian nation and from the duty of Slovenian literature.8 Thus the novel failed – but not without a fight on the part of the author.

6

Boris Paternu rejects the interpretation of Bartol as an avant-garde post-modern author, and finds the reasons for his revival in the 1980s more in an “encyclopedicness” reminiscent of Umberto Eco, which “pleased the more Alexandrian taste” of younger generations, less interested in its philosophical value than in the writer’s “erudition, irony and his technique of story-telling”, concluding that Alamut is “not a postmodern novel, but certainly a pre-modern novel made in such a way that it pleased post-modern sensibilities” (PATERNU, Boris: Vprašanje recepcije Bartolovega Alamuta [The reception of Bartol’s Alamut]. In: Pogledi na Bartola (as in n. 1), 87-90, here 89).

7

Drag Bajt provides us with an overview of the various contemporary interpretations of Bartol’s work as mere training in the essay: Božidar Borko considered his collection of short prose Al’Araf as “intellectualism” and “scientificism”, and as “philosophical and psychological treatises”, while Lino Legiša and Tone Potokar declared Alamut to be “half report, half psychological study”, “nearer to artistic essays than creative prose” (BAJT, Drago: Problemi Bartolove esejistike [Problems of Bartol’s essayistic]. In: Pogledi na Bartola (as in n. 1), 77-89, here 78-79).

8

BAJT (as in n. 7), 78.

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T HE R ECEPTION

OF

A LAMUT

AND ITS

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P OPULARIZATION

Because of the general misunderstanding of Alamut, Bartol remarked on many occasions that he wrote it for future generations, and from the distant viewpoint of the present and considering the history of the reception of this singular Slovene Orientalist work, one cannot but agree. The overall reception of Alamut, its many editions and translations, can be divided into three phases: the first edition of 1938 was disregarded and rejected, mostly due to its lack of national consciousness, although it was later translated into Czech (1946) and Serbian (1954); after the author’s death in 1967 a singular “Bartol revival,” “resurrection” or “renaissance” followed in the 1980s after the new 1984 edition in Slovenian;9 a renowned interest was sparked by the 1988 translation into French, after which many others followed (Spanish and Italian (1989), German (1992), Turkish and Persian (1995), and later many others); the third and last phase began with the first English edition of 2004, due to which Bartol’s name became known worldwide and Alamut became a global phenomenon with innumerable translations into Arabic, Greek, Hebrew, Korean, etc. At the centre of each phase stood the controversial main idea of the novel – “Nothing is true and everything is permitted” – enacted in an Orientalist historical scenario picturing the legendary Alamo’s Assassins. Bartol himself had his own interpretations on how his novel should be understood: on the one hand he said that the novel was “a faithful historical reconstruction” of eleventh-century Islamic Persia, on the other hand that it was a “living metaphor for the age of dictatorship we live in.”10 The alleged historicity of the novel was thoroughly questioned soon after its first publication,11 and contemporary research on the Assassin legends demonstrates that the Hasan Sabbah of the novel and his sect are for the most part fruits of the author’s own imagination,12 but the allegorical value of the novel remained not only unshaken, but also increased due to the specific historical context of its further translations. Already at the dawn of the first edition, a plurality of interpretations emerged, two

9

PATERNU, Vprašanje recepcije (as in n. 6), 87.

10 BARTOL, Vladimir: Alamut. Namesto uvoda k Alamutu [Alamut. Instead of an Introduction to Alamut]. In: IDEM: Alamut. Ljubljana 1938, 289-292. 11 KOS, Janko: Alamut in evropski nihilizem [Alamut and European Nihilism]. In: Sodobnost 6/7 (1990), 676-692, here 9-25. 12 KOMEL, Mirt: Orientalism in Bartol’s novel Alamut: “Nothing is true, everything is permitted”. In: Annales, Series Historia et Sociologia, Ljubljana 22/2 (2012), 354-366 (http://www.zrs.upr.si/media/uploads/files/ASHS_22-2012-2_Komel.pdf).

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of which persisted through time and are of particular interest here: on the one hand it was read as an allegory of the totalitarian state (Bartol wanted to ironically dedicate it to Benito Mussolini, but when the editor dissuaded him from doing so he tried “to a certain dictator”, which was similarly discarded as an option), while on the other it was seen as a justification of the anti-Fascist partisan struggle, given to the author’s connection to the TIGR, which, among other activities that were regarded as terrorist, attempted the assassination of Mussolini.13 In tune with these two interpretations, and against the better judgment of his contemporaries, Bartol nonetheless joined the nationalistic stream and his Orientalist novel was indeed a child of its contemporary political reality. With the French translation of 1988, Alamut was again promoted as a faithful historical account of the Assassins, this time seen as the forerunners of modern “Islamic fundamentalism,”14 a problematic concept depicting Islam as a monolithic entity, linked with extremism, fanaticism, and terrorism.15 This time Bartol’s Orientalist writing found fertile ground in a Europe contaminated with the then omnipresent “threat from the East” that went by the name of Khomeini, who was described as the “virtual face in Western popular culture of Islam.”16 In this perspective, the Hasan Sabbah of the novel was compared to Khomeini, and vice versa; Alamut was regarded as a metaphor for Islamic fundamentalism. With the first translation into English in 2004 it was again a geopolitical context that favoured further popularization of the novel: the 9/11 Al-Qaeda attack gave an excellent pretext for the novel to be published in the US, where Hasan Sabbah this time became the mirror image of Osama bin Laden and the Assassins of Alamut that of Al-Qaeda.17

13 HLADNIK, Miran: Nevertheless, is it also a Machiavellian novel? A review essay of Biggins, Michael: “Against ideologies: Vladimir Bartol and Alamut”. In: Slovene studies 26 (2004), 107-115, here 107. 14 SICRE, Jean-Pierre: Introduction. In: BARTOL, Vladimir: Alamut. Paris 1988, 9-13. 15 HALLIDAY, Fred: Islam and the Myth of Confrontation. London 1995. 16 NASR, Vali: The Shia Revival. How Conflicts within Islam will Shape the Future. New York 2006, 138. 17 The promotional first interior page of the English edition of Alamut (BARTOL, Vladimir: Alamut. Berkley 2011) perfectly reflects this mirroring: “The book once again took a new life following the attacks of 9/11/2001 because of its early description of the world of suicide bombers in fanatical sects” (editorial); “Alamut is a literary classic by Slovenian writer Vladimir Bartol, a deftly researched and presented historical novel about one of the world’s first political terrorists” (Midwest Book Review);

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The English translation brought “an exhaustive summary of everything that Slovene Bartology has created so far,” as Miran Hladnik evaluates the afterword of his friend and translator, Michael Biggins, adding that “Biggins’ analysis of the four classifications of the novel is clearly his great contribution to Alamutology.”18 Even if both statements are bold exaggerations (the mentioned summary consists of four pages of a seven-page afterword without any reference to past or living Bartologists or Alamutists), Biggins’ classification is nonetheless useful because of its synthetic résumé:19 first, Alamut is a novelistic account of the eleventh-century struggle of the Assassins against the Seljuk power based on historical references; second, Alamut is an allegoric representation of the totalitarian regimes in the early twentieth century, where Hasan Sabbah is the mirror-image of Hitler, Mussolini and Stalin; third, Alamut is a nationalistic novel and the Assassins are compared to the TIGR since both employed violent means to achieve national liberation from an imperialistic yoke; fourth, the content of Alamut is prophetic in its uncanny foreshadowing of the early twenty-first century’s conflict between the West and the Islamic world: following this interpretation the USA is seen as the imperialistic Seljuk power, while the Assassins are the forerunners of Al-Qaeda and Hasan Sabbah the mirror image of Osama bin Laden; fifth, Biggins’ own personal interpretation (self-declared as “non-ideological,” as already the title of his afterword suggests, Against Ideologies) reads Alamut as a “non-ideological deconstruction of ideologies” based on a “personalistic philosophy”, a statement that does not hold water if one considers Bartol’s taste for Nietzschean philosophy (via Klement Jug). The reception of Bartol’s Alamut has therefore varied over time and its path is characterized by its rejection in Slovenia during the author’s life and by its popularization in Europe and the US at the end of the twentieth and the beginning of the twenty-first century. Besides inspiring other historical fiction novels picturing the legendary Assassins,20 it was also staged as a play in 2005,21 and

“Whoever wants to understand the success of the Al Qaeda leader’s strategy should read Bartol” (Mladina). 18 HLADNIK, Nevertheless, is it also a Machiavellian novel? (as in n. 13), here 107. 19 BIGGINS, Michael: Against Ideologies. Vladimir Bartol and Alamut. In: BARTOL, Vladimir: Alamut. Seattle 2004, 383-390. 20 BOSCHERT, James: Assassins of Alamut. Tucson 2010; ODEN, Scott: The Lion of Cairo. London 2011. 21 Alamut, directed by Sebastijan Horvat, dramatized by Dušan Jovanoviþ and performed at the Salzburger Festspiele in coproduction with the Slovenian national theater Drama.

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even used as the basis for a popular franchise of historical-fiction actionadventure video games entitled Assassin’s Creed (Ubisoft 2007-) in which the main maxim of the novel, “Nothing is true, everything is permitted”, features prominently.22

B ARTOL ’ S A LAMUT AND S LOVENIAN F RONTIER O RIENTALISM Although Alamut was not the first (and definitely not the last) Slovenian Orientalist endeavour, it nonetheless became the Slovenian worldwide best-selling phenomenon, a level of success no other Slovenian novel (or literary work for that matter) achieved, which is a curious case of the Hegelian irony of history at work (the spirit of history working behind the subject’s will and always unfolding only retroactively),23 since – Alamut being a Slovenian novel and Bartol being a Slovenian writer – it has nothing distinctively Slovenian in its Orientalist design (at least not easily discernible at first glance). Nineteenth-century Slovenian Orientalism can be best characterized by what Andre Gingrich referred to as “frontier Orientalism,” in general encompassing a vast variety of Orientalist discourses present in the European southern and eastern periphery that had a long history of interaction with the Islamic world, but specifically employed by the author for the research on the Southeastern European region, thus discerning the following characteristics:24 first and in contrast with the British and French aristocratic and bourgeois Orientalism of the eighteenth and nineteenth centuries as analysed by Said, this version of Orientalism is equally present in both an elite and a folk culture saturated with images of the “Turk” that refer or allude to the past Turkish wars; second, again contesting Said’s understanding of Orientalism and continuing with the logic of the first

22 Jade Raymond, the producer of the game, stated in an interview: “Instead of using Arab legends we decided to take inspiration from a book called Alamut, by the Slovenian author Vladimir Bartol” (RAYMOND, Jade, Interview. ComputerAndVideoGames.com 2006.

In:

http://www.computerandvideogames.com/148805/interviews/assassins-

creed (31.11.2012). 23 HEGEL, Georg Wilhelm Friedrich: Philosophy of History. Ontario 2001, 43-44. 24 GINGRICH, Andre: Frontier Myths of Orientalism. The Muslim World in Public and Popular Cultures of Central Europe. In: Mediterranean Ethnological Summer School, Piran/Pirano Slovenia 1996. Ed. by Bojan BASKAR and Borut BRUMEN. Ljubljana 1998 (MESS. Vol. II), 99-127.

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characteristic, frontier Orientalism depicts the Oriental Other not as a subjugated and weak entity, but rather as a powerful threat from the East; third, and resuming the first two characteristics, frontier Orientalism is defined by its local folklore and specific geopolitical experience, and is thus highly motivated by nationalistic and xenophobic tendencies. By employing the concept of frontier Orientalism in the Slovenian case, Bojan Baskar demonstrated that in comparison to its Austrian variant it demonstrates “less supremacism and more lamentation over the Turkish invasion of Slovenian lands;”25 moreover, folk tales, as well as high and popular literature, contributed greatly to the Slovenian frontier Orientalism’s endeavour of “depicting the Turkish Oriental Other as the cardinal enemy of the emerging Slovenian nation.”26 An interesting exception to the rule was Anton Aškerc (1856-1912), who, like many other Slovenian writers of the nineteenth century, wrote some poems employing an Oriental topic, but whose vast Orientalizing work consists of travelogues recording his voyages to the East; as Baskar argues, similar to his literary colleagues of the period, Aškarc’s writing was determined by the Habsburg imperial context, but as a pan-Slavist and Slovenian nationalist he did not consider himself an Austrian imperial subject; however, and in striking contrast to his compatriots, his travelogues were more inspired by Russian Orientalism than by any local Slovene variant of frontier Orientalism.27 Hence Bartol’s singular literary work from the interwar period of the twentieth century represents a significant shift: Alamut not only almost completely detaches itself from the local geo-political and socio-historical context (since it moves into eleventhcentury Persia), but also transforms the structure of the narrative so that now the story is told from the perspective of the Oriental Other itself. Especially the latter

25 BASKAR, Bojan: Ambivalent Dealings with an Imperial Past. The Habsburg Legacy and New Nationhood in ex-Yugoslavia. Vienna 2004, 4. http://www.oeaw.ac.at/ sozant/files/working_papers/wittgenstein/band010.pdf (14. 9. 2013). 26 A typical example of the specifically Slovenian genre of the Turkish tale would be the popular story about Martin Krpan literalized by the Slovenian writer Fran Levstik in the nineteenth century and first published in 1858 in the literary journal Slovenski glasnik: a Slovene salt-smuggler during Habsburg rule is summoned by the Emperor to fight the brutal Turkish warrior Brdaus besieging the capital Vienna with his army; needless to say, the Slovenian hero defeats a much stronger enemy by employing courage and canniness (LEVSTIK, Fran: Martin Krpan. Ljubljana 2004). 27 BASKAR, Bojan: Oriental Travels and Writings of the Fin-de-Siècle Poet Anton Aškerc. In: Figures pionnières de l’orientalisme. Convergences européennes. Ed. by Isabelle GADOIN and Živa VESEL. Paris 2011 (Res Orientales 20), 219-230.

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aspect is important for understanding the shift that Bartol makes in the tradition of Slovenian frontier Orientalism, as well as in the more general context of the British and French tradition of Orientalism as studied by Edward Said. According to Said, Orientalism does not offer a neutral description of the Orient, since it implies a perception of the East by the West that is essentialist and ahistorical, thus forming an inferior and irrational object of scientific knowledge, aesthetic pleasure and colonialist domination,28 so that a specific link between imagination and domination is established, as best described by the concept of cultural imperialism.29 Although widely employed in various fields of analysis, Said’s conception has also been criticized because of its denial of the Orient’s own power of representation and self-representation.30 If therefore Orientalism denotes a specific discursive style of thought and the related praxis of domination exercised by the West upon the East, resulting in a stereotyped depiction of the latter, then self-Orientalism can be regarded as its specific and subversive extension: defined as post-colonial self-exploitation or as an anticolonialist attempt of cultural self-definition, self-Orientalism is a modus of Orientalism practised by the Oriental Other itself; often labelled as reversed or complicit Orientalism, self-Orientalism denotes precisely a distinct reversal of Orientalist thought through a peculiar process of self-Othering of the Oriental Other – or, mutatis mutandis, the kind of Orientalism in which the subject of self-Othering is not the Oriental Other, but rather the Occidental subject itself.31 In this regard Bartol’s Alamut differs both from French and British Orientalisms as well as its compatriot variants of Slovene frontier Orientalism, since it is structured – as we shall see in the final part of this article – in such a manner that it allows a self-orienting positive identification, rather than disqualification of the Muslim Oriental Other, a trait it shares with the German tradition of Orientalism.32

28 SAID, Edward: Orientalism. London and New York 2003 (25th anniversary edition with a new preface by the author). 29 TOMLINSON, John: Cultural Imperialism: A critical introduction. London 1991. 30 NIYOGI, Chandreyee: Preface. In: Reorienting Orientalism. Ed. by Chandreyee NIYOGI.

New Delhi 2006, 14-33.

31 AZM, Sadiq Jalal: Orientalism and Orientalism in Reverse. In: Orientalism. A Reader. Ed. by Alexander Lyon MACFIE. New York 2000, 217-238. 32 POLASCHEGG, Andrea: Der andere Orientalismus: Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin-New York 2005 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 35).

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O RIENTALISM AND S ELF -O RIENTALISM B ARTOL ’ S A LAMUT

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IN

Bartol’s Alamut is saturated with almost every possible Orientalist legend about the so-called Assassins,33 certainly a disdainful misnomer for the Islamic sect of Nizari Ismailis,34 but nonetheless a nickname that gained an almost independent currency in the West so that at the end it seemed that one can easily speak about the Assassins without actually referring to the historical sect of the Nizaris.35 The whole novel revolves around the highly fictionalized character of Hasan Sabbah, metaphorically referred to as the “horrible dreamer from hell” and more formally as the “unseen commander of the Ismalilis” or simply as “Sayyiduna” or “Our Master.”36 The founding-father of the sect historically stood at the very centre of this Ismaili movement in the early eleventh century and is surrounded by a legendary aura that gave birth to many popular tales: schooling together with the famous Persian poet Omar Khayyam and the later Vizier of Baghdad Nizam al-Mulk; the cunning taking of Alamut by Hasan Sabbah and his subsequent ascension to power; his cold and cruel relationship to his family members

33 “The word ‘assassin’, which the West uses for terrorist murderers in general, was originally a nickname of the sect, and had nothing to do with killing. It received this connotation in our language only by analogy to the famous murders of the ‘Assassins’ – whose ‘chief object’, however, was not murder, and especially not ‘to assassinate Crusaders.’” (HODGSON, Marshall G. S.: The Secret Order of Assassins. The Struggle of the Early Nizârî Ismâ’îlîs against the Islamic World. Philadelphia 2005, 1). 34 Ismailism is a branch of the Shia path of Islam that took its name from Ismail, one of the sons of Jafar as-Sadiq, an imam of the Abbasid dynasty. In the eighth century the Ismailis challenged the official Sunni version of Islam with a widespread net of activities, and it is from this movement that the Fatimid dynasty arose, with its powerful Caliphate based in Cairo, where it ruled until the eleventh century, when the Seljuk Turks took over. In this context the scattered Ismailis began with totally new kinds of policies, as well as religious and philosophical doctrines, and soon split from the Fatimids altogether. Calling themselves “Nizaris” (since they started as supporters of Nizar, one of the two sons of the imam Mustansir, who disputed the Ismaili imamate in Egypt in the 1090s), they fought against the Seljuks and from a certain point in history even against the whole of Islam, seizing fortresses, conquering villages, attempting to take cities by coups de main, and of course starting a series of spectacular murders that made them known around the world as the Assassins. 35 DAFTARY, Farhad: The Assassin legends. Myths of the Isma’ilis. London 1994, 1-7. 36 BARTOL, Vladimir: Alamut. Berkeley 2011, 14.

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(in time of war he is said to have sent away his wives and daughters, and that he sentenced his two sons to death: one on the charge of murder, the other for drinking alcohol); his nickname “Old Man of the Mountain” (a nickname originally attributed to Rashid ad-Din Sinan, the leader of the Syrian branch of the Nizaris with their headquarters at the castle of Masyaf).37 If all these legends, originally emanating from the Orient itself, were used by the classical European Orientalists of the nineteenth century – such as Hammer-Purgstall – in order to amplify the sinister character of the “establisher of the murderous order of the Assassins”,38 then Bartol employs the same traits in highly exalted terms for the diametrically opposite purpose, namely, the praise of an illuminated, hyperrational (and hyper-rationalizing) character that is prepared to do anything in order to gain everything, as expressed in the very motto of the novel: “Nothing is true, everything is permitted.” The fictionalized Hasan Sabbah enacts a secret plan at the castle of Alamut in order to liberate his motherland Persia from the yoke of the Seljuk Empire: the creation of an artificial paradise that resembles perfectly the one found in that precise story by Polo with which Vidmar familiarized Bartol in the first place.39 This part of the story, the experience of the Artificial Paradise, is told from the perspective of Ibn Tahir (one of the fedayeen or “those that are prepared to sacrifice”),40 who comes to Alamut “to serve the supreme commander of the Ismailis

37 HODGSON, The Secret Order of Assassins (as in n. 33), 41-51. 38 “Human nature is not naturally so diabolical that the historian must, among several doubtful motives to an action, always decide for the worst; but, in the founder of this society of vice, the establisher of the murderous order of the Assassins, the most horrible is the most likely.” (HAMMER-PURGSTALL, Joseph von: The History of Assassins derived from Oriental sources. Translated from the German by Oswald Charles WOOD. New York 1968, 72). 39 The tale tells the story of Ismail who resides at the fortress of Masyaf, where he builds a vast garden with a pleasure building at its centre, filled with luxuries and slaves of both sexes. At nights he invites guests to his residence nearby and has them unwillingly drugged and taken through a secret tunnel connecting his residence to the garden of pleasures. After they have experienced this artificial paradise, Ismail tells them that if they will serve his cause, they will be sent to paradise, thus binding their wills to his own (DAFTARY, The Assassin legends (as in n. 35), 41-51). 40 According to the legends (and also to Bartol’s literary interpretation) the fidai or feday performed not only suicidal assassinations, but also death-leaps of faith down walls and towers in order to demonstrate loyalty to their master; all these legends are questionable, as is the assertion that they formed a privileged rank within the organization

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and to avenge his grandfather” and whose first encounter with Alamut, the “Eagle’s nest,” is shaped with distinctively imaginary traits: “Not far off, the grandson of Tahir saw two high towers which shone white over the dark mountains like a vision from a dream.”41 After proving himself in discipline, poetry, intelligence and war, Ibn Tahir undertakes a ceremony of initiation that concludes with a journey into the secret artificial paradise with the ultimate test of faith: along with his two companions, Ibn Tahir is first drugged against his will with hashish balls that resemble ordinary candy, the “key that opens the gate to heavenly delights,”42 and afterwards dragged to a pavilion with an “appearance of something otherworldly” that gives the “impression of paradise;”43 soon the girls appear in shape of houris, paradisiac women that sing and dance and make love with an everlasting virginity attained through a mineral compound.44 After experiencing such a paradise the fedayeen become fearless in the face of death and even welcome it in their firm conviction that they will die as martyrs and return there in their afterlife. The purpose of this peculiar social experiment is to forge “living daggers able to overcome time and space” and “use these ‘ashashin’ as a terrible weapon” in order to “spread fear and awe, not among the masses, but among the crowned and anointed heads of the world. Let every potentate who opposes them live in mortal terror.”45 Moreover, such an organisation “ought to become a kind of supreme supervisory council for the planet” so that soon the “time will come when even princes on the far side of the world will live in fear of our power.”46 Such excerpts from the novel can indeed point to Bartol’s intent to picture the Assassins as the allegorical representation of the TIGR organization, or can even function as uncanny predictions of contemporary global terrorist networks,47 but

and that they received special training (HODGSON, The Secret Order of Assassins (as in n. 33), 82-83; (DAFTARY, The Assassin legends (as in n. 35), 105-106). 41 BARTOL (as in n. 36), 30. 42 Ibid., 172. 43 Ibid., 143. 44 Ibid., 161. 45 Ibid., 224. 46 Ibid., 371. 47 Bernard Lewis, one of the authorities on the Assassins, devoted the entire final chapter of his book to the thesis that the Assassins “invented terrorism,” despite the fact that the Assassins did not invent political assassination: “In one respect the Assassins are without precedent – in the planned, systematic and long-term use of terror as a politi-

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one needs to bear in mind the key difference between the eleventh-century assassins and twentieth-century terrorists: while the latter’s privileged targets are civilians, the former struck exclusively against political and religious leaders, which is most probably the reason they enjoyed such popular support during periods of war when the masses were dying en masse.48 Bartol’s employment of Orientalist elements taken from the Assassin legends bears distinctive traits not only of Orientalism, but also, and more importantly, of self-Orientalism, since the philosophy employed to justify the “use of people as means”49 is derived neither from the Quran nor any Islamic thinker, but rather from the European tradition, as explicit references to pre-Socratic Greek philosophers and multiple implicit references to Descartes, Kant, Schopenhauer, Nietzsche and Freud demonstrate.50 And it is especially so when it comes to the alleged “Supreme Sentence of the Ismailis” that figures prominently throughout the novel, since Bartol not only reproduced the erroneous belief that the maxim is the genuine creation of the Nizaris,51 but also interpreted it through the distinctively western perspective of nihilism and Machiavellism, thus enabling a distinctive self-othering of the reader into a ‘westernized Oriental Other’.

cal weapon.” (LEWIS, Bernard: The Assassins. A Radical Sect in Islam. London 2003, 129). 48 HODGSON, The Secret Order of Assassins (as in n. 33), 84. 49 BARTOL (as in n. 36), 140. 50 Ibid., 200-204. 51 The origin of the phrase can be traced back to Sylvestre de Sacy, more precisely to his Exposé de la religion des Druzes from 1838 (see Reprint: SACY, Sylvestre de: Exposé de la Religion des Druzes. Paris 2006), but it is only in Gustav Flügel’s Geschichte der Araber that we find the phrase for the first time as a mere comment to Sacy’s own articulation, in the passage where it is said that for a student, it is necessary to undergo different levels of knowledge in order to reach the zenith by gaining the supreme wisdom of Nichts zu glauben und Alles thun zu dürfen (FLÜGEL, Gustav: Geschichte der Araber bis auf den Sturz des Chalifats von Bagdad. Dresden 1864, 251). But it was Nietzsche who popularized the phrase as an invention of the Assassins; thus spoke Nietzsche in his On the Genealogy of Morality from 1887: “When the Christian crusaders in the Orient came across that invincible order of Assassins—that order of free spirits par excellence whose lowest order received, through some channel or other, a hint about that symbol and spell reserved for the uppermost echelons alone, as their secret: ‘nothing is true, everything is permitted.’” (NIETZSCHE, Friedrich: On the Genealogy of Morals and Ecce Homo (transl. Walter Kaufmann). New York 1976, 251).

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Therefore, Bartol’s Alamut presents itself – on the one hand – as a reproduction of the Orientalist ideology, since it fruitfully exploits every possible legend about the Assassins in order to create a novelistic account of the eleventhcentury struggle of the Nizaris against the Seljuk Empire and eventually against the entire Islamic world, but – on the other hand – in a self-Orientalist manner it disguises nihilism and Machiavellism under the cloak of the “supreme sentence of the Ismailis,” thus facilitating an identification (be it positive and affirming or negative and condemning) – rather than the usual Orientalist disqualification – with the Arabo-Islamic Other par excellence.

C ONCLUSION The analysis of Vladimir Bartol’s novel Alamut, as well as the specific historical context of the interwar period in which it was created, demonstrates a certain shift in the Slovenian variant of frontier Orientalism. If the traditional role of nineteenth-century Slovenian Orientalist literature was to reinforce national identification through enforcing a disqualification of its privileged Oriental Other, then Bartol’s work subversively shifts on a self-Orientalist identification with a geographically and historically more distant Arabo-Islamic Other, namely, the Assassins. Still, some elements from Slovenian frontier Orientalism persist, since the enemies of Bartol’s Assassins (the Seljuk Turks) are the forerunners of the enemies in Slovenian Turkish tales (the Ottoman Turks), and they too are depicted as a much more powerful enemy that is ultimately defeated with intelligence and canniness (as in Frank Levstik’s short story “Martin Krpan”);52 moreover the legendary Assassins share not only a common enemy with their Slovenian counterparts, but also a common goal, namely, national liberation and emancipation. In comparison to Anton Aškerc’s Orientalist travelogues and poetry, defined by Habsburg and Russian imperialism (as analysed by Bojan Baskar)53, Bartol’s work does not show any imperial context at work in his variant of Slovenian frontier Orientalism, or, if anything, it demonstrates an antiimperial attitude so characteristic of Slovenian interwar literature. Moreover, instead of switching between an imperialist and nationalist identification, the author of Alamut rather identifies with the anti-imperialistic national agenda through the peculiar process of self-othering, defined as self-Orientalism.

52 LEVSTIK, Martin Krpan (as in n. 26). 53 BASKAR, Oriental Travels and Writings of the Fin-de-Siècle (as in n. 27).

Autorinnen und Autoren

Robert Born, Studium der Kunstgeschichte, der klassischen Archäologie sowie der neueren und osteuropäischen Geschichte an der Universität Basel und der Freien Universität Berlin. 2007 Promotion an der Humboldt Universität zu Berlin mit der Dissertation „Die Christianisierung der Städte der Provinz Scythia Minor. Ein Beitrag zum spätantiken Urbanismus auf dem Balkan“ (als Monographie, Wiesbaden 2012). Seit 2006 Koordination und Leitung der Projektgruppe „Osmanischer Orient und Ostmitteleuropa“ am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) in Leipzig. Zwischen 2006-2010 Fachkoordinator für Kunst- und Kulturgeschichte am GWZO Leipzig. Lehraufträge in Leipzig, Basel sowie an der Humboldt Universität zu Berlin. Johannes Feichtinger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte (IKT) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und lehrt Neuere Geschichte an der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte Zentraleuropas, Wissenschaftsgeschichte und Kulturtheorie. Zu seinen Publikationen zählen u.a. „Wissenschaft zwischen den Kulturen: Österreichische Hochschullehrer in der Emigration 1933-1945“ (Frankfurt/New York 2001) und „Wissenschaft als reflexives Projekt: Von Bolzano über Freud zu Kelsen. Österreichische Wissenschaftsgeschichte 1848-1938“ (Bielefeld 2010). Ibolya Gerelyes ist Direktorin der archäologischen Abteilung des Ungarischen Nationalmuseums in Budapest. In ihrer Doktorarbeit beschäftigte sie sich mit osmanischen Nachlassinventaren der Bewohner von Buda aus dem 16. Jahrhundert. Ihre zahlreichen Publikationen umfassen Themen der osmanischen materiellen Kultur, Archäologie sowie Architektur. Ebenso hat sie die Bände „Turkish Flowers: Studies on Ottoman Art in Hungary“ (Budapest 2005) und „Thirteenth International Congress of Turkish Art“ (mit Géza Dávid, Budapest 2009)

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herausgegeben. Aktuell arbeitet sie an einem englischsprachigen Katalog zu osmanischer Metallarbeit aus dem Bestand des Ungarischen Nationalmuseums. Maximilian Hartmuth ist Universitätsassistent für Kunstgeschichte der islamischen Welt am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien. Seine wissenschaftliche Ausbildung in den Bereichen Geschichte, Kulturmanagement und Kunstgeschichte erhielt er an der Universität Wien, der Kunstuniversität Belgrad (in Kooperation mit Université Lyon 2) und den Universitäten Koç und Sabanc in Istanbul, wo er 2011 mit einer Dissertation über Strukturen und sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Zusammenhänge der Kunstproduktion auf dem osmanischen Balkan promovierte. Hartmuth hat eine Reihe von Artikeln über das osmanische Kulturerbe Südosteuropas publiziert und ist Herausgeber dreier Sammelbände zu verwandten Themen „Images of imperial legacy“ (gemeinsam mit Tea Sindbæk, Berlin 2011), „Centres and peripheries in Ottoman architecture (Sarajevo 2010), „Monuments, patrons, contexts“ (Leiden 2010). Die Publikation einer Monografie über österreichisch-ungarische Zugänge zum osmanischislamischen Erbe Bosniens und der Herzegowina zwischen 1878 und 1918 ist für 2014 geplant. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Bedingtheit von Kunst, Wirtschaft und Gesellschaft, mit besonderem Augenmerk auf Mittel- und Südosteuropa und Vorderasien. Sabine Jagodzinski absolviert ein wissenschaftliches Volontariat im Bereich Schlösser und Sammlungen bei der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg. Sie studierte Kunstgeschichte mit Schwerpunkt Ostmitteleuropa und Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Anschließend arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am GWZO Leipzig in der Projektgruppe „Osmanischer Orient und Ostmitteleuropa vom 16. bis 18. Jahrhundert“, woraus u.a. mehrere Aufsätze hervorgingen. Ihre im Druck befindliche Dissertation verfasste sie zum Thema der Kommemoration und Repräsentation der Türkenkriege im polnisch-litauischen Adel. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Erinnerungskulturforschung, Adels- und Hofkulturen, Bild-Text-Beziehungen auf dem Gebiet der Kunstgeschichte Ostmitteleuropas vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit.

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Kerstin S. Jobst ist Professorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören u.a. die Geschichte Russlands, der Ukraine, Polens und des Habsburgerreiches. Der Imperienvergleich spielt dabei eine besondere Rolle. Ausgewählte Publikationen sind „Die Perle des Imperiums. Der russische Krim-Diskurs im Zarenreich“ (Konstanz 2007), „Geschichte der Ukraine (Stuttgart 2010) sowie Imperiumsforschung in der Osteuropäischen Geschichte. Die Habsburgermonarchie, das Russländische Reich und die Sowjetunion“, in: Ostmitteleuropa transnational. Hg. v. Peter HASLINGER, Leipzig 2008 (= Sonderheft der Zeitschrift Comparativ, 18/2), 27-56 (gemeinsam mit Julia Obertreis und Ricarda Vulpius). Heinrich Kirschbaum arbeitet seit 2013 als Juniorprofessor für Westslawische Literaturen und Kulturen an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er studierte Ost-, West-, Südslavistik und Italianistik in Regensburg und Triest und promovierte an der Universität Regensburg (2007, „Zur Funktion deutscher Thematik bei Osip Mandel’štam“, Buchversion: „Valgally beloe vino...“ Nemeckaja tema v poơzii O. Mandel’štama [„Walhallas weißer Wein...“ Das deutsche Thema in der Lyrik Osip Mandel’štams]. Moskva, Novoe Literaturnoe Obozrenie 2010). Von 2006 bis 2012 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter bzw. akademischer Rat an den Universitäten Passau und Regensburg. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte liegen u.a. in den Bereichen „Slawischer Orientalismus“, „Romantik“, „Sentimentalismus“ und „(Ost-)Mitteleuropäische Gegenwartsdichtung“ und „West-ostslawische und slawisch-deutsche literarische Beziehungen“. Im Augenblick beendet er seine Postdoc-Monographie „Postkolonialismus und Intertextualität. Adam Mickiewicz und polnisch-russisches (anti-)imperiales Schreiben um 1830“. Mirt Komel studierte an der Sozialwissenschaftlichen sowie an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Ljubljana, an der er auch im Fach Philosophie promovierte. Gegenwärtig arbeitet er im Bereich der Philosophie sowie der Cultural Studies am Institut für Kulturwissenschaften der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Ljubljana. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen unter anderem die theoretische Psychoanalyse, Film- und Literaturstudien, Kulturstudien von Videospielen, Orientalismus sowie Balkanismus. Die wichtigsten Publikationen sind „Poskus nekega dotika“ [Der Versuch einer Berührung] (Ljubljana 2008), „Diskurz in nasilje“ [Diskurs und Gewalt] (Ljubljana 2012), „Twin Peaks in postmodernism“ [Twin Peaks und Postmodernismus] (Ljubljana 2012).

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Sarah Lemmen arbeitet als Universitätsassistentin am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Ihre wissenschaftliche Ausbildung in neuerer und neuester Geschichte, Bohemistik/Slowakistik sowie Kulturwissenschaften erhielt sie an den Universitäten in Leipzig, Prag und Wien. Es folgten berufliche Stationen u.a. am GWZO Leipzig sowie am Ludwig Boltzmann Institut für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit in Wien. Sie forscht zur ostmitteleuropäischen Geschichte mit den Themenschwerpunkten Orientalismus, transnationale Geschichte, Geschichte des Reisens und Tourismus sowie Nationsbildung. Momentan schreibt sie ein Buch zu Repräsentationen der außereuropäischen Welt in der tschechischen Gesellschaft, ein Thema, zu dem sie bereits mehrere Artikel publiziert hat. Hana Navrátilová ist Ägyptologin und Historikerin. Ihre akademischen Interessen umfassen das ägyptische Neue Reich sowie die Geschichte der Ägyptologie. Nach ihrem Studium in Pisa, Prag und Wien hat sie an mehreren Projekten an der Karls-Universität (Prag), am Griffith Institute (University of Oxford) sowie am Metropolitan Museum of Arts (New York) mitgewirkt. Sie hat den Band „Egyptian Revival in Bohemia 1850-1920. Orientalism and egyptomania in Czech lands“ (Prag-Oxford 2003) sowie verschiedene Artikel über tschechische Wissenschaftler – vor allem Ägyptologen – und Reisende in Ägypten veröffentlicht. Momentan bereitet sie gemeinsam mit Hana HavlĤjová und Adéla JĤnová Macková eine Edition der Briefe von Pavla Dušková vor. Roland Prügel studierte Kunstgeschichte, Philosophie und Klassische Archäologie an der Universität Freiburg und an der Université Paris-Nanterre. 2005 wurde er im Fach Kunstgeschichte mit einer Arbeit über die rumänische Avantgarde promoviert. Von 2006 bis 2008 absolvierte er ein Volontariat in der Sammlung 19./20. Jahrhundert am Germanischen Nationalmuseum Nürnberg. Zwischen 2008 und 2009 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Kunstarchiv im Germanischen Nationalmuseum tätig. Seit 2010 koordiniert er das Leibniz-Forschungsprojekt „Wege in die Moderne. Neukonzeption der Schausammlungen von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg im Germanischen Nationalmuseum“.

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Lucie Storchová war Stipendiatin des Graduiertenkollegs „Lebenswelten und Kommunikationsstrukturen in Mitteleuropa von 16. bis 19. Jahrhundert“ (Universität des Saarlandes in Saarbrücken/Karls-Universität in Prag) und promovierte 2009 in Sozial- und Kulturanthropologie mit ihrer Arbeit zu humanistischen literarischen Feldern in Böhmen (erschien Prag 2011). An der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Karls-Universität (FHS UK) ist sie seit 2008 als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören Forschungen zum Humanismus und zur Geschlechtergeschichte sowie zu den Alteritäts- und Orientalismusdiskursen in der Frühen Neuzeit. Eine Quellenedition von tschechischsprachigen Reiseberichten über den Nahen Osten aus dem 16. und 17. Jahrhundert, die mit Blick auf die Orientalismus-Konzepte analysiert wurden, erschien 2005: „Mezi houfy lotrĤv se pustiti… ýeské cestopisy o EgyptČ 15.-17. století“ [Unter den wilden Horden … Böhmische Reiseberichte über Ägypten aus dem 15.-17. Jahrhundert]. Seitdem hat sie zum Thema international publiziert. Dirk Uffelmann, Inhaber des Lehrstuhls für Slavische Literaturen und Kulturen der Universität Passau sowie Vizepräsident für Lehre und Studium, ist Autor von „Die russische Kulturosophie“ (Frankfurt am Main 1999) sowie „Der erniedrigte Christus – Metaphern und Metonymien in der russischen und sowjetischen Kultur und Literatur“ (Köln 2010) sowie Mitherausgeber von „Orte des Denkens. Neue Russische Philosophie“ (Wien 1995), „Kultur als Übersetzung“ (Würzburg 1999), „Nemeckoe filosofskoe literaturovedenie našich dnej“ [Deutsche philosophische Literaturwissenschaft heute] (Sankt Peterburg 2001), „Uskol’zajušþij kontekst. Russkaja filosofija v XX veke“ [Der entgleitende Kontext. Russische Philosophie im 20. Jahrhundert] (Moskau 2002), „Religion und Rhetorik“ (Stuttgart 2007), „Contemporary Polish Migrant Culture and Literature in Germany, Ireland, and the UK“ (Frankfurt am Main 2011), „Tam, vnutri. Praktiki vnutrennej kolonizacii v kul’turnoj istorii Rossii“ [Dort innen. Praktiken innerer Kolonisierung in der russischen Kulturgeschichte] (Moskau 2012) und „Vladimir Sorokin’s Languages“ (Bergen 2013). Mitherausgeber der „Zeitschrift für Slavische Philologie“ und Mitbegründer der Buchreihen „Postcolonial Perspectives on Eastern Europe“ und „Polonistik im Kontext“.